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German Pages 776 Year 1971
Nietzsche · Werke
Nietzsche Werke Kritische Gesamtausgabe
Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari
Fünfte Abteilung Erster Band
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1971
Friedrich Nietzsche
Morgenröthe Nachgelassene Fragmente Anfang 1880 bis Frühjahr 1881
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1971
I S B N 3 11 001828 4 © 1971 b y W a l t e r d e G r u y t e r Sc C o . , v o r m a l s G . J . Göschen'sche V e r l a g s h a n d l u n g — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., B e r l i n 30 P r i n t e d in G e r m a n y Kritische Ausgabe sämtlicher W e r k e u n d unveröffentlichter T e x t e
Friedrich Nietzsches
nach
den O r i g i n a l m a n u s k r i p t e n . Alle Rechte der R e p r o d u k t i o n , der Übersetzung und der Ü b e r n a h m e f ü r alle L ä n d e r m i t E i n s c h l u ß d e r U d S S R v o r b e h a l t e n . W a l t e r de G r u y t e r & C o . , Berlin, f ü r die deutsche Ausgabe. Editions Gallimard, Paris, für die französische Ausgabe. A d e l p h i edizioni, M a i l a n d , f ü r die italienische Ausgabe. H a k u s u i s h a Publishing C o m p a n y , Tokio, f ü r die japanische Ausgabe. Satz u n d D r u c k : T h o r m a n n & Goetsch, Berlin Schutz Umschlag u n d E i n b a n d g e s t a l t u n g : B a r b a r a P r o k s c h , B e r l i n
Morgenröthe. Gedanken über
die moralischen Vorurtheile. Von
Frieäxiclx
2STietz@clie. „Es giebt so viele Morgenröthen, die noch nicht geleuchtet haben." Bigyeda.
Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede.
LEIPZIG. V E R L A G VON E . W . 1887.
FRITZSCH.
Vorrede. I. In diesem Buche findet man einen „Unterirdischen" an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, dass man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat —, wie er langsam, besonnen, mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommt, ohne dass die Noth sich allzusehr verriethe, welche jede lange Entbehrung von Licht und Luft mit sich bringt; man könnte ihn selbst bei seiner dunklen Arbeit zufrieden nennen. Scheint es nicht, dass irgend ein Glaube ihn führt, ein Trost entschädigt? Dass er vielleicht seine eigne lange Finsterniss haben will, sein Unverständliches, Verborgenes, Räthselhaftes, weil er weiss, was er audi haben wird: seinen eignen Morgen, seine eigne Erlösung, seine eigne M o r g e n r ö t h e ? . . . Gewiss, er wird zurückkehren: fragt ihn nicht, was er da unten will, er wird es euch selbst schon sagen, dieser scheinbare Trophonios und Unterirdische, wenn er erst wieder „Mensch geworden" ist. Man verlernt gründlich das Schweigen, wenn man so lange, wie er, Maulwurf war, allein war
2.
In der That, meine geduldigen Freunde, ich will es euch sagen, was ich da unten wollte, hier in dieser späten Vorrede, welche leicht hätte ein Nachruf, eine Leichenrede werden
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Morgenröthe
können: denn ich bin zurück gekommen und — ich bin davon gekommen. Glaubt ja nicht, dass ich euch zu dem gleichen Wagnisse auffordern werde! Oder audi nur zur gleichen Einsamkeit! Denn wer auf solchen eignen Wegen geht, begegnet Niemandem: das bringen die „eignen Wege" mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit Allem, was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustösst, muss er allein fertig werden. Er hat eben seinen Weg f ü r s i c h — und, wie billig, seine Bitterkeit, seinen gelegentlichen Verdruss an diesem „für sich": wozu es zum Beispiel gehört, zu wissen, dass selbst seine Freunde nicht errathen können, wo er ist, wohin er geht, dass sie sich bisweilen fragen werden „wie? geht er überhaupt? hat er noch — einen Weg?" — Damals unternahm ich Etwas, das nicht Jedermanns Sache sein dürfte: ich stieg in die Tiefe, ich bohrte in den Grund, ich begann ein altes V e r t r a u e n zu untersuchen und anzugraben, auf dem wir Philosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grunde zu bauen pflegten, — immer wieder, obwohl jedes Gebäude bisher einstürzte: ich begann unser V e r t r a u e n z u r M o r a l zu untergraben. Aber ihr versteht mich nicht?
3· Es ist bisher am schlechtesten über Gut und Böse nachgedacht worden: es war dies immer eine zu gefährliche Sache. Das Gewissen, der gute Ruf, die Hölle, unter Umständen selbst die Polizei erlaubten und erlauben keine Unbefangenheit; in Gegenwart der Moral s o l l eben, wie Angesichts jeder Autorität, nicht gedacht, noch weniger geredet werden: hier wird — g e h o r c h t ! So lang die Welt steht, war noch keine Autorität Willens, sich zum Gegenstand der Kritik nehmen zu lassen; und gar die Moral kritisiren, die Moral als Problem, als problematisch nehmen: wie? war das nicht — i s t das nicht — unmoralisch? — Aber die Moral gebietet nicht nur über jede Art von
Vorrede 2—3
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Schreckmitteln, um sich kritische Hände und Folterwerkzeuge vom Leibe zu halten: ihre Sicherheit liegt noch mehr in einer gewissen Kunst der Bezauberung, auf die sie sich versteht, — sie weiss zu „begeistern". Es gelingt ihr, oft mit einem einzigen Blicke, den kritischen Willen zu lähmen, sogar zu sich hinüberzulodken, ja es giebt Fälle, wo sie ihn gegen sich selbst zu kehren weiss: so dass er sich dann, gleich dem Skorpione, den Stachel in den eignen Leib sticht. Die Moral versteht sich eben von Alters her auf jede Teufelei von Ueberredungskunst: es giebt keinen Redner, auch heute noch, der sie nicht um ihre Hülfe angienge (man höre zum Beispiel selbst unsere Anarchisten reden: wie moralisch reden sie, um zu überreden! Zuletzt heissen sie sich selbst noch gar „die Guten und Gerechten".) Die Moral hat sich eben von jeher, so lange auf Erden geredet und überredet worden ist, als die grösste Meisterin der Verführung bewiesen — und, was uns Philosophen angeht, als die eigentliche C i r c e d e r P h i l o s o p h e n . Woran liegt es doch, dass von Plato ab alle philosophischen Baumeister in Europa umsonst gebaut haben? Dass Alles einzufallen droht oder schon in Schutt liegt, was sie selber ehrlich und ernsthaft für aere perennius hielten? Oh wie falsch ist die Antwort, welche man jetzt noch auf diese Frage bereit hält, „weil von ihnen Allen die Voraussetzung versäumt war, die Prüfung des Fundamentes, eine Kritik der gesammten Vernunft" — jene verhängnissvolle Antwort Kant's, der damit uns moderne Philosophen wahrhaftig nicht auf einen festeren und weniger trüglichen Boden gelockt hat! (— und nachträglich gefragt, war es nicht etwas sonderbar, zu verlangen, dass ein Werkzeug seine eigne Trefflichkeit und Tauglichkeit kritisiren solle? dass der Intellekt selbst seinen Werth, seine Kraft, seine Grenzen „erkennen" solle? war es nicht sogar ein wenig widersinnig? —) Die richtige Antwort wäre vielmehr gewesen, dass alle Philosophen unter der Verführung der Moral gebaut haben, auch Kant —, dass ihre Absicht scheinbar auf Gewissheit, auf „Wahrheit", eigentlich aber auf „ m a j e s t ä -
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Morgenröthe
t i s c h e s i t t l i c h e G e b ä u d e " ausgieng: um uns noch einmal der unschuldigen Sprache Kant's zu bedienen, der es als seine eigne „nicht so glänzende, aber doch audi nicht verdienstlose" Aufgabe und Arbeit bezeichnet, „den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen" (Kritik der reinen Vernunft II, S. 257). Ach, es ist ihm damit nicht gelungen, im Gegentheil! — wie man heute sagen muss. Kant war mit einer solchen schwärmerischen Absicht eben der rechte Sohn seines Jahrhunderts, das mehr als jedes andere das Jahrhundert der Schwärmerei genannt werden darf: wie er es, glücklicher Weise, audi in Bezug auf dessen werthvollere Seiten geblieben ist (zum Beispiel mit jenem guten Stück Sensualismus, den er in seine Erkenntnisstheorie hinübernahm). Audi ihn hatte die Moral-Tarantel Rousseau gebissen, auch ihm lag der Gedanke des moralischen Fanatismus auf dem Grunde der Seele, als dessen Vollstrecker sich ein andrer Jünger Rousseau's fühlte und bekannte, nämlich Robespierre, „de fonder sur la terre l'empire de la sagesse, de la justice et de la vertu" (Rede vom 7. Juni 1794). Andererseits konnte man es, mit einem solchen FranzosenFanatismus im Herzen, nicht unfranzösischer, nicht tiefer, gründlicher, deutscher treiben — wenn das Wort „deutsch" in diesem Sinne heute noch erlaubt ist — als es Kant getrieben hat: um Raum für s e i n „moralisches Reich" zu schaffen, sah er sich genöthigt, eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches „Jenseits", — dazu eben hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nöthig! Anders ausgedrückt: e r h ä t t e s i e n i c h t n ö t h i g g e h a b t , wenn ihm nicht Eins wichtiger als Alles gewesen wäre, das „moralische Reich" unangreifbar, lieber noch ungreifbar für die Vernunft zu machen, — er empfand eben die Angreifbarkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von Seiten der Vernunft zu stark! Denn Angesichts von Natur und Geschichte, Angesichts der gründlichen U n m o r a l i t ä t von Natur und Geschichte war Kant, wie jeder gute Deutsche von Alters her, Pessimist; er glaubte an die Moral, nicht weil sie
Vorrede 3—4
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durch Natur und Geschichte bewiesen wird, sondern trotzdem dass ihr durch Natur und Geschichte beständig widersprochen wird. Man darf sich vielleicht, um dies „trotzdem dass" zu verstehen, an etwas Verwandtes bei Luther erinnern, bei jenem andern grossen Pessimisten, der es einmal mit der ganzen Lutherischen Verwegenheit seinen Freunden zu Gemüthe führte: „wenn man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott gnädig und gerecht sein könne, der so viel Zorn und Bosheit zeigt, wozu brauchte man dann den G l a u b e n ? " Nichts nämlich hat von jeher einen tieferen Eindruck auf die deutsche Seele gemacht, Nichts hat sie mehr „versucht", als diese gefährlichste aller Schlussfolgerungen, welche jedem rechten Romanen eine Sünde wider den Geist ist: credo q u i a absurdum est: — mit ihr tritt die deutsche Logik zuerst in der Geschichte des christlichen Dogma's auf; aber auch heute noch, ein Jahrtausend später, wittern wir Deutschen von heute, späte Deutsche in jedem Betrachte — Etwas von Wahrheit, von M ö g l i c h k e i t der Wahrheit hinter dem berühmten realdialektischen Grund-Satze, mit welchem Hegel seiner Zeit dem deutschen Geiste zum Sieg über Europa verhalf— „der Widerspruch bewegt die Welt, alle Dinge sind sich selbst widersprechend" —: wir sind eben, sogar bis in die Logik hinein, Pessimisten.
4·
Aber nicht die l o g i s c h e n Werthurtheile sind die untersten und gründlichsten, zu denen die Tapferkeit unsers Argwohns hinunterkann: das Vertrauen auf die Vernunft, mit dem die Gültigkeit dieser Urtheile steht und fällt, ist, als Vertrauen, ein m o r a l i s c h e s Phänomen . . . Vielleicht hat der deutsche Pessimismus seinen letzten Schritt noch zu thun? Vielleicht muss er noch Ein Mal auf eine furchtbare Weise sein Credo und sein Absurdum neben einander stellen? Und wenn d i e s Buch bis in die Moral hinein, bis über das Vertrauen zur Moral hin-
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Morgenröthe
weg pessimistisch ist, — sollte es nicht gerade damit ein deutsches Buch sein? Denn es stellt in der That einen Widerspruch dar und fürchtet sich nicht davor: in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt — warum doch? A u s M o r a l i t ä t ! Oder wie sollen wir's heissen, was sich in ihm — in u n s — begiebt? denn wir würden unsrem Geschmacke nach bescheidenere Worte vorziehn. Aber es ist kein Zweifel, audi zu uns noch redet ein „du sollst", auch wir noch gehorchen einem strengen Gesetze über uns, — und dies ist die letzte Moral, die sich auch uns noch hörbar macht, die audi wir noch zu l e b e n wissen, hier, wenn irgend worin, sind auch wir noch M e n s c h e n d e s G e w i s s e n s : dass wir nämlich nicht wieder zurückwollen in Das, was uns als überlebt und morsch gilt, in irgend etwas „Unglaubwürdiges", heisse es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe; dass wir uns keine Lügenbrücken zu alten Idealen gestatten; dass wir von Grund aus Allem feind sind, was in uns vermitteln und mischen möchte; feind jeder jetzigen Art Glauben und Christlichkeit; feind dem Halb- und Halben aller Romantik und Vaterländerei; feind audi der Artisten-Genüsslichkeit, Artisten-Gewissenlosigkeit, welche uns überreden möchte, da anzubeten, wo wir nicht mehr glauben — denn wir sind Artisten — ; feind, kurzum, dem ganzen europäischen F e m i n i n i s m u s (oder Idealismus, wenn man's lieber hört), der ewig „hinan zieht" und ewig gerade damit „herunter bringt": — allein als Menschen d i e s e s Gewissens fühlen wir uns noch verwandt mit der deutschen RechtschafFenheit und Frömmigkeit von Jahrtausenden, wenn auch als deren fragwürdigste und letzte Abkömmlinge, wir Immoralisten, wir Gottlosen von heute, ja sogar, in gewissem Verstände, als deren Erben, als Vollstrecker ihres innersten Willens, eines pessimistischen Willens, wie gesagt, der sich davor nicht fürchtet, sich selbst zu verneinen, weil er mit L u s t verneint! In uns vollzieht sich, gesetzt, dass ihr eine Formel wollt, — d i e S e l b s t a u f h e b u n g d e r M o r a l .
Vorrede 4—5
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5· — Zuletzt aber: wozu müssten wir Das, was wir sind, was wir wollen und nicht wollen, so laut und mit solchem Eifer sagen? Sehen wir es kälter, ferner, klüger, höher an, sagen wir es, wie es unter uns gesagt werden darf, so heimlich, dass alle Welt es überhört, dass alle Welt u n s überhört! V o r Allem sagen wir es l a n g s a m . . . Diese Vorrede kommt spät, aber nicht zu spät, was liegt im Grunde an f ü n f , sechs Jahren? Ein solches Buch, ein solches Problem hat keine Eile; überdies sind wir Beide Freunde des lento, ich ebensowohl als mein Buch. Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens: — endlich schreibt man audi langsam. Jetzt gehört es nicht nur zu meinen Gewohnheiten, sondern auch zu meinem Gesdimacke — einem boshaften Geschmacke vielleicht? — Nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede A r t Mensch, die „Eile hat", zur Verzweiflung gebracht wird. Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden —, als eine Goldschmiedekunst und -kennerschaft des W o r t e s , die lauter feine vorsichtige Arbeit abzuthun hat und Nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht. Gerade damit aber ist sie heute nöthiger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stärksten, mitten in einem Zeitalter der „Arbeit", will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit Allem gleich „fertig werden" will, auch mit jedem alten und neuen Buche: — sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt g u t lesen, das heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen l e s e n . . . Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht sich nur vollkommene Leser und Philologen: l e r n t midi gut lesen! — R u t a bei Genua, im Herbst des Jahres 1886.
Morgenröthe. Gedanken über
die m o r a l i s c h e n
Vorurtheile.
Von
Friedrich Nietzsche. „ E s giebfe so viele Morgeruöthen, die noch nicht geleuchtet haben." Rigveda.
Chemnitz 1881. Verlag von Ernst
Schmeitzner.
St. Petersburg H. Schmitzdorff
Paris Sandoz & Fischbacher 33 Rue de Seine.
(C. Roettger.) Kais. Hof-Buchhandlung. 5 Newsky Prospekt.
New-York
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(Florenz Rom.) Ermanno Loescher vla dl P o '9·
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Williams & Norgate Henrietta Street, Coyent
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Erstes Buch.
N a c h t r ä g l i c h e V e r n ü n f t i g k e i t . — AlleDinge, die lange leben, werden allmählich so mit Vernunft durchtränkt, dass ihre Abkunft aus der Unvernunft dadurch unwahrscheinlich wird. Klingt nicht fast jede genaue Geschichte einer Entstehung für das Gefühl paradox und frevelhaft? W i d e r s p r i c h t der gute Historiker im Grunde nicht fortwährend?
2. V o r u r t h e i l d e r G e l e h r t e n . — Es ist ein richtiges Urtheil der Gelehrten, dass die Menschen aller Zeiten zu w i s s e η glaubten, was gut und böse, lobens- und tadelnswerth sei. Aber es ist ein Vorurtheil der Gelehrten, dass w i r es j e t z t b e s s e r w ü s s t e n , als irgend eine Zeit.
3· A l l e s h a t s e i n e Z e i t . — Als der Mensch allen Dingen ein Geschlecht gab, meinte er nicht zu spielen, sondern eine tiefe Einsicht gewonnen zu haben: — den ungeheuren Umfang dieses Irrthums hat er sich sehr spät und jetzt vielleicht noch nicht ganz eingestanden. — Ebenso hat der Mensch Allem, was da ist, eine Beziehung zur Moral beigelegt und der Welt eine e t h i -
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Morgenröthe
s e h e B e d e u t u n g über die Schulter gehängt. Das wird einmal ebenso viel und nidit mehr Werth haben, als es heute schon der Glaube an die Männlichkeit oder Weiblichkeit der Sonne hat.
4·
Gegen die e r t r ä u m t e D i s h a r m o n i e der S p h ä r e n . — Wir müssen die viele f a l s c h e Grossartigkeit wieder aus der Welt schaffen, weil sie gegen die Gerechtigkeit ist, auf die alle Dinge vor uns Anspruch haben! Und dazu thut noth, die Welt nicht disharmonischer sehen zu wollen als sie ist!
5·
S e i d d a n k b a r ! — Das grosse Ergebniss der bisherigen Menschheit ist, dass wir nicht mehr beständige Furcht vor wilden Thieren, vor Barbaren, vor Göttern und vor unseren Träumen zu haben brauchen.
6. Der T a s c h e n s p i e l e r und sein Widerspiel. — Das Erstaunliche in der Wissenschaft ist dem Erstaunlichen in der Kunst des Taschenspielers entgegengesetzt. Denn dieser will uns dafür gewinnen, eine sehr einfache Causalität dort zu sehen, wo in Wahrheit eine sehr complicirte Causalität in Thätigkeit ist. Die Wissenschaft dagegen nöthigt uns, den Glauben an einfache Causalitäten gerade dort aufzugeben, wo Alles so leicht begreiflich scheint und wir die Narren des Augenscheins sind. Die „einfachsten" Dinge sind s e h r c o m p l i c i r t , — man kann sich nicht genug darüber verwundern!
Erstes Buch 3—9
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7·
U m l e r n e n d e s R a u m g e f ü h l s. — Haben die wirklichen Dinge oder die eingebildeten Dinge mehr zum menschlichen Glück beigetragen? Gewiss ist, dass die W e i t e d e s R a u m e s zwischen höchstem Glück und tiefstem Unglück erst mit Hülfe der eingebildeten Dinge hergestellt worden ist. D i e s e Art von Raumgefühl wird folglich, unter der Einwirkung der Wissenschaft, immer verkleinert: so wie wir von ihr gelernt haben und noch lernen, die Erde als klein, ja das Sonnensystem als Punct zu empfinden.
8. T r a n s f i g u r a t i o n . — Die rathlos Leidenden, die verworren Träumenden, die überirdisch Entzückten, — diess sind die d r e i G r a d e , in welche Raffael die Menschen eintheilt. So blicken wir nicht mehr in die Welt — und auch Raffael d ü r f t e es jetzt nicht mehr: er würde eine neue Transfiguration mit Augen sehen.
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B e g r i f f d e r S i t t l i c h k e i t d e r S i t t e . — ImVerhältniss zu der Lebensweise ganzer Jahrtausende der Menschheit leben wir jetzigen Menschen in einer sehr unsittlichen Zeit: die Macht der Sitte ist erstaunlich abgeschwächt und das Gefühl der Sittlichkeit so verfeinert und so in die Höhe getragen, dass es ebenso gut als verflüchtigt bezeichnet werden kann. Desshalb werden uns, den Spätgeborenen, die Grundeinsichten in die Entstehung der Moral schwer, sie bleiben uns, wenn wir sie trotzdem gefunden haben, an der Zunge kleben und wollen nicht heraus: weil sie grob klingen! Oder weil sie die Sittlichkeit zu verleumden scheinen! So zum Beispiel gleich der H a u p t s a t z : Sittlichkeit ist nichts Anderes (also namentlich n i c h t
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Morgenröthe
m e h r ! ) , als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese audi sein mögen; Sitten aber sind die h e r k ö m m l i c h e Art zu handeln und abzuschätzen. In Dingen, wo kein Herkommen befiehlt, giebt es keine Sittlichkeit; und je weniger das Leben durch Herkommen bestimmt ist, um so kleiner wird der Kreis der Sittlichkeit. Der freie Mensch ist unsittlich, weil er in Allem von sich und nicht von einem Herkommen abhängen will: in allen ursprünglichen Zuständen der Menschheit bedeutet „böse" so viel wie „individuell", „frei", „willkürlich", „ungewohnt", „unvorhergesehen", „unberechenbar". Immer nach dem Maassstab solcher Zustände gemessen: wird eine Handlung gethan, n i c h t weil das Herkommen sie befiehlt, sondern aus anderen Motiven (zum Beispiel des individuellen Nutzens wegen), ja selbst aus eben den Motiven, welche das Herkommen ehemals begründet haben, so heisst sie unsittlich und wird so selbst von ihrem Thäter empfunden: denn sie ist nicht aus Gehorsam gegen das Herkommen gethan worden. Was ist das Herkommen? Eine höhere Autorität, welcher man gehorcht, nicht weil sie das uns N ü t z l i c h e befiehlt, sondern weil sie b e f i e h l t . — Wodurch unterscheidet sich diess Gefühl vor dem Herkommen von dem Gefühl der Furcht überhaupt? Es ist die Furcht vor einem höheren Intellect, der da befiehlt, vor einer unbegreiflichen unbestimmten Macht, vor etwas mehr als Persönlichem, — es ist A b e r g l a u b e in dieser Furcht. — Ursprünglich gehörte die ganze Erziehung und Pflege der Gesundheit, die Ehe, die Heilkunst, der Feldbau, der Krieg, das Reden und Schweigen, der Verkehr unter einander und mit den Göttern in den Bereich der Sittlichkeit: sie verlangte, dass man Vorschriften beobachtete, o h n e a n s i c h als Individuum zu denken. Ursprünglich also war Alles Sitte, und wer sich über sie erheben wollte, musste Gesetzgeber und Medicinmann und eine Art Halbgott werden: das heisst, er musste S i t t e n m a c h e n , — ein furchtbares, lebensgefährliches Ding! — Wer ist der Sittlichste? E i n m a l Der, welcher das Gesetz am häu-
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figsten erfüllt: also, gleich dem Brahmanen, das Bewusstsein desselben überallhin und in jeden kleinen Zeittheil trägt, sodass er fortwährend erfinderisch ist in Gelegenheiten, das Gesetz zu erfüllen. S o d a n n Der, der es auch in den schwersten Fällen erfüllt. Der Sittlichste ist Der, welcher am meisten der Sitte o p f e r t : welches aber sind die grössten Opfer? Nach der Beantwortung dieser Frage entfalten sich mehrere unterschiedliche Moralen; aber der wichtigste Unterschied bleibt dodi jener, welcher die Moralität der h ä u f i g s t e n E r f ü l l u n g von der der s c h w e r s t e n E r f ü l l u n g trennt. Man täusche sich über das Motiv jener Moral nicht, welche die schwerste Erfüllung der Sitte als Zeichen der Sittlichkeit fordert! Die Selbstüberwindung wird n i c h t ihrer nützlichen Folgen halber, die sie für das Individuum hat, gefordert, sondern damit die Sitte, das Herkommen herrschend erscheine, trotz allem individuellen Gegengelüst und Vortheil: der Einzelne soll sich opfern, — so heischt es die Sittlichkeit der Sitte. — Jene Moralisten dagegen, welche wie die Nachfolger der s o k r a t i s c h e n Fusstapfen die Moral der Selbstbeherrschung und Enthaltsamkeit dem I n d i v i d u u m als seinen eigensten V ο r t h e i 1, als seinen persönlichsten Schlüssel zum Glück an's Herz legen, m a c h e n d i e A u s n a h m e — und wenn es uns anders erscheint, so ist es, weil wir unter ihrer Nachwirkung erzogen sind: sie alle gehen eine neue Strasse unter höchlichster Missbilligung aller Vertreter der Sittlichkeit der Sitte, — sie lösen sich aus der Gemeinde aus, als Unsittliche, und sind, im tiefsten Verstände, böse. Ebenso erschien einem tugendhaften Römer alten Schrotes jeder C h r i s t , welcher „am ersten nach seiner e i g e n e n Seligkeit trachtete", — als böse. — Überall, wo es eine Gemeinde und folglich eine Sittlichkeit der Sitte giebt, herrscht auch der Gedanke, dass die Strafe für die Verletzung der Sitte vor Allem auf die Gemeinde fällt: jene übernatürliche Strafe, deren Aeusserung und Gränze so schwer zu begreifen ist und mit so abergläubischer Angst ergründet wird. Die
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Gemeinde kann den Einzelnen anhalten, dass er den nächsten Schaden, den seine That im Gefolge hatte, am Einzelnen oder an der Gemeinde wieder gut mache, sie kann auch eine Art Rache am Einzelnen dafür nehmen, dass durch ihn, als angebliche 5 Nachwirkung seiner That, sich die göttlichen Wolken und Zorneswetter über der Gemeinde gesammelt haben, — aber sie empfindet die Schuld des Einzelnen doch vor Allem als i h r e Schuld und trägt dessen Strafe als i h r e Strafe — : „die Sitten sind locker geworden, so klagt es in der Seele eines Jeden, wenn io solche Thaten möglich sind." Jede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise erregt Schauder; es ist gar nicht auszurechnen, was gerade die seltneren, ausgesuchteren, ursprünglicheren Geister im ganzen Verlauf der Geschichte dadurch gelitten haben müssen, dass sie immer als die bösen und gefähr15 liehen empfunden wurden, ja dass s i e s i c h s e l b e r s o e m p f a n d e n . Unter der Herrschaft der Sittlichkeit der Sitte hat die Originalität jeder Art ein böses Gewissen bekommen; bis diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch dadurch verdüsterter, als er sein müsste.
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G e g e n b e w e g u n g zwischen Sinn der S i t t l i c h k e i t u n d S i n n d e r C a u s a l i t ä t . — In dem Maasse, in welchem der Sinn der Causalität zunimmt, nimmt der Umfang des Reiches der Sittlichkeit ab: denn jedesmal, wenn man die noth25 wendigen Wirkungen begriffen hat und gesondert von allen Zufällen, allem gelegentlichen Nachher (post hoc) zu denken versteht, hat man eine Unzahl p h a n t a s t i s c h e r C a u s a l i t ä t e n , an welche als Grundlagen von Sitten bisher geglaubt wurde, zerstört — die wirkliche Welt ist viel kleiner, als die 30 phantastische — und jedesmal ist ein Stück Ängstlichkeit und Zwang aus der Welt verschwunden, jedesmal audi ein Stüde Achtung vor der Autorität der Sitte: die Sittlichkeit im Grossen
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hat eingebüsst. Wer sie dagegen vermehren will, muss zu verhüten wissen, dass die Erfolge c o n t r o l i r b a r werden.
11. V o l k s m o r a l u n d V o l k s m e d i c i n . — An der Moral, welche in einer Gemeinde herrscht, wird fortwährend und von Jedermann gearbeitet: die Meisten bringen Beispiele über Beispiele für das behauptete V e r h ä l t n i s s v o n U r s a c h e u n d F o l g e , Schuld und Strafe hinzu, bestätigen es als wohlbegründet und mehren seinen Glauben: Einige machen neue Beobachtungen über Handlungen und Folgen und ziehen Schlüsse und Gesetze daraus: die Wenigsten nehmen hie und da Anstoss und lassen den Glauben an diesen Puncten schwach werden. — Alle aber sind einander gleich in der gänzlich rohen, u n w i s s e n s c h a f t l i c h e n Art ihrer Thätigkeit; ob es sich um Beispiele, Beobachtungen oder Anstösse handelt, ob um den Beweis, die Bekräftigung, den Ausdruck, die Widerlegung eines Gesetzes, — es ist werthloses Material und werthlose Form, wie Material und Form aller Volksmedicin. Volksmedicin und Volksmoral gehören zusammen und sollten nicht mehr so verschieden abgeschätzt werden, wie es immer noch geschieht: beides sind die g e f ä h r l i c h s t e n Scheinwissenschaften.
12. D i e F o l g e a l s Z u t h a t . — Ehemals glaubte man, der Erfolg einer That sei nicht eine Folge, sondern eine freie Zuthat — nämlich Gottes. Ist eine grössere Verwirrung denkbar! Man musste sich um die That und um den Erfolg besonders bemühen, mit ganz verschiedenen Mitteln und Praktiken!
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Morgenröthe
!3· Zur neuen E r z i e h u n g des Menschengeschlechts. — Helft, ihr Hülfreichen und Wohlgesinnten, doch an dem Einen Werke mit, den Begriff der Strafe, der die ganze Welt überwuchert hat, aus ihr zu entfernen! Es giebt kein böseres Unkraut! Nicht nur in die Folgen unserer Handlungsweisen hat man ihn gelegt — und wie schrecklich und vernunftwidrig ist schon diess, Ursache und Wirkung als Ursache und Strafe zu verstehen! — aber man hat mehr gethan und die ganze reine Zufälligkeit des Geschehens um ihre Unschuld gebracht, mit dieser verruchten Interpretationskunst des Straf-Begriffs. J a , man hat die Tollheit so weit getrieben, die Existenz selber als Strafe empfinden zu heissen, — es ist, als ob die Phantasterei von Kerkermeistern und Henkern bisher die Erziehung des Menschengeschlechts geleitet hätte!
14. B e d e u t u n g d e s W a h n s i n n s in d e r G e s c h i c h t e d e r M o r a l i t ä t . — Wenn trotz jenem furchtbaren Drude der „Sittlichkeit der Sitte", unter dem alle Gemeinwesen der Menschheit lebten, viele Jahrtausende lang vor unserer Zeitrechnung und in derselben im Ganzen und Grossen fort bis auf den heutigen Tag (wir selber wohnen in der kleinen Welt der Ausnahmen und gleichsam in der bösen Zone): — wenn, sage ich, trotzdem neue und abweichende Gedanken, Werthschätzungen, Triebe immer wieder herausbrachen, so geschah diess unter einer schauderhaften Geleitsdiaft: fast überall ist es der Wahnsinn, welcher dem neuen Gedanken den Weg bahnt, welcher den Bann eines verehrten Brauches und Aberglaubens bricht. Begreift ihr es, wesshalb es der Wahnsinn sein musste? Etwas in Stimme und Gebärde so Grausenhaftes und Unberechenbares wie die dämonischen Launen des Wetters und des Meeres und desshalb einer ähnlichen Scheu und Beobachtung Würdiges?
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Etwas, das so sichtbar das Zeichen völliger Unfreiwilligkeit trug, wie die Zuckungen und der Schaum des Epileptischen, das den Wahnsinnigen dergestalt als Maske und Schallrohr einer Gottheit zu kennzeichnen schien? Etwas, das dem Träger eines neuen Gedankens selber Ehrfurcht und Schauder vor sich und nicht mehr Gewissensbisse gab und ihn dazu trieb, der Prophet und Märtyrer desselben zu werden? — Während es uns heute noch immer wieder nahe gelegt wird, dass dem Genie, anstatt eines Kornes Salz, ein Korn Wahnwurz beigegeben ist, lag allen früheren Menschen der Gedanke viel näher, dass überall, wo es Wahnsinn giebt, es auch ein Korn Genie und Weisheit gäbe, — etwas „Göttliches", wie man sich zuflüsterte. Oder vielmehr: man drückte sich kräftig genug aus. „Durch den Wahnsinn sind die grössten Güter über Griechenland gekommen," sagte Plato mit der ganzen alten Menschheit. Gehen wir noch einen Schritt weiter: allen jenen überlegenen Menschen, welche es unwiderstehlich dahin zog, das Joch irgend einer Sittlichkeit zu brechen und neue Gesetze zu geben, blieb, w e n n s i e n i c h t w i r k l i c h w a h n s i n n i g w a r e n , Nichts übrig, als sich wahnsinnig zu machen oder zu stellen — und zwar gilt diess für die Neuerer auf allen Gebieten, nicht nur auf dem der priesterlichen und politischen Satzung: — selbst der Neuerer des poetischen Metrums musste durch den Wahnsinn sich beglaubigen. (Bis in viel mildere Zeiten hinein verblieb daraus den Dichtern eine gewisse Convention des Wahnsinns: auf welche zum Beispiel Solon zurückgriff, als er die Athener zur Wiedereroberung von Salamis aufstachelte.) — „Wie macht man sich wahnsinnig, wenn man es nicht ist und nicht wagt, es zu scheinen?" diesem entsetzlichen Gedankengange haben fast alle bedeutenden Menschen der älteren Civilisation nachgehangen; eine geheime Lehre von Kunstgriffen und diätetischen Winken pflanzte sich darüber fort, nebst dem Gefühle der Unschuld, ja Heiligkeit eines solchen Nachsinnens und Vorhabens. Die Recepte, um bei den Indianern ein Medicinmann, bei den Christen des Mittelalters ein Heiliger,
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bei den Grönländern ein Angekok, bei den Brasilianern ein Paje zu werden, sind im Wesentlichen die selben: unsinniges Fasten, fortgesetzte geschlechtliche Enthaltung, in die Wüste gehen oder auf einen Berg oder eine Säule steigen, oder „sich auf eine bejahrte Weide setzen, die in einen See hinaussieht" und schlechterdings an Nichts denken, als Das, was eine Verzükkung und geistige Unordnung mit sich bringen kann. Wer wagt es, einen Blick in die Wildniss bitterster und überflüssigster Seelennöthe zu thun, in welchen wahrscheinlidi gerade die fruchtbarsten Menschen aller Zeiten geschmachtet haben! Jene Seufzer der Einsamen und Verstörten zu hören: „Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmlischen! Wahnsinn, dass ich endlich an midi selber glaube! Gebt Delirien und Zuckungen, plötzliche Lichter und Finsternisse, schreckt mich mit Frost und Gluth, wie sie kein Sterblicher noch empfand, mit Getöse und umgehenden Gestalten, lasst mich heulen und winseln und wie ein Thier kriechen: nur dass ich bei mir selber Glauben finde! Der Zweifel frisst midi auf, ich habe das Gesetz getödtet, das Gesetz ängstigt mich wie ein Leichnam einen Lebendigen: wenn ich nicht m e h r bin als das Gesetz, so bin idi der Verworfenste von Allen. Der neue Geist, der in mir ist, woher ist er, wenn er nicht von euch ist? Beweist es mir doch, dass ich euer bin; der Wahnsinn allein beweist es mir." Und nur zu oft erreichte diese Inbrunst ihr Ziel zu gut: in jener Zeit, in welcher das Christenthum am reichsten seine Fruchtbarkeit an Heiligen und Wüsten-Einsiedlern bewies und sich dadurch selber zu beweisen vermeinte, gab es in Jerusalem grosse Irrenhäuser für verunglückte Heilige, für jene, welche ihr letztes Korn Salz daran gegeben hatten.
*5·
D i e ä l t e s t e n T r o s t m i t t e l . — ErsteStufe: der Mensch sieht in jedem Übelbefinden und Missgeschick Etwas, wofür er irgend jemand Anderes leiden lassen muss, — dabei wird er sidi
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seiner noch vorhandenen Macht bewusst, und diess tröstet ihn. Zweite Stufe: der Mensch sieht in jedem Übelbefinden und Missgeschick eine Strafe, das heisst die Sühnung der Schuld und das Mittel, sich vom bösartigen Zauber eines wirklichen oder vermeintlichen Unrechtes l o s z u m a c h e n . Wenn er dieses V o r t h e i l s ansichtig wird, welchen das Unglück mit sich bringt, so glaubt er einen Anderen nicht mehr dafür leiden lassen zu müssen, — er sagt sich von dieser Art Befriedigung los, weil er nun eine andere hat.
16. E r s t e r S a t z d e r C i v i l i s a t i o n . — B e i rohen Völkern giebt es eine Gattung von Sitten, deren Absicht die Sitte überhaupt zu sein scheint: peinliche und im Grunde überflüssige Bestimmungen (wie zum Beispiel die unter den Kamtschadalen, niemals den Schnee von den Schuhen mit dem Messer abzuschaben, niemals eine Kohle mit dem Messer zu spiessen, niemals ein Eisen in's Feuer zu legen — und der Tod trifft Den, welcher in soldien Stücken zuwiderhandelt!), die aber die fortwährende Nähe der Sitte, den unausgesetzten Zwang, Sitte zu üben, fortwährend im Bewusstsein erhalten: zur Bekräftigung des grossen Satzes, mit dem die Civilisation beginnt: jede Sitte ist besser, als keine Sitte.
17· D i e g u t e u n d d i e b ö s e N a t u r . — Erst haben die Menschen sich in die Natur hineingedichtet: sie sahen überall sich und Ihresgleichen, nämlich ihre böse und launenhafte Gesinnung, gleichsam versteckt unter Wolken, Gewittern, Raubthieren, Bäumen und Kräutern: damals erfanden sie die „böse Natur". Dann kam einmal eine Zeit, da sie sich wieder aus der Natur hinausdichteten, die Zeit Rousseau's: man war einander so satt,
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dass man durchaus einen Weltwinkel haben wollte, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual: man erfand die „gute Natur".
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D i e M o r a l d e s f r e i w i l l i g e n L e i d e n s . — Welcher Genuss ist für Menschen im Kriegszustande jener kleinen, stets gefährdeten Gemeinde, wo die strengste Sittlichkeit waltet, der höchste? Also für kraftvolle, rachsüchtige, feindselige, tückische, argwöhnische, zum Furchtbarsten bereite, und durch Entbehrung und Sittlichkeit gehärtete Seelen? Der Genuss der G r a u s a m k e i t : so wie es auch zur T u g e n d einer solchen Seele in diesen Zuständen gerechnet wird, in der Grausamkeit erfinderisch und unersättlich zu sein. An dem Thun des Grausamen erquickt sich die Gemeinde und wirft einmal die Düsterkeit der beständigen Angst und Vorsicht von sich. Die Grausamkeit gehört zur ältesten Festfreude der Menschheit. Folglich denkt man sich auch die G ö t t e r erquickt und festlich gestimmt, wenn man ihnen den Anblick der Grausamkeit anbietet, — und so schleicht sich die Vorstellung in die Welt, dass das f r e i w i l l i g e L e i d e n , die selbsterwählte Marter einen guten Sinn und Werth habe. Allmählich formt die Sitte in der Gemeinde eine Praxis gemäss dieser Vorstellung: man wird bei allem ausschweifenden Wohlbefinden von nun an misstrauischer und bei allen schweren schmerzhaften Zuständen zuversichtlicher; man sagt sich: es mögen wohl die Götter ungnädig wegen des Glücks und gnädig wegen unseres Leidens auf uns sehen, — nicht etwa mitleidig! Denn das Mitleiden gilt als verächtlich und einer starken, furchtbaren Seele unwürdig; — aber gnädig, weil sie dadurch ergötzt und guter Dinge werden: denn der Grausame geniesst den höchsten Kitzel des Machtgefühls. So kommt in den Begriff des „sittlichsten Menschen" der Gemeinde die Tugend des häufigen Leidens, der Entbehrung, der harten
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Lebensweise, der grausamen Kasteiung, — n i c h t , um es wieder und wieder zu sagen, als Mittel der Zucht, der Selbstbeherrsdiung, des Verlangens nach individuellem Glück, — sondern als eine Tugend, welche der Gemeinde bei den bösen Göttern einen guten Geruch macht und wie ein beständiges Versöhnungsopfer auf dem Altare zu ihnen empordampft. Alle jene geistigen Führer der Völker, welche in dem trägen fruchtbaren Schlamm ihrer Sitten Etwas zu bewegen vermoditen, haben ausser dem Wahnsinn auch die freiwillige Marter nöthig gehabt, um Glauben zu finden — und zumeist und zuerst, wie immer, den Glauben an sich selber! Je mehr gerade ihr Geist auf neuen Bahnen gieng und folglich von Gewissensbissen und Ängsten gequält wurde, um so grausamer wütheten sie gegen das eigene Fleisch, das eigene Gelüste und die eigene Gesundheit, — wie um der Gottheit einen Ersatz an Lust zu bieten, wenn sie vielleicht um der vernachlässigten und bekämpften Gebräuche und der neuen Ziele willen erbittert sein sollte. Glaube man nicht zu schnell, dass wir jetzt von einer solchen Logik des Gefühls uns völlig befreit hätten! Die heldenhaftesten Seelen mögen sich darüber mit sich befragen. Jeder kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens ist von jeher mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: nicht nur das Vorwärts-Schreiten, nein! vor Allem das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung hat ihre unzähligen Märtyrer nöthig gehabt, durch die langen pfadsuchenden und grundlegenden Jahrtausende hindurch, an welche man freilich nicht denkt, wenn man, wie gewohnt, von „Weltgeschichte", von diesem lächerlich kleinen Ausschnitt des menschlichen Daseins redet; und selbst in dieser sogenannten Weltgeschichte, welche im Grunde ein Lärm um die letzten Neuigkeiten ist, giebt es kein eigentlich wichtigeres Thema, als die uralte Tragödie von den Märtyrern, d i e d e n S u m p f b e w e g e n w o l l t e n . Nichts ist theurer erkauft, als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, welches
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jetzt unseren Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der „Sittlichkeit der Sitte" zu empfinden, welche der „Weltgeschichte" vorausliegen, als die w i r k l i c h e u n d 5 e n t s c h e i d e n d e H a u p t g e s c h i c h t e , welche den C h a r a k t e r der M e n s c h h e i t f e s t g e s t e l l t h a t : wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, io die Wissbegier als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere in Geltung war! — Ihr meint, es habe sich Alles diess geändert, und die Menschheit 15 müsse somit ihren Charakter vertauscht haben? Oh, ihr Menschenkenner, lernt euch besser kennen!
19· S i t t l i c h k e i t u n d V e r d u m m u n g . — Die Sitte repräsentirt die Erfahrungen früherer Menschen über das 20 vermeintlich Nützliche und Schädliche, — aber d a s G e f ü h l f ü r d i e S i t t e (Sittlichkeit) bezieht sich nicht auf jene Erfahrungen als solche, sondern auf das Alter, die Heiligkeit, die Indiscutabilität der Sitte. Und damit wirkt diess Gefühl dem entgegen, dass man neue Erfahrungen macht und die Sitten cor25 rigirt: das heisst, die Sittlichkeit wirkt der Entstehung neuer und besserer Sitten entgegen: sie verdummt.
20.
F r e i t h ä t e r u n d F r e i d e n k e r . — Die Freithäter sind im Nachtheil gegen die Freidenker, weil die Menschen sicht30 barer an den Folgen von Thaten, als von Gedanken leiden. Be-
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denkt man aber, dass diese wie jene ihre Befriedigung suchen und dass den Freidenkern schon ein Ausdenken und Aussprechen von verbotenen Dingen diese Befriedigung giebt, so ist in Ansehung der Motive Alles eins: und in Ansehung der Folgen wird der Ausschlag sogar gegen den Freidenker sein, vorausgesetzt, dass man nicht nach der nächsten und gröbsten Sichtbarkeit — das heisst: nicht wie alle Welt urtheilt. Man hat viel von der Verunglimpfung wieder zurückzunehmen, mit der die Menschen alle Jene bedacht haben, welche durch die T h a t den Bann einer Sitte durchbrachen, — im Allgemeinen heissen sie Verbrecher. Jeder, der das bestehende Sittengesetz umwarf, hat bisher zuerst immer als s c h l e c h t e r M e n s c h gegolten: aber wenn man, wie es vorkam, hinterher es nicht wieder aufzurichten vermochte und sich damit zufrieden gab, so veränderte sich das Prädicat allmählich; — die Geschichte handelt fast nur von diesen s c h l e c h t e n M e n s c h e n , welche später g u t g e s p r o c h e n worden sind!
21. „ E r f ü l l u n g d e s G e s e t z e s . " — Im Falle, dass die Befolgung einer moralischen Vorschrift doch ein anderes Resultat ergiebt, als versprochen und erwartet wird, und den Sittlichen nicht das verheissene Glück, sondern wider Erwarten Unglück und Elend trifft, so bleibt immer die Ausflucht des Gewissenhaften und Ängstlichen übrig: „es ist Etwas in der A u s f ü h r u n g versehen worden." Im allerschlimmsten Falle wird eine tief leidende und zerdrückte Menschheit sogar decretiren „es ist unmöglich, die Vorschrift gut auszuführen, wir sind durch und durch schwach und sündhaft und der Moralität im innersten Grunde nicht fähig, folglich haben wir auch keinen Anspruch auf Glück und Gelingen. Die moralischen Vorschriften und Verheissungen sind für bessere Wesen, als wir sind, gegeben."
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22. W e r k e u n d G l a u b e . — Immer noch wird durch die protestantischen Lehrer jener Grundirrthum fortgepflanzt: dass es nur auf den Glauben ankomme und dass aus dem Glauben die Werke nothwendig folgen müssen. Diess ist schlechterdings nicht wahr, aber klingt so verführerisch, dass es schon andere Intelligenzen, als die Luther's (nämlich die des Sokrates und Plato) bethört hat: obwohl der Augenschein aller Erfahrungen aller Tage dagegen spricht. Das zuversichtlichste Wissen oder Glauben kann nicht die Kraft zur That, noch die Gewandtheit zur That geben, es kann nicht die Übung jenes feinen, vieltheiligen Mechanismus ersetzen, welche vorhergegangen sein muss, damit irgend Etwas aus einer Vorstellung sich in Action verwandeln könne. Vor Allem und zuerst die Werke! Das heisst Übung, Übung, Übung! Der dazu gehörige „Glaube" wird sich schon einstellen, — dessen seid versichert!
23· W o r i n w i r a m f e i n s t e n s i n d . — Dadurch, dass man sich viele Tausend Jahre lang die S a c h e n (Natur, Werkzeuge, Eigenthum jeder Art) ebenfalls belebt und beseelt dachte, mit der Kraft zu schaden und sich den menschlichen Absichten zu entziehen, ist das Gefühl der Ohnmacht unter den Menschen viel grösser und viel häufiger gewesen, als es hätte sein müssen: man hatte ja nöthig, sich der Sachen ebenso zu versichern, wie der Menschen und Thiere, durch Gewalt, Zwang, Schmeichelei, Verträge, Opfer, — und hier ist der Ursprung der meisten abergläubischen Gebräuche, das heisst eines erheblichen, v i e l l e i c h t ü b e r w i e g e n d e n und trotzdem vergeudeten und unnützen Bestandtheils aller von Menschen bisher geübten Thätigkeit! — Aber weil das Gefühl der Ohnmacht und der Furcht so stark und so lange fast fortwährend in Reizung war, hat sich das G e f ü h l d e r M a c h t in soldier F e i n h e i t
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entwickelt, dass es jetzt hierin der Mensch mit der delicatesten Goldwage aufnehmen kann. Es ist sein stärkster Hang geworden; die Mittel, welche man entdeckte, sich dieses Gefühl zu schaffen, sind beinahe die Geschichte der Cultur.
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D e r B e w e i s e i n e r V o r s c h r i f t . — Im Allgemeinen wird die Güte oder Schlechtigkeit einer Vorschrift, zum Beispiel der, Brod zu backen, so bewiesen, dass das in ihr versprochene Resultat sich ergiebt oder nicht ergiebt, vorausgesetzt, dass sie genau ausgeführt wird. Anders steht es jetzt mit den moralischen Vorschriften: denn hier sind gerade die Resultate nicht zu übersehen, oder deutbar und unbestimmt. Diese Vorschriften ruhen auf Hypothesen von dem allergeringsten wissenschaftlichen Werthe, deren Beweis und deren Widerlegung aus den Resultaten im Grunde gleich unmöglich ist: — aber einstmals, bei der ursprünglichen Rohheit aller Wissenschaft und den geringen Ansprüchen, die man machte, um ein Ding für e r w i e s e n zu nehmen, — einstmals wurde die Güte oder Schlechtigkeit einer Vorschrift der Sitte ebenso festgestellt wie jetzt die jeder anderen Vorschrift: durch Hinweisung auf den Erfolg. Wenn bei den Eingeborenen in Russisch-Amerika die Vorschrift gilt: du sollst keinen Thierknochen in's Feuer werfen oder den Hunden geben, — so wird sie so bewiesen: „thue es und du wirst kein Glück auf der Jagd haben." Nun aber hat man in irgend einem Sinne fast immer „kein Glück auf der J a g d " ; es ist nicht leicht möglich, die Güte der Vorschrift auf diesem Wege zu w i d e r l e g e n , namentlich wenn eine Gemeinde und nicht ein Einzelner als Träger der Strafe gilt; vielmehr wird immer ein Umstand eintreten, welcher die Vorschrift zu beweisen scheint.
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S i t t e u n d S c h ö n h e i t . — Zu Gunsten der Sitte sei nicht verschwiegen, dass bei Jedem, der sich ihr völlig und von ganzem Herzen und von Anbeginn an unterwirft, die Angriffsund Vertheidigungsorgane — die körperlichen und geistigen — verkümmern: das heisst, er wird zunehmend schöner! Denn die Übung jener Organe und der ihnen entsprechenden Gesinnung ist es, welche hässlich erhält und hässlicher macht. Der alte Pavian ist darum hässlicher, als der junge, und der weibliche junge Pavian ist dem Menschen am ähnlichsten: also am schönsten. — Hiernach mache man einen Schluss auf den Ursprung der Schönheit der Weiber!
z6. D i e T h i e r e u n d d i e M o r a l . — Die Praktiken, welche in der verfeinerten Gesellschaft gefordert werden: das sorgfältige Vermeiden des Lächerlichen, des Auffälligen, des Anmaassenden, das Zurückstellen seiner Tugenden sowohl, wie seiner heftigeren Begehrungen, das Sich-gleich-geben, Sich-einordnen, Sich-verringern, — diess Alles als die gesellschaftliche Moral ist im Groben überall bis in die tiefste Thierwelt hinab zu finden, — und erst in dieser Tiefe sehen wir die Hinterabsicht aller dieser liebenswürdigen Vorkehrungen: man will seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen seiner Beute begünstigt sein. Desshalb lernen die Thiere sich beherrschen und sich in der Weise verstellen, dass manche zum Beispiel ihre Farben der Farbe der Umgebung anpassen (vermöge der sogenannten „chromatischen Function"), dass sie sich todt stellen oder die Formen und Farben eines anderen Thieres oder von Sand, Blättern, Flechten, Schwämmen annehmen (Das, was die englischen Forscher mit mimicry bezeichnen). So verbirgt sich der Einzelne unter der Allgemeinschaft des Begriffes „Mensch" oder unter der Gesellschaft, oder passt sich an Fürsten, Stände, Par-
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teien, Meinungen der Zeit oder der Umgebung an: und zu allen den feinen Arten, uns glücklich, dankbar, mächtig, verliebt zu stellen, wird man leicht das thierische Gleichniss finden. Audi jenen Sinn für Wahrheit, der im Grunde der Sinn für Sicherheit ist, hat der Mensch mit dem Thiere gemeinsam: man will sich nicht täuschen lassen, sich nicht durch sich selber irre führen lassen, man hört dem Zureden der eigenen Leidenschaften misstrauisch zu, man bezwingt sich und bleibt gegen sich auf der Lauer; diess Alles versteht das Thier gleich dem Menschen, audi bei ihm wächst die Selbstbeherrschung aus dem Sinn für das Wirkliche (aus der Klugheit) heraus. Ebenfalls beobachtet es die Wirkungen, die es auf die Vorstellung anderer Thiere ausübt, es lernt von dort aus auf sich zurückblicken, sich „objectiv" nehmen, es hat seinen Grad von Selbsterkenntniss. Das Thier beurtheilt die Bewegungen seiner Gegner und Freunde, es lernt ihre Eigenthümlidikeiten auswendig, es richtet sich auf diese ein: gegen Einzelne einer bestimmten Gattung giebt es ein für allemal den Kampf auf und ebenso erräth es in der Annäherung mancher Arten von Thieren die Absicht des Friedens und des Vertrags. Die Anfänge der Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mässigung, Tapferkeit, — kurz Alles, was wir mit dem Namen der s ο k r a t i s c h e n T u g e n d e n bezeichnen, ist t h i e r h a f t : eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den Feinden zu entgehen. Erwägen wir nun, dass auch der höchste Mensch sich eben nur in der A r t seiner Nahrung und in dem Begriffe dessen, was ihm Alles feindlich ist, erhoben und verfeinert hat, so wird es nicht unerlaubt sein, das ganze moralische Phänomen als thierhaft zu bezeichnen.
*7· D e r W e r t h im G l a u b e n an ü b e r m e n s c h l i c h e L e i d e n s c h a f t e n . — Die Institution der Ehe hält hartnäckig den Glauben aufrecht, dass die Liebe, obschon eine
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Leidenschaft, doch als solche der Dauer fähig sei, ja dass die dauerhafte lebenslängliche Liebe als Regel aufgestellt werden könne. Durch diese Zähigkeit eines edlen Glaubens, trotzdem dass derselbe sehr oft und fast in der Regel widerlegt wird und somit eine pia fraus ist, hat sie der Liebe einen höheren Adel gegeben. Alle Institutionen, welche einer Leidenschaft G l a u b e n a n i h r e D a u e r und Verantwortlichkeit der Dauer zugestehen, wider das Wesen der Leidenschaft, haben ihr einen neuen Rang gegeben: und Der, welcher von einer solchen Leidenschaft nunmehr befallen wird, glaubt sich nidht, wie früher, dadurch erniedrigt oder gefährdet, sondern vor sich und seines Gleichen gehoben. Man denke an Institutionen und Sitten, welche aus der feurigen Hingebung des Augenblicks die ewige Treue geschaffen haben, aus dem Gelüst des Zornes die ewige Rache, aus Verzweiflung die ewige Trauer, aus dem plötzlichen und einmaligen Worte die ewige Verbindlichkeit. Jedesmal ist sehr viel Heuchelei und Lüge durch eine solche Umschaffung in die Welt gekommen: jedesmal auch, und um diesen Preis, ein neuer ü b e r m e n s c h l i c h e r , den Menschen hebender Begriff.
28. D i e S t i m m u n g a l s A r g u m e n t . — Was ist die Ursache freudiger Entschlossenheit zur That? — Diese Frage hat die Menschen viel beschäftigt. Die älteste und immer noch ge2 j läufige Antwort ist: Gott ist die Ursache, er giebt uns dadurch zu verstehen, dass er unserem Willen zustimmt. Wenn man ehemals die Orakel über ein Vorhaben befragte, wollte man von ihnen jene freudige Entschlossenheit heimbringen; und Jeder beantwortete einen Zweifel, wenn ihm mehrere mögliche Hand3° lungen vor der Seele standen, so: „ich werde Das thun, wobei jenes Gefühl sich einstellt." Man entschied sich also nicht für das Vernünftigste, sondern für ein Vorhaben, bei dessen Bilde
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die Seeie muthig und hoffnungsvoll wurde. Die gute Stimmung wurde als Argument in die Wagschale gelegt und überwog die Vernünftigkeit: desshalb, weil die Stimmung abergläubisch ausgelegt wurde, als Wirkung eines Gottes, der Gelingen verheisst und durch sie seine Vernunft als die höchste Vernünftigkeit reden lässt. Nun erwäge man die Folgen eines solchen Vorurtheils, wenn kluge und machtdurstige Männer sich seiner bedienten — und bedienen! „Stimmung machen!" — damit kann man alle Gründe ersetzen und alle Gegengründe besiegen!
2 9.
Die Schauspieler der Tugend und der S ü n d e . — Unter den Männern des Alterthums, welche durch ihre Tugend berühmt wurden, gab es, wie es scheint, eine Unund Überzahl von solchen, die v o r s i c h s e l b e r s c h a u s p i e l e r t e n : namentlich werden die Griechen, als eingefleischte Schauspieler, diess eben ganz unwillkürlich gethan und für gut befunden haben. Dazu war Jeder mit seiner Tugend im W e t t s t r e i t mit der Tugend eines Andern oder aller Anderen: wie sollte man nicht alle Künste aufgewendet haben, um seine Tugend zur Schau zu bringen, vor Allem vor sich selber, schon um der Übung willen! Was nützte eine Tugend, die man nicht zeigen konnte oder die sich nicht zu zeigen verstand! — Diesen Schauspielern der Tugend that das Christenthum Einhalt: dafür erfand es das widerliche Prunken und Paradiren mit der Sünde, es brachte die e r l o g e n e Sündhaftigkeit in die Welt (bis zum heutigen Tage gilt sie als „guter Ton" unter guten Christen).
30.
D i e v e r f e i n e r t e G r a u s a m k e i t als T u g e n d . — Hier ist eine Moralität, die ganz auf dem T r i e b e n a c h
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A u s z e i c h n u n g beruht, — denkt nicht zu gut von ihr! Was ist denn das eigentlich für ein Trieb und welches ist sein Hintergedanke? Man will machen, dass unser Anblick dem Anderen w e h e t h u e und seinen Neid, das Gefühl der Ohnmacht und seines Herabsinkens wecke; man will ihm die Bitterkeit seines Fatums zu kosten geben, indem man auf seine Zunge einen Tropfen u n s e r e s Honigs träufelt und ihm scharf und schadenfroh bei dieser vermeintlichen Wohlthat in's Auge sieht. Dieser ist demüthig geworden und vollkommen jetzt in seiner Demuth, — suchet nach Denen, welchen er damit seit langer Zeit eine Tortur hat machen wollen! ihr werdet sie schon finden! Jener zeigt Erbarmen gegen die Thiere und wird desshalb bewundert, — aber es giebt gewisse Menschen, an welchen er eben damit seine Grausamkeit hat auslassen wollen. Dort steht ein grosser Künstler: die vorempfundene Wollust am Neide bezwungener Nebenbuhler hat seine Kraft nicht schlafen lassen, bis dass er gross geworden ist, — wie viele bittere Augenblicke anderer Seelen hat er sich für das Grosswerden zahlen lassen! Die Keuschheit der Nonne: mit welchen strafenden Augen sieht sie in das Gesicht anderslebender Frauen! wie viel Lust der Rache ist in diesen Augen! — Das Thema ist kurz, die Variationen darauf könnten zahllos sein, aber nicht leicht langweilig, — denn es ist immer noch eine gar zu paradoxe und fast wehethuende Neuigkeit, dass die Moralität der Auszeichnung im letzten Grunde die Lust an verfeinerter Grausamkeit ist. Im letzten Grunde — das soll hier heissen: jedesmal in der ersten Generation. Denn wenn die Gewohnheit irgend eines auszeichnenden Thuns sich v e r e r b t , wird doch der Hintergedanke nicht mit vererbt (nur Gefühle, aber keine Gedanken erben sich fort): und vorausgesetzt, dass er nicht durch die Erziehung wieder dahintergeschoben wird, giebt es in der zweiten Generation schon keine Lust der Grausamkeit mehr dabei: sondern Lust allein an der Gewohnheit als solcher. D i e s e Lust aber ist die erste Stufe des „Guten".
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31· D e r S t o l z a u f d e n G e i s t . — Der S t o l z des Menschen, der sich gegen die Lehre der Abstammung von Thieren sträubt und zwischen Natur und Mensch die grosse Kluft legt, — dieser Stolz hat seinen Grund in einem V o r u r t h e i l über Das, was Geist ist: und dieses Vorurtheil ist verhältnissmässig j u n g . In der grossen Vorgeschichte der Menschheit setzte man Geist überall voraus und dachte nicht daran, ihn als Vorrecht des Menschen zu ehren. Weil man im Gegentheil das Geistige (nebst allen Trieben, Bosheiten, Neigungen) zum Gemeingut und folglich gemein gemacht hatte, so schämte man sich nicht, von Thieren oder Bäumen abzustammen (die v o r n e h m e n Geschlechter glaubten sich durch solche Fabeln geehrt) und sah in dem Geiste Das, was uns mit der Natur verbindet, nicht was uns von ihr abscheidet. So erzog man sich in der B e s c h e i d e n h e i t , — und ebenfalls in Folge eines V o r u r t h e i l s.
32· D e r H e m m s c h u h . — Moralisch zu leiden und dann zu hören, dieser Art Leiden liege ein I r r t h u m zu Grunde, diess empört. Es giebt ja einen so einzigen Trost, durch sein Leiden eine „tiefere "Welt der Wahrheit" zu bejahen, als alle sonstige Welt ist, und man will viel l i e b e r leiden und sich dabei über die Wirklichkeit e r h a b e n fühlen (durch das Bewusstsein, jener „tieferen Welt der Wahrheit" damit nahe zu kommen) als ohne Leid und dann ohne diess Gefühl des Erhabenen sein. Somit ist es der Stolz und die gewohnte Art, ihn zu befriedigen, welche sich dem neuen V e r s t ä n d n i s s der Moral entgegenstemmen. Welche Kraft wird man also anzuwenden haben, um diesen Hemmschuh zu beseitigen? Mehr Stolz? Einen neuen Stolz?
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Die V e r a c h t u n g der U r s a c h e n , der F o l g e n u n d d e r W i r k l i c h k e i t . — Jene bösen Zufälle, welche eine Gemeinde treffen, plötzliche Wetter oder Unfruchtbarkeiten oder Seuchen, leiten alle Mitglieder auf den Argwohn, dass Verstösse gegen die Sitte begangen sind oder dass neue Gebräuche erfunden werden müssen, um eine neue dämonische Gewalt und Laune zu beschwichtigen. Diese Art Argwohn und Nachdenken geht somit gerade der Ergründung der wahren natürlichen Ursachen aus dem Wege, sie nimmt die dämonische Ursache als die Voraussetzung. Hier ist die eine Quelle der erblichen Verkehrtheit des menschlichen Intellects: und die andere Quelle entspringt daneben, indem man ebenso grundsätzlich den wahren natürlichen F o l g e n einer Handlung ein viel geringeres Augenmerk schenkte, als den übernatürlichen (den sogenannten Strafen und Gnaden der Gottheit). Es sind zum Beispiel bestimmte Bäder für bestimmte Zeiten vorgeschrieben: man badet, nicht um rein zu werden, sondern weil es vorgeschrieben ist. Man lernt nicht die wirklichen Folgen der Unreinlichkeit fliehen, sondern das vermeintliche Missfallen der Götter an der Versäumniss eines Bades. Unter dem Drucke abergläubischer Angst argwöhnt man, es müsse sehr viel mehr mit diesem Abwaschen der Unreinlichkeit auf sich haben, man legt zweite und dritte Bedeutungen hinein, man verdirbt sich den Sinn und die Lust am Wirklichen und hält diess zuletzt, nur i n s o f e r n e s S y m b o l s e i n k a n n , noch für werthvoll. So verachtet der Mensch im Banne der Sittlichkeit der Sitte erstens die Ursachen, zweitens die Folgen, drittens die Wirklichkeit, und spinnt alle seine höheren Empfindungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit, des Stolzes, der Dankbarkeit, der Liebe) a n e i n e e i n g e b i l d e t e W e l t a n : die sogenannte höhere Welt. Und noch jetzt sehen wir die Folge: wo das Gefühl eines Menschen sich e r h e b t , da ist irgendwie jene eingebildete Welt im Spiel. Es ist traurig: aber einstweilen
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müssen dem wissenschaftlichen Menschen a l l e h ö h e r e n G e f ü h l e verdächtig sein, so sehr sind sie mit Wahn und Unsinn verquickt. Nicht dass sie es an sich oder für immer sein müssten: aber gewiss wird von allen allmählichen R e i n i g u n g e n , welche der Menschheit bevorstehen, die Reinigung der höheren Gefühle eine der allmählichsten sein.
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M o r a l i s c h e G e f ü h l e und moralische Beg r i f f e . — Ersichtlich werden moralische Gefühle so übertragen, dass die Kinder bei den Erwachsenen starke Neigungen und Abneigungen gegen bestimmte Handlungen wahrnehmen und dass sie als geborene Affen diese Neigungen und Abneigungen n a c h m a c h e n ; im späteren Leben, wo sie sich voll von diesen angelernten und wohlgeübten Affecten finden, halten sie ein nachträgliches Warum, eine Art Begründung, dass jene Neigungen und Abneigungen berechtigt sind, für eine Sache des Anstandes. Diese „Begründungen" aber haben weder mit der Herkunft, noch dem Grade des Gefühls bei ihnen Etwas zu thun: man findet sich eben nur mit der R e g e l ab, dass man als vernünftiges Wesen Gründe für sein Für und Wider haben müsse, und zwar angebbare und annehmbare Gründe. Insofern ist die Geschichte der moralischen Gefühle eine ganz andere, als die Geschichte der moralischen Begriffe. Erstere sind mächtig v o r der Handlung, letztere namentlich n a c h der Handlung, angesichts der Nöthigung, sich über sie auszusprechen.
35·
G e f ü h l e und deren A b k u n f t von Urtheilen. — „Vertraue deinem Gefühle!" — Aber Gefühle sind nichts Letztes, Ursprüngliches, hinter den Gefühlen stehen Urtheile und Werthschätzungen, welche in der Form von Gefühlen (Neigun-
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gen, Abneigungen) uns vererbt sind. Die Inspiration, die aus dem Gefühle stammt, ist das Enkelkind eines Urtheils — und oft eines falschen! — und jedenfalls nicht deines eigenen! Seinem Gefühle vertrauen — das heisst seinem Grossvater und seiner Grossmutter und deren Grosseltern mehr gehorchen als den Göttern, die in u n s sind: unserer Vernunft und unserer Erfahrung.
36.
Eine N a r r h e i t der P i e t ä t mit Hinterged a n k e n . — Wie! die Erfinder der uralten Culturen, die ältesten Verfertiger der Werkzeuge und Messschnüre, der Wagen und Schiffe und Häuser, die ersten Beobachter der himmlischen Gesetzmässigkeit und der Regeln des Einmaleins, — sie seien etwas unvergleichlich Anderes und Höheres, als die Erfinder und Beobachter unserer Zeiten? Die ersten Schritte hätten einen Werth, dem alle unsere Reisen und Weltumsegelungen im Reiche der Entdeckungen nicht gleichkämen? So klingt das Vorurtheil, so argumentirt man für die Geringschätzung des gegenwärtigen Geistes. Und doch liegt auf der Hand, dass der Zufall ehemals der grösste aller Entdecker und Beobachter und der wohlwollende Einbläser jener erfinderischen Alten war, und dass bei der unbedeutendsten Erfindung, die jetzt gemacht wird, mehr Geist, Zucht und wissenschaftliche Phantasie verbraucht wird, als früher in ganzen Zeitläuften überhaupt vorhanden war.
37·
F a l s c h e Schlüsse aus der N ü t z l i c h k e i t . — Wenn man die höchste Nützlichkeit einer Sache bewiesen hat, so ist damit auch noch kein Schritt zur Erklärung ihres Ursprungs gethan: das heisst, man kann mit der Nützlichkeit niemals die Nothwendigkeit der Existenz verständlich machen.
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Aber gerade das umgekehrte Urtheil hat bisher geherrscht — und bis in die Gebiete der strengsten Wissenschaft hinein. H a t man nicht selbst in der Astronomie die (angebliche) Nützlichkeit in der Anordnung der Satelliten (das durch die grössere Entfernung von der Sonne abgeschwächte Licht anderweitig zu ersetzen, damit es den Bewohnern der Gestirne nicht an Licht mangele) für den Endzweck ihrer Anordnung und für die Erklärung ihrer Entstehung ausgegeben? Wobei man sich der Schlüsse des Columbus erinnern wird: die Erde ist für den Menschen gemacht, also, wenn es Länder giebt, müssen sie bewohnt sein. „Ist es wahrscheinlich, dass die Sonne auf Nichts scheine und dass die nächtlichen Wachen der Sterne an pfadlose Meere und menschenleere Länder verschwendet werden?"
38.
Die Triebe durch die m o r a l i s c h e n U r t h e i l e u m g e s t a l t e t . — Der selbe Trieb entwickelt sich zum peinlichen Gefühl der F e i g h e i t , unter dem Eindruck des Tadels, den die Sitte auf diesen Trieb gelegt hat: oder zum angenehmen Gefühl der D e m u t h , falls eine Sitte, wie die christliche, ihn sich an's Herz gelegt und g u t geheissen hat. Das heisst: es hängt sich ihm entweder ein gutes oder ein böses Gewissen an! An sich hat er, wie j e d e r T r i e b , weder diess noch überhaupt einen moralischen Charakter und Namen, noch selbst eine bestimmte begleitende Empfindung der Lust oder Unlust: er erwirbt diess Alles erst, als seine zweite Natur, wenn er in Relation zu schon auf gut und böse getauften Trieben tritt, oder als Eigenschaft von Wesen bemerkt wird, welche vom Volke schon moralisch festgestellt und abgeschätzt sind. — So haben die älteren Griechen anders über den N e i d empfunden, als wir; Hesiod zählt ihn unter den Wirkungen der g u t e n , wohlthätigen Eris auf, und es hatte nichts Anstössiges, den Göttern etwas Neidisches zuzuerkennen: begreiflich bei einem Zu-
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stände der Dinge, dessen Seele der Wettstreit war; der Wettstreit aber war als gut festgestellt und abgeschätzt. Ebenfalls waren die Griechen von uns verschieden in der Abschätzung der H o f f n u n g : man empfand sie als blind und tückisch; 5 Hesiod hat das Stärkste über sie in einer Fabel angedeutet, und zwar etwas so Befremdendes, dass kein neuerer Erklärer es verstanden hat, — denn es geht wider den modernen Geist, welcher vom Christenthum her an die Hoffnung als eine Tugend zu glauben gelernt hat. Bei den Griechen dagegen, welchen der Zugang zum Wissen der Zukunft nicht gänzlich verschlossen schien und denen in zahllosen Fällen eine Anfrage um die Zukunft zur religiösen Pflicht gemacht wurde, wo wir uns mit der Hoffnung begnügen, musste wohl, Dank allen Orakeln und Wahrsagern, die Hoffnung etwas degradirt werden und in's Böse und Gefähr15 liehe hinabsinken. — Die Juden haben den Z o r n anders empfunden, als wir, und ihn heilig gesprochen: dafür haben sie die düstere Majestät des Menschen, mit welcher verbunden er sich zeigte, unter sich in einer Höhe gesehen, die sich ein Europäer nicht vorzustellen vermag; sie haben ihren zornigen heiligen 20 Jehovah nach ihren zornigen heiligen Propheten gebildet. An ihnen gemessen, sind die grossen Zürner unter den Europäern gleichsam Geschöpfe aus zweiter Hand.
39·
Das Vorurtheil vom „reinen Geiste". — 2 5 Uberall, wo die Lehre von der r e i n e n G e i s t i g k e i t geherrscht hat, hat sie mit ihren Ausschweifungen die Nervenkraft zerstört: sie lehrte den Körper geringschätzen, vernachlässigen oder quälen, und um aller seiner Triebe willen den Menschen selber quälen und geringschätzen; sie gab verdüsterte, ge3° spannte, gedrückte Seelen, — welche noch überdiess glaubten, die Ursache ihres Elend-Gefühls zu kennen und sie vielleicht heben zu können! „Im Körper muss sie liegen! er b l ü h t im-
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mer noch zu sehr!" — so schlossen sie, während thatsächlich derselbe gegen seine fortwährende Verhöhnung durch seine Schmerzen Einsprache über Einsprache erhob. Eine allgemeine, chronisch gewordene Ubernervosität war endlich das Loos jener tugendhaften Reingeistigen: die L u s t lernten sie nur noch in der Form der Ekstase und anderer Vorläufer des Wahnsinns kennen — und ihr System kam auf seine Spitze, als es die Ekstase als das Höheziel des Lebens und als den v e r u r t e i l e n d e n Maassstab für alles Irdische nahm.
40.
D a s G r ü b e l n ü b e r G e b r ä u c h e . — Zahllose Vorschriften der Sitte, einem einmaligen seltsamen Vorkommniss flüchtig abgelesen, wurden sehr schnell unverständlich; es liess sich ihre Absicht ebenso wenig mit Sicherheit ausrechnen wie die Strafe, welche der Übertretung folgen werde; selbst über die Folge der Ceremonien blieb Zweifel; — aber indem man darüber hin und her rieth, wuchs das Object eines solchen Grübelns an Werth, und gerade das Absurdeste eines Gebrauches gieng zuletzt in die heiligste Heiligkeit über. Man denke nicht gering von der hier in Jahrtausenden aufgewendeten Kraft der Menschheit und am wenigsten von der Wirkung dieses G r ü b e l n s ü b e r G e b r ä u c h e ! Wir sind hier auf der ungeheuren Übungsstätte des Intellectes angelangt, — nicht nur dass hier die Religionen ausgesponnen und fortgesponnen werden: hier ist die würdige, obschon schauerliche Vorwelt der Wissenschaft, hier wuchs der Dichter, der Denker, der Arzt, der Gesetzgeber! Die Angst vor dem Unverständlichen, welches in zweideutiger Weise von uns Ceremonien forderte, gieng allmählich in den Reiz des Schwerverständlichen über, und wo man nicht zu ergründen wusste, lernte man schaffen.
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41.
Zur W e r t h b e s t i m m u n g der vita contemp l a t i v a . — Vergessen wir als Menschen der vita contemplativa nicht, welche Art von Übel und Unsegen durch die verschiedenen Nachwirkungen der Beschaulichkeit auf die Menschen der vita activa gekommen ist, — kurz, welche Gegenrechnung die vita activa u n s zu machen hat, wenn wir allzu stolz mit unseren Wohlthaten uns vor ihr brüsten. E r s t e n s : die sogenannten r e l i g i ö s e n Naturen, welche der Zahl nach unter den Contemplativen überwiegen und folglich ihre gemeinste Species abgeben, haben zu allen Zeiten dahin gewirkt, den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen und es ihnen womöglich zu verleiden: den Himmel verdüstern, die Sonne auslöschen, die Freude verdächtigen, die Hoffnungen entwerthen, die thätige Hand lahmen, — das haben sie verstanden, ebenso wie sie für elende Zeiten und Empfindungen ihre Tröstungen, Almosen, Handreichungen und Segenssprüche gehabt haben. Z w e i t e n s : die Künstler, etwas seltener als die Religiösen, aber doch immer noch eine häufige Art von Menschen der vita contemplativa, sind als Personen zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich gewesen: diese Wirkung ist von den erheiternden und erhebenden Wirkungen ihrer Werke in Abzug zu bringen. D r i t t e n s : die Philosophen, eine Gattung, in der sich religiöse und künstlerische Kräfte beisammen vorfinden, doch so, dass etwas Drittes, das Dialektische, die Lust am Demonstriren, noch daneben Platz hat, sind die Urheber von Übeln nach der Weise der Religiösen und der Künstler gewesen und haben noch dazu durch ihren dialektischen Hang vielen Menschen Langeweile gemacht; doch war ihre Zahl immer sehr klein. V i e r t e n s : die Denker und die wissenschaftlichen Arbeiter; sie waren selten auf Wirkungen aus, sondern gruben sich still ihre Maulwurfslöcher. So haben sie wenig Verdruss und Unbehagen gemacht und oft als Gegenstand des Spottes und Gelächters sogar, ohne es zu wollen, den Menschen
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der vita activa das Leben erleichtert. Zuletzt ist die Wissenschaft doch etwas sehr Nützliches für Alle geworden: wenn d i e s e s N u t z e n s h a l b e r jetzt sehr viele zur vita activa Vorherbestimmte sich einen Weg zur Wissenschaft bahnen, im Schweisse ihres Angesichts und nicht ohne Kopfzerbrechen und Verwünschungen, so trägt doch an solchem Ungemach die Schaar der Denker und wissenschaftlichen Arbeiter keine Schuld; es ist „selbstgeschaffene Pein".
42. H e r k u n f t d e r v i t a c o n t e m p l a t i v a . — In rohen Zeiten, wo die pessimistischen Urtheile über Mensch und Welt herrschen, ist der Einzelne im Gefühle seiner vollen Kraft immer darauf aus, jenen Urtheilen gemäss zu handeln, also die Vorstellung in Action zu übersetzen, durch Jagd, Raub, Überfall, Misshandlung und Mord, eingerechnet die blasseren Abbilder jener Handlungen, wie sie innerhalb der Gemeinde allein geduldet werden. Lässt seine Kraft aber nach, fühlt er sich müde oder krank oder schwermüthig oder übersättigt und in Folge davon zeitweilig wünsch- und begierdenlos, so ist er da ein verhältnissmässig besserer, das heisst weniger schädlicher Mensch, und seine pessimistischen Vorstellungen entladen sich dann nur noch in Worten und Gedanken, zum Beispiel über den Werth seiner Genossen oder seines Weibes oder seines Lebens oder seiner Götter, — seine Urtheile werden b ö s e Urtheile sein. In diesem Zustande wird er zum Denker und Vorausverkünder, oder er dichtet an seinem Aberglauben weiter und sinnt neue Gebräuche aus, oder er spottet seiner Feinde — : was er aber auch erdenkt, alle Erzeugnisse (seines Geistes) müssen seinen Zustand wiederspiegeln, also die Zunahme der Furcht und der Ermüdung, die Abnahme seiner Schätzung des Handelns und Geniessens; der Gehalt dieser Erzeugnisse muss dem Gehalte dieser dichterischen, denkerischen, priesterlichen Stimmungen entspre-
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chen; das böse Urtheil muss darin regieren. Später nannte man alle Die, welche andauernd thaten, was früher der Einzelne in jenem Zustande that, welche also böse urtheilten, melancholisch und thatenarm lebten, Dichter oder Denker oder Priester oder 5 Medicinmänner —: man würde solche Menschen, weil sie nicht genug handelten, gerne gering geschätzt und aus der Gemeinde gestossen haben; aber es gab eine Gefahr dabei, — sie waren dem Aberglauben und der Spur göttlicher Kräfte nachgegangen, man zweifelte nicht daran, dass sie über unbekannte Mittel der io Macht geböten. Diess ist die Schätzung, in der d a s ä l t e s t e G e s c h l e c h t c o n t e m p l a t i v e r N a t u r e n lebte, — genau so weit verachtet, als sie nicht gefürchtet wurden! In solcher vermummter Gestalt, in solchem zweideutigen Ansehen, mit einem bösen Herzen und oft mit einem geängstigten Kopfe i j ist die Contemplation zuerst auf der Erde erschienen, zugleich schwach und furchtbar, im Geheimen verachtet und öffentlich mit abergläubischer Ehrerbietung überschüttet! Hier, wie immer, muss es heissen: pudenda origo!
43· W i e v i e l e K r ä f t e j e t z t im D e n k e r z u s a m m e n k o m m e n m ü s s e n . — Sich dem sinnlichen Anschauen zu entfremden, sich zum Abstracten zu erheben, — das ist wirklich einmal als E r h e b u n g gefühlt worden: wir können es nicht ganz mehr nachempfinden. Das Schwelgen in 2 5 den blassesten Wort- und Dingbildern, das Spiel mit solchen unschaubaren, unhörbaren, unfühlbaren Wesen wurde wie ein Leben in einer anderen h ö h e r e n Welt empfunden, aus der tiefen Verachtung der sinnlich tastbaren verführerischen und bösen Welt heraus. „Diese Abstracta verführen nicht mehr, aber sie 30 können uns führen!" — dabei schwang man sich wie aufwärts. Nicht der Inhalt dieser Spiele der Geistigkeit, sie selber sind „das Höhere" in den Vorzeiten der Wissenschaft gewesen. Da20
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her Plato's Bewunderung der Dialektik und sein begeisterter Glaube an ihre nothwendige Beziehung zu dem guten entsinnlichten Menschen. Nicht nur die Erkenntnisse sind einzeln und allmählich entdeckt worden, sondern audi die Mittel der Erkenntniss überhaupt, die Zustände und Operationen, die im Menschen dem Erkennen vorausgehen. Und jedesmal schien es, als ob die neu entdeckte Operation oder der neu empfundene Zustand nicht ein Mittel zu allem Erkennen, sondern schon Inhalt, Ziel und Summe alles Erkennenswerthen sei. Der Denker hat die Phantasie, den Aufschwung, die Abstraction, die Entsinnlichung, die Erfindung, die Ahnung, die Induction, die Dialektik, die Deduction, die Kritik, die Materialsammlung, die unpersönliche Denkweise, die Beschaulichkeit und die Zusammenschauung und nicht am Wenigsten Gerechtigkeit und Liebe gegen Alles, was da ist, nöthig, — aber alle diese Mittel haben e i n z e l n in der Geschichte der vita contemplativa einmal als Zwecke und letzte Zwecke gegolten und jene Seligkeit ihren Erfindern gegeben, welche beim Aufleuchten eines l e t z t e n Zweckes in die menschliche Seele kommt.
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U r s p r u n g u n d B e d e u t u n g . — Warum kommt mir dieser Gedanke immer wieder und leuchtet mir in immer bunteren Farben? — dass e h e m a l s die Forscher, wenn sie auf dem Wege zum Ursprung der Dinge waren, immer Etwas von dem zu finden meinten, was von unschätzbarer Bedeutung für alles Handeln und Urtheilen sei, ja, dass man stets v o r a u s s e t z t e , von der E i n s i c h t i n d e n U r s p r u n g d e r D i n g e müsse des Menschen H e i l abhängen: dass wir jetzt hingegen, je weiter wir dem Ursprünge nachgehen, um so weniger mit unseren Interessen betheiligt sind; ja, dass alle unsere Werthschätzungen und „Interessirtheiten", die wir in die Dinge gelegt haben, anfangen ihren Sinn zu verlieren, je mehr wir mit
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unserer Erkenntniss zurück und an die Dinge selbst heran gelangen. M i t d e r E i n s i c h t in d e n Ursprung nimmt die Bedeutungslosigkeit des Urs p r u n g s z u : während d a s N ä c h s t e , das Um-uns und In-uns allmählich Farben und Schönheiten und Räthsel und Reichthümer von Bedeutung aufzuzeigen beginnt, von denen sich die ältere Menschheit nichts träumen Hess. Ehemals giengen die Denker gleich eingefangenen Thieren ingrimmig herum, immer nach den Stäben ihres Käfigs spähend und gegen diese anspringend, um sie zu zerbrechen: und s e l i g schien der, welcher durch eine Lücke Etwas von dem Draussen, von dem Jenseits und der Ferne zu sehen glaubte.
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Ein T r a g ö d i e n - A u s g a n g der Erkenntniss. — Von allen Mitteln der Erhebung sind es die Menschenopfer gewesen, welche zu allen Zeiten den Menschen am meisten erhoben und gehoben haben. Und vielleicht könnte mit Einem ungeheuren Gedanken immer noch jede andere Bestrebung niedergerungen werden, sodass ihm der Sieg über den Siegreichsten gelänge, — mit dem Gedanken der s i c h opfernden M e n s c h h e i t . W e m aber sollte sie sich opfern? Man kann bereits darauf schwören, dass, wenn jemals das Sternbild dieses Gedankens am Horizonte erscheint, die Erkenntniss der Wahrheit als das einzige ungeheure Ziel übrig geblieben sein wird, dem ein solches Opfer angemessen wäre, weil ihm kein Opfer zu gross ist. Inzwischen ist das Problem noch nie aufgestellt worden, inwiefern der Menschheit, als einem Ganzen, Schritte möglich sind, die Erkenntniss zu fördern; geschweige denn, welcher Erkenntnisstrieb die Menschheit so weit treiben könnte, sich selber darzubringen, um mit dem Leuchten einer vorwegnehmenden Weisheit im Auge zu sterben. Vielleicht, wenn einmal eine Verbrüderung mit Bewohnern anderer Sterne zum
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Zweck der Erkenntniss hergestellt ist, und man einige Jahrtausende lang sich sein Wissen von Stern zu Stern mitgetheilt hat: vielleicht, dass dann die Begeisterung der Erkenntniss auf eine solche Fluth-Höhe kommt! 4 6.
Z w e i f e l a m Z w e i f e l . — „Welch' gutes Kopfkissen ist der Zweifel für einen wohlgebauten Kopf!" — diess Wort Montaigne's hat Pascal immer erbittert, denn es verlangte Niemanden gerade so stark nach einem guten Kopfkissen, als ihn. Woran fehlte es doch? —
47·
D i e W o r t e l i e g e n u n s im W e g e ! — Überall, wo die Uralten ein Wort hinstellten, da glaubten sie eine Entdekkung gemacht zu haben. Wie anders stand es in Wahrheit! — sie hatten an ein Problem gerührt und indem sie wähnten, es g e l ö s t zu haben, hatten sie ein Hemmniss der Lösung geschaffen. — Jetzt muss man bei jeder Erkenntniss über steinharte verewigte Worte stolpern, und wird dabei eher ein Bein brechen, als ein Wort. 48.
„ E r k e n n e dich selbst" ist die ganze Wiss e n s c h a f t . — Erst am Ende der Erkenntniss aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Gränzen des Menschen.
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Das neue G r u n d g e f ü h l : unsere endgültige V e r g ä n g l i c h k e i t . — Ehemals suchte man zum Gefühl der
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Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche A b k u n f t hinzeigte: diess ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Thür steht der Affe, nebst anderem greulichen Gethier, und fletscht verständnissvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter in dieser Richtung! So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung: der Weg, w o h i n die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es Nichts! A m Ende dieses Weges steht die Graburne des l e t z t e n Menschen und Todtengräbers (mit der Aufschrift „nihil humani a me alienum puto"). Wie hoch die Menschheit sich entwickelt haben möge — und vielleicht wird sie am Ende gar tiefer, als am Anfang stehen! — es giebt für sie keinen Ubergang in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer „Erdenbahn" zur Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen Schauspiele eine Ausnahme für irgend ein Sternchen und wiederum für ein Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten!
50.
D e r G l a u b e a n d e n R a u s c h . — Die Menschen der erhabenen und verzückten Augenblicke, denen es für gewöhnlich, um des Gegensatzes willen und wegen der verschwenderischen Abnützung ihrer Nervenkräfte, elend und trostlos zu Muthe ist, betrachten jene Augenblicke als das eigentliche Selbst, als „sich", das Elend und die Trostlosigkeit als die W i r k u n g d e s „ A u s s e r - s i c h " ; und desshalb denken sie an ihre Umgebung, ihre Zeit, ihre ganze Welt mit rachsüchtigen Gefühlen. Der Rausch gilt ihnen als das wahre Leben, als das eigentliche Ich: in allem Anderen sehen sie die Gegner und Verhinderer des Rausches, sei dieser nun geistiger, sittlicher, reli-
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giöser oder künstlerischer Natur. Diesen schwärmerischen Trunkenbolden verdankt die Menschheit viel Übles: denn sie sind die unersättlichen Unkraut-Aussäer der Unzufriedenheit mit sich und den Nächsten, der Zeit- und Weltverachtung und nament5 lieh der Welt-Müdigkeit. Vielleicht könnte eine ganze Hölle von V e r b r e c h e r n nicht diese drückende, land- und luftverderbende, unheimliche Nachwirkung in die fernste Ferne hin haben, wie jene kleine edle Gemeinde von Unbändigen, Phantasten, Halbverrückten, von Genie's, die sidi nicht beherrschen I O können und allen möglichen Genuss an sich erst dann haben, wenn sie sich völlig verlieren: während der Verbrecher sehr oft noch einen Beweis von ausgezeichneter Selbstbeherrschung, Aufopferung und Klugheit giebt und diese Eigenschaften bei Denen, welche ihn fürchten, wach erhält. Durch ihn wird der Himmel 15 über dem Leben vielleicht gefährlich und düster, aber die Luft bleibt kräftig und streng. — Zu alledem pflanzen jene Schwärmer mit allen ihren Kräften den Glauben an den Rausch als an das Leben im Leben: einen furchtbaren Glauben! Wie die Wilden jetzt schnell durch das „Feuerwasser" verdorben werden und 20 zu Grunde gehen, so ist die Menschheit im Ganzen und Grossen langsam und gründlich durch die g e i s t i g e n Feuerwässer trunken machender Gefühle und durch Die, welche die Begierde darnach lebendig erhielten, verdorben worden: vielleicht geht sie noch daran zu Grunde.
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S o w i e w i r n o c h s i n d ! — „Seien wir nachsichtig gegen die grossen Einäugigen!" — hat Stuart Mill gesagt: als ob Nachsicht zu erbitten nöthig wäre, wo man gewöhnt ist, ihnen Glauben und beinahe Anbetung zu zollen! Ich sage: seien 3° wir nachsichtig gegen die Zweiäugigen, grosse und kleine, — denn höher, als bis zur Nachsicht werden wir, s o w i e w i r s i n d , es doch nicht bringen!
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5*· W o s i n d d i e n e u e n Ä r z t e d e r S e e l e ? — Die Mittel des Trostes sind es gewesen, durch welche das Leben erst jenen leidvollen Grunddiarakter, an den man jetzt glaubt, bekommen hat; die grösste Krankheit der Menschen ist aus der Bekämpfung ihrer Krankheiten entstanden, und die anscheinenden Heilmittel haben auf die Dauer Schlimmeres erzeugt, als Das war, was mit ihnen beseitigt werden sollte. Aus Unkenntniss hielt man die augenblicklich wirkenden, betäubenden und berauschenden Mittel, die sogenannten Tröstungen, für die eigentlichen Heilkräfte, ja, man merkte es nicht einmal, dass man diese sofortigen Erleichterungen oft mit der allgemeinen und tiefen Verschlechterung des Leidens bezahlte, dass die Kranken an der Nachwirkung des Rausches, später an der Entbehrung des Rausches und noch später an einem drückenden Gesammtgefühl von Unruhe, Nervenzittern und Ungesundheit zu leiden hatten. Wenn man bis zu einem gewissen Grade erkrankt war, genas man nicht mehr, — dafür sorgten die Ärzte der Seele, die allgemein beglaubigten und angebeteten. — Man sagt Schopenhauern nach, und mit Recht, dass er die Leiden der Menschheit endlich einmal wieder ernst genommen habe: wo ist Der, welcher endlich auch einmal die Gegenmittel gegen diese Leiden ernst nimmt und die unerhörte Quacksalberei an den Pranger stellt, mit der, unter den herrlichsten Namen, bis jetzt die Menschheit ihre Seelenkrankheiten zu behandeln gewöhnt ist?
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M i s s b r a u c h d e r G e w i s s e n h a f t e n . — Die Gewissenhaften und n i c h t die Gewissenlosen waren es, die so furchtbar unter dem Druck von Busspredigten und Höllenängsten zu leiden hatten, zumal wenn sie zugleich Menschen der Phantasie waren. Also ist gerade Denen das Leben am mei-
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sten verdüstert worden, welche Heiterkeit und anmuthige Bilder nöthig hatten — nicht nur zu ihrer Erholung und Genesung von sich selber, sondern damit die Menschheit sich ihrer erfreuen könne und von ihrer Schönheit einen Strahl in sich hinübernehme. Oh, wie viel überflüssige Grausamkeit und Thierquälerei ist von jenen Religionen ausgegangen, welche die Sünde erfunden haben! Und von den Menschen, welche durch sie den höchsten Genuss ihrer Macht haben wollten!
54· D i e G e d a n k e n ü b e r d i e K r a n k h e i t ! — Die Phantasie des Kranken beruhigen, dass er wenigstens nicht, wie bisher, m e h r von seinen Gedanken über seine Krankheit zu leiden hat, als von der Krankheit selber, — ich denke, das ist Etwas! Und es ist nicht Wenig! Versteht ihr nun unsere Aufgabe?
55· D i e „W e g e". — Die angeblichen „kürzeren Wege" haben die Menschheit immer in grosse Gefahr gebracht; sie verlässt immer bei der frohen Botschaft, dass ein solcher kürzerer Weg gefunden sei, ihren Weg — und v e r l i e r t d e n W e g .
S6. D e r A p o s t a t d e s f r e i e n G e i s t e s . — Wer hat denn gegen fromme glaubensstarke Menschen eine Abneigung? Umgekehrt, sehen wir sie nicht mit stiller Hochachtung an und freuen uns ihrer, mit einem gründlichen Bedauern, dass diese trefflichen Menschen nicht mit uns zusammenempfinden? Aber woher stammt jener tiefe plötzliche Widerwille ohne Gründe gegen Den, der einmal alle Freiheit des Geistes h a t t e und am Ende „gläubig" w u r d e ? Denken wir daran, so ist es uns, als hätten
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wir einen ekelhaften Anblick gehabt, den wir schnell von der Seele wegwischen müssten! Würden wir nicht dem verehrtesten Menschen den Rücken drehen, wenn er in dieser Beziehung uns verdächtig würde? Und zwar nicht aus einer moralischen Verurtheilung, sondern aus einem plötzlichen Ekel und Grausen! Woher diese Schärfe der Empfindung! Vielleicht wird uns Dieser oder Jener zu verstehen geben, dass wir im Grunde unser selber nicht ganz sicher seien? Dass wir bei Zeiten Dornenhecken der spitzesten Verachtung um uns pflanzten, damit wir im entscheidenden Augenblicke, wo das Alter uns schwach und vergesslich madie, über unsere eigene Verachtung nicht hinwegkönnten? — Aufrichtig: diese Vermuthung greift fehlt, und wer sie macht, weiss Nichts von dem, was den freien Geist bewegt und bestimmt: wie wenig erscheint ihm das V e r ä n d e r n seiner Meinungen an sich als verächtlich! Wie verehrt er umgekehrt in der F ä h i g k e i t , seine Meinungen zu wechseln, eine seltene und hohe Auszeichnung, namentlich wenn sie bis in's Alter hineinreicht! Und selbst zu den verbotenen Früchten des spernere se sperni und des spernere se ipsum greift sein Ehrgeiz hinauf (und n i c h t sein Kleinmuth): geschweige dass er die Angst des Eitlen und Bequemen davor hätte! Zu alledem gilt ihm die Lehre von der U n s c h u l d a l l e r M e i n u n g e n so sicher wie die Lehre von der Unschuld aller Handlungen: wie könnte er vor dem Apostaten der geistigen Freiheit zum Richter und Henker werden! Vielmehr berührt ihn sein Anblick, wie der Anblick eines widerlich Erkrankten den Arzt berührt: der physische Ekel vor dem Schwammigen, Erweichten, Überwuchernden, Eiternden siegt einen Augenblick über die Vernunft und den Willen, zu helfen. So wird unser guter Wille von der Vorstellung der ungeheuren U n r e d l i c h k e i t überwältigt, welche im Apostaten des freien Geistes gewaltet haben muss: von der Vorstellung einer allgemeinen und bis in's Knochengerüste des Charakters greifenden Entartung. —
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A n d e r e F u r c h t , a n d e r e S i c h e r h e i t . — DasChristenthum hatte dem Leben eine ganz neue und unbegränzte G e f ä h r l i c h k e i t beigelegt, und damit ebenfalls ganz neue Sicherheiten, Genüsse, Erholungen und Abschätzungen aller Dinge geschaffen. Diese Gefährlichkeit leugnet unser Jahrhundert, und mit gutem Gewissen: und doch schleppt es die alten Gewohnheiten der christlichen Sicherheit, des christlichen Geniessens, Sich-Erholens, Abschätzens noch mit sich fort! Und bis in seine edelsten Künste und Philosophien hinein! Wie matt und verbraucht, wie halb und linkisch, wie willkürlich-fanatisch und vor Allem: wie unsicher muss das Alles sich ausnehmen, jetzt, da jener furchtbare Gegensatz dazu, die allgegenwärtige F u r c h t des Christen für sein e w i g e s Heil verloren gegangen ist! 58.
D a s C h r i s t e n t h u m u n d d i e A f f e c t e. — Aus dem Christenthum ist auch ein grosser volksthümlicher Protest gegen die Philosophie herauszuhören: die Vernunft der alten Weisen hatte den Menschen die Affecte widerrathen, das Christenthum will dieselben ihnen w i e d e r g e b e n . Zu diesem Zwecke spricht es der Tugend, so wie sie von den Philosophen gefasst war, — als Sieg der Vernunft über den Affect — allen moralischen Werth ab, verurtheilt überhaupt die Vernünftigkeit und fordert die Affecte heraus, sich in ihrer äussersten Stärke und Pracht zu offenbaren: als L i e b e zu Gott, F u r c h t vor Gott, als fanatischen G l a u b e n an Gott, als blindestes H o f f e n auf Gott. 59· I r r t h u m a l s L a b s a l . — Man mag sagen, was man will: das Christenthum hat die Menschen von der Last der mo-
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raiischen Anforderungen befreien wollen, dadurch, dass es einen k ü r z e r e n W e g z u r V o l l k o m m e n h e i t zu zeigen meinte: ganz so, wie einige Philosophen sich der mühseligen und langwierigen Dialektik und der Sammlung streng geprüfter Thatsachen entschlagen zu können wähnten und auf einen „königlichen Weg zur Wahrheit" verwiesen. Es war beide Male ein Irrthum, — aber doch ein grosses Labsal für Übermüde und Verzweifelnde in der Wüste.
60. Aller Geist wird endlich leiblich sichtbar. — Das Christenthum hat den gesammten Geist zahlloser Unterwerfungslustiger, aller jener feinen und groben Enthusiasten der Demüthigung und Anbetung in sich geschlungen, es ist damit aus einer ländlichen Plumpheit — an welche man zum Beispiel bei dem ältesten Bilde des Apostels Petrus stark erinnert wird — eine sehr g e i s t r e i c h e Religion geworden, mit Tausenden von Falten, Hintergedanken und Ausflüchten im Gesichte; es hat die Menschheit Europa's gewitzigt und nicht nur theologisch verschlagen gemacht. In diesem Geiste und im Bunde mit der Macht und sehr oft mit der tiefsten Überzeugung und Ehrlichkeit der Hingebung hat es vielleicht die feinsten Gestalten der menschlichen Gesellschaft a u s g e m e i s s e l t , die es bisher gegeben hat: die Gestalten der höheren und höchsten katholischen Geistlichkeit, namentlich wenn diese einem vornehmen Geschlechte entsprossen waren und von vornherein angeborene Anmuth der Gebärden, herrschende Augen und schöne Hände und Füsse hinzubrachten. Hier erreicht das menschliche Antlitz jene Durchgeistigung, die durch die beständige Ebbe und Flut der zwei Arten des Glüdkes (des Gefühls der Macht und des Gefühls der Ergebung) hervorgebracht wird, nachdem eine ausgedachte Lebensweise das Thier im Menschen gebändigt hat; hier hält eine Thätigkeit, die im Segnen, Sündenvergeben und Repräsen-
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tiren der Gottheit besteht, fortwährend das Gefühl einer übermenschlichen Mission in der Seele, j a a u c h i m L e i b e wach; hier herrscht jene vornehme Verachtung gegen die Gebrechlichkeit von Körper und Wohlfahrt des Glückes, wie sie geborenen Soldaten zu eigen ist; man hat im Gehorchen seinen S t o l z , was das Auszeichnende aller Aristokraten ausmacht; man hat in der ungeheueren Unmöglichkeit seiner Aufgabe seine Entschuldigung und seine Idealität. Die mächtige Schönheit und Feinheit der Kirchenfürsten hat immerdar für das Volk die W a h r h e i t der Kirche bewiesen; eine zeitweilige Brutalisirung der Geistlichkeit (wie zu Zeiten Luther's) führte immer den Glauben an das Gegentheil mit sich. — Und d i e s s Ergebniss menschlicher Schönheit und Feinheit in der Harmonie von Gestalt, Geist und Aufgabe wäre, mit dem Ende der Religionen, auch zu Grabe getragen? Und Höheres Hesse sich nicht erreichen, nicht einmal ersinnen? 61. D a s O p f e r , d a s n o t h t h u t . — Diese ernsten, tüchtigen, rechtlichen, tief empfindenden Menschen, welche jetzt noch von Herzen Christen sind: sie sind es sich schuldig, einmal auf längere Zeit versuchsweise ohne Christenthum zu leben, sie sind es i h r e m G l a u b e n schuldig, einmal auf diese Art einen Aufenthalt „in der Wüste" zu nehmen, — nur damit sie sich das Recht erwerben, in der Frage, ob das Christenthum nöthig sei, mitzureden. Einstweilen kleben sie an ihrer Scholle und lästern von da aus die Welt jenseits der Scholle: ja, sie sind böse und erbittert, wenn Jemand zu verstehen giebt, dass jenseits der Scholle eben noch die ganze, ganze Welt liegt! dass das Christenthum, Alles in Allem, eben nur ein Winkel ist! Nein, euer Zeugniss wiegt nicht eher Etwas, als bis ihr Jahre lang ohne Christenthum gelebt habt, mit einer ehrlichen Inbrunst darnach, es im Gegentheile des Christenthums auszuhalten: bis ihr weit, weit von ihm fortgewandert seid. Nicht wenn das Heimweh euch
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zurücktreibt, sondern das U r t h e i 1 auf Grund einer strengen V e r g l e i c h u n g , so hat euer Heimkehren Etwas zu bedeuten! — Die zukünftigen Menschen werden es einmal so mit allen Werthschätzungen der Vergangenheit machen; man muss sie freiwillig noch einmal d u r c h l e b e n , und ebenso ihr Gegentheil, — um schliesslich das R e c h t zu haben, sie durch das Sieb fallen zu lassen.
62.
V o m U r s p r ü n g e d e r R e l i g i o n e n . — Wie kann Einer seine eigene Meinung über die Dinge als eine Offenbarung empfinden? Diess ist das Problem von der Entstehung der Religionen: jedesmal hat es einen Menschen dabei gegeben, in welchem jener Vorgang möglich war. Die Voraussetzung ist, dass er vorher schon an Offenbarungen glaubte. Nun gewinnt er eines Tages plötzlich s e i n e n neuen Gedanken, und das Beseligende einer eigenen grossen Welt und Dasein umspannenden Hypothese tritt so gewaltig in sein Bewusstsein, dass er sich nicht als Schöpfer einer solchen Seligkeit zu fühlen wagt und die Ursache davon und wieder die Ursache der Ursache jenes neuen Gedankens seinem Gotte zuschreibt: als dessen Offenbarung. Wie sollte ein Mensch der Urheber eines so grossen Glückes sein können! — lautet sein pessimistischer Zweifel. Dazu wirken nun im Verborgenen andere Hebel: zum Beispiele man b e k r ä f t i g t eine Meinung vor sich dadurch, dass man sie als Offenbarung empfindet, man streicht damit das Hypothetische weg, man entzieht sie der Kritik, ja dem Zweifel, man macht sie heilig. So erniedrigt man sich zwar selber zum Organon, aber unser Gedanke siegt zuletzt als Gottesgedanke, — dieses Gefühl, damit am Ende Sieger zu bleiben, erringt die Oberhand über jenes Gefühl der Erniedrigung. Audi ein anderes Gefühl spielt im Hintergrunde: wenn man sein E r z e u g n i s s über sich selber erhebt und scheinbar vom eigenen Werthe absieht, so giebt es
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doch dabei ein Frohlocken von Vaterliebe und Vaterstolz, das Alles ausgleicht und mehr als ausgleicht.
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N ä c h s t e n - H a s s . — Gesetzt, wir empfänden den Anderen so, wie er sich selber empfindet — Das, was Schopenhauer Mitleid nennt und was richtiger Ein-Leid,Einleidigkeit hiesse — , so würden wir ihn hassen müssen, wenn er sich selber, gleich Pascal, hassenswerth findet. Und so empfand wohl auch Pascal im Ganzen gegen die Menschen, und ebenso das alte Christenthum, das man, unter Nero, des odium generis humani „überführte", wie Tacitus meldet.
64.
D i e V e r z w e i f e l n d e n . — Das Christenthum hat den Instinct des Jägers für alle Die, welche irgend wodurch überhaupt zur Verzweiflung zu bringen sind, — nur eine Auswahl der Menschheit ist deren fähig. Hinter ihnen ist es immer her, ihnen lauert es auf. Pascal machte den Versuch, ob nicht mit Hülfe der schneidendsten Erkenntniss Jedermann zur Verzweiflung gebracht werden könnte; — der Versuch misslang, zu seiner zweiten Verzweiflung.
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B r a h m a n e n - u n d C h r i s t e n t h u m . — Es giebt Recepte zum Gefühle der Macht, einmal für Solche, welche sich selber beherrschen können und welche bereits dadurch in einem Gefühle der Macht zu Hause sind: sodann für Solche, welchen gerade diess fehlt. Für Menschen der ersten Gattung hat das Brahmanenthum Sorge getragen, für Menschen der zweiten Gattung das Christenthum.
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66. F ä h i g k e i t d e r V i s i o n . — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision f ä h i g zu machen! "Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „ sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen" — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!
67. P r e i s d e r G l ä u b i g e n . — Wer solchen Werth darauf legt, dass an ihn geglaubt werde, dass er den Himmel für diesen Glauben gewährleistet, und Jedermann, sei es selbst ein Schächer am Kreuze, — der muss an einem furchtbaren Zweifel gelitten und jede Art von Kreuzigung kennen gelernt haben: er würde sonst seine Gläubigen nicht so theuer kaufen.
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D e r e r s t e C h r i s t . — Alle Welt glaubt noch immer an die Schriftstellerei des „heiligen Geistes" oder steht unter der Nachwirkung dieses Glaubens: wenn man die Bibel aufmacht, so geschieht es, um sich zu „erbauen", um in seiner eigenen, persönlichen grossen oder kleinen Noth einen Fingerzeig des Trostes zu finden, — kurz, man liest sich hinein und sich heraus. Dass in ihr auch die Geschichte einer der ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen und eines ebenso abergläubischen als verschlagenen Kopfes beschrieben steht, die Geschichte des Apostels Paulus, — wer weiss das, einige Gelehrte abgerechnet? Ohne
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diese merkwürdige Geschichte aber, ohne die Verwirrungen und Stürme eines solchen Kopfes, einer solchen Seele, gäbe es keine Christenheit; kaum würden wir von einer kleinen jüdischen Secte erfahren haben, deren Meister am Kreuze starb. Freilich: hätte man eben diese Geschichte zur rechten Zeit begriffen, hätte man die Schriften des Paulus nicht als die Offenbarungen des „heiligen Geistes", sondern mit einem redlichen und freien eigenen Geiste, und ohne an alle unsere persönliche Noth dabei zu denken, gelesen, w i r k l i c h g e l e s e n — es gab anderthalb Jahrtausend keinen solchen Leser —, so würde es auch mit dem Christenthum längst vorbei sein: so sehr legen diese Blätter des jüdischen Pascal den Ursprung des Christenthums blos, wie die Blätter des französischen Pascal sein Schicksal und Das, woran es zu Grunde gehen wird, bloslegen. Dass das Schiff des Christenthums einen guten Theil des jüdischen Ballastes über Bord warf, dass es unter die Heiden gieng und gehen konnte, — das hängt an der Geschichte dieses Einen Menschen, eines sehr gequälten, sehr bemitleidenswerthen, sehr unangenehmen und sich selber unangenehmen Menschen. Er litt an einer fixen Idee, oder deutlicher: an einer f i x e n , stets gegenwärtigen, nie zur Ruhe kommenden F r a g e : welche Bewandtniss es mit dem jüdischen G e s e t z e habe? und zwar mit der E r f ü l l u n g d i e s e s G e s e t z e s ? In seiner Jugend hatte er ihm selber genugthun wollen, heisshungrig nadi dieser höchsten Auszeichnung, weldie die Juden zu denken vermochten, — dieses Volk, welches die Phantasie der sittlichen Erhabenheit höher als irgend ein anderes Volk getrieben hat und welchem allein die Schöpfung eines heiligen Gottes, nebst dem Gedanken der Sünde als eines Vergehens an dieser Heiligkeit, gelungen ist. Paulus war zugleich der fanatische Vertheidiger und Ehrenwächter dieses Gottes und seines Gesetzes geworden und fortwährend im Kampfe und auf der Lauer gegen die Übertreter und Anzweifler desselben, hart und böse gegen sie und zum Äussersten der Strafen geneigt. Und nun erfuhr er an sich, dass er — hitzig,
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sinnlich, melancholisch, bösartig im Hass, wie er war — das Gesetz selber nicht erfüllen k o n n t e , ja, was ihm das Seltsamste sdiien: dass seine ausschweifende Herrschsucht fortwährend gereizt wurde, es zu übertreten, und dass er diesem Stachel nachgeben m u s s t e . Ist es wirklich die „Fleischlichkeit", welche ihn immer wieder zum Übertreter macht? Und nicht vielmehr, wie er später argwöhnte, hinter ihr das Gesetz selber, welches sich fortwährend als unerfüllbar beweisen m u s s und mit unwiderstehlichem Zauber zur Übertretung lockt? Aber damals hatte er diesen Ausweg noch nicht. Vielerlei lag ihm auf dem Gewissen — er deutet hin auf Feindschaft, Mord, Zauberei, Bilderdienst, Unzucht, Trunkenheit und Lust an ausschweifenden Gelagen — und wie sehr er audi diesem Gewissen, und noch mehr seiner Herrschsucht, durch den äussersten Fanatismus der Gesetzes-Verehrung und -Vertheidigung wieder Luft zu machen suchte: es kamen Augenblicke, wo er sich sagte „Es ist Alles umsonst! die Marter des unerfüllten Gesetzes ist nicht zu überwinden." Ähnlich mag Luther empfunden haben, als er der vollkommene Mensch des geistlichen Ideals in seinem Kloster werden wollte: und ähnlich wie Luthern, der eines Tages das geistliche Ideal und den Papst und die Heiligen und die ganze Clerisei zu hassen begann, mit einem wahren tödtlichen Hass, je weniger er ihn sich eingestehen durfte, — ähnlich ergieng es Paulus. Das Gesetz war das Kreuz, an welches er sich geschlagen fühlte: wie hasste er es! wie trug er es ihm nach! wie suchte er herum, um ein Mittel zu finden, es zu v e r n i c h t e n , — nicht mehr es für seine Person zu erfüllen! Und endlich leuchtete ihm der rettende Gedanke auf, zugleich mit einer Vision, wie es bei diesem Epileptiker nicht anders zugehen konnte: ihm, dem wüthenden Eiferer des Gesetzes, der innerlich dessen todtmüde war, erschien auf einsamer Strasse jener Christus, den Lichtglanz Gottes auf seinem Gesichte, und Paulus hörte die Worte: „warum verfolgst du m i c h ? " Das Wesentliche, was da geschah, ist aber diess: sein K o p f war auf einmal hell geworden; „es
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ist u n v e r n ü n f t i g , hatte er sich gesagt, gerade diesen Christus zu verfolgen! Hier ist ja der Ausweg, hier ist ja die vollkommene Rache, hier und nirgends sonst habe und halte ich ja den V e r n i c h t e r d e s G e s e t z e s ! " Der Kranke des gequältesten Hochmuthes fühlt sich mit Einem Schlage wieder hergestellt, die moralische Verzweiflung ist wie fortgeblasen, denn die Moral ist fortgeblasen, vernichtet, — nämlich e r f ü l l t , dort am Kreuze! Bisher hatte ihm jener schmähliche T o d als Hauptargument gegen die „Messianität", von der die Anhänger der neuen Lehre sprachen, gegolten: wie aber, wenn er η ö t h i g war, um das Gesetz a b z u t h u n ! — Die ungeheuren Folgen dieses Einfalls, dieser Räthsellösung wirbeln vor seinem Blicke, er wird mit Einem Male der glücklichste Mensch, — das Schicksal der Juden, nein, aller Menschen scheint ihm an diesen Einfall, an diese Secunde seines plötzlichen Aufleuchtens gebunden, er hat den Gedanken der Gedanken, den Schlüssel der Schlüssel, das Licht der Lichter; um ihn selber dreht sich fürderhin die Geschichte! Denn er ist von jetzt ab der Lehrer der V e r n i c h t u n g d e s G e s e t z e s ! Dem Bösen absterben — das heisst, auch dem Gesetz absterben; im Fleische sein — das heisst, auch im Gesetze sein! Mit Christus Eins geworden — das heisst, auch mit ihm der Vernichter des Gesetzes geworden; mit ihm gestorben — das heisst, auch dem Gesetze abgestorben! Selbst wenn es noch möglich wäre, zu sündigen, so doch nicht mehr gegen das Gesetz, „ich bin ausserhalb desselben". „Wenn ich jetzt das Gesetz wieder aufnehmen und mich ihm unterwerfen wollte, so würde ich Christus zum Mithelfer der Sünde machen"; denn das Gesetz war dazu da, dass gesündigt werde, es trieb die Sünde immer hervor, wie ein scharfer Saft die Krankheit; Gott hätte den Tod Christi nie besdiliessen können, wenn überhaupt ohne diesen Tod eine Erfüllung des Gesetzes möglich gewesen wäre; jetzt ist nicht nur alle Schuld abgetragen, sondern die Schuld an sich vernichtet; jetzt ist das Gesetz todt, jetzt ist die Fleischlichkeit, in der es wohnt, todt — oder wenigstens
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in fortwährendem Absterben, gleichsam verwesend. Noch kurze Zeit inmitten dieser Verwesung! — das ist das Loos des Christen, bevor er, Eins geworden mit Christus, aufersteht mit Christus, an der göttlichen Herrlichkeit teilnimmt mit Christus und „Sohn Gottes" wird, gleich Christus. — Damit ist der Rausch des Paulus auf seinem Gipfel, und ebenfalls die Zudringlichkeit seiner Seele, — mit dem Gedanken des Einswerdens ist jede Scham, jede Unterordnung, jede Schranke von ihr genommen, und der unbändige Wille der Herrschsucht offenbart sidi als ein vorwegnehmendes Schwelgen in g ö t t l i c h e n Herrlichkeiten. — Diess ist der e r s t e C h r i s t , der Erfinder der Christlichkeit! Bis dahin gab es nur einige jüdische Sectirer. —
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U n n a c h a h m l i c h . — Es giebt eine ungeheure Spannung und Spannweite z w i s c h e n Neid und Freundschaft, zwischen Selbstverachtung und Stolz: in der ersten lebte der Grieche, in der zweiten der Christ.
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W o z u e i n g r o b e r I n t e l l e c t n ü t z e i s t . — Die christliche Kirche ist eine Encyklopädie von vorzeitlichen Culten und Anschauungen der verschiedensten Abkunft und desshalb so missionsfähig: sie mochte ehemals, sie mag jetzt kommen, wohin sie will, sie fand und findet etwas Ähnliches vor, dem sie sich anpassen und dem sie allmählich ihren Sinn unterschieben kann. Nicht das Christliche an ihr, sondern das Universal-Heidnische ihrer G e b r ä u c h e ist der Grund für die Ausbreitung dieser Weltreligion; ihre Gedanken, die zugleich im Jüdischen und im Hellenischen wurzeln, haben von Anbeginn an über die nationalen und rassemässigen Absonderungen und Feinheiten, gleich als über Vorurtheile, sich zu erheben gewusst. Mag man diese
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K r a f t , das Verschiedenste in einander wachsen zu lassen, immerhin bewundern: nur vergesse man auch die verächtliche Eigenschaft dieser Kraft nicht, — die erstaunliche Grobheit und Genügsamkeit ihres Intellectes in der Zeit der Kirchenbildung, um dergestalt mit j e d e r K o s t fürlieb zu nehmen und Gegensätze wie Kieselsteine zu verdauen.
71· D i e c h r i s t l i c h e R a c h e a n R o m . — Nichts ermüdet vielleicht so sehr als der Anblick eines beständigen Siegers, — man hatte Rom zweihundert Jahre lang ein Volk nach dem andern sich unterwerfen sehen, der Kreis war umspannt, alle Zukunft schien am Ende, alle Dinge wurden auf einen ewigen Zustand eingerichtet, — ja wenn das Reich b a u t e , so baute man mit dem Hintergedanken des „aere perennius"; — wir, die wir nur die „Melancholie der Ruinen" kennen, können kaum jene ganz andersartige M e l a n c h o l i e d e r e w i g e n B a u t e n verstehen, gegen welche man sich zu retten suchen musste, wie es gehen wollte, — zum Beispiel mit dem Leichtsinne Horazens. Andere suchten andere Trostmittel gegen die an Verzweiflung gränzende Müdigkeit, gegen das tödtende Bewusstsein, dass alle Gedanken- und Herzensgänge nunmehr ohne Hoffnung seien, dass überall die grosse Spinne sitze, dass sie unerbittlich alles Blut trinken werde, wo es auch noch quelle. — Dieser jahrhundertalte wortlose Hass der ermüdeten Zuschauer gegen Rom, so weit nur Rom herrschte, entlud sich endlich im C h r i s t e n t h u m e , indem es Rom, die „Welt" und die „Sünde" in Eine Empfindung zusammenfasste: man rächte sich an ihm, indem man den plötzlichen Untergang der Welt sich in der Nähe dachte: man rächte sich an ihm, indem man wieder eine Zukunft vor sich stellte — Rom hatte Alles zu s e i n e r Vorgeschichte und Gegenwart zu machen gewusst — und eine Zukunft, in Vergleich zu welcher Rom nicht mehr als das Wich-
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tigste erschien; man rächte sich an ihm, indem man vom letzten G e r i c h t träumte, — und der gekreuzigte Jude als Symbol des Heils war der tiefste Spott auf die prachtvollen römischen Prätoren in der Provinz, denn nun erschienen sie als die Symbole 5 des Unheils und der zum Untergange reifen „Welt". —
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7*· Das „ N a c h - d e m - T o d e " . — Das Christenthum fand die Vorstellung von Höllenstrafen im ganzen römischen Reiche vor: über ihr haben die zahlreichen geheimen Culte mit besonderem Wohlgefallen gebrütet, als über dem fruchtbarsten Ei ihrer Macht. Epikur hatte für seines Gleichen nichts Grösseres zu thun geglaubt, als die Wurzeln d i e s e s Glaubens auszureissen: sein Triumph, der am schönsten im Munde des düsteren und doch hell gewordenen Jüngers seiner Lehre, des Römers Lucretius, ausklingt, kam zu früh, — das Christenthum nahm den bereits verwelkenden Glauben an die unterirdischen Schrecknisse in seinen besonderen Schutz, und that klug daran! Wie hätte es ohne diesen kühnen Griff in's volle Heidenthum den Sieg über die Popularität der Mithras- und Isisculte davontragen können! So brachte es die Furchtsamen auf seine Seite, — die stärksten Anhänger eines neuen Glaubens! Die Juden, als ein Volk, welches am Leben hieng und hängt, gleich den Griechen und mehr als die Griechen, hatten jene Vorstellungen wenig angebaut: der endgültige Tod als die Strafe des Sünders und niemals wieder auferstehen, als äusserste Drohung, — das wirkte schon stark genug auf diese sonderbaren Menschen, welche ihren Leib nicht loswerden wollten, sondern ihn, mit ihrem verfeinerten Ägypticismus, in alle Ewigkeit zu retten hofften. (Ein jüdischer Märtyrer, von dem im zweiten Buche der Makkabäer zu lesen ist, denkt nicht daran, auf seine herausgerissenen Eingeweide Verzicht zu leisten: bei der Auferstehung will er sie h a b e n , — so ist es jüdisch!) Den ersten Christen lag der Gedanke an
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ewige Qualen ganz fern, sie dachten „vom Tode" e r l ö s t zu sein und erwarteten von Tag zu Tage eine Verwandlung und nicht mehr ein Sterben. (Wie seltsam muss der erste Todesfall unter diesen Wartenden gewirkt haben! Wie mischten sich da Verwunderung, Frohlocken, Zweifel, Scham, Inbrunst! — wahrlich ein Vorwurf für grosse Künstler!) Paulus wusste nichts Besseres seinem Erlöser nachzusagen, als dass er den Zugang zur Unsterblichkeit für Jedermann e r ö f f n e t habe, — er glaubt noch nicht an die Auferstehung der Unerlösten, ja, in Folge seiner Lehre vom unerfüllbaren Gesetze und vom Tode als Folge der Sünde argwöhnt er, im Grunde sei bisher Niemand (oder sehr Wenige, und dann aus Gnade und ohne Verdienst) unsterblich geworden; jetzt erst b e g i n n e die Unsterblichkeit ihre Thore aufzuthun, — und zuletzt seien audi für sie sehr Wenige auserwählt: wie der Hochmuth des Auserwählten nicht unterlassen kann hinzuzufügen. — Anderwärts, wo der Trieb nach Leben nicht gleich gross war, wie unter Juden und Judendiristen, und die Aussicht auf Unsterblichkeit nicht ohne Weiteres werthvoller erschien, als die Aussicht auf einen endgültigen Tod, wurde jener heidnische und doch audi nicht ganz unjüdische Zusatz von der Hölle ein erwünschtes Werkzeug in der Hand der Missionäre: es erhob sich die neue Lehre, dass auch der Sünder und Unerlöste unsterblich sei, die Lehre vom EwigVerdammten, und sie war mächtiger, als der nunmehr ganz verbleichende Gedanke vom e n d g ü l t i g e n T o d e . Erst die W i s s e n s c h a f t hat ihn sich wieder zurückerobern müssen, und zwar indem sie zugleich jede andere Vorstellung vom Tode und jedes jenseitige Leben ablehnte. Wir sind um Ein Interesse ärmer geworden: das „Nach-dem-Tode" geht uns Nichts mehr an! — eine unsägliche Wohlthat, welche nur noch zu jung ist, um als solche weit- und breithin empfunden zu werden. — Und von Neuem triumphirt Epikur!
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F ü r d i e „ W a h r h e i t " ! — „Für die Wahrheit des Christenthums sprach der tugendhafte Wandel der Christen, ihre Standhaftigkeit im Leiden, der feste Glaube und vor Allem die Verbreitung und das Wachsthum trotz aller Trübsal", — so redet ihr audi heute noch! Es ist zum Erbarmen! So lernt doch, dass diess Alles nicht für und nicht gegen die Wahrheit spricht, dass die Wahrheit anders bewiesen wird, als die Wahrhaftigkeit, und dass letztere durchaus kein Argument für die erstere ist!
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C h r i s t l i c h e r H i n t e r g e d a n k e . — Sollte diess nicht der gewöhnlichste Hintergedanke des Christen des ersten Jahrhunderts gewesen sein: „es ist besser, sich seine Schuld e i n z u r e d e n , als seine Unschuld, denn man weiss nicht genau, wie ein so m ä c h t i g e r Richter gesinnt ist, — f ü r c h t e n aber muss man, dass er lauter Schuldbewusste zu finden hofft! Bei seiner grossen Macht wird er leichter einen Schuldigen begnadigen, als zugestehen, dass einer vor ihm im Rechte sei." — So empfanden die armen Leute in der Provinz vor dem römischen Prätor: „er ist zu stolz, als dass wir unschuldig sein dürften," — wie sollte sich nicht gerade diese Empfindung bei der christlichen Vergegenwärtigung des höchsten Richters wieder eingestellt haben!
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N i c h t e u r o p ä i s c h u n d n i c h t v o r n e h m . — Es ist etwas Orientalisches und etwas Weibliches im Christenthum: das verräth sich in dem Gedanken „wen Gott lieb hat, den züchtigt er;" denn die Frauen im Orient betrachten Züchtigungen und strenge Abschliessung ihrer Person gegen die Welt
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als ein Zeichen der Liebe ihres Mannes und beschweren sich, wenn diese Zeichen ausbleiben.
76. B ö s e d e n k e n h e i s s t b ö s e m a c h e n . — Die Leidenschaften werden böse und tückisch, wenn sie böse und tückisch betrachtet werden. So ist es dem Christenthum gelungen, aus Eros und Aphrodite — grossen idealfähigen Mächten — höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch die Martern, welche es in dem Gewissen der Gläubigen bei allen geschlechtlichen Erregungen entstehen liess. Ist es nicht schrecklich, n o t w e n dige und regelmässige Empfindungen zu einer Quelle des inneren Elends zu machen und dergestalt das innere Elend b e i j e d e m M e n s c h e n nothwendig und regelmässig machen zu wollen! Noch dazu bleibt es ein geheim gehaltenes und dadurch tiefer wurzelndes Elend: denn nicht Alle haben den Muth Shakespeare's, ihre christliche Verdüsterung in diesem Puncte so zu bekennen, wie er es in seinen Sonetten gethan hat. — Muss denn Etwas, gegen das man zu kämpfen, das man in Schranken zu halten oder sich unter Umständen ganz aus dem Sinne zu schlagen hat, immer b ö s e heissen! Ist es nicht g e m e i n e r Seelen Art, sich einen F e i n d immer b ö s e zu denken! Und darf man Eros einen Feind nennen! An sich ist den geschlechtlichen wie den mitleidenden und anbetenden Empfindungen gemeinsam, dass hier der eine Mensch durch sein Vergnügen einem anderen Menschen wohlthut, — man trifft derartige wohlwollende Veranstaltungen nicht zu häufig in der Natur! Und gerade eine solche verlästern und sie durch das böse Gewissen verderben! Die Zeugung des Menschen mit dem bösen Gewissen verschwistern! — Zuletzt hat diese Verteufelung des Eros einen Komödien-Ausgang bekommen: der „Teufel" Eros ist allmählich den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden, Dank der Munkelei und Geheimthuerei der Kirche in
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allen erotischen Dingen: sie hat bewirkt, bis in unsere Zeiten hinein, dass die L i e b e s g e s c h i c h t e das einzige wirkliche Interesse wurde, das a l l e n Kreisen gemein ist, — in einer dem Alterthum unbegreiflichen Ubertreibung, der später einmal auch noch das Gelächter nachfolgen wird. Unsere ganze Dichterei und Denkerei, vom Grössten bis zum Niedrigsten, ist durch die ausschweifende Wichtigkeit, mit der die Liebesgeschichte darin als Hauptgeschichte auftritt, gezeichnet und mehr als gezeichnet: vielleicht dass ihrethalben die Nachwelt urtheilt, auf der ganzen Hinterlassenschaft der christlichen Cultur liege etwas Kleinliches und Verrücktes.
77· V o n d e n S e e l e n - M a r t e r n . — Bei irgend welchen Martern, die Einer einem fremden Leibe zufügt, schreit jetzt Jedermann laut auf; die Empörung gegen einen Menschen, der dessen fähig ist, bricht sofort los; ja, wir zittern schon bei der Vorstellung einer Marter, welche einem Menschen oder Thiere zugefügt werden könnte, und leiden ganz unerträglich, von einer fest bewiesenen Thatsache dieser Art zu vernehmen. Aber man ist noch weit entfernt, in Betreff der Seelen-Martern und der Entsetzlichkeit ihrer Zufügung ebenso allgemein und bestimmt zu empfinden. Das Christenthum hat sie in einem unerhörten Maasse zur Anwendung gebracht und predigt diese Art Folter noch fortwährend, ja, es klagt ganz unschuldig über Abfall und Lauwerden, wenn es einen Zustand ohne solche Martern antrifft, — Alles mit dem Ergebniss, dass die Menschheit sich gegen den geistigen Feuertod, die geistigen Foltern und Folterwerkzeuge heute noch mit der gleichen ängstlichen Geduld und Unentschlossenheit benimmt, wie ehemals gegen die Grausamkeit am Leibe von Mensch und Thier. Die Hölle ist wahrlich kein bloses Wort geblieben: und den neu geschaffenen wirklichen Höllenängsten hat auch eine neue Gattung des Mitleidens ent-
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sprochen, ein grässliches centnersdiweres, früheren Zeiten unbekanntes Erbarmen mit solchen „unwiderruflich zur Hölle Verdammten", wie es zum Beispiel der steinerne Gast gegen Don Juan zu erkennen giebt und welches in den christlichen Jahrhunderten wohl zum öfteren sdion Steine zum Wehklagen gebracht hat. Plutarch giebt ein düsteres Bild vom Zustand eines Abergläubischen innerhalb des Heidenthums: diess Bild wird harmlos, wenn man den Christen des Mittelalters dagegen hält, welcher m u t h m a a s s t , e r möchte der „ewigen Q u a l " nicht mehr entrinnen können. Ihm zeigen sich entsetzliche Ankündiger: vielleicht ein Storch, der eine Schlange im Schnabel hält und noch z ö g e r t , sie zu verschlucken. Oder die Natur wird plötzlich bleich, oder es fliegen glühende Farben über den Boden hin. Oder die Gestalten von verstorbenen Anverwandten nahen, mit Gesichtern, welche Spuren furchtbarer Leiden tragen. Oder die dunklen Wände im Zimmer des Schlafenden erhellen sich und auf ihnen zeigen sich in gelbem Qualme Marterwerkzeuge und ein Gewirr von Schlangen und Teufeln. J a , welche entsetzliche Stätte hat das Christenthum schon dadurch aus der Erde zu machen gewusst, dass es überall das Crucifix aufrichtete und dergestalt die Erde als den Ort bezeichnete, „wo der Gerechte zu Tode g e m a r t e r t wird"! Und wenn die Gewalt grosser Bussprediger einmal all das heimliche Leiden der Einzelnen, die Marter des „Kämmerleins" in die Öffentlichkeit trieb, wenn zum Beispiel ein Whitefield predigte „wie ein Sterbender zu Sterbenden", bald heftig weinend, bald laut stampfend und leidenschaftlich, mit den einschneidendsten und plötzlichsten Tönen, und ohne Scheu davor, die ganze Wucht eines Angriffs auf eine einzelne anwesende Person zu richten und sie auf eine furchtbare Weise aus der Gemeinde auszusondern, — wie schien sich da jedesmal die Erde wirklich in die „Wiese des Unheils" umwandeln zu wollen! Man sah dann ganze zusammengeströmte Massen wie unter dem Anfall Eines Wahnsinns; Viele in Krämpfen der Angst; Andre lagen da, ohne
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Bewusstsein, bewegungslos: Einige zitterten heftig oder durchschnitten die Luft mit durchdringendem, stundenlang anhaltendem Geschrei. Uberall ein lautes Athmen, wie von Leuten, die halberwürgt nach Lebensluft schnappten. „Und wirklidi, sagt ein Augenzeuge einer solchen Predigt, waren fast alle zu Gehör kommenden Laute diejenigen von Menschen, d i e i n b i t t e r e r Q u a l s t e r b e n . " — Vergessen wir nie, wie erst das Christenthum es war, das aus dem S t e r b e b e t t ein Marterbett gemacht hat, und dass mit den Scenen, welche auf ihm zeither gesehen wurden, mit den entsetzlichen Tönen, welche hier zum ersten Male möglich erschienen, die Sinne und das Blut zahlloser Zeugen für ihr Leben und das ihrer Nachkommen vergiftet worden sind! Man denke sich einen harmlosen Menschen, der es nicht verwinden kann, einmal solche Worte gehört zu haben: „ O h Ewigkeit! O h dass ich keine Seele hätte! O h dass ich nie geboren wäre! Ich bin verdammt, verdammt, auf immer verloren. Vor sechs Tagen hättet ihr mir helfen können. Aber es ist vorbei. Ich gehöre jetzt dem Teufel, ich will mit ihm zur Hölle gehen. Brechet, brechet, arme steinerne Herzen! Wollt ihr nicht brechen? Was kann noch mehr geschehen für steinerne Herzen? Ich bin verdammt, damit ihr gerettet werdet! Da ist er! Ja, da ist er! Komm, guter Teufel! Komm!" —
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D i e s t r a f e n d e G e r e c h t i g k e i t . — Unglück und Schuld, — diese beiden Dinge sind durch das Christenthum auf Eine Wage gesetzt worden: sodass, wenn das Unglück gross ist, das auf eine Schuld folgt, jetzt immer noch unwillkürlich die Grösse der Schuld selber darnach zurückbemessen wird. Diess aber ist nicht a n t i k , und desshalb gehört die griechische Tragödie, in der so reichlich und doch in so anderem Sinne von Unglück und Schuld die Rede ist, zu den grossen Befreierinnen des Gemüths, in einem Maasse, wie es die Alten selber
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nicht empfinden konnten. Sie waren so harmlos geblieben, zwischen Schuld und Unglück keine „adäquate Relation" anzusetzen. Die Schuld ihrer tragischen Heroen ist wohl der kleine Stein, über welchen diese stolpern und desswegen sie wohl den Arm brechen oder sich ein Auge ausschlagen: die antike Empfindung sagte dazu: „Ja, er hätte etwas bedachtsamer und weniger übermüthig seinen Weg machen sollen!" Aber erst dem Christenthum war es vorbehalten, zu sagen: „Hier ist ein schweres Unglück, und hinter ihm m u s s eine schwere, g l e i c h s c h w e r e S c h u l d verborgen liegen, ob wir sie schon nicht deutlich sehen! Empfindest du Unglücklicher nicht s o , so bist du v e r s t o c k t , — du wirst noch Schlimmeres zu erleben haben!" — Sodann gab es im Alterthum wirklich noch Unglück, reines, unschuldiges Unglück; erst im Christenthum wird alles Strafe, wohlverdiente Strafe: es macht die Phantasie des Leidenden auch noch leidend, sodass er bei allem Übel-ergehen sich moralisch verwerflich und verworfen fühlt. Arme Menschheit! — Die Griechen haben ein eigenes Wort für die Empörung über das Unglück des Andern: dieser Affect war unter christlichen Völkern unstatthaft und hat sich wenig entwickelt, und so fehlt ihnen auch der Name für diesen m ä n n l i c h e r e n Bruder des Mitleidens.
79E i n V o r s c h l a g . — Wenn unser Ich, nach Pascal und dem Christenthume, immer h a s s e n s w e r t h ist, wie dürften wir es auch nur gestatten und annehmen, dass Andre es liebten — sei es Gott oder Mensch! Es wäre wider allen guten Anstand, sich lieben zu lassen und dabei recht wohl zu wissen, dass man nur Hass v e r d i e n e , — um von anderen, abwehrenden Empfindungen zu schweigen. — „Aber diess ist eben das Reich der Gnade." — So ist euch eure Nächstenliebe eine Gnade? Euer Mitleid eine Gnade? Nun, wenn euch diess möglich ist, so thut
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nodi einen Schritt weiter: liebt euch selber aus Gnade, — dann habt ihr euren Gott gar nicht mehr nöthig, und das ganze Drama von Sündenfall und Erlösung spielt sich in euch selber zu Ende!
80. ί
D e r m i t l e i d i g e C h r i s t . — Die Kehrseite des christlichen Mitleidens am Leiden des Nächsten ist die tiefe Beargwöhnung aller Freude des Nächsten, seiner Freude an Allem, was er will und kann.
81. 10
H u m a n i t ä t d e s H e i l i g e n . — Ein Heiliger war unter die Gläubigen gerathen und konnte ihren beständigen Hass auf die Sünde nicht mehr aushalten. Zuletzt sagte er: „Gott hat alle Dinge geschaffen, nur die Sünde nicht: was Wunder, dass er ihr nicht gewogen ist? — Aber der Mensch hat die 15 Sünde geschaffen — und er sollte diess sein einziges Kind Verstössen, blos weil es Gott, dem Grossvater der Sünde, missfällt! 1st das human? Alle Ehre Dem, dem Ehre gebührt! — aber Herz und Pflicht sollten doch zuerst für das Kind sprechen — und zuzweit erst für die Ehre des Grossvaters!"
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D e r g e i s t l i c h e Ü b e r f a l l . — „Das musst du mit dir selber ausmachen, denn es gilt dein Leben," mit diesem Zurufe springt Luther heran und meint, wir fühlten uns das Messer an den Hals gelegt. Wir aber wehren ihn mit den Worten eines 2$ Höheren und Bedachtsameren von uns ab: „Es steht bei uns, über Diess und Das keine Meinung zu bilden und so unsrer Seele die Unruhe zu ersparen. Denn die Dinge selbst können ihrer Natur nach uns keine Urtheile a b η ö t h i g e n."
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83.
A r m e M e n s c h h e i t ! — Ein Tropfen Blut zu viel oder zu wenig im Gehirn kann unser Leben unsäglich elend und hart machen, dass wir mehr an diesem Tropfen zu leiden haben, als Prometheus an seinem Geier. Aber zum Schrecklichsten kommt es erst, wenn man nicht einmal w e i s s , dass jener Tropfen die Ursache ist. Sondern „der Teufel"! Oder „die Sünde"! —
84.
D i e P h i l o l o g i e d e s C h r i s t e n t h u m s . — Wie wenig das Christenthum den Sinn für Redlichkeit und Gerechtigkeit erzieht, kann man ziemlich gut nach dem Charakter der Schriften seiner Gelehrten abschätzen: sie bringen ihre Muthmaassungen so dreist vor wie Dogmen und sind über der Auslegung einer Bibelstelle selten in einer redlichen Verlegenheit. Immer wieder heisst es „ich habe Recht, denn es steht geschrieben — " und nun folgt eine unverschämte Willkürlichkeit der Auslegung, dass ein Philologe, der es hört, mitten zwischen Ingrimm und Lachen stehen bleibt und sich immer wieder fragt: ist es möglich! ist diess ehrlich? Ist es auch nur anständig? — Was in dieser Hinsicht immer noch auf protestantischen Kanzeln an Unredlichkeit verübt wird, wie plump der Prediger den Vortheil ausbeutet, dass ihm hier Niemand in's Wort fällt, wie hier die Bibel gezwickt und gezwackt und die K u n s t d e s S c h l e c h t - L e s e n s dem Volke in aller Form beigebracht wird: das unterschätzt nur Der, welcher nie oder immer in die Kirche geht. Zuletzt aber: was soll man von den Nachwirkungen einer Religion erwarten, welche in den Jahrhunderten ihrer Begründung jenes unerhörte philologische Possenspiel um das alte Testament aufgeführt hat: ich meine den Versuch, das alte Testament den Juden unter dem Leibe wegzuziehen, mit der Behauptung, es enthalte Nichts als christliche Lehren und g e h ö r e den Christen als dem w a h r e n Volke Israel: während
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die Juden es sich nur angemaasst hätten. Und nun ergab man sich einer Wuth der Ausdeutung und Unterschiebung, welche unmöglich mit dem guten Gewissen verbunden gewesen sein kann: wie sehr auch die jüdischen Gelehrten protestirten; überall sollte im alten Testament von Christus und nur von Christus die Rede sein, überall namentlich von seinem Kreuze, und wo nur ein Holz, eine Ruthe, eine Leiter, ein Zweig, ein Baum, eine Weide, ein Stab genannt wird, da bedeute diess eine Prophezeiung auf das Kreuzesholz: selbst die Aufrichtung des Einhorns und der ehernen Schlange, selbst Moses, wenn er die Arme zum Gebet ausbreitet, ja selbst die Spiesse, an denen das Passahlamm gebraten wird, — alles Anspielungen und gleichsam Vorspiele des Kreuzes! H a t diess jemals Jemand g e g l a u b t , der es behauptete? Man erwäge, dass die Kirche nicht davor erschrak, den Text der Septuaginta zu bereichern (ζ. B. bei Psalm 96, V . 10), um die eingeschmuggelte Stelle nachher im Sinne der christlichen Prophezeiung auszunützen. Man war eben im K a m p f e und dachte an die Gegner, und nicht an die Redlichkeit.
85. F e i n h e i t i m M a n g e l . — Spottet nur nicht über die Mythologie der Griechen, weil sie so wenig eurer tiefsinnigen Metaphysik gleicht! Ihr solltet ein Volk bewundern, das seinem scharfen Verstände hier gerade Halt gebot und lange Zeit Tact genug hatte, der Gefahr der Scholastik und des spitzfindigen Aberglaubens auszuweichen!
86. D i e c h r i s t l i c h e n I n t e r p r e t e n des Leibes. — Was nur immer von dem Magen, den Eingeweiden, dem Herzschlage, den Nerven, der Galle, dem Samen herkomme — alle jene Verstimmungen, Entkräftungen, Überreizungen, die ganze
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Zufälligkeit der uns so unbekannten Maschine! — Alles das muss so ein Christ wie Pascal als ein moralisches und religiöses Phänomen nehmen, mit der Frage, ob Gott oder Teufel, ob gut oder böse, ob Heil oder Verdammniss darin ruhen! Oh über den unglücklichen Interpreten! Wie er sein System winden und quälen muss! Wie er sich selber winden und quälen muss, um Recht zu behalten!
87. D a s s i t t l i c h e W u n d e r . — Das Christenthum kennt im Sittlichen nur das Wunder: die plötzliche Veränderung aller Werthurtheile, das plötzliche Aufgeben aller Gewohnheiten, die plötzliche unwiderstehliche Neigung zu neuen Gegenständen und Personen. Es fasst dieses Phänomen als die Wirkung Gottes und nennt es den Act der Wiedergeburt, es giebt ihm einen einzigen unvergleichlichen Werth, — Alles, was sonst Sittlichkeit heisst und ohne Bezug zu jenem Wunder ist, wird dem Christen damit gleichgültig, ja vielleicht sogar, als Wohlgefühl, Stolzgefühl, ein Gegenstand der Furcht. Im neuen Testament ist der Kanon der Tugend, des erfüllten Gesetzes aufgestellt: aber so, dass es der Kanon der u n m ö g l i c h e n T u g e n d ist: die sittlich noch s t r e b e n d e n Menschen sollen sich im Angesichte eines solchen Kanons ihrem Ziele immer f e r n e r fühlen lernen, sie sollen an der Tugend v e r z w e i f e l n und sich endlich dem Erbarmenden a n ' s H e r z w e r f e n , — nur mit diesem Abschlüsse konnte das sittliche Bemühen bei einem Christen noch als werthvoll gelten, vorausgesetzt also, dass es immer ein erfolgloses, unlustiges, melancholisches B e m ü h e n bleibe; so konnte es noch dazu d i e n e n , jene ekstatische Minute herbeizuführen, wo der Mensch den „Durchbruch der Gnade" und das sittliche Wunder erlebt: — aber n o t h w e n d i g ist dieses Ringen nach Sittlichkeit nicht, denn jenes Wunder überfällt nicht selten gerade den Sünder, wenn er gleichsam vom Aussatze der
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Sünde blüht; ja, es scheint selber der Sprung aus der tiefsten und gründlichsten Sündhaftigkeit in ihr Gegentheil etwas Leichteres und, als sinnfälliger B e w e i s des Wunders, auch etwas W ü n s c h b a r e r e s zu sein. — W a s übrigens ein solcher plötzlicher vernunftloser und unwiderstehlicher U m s c h l a g , ein solcher Wechsel von tiefstem Elend und tiefstem Wohlgefühl physiologisch zu bedeuten habe (ob vielleicht eine maskirte Epilepsie?), — das mögen die Irrenärzte erwägen, welche ja dergleichen „Wunder" (zum Beispiel als Mordmanie, Manie des Selbstmordes) reichlich zu beobachten haben. Der verhältnissmässig „ a n g e n e h m e r e E r f o l g " im Falle des Christen macht keinen wesentlichen Unterschied. —
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L u t h e r d e r g r o s s e W o h l t h ä t e r . — Das Bedeutendste, was Luther gewirkt hat, liegt in dem Misstrauen, welches er gegen die Heiligen und die ganze christliche vita contemplativa geweckt hat: seitdem erst ist der Weg zu einer unchristlichen vita contemplativa in Europa wieder zugänglich geworden und der Verachtung der weltlichen Thätigkeit und der Laien ein Ziel gesetzt. Luther, der ein wackerer Bergmannssohn blieb, als man ihn in's Kloster gesperrt hatte und hier, in Ermangelung anderer Tiefen und „Teufen", in sich einstieg und schreckliche dunkle Gänge bohrte, — er merkte endlich, dass ein beschauliches heiliges Leben ihm unmöglich sei und dass seine angeborene „Activität" in Seele und Leib ihn zu Grunde richten werde. Allzulange versuchte er mit Kasteiungen den Weg zum Heiligen zu finden, — endlich fasste er seinen Entschluss und sagte bei sich: „es g i e b t gar keine wirkliche vita contemplativa! Wir haben uns betrügen lassen! Die Heiligen sind nicht mehr werth gewesen, als wir Alle." — Das war freilich eine bäuerische Art, Recht zu behalten, — aber für Deutsche jener Zeit die rechte und einzige: wie erbaute es sie, nun in ihrem
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Lutherischen Katechismus zu lesen: „ausser den zehn Geboten giebt es k e i n Werk, das Gott g e f a l l e n könnte, — die g e r ü h m t e n geistlichen Werke der Heiligen sind selbsterdachte." 89. Z w e i f e l a l s S ü n d e . — Das Christenthum hat das Äusserste gethan, um den Cirkel zu schliessen und schon den Zweifel für Sünde erklärt. Man soll ohne Vernunft, durch ein Wunder, in den Glauben hineingeworfen werden und nun in ihm wie im hellsten und unzweideutigsten Elemente schwimmen: schon der Blick nach einem Festlande, schon der Gedanke, man sei vielleicht nicht zum Schwimmen allein da, schon die leise Regung unserer amphibischen Natur — ist Sünde! Man merke doch, dass damit die Begründung des Glaubens und alles Nachdenken über seine Herkunft ebenfalls schon als sündhaft ausgeschlossen sind. Man will Blindheit und Taumel und einen ewigen Gesang über den Wellen, in denen die Vernunft ertrunken ist! 90. E g o i s m u s g e g e n E g o i s m u s . — Wie Viele schliessen immer noch: „es wäre das Leben nicht auszuhalten, wenn es keinen Gott gäbe!" (oder, wie es in den Kreisen der Idealisten heisst: „es wäre das Leben nicht auszuhalten, wenn ihm die ethische Bedeutsamkeit seines Grundes fehlte!") — folglich m ü s s e es einen Gott (oder eine ethische Bedeutsamkeit des Daseins) geben! In Wahrheit steht es nur so, dass, wer sich an diese Vorstellungen gewöhnt hat, ein Leben ohne sie nicht wünscht: dass es also für ihn und seine Erhaltung nothwendige Vorstellungen sein mögen, — aber welche Anmaassung, zu decretiren, dass Alles, was für meine Erhaltung nothwendig ist, auch wirklich d a s e i n müsse! Als ob meine Erhaltung etwas
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Nothwendiges sei! Wie, wenn Andere umgekehrt empfänden! wenn sie gerade unter den Bedingungen jener beiden Glaubensartikel nicht leben möchten und das Leben dann nicht mehr lebenswerth fänden! — Und so steht es jetzt!
91· D i e R e d l i c h k e i t G o t t e s . — Ein Gott, der allwissend und allmäditig ist und der nicht einmal dafür sorgt, dass seine Absicht von seinen Geschöpfen verstanden wird, — sollte das ein Gott der Güte sein? Der die zahllosen Zweifel und Bedenken fortbestehen lässt, Jahrtausende lang, als ob sie für das Heil der Menschheit unbedenklich wären, und der doch wie der die entsetzlichsten Folgen bei einem Sidi-vergreifen an der Wahrheit in Aussicht stellt? Würde es nicht ein grausamer Gott sein, wenn er die Wahrheit hätte und es ansehen könnte, wie die Menschheit sich jämmerlich um sie quält? — Aber vielleicht ist es doch ein Gott der Güte, — und er k o n n t e sich nur nicht deutlicher ausdrücken! So fehlte es ihm vielleicht an Geist dazu? Oder an Beredtsamkeit? Um so schlimmer! Dann irrte er sich vielleicht auch in dem, was er seine „Wahrheit" nennt, und er ist selber dem „armen betrogenen Teufel" nicht so fern! Muss er dann nicht beinahe Höllenqualen ausstehen, seine Geschöpfe um seiner Erkenntniss willen so, und in alle Ewigkeit fort noch schlimmer, leiden zu sehen und n i c h t rathen und helfen zu können, ausser wie ein Taubstummer, der allerhand vieldeutige Zeichen macht, wenn seinem Kinde oder Hunde die schrecklichste Gefahr auf dem Nacken sitzt? — Einem derartig schliessenden und bedrängten Gläubigen wäre wahrlich zu verzeihen, wenn ihm das Mitleiden mit dem leidenden Gott näher läge, als das Mitleiden mit den „Nächsten", — denn es sind nicht mehr seine Nächsten, wenn jener Einsamste, Uranfänglichste auch der Leidendste, Trostbedürftigste von Allen ist. — Alle Religionen zeigen ein Merkmal davon, dass sie einer frühen unreifen Intel-
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lectualität der Menschheit ihre Herkunft verdanken, — sie alle nehmen es erstaunlich l e i c h t mit der Verpflichtung, die Wahrheit zu sagen: sie wissen noch Nichts von einer P f l i c h t G o t t e s , gegen die Menschheit wahrhaftig und deutlich in der Mittheilung zu sein. — Über den „verborgenen Gott" und über die Gründe, sich so verborgen zu halten und immer nur halb mit der Sprache an's Licht zu kommen, ist Niemand beredter gewesen, als Pascal, zum Zeichen, dass er sich nie darüber hat beruhigen können: aber seine Stimme klingt so zuversichtlich, als ob er einmal mit hinter dem Vorhang gesessen hätte. Er hatte die Witterung einer Unmoralität in dem „deus absconditus" und die grösste Scham und Scheu davor, sich diess einzugestehen: und so redete er, wie Einer, der sich fürchtet, so laut als er konnte.
92. A m S t e r b e b e t t e d e s C h r i s t e n t h u m s . — Die wirklich activen Menschen sind jetzt innerlich ohne Christenthum, und die massigeren und betraditsameren Menschen des geistigen Mittelstandes besitzen nur noch ein zurechtgemachtes, nämlich ein wunderlich v e r e i n f a c h t e s Christenthum. Ein Gott, der in seiner Liebe Alles so fügt, wie es uns schliesslich am besten sein wird, ein Gott, der uns unsere Tugend wie unser Glück giebt und nimmt, sodass es im Ganzen immer recht und gut zugeht und kein Grund bleibt, das Leben schwer zu nehmen oder gar zu verklagen, kurz, die Resignation und Bescheidenheit zur Gottheit erhoben, — das ist das Beste und Lebendigste, was vom Christenthum noch übrig geblieben ist. Aber man sollte doch merken, dass damit das Christenthum in einen sanften M o r a l i s m u s übergetreten ist: nicht sowohl „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit" sind übrig geblieben, als Wohlwollen und anständige Gesinnung und der Glaube, dass auch
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im ganzen All Wohlwollen und anständige Gesinnung herrschen werden: es ist die E u t h a n a s i e des Christenthums.
93· W a s i s t W a h r h e i t ? — Wer wird sich den S c h l u s s der Gläubigen nicht gefallen lassen, welchen sie gern machen: „die Wissenschaft kann nicht wahr sein, denn sie leugnet Gott. Folglich ist sie nicht aus Gott; folglich ist sie nicht wahr, — denn Gott ist die Wahrheit." Nidit der Schluss, sondern die Voraussetzung enthält den Fehler: wie, wenn Gott eben n i c h t die Wahrheit wäre, und eben diess bewiesen würde? wenn er die Eitelkeit, das Machtgelüst, die Ungeduld, der Schrecken, der entzückte und entsetzte Wahn der Mensdien wäre?
94· H e i l m i t t e l d e r V e r s t i m m t e n . — Schon Paulus meinte, ein Opfer sei nöthig, damit die tiefe Verstimmung Gottes über die Sünde aufgehoben werde: und seitdem haben die Christen nicht aufgehört, ihr Missbehagen über sich selber an einem O p f e r auszulassen, — sei diess nun die „Welt" oder die „Geschichte" oder die „Vernunft" oder die Freude oder die friedliche Ruhe anderer Menschen, — irgend etwas G u t e s muss für i h r e Sünde sterben (wenn auch nur in effigie)!
95· Die h i s t o r i s c h e W i d e r l e g u n g als die endg ü l t i g e . — Ehemals suchte man zu beweisen, dass es keinen Gott gebe, — heute zeigt man, wie der Glaube, dass es einen Gott gebe, e n t s t e h e n konnte und wodurch dieser Glaube seine Schwere und Wichtigkeit erhalten hat: dadurch wird ein Gegenbeweis, dass es keinen Gott gebe, überflüssig. — Wenn
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man ehemals die vorgebrachten „Beweise vom Dasein Gottes" widerlegt hatte, blieb immer noch der Zweifel, ob nicht noch bessere Beweise aufzufinden seien, als die eben widerlegten: damals verstanden die Atheisten sich nicht darauf, reinen Tisch zu machen.
96. „ I n h o c s i g n o v i n c e s." — So vorgeschritten Europa auch sonst sein mag: in religiösen Dingen hat es noch nicht die freisinnige Naivität der alten Brahmanen erreicht, zum Zeichen, dass in Indien vor vier Jahrtausenden mehr gedacht wurde und mehr Lust am Denken vererbt zu werden pflegte, als jetzt unter uns. Jene Brahmanen nämlich glaubten erstens, dass die Priester mächtiger seien, als die Götter, und zweitens, dass die Bräuche es seien, worin die Macht der Priester begriffen liege: wesshalb ihre Dichter nicht müde wurden, die Bräuche (Gebete, Ceremonien, Opfer, Lieder, Metren) als die eigentlichen Geber alles Guten zu preisen. Wie viel Dichterei und Aberglaube hier audi immer dazwischengelaufen sein mag: die Sätze sind w a h r ! Einen Schritt weiter: und man warf die Götter bei Seite, — was Europa auch einmal thun muss! Noch einen Schritt weiter: und man hatte auch die Priester und Vermittler nicht mehr nöthig, und der Lehrer der R e l i g i o n d e r S e l b s t e r l ö s u n g , Buddha, trat auf: — wie ferne ist Europa noch von dieser Stufe der Cultur! Wenn endlich auch alle Bräuche und Sitten vernichtet sind, auf welche die Macht der Götter, der Priester und Erlöser sich stützt, wenn also die Moral im alten Sinne gestorben sein wird: dann kommt — ja was kommt dann? Doch rathen wir nicht herum, sondern sehen wir zunächst zu, dass Europa nachholt, was in Indien, unter dem Volke der Denker, schon vor einigen Jahrtausenden als Gebot des Denkens gethan wurde! Es giebt jetzt vielleicht zehn bis zwanzig Millionen Menschen unter den verschiedenen Völkern Europa's, welche nicht mehr „an
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Gott glauben", — ist es zu viel gefordert, dass sie einander e i n Z e i c h e n g e b e n ? Sobald sie sich derartig e r k e n n e n , werden sie sich audi zu erkennen geben, — sie werden sofort eine M a c h t in Europa sein und, glücklicherweise, eine Macht 5 z w i s c h e n den Völkern! Zwischen den Ständen! Zwischen Arm und Reich! Zwischen Befehlenden und Unterworfenen! Zwischen den unruhigsten und den ruhigsten, beruhigendsten Menschen!
Zweites Buch.
97Man w i r d m o r a l i s c h , — nicht weil man mor a l i s c h i s t ! — Die Unterwerfung unter die Moral kann sclavenhaft oder eitel oder eigennützig oder resignirt oder dumpf-schwärmerisch oder gedankenlos oder ein Act der Verzweiflung sein, wie die Unterwerfung unter einen Fürsten: an sich ist sie nidits Moralisches. 98.
W a n d e l d e r M o r a l . — Es giebt ein fortwährendes Umwandeln und Arbeiten an der Moral, — das bewirken die V e r b r e c h e n m i t g l ü c k l i c h e m A u s g a n g e (wozu zum Beispiel alle Neuerungen des moralischen Denkens gehören).
99· W o r i n w i r A l l e u n v e r n ü n f t i g s i n d . — Wir ziehen immer noch die Folgerungen von Urtheilen, die wir für falsch halten, von Lehren, an die wir nicht mehr glauben, — durch unsere Gefühle. 100.
V o m T r a u m e e r w a c h e n . — Edle und weise Menschen haben einmal an die Musik der Sphären geglaubt: edle
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und weise Menschen glauben noch immer an die „sittliche Bedeutung des Daseins". Aber eines Tages wird auch diese Sphärenmusik ihrem Ohre nicht mehr vernehmbar sein! Sie erwachen und merken, dass ihr Ohr geträumt hatte.
ιοί. B e d e n k l i c h . — Einen Glauben annehmen, blos weil er Sitte ist, — das heisst doch: unredlich sein, feige sein, faul sein! — Und so wären Unredlichkeit, Feigheit und Faulheit die Voraussetzungen der Sittlichkeit?
I02.
D i e ä l t e s t e n m o r a l i s c h e n U r t h e i l e . — Wie machen wir es doch bei der Handlung eines Menschen in unsrer Nähe? — Zunächst sehen wir darauf hin, was aus ihr f ü r u n s herauskommt, — wir sehen sie nur unter diesem Gesichtspunct. D i e s e Wirkung nehmen wir als die A b s i c h t der Handlung — und endlich legen wir ihm das Haben solcher Absichten als d a u e r n d e Eigenschaft bei und nennen ihn zum Beispiel von nun an „einen schädlichen Menschen". Dreifache Irrung! Dreifacher uralter Fehlgriff! Vielleicht unsre Erbschaft von den Thieren und ihrer Urtheilskraft her! Ist nicht der U r s p r u n g a l l e r M o r a l in den abscheulichen kleinen Schlüssen zu suchen: „was mir schadet, das ist etwas B ö s e s (an sich Schädigendes); was mir nützt, das ist etwas G u t e s (an sich Wohlthuendes und Nutzenbringendes); was mir e i n m a l o d e r e i n i g e m a l e schadet, das ist das Feindliche an sich und in sich; was mir e i n m a l o d e r e i n i g e m a l e nützt, das ist das Freundliche an sich und in sich." Ο pudenda origo! Heisst das nicht: die erbärmliche, gelegentliche, oft zufällige R e l a t i o n eines Anderen zu uns als sein W e s e n und Wesentlichstes auszudichten, und zu behaupten, er sei gegen alle
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Welt und gegen sich selber eben nur solcher Relationen fähig, dergleichen wir ein- oder einigemal erlebt haben? Und sitzt hinter dieser wahren Narrheit nicht noch der unbescheidenste aller Hintergedanken, dass wir selber das Princip des Guten sein müssen, weil sich Gutes und Böses nach uns bemisst? —
103.
Es g i e b t z w e i A r t e n v o n L e u g n e r n d e r S i t t l i c h k e i t . — „Die Sittlichkeit leugnen" — das kann e i n m a l heissen: leugnen, dass die sittlichen Motive, welche die Menschen a n g e b e n , wirklich sie zu ihren Handlungen getrieben haben, — es ist also die Behauptung, dass die Sittlichkeit in Worten bestehe und zur groben und feinen Betrügerei (namentlich Selbstbetrügerei) der Menschen gehöre, und vielleicht gerade bei den durch Tugend Berühmtesten am meisten. S o d a n n kann es heissen: leugnen, dass die sittlichen Urtheile auf Wahrheiten beruhen. Hier wird zugegeben, dass sie Motive des Handelns wirklich sind, dass aber auf diese Weise I r r t h ü m e r , als Grund alles sittlichen Urtheilens, die Menschen zu ihren moralischen Handlungen treiben. Diess ist m e i n Gesichtspunct: doch möchte ich am wenigsten verkennen, dass i n s e h r v i e l e n F ä l l e n ein feines Misstrauen nach Art des ersten Gesichtspunctes, also im Geiste des La Rochefoucauld, auch im Rechte und jedenfalls vom höchsten allgemeinen Nutzen ist. — Ich leugne also die Sittlichkeit wie ich die Alchymie leugne, das heisst, ich leugne ihre Voraussetzungen: n i c h t aber, dass es Alchymisten gegeben hat, welche an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. — Ich leugne auch die Unsittlichkeit: n i c h t , dass zahllose Menschen sich unsittlich f ü h l e n , sondern dass es einen Grund in der W a h r h e i t giebt, sich so zu fühlen. Ich leugne nicht, wie sich von selber versteht — vorausgesetzt, dass ich kein Narr bin —, dass viele Handlungen, welche unsittlich heissen, zu vermeiden und zu be-
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kämpfen sind; ebenfalls, dass viele, die sittlich heissen, zu thun und zu fördern sind, — aber ich meine: das Eine wie das Andere a u s a n d e r e n G r ü n d e n , a l s b i s h e r . Wir haben u m z u l e r n e n , — um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: u m z u f ü h l e n .
104.
U n s e r e W e r t h s c h ä t z u n g e n . — Alle Handlungen gehen auf Werthschätzungen zurück, alle Werthschätzungen sind entweder e i g e n e oder a n g e n o m m e n e , — letztere bei Weitem die meisten. Warum nehmen wir sie an? Aus Furcht, — das heisst: wir halten es für rathsamer, uns so zu stellen, als ob sie auch die unsrigen wären — und gewöhnen uns an diese Verstellung, sodass sie zuletzt unsere Natur ist. Eigene Werthschätzung: das will besagen, eine Sache in Bezug darauf messen, wie weit sie gerade uns und niemandem Anderen Lust oder Unlust macht, — etwas äusserst Seltenes! — Aber wenigstens muss doch unsre Werthschätzung des Anderen, in der das Motiv dafür liegt, dass wir uns in den meisten Fällen s e i n e r Werthschätzung bedienen, von u n s ausgehen, unsere e i g e n e Bestimmung sein? Ja, aber als K i n d e r machen wir sie, und lernen selten wieder um; wir sind meist zeitlebens die Narren kindlicher angewöhnter Urtheile, in der Art, wie wir über unsre Nächsten (deren Geist, Rang, Moralität, Vorbildlichkeit, Verwerflichkeit) urtheilen und es nöthig finden, vor ihren Werthschätzungen zu huldigen.
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D e r S c h e i n - E g o i s m u s . — Die Allermeisten, was sie auch immer von ihrem „Egoismus" denken und sagen mögen, thun trotzdem ihr Lebenlang Nichts für ihr ego, sondern nur für das Phantom von ego, welches sich in den Köpfen ihrer
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Umgebung über sie gebildet und sich ihnen mitgetheilt hat, — in Folge dessen leben sie Alle zusammen in einem Nebel von unpersönlichen, halbpersönlidien Meinungen und willkürlichen, gleichsam dichterischen Werthschätzungen, Einer immer im Kopfe des Andern, und dieser Kopf wieder in anderen Köpfen: eine wunderliche Welt der Phantasmen, welche sidi dabei einen so nüchternen Anschein zu geben weiss! Dieser Nebel von Meinungen und Gewöhnungen wächst und lebt fast unabhängig von den Menschen, die er einhüllt; in ihm liegt die ungeheure Wirkung allgemeiner Urtheile über „den Menschen" — alle diese sich selber unbekannten Menschen glauben an das blutlose Abstractum „Mensch", das heisst, an eine Fiction; und jede Veränderung, die mit diesem Abstractum vorgenommen wird, durch die Urtheile einzelner Mächtiger (wie Fürsten und Philosophen), wirkt ausserordentlich und in unvernünftigem Maasse auf die grosse Mehrzahl, — Alles aus dem Grunde, dass jeder Einzelne in dieser Mehrzahl kein wirkliches, ihm zugängliches und von ihm ergründetes ego der allgemeinen blassen Fiction entgegenzustellen und sie damit zu vernichten vermag.
io 6.
Gegen die D e f i n i t i o n e n der moralischen Z i e l e . — Man hört allerwärts jetzt das Ziel der Moral ungefähr so bestimmt: es sei die Erhaltung und Förderung der Menschheit; aber das heisst eine Formel haben wollen und weiter Nichts. Erhaltung, w o r i n ? muss man sofort dagegen fragen, Förderung w ο h i η ? Ist nicht gerade das Wesentliche, die Antwort auf dieses Worin? und Wohin? in der Formel ausgelassen? Was lässt sich also mit ihr für die Pflichtenlehre festsetzen, was nicht schon, stillschweigend und gedankenlos, jetzt als festgesetzt gilt! Kann man aus ihr genügend absehen, ob man eine möglichst lange Existenz der Menschheit in's Auge zu fassen habe? Oder die möglichste Entthierung der Menschheit? Wie verschieden
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würden in beiden Fällen die Mittel, das heisst die praktische Moral, sein müssen! Gesetzt, man wollte der Menschheit die höchste ihr mögliche Vernünftigkeit geben: diess hiesse gewiss nicht ihr die höchste ihr mögliche Dauer verbürgen! Oder gesetzt, man dächte an ihr „höchstes Glück" als das Wohin und Worin: meint man dann den hödisten Grad, den allmählich einzelne Menschen erreichen könnten? Oder eine, übrigens gar nicht zu berechnende letztens erreichbare Durchschnitts-Glückseligkeit Aller? Und warum wäre die Moralität gerade der Weg dahin? Ist nicht durch sie, im Grossen gesehen, eine solche Fülle von Unlust-Quellen aufgethan worden, dass man eher urtheilen könnte, mit jeder Verfeinerung der Sittlichkeit sei der Mensch bisher mit sich, mit seinem Nächsten und mit seinem Loose des Daseins u n z u f r i e d e n e r geworden? Ist nicht der bisher moralischste Mensch des Glaubens gewesen, der einzig berechtigte Zustand des Menschen im Angesichte der Moral sei die tiefste Unseligkeit?
107. U n s e r A n r e c h t a u f u n s e r e T h o r h e i t . — Wie soll man handeln? Wozu soll man handeln? — Bei den nächsten und gröbsten Bedürfnissen des Einzelnen beantworten sich diese Fragen leicht genug, aber in je feinere, umfänglichere und wichtigere Gebiete des Handelns man aufsteigt, um so unsicherer, folglich um so willkürlicher wird die Beantwortung sein. Nun aber soll hier gerade die Willkürlichkeit der Entscheidungen ausgeschlossen sein! — so heischt es die Autorität der Moral: eine unklare Angst und Ehrfurcht soll den Menschen unverzüglich gerade bei jenen Handlungen leiten, deren Zwecke und Mittel ihm am wenigsten s o f o r t deutlich sind! Diese Autorität der Moral unterbindet das Denken, bei Dingen, wo es gefährlich sein könnte, falsch zu denken — : dergestalt pflegt sie sich vor ihren Anklägern zu rechtfertigen. Falsch: das heisst hier „ge-
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fährlich", — aber gefährlich für wen? Gewöhnlich ist es eigentlich nicht die Gefahr des Handelnden, welche die Inhaber der autoritativen Moral im Auge haben, sondern i h r e Gefahr, ihre mögliche Einbusse an Macht und Geltung, sobald das Recht, willkürlich und thöricht, nach eigener, kleiner oder grosser Vernunft zu handeln, Allen zugestanden wird: für sich selber nämlich machen sie unbedenklich Gebrauch von dem Rechte der Willkürlichkeit und Thorheit, — sie b e f e h l e n , auch wo die Fragen „wie soll ich handeln? wozu soll ich handeln?" kaum oder schwierig genug zu beantworten sind. — Und wenn die V e r n u n f t der Menschheit so ausserordentlich langsam wächst, dass man dieses Wachsthum für den ganzen Gang der Menschheit oft geleugnet hat: was trägt mehr die Schuld daran, als diese feierliche Anwesenheit, ja Allgegenwart moralischer Befehle, welche der i n d i v i d u e l l e n Frage nach dem Wozu? und dem Wie? gar nicht gestattet, laut zu werden? Sind wir nicht daraufhin erzogen, gerade dann p a t h e t i s c h z u f ü h l e n und uns in's Dunkle zu flüchten, wenn der Verstand so klar und kalt wie möglich blicken sollte! Nämlich bei allen höheren und wichtigeren Angelegenheiten.
108.
E i n i g e T h e s e n . — Dem Individuum, s o f e r n es sein Glück will, soll man keine Vorschriften über den Weg zum Glück geben: denn das individuelle Glück quillt aus eigenen, Jedermann unbekannten Gesetzen, es kann mit Vorschriften von Aussen her nur verhindert, gehemmt werden. — Die Vorschriften, welche man „moralisch" nennt, sind in Wahrheit gegen die Individuen gerichtet und wollen durchaus nicht deren Glück. Ebenso wenig beziehen sich diese Vorschriften auf das „Glück und die Wohlfahrt der Menschheit," — mit welchen Worten strenge Begriffe zu verbinden überhaupt nicht möglich ist, geschweige dass man sie als Leitsterne auf dem dunklen Ozean mo-
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raiischer Bestrebungen gebrauchen könnte. — Es ist nicht wahr, dass die Moralität, wie das Vorurtheil will, der Entwidcelung der Vernunft günstiger sei als die Unmoralität. — Es ist nicht wahr, dass das u n b e w u s s t e Z i e l in der Entwidcelung jedes bewussten Wesens (Thier, Mensch, Menschheit u. s. w.) sein „höchstes Glück" sei: vielmehr giebt es auf allen Stufen der Entwicklung ein besonderes und unvergleichbares, weder höheres noch niederes, sondern eben eigentümliches Glück zu erlangen. Entwicklung will nicht Glück, sondern Entwidcelung und weiter Nichts. — N u r wenn die Menschheit ein allgemein anerkanntes Z i e l hätte, könnte man vorschlagen „so und so s o l l gehandelt werden": einstweilen giebt es kein solches Ziel. Also soll man die Forderungen der Moral nicht in Beziehung zur Menschheit setzen, es ist diess Unvernunft und Spielerei. — Der Menschheit ein Ziel a n e m p f e h l e n ist etwas ganz Anderes: dann ist das Ziel als Etwas gedacht, das i n u n s e r e m B e l i e b e n i s t ; gesetzt, es beliebte der Menschheit so wie vorgeschlagen wird, so könnte sie sich daraufhin auch ein Moralgesetz g e b e n , ebenfalls aus ihrem Belieben heraus. Aber bisher sollte das Moralgesetz ü b e r dem Belieben stehen: man wollte diess Gesetz sich nicht eigentlich g e b e n , sondern es irgendwoher n e h m e n oder irgendwo es a u f f i n d e n oder irgendwoher es s i c h b e f e h l e n l a s s e n .
109. Selbst-Beherrschung und Mässigung und i h r l e t z t e s M o t i v . — Ich finde nicht mehr als sechs wesentlich verschiedene Methoden, um die Heftigkeit eines Triebes zu bekämpfen. Einmal kann man den Anlässen zur Befriedigung des Triebes ausweichen und durch lange und immer längere Zeitstrecken der Nichtbefriedigung ihn schwächen und abdorren machen. Sodann kann man eine strenge regelmässige Ordnung in seiner Befriedigung sich zum Gesetz machen; indem man in
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ihn selber auf diese Weise eine Regel bringt und seine Fluth und Ebbe in feste Zeitgränzen einschliesst, hat man Zwischenzeiten gewonnen, wo er nicht mehr stört, — und von da aus kann man vielleicht zur ersten Methode übergehen. Drittens kann man sich absichtlich einer wilden und unbändigen Befriedigung eines Triebes überlassen, um den Ekel davon einzuernten und mit dem Ekel eine Macht über den Trieb zu erlangen: vorausgesetzt, dass man es nicht dem Reiter gleich thut, der sein Pferd zu Tode hetzt und selber dabei den Hals bricht, — was leider die Regel bei diesem Versuche ist. Viertens giebt es einen intellectuellen Kunstgriff, nämlich mit der Befriedigung überhaupt irgend einen sehr peinlichen Gedanken so fest zu verbinden, dass, nach einiger Übung, der Gedanke der Befriedigung immer sogleich selber als sehr peinlich empfunden wird (zum Beispiel wenn der Christ sich gewöhnt, an die Nähe und den Hohn des Teufels beim Geschlechtsgenusse, oder an ewige Höllenstrafen für einen Mord aus Rache, oder auch nur an die Verächtlichkeit zu denken, welche zum Beispiel einem Geld-Diebstahl im Auge der von ihm verehrtesten Menschen folgt, oder wenn Mancher schon zu hundert Malen einem heftigen Verlangen nach dem Selbstmord die Vorstellung des Jammers und der Selbstvorwürfe von Verwandten und Freunden entgegengestellt und damit sich auf der Schwebe des Lebens erhalten hat: — jetzt folgen diese Vorstellungen in ihm auf einander, wie Ursache und Wirkung). Hierhin gehört es audi, wenn der Stolz des Menschen, wie zum Beispiel bei Lord Byron und Napoleon, sich aufbäumt, und das Ubergewicht eines einzelnen Affectes über die gesammte Haltung und die Ordnung der Vernunft als Beleidigung empfindet: woraus dann die Gewohnheit und die Lust entsteht, den Trieb zu tyrannisiren und ihn gleichsam knirschen zu machen. („Ich will nicht der Sclave irgend eines Appetites sein" — schrieb Byron in sein Tagebuch.) Fünftens: man nimmt eine Dislocation seiner Kraftmengen vor, indem man sich irgend eine besonders schwere und anstrengende Arbeit auferlegt oder sidi absichtlich einem
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neuen Reize und Vergnügen unterwirft und dergestalt Gedanken und physisches Kräftespiel in andere Bahnen lenkt. Eben darauf läuft es auch hinaus, wenn man einen anderen Trieb zeitweilig begünstigt, ihm reiche Gelegenheit der Befriedigung giebt und ihn so zum Verschwender jener Kraft macht, über welche sonst der durch seine Heftigkeit lästig gewordene Trieb gebieten würde. Dieser oder Jener versteht es wohl audi, den einzelnen Trieb, der den Gewaltherrn spielen möchte, dadurch im Zaume zu halten, dass er allen seinen ihm bekannten anderen Trieben eine zeitweilige Aufmunterung und Festzeit giebt und sie das Futter aufzehren heisst, welches der Tyrann für sich allein haben will. Endlich sechstens: wer es aushält und vernünftig findet, seine g e s a m m t e leibliche und seelische Organisation zu schwächen und niederzudrücken, der erreicht natürlich das Ziel der Schwächung eines einzelnen heftigen Triebes ebenfalls damit: wie zum Beispiel Der thut, welcher seine Sinnlichkeit aushungert und dabei freilich auch seine Rüstigkeit und nicht selten seinen Verstand mit aushungert und zu Schanden macht, gleich dem Asketen. — Also: den Anlässen ausweichen, Regel in den Trieb hineinpflanzen, Ubersättigung und Ekel an ihm erzeugen, und die Association eines quälenden Gedankens (wie den der Schande, der bösen Folgen oder des beleidigten Stolzes) zu Stande bringen, sodann die Dislocation der Kräfte und endlich die allgemeine Schwächung und Erschöpfung, — das sind die sechs Methoden: d a s s man aber überhaupt die Heftigkeit eines Triebes bekämpfen w i l l , steht nicht in unserer Macht, ebenso wenig, auf welche Methode man verfällt, ebenso wenig, ob man mit dieser Methode Erfolg hat. Vielmehr ist unser Intellect bei diesem ganzen Vorgange ersichtlich nur das blinde Werkzeug eines a n d e r e n T r i e b e s , welcher ein R i v a l dessen ist, der uns durch seine Heftigkeit quält: sei es der Trieb nach Ruhe oder die Furcht vor Schande und anderen bösen Folgen oder die Liebe. Während „wir" uns also über die Heftigkeit eines Triebes zu beklagen meinen, ist es im Grunde ein Trieb,
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w e i c h e r ü b e r e i n e n a n d e r e n k l a g t ; das heisst: die Wahrnehmung des Leidens an einer solchen H e f t i g k e i t setzt voraus, dass es einen ebenso heftigen oder noch heftigeren anderen Trieb giebt, und dass ein K a m p f bevorsteht, in welchem unser Intellect Partei nehmen muss.
ΙΙΟ. D a s , w a s s i c h w i d e r s e t z t . — Man kann folgenden Vorgang an sich beobachten, und ich wollte, er würde oft beobachtet und bestätigt. Es entsteht in uns die Witterung einer Art von L u s t , die wir nodh nicht kannten, und folglich entsteht ein neues V e r l a n g e n . Nun kommt es darauf an, w a s diesem Verlangen s i c h w i d e r s e t z t : sind es Dinge und Rücksichten gemeinerer Art, auch Menschen, welche wenig in unserer Achtung gelten, — so umkleidet sidi das Ziel des neuen Verlangens mit der Empfindung „edel, gut, lobenswerth, opferwürdig," die ganze vererbte moralische Anlage nimmt es nunmehr in sich auf, legt es zu ihren als moralisch empfundenen Zielen — und jetzt meinen wir nicht mehr nach einer Lust, sondern nach einer Moralität zu streben: was die Zuversichtlichkeit unseres Strebens sehr vermehrt.
III.
A n d i e B e w u n d e r e r d e r O b j e c t i v i t ä t . — Wer als Kind mannichfaltige und starke Gefühle, aber wenig feines Urtheil und Lust an der intellectualen Gerechtigkeit, bei den Verwandten und Bekannten, unter denen er aufwuchs, wahrgenommen und folglich im Nachbilden von Gefühlen seine beste Kraft und Zeit verbraucht hat: bemerkt als Erwachsener an sich, dass jedes neue Ding, jeder neue Mensch sofort Zuneigung oder Abneigung oder Neid oder Verachtung in ihm rege macht; unter dem Drucke dieser Erfahrung, gegen den er sich ohnmächtig
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fühlt, bewundert er die N e u t r a l i t ä t d e r E m p f i n d u n g , oder die „Objectivität", wie ein Wunderding, als Sache des Genie's oder der seltensten Moralität, und will nicht daran glauben, dass audi sie nur d a s K i n d d e r Z u c h t u n d G e w o h n h e i t ist.
112.
Zur N a t u r g e s c h i c h t e von P f l i c h t und Recht. — Unsere Pflichten — das sind die Rechte Anderer auf uns. Wodurch haben sie diese erworben? Dadurch, dass sie uns für Vertrags- und vergeltungsfähig nahmen, für gleich und ähnlich mit sich ansetzten, dass sie uns daraufhin Etwas anvertrauten, uns erzogen, zurechtwiesen, unterstützten. Wir erfüllen unsre Pflicht — das heisst: wir rechtfertigen jene Vorstellung von unserer Macht, auf welche hin uns Alles erwiesen wurde, wir geben zurück, in dem Maasse, als man uns gab. So ist es unser Stolz, der die Pflicht zu thun gebeut, — wir wollen unsre Selbstherrlichkeit wiederherstellen, wenn wir dem, was Andre für uns thaten, Etwas entgegenstellen, das wir für sie thun, — denn Jene haben damit in die Sphäre unserer Macht eingegriffen und würden dauernd ihre Hand in ihr haben, wenn wir nicht mit der „Pflicht" eine Wiedervergeltung übten, das heisst in ihre Macht eingriffen. N u r auf Das, was in unsrer Macht steht, können sich die Rechte Anderer beziehen; es wäre unvernünftig, wenn sie Etwas von uns wollten, das uns selber nicht gehört. Genauer muss man sagen: nur auf Das, was sie meinen, dass es in unserer Macht steht, voraussetzend, dass es das Selbe ist, von dem wir meinen, es stehe in unserer Macht. Es könnte leicht auf beiden Seiten der gleiche Irrthum sein: das Gefühl der Pflicht hängt daran, dass wir in Bezug auf den Umkreis unserer Macht den selben G l a u b e n haben, wie die Anderen: nämlich dass wir bestimmte Dinge versprechen, uns zu ihnen verpflichten k ö n n e n („Freiheit des Willens"). — Meine Rechte: das ist
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jener Theil meiner Macht, den mir die Anderen nicht nur zugestanden haben, sondern in welchem sie mich erhalten wollen. Wie kommen diese Anderen dazu? Einmal: durch ihre Klugheit und Furcht und Vorsicht: sei es, dass sie etwas Ähnliches von uns zurückerwarten (Schutz ihrer Rechte), dass sie einen Kampf mit uns für gefährlich oder unzweckmässig halten, dass sie in jeder Verringerung unserer Kraft einen Nachtheil für sich erblikken, weil wir dann zum Bündniss mit ihnen im Gegensatz zu einer feindseligen dritten Macht ungeeignet werden. Sodann: durch Schenkung und Abtretung. In diesem Falle haben die Anderen Macht genug und übergenug, um davon abgeben zu können und das abgegebene Stück Dem, welchem sie es schenkten, zu verbürgen: wobei ein geringes Machtgefühl bei Dem, der sich beschenken lässt, vorausgesetzt wird. So entstehen Rechte: anerkannte und gewährleistete Machtgrade. Verschieben sich die Machtverhältnisse wesentlich, so vergehen Rechte und es bilden sidi neue, — diess zeigt das Völkerrecht in seinem fortwährenden Vergehen und Entstehen. Nimmt unsere Macht wesentlich ab, so verändert sich das Gefühl Derer, welche bisher unser Recht gewährleisteten: sie ermessen, ob sie uns wieder in den alten Vollbesitz bringen können, — fühlen sie sich hierzu ausser Stande, so leugnen sie von da an unsere „Rechte". Ebenso, wenn unsere Macht erheblich zunimmt, verändert sich das Gefühl Derer, welche sie bisher anerkannten und deren Anerkennung wir nun nicht mehr brauchen: sie versuchen wohl, dieselbe auf das frühere Maass herabzudrücken, sie werden eingreifen wollen und sich auf ihre „Pflicht" dabei berufen, — aber diess ist nur ein unnützes Wortemachen. Wo Recht h e r r s c h t , da wird ein Zustand und Grad von Macht aufrecht erhalten, eine Verminderung und Vermehrung abgewehrt. Das Recht Anderer ist die Concession unseres Gefühls von Macht an das Gefühl von Macht bei diesen Anderen. Wenn sich unsere Macht tief erschüttert und gebrochen zeigt, so hören unsere Rechte auf: dagegen hören, wenn wir sehr viel mächtiger ge-
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worden sind, die Rechte Anderer für uns auf, wie wir sie bis jetzt ihnen zugestanden. — Der „billige Mensch" bedarf fortwährend des feinen Tactes einer Wage: für die Macht- und Rechtsgrade, welche, bei der vergänglichen Art der menschlichen Dinge, immer nur eine kurze Zeit im Gleichgewichte schweben werden, zumeist aber sinken oder steigen: — billig sein ist folglich schwer und erfordert viel Übung, (viel) guten Willen und sehr viel sehr guten G e i s t . —
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D a s S t r e b e n n a c h A u s z e i c h n u n g . — Das Streben nach Auszeichnung hat forwährend ein Augenmerk auf den Nächsten und will wissen, wie es ihm zu Muthe ist: aber die Mitempfindung und das Mitwissen, welche dieser Trieb zu seiner Befriedigung nöthig hat, sind weit davon entfernt, harm* los oder mitleidig oder gütig zu sein. Man will vielmehr wahrnehmen oder errathen, wie der Nächste an uns äusserlich oder innerlich l e i d e t , wie er die Gewalt über sich verliert und dem Eindrucke nachgiebt, den unsere Hand oder auch nur unser Anblick auf ihn machen; und selbst wenn der nach Auszeichnung Strebende einen freudigen, erhebenden oder erheiternden Eindruck macht und machen wollte, so geniesst er diesen Erfolg doch nicht, insofern er dabei den Nächsten erfreute1, erhob, erheiterte, sondern insofern er sich der fremden Seele e i n d r ü c k t e , deren Form veränderte und nach seinem Willen über ihr waltete. Das Streben nach Auszeichnung ist das Streben nach Überwältigung des Nächsten, sei es audi eine sehr mittelbare und nur gefühlte oder gar erträumte. Es giebt eine lange Reihe von Graden dieser heimlich begehrten Überwältigung, uhd ein vollständiges Verzeichniss derselben käme beinahe einer Geschichte der Cultur gleich, von der ersten noch fratzenhaften Barbarei an bis zur Fratze der Überfeinerung und der krankhaften Idealität hinauf. Das Streben nach Aus-
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Zeichnung bringt f ü r d e n N ä c h s t e n mit sich — um nur einige Stufen dieser langen Leiter mit N a m e n zu nennen — : Martern, dann Schläge, dann Entsetzen, dann angstvolles Erstaunen, dann Verwunderung, dann Neid, dann Bewunderung, dann Erhebung, dann Freude, dann Heiterkeit, dann Lachen, dann Verlachen, dann Verspotten, dann Verhöhnen, dann Schläge-austheilen, dann Martern-anthun: — hier am Ende der Leiter steht der A s k e t und Märtyrer, er empfindet den höchsten Genuss dabei, eben D a s als Folge seines Triebes nach Auszeichnung selber davon zu tragen, was sein Gegenbild auf der ersten Sprosse der Leiter, der B a r b a r , dem Anderen zu leiden giebt, an dem und vor dem er sich auszeichnen will. Der Triumph des Asketen über sich selber, sein dabei nach Innen gewendetes Auge, welches den Menschen zu einem Leidenden und zu einem Zuschauenden zerspaltet sieht und fürderhin in die Aussenwelt nur hineinblickt, um aus ihr gleichsam H o l z zum eigenen Scheiterhaufen zu sammeln, diese letzte Tragödie des Triebes nach Auszeichnung, bei der es nur noch Eine Person giebt, welche in sich selber verkohlt, — das ist der würdige Abschluss, der zu dem Anfange gehört: beidemal ein unsägliches Glück beim A n b l i c k v o n M a r t e r n ! In der That, das Glück, als das lebendigste Gefühl der Macht gedacht, ist vielleicht auf der Erde nirgendwo grösser gewesen, als in den Seelen abergläubischer Asketen. Diess drücken die Brahmanen in der Geschichte vom König V i f v a m i t r a aus, der aus tausendjährigen B u s s ü b u n g e n eine solche K r a f t schöpfte, dass er es unternahm, einen neuen H i m m e l zu erbauen. Ich glaube, in dieser ganzen Gattung innerer Erlebnisse sind wir jetzt grobe Neulinge und tastende Räthselrather; vier Jahrtausende früher wusste man mehr von diesen verruchten Verfeinerungen des Selbstgenusses. Die Schöpfung der Welt: vielleicht, dass sie damals von einem indischen Träumer als eine asketische Procedur gedacht worden ist, welche ein Gott mit sich vornimmt! Vielleicht, dass der Gott sich in die bewegte N a t u r wie
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in ein Marterwerkzeug bannen -wollte, um dabei seine Seligkeit und Macht verdoppelt zu fühlen! Und gesetzt, es wäre gar ein Gott der Liebe: welcher Genuss für einen solchen, l e i d e n d e Menschen zu schaffen, an der ungestillten Marter im Anblick derselben recht göttlich und übermenschlich zu leiden und sich dergestalt selber zu tyrannisiren! Und gar gesetzt, es wäre nicht nur ein Gott der Liebe, sondern auch ein Gott der Heiligkeit und Sündlosigkeit: welche Delirien des göttlichen Asketen sind zu ahnen, wenn er Sünde und Sünder und ewige Verdammnisse und unter seinem Himmel und Throne eine ungeheure Stätte der ewigen Qual und des ewigen Stöhnens und Seufzens schafft! — Es ist nicht ganz unmöglich, dass auch die Seelen des Paulus, des Dante, des Calvin und ihres Gleichen einmal in die schauerlichen Geheimnisse solcher Wollüste der Macht eingedrungen sind; — und angesichts solcher Seelen kann man fragen: ja, ist denn wirklich der Kreislauf im Streben nach Auszeichnung mit dem Asketen am letzten Ende angelangt und in sich abgerollt? Könnte dieser Kreis nicht noch einmal von Anfang an durchlaufen werden, mit der festgehaltenen Grundstimmung des Asketen und zugleich des mitleidenden Gottes? Also Anderen wehe thun, um s i c h dadurch wehe zu thun, um damit wiederum über sich und sein Mitleiden zu triumphiren und in der äussersten Macht zu schwelgen! — Verzeihung für die Ausschweifung im Nadidenken über Alles, was in der seelischen Ausschweifung des Machtgelüstes auf Erden schon möglich gewesen sein kann!
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V o n d e r E r k e n n t n i s s d e s L e i d e n d e n . — Der Zustand kranker Menschen, die lange und furchtbar von ihren Leiden gemartert werden und deren Verstand trotzdem dabei sich nicht trübt, ist nicht ohne Werth für die Erkenntniss, — noch ganz abgesehen von den intellectuellen Wohlthaten, wel-
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che jede tiefe Einsamkeit, jede plötzliche und erlaubte Freiheit von allen Pflichten und Gewohnheiten mit sich bringen. Der Schwerleidende sieht aus seinem Zustande mit einer entsetzlichen Kälte h i n a u s auf die Dinge: alle jene kleinen lügnerischen Zaubereien, in denen für gewöhnlich die Dinge schwimmen, wenn das Auge des Gesunden auf sie blickt, sind ihm verschwunden: ja, er selber liegt vor sich da ohne Flaum und Farbe. Gesetzt, dass er bisher in irgend einer gefährlichen Phantasterei lebte: diese höchste Ernüchterung durch Schmerzen ist das Mittel, ihn herauszureissen: und vielleicht das einzige Mittel. (Es ist möglich, dass diess dem Stifter des Christenthums am Kreuze begegnete: denn die bittersten aller Worte „mein Gott, warum hast du mich verlassen!" enthalten, in aller Tiefe verstanden, wie sie verstanden werden dürfen, das Zeugniss einer allgemeinen Enttäuschung und Aufklärung über den Wahn seines Lebens; er wurde in dem Augenblicke der höchsten Qual hellsichtig über sich selber, so wie der Dichter es von dem armen sterbenden Don Quixote erzählt.) Die ungeheure Spannung des Intellectes, welcher dem Schmerz Widerpart halten will, macht, dass Alles, worauf er nun blickt, in einem neuen Lichte leuchtet: und der unsägliche Reiz, den alle neuen Beleuchtungen geben, ist oft mächtig genug, um allen Anlockungen zum Selbstmorde Trotz zu bieten und das Fortleben dem Leidenden als höchst begehrenswerth erscheinen zu lassen. Mit Verachtung gedenkt er der gemüthlichen warmen Nebelwelt, in der der Gesunde ohne Bedenken wandelt; mit Verachtung gedenkt er der edelsten und geliebtesten Illusionen, in denen er früher mit sich selber spielte; er hat einen Genuss daran, diese Verachtung wie aus der tiefsten Hölle heraufzubeschwören und der Seele so das bitterste Leid zu machen: durch dieses Gegengewicht hält er eben dem physischen Schmerze Stand, — er fühlt es, dass gerade diess Gegengewicht jetzt noththut! In einer schauerlichen Hellsichtigkeit über sein Wesen ruft er sich zu: „sei einmal dein eigener An-
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kläger und Henker, nimm einmal dein Leiden als die von dir über dich verhängte Strafe! Geniesse deine Überlegenheit als Richter; mehr noch: geniesse dein Belieben, deine tyrannische Willkür! Erhebe dich über dein Leben wie über dein Leiden, sieh hinab in die Gründe und die Grundlosigkeit!" Unser Stolz bäumt sich auf, wie noch nie: es hat für ihn einen Reiz ohne Gleichen, gegen einen solchen Tyrannen wie der Schmerz ist, und gegen alle die Einflüsterungen, die er uns macht, damit wir gegen das Leben Zeugniss ablegen, — gerade das L e b e n gegen den Tyrannen zu v e r t r e t e n . In diesem Zustande wehrt man sich mit Erbitterung gegen jeden Pessimismus, damit er nicht als F o l g e unseres Zustandes erscheine und uns als Besiegte demüthige. Nie ist ebenfalls der Reiz, Gerechtigkeit des Urtheils zu üben, grösser, als jetzt, denn jetzt ist es ein Triumph über uns und den reizbarsten aller Zustände, der jede Ungerechtigkeit des Urtheils entschuldbar machen würde; — aber wir wollen nicht entschuldigt sein, gerade jetzt wollen wir zeigen, dass wir „ohne Schuld" sein können. Wir befinden uns in förmlichen Krämpfen des Hochmuths. — Und nun kommt der erste Dämmerschein der Milderung, der Genesung — und fast die erste Wirkung ist, dass wir uns gegen die Ubermacht unseres Hochmuthes wehren: wir nennen uns darin albern und eitel, — als ob wir Etwas erlebt hätten, das einzig wäre! Wir demüthigen ohne Dankbarkeit den allmächtigen Stolz, durch den wir eben den Schmerz ertrugen und verlangen heftig nach einem Gegengift des Stolzes: wir wollen uns entfremdet und entpersönlicht werden, nachdem der Schmerz uns zu gewaltsam und zu lange p e r s ö n l i c h gemacht hatte. „Weg, weg mit diesem Stolze! rufen wir, er war eine Krankheit und ein Krampf mehr!" Wir sehen wieder hin auf Menschen und Natur — mit einem verlangenderen Auge: wir erinnern uns wehmüthig lächelnd, dass wir Einiges in Bezug auf sie jetzt neu und anders wissen, als vorher, dass ein Schleier gefallen ist, — aber es e r q u i c k t uns
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so, wieder die g e d ä m p f t e n L i c h t e r d e s L e b e n s zu sehen und aus der furchtbaren nüchternen Helle herauszutreten, in welcher wir als Leidende die Dinge und durch die Dinge hindurch sahen. Wir zürnen nicht, wenn die Zaubereien der Gesundheit wieder zu spielen beginnen, — wir sehen wie umgewandelt zu, milde und immer noch müde. In diesem Zustande kann man nicht Musik hören, ohne zu weinen. —
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D a s s o g e n a n n t e „ I c h " . — Die Sprache und die Vorurtheile, auf denen die Sprache aufgebaut ist, sind uns vielfach in der Ergründung innerer Vorgänge und Triebe hinderlich: zum Beispiel dadurch, dass eigentlich Worte allein für s u p e r l a t i v i s c h e Grade dieser Vorgänge und Triebe da sind —; nun aber sind wir gewohnt, dort, wo uns Worte fehlen, nicht mehr genau zu beobachten, weil es peinlich ist, dort noch genau zu denken; ja, ehedem schloss man unwillkürlich, wo das Reich der Worte aufhöre, höre auch das Reich des Daseins auf. Zorn, Hass, Liebe, Mitleid, Begehren, Erkennen, Freude, Schmerz, — das sind Alles Namen für e x t r e m e Zustände: die milderen mittleren und gar die immerwährend spielenden niederen Grade entgehen uns, und doch weben sie gerade das Gespinnst unseres Charakters und Schicksals. Jene extremen Ausbrüche — und selbst das mässigste u n s b e w u s s t e Wohlgefallen oder Missfallen beim Essen einer Speise, beim Hören eines Tones ist vielleicht immer noch, richtig abgeschätzt, ein extremer Ausbruch — zerreissen sehr oft das Gespinnst und sind dann gewaltthätige Ausnahmen, zumeist wohl in Folge von Aufstauungen: — und wie vermögen sie als solche den Beobachter irre zu führen! Nicht weniger, als sie den handelnden Menschen in die Irre führen. W i r s i n d A l l e n i c h t D a s , als was wir nach den Zuständen erscheinen, für die wir allein Bewusstsein und Worte — und folglich Lob und Tadel —
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haben; wir v e r k e n n e n uns nach diesen gröberen Ausbrüchen, die uns allein bekannt werden, wir machen einen Schluss aus einem Material, in welchem die Ausnahmen die Regel überwiegen, wir verlesen uns in dieser scheinbar deutlichsten Buchstabenschrift unseres Selbst. U n s e r e M e i n u n g ü b e r u n s aber, die wir auf diesem falschen Wege gefunden haben, das sogenannte „Ich", arbeitet fürderhin mit an unserem Charakter und Schicksal. —
116. D i e u n b e k a n n t e W e l t d e s „ S u b j e c t s " . — Das, was den Menschen so schwer zu begreifen fällt, ist ihre Unwissenheit über sich selber, von den ältesten Zeiten bis jetzt! Nicht nur in Bezug auf gut und böse, sondern in Bezug auf viel Wesentlicheres! Noch immer lebt der uralte Wahn, dass man wisse, ganz genau wisse, w i e d a s m e n s c h l i c h e H a n d e l n z u S t a n d e k o m m e , in jedem Falle. Nicht nur „Gott, der in's Herz sieht"., nicht nur der Thäter, der seine That überlegt, — nein, auch jeder Andere zweifelt nicht, das Wesentliche im Vorgange der Handlung jedes Andern zu verstehen. „Ich weiss, was ich will, was ich gethan habe, ich bin frei und verantwortlich dafür, ich mache den Andern verantwortlich, ich kann alle sittlichen Möglichkeiten und alle inneren Bewegungen, die es vor einer Handlung giebt, beim Namen nennen; ihr mögt handeln, wie ihr wollt, — ich verstehe darin midi und euch Alle!" — so dachte ehemals Jeder, so denkt fast noch Jeder. Sokrates und Plato, in diesem Stücke grosse Zweifler und bewunderungswürdige Neuerer, waren doch harmlos gläubig in Betreff jenes verhängnissvollsten Vorurtheils, jenes tiefsten Irrthums, dass „der richtigen Erkenntniss die richtige Handlung f o l g e n m ü s s e " , — sie waren in diesem Grundsatze immer noch die Erben des allgemeinen Wahnsinns und Dünkels: dass es ein Wissen um das Wesen einer Handlung
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gebe. „Es wäre ja s c h r e c k l i c h , wenn der Einsicht in das Wesen der rechten That nicht die rechte That folgte", — diess ist die einzige Art, wie jene Grossen diesen Gedanken zu beweisen für nöthig hielten, das Gegentheil schien ihnen undenkbar und toll — und doch ist diess Gegentheil gerade die nackte, seit Ewigkeiten täglich und stündlich bewiesene Wirklichkeit! Ist es nicht gerade die „schreckliche" Wahrheit: dass, was man von einer That überhaupt wissen kann, n i e m a l s ausreicht, sie zu thun, dass die Brücke von der Erkenntniss zur That in keinem einzigen Falle bisher geschlagen worden ist? Die Handlungen sind n i e m a l s Das, als was sie uns erscheinen! Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, dass die äusseren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen, — nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso! Die moralischen Handlungen sind in Wahrheit „etwas Anderes", — mehr können wir nicht sagen: und alle Handlungen sind wesentlich unbekannt. Das Gegentheil war und ist der allgemeine Glaube: wir haben den ältesten Realismus gegen uns; bis jetzt dachte die Menschheit: „eine Handlung ist Das, als was sie uns erscheint." (Beim Wiederlesen dieser Worte kommt mir eine sehr ausdrückliche Stelle Schopenhauer's in's Gedächtniss, welche ich anführen will, zum Beweise, dass auch er noch, und zwar ohne jeden Scrupel, in diesem moralischen Realismus hängt und hängen geblieben ist: „wirklich ist Jeder von uns ein competenter und vollkommen moralischer Richter, Gutes und Böses genau kennend, heilig, indem er das Gute liebt und das Böse verabscheut, — diess Alles ist Jeder, insofern nicht seine eigenen, sondern fremde Handlungen untersucht werden und er blos zu billigen und zu missbilligen hat, die Last der Ausführung aber von fremden Schultern getragen wird. Jeder kann demnach als Beichtiger ganz und gar die Stelle Gottes vertreten.")
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7.
I m G e f ä n g n i s s . — Mein Auge, wie stark oder schwach es nun ist, sieht nur ein Stück weit, und in diesem Stück webe und lebe ich, diese Horizont-Linie ist mein nächstes grosses und kleines Verhängniss, dem ich nicht entlaufen kann. Um jedes Wesen legt sich derart ein concentrischer Kreis, der einen Mittelpunct hat und der ihm eigentümlich ist. Ähnlich schliesst uns das Ohr in einen kleinen Raum ein, ähnlich das Getast. Nach diesen Horizonten, in welche, wie in Gefängnissmauern, Jeden von uns unsere Sinne einschliessen, m e s s e n wir nun die Welt, wir nennen Dieses nah und Jenes fern, Dieses gross und Jenes klein, Dieses hart und Jenes weich: diess Messen nennen wir Empfinden, — es sind Alles, Alles Irrthümer an sich! Nach der Menge von Erlebnissen und Erregungen, die uns durchschnittlich in einem Zeitpuncte möglich sind, misst man sein Leben, als kurz oder lang, arm oder reich, voll oder leer: und nach dem durchschnittlichen menschlichen Leben misst man das aller anderen Geschöpfe, — es sind Alles, Alles Irrthümer an sich! Hätten wir hundertfach schärfere Augen für die Nähe, so würde uns der Mensch ungeheuer lang erscheinen; ja, es sind Organe denkbar, vermöge deren er als unermesslich empfunden würde. Andererseits könnten Organe so beschaffen sein, dass ganze Sonnensysteme verengt und zusammengeschnürt gleich einer einzigen Zelle empfunden werden: und vor Wesen entgegengesetzter Ordnung könnte Eine Zelle des menschlichen Leibes sich als ein Sonnensystem in Bewegung, Bau und Harmonie darstellen. Die Gewohnheiten unserer Sinne haben uns in Lug und Trug der Empfindung eingesponnen: diese wieder sind die Grundlagen aller unserer Urtheile und „Erkenntnisse", — es giebt durchaus kein Entrinnen, keine Schlupf- und Schleichwege in die w i r k l i c h e Welt! Wir sind in unserem Netze, wir Spinnen, und was wir audi darin fangen, wir können gar Nichts fangen, als was sich eben in u n s e r e m Netze fangen lässt.
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118. W a s i s t d e n n d e r N ä c h s t e ! — Was begreifen wir denn von unserem Nächsten, als seine Gränzen, ich meine, Das, womit er sich auf und an uns gleichsam einzeichnet und eindrückt? Wir begreifen Nichts von ihm, als die V e r ä n d e r u n g e n a n u n s , deren Ursache er ist, — unser Wissen von ihm gleicht einem hohlen g e f o r m t e n Räume. Wir legen ihm die Empfindungen bei, die seine Handlungen in uns hervorrufen, und geben ihm so eine falsche umgekehrte Positivität. Wir bilden ihn nach unserer Kenntniss von uns, zu einem Satelliten unseres eigenen Systems: und wenn er uns leuchtet oder sich verfinstert, und wir von Beidem die letzte Ursache sind, — so glauben wir doch das Gegentheil! Welt der Phantome, in der wir leben! Verkehrte, umgestülpte, leere, und doch v o l l und g e r a d e geträumte Welt!
119. E r l e b e n u n d E r d i c h t e n . — Wie weit Einer seine Selbstkenntniss auch treiben mag, Nichts kann doch unvollständiger sein, als das Bild der gesammten T r i e b e , die sein Wesen constituiren. Kaum dass er die gröberen beim Namen nennen kann: ihre Zahl und Stärke, ihre Ebbe und Fluth, ihr Spiel und Widerspiel unter einander, und vor Allem die Gesetze ihrer E r n ä h r u n g bleiben ihm ganz unbekannt. Diese Ernährung wird also ein Werk des Zufalls: unsere täglichen Erlebnisse werfen bald diesem, bald jenem Triebe eine Beute zu, die er gierig erfasst, aber das ganze Kommen und Gehen dieser Ereignisse steht ausser allem vernünftigen Zusammenhang mit den Nahrungsbedürfnissen der gesammten Triebe: sodass immer Zweierlei eintreten wird, das Verhungern und Verkümmern der einen und die Uberfütterung der anderen. Jeder Moment unseres Lebens lässt einige Polypenarme unseres Wesens wachsen und einige andere verdorren, je nach der Nah-
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rung, die der Moment in sich oder nicht in sich trägt. Unsere Erfahrungen, wie gesagt, sind alle in diesem Sinne Nahrungsmittel, aber ausgestreut mit blinder Hand, ohne Wissen um den, der hungert, und den, der schon Überfluss hat. Und in Folge dieser zufälligen Ernährung der Theile wird der ganze ausgewachsene Polyp etwas ebenso Zufälliges sein, wie es sein Werden ist. Deutlicher gesprochen: gesetzt, ein Trieb befindet sich in dem Puncte, wo er Befriedigung begehrt — oder Übung seiner Kraft, oder Entladung derselben oder Sättigung einer Leere — es ist Alles Bilderrede —: so sieht er jedes Vorkommniss des Tages darauf an, wie er es zu seinem Zwecke brauchen kann; ob der Mensch nun läuft oder ruht oder zürnt oder liest oder spricht oder kämpft oder jubelt, der Trieb in seinem Durste betastet gleichsam jeden Zustand, in den der Mensch geräth, und durchschnittlich findet er Nichts für sich daran, er muss warten und weiter dürsten: eine Weile noch und dann wird er matt, und noch ein paar Tage oder Monate der Nicht-Befriedigung, dann dorrt er ab, wie eine Pflanze ohne Regen. Vielleicht würde diese Grausamkeit des Zufalls noch greller in die Augen fallen, wenn alle Triebe es so gründlich nehmen wollten, wie der H u n g e r : der sich nicht mit g e träumter Speise zufrieden giebt; aber die meisten Triebe, namentlich die sogenannten moralischen, t h u n g e r a d e d i e s s , — wenn meine Vermuthung erlaubt ist, dass unsere T r ä u m e eben den Werth und Sinn haben, bis zu einem gewissen Grade jenes zufällige Ausbleiben der „Nahrung" während des Tages zu c o m p e n s i r e n . Warum war der Traum von gestern voller Zärtlichkeit und Thränen, der von vorgestern scherzhaft und übermüthig, ein früherer abenteuerlich und in einem beständigen düsteren Suchen? Wesshalb geniesse ich in diesem unbeschreibliche Schönheiten der Musik, wesshalb schwebe und fliege ich in einem anderen mit der Wonne eines Adlers hinauf nach fernen Bergspitzen? Diese Erdichtungen, welche unseren Trieben der Zärtlichkeit oder des Scherzes oder der Abenteuerlichkeit oder unserm Verlangen
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nach Musik und Gebirge Spielraum und Entladung geben — und Jeder wird seine schlagenderen Beispiele zur Hand haben —, sind Interpretationen unserer Nervenreize während des Schlafens, s e h r f r e i e , sehr willkürliche Interpretationen von Bewegungen des Blutes und der Eingeweide, vom Druck des Armes und der Decken, von den Tönen der Thurmglocken, der Wetterhähne, der Nachtschwärmer und anderer Dinge der Art. Dass dieser Text, der im Allgemeinen doch für eine Nacht wie für die andere sehr ähnlich bleibt, so verschieden commentirt wird, dass die dichtende Vernunft heute und gestern so verschiedene U r s a c h e n für die selben Nervenreize sich v o r s t e l l t : das hat darin seinen Grund, dass der Souffleur dieser Vernunft heute ein anderer war, als er gestern war, — ein anderer T r i e b wollte sich befriedigen, bethätigen, üben, erquicken, entladen, — gerade er war in seiner hohen Fluth, und gestern war ein anderer darin. — Das wache Leben hat nicht diese F r e i h e i t der Interpretation wie das träumende, es ist weniger dichterisch und zügellos, — muss ich aber ausführen, dass unsere Triebe im Wachen ebenfalls nichts Anderes thun, als die Nervenreize interpretiren und nach ihrem Bedürfnisse deren „Ursachen" ansetzen? dass es zwischen Wachen und Träumen keinen w e s e n t l i c h e n Unterschied giebt? dass selbst bei einer Vergleichung sehr verschiedener Culturstufen die Freiheit der wachen Interpretation in der einen der Freiheit der anderen im Träumen Nichts nachgiebt? dass audi unsere moralischen Urtheile und Werthsdiätzungen nur Bilder und Phantasien über einen uns unbekannten physiologischen Vorgang sind, eine Art angewöhnter Sprache, gewisse Nervenreize zu bezeichnen? dass all unser sogenanntes Bewusstsein ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text ist? — Man nehme ein kleines Erlebniss. Gesetzt, wir bemerken eines Tages, dass Jemand auf dem Markte über uns lacht, da wir vorübergehen: jenach-
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dem dieser oder jener Trieb in uns gerade auf seiner Höhe ist, wird diess Ereigniss für uns diess oder das bedeuten, — und je nach der Art Mensch, die wir sind, ist es ein ganz verschiedenes Ereigniss. Der Eine nimmt es hin wie einen Regentropfen, der Andere schüttelt es von sich wie ein Insect, Einer sucht daraus Händel zu machen, Einer prüft seine Kleidung, ob sie Anlass zum Lachen gebe, Einer denkt über das Lächerliche an sich in Folge davon nach, Einem thut es wohl, zur Heiterkeit und zum Sonnenschein der Welt, ohne zu wollen, einen Strahl gegeben zu haben — und in jedem Falle hat ein Trieb seine Befriedigung daran, sei es der des Ärgers oder der Kampflust oder des Nachdenkens oder des Wohlwollens. Dieser Trieb ergriff das Vorkommniss wie seine Beute: warum er gerade? Weil er durstig und hungernd auf der Lauer lag. — Neulich Vormittags um elf Uhr fiel unmittelbar und senkrecht vor mir ein Mann plötzlich zusammen, wie vom Blitz getroffen, alle Weiber der Umgebung schrieen laut auf; ich selber stellte ihn auf seine Füsse und wartete ihn ab, bis die Sprache sich wieder einstellte, — während dem regte sich bei mir kein Muskel des Gesichts und kein Gefühl, weder das des Schreckens, noch das des Mitleidens, sondern ich that das Nächste und Vernünftigste und gieng kalt fort. Gesetzt, man hätte mir Tags vorher angekündigt, dass morgen um elf Uhr Jemand neben mir in dieser Weise niederstürzen werde, — ich hätte Qualen aller Art vorher gelitten, die Nacht nicht geschlafen und wäre vielleicht im entscheidenden Augenblick dem Manne gleich geworden, anstatt ihm zu helfen. Inzwischen hätten nämlich alle möglichen Triebe Z e i t g e h a b t , das Erlebniss sich vorzustellen und zu commentiren. — Was sind denn unsere Erlebnisse? Viel m e h r Das, was wir hineinlegen, als Das, was darin liegt! Oder muss es gar heissen: an sich liegt Nichts darin? Erleben ist ein Erdichten? —
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Z u r B e r u h i g u n g d e s S k e p t i k e r s . — „Idi weiss durchaus nicht, was ich t h u e ! Ich weiss durchaus nicht, was ich t h u n s o l l ! " — Du hast Recht, aber zweifle nicht daran: d u w i r s t g e t h a n ! in jedem Augenblicke! Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Activum und das Passivum verwechselt, es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer.
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„ U r s a c h e u n d W i r k u n g " ! — Auf diesem Spiegel — und unser Intellect ist ein Spiegel — geht Etwas vor, das Regelmässigkeit zeigt, ein bestimmtes Ding folgt jedesmal wieder auf ein anderes bestimmtes Ding, — das n e n n e n wir, wenn wir es wahrnehmen und nennen wollen, Ursache und Wirkung, wir Thoren! Als ob wir da irgend Etwas begriffen hätten und begreifen könnten! Wir haben ja Nichts gesehen, als die B i l d e r von „Ursachen und Wirkungen"! Und eben diese B i l d l i c h k e i t macht ja die Einsicht in eine wesentlichere Verbindung, als die der Aufeinanderfolge ist, unmöglich!
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D i e Z w e c k e i n d e r N a t u r . — W e r , als unbefangener Forscher, der Geschichte des Auges und seiner Formen bei den niedrigsten Geschöpfen nachgeht und das ganze schrittweise Werden des Auges zeigt, muss zu dem grossen Ergebniss kommen: dass das Sehen n i c h t die Absicht bei der Entstehung des Auges gewesen ist, vielmehr sich eingestellt hat, als d e r Z u f a l l den Apparat zusammengebracht hatte. Ein einziges solches Beispiel: und die „Zwecke" fallen uns wie Schuppen von den Augen!
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123. V e r n u n f t . — Wie die Vernunft in die Welt gekommen ist? Wie billig, auf eine unvernünftige Weise, durch einen Zufall. Man wird ihn errathen müssen, wie ein Räthsel.
124. W a s i s t W o l l e n ! — Wir lachen über Den, welcher aus seiner Kammer tritt, in der Minute, da die Sonne aus der ihren tritt, und sagt: „ i c h w i l l , dass die Sonne aufgehe"; und über Den, welcher ein R a d nicht aufhalten kann und sagt: „ i c h w i l l , dass es rolle"; und über Den, welcher im Ringkampf niedergeworfen wird und sagt: „hier liege ich, aber i c h w i l l hier liegen!" Aber, trotz allem Gelächter! Machen wir es denn jemals anders, als einer von diesen Dreien, wenn wir das Wort gebrauchen: „ i c h w i l l " ?
125. V o m „ R e i c h e d e r F r e i h e i t " . — Wir können viel, viel mehr Dinge denken, als thun und erleben, — das heisst, unser Denken ist oberflächlich und zufrieden mit der Oberfläche, ja, es merkt sie nicht. Wäre unser Intellekt streng nach dem Maasse unserer Kraft und unserer Übung der Kraft e n t w i c k e l t , so würden wir den Grundsatz zu oberst in unserem Denken haben, dass wir nur begreifen können, was wir t h u n können, — w e n n es überhaupt ein Begreifen giebt. Der Durstige entbehrt des Wassers, aber seine Gedankenbilder führen ihm unaufhörlich das Wasser vor die Augen, wie als ob Nichts leichter zu beschaffen wäre, — die oberflächliche und leicht zufriedengestellte Art des Intellectes kann das eigentliche nothleidende Bedürfniss nicht fassen und fühlt sich dabei überlegen: er ist stolz darauf, mehr zu können, schneller
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zu laufen, im Augenblick fast am Ziele zu sein, — und so erscheint das Reich der Gedanken im Vergleich mit dem Reiche des Thuns, Wollens und Erlebens als ein R e i c h d e r F r e i h e i t : während es, wie gesagt, nur ein Reich der Oberfläche und der Genügsamkeit ist.
126. V e r g e s s e n . — Dass es ein Vergessen giebt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen, ist allein, dass die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht. Vorläufig haben wir in diese Lücke unserer Macht jenes Wort „Vergessen" gesetzt: gleich als ob es ein Vermögen mehr im Register sei. Aber was steht zuletzt in unserer Macht! — Wenn jenes Wort in einer Lücke unserer Macht steht, sollten nicht die anderen Worte in einer Lücke unseres W i s s e n s u m u n s e r e M a c h t stehen? 127. N a c h Z w e c k e n . — Von allen Handlungen werden wohl am wenigsten die nach Zwecken verstanden, weil sie immer als die verständlichsten gegolten haben und für unser Bewusstsein das Alltäglichste sind. Die grossen Probleme liegen auf der Gasse.
128. D e r T r a u m u n d d i e V e r a n t w o r t l i c h k e i t . — In Allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume! Welche elende Schwächlichkeit, welcher Mangel an folgerichtigem Muthe! Nichts ist m e h r euer Eigen, als eure Träume! Nichts mehr e u e r Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer, — in diesen Komödien seid ihr Alles ihr selber! Und hier gerade scheut und schämt ihr euch vor euch, und schon
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Oedipus, der weise Oedipus wusste sich Trost aus dem Gedanken zu schöpfen, dass wir Nichts für Das können, was wir träumen! Ich schliesse daraus: dass die grosse Mehrzahl der Menschen sich abscheulicher Träume bewusst sein muss. Wäre es anders: wie sehr würde man seine nächtliche Dichterei für den Hochmuth des Menschen ausgebeutet haben! — Muss ich hinzufügen, dass der weise Oedipus Recht hatte, dass wir wirklich nicht für unsere Träume, — aber ebenso wenig für unser Wachen verantwortlich sind, und dass die Lehre von der Freiheit des Willens im Stolz und Machtgefühl des Menschen ihren Vater und ihre Mutter hat? Ich sage diess vielleicht zu oft: aber wenigstens wird es dadurch noch nicht zum Irrthum.
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D e r a n g e b l i c h e K a m p f d e r M o t i v e . — Man redet vom „Kampf der Motive", aber bezeichnet damit einen Kampf, der n i c h t der Kampf der Motive ist. Nämlich: in unserm überlegenden Bewusstsein treten vor einer That der Reihe nach die F o l g e n verschiedener Thaten hervor, welche alle wir meinen thun zu können, und wir vergleichen diese Folgen. Wir meinen, zu einer That entschieden zu sein, wenn wir festgestellt haben, dass ihre Folgen die überwiegend günstigeren sein werden; ehe es zu diesem Abschluss unserer Erwägung kommt, quälen wir uns oft redlich, wegen der grossen Schwierigkeit, die Folgen zu errathen, sie in ihrer ganzen Stärke zu sehen und zwar alle, ohne Fehler der Auslassung zu machen: wobei die Rechnung überdiess noch mit dem Zufalle dividirt werden muss. J a , um das Schwierigste zu nennen: alle die Folgen, die einzeln so schwer festzustellen sind, müssen nun mit einander auf Einer Wage gegen einander abgewogen werden; und so häufig fehlt uns für diese Casuistik des Vortheils die Wage nebst den Gewichten, wegen der Verschiedenheit in der Q u a l i t ä t aller dieser möglichen Folgen. Gesetzt
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aber, audi damit kämen wir in's Reine, und der Zufall hätte uns gegenseitig abwägbare Folgen auf die Wage gelegt: so haben wir jetzt in der That im B i l d e d e r F o l g e n Einer bestimmten Handlung ein M o t i v , gerade diese Handlung zu thun, — ja! Ε i η Motiv! Aber im Augenblicke, da wir schliesslich handeln, werden wir häufig genug von einer anderen Gattung Motiven bestimmt, als es die hier besprochene Gattung, die des „Bildes der Folgen", ist. Da wirkt die Gewohnheit unseres Kräftespiels, oder ein kleiner Anstoss von einer Person, die wir fürchten oder ehren oder lieben, oder die Bequemlichkeit, welche vorzieht, was vor der Hand liegt zu thun, oder die Erregung der Phantasie, durch das nächste beste kleinste Ereigniss im entscheidenden Augenblick herbeigeführt, es wirkt Körperliches, das ganz unberechenbar auftritt, es wirkt die Laune, es wirkt der Sprung irgend eines Affectes, der gerade zufällig bereit ist, zu springen: kurz, es wirken Motive, die wir zum Theil gar nicht, zum Theil sehr schlecht kennen und die wir n i e v o r h e r gegen einander in Rechnung setzen können. W a h r s c h e i n l i c h , dass auch unter ihnen ein Kampf Statt findet, ein Hin- und Wegtreiben, ein Aufwiegen und Niederdrücken von Gewichttheilen — und diess wäre der eigentliche „Kampf der Motive": — etwas für uns völlig Unsichtbares und Unbewusstes. Ich habe die Folgen und Erfolge berechnet und damit Ein sehr wesentliches Motiv in die Schlachtreihe der Motive eingestellt, — aber diese Schlachtreihe selber stelle ich ebensowenig auf, als ich sie sehe: der Kampf selber ist mir verborgen, und der Sieg als Sieg ebenfalls; denn wohl erfahre ich, was ich schliesslich t h u e , — aber welches Motiv damit eigentlich gesiegt hat, erfahre ich nicht. W o h l a b e r s i n d w i r g e w o h n t , alle diese unbewussten Vorgänge n i c h t in Anschlag zu bringen und uns die Vorbereitung einer That nur so weit zu denken, als sie bewusst ist: und so verwechseln wir den Kampf der Motive mit der Vergleichung der möglichen Folgen verschiedener Hand-
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lungen, — eine der folgenreichsten und für die Entwickelung der Moral verhängnissvollsten Verwechselungen!
130. Z w e c k e ? W i l l e n ? — Wir haben uns gewöhnt an zwei Reiche zu glauben, an das Reich der Z w e c k e und des W i l l e n s und an das Reich der Z u f ä l l e ; in letzterem geht es sinnlos zu, es geht, steht und fällt darin, ohne dass Jemand sagen könnte wesshalb? wozu? — Wir fürchten uns vor diesem mächtigen Reiche der grossen kosmischen Dummheit, denn wir lernen es meistens so kennen, dass es in die andere Welt, in die der Zwecke und Absichten, hineinfällt wie ein Ziegelstein vom Dache, und uns irgend einen schönen Zweck todtschlägt. Dieser Glaube an die zwei Reiche ist eine uralte Romantik und Fabel: wir klugen Zwerge, mit unserem Willen und unseren Zwecken, werden durch die dummen, erzdummen Riesen, die Zufälle, belästigt, über den Haufen gerannt, oft todt getreten, — aber trotz alledem möchten wir nicht ohne die schauerliche Poesie dieser Nachbarschaft sein, denn jene Unthiere kommen oft, wenn uns das Leben im S p i n n e n n e t z e der Zwecke zu langweilig oder zu ängstlich geworden ist und geben eine erhabene Diversion, dadurch dass ihre Hand einmal das ganze Netz z e r r e i s s t , — nicht dass sie es gewollt hätten, diese Unvernünftigen! Nicht dass sie es nur merkten! Aber ihre groben Knochenhände greifen durch unser Netz hindurch, wie als ob es Luft wäre. — Die Griechen nannten diess Reich des Unberechenbaren und der erhabenen ewigen Bornirtheit Moira und stellten es als den Horizont um ihre Götter, über den sie weder hinauswirken, noch -sehen können: mit jenem heimlichen Trotz gegen die Götter, welcher bei mehreren Völkern sich vorfindet, in der Gestalt, dass man sie zwar anbetet, aber einen letzten Trumpf gegen sie in der Hand behält, zum Beispiel wenn man als Inder oder Perser sie sich abhängig vom
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O p f e r der Sterblichen denkt, sodass die Sterblichen schlimmsten Falls die Götter hungern und verhungern lassen können; oder wenn man wie der harte melancholische Skandinavier mit der Vorstellung einer einstmaligen Götter-Dämmerung sich den Genuss der stillen Rache schafft, zum Entgelt für die beständige Furcht, welche seine bösen Götter ihm machen. Anders das Christenthum mit seinem weder indischen, noch persischen, noch griechischen, noch skandinavischen Grundgefühle, welches den G e i s t d e r M a c h t im Staube anbeten und den Staub noch küssen hiess: diess gab zu verstehen, dass jenes allmächtige „Reich der Dummheit" nicht so dumm sei wie es aussehe, dass w i r vielmehr die Dummen seien, die nicht merkten, dass hinter ihm — der liebe Gott stehe, er, der zwar die dunklen, krummen und wunderbaren Wege liebe, aber zuletzt doch Alles „herrlich hinausführe". Diese neue Fabel vom lieben Gott, der bisher als Riesengeschlecht oder Moira verkannt worden sei und der Zwecke und Netze selber spinne, feiner noch als die unseres Verstandes — sodass sie demselben unverständlich, ja unverständig erscheinen m ü s s t e n — diese Fabel war eine so kühne Umkehrung und ein so gewagtes Paradoxum, dass die zu fein gewordene alte Welt nicht zu widerstehen vermochte, so toll und w i d e r s p r u c h s v o l l die Sache auch klang; — denn, im Vertrauen gesagt, es war ein Widerspruch darin: wenn unser Verstand den Verstand und die Zwecke Gottes nicht errathen kann, woher errieth er diese Beschaffenheit seines Verstandes? und diese Beschaffenheit von Gottes Verstände? — In der neueren Zeit ist in der That das Misstrauen gross geworden, ob der Ziegelstein, der vom Dache fällt, wirklich von der „göttlichen Liebe" herabgeworfen werde — und die Menschen fangen wieder an, in die alte Spur der Riesen- und Zwergen-Romantik zurückzugerathen. L e r n e n wir also, weil es hohe Zeit dazu ist: in unserm vermeintlichen Sonderreiche der Zwecke und der Vernunft regieren ebenfalls die Riesen! Und unsere Zwecke und unsere Vernunft sind keine Zwerge,
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sondern Riesen! Und unsere eigenen Netze werden d u r c h u n s s e l b e r ebenso oft und ebenso plump zerrissen wie von dem Ziegelsteine! Und es ist nicht Alles Zweck, was so genannt wird, und noch weniger Alles Wille, was Wille heisst! Und, wenn ihr sdiliessen wolltet: „es giebt also nur Ein Reich, das der Zufälle und der Dummheit?" — so ist hinzuzufügen: ja, vielleicht giebt es nur Ein Reich, vielleicht giebt es weder Willen noch Zwecke, und wir haben sie uns eingebildet. Jene eisernen Hände der Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln, spielen ihr Spiel unendliche Zeit: da m ü s s e n Würfe vorkommen, die der Zweckmässigkeit und Vernünftigkeit jedes Grades vollkommen ähnlich sehen. V i e l l e i c h t sind unsere Willensacte, unsere Zwecke nichts Anderes, als eben solche Würfe — und wir sind nur zu beschränkt und zu eitel dazu, unsere äusserste Beschränktheit zu begreifen: die nämlich, dass wir selber mit eisernen Händen den Würfelbecher schütteln, dass wir selber in unseren absichtlichsten Handlungen Nichts mehr thun, als das Spiel der Nothwendigkeit zu spielen. Vielleicht! — Um über diess V i e l l e i c h t hinauszukommen, müsste man schon in der Unterwelt und jenseits aller Oberflächen zu Gaste gewesen sein und am Tische der Persephone mit ihr selber gewürfelt und gewettet haben.
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D i e m o r a l i s c h e n M o d e n . — Wie sich die moralischen Gesammt-Urtheile verschoben haben! Diese grössten Wunder der antiken Sittlidikeit, zum Beispiel Epiktet, wussten Nichts von der jetzt üblichen Verherrlichung des Denkens an Andere, des Lebens für Andere; man würde sie nach unserer moralischen Mode geradezu unmoralisch nennen müssen, denn sie haben sich mit allen Kräften f ü r ihr ego und g e g e n die Mitempfindung mit den Anderen (namentlich mit deren Leiden und sittlichen Gebrechen) gewehrt. Vielleicht dass sie uns antworten
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würden: „habt ihr an euch selber einen so langweiligen oder hässlichen Gegenstand, so denkt doch ja an Andere mehr, als an euch! Ihr thut gut daran!"
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Die ausklingende Christlichkeit in der M o r a l . — „On n'est bon que par la pitie: il faut done qu'il y ait quelque pitie dans tous nos sentiments" — so klingt jetzt die Moral! Und woher kommt das? — Dass der Mensch der sympathisdien, uninteressirten, gemeinnützigen, gesellschaftlichen Handlungen jetzt als der m o r a l i s c h e empfunden wird, — das ist vielleicht die allgemeinste Wirkung und Umstimmung, welche das Christenthum in Europa hervorgebracht hat: obwohl sie weder seine Absicht, noch seine Lehre gewesen ist. Aber es war das residuum christlicher Stimmungen, als der sehr entgegengesetzte, streng egoistische Grundglaube an das „Eins ist noth", an die absolute Wichtigkeit des ewigen p e r s ö n l i c h e n Heils, mit den Dogmen, auf denen er ruhte, allmählich zurücktrat, und der Nebenglaube an die „Liebe", an die „Nächstenliebe", zusammenstimmend mit der ungeheuren Praxis der kirchlichen Barmherzigkeit, dadurch in den Vordergrund gedrängt wurde. Je mehr man sich von den Dogmen loslöste, um so mehr suchte man gleichsam die R e c h t f e r t i g u n g dieser Loslösung in einem Cultus der Menschenliebe: hierin hinter dem christlichen Ideale nicht zurückzubleiben, sondern es womöglich zu ü b e r b i e t e n , war ein geheimer Sporn bei allen französischen Freidenkern, von Voltaire bis auf Auguste Comte: und Letzterer hat mit seiner berühmten Moralformel vivre pour autrui in der That das Christenthum überchristlicht. Auf deutschem Boden hat Schopenhauer, auf englischem John Stuart Mill der Lehre von den sympathischen Affectionen und vom Mitleiden oder vom Nutzen Anderer als dem Princip des Handelns die meiste Berühmtheit gegeben: aber sie selber waren nur ein
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Echo, — jene Lehren sind mit einer gewaltigen Triebkraft überall und in den gröbsten und feinsten Gestalten zugleich aufgeschossen, ungefähr von der Zeit der französischen Revolution an, und alle socialistischen Systeme haben sich wie unwillkürlich auf den gemeinsamen Boden dieser Lehren gestellt. Es giebt vielleicht jetzt kein besser geglaubtes Vorurtheil, als diess: dass man w i s s e , was eigentlich das Moralische ausmache. Es scheint jetzt Jedermann w o h l z u t h u n , wenn er hört, dass die Gesellschaft auf dem Wege sei, den Einzelnen den allgemeinen Bedürfnissen a n z u p a s s e n und dass d a s G l ü c k und z u g l e i c h d a s O p f e r d e s E i n z e l n e n darin liege, sich als ein nützliches Glied und Werkzeug des Ganzen zu fühlen: nur dass man gegenwärtig noch sehr schwankt, worin dieses Ganze zu suchen sei, ob in einem bestehenden oder zu begründenden Staate, oder in der Nation oder in einer Völker-Verbrüderung oder in kleinen neuen wirtschaftlichen Gemeinsamkeiten. Hierüber giebt es jetzt viel Nachdenken, Zweifeln, Kämpfen, viel Aufregung und Leidenschaft; aber wundersam und wohltönend ist die Eintracht in der Forderung, dass das ego sich zu verleugnen habe, bis es, in der Form der Anpassung an das Ganze, auch wieder seinen festen Kreis von Rechten und Pflichten bekomme, — bis es etwas ganz Neues und Anderes geworden sei. Man will nichts Geringeres — ob man es sich nun eingesteht oder nicht —, als eine gründliche Umbildung, ja Schwächung und Aufhebung des I n d i v i d u u m s : man wird nicht müde, alles das Böse und Feindselige, das Verschwenderische, das Kostspielige, das Luxushafte in der bisherigen Form des individuellen Daseins aufzuzählen und anzuklagen, man hofft wohlfeiler, ungefährlicher, gleichmässiger, einheitlicher zu wirtschaften, wenn es nur noch g r o s s e K ö r p e r u n d d e r e n G l i e d e r giebt. Als g u t wird Alles empfunden, was irgendwie diesem körper- und gliederbildenden Triebe und seinen Hülfstrieben entspricht, diess ist der m o r a l i s c h e G r u n d s t r o m in unserem Zeitalter; Mitempfindung und so-
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ciale Empfindung spielen dabei in einander über. (Kant steht nodi ausserhalb dieser Bewegung: er lehrt ausdrücklich, dass wir gegen fremde Leiden unempfindlich sein müssen, wenn unser Wohlthun moralischen Werth haben soll, — was Schopenhauer, sehr ergrimmt, wie man begreifen wird, d i e K a n t i s c h e A b g e s c h m a c k t h e i t nennt.)
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„ N i c h t m e h r a n s i c h d e n k e n . " — Man überlege es sich doch recht gründlich: warum springt man Einem, der vor uns in's Wasser fällt, nach, obschon man ihm gar nicht geneigt ist? Aus Mitleid: man denkt da nur noch an den Anderen, — sagt die Gedankenlosigkeit. Warum empfindet man Schmerz und Unbehagen mit Einem, der Blut speit, während man ihm sogar böse und feindlich gesinnt ist? Aus Mitleid: man denkt dabei eben nicht mehr an sich, — sagt die selbe Gedankenlosigkeit. Die Wahrheit ist: im Mitleid — ich meine in dem, was irreführender Weise gewöhnlich Mitleid genannt zu werden pflegt, — denken wir zwar nicht mehr bewusst an uns, aber s e h r s t a r k u n b e w u s s t , wie wenn wir beim Ausgleiten eines Fusses, für uns jetzt unbewusst, die zweckmässigsten Gegenbewegungen machen und dabei ersichtlich allen unseren Verstand gebraudien. Der Unfall des Andern beleidigt uns, er würde uns unserer Ohnmacht, vielleicht unserer Feigheit überführen, wenn wir ihm nicht Abhülfe brächten. Oder er bringt schon an sich eine Verringerung unsrer Ehre vor Anderen oder vor uns selber mit sich. Oder es liegt im Unfälle und Leiden eines Anderen ein Fingerzeig der Gefahr für uns; und schon als Merkmale der menschlichen Gefährdetheit und Gebrechlichkeit überhaupt können sie auf uns peinlich wirken. Diese Art Pein und Beleidigung weisen wir zurück und vergelten sie durch eine Handlung des Mitleidens, in ihr kann eine feine Nothwehr oder auch Rache sein. Dass wir im Grunde stark an uns denken, lässt
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sich aus der Entscheidung errathen, welche wir in allen den Fällen treffen, wo wir dem Anblicke des Leidenden, Darbenden, Jammernden aus dem Wege gehen k ö n n e n : wir entschliessen uns, es n i c h t zu thun, wenn wir als die Mächtigeren, Helfenden hinzukommen können, des Beifalls sicher sind, unsern Glüdks-Gegensatz empfinden wollen oder auch uns durch den Anblick aus der Langenweile herauszureissen hoffen. Es ist irreführend, das Leid, welches uns bei einem solchen Anblick angethan wird und das sehr verschiedener Art sein kann, Mit-Leid zu benennen, denn unter allen Umständen ist es ein Leid, von dem der vor uns Leidende f r e i ist: es ist uns zu eigen, wie ihm sein Leiden zu eigen ist. N u r d i e s e s e i g n e L e i d aber ist es, welches wir von uns abthun, wenn wir Handlungen des Mitleidens verüben. Doch thun wir Etwas der Art nie aus Einem Motive; so gewiss wir uns dabei von einem Leiden befreien wollen, so gewiss geben wir bei der gleichen Handlung einem A n t r i e b e d e r L u s t nach, — Lust entsteht beim Anblick eines Gegensatzes unsrer Lage, bei der Vorstellung, helfen zu können, wenn wir nur wollten, bei dem Gedanken an Lob und Erkenntlichkeit, im Falle wir hälfen, bei der Thätigkeit der Hülfe selber, insofern der Act gelingt und als etwas schrittweise Gelingendes dem Ausführenden an sich Ergötzen macht, namentlich aber in der Empfindung, dass unsere Handlung einer empörenden Ungerechtigkeit ein Ziel setzt (schon das Auslassen seiner Empörung erquickt). Diess Alles, Alles, und noch viel Feineres hinzugerechnet, ist „Mitleid": — wie plump fällt die Sprache mit ihrem Einen Worte über so ein polyphones Wesen her! — Dass dagegen das Mitleiden e i n a r t i g mit dem Leiden sei, bei dessen Anblick es entsteht, oder dass es ein besonders feines durchdringendes Verstehen für dasselbe habe, diess Beides widerspricht der E r f a h r u n g , und wer es gerade in diesen beiden Hinsichten verherrlicht hat, dem f e h l t e eben auf diesem Bereiche des Moralischen die ausreichende Erfahrung. Das ist mein
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Zweifel bei all den unglaublichen Dingen, welche Schopenhauer vom Mitleide zu berichten weiss: er, der uns damit zum Glauben an seine grosse Neuigkeit bringen möchte, das Mitleiden — eben das von ihm so mangelhaft beobachtete, so schlecht beschriebene Mitleiden — sei die Quelle aller und jeder ehemaligen und zukünftigen moralischen Handlung — und gerade um der Fähigkeiten willen, die er ihm erst a n g e d i c h t e t hat. — Was unterscheidet schliesslich die Menschen ohne Mitleid von den mitleidigen? Vor Allem — um auch hier nur im Groben zu zeichnen — haben sie nicht die reizbare Phantasie der Furcht, das feine Vermögen der Witterung für Gefahr; auch ist ihre Eitelkeit nicht so schnell beleidigt, wenn Etwas geschieht, das sie verhindern könnten (ihre Vorsicht des Stolzes gebietet ihnen, sich nicht unnütz in fremde Dinge zu mischen, ja sie lieben es von sich selbst aus, dass Jeder sich selber helfe und seine eigenen Karten spiele). Zudem sind sie an das Ertragen von Schmerzen meistens gewöhnter, als die Mitleidigen; auch will es ihnen nicht so unbillig dünken, dass Andere leiden, da sie selber gelitten haben. Zuletzt ist ihnen der Zustand der Weichherzigkeit peinlich, wie den Mitleidigen der Zustand des stoischen Gleichmuthes; sie belegen ihn mit herabsetzenden Worten und meinen, dass ihre Männlichkeit und kalte Tapferkeit dabei in Gefahr sei, — sie verheimlichen die Thräne vor Anderen und wischen sie ab, unwillig über sich selber. Es ist eine a n d e r e Art von Egoisten, als die Mitleidigen; — sie aber im ausgezeichneten Sinne b ö s e , und die Mitleidigen g u t zu nennen, ist Nichts, als eine moralische Mode, welche ihre Zeit hat: wie auch die umgekehrte Mode ihre Zeit gehabt hat, und eine lange Zeit!
134.
I n w i e f e r n m a n s i c h v o r dem M i t l e i d e n zu h ü t e n h a t . — Das Mitleiden, sofern es wirklich Leiden schafft — und diess sei hier unser einziger Gesichtspunct —,
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ist eine Schwäche, wie jedes Sich-verlieren an einen s c h ä d i g e n d e n Affect. Es v e r m e h r t das Leiden in der Welt: mag mittelbar auch hie und da in Folge des Mitleidens ein Leiden verringert oder gehoben werden, so darf man diese gelegentlichen und im Ganzen unbedeutenden Folgen nicht benutzen, um sein Wesen zu rechtfertigen, welches, wie gesagt, schädigend ist. Gesetzt, es herrschte auch nur Einen Tag: so gienge die Menschheit an ihm sofort zu Grunde. An sich hat es so wenig einen guten Charakter, wie irgend ein Trieb: erst dort, wo es gefordert und gelobt wird — und diess geschieht dort, wo man das Schädigende in ihm nicht begreift, aber eine Q u e l l e d e r L u s t darin entdeckt —, hängt sich ihm das gute Gewissen an, erst dann giebt man sich ihm gern hin und scheut nicht seine Kundgebung. Unter anderen Verhältnissen, wo begriffen wird, dass es schädigend ist, gilt es als Schwäche: oder, wie bei den Griechen, als ein krankhafter periodischer Affect, dem man durch zeitweilige willkürliche Entladungen seine Gefährlichkeit nehmen könne. — Wer einmal, versuchsweise, den Anlässen zum Mitleiden im praktischen Leben eine Zeitlang absichtlich nachgeht und sich alles Elend, dessen er in seiner Umgebung habhaft werden kann, immer vor die Seele stellt, wird unvermeidlich krank und melancholisch. Wer aber gar als Arzt i n i r g e n d e i n e m S i n n e der Menschheit dienen will, wird gegen jene Empfindung sehr vorsichtig werden müssen, — sie lähmt ihn in allen entscheidenden Augenblicken und unterbindet sein Wissen und seine hülfreiche feine Hand. 135-
D a s B e m i t l e i d e t w e r d e n . — Unter Wilden denkt man mit moralischem Schauder an's Bemitleidetwerden: da ist man aller Tugend bar. Mitleid-gewähren heisst so viel wie Verachten: ein verächtliches Wesen will man nicht leiden sehen, es gewährt diess keinen Genuss. Dagegen einen Feind leiden zu
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sehen, den man als ebenbürtig-stolz anerkennt und der unter Martern seinen Stolz nicht preisgiebt, und überhaupt jedes Wesen, welches sich nicht zum Mitleid-Anrufen, das heisst zur schmählichsten und tiefsten Demüthigung verstehen will, — das ist ein Genuss der Genüsse, dabei erhebt sich die Seele des Wilden zur B e w u n d e r u n g : er tödtet zuletzt einen solchen Tapferen, wenn er es in der Hand hat, und giebt ihm, dem U n g e b r o c h e n e n , seine letzte Ehre: hätte er gejammert, den Ausdrude des kalten Hohnes aus dem Gesichte verloren, hätte er sich verächtlich gezeigt, — nun, so hätte er leben bleiben dürfen, wie ein Hund, — er hätte den Stolz des Zuschauenden nicht mehr gereizt und an Stelle der Bewunderung wäre Mitleiden getreten.
136.
D a s G l ü c k i m M i t l e i d e n . — Wenn man, wie die Inder, als Z i e l der ganzen intellectuellen Thätigkeit die Erkenntniss des menschlichen E l e n d e s aufstellt und durch viele Geschlechter des Geistes hindurch einem solchen entsetzlichen Vorsatze treu bleibt: so bekommt endlich, im Auge solcher Menschen des e r b l i c h e n Pessimismus', das M i t l e i d e n einen neuen Werth, als l e b e n e r h a l t e n d e Macht, um das Dasein doch auszuhalten, ob es gleich werth erscheint, vor Ekel und Grausen weggeworfen zu werden. Mitleiden wird das Gegenmittel gegen den Selbstmord, als eine Empfindung, welche Lust enthält und Überlegenheit in kleinen Dosen zu kosten giebt: es zieht von uns ab, macht das Herz voll, verscheucht die Furcht und die Erstarrung, regt zu Worten, Klagen und Handlungen an, — es ist v e r h ä l t n i s s m ä s s i g e i n G l ü c k , gemessen am Elende der Erkenntniss, welche das Individuum von allen Seiten in die Enge und Dunkelheit treibt und ihm den Athem nimmt. Glück aber, welches es audi sei, giebt Luft, Licht und freie Bewegung.
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W a r u m d a s „ I c h " v e r d o p p e l n ! — Unsere eigenen Erlebnisse mit dem Auge ansehen, mit dem wir sie anzusehen pflegen, wenn es die Erlebnisse Anderer sind, — diess beruhigt sehr und ist eine rathsame Medicin. Dagegen die Erlebnisse Anderer so ansehen und aufnehmen, w i e a l s o b s i e d i e u n s e r e n w ä r e n — die Forderung einer Philosophie des Mitleidens —, diess würde uns zu Grunde richten, und in sehr kurzer Zeit: man mache doch nur den Versuch damit und phantasire nicht länger! Gewiss ist ausserdem jene erste Maxime der Vernunft und dem guten Willen zur Vernünftigkeit g e m ä s s e r , denn wir urtheilen über den Werth und Sinn eines Ereignisses objectiver, wenn es an Anderen hervortritt und nicht an uns: zum Beispiel über den Werth eines Sterbefalles, eines Geldverlustes, einer Verleumdung. Mitleiden als Princip des Handelns, mit der Forderung: „leide s ο an dem Übel des Andern, wie er selber leidet", brächte dagegen mit sich, dass der Ich-Gesichtspunct, mit seiner Ubertreibung und Ausschweifung, auch noch der Gesichtspunct des Anderen, des Mitleidenden, werden müsste: sodass wir an unserem Ich und am Ich des Anderen zugleich zu leiden hätten und uns derart freiwillig mit einer doppelten Unvernunft beschwerten, anstatt die Last der eigenen so gering wie möglich zu machen.
138.
D a s Z ä r t l i c h e r w e r d e n . — Wenn wir Jemanden lieben, ehren, bewundern und nun, hinterher, finden, dass er l e i d e t , — immer mit grossem Erstaunen, weil wir nicht anders denken, als dass unser von ihm herströmendes Glück aus einem überreichen Borne e i g e n e n Glückes komme, — so ändert sich unser Gefühl der Liebe, Verehrung und Bewunderung in e t w a s W e s e n t l i c h e m : es wird zärtl i c h e r , das heisst: die Kluft zwischen ihm und uns scheint
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sich zu überbrücken, eine Annäherung an Gleichheit scheint Statt zu finden. Jetzt erst gilt es uns als möglich, ihm z u r ü c k g e b e n zu können, während er früher über unsere Dankbarkeit erhaben in unserer Vorstellung lebte. Es macht uns dieses Zurückgebenkönnen eine grosse Freude und Erhebung. Wir suchen zu errathen, was seinen Schmerz lindert, und geben ihm diess; will er tröstliche Worte, Blicke, Aufmerksamkeiten, Dienste, Geschenke, — wir geben es; vor Allem aber: will er uns l e i d e n d über sein Leid, so geben wir uns als leidend, haben aber bei alledem d e n G e n u s s d e r t h ä t i g e n D a n k b a r k e i t : als welche, kurz gesagt, d i e g u t e R a c h e i s t . Will und nimmt er gar Nichts von uns an, so gehen wir erkältet und traurig, fast gekränkt fort: es ist, als ob unsere Dankbarkeit zurückgewiesen würde, — und in diesem Ehrenpuncte ist der Gütigste noch kitzlich. — Aus dem Allen folgt, dass, selbst für den günstigsten Fall, im Leiden etwas Erniedrigendes und im Mitleiden etwas Erhöhendes und Oberlegenheit-Gebendes liegt; was beide Empfindungen auf ewig von einander trennt.
13 9A n g e b l i c h h ö h e r ! — Ihr sagt, die Moral des Mitleidens sei eine höhere Moral, als die des Stoicismus'? Beweist es! aber bemerkt, dass über „höher" und „niedriger" in der Moral nicht wiederum nach moralischen Ellen abzumessen ist: denn es giebt keine absolute Moral. Nehmt also die Maassstäbe anders woher und — nun seht euch vor! 140. L o b e n u n d T a d e l n . — Läuft ein Krieg unglücklich aus, so frägt man nach Dem, der „Schuld" am Kriege sei; geht er siegreich zu Ende, so preist man seinen Urheber. Die Schuld wird überall gesucht, wo ein Misserfolg ist; denn dieser bringt
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eine Verstimmung mit sich, gegen welche das einzige Heilmittel unwillkürlich angewendet wird: eine neue Erregung des M a c h t g e f ü h l s — und diese findet sich in der V e r u r t h e i l u n g des „Schuldigen". Dieser Schuldige ist nicht etwa der Sündenbock der Schuld Anderer: er ist das Opfer der Schwachen, Gedemüthigten, Herabgestimmten, welche irgend woran sich beweisen wollen, dass sie noch Stärke haben. Auch sich selber verurtheilen kann ein Mittel sein, nach einer Niederlage sich zum Gefühl der Stärke zu verhelfen. — Dagegen ist die Verherrlichung des U r h e b e r s oftmals das ebenso blinde Ergebniss eines anderen Triebes, der sein Opfer haben will, — und diessmal riecht das Opfer dem Opferthiere selber süss und einladend — : wenn nämlich das Gefühl der Macht in einem Volke, in einer Gesellschaft durch einen grossen und bezaubernden Erfolg überfüllt ist und eine E r m ü d u n g a m S i e g e eintritt, so giebt man von seinem Stolze ab; es erhebt sich das Gefühl der H i n g e b u n g und sucht sich sein Object. — Ob wir g e t a d e l t oder g e l o b t werden, wir sind gewöhnlich dabei die Gelegenheiten, und allzuoft die willkürlich am Schöpf gefassten und herbeigeschleppten Gelegenheiten für unsere Nächsten, den in ihnen angeschwollenen Trieb des Tadeins oder Lobens ausströmen zu lassen: wir erzeigen ihnen in beiden Fällen eine Wohlthat, an der wir kein Verdienst und für die sie keinen Dank haben.
141. S c h ö n e r , a b e r w e n i g e r w e r t h . — Malerische Moralität: das ist die Moralität der steil aufschiessenden Affecte, der schroffen Übergänge, der pathetischen, eindringlichen, furchtbaren, feierlichen Gebärden und Töne. Es ist die h a l b w i l d e Stufe der Moralität: man lasse sich durch ihren ästhetischen Reiz nidit verlocken, ihr einen höheren Rang anzuweisen.
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142.
M i t e m p f i n d u n g . — Um den Anderen zu verstehen, das heisst, um s e i n G e f ü h l i n u n s n a c h z u b i l d e n , gehen wir zwar häufig auf den G r u n d seines so und so bestimmten Gefühls zurück und fragen zum Beispiel: w a r u m ist er betrübt? — um dann aus dem selben Grunde selber betrübt zu werden; aber viel gewöhnlicher ist es, diess zu unterlassen und das Gefühl nach den W i r k u n g e n , die es am Anderen übt und zeigt, in uns zu erzeugen, indem wir den Ausdruck seiner Augen, seiner Stimme, seines Ganges, seiner Haltung (oder gar deren Abbild in Wort, Gemälde, Musik) an unserem Leibe nachbilden (mindestens bis zu einer leisen Ähnlichkeit des Muskelspiels und der Innervation). Dann entsteht in uns ein ähnliches Gefühl, in Folge einer alten Association von Bewegung und Empfindung, welche darauf eingedrillt ist, rückwärts und vorwärts zu laufen. In dieser Geschicklichkeit, die Gefühle des Andern zu verstehen, haben wir es sehr weit gebracht, und fast unwillkürlich sind wir in Gegenwart eines Menschen immer in der Übung dieser Geschicklichkeit: man sehe sich namentlich das Linienspiel in den weiblichen Gesichtern an, wie es ganz vom unaufhörlichen Nachbilden und Wiederspiegeln dessen, was um sie herum empfunden wird, erzittert und glänzt. Am deutlichsten aber zeigt uns die Musik, welche Meister wir im schnellen und feinen Errathen von Gefühlen und in der Mitempfindung sind: wenn nämlich Musik ein Nachbild vom Nachbild von Gefühlen ist und doch, trotz dieser Entfernung und Unbestimmtheit, uns noch oft genug derselben theilhaftig macht, sodass wir traurig werden, ohne den geringsten Anlass zur Trauer, wie vollkommene Narren, blos weil wir Töne und Rhythmen hören, welche irgendwie an den Stimmklang und die Bewegung von Trauernden, oder gar von deren Gebräuchen, erinnern. Man erzählt von einem dänischen König, dass er von der Musik eines Sängers so in kriegerische Begeisterung hineingerissen wurde, dass er auf-
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sprang und fünf Personen seines versammelten Hofstaates tödtete: es gab keinen Krieg, keinen Feind, vielmehr von Allem das Gegentheil, aber die v o m G e f ü h l e z u r U r s a c h e z u r ü c k s c h l i e s s e n d e Kraft war stark genug, um den Augenschein und die Vernunft zu überwältigen. Allein, diess ist eben fast immer die Wirkung der Musik (gesetzt, dass sie eben w i r k t —) und man braucht so paradoxer Fälle nicht, um diess einzusehen: der Zustand des Gefühls, in den uns die Musik bringt, ist fast jedesmal im Widerspruch mit dem Augenschein unserer wirklichen Lage und der Vernunft, welche diese wirkliche Lage und ihre Ursachen erkennt. — Fragen wir, wodurch die Nachbildung der Gefühle Anderer uns so geläufig geworden ist, so bleibt kein Zweifel über die Antwort; der Mensch, als das furchtsamste aller Geschöpfe, vermöge seiner feinen und zerbrechlichen Natur, hat in seiner F u r c h t samkeit die Lehrmeisterin jener Mitempfindung, jenes schnellen Verständnisses für das Gefühl des Andern (auch des Thieres) gehabt. In langen Jahrtausenden sah er in allem Fremden und Belebten eine Gefahr: er bildete sofort bei einem solchen Anblick den Ausdruck der Züge und der Haltung nach und machte seinen Schluss über die Art der bösen Absicht hinter diesen Zügen und dieser Haltung. Dieses Ausdeuten aller Bewegungen und Linien a u f A b s i c h t e n hat der Mensch sogar auf die Natur der unbeseelten Dinge angewendet — im Wahne, dass es nichts Unbeseeltes gebe: ich glaube. Alles, was wir N a t u r g e f ü h l nennen, beim Anblick von Himmel, Flur, Fels, Wald, Gewitter, Sternen, Meer, Landschaft, Frühling, hat hier seine Herkunft, — ohne die uralte Übung der Furcht, diess Alles auf einen zweiten dahinterliegenden Sinn hin zu sehen, hätten wir jetzt keine Freude an der Natur, wie wir keine Freude an Mensch und Thier haben würden, ohne jene Lehrmeisterin des Verstehens, die Furcht. Die Freude und das angenehme Erstaunen, endlich das Gefühl des Lächerlichen, sind nämlich die später geborenen Kinder der Mitemp-
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findung und die viel jüngeren Geschwister der Furcht. — Die Fähigkeit des raschen Verstehens — welche somit auf der Fähigkeit beruht, s i c h r a s c h z u v e r s t e l l e n — nimmt bei stolzen selbstherrlichen Menschen und Völkern ab, weil sie weniger Furcht haben: dagegen sind alle Arten des Verstehens und Sich-Verstellens unter den ängstlichen Völkern zu Hause; hier ist auch die rechte Heimath der nachahmenden Künste und der höheren Intelligenz. — Wenn ich von einer solchen Theorie der Mitempfindung aus, wie ich sie hier vorschlage, an die jetzt gerade beliebte und heilig gesprochene Theorie eines mystischen Processes denke, vermöge dessen das M i t l e i d aus zwei Wesen eines macht und dergestalt dem einen das unmittelbare Verstehen des anderen ermöglicht: wenn ich mich erinnere, dass ein so heller Kopf wie der Schopenhauer's an solchem sdiwärmerischen und nichtswürdigen Krimskrams seine Freude hatte und diese Freude wieder auf helle und halbhelle Köpfe übergepflanzt hat: so weiss ich der Verwunderung und des Erbarmens kein Ende. Wie gross muss unsere Lust am unbegreiflichen Unsinn sein! Wie nahe dem Verrückten steht immer nodi der ganze Mensch, wenn er auf seine g e h e i m e n intellectuellen Wünsdie hinhört! — ( W o f ü r eigentlich fühlte sich Schopenhauer gegen Kant so dankbar gestimmt, so tief verpflichtet? Es verräth sich einmal ganz unzweideutig: Jemand hatte davon gesprochen, wie dem kategorischen Imperative Kant's die qualitas occulta genommen und er b e g r e i f l i c h gemacht werden könne. Darüber bricht Schopenhauer in diese Worte aus: „Begreiflichkeit des kategorischen Imperativs! Grundverkehrter Gedanke! Ägyptische Finsterniss! Das verhüte der Himmel, dass der nicht noch begreiflich werde! Eben dass es ein Unbegreifliches giebt, dass d i e s e r J a m m e r d e s V e r s t a n d e s und seine Begriffe begränzt, bedingt, endlich, trüglich ist; diese Gewissheit istKant's grosses Geschenk." — Man erwäge, ob Jemand einen guten Willen zur Erkenntniss der moralischen Dinge hat, der von vornherein durch den Glauben an die U n b e g r e i f -
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l i c h k e i t dieser Dinge sich beseligt fühlt! Einer, der noch ehrlich an Erleuchtungen von Oben, an Magie und Geistererscheinungen und die metaphysische Hässlichkeit der Kröte glaubt!) 5
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W e h e , w e n n d i e s e r T r i e b e r s t w ü t h e t ! — Gesetzt, der Trieb der Anhänglichkeit und Fürsorge für Andere (die „sympathische Affection") wäre doppelt so stark, als er ist, so wäre es gar nicht auf der Erde a u s z u h a l t e n . Man be10 denke doch nur, was Jeder aus Anhänglichkeit und Fürsorge f ü r s i c h s e l b e r an Thorheiten begeht, täglich und stündlich, und wie unausstehlich er dabei anzusehen ist: wie wäre es, wenn w i r f ü r A n d e r e das Object dieser Thorheiten und Zudringlichkeiten würden, mit denen sie sich bisher nur sel15 ber heimgesucht haben! Würde man dann nicht blindlings flüchten, sobald ein „Nächster" uns nahe käme? Und die sympathische Affection mit ebenso bösen Worten belegen, mit denen wir jetzt den Egoismus belegen?
144. 2
°
D i e O h r e n v o r d e m J a m m e r z u h a l t e n . — Wenn wir uns durch den Jammer und das Leiden der anderen Sterblichen verdüstern lassen und unsern eigenen Himmel mit Wolken bedecken, wer hat dann die Folgen dieser Verdüsterung zu tragen? Eben doch die anderen Sterblichen, und zu 25 allen ihren Lasten noch hinzu! Wir können weder h ü l f r e i c h noch e r q u i c k l i c h für sie sein, wenn wir das Echo ihres Jammers sein wollen, ja auch wenn wir immer nur nach ihm hin unser Ohr richten, — es sei denn, dass wir die Kunst der Olympier erlernten und uns fürderhin am Unglück der 3° Menschen e r b a u t e n , anstatt daran unglücklich zu werden. Das ist aber etwas zu olympierhaft für uns: obwohl wir,
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mit dem Genuss der Tragödie, schon einen Schritt nach diesem idealischen Götter-Kanibalenthum gethan haben.
145· „ U n e g o i s t i s c h ! " — Jener ist hohl und will voll werden, Dieser ist überfüllt und will sich ausleeren, — Beide treibt es, sich ein Individuum zu suchen, das ihnen dazu dient. Und diesen Vorgang, im höchsten Sinne verstanden, nennt man beidemal mit Einem Worte: Liebe, — wie? die Liebe sollte etwas Unegoistisches sein?
146.
A u c h ü b e r d e n N ä c h s t e n h i n w e g . — Wie? Das Wesen des wahrhaft Moralischen liege darin, dass wir die nächsten und unmittelbarsten Folgen unserer Handlungen für den Anderen in's Auge fassen und uns darnach entscheiden? Diess ist nur eine enge und kleinbürgerliche Moral, wenn es auch Moral sein mag: aber höher und freier scheint es mir gedacht, audi über diese nächsten Folgen für den Anderen h i n w e g z u s e h e n und entferntere Zwecke unter Umständen a u c h d u r c h d a s L e i d d e s A n d e r e n zu fördern, — zum Beispiel die Erkenntniss zu fördern, audi trotz der Einsicht, dass unsere Freigeisterei zunächst und unmittelbar die Anderen in Zweifel, Kummer und Schlimmeres werfen wird. Dürfen wir unseren Nächsten nicht wenigstens so behandeln, wie wir uns behandeln? Und wenn wir bei uns nicht so eng und kleinbürgerlich an die unmittelbaren Folgen und Leiden denken: warum m ü s s t e n wir es bei ihm thun? Gesetzt, wir hätten den Sinn der Aufopferung für uns: was würde uns verbieten, den Nächsten mit aufzuopfern? — so wie es bisher der Staat und der Fürst thaten, die den einen Bürger den anderen zum Opfer brachten, „der allgemeinen Interessen
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wegen", wie man sagte. Aber audi wir haben allgemeine und vielleicht allgemeinere Interessen: warum sollten den kommenden Geschlechtern nicht einige Individuen der gegenwärtigen Geschlechter zum Opfer gebracht werden dürfen? sodass ihr Gram, ihre Unruhe, ihre Verzweiflung, ihre Fehlgriffe und Angstschritte für nöthig befunden würden, weil eine neue Pflugschar den Boden brechen und fruchtbar für Alle machen solle? — Endlich: wir theilen zugleich die Gesinnung an den Nächsten mit, in der er s i c h a l s O p f e r f ü h l e n kann, wir überreden ihn zu der Aufgabe, für die wir ihn benützen. Sind wir denn ohne Mitleid? Aber wenn wir auch ü b e r u n s e r M i t l e i d h i n w e g gegen uns selber den Sieg erringen wollen, ist diess nicht eine höhere und freiere Haltung und Stimmung, als jene, bei der man sich sicher fühlt, wenn man herausgebracht hat, ob eine Handlung dem Nächsten w o h l o d e r w e h e t h u t ? Wir dagegen würden doch durch das Opfer — in welchem wir u n d d i e N ä c h s t e n einbegriffen sind — das allgemeine Gefühl der menschlichen M a c h t stärken und höher heben, gesetzt auch, dass wir nicht Mehr erreichten. Aber schon diess wäre eine positive Vermehrung des G l ü c k e s . — Zuletzt, wenn diess sogar doch hier kein Wort mehr! Ein Blick genügt, ihr habt midi verstanden.
147. U r s a c h e d e s „ A l t r u i s m u s " . — Von der Liebe haben die Menschen im Ganzen desshalb so emphatisch und vergöttlichend gesprochen, w e i l s i e W e n i g d a v o n geh a b t h a b e n und sich niemals an dieser Kost satt essen durften: so wurde sie ihnen „Götterkost". Möge ein Diditer einmal im Bilde einer Utopie die a l l g e m e i n e M e n s c h e n l i e b e als vorhanden zeigen: gewiss, er wird einen qualvollen und lächerlichen Zustand zu beschreiben haben, dessengleidien die Erde nodi nicht sah, — Jedermann nicht von
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Einem Liebenden umschwärmt, belästigt und ersehnt, wie es jetzt vorkommt, sondern von Tausenden, ja von Jedermann, vermöge eines unbezwingbaren Triebes, den man dann ebenso beschimpfen und verfluchen wird, wie es die ältere Menschheit mit der Selbstsucht gethan hat; und die Dichter jenes Zustandes, wenn man ihnen zum Dichten die Ruhe lässt, von Nichts träumend als von der seligen liebelosen Vergangenheit, der göttlichen Selbstsucht, der einstmals auf Erden noch möglichen Einsamkeit, Ungestörtheit, Unbeliebtheit, Gehasstheit, Verachtetheit und wie immer die ganze Niedertracht unserer lieben Thierwelt heisst, in der wir leben.
148.
A u s b l i c k i n d i e F e r n e . — Sind nur die Handlungen moralisch, wie man wohl definirt hat, welche um des Anderen willen und nur um seinetwillen gethan werden, so giebt es keine moralischen Handlungen! Sind nur die Handlungen moralisch — wie eine andere Definition lautet —, welche in Freiheit des Willens gethan werden, so giebt es ebenfalls keine moralischen Handlungen! — Und was ist also Das, was man so n e n n t und das doch jedenfalls existirt und erklärt sein will? Es sind die Wirkungen einiger intellectueller Fehlgriffe. — Und gesetzt, man machte sich von diesen Irrthümern frei, was würde aus den „moralischen Handlungen"? — Vermöge dieser Irrthümer theilten wir bisher einigen Handlungen einen höheren Werth zu, als sie haben: wir trennten sie von den „egoistischen" und den „unfreien" Handlungen ab. Wenn wir sie jetzt diesen wieder zuordnen, wie wir thun müssen, so v e r r i n g e r n wir gewiss ihren Werth (ihr Werthgefühl), und zwar unter das billige Maass hinab, weil die „egoistischen" und „unfreien" Handlungen bisher zu niedrig geschätzt wurden, auf Grund jener angeblichen tiefsten und innerlichsten Verschiedenheit. — So werden gerade sie von jetzt ab weniger
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oft gethan werden, weil sie von nun an weniger geschätzt werden? — Unvermeidlich! Wenigstens für eine gute Zeit, so lange die Wage des Werthgefühls unter der Reaction früherer Fehler steht! Aber unsere Gegenrechnung ist die, dass wir den 5 Menschen den guten Muth zu den als egoistisch verschrieenen Handlungen zurückgeben und den W e r t h derselben wiederherstellen, — w i r r a u b e n d i e s e n d a s b ö s e G e w i s s e n ! Und da diese bisher weit die häufigsten waren und in alle Zukunft es sein werden, so nehmen wir dem ganzen Bilde io der Handlungen und des Lebens seinen b ö s e n A n s c h e i n ! Diess ist ein sehr hohes Ergebniss! Wenn der Mensch sich nicht mehr für böse hält, hört er auf, es zu sein!
Drittes Buch.
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Kleine abweichende Handlungen thun noth! — In den Angelegenheiten der S i t t e auch einmal w i d e r seine bessere Einsicht handeln; hier in der Praxis nachgeben und sich die geistige Freiheit vorbehalten; es so machen wie Alle und damit Allen eine Artigkeit und Wohlthat erweisen, zur Entschädigung gleichsam für das Abweichende unserer Meinungen: — das gilt bei vielen leidlich freigesinnten Menschen nicht nur als unbedenklich, sondern als „honett", „human", „tolerant", „nicht pedantisch", und wie die schönen Worte lauten mögen, mit denen das intellectuelle Gewissen in Schlaf gesungen wird: und so bringt Dieser sein Kind zur christlichen Taufe herzu und ist dabei Atheist, und Jener thut Kriegsdienste wie alle Welt, so sehr er auch den Völkerhass verdammt, und ein Dritter läuft mit einem Weibchen in die Kirche, weil es eine fromme Verwandtschaft hat, und macht Gelübde vor einem Priester, ohne sich zu schämen. „Es ist nicht w e s e n t l i c h , wenn Unsereiner auch thut, was Alle immerdar thun und gethan haben" — so klingt das grobe V o r u r t h e i l ! Der g r o b e Irrthum! Denn es giebt nichts W e s e n t l i c h e r e s , als wenn das bereits Mächtige, Altherkömmliche und vernunftlos Anerkannte durch die Handlung eines anerkannt Vernünftigen noch einmal bestätigt wird: damit erhält es in den Augen Aller, die davon hören, die Sanc-
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tion der Vernunft selber! Alle Achtung vor eueren Meinungen! Aber k l e i n e a b w e i c h e n d e H a n d l u n g e n sind mehr werth! 150. D e r Z u f a l l d e r E h e n . — Wäre ich ein Gott, und ein wohlwollender Gott, so würden mich die E h e n der Menschen mehr als alles Andere ungeduldig machen. Weit, weit kann ein Einzelner vorwärts kommen, in seinen siebenzig, ja in seinen dreissig Jahren, — es ist zum Erstaunen, selbst für Götter! Aber sieht man dann, wie er das Erbe und Vermächtniss dieses Ringens und Siegens, den Lorber seiner Menschlichkeit, an den ersten besten Ort aufhängt, wo ihn ein Weiblein zerpflückt; sieht man, wie gut er zu erringen, wie schlecht zu bewahren versteht, ja wie er gar nicht daran denkt, dass er vermittelst der Zeugung ein noch siegreicheres Leben vorbereiten könne: so wird man, wie gesagt, ungeduldig und sagt sich „es kann aus der Menschheit auf die Dauer Nichts werden, die Einzelnen werden verschwendet, der Zufall der Ehen macht alle Vernunft eines grossen Ganges der Menschheit unmöglich; — hören wir auf, die eifrigen Zuschauer und Narren dieses Schauspiels ohne Ziel zu sein!" — In dieser Stimmung zogen sich einstmals die Götter Epikur's in ihre göttliche Stille und Seligkeit zurück: sie waren der Menschen und ihrer Liebeshändel müde.
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H i e r s i n d n e u e I d e a l e z u e r f i n d e n . — Es sollte nicht erlaubt sein, im Zustande der Verliebtheit einen Entschluss über sein Leben zu fassen und einer heftigen Grille wegen den Charakter seiner Gesellschaft ein für allemal festzusetzen: man sollte die Schwüre der Liebenden öffentlich für ungültig erklären und ihnen die Ehe verweigern: — und zwar, weil man die Ehe unsäglich wichtiger nehmen sollte! so dass sie in solchen Fällen,
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wo sie bisher zu Stande kam, für gewöhnlich gerade nicht zu Stande käme! Sind nicht die meisten Ehen der Art, dass man keinen Dritten als Zeugen wünscht? Und gerade dieser Dritte fehlt fast nie — das Kind — und ist mehr als ein Zeuge, nämlich der Sündenbock!
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E i d f o r m e l . — „Wenn ich jetzt lüge, so bin ich kein anständiger Mensch mehr, und Jeder soll es mir in's Gesicht sagen dürfen." — Diese Formel empfehle ich an Stelle des gerichtlichen Eides und der üblichen Anrufung Gottes dabei: sie ist s t ä r k e r . Audi der Fromme hat keinen Grund, sich ihr zu widersetzen: sobald nämlidi der bisherige Eid nicht mehr hinreichend n ü t z t , muss der Fromme auf seinen Katechismus hören, welcher vorschreibt „du sollst den Namen Gottes deines Herrn nicht u n n ü t z l i c h führen!"
153·
E i n U n z u f r i e d e n e r . — Das ist einer jener alten Tapferen: er ärgert sich über die Civilisation, weil er meint, dieselbe ziele darauf, alle guten Dinge, Ehren, Schätze, schöne Weiber, — auch den Feigen zugänglich zu machen.
ij4.
T r o s t d e r G e f ä h r d e t e n . — Die Griechen, in einem Leben, welches grossen Gefahren und Umstürzen sehr nahe stand, suchten im Nachdenken und Erkennen eine Art Sicherheit des Gefühls und letztes refugium. Wir, in einem unvergleichlich sichreren Zustande, haben die Gefährlichkeit in's Nachdenken und Erkennen getragen, und erholen und beruhigen uns von ihr am L e b e n.
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Morgen röthe
155· E r l o s c h e n e S k e p s i s . — Kühne Wagnisse sind in der neuen Zeit seltener, als in der alten und mittelalterlichen, — wahrscheinlich desshalb, weil die neue Zeit nicht mehr den Glauben an Vorzeichen, Orakel, Gestirne und Wahrsager hat. Das heisst: wir sind dazu unfähig geworden, an eine u n s bestimmte Z u k u n f t z u g l a u b e n , so wie die Alten glaubten, welche — anders, als wir — in Beziehung auf Das, was k o m m t , viel weniger Skeptiker waren, als in Beziehung auf Das, was d a i s t .
A u s U b e r m u t h b ö s e . — „Dass wir uns nur nicht zu wohl fühlen!" — das war die heimliche Herzensangst der Griechen in der guten Zeit. D e s s h a l b predigten sie sich das Maass. Und wir!
157·
C u l t u s d e r „ N a t u r l a u t e " . — Wohin weist es, dass unsere Cultur gegen die Aeusserungen des Schmerzes, gegen Thränen, Klagen, Vorwürfe, Gebärden der Wuth oder der Demüthigung, nicht nur geduldig ist, dass sie dieselben gut heisst und unter die edleren Unvermeidlichkeiten rechnet? — während der Geist der antiken Philosophie mit Verachtung auf sie sah und ihnen durchaus keine Nothwendigkeit zuerkannte. Man erinnere sich doch, wie Plato — das heisst: keiner von den unmenschlichsten Philosophen — von dem Philoktet der tragischen Bühne redet. Sollte unsrer modernen Cultur vielleicht „die Philosophie" fehlen? Sollten wir, nach der Abschätzung jener alten Philosophen, vielleicht sammt und sonders zum „Pöbel" gehören?
Drittes Buch 155—161
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ij8.
C l i m a d e s S c h m e i c h l e r s . — Die hündischen Schmeichler muss man jetzt nicht mehr in der Nähe der Fürsten suchen, — diese haben alle den militärischen Geschmack, und der Schmeichler geht wider diesen. Aber in der Nähe der Banquiers und Künstler wächst jene Blume auch jetzt noch.
I
59·
D i e T o d t e n e r w e c k e r . — Eitle Menschen schätzen ein Stück Vergangenheit von dem Augenblick an höher, von dem an sie es nachzuempfinden vermögen (zumal wenn diess schwierig ist), ja sie wollen es womöglich jetzt wieder von den Todten erwecken. Da der Eiteln aber immer eine Unzahl da ist, so ist die Gefahr der historischen Studien, sobald eine ganze Zeit ihnen obliegt, in der That nicht gering: es wird zu viel Kraft an alle möglichen Todten-Erweckungen weggeworfen. Vielleicht versteht man die ganze Bewegung der Romantik am besten aus diesem Gesichtspuncte.
160.
E i t e l , b e g e h r l i c h u n d w e n i g w e i s e . — Eure Begierden sind grösser, als euer Verstand, und eure Eitelkeit ist noch grösser, als eure Begierden, — solchen Menschen, wie ihr seid, ist von Grund aus r e c h t v i e l christliche Praxis und dazu ein Wenig Schopenhauerische Theorie anzurathen!
161.
S c h ö n h e i t g e m ä s s d e m Z e i t a l t e r . — Wenn unsere Bildhauer, Maler und Musiker den Sinn der Zeit treffen wollen, so müssen sie die Schönheit gedunsen, riesenhaft und nervös bilden: so wie die Griechen, im Banne ihrer Moral des Maasses,
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Morgenröthe
die Schönheit als Apollo vom Belvedere sahen und bildeten. Wir sollten ihn eigentlich h ä s s l i c h nennen! Aber die albernen „Classicisten" haben uns um alle Ehrlichkeit gebracht!
162. D i e I r o n i e d e r G e g e n w ä r t i g e n . — Augenblicklich ist es Europäer-Art, alle grossen Interessen mit Ironie zu behandeln, weil man vor Geschäftigkeit in ihrem Dienste keine Zeit hat, sie ernst zu nehmen.
163. G e g e n R o u s s e a u . — Wenn es wahr ist, dass unsere Civilisation etwas Erbärmliches an sich hat: so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschliessen „diese erbärmliche Civilisation ist Schuld an unserer s c h l e c h t e n Moralität" oder gegen Rousseau zurückzuschliessen „unsere g u t e Moralität ist Schuld an dieser Erbärmlichkeit der Civilisation. Unsere schwachen, unmännlichen gesellschaftlichen Begriffe von gut und böse und die ungeheuere Uberherrschaft derselben über Leib und Seele haben alle Leiber und alle Seelen endlich schwach gemacht und die selbständigen, unabhängigen, unbefangenen Menschen, die Pfeiler einer s t a r k e n Civilisation, zerbrochen: wo man der s c h l e c h t e n Moralität jetzt noch begegnet, da sieht man die letzten Trümmer dieser Pfeiler." So stehe denn Paradoxon gegen Paradoxon! Unmöglich kann hier die Wahrheit auf beiden Seiten sein: und ist sie überhaupt auf einer von beiden? Man prüfe.
164. V i e l l e i c h t v e r f r ü h t . — Gegenwärtig scheint es so, dass unter allerhand falschen irreführenden Namen und zumeist in
Drittes Buch 161—165
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grosser Unklarheit von Seiten Derer, welche sich nicht an die bestehenden Sitten und Gesetze gebunden halten, die ersten Versuche gemacht werden, sich zu organisiren und damit sich ein R e c h t zu schaffen: während sie bisher, als Verbrecher, Freidenker, Unsittliche, Bösewichte verschrieen, unter dem Banne der Vogelfreiheit und des schlechten Gewissens, verderbt und verderbend, lebten. Diess sollte man im Ganzen und Grossen b i l l i g u n d g u t finden, wenn es auch das kommende Jahrhundert zu einem gefährlichen macht und Jedem das Gewehr um die Schulter hängt: schon damit eine Gegenmacht da ist, die immer daran erinnert, dass es keine allein-moralisch-machende Moral giebt und dass jede ausschliesslich sich selber bejahende Sittlichkeit zu viel gute Kraft tödtet und der Menschheit zu theuer zu stehen kommt. Die Abweichenden, welche so häufig die Erfinderischen und Fruchtbaren sind, sollen nicht mehr geopfert werden; es soll nicht einmal mehr für schändlich gelten, von der Moral abzuweichen, in Thaten und Gedanken; es sollen zahlreiche neue Versuche des Lebens und der Gemeinschaft gemacht werden; es soll eine ungeheuere Last von schlechtem Gewissen aus der Welt geschafft werden, — diese allgemeinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitsuchenden anerkannt und gefördert werden!
165.
W e l c h e M o r a l n i c h t l a n g w e i l t . — Die sittlichen Hauptgebote, die ein Volk sich immer wieder lehren und vorpredigen lässt, stehen in Beziehung zu seinen Hauptfehlern, und desshalb werden sie ihm nicht langweilig. Die Griechen, denen die Mässigung, der kalte Muth, der gerechte Sinn und überhaupt die Verständigkeit allzuoft abhanden kamen, hatten ein Ohr für die vier sokratischen Tugenden, — denn man hatte sie so nöthig und doch gerade für sie so wenig Talent!
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Morgenröthe 166.
A m S c h e i d e w e g e . — Pfui! ihr wollt in ein System hinein, wo man entweder Rad sein muss, voll und ganz, oder unter die Räder geräth! wo es sich von selber versteht, dass Jeder Das i s t , wozu er von Oben her g e m a c h t wird! Wo das Suchen nach „Connexion" zu den natürlichen Pflichten gehört! wo Keiner sich beleidigt fühlt, wenn er auf einen Mann mit dem Winke aufmerksam gemacht wird „er kann Ihnen einmal nützen"; wo man sich nicht schämt, Besuche zu machen, um die Fürsprache einer Person zu erbitten! w o man nicht einmal ahnt, wie man sich durch eine geflissentliche Einordnung in solche Sitten ein für allemal als geringe Töpferwaare der Natur bezeichnet hat, welche Andere verbrauchen und zerbrechen dürfen, ohne sich sehr dafür verantwortlich zu fühlen; gleich als ob man sagte: „an solcher Art, wie ich bin, wird es nie Mangel geben: nehmt mich hin! Ohne Umstände!" —
167· D i e u n b e d i n g t e n H u l d i g u n g e n . — Wenn idi an den gelesensten deutschen Philosophen, an den gehörtesten deutschen Musiker und an den angesehensten deutschen Staatsmann denke, so muss ich mir eingestehen: es wird den Deutschen, diesem Volke der u n b e d i n g t e n Gefühle, jetzt recht sauer gemacht, und zwar von ihren eigenen grossen Männern. Es giebt da dreimal ein prachtvolles Schauspiel zu sehen: jedesmal einen Strom, in seinem eigenen, selbstgegrabenen Strombette, und so mächtig bewegt, dass es öfter scheinen könnte, als wollte er den Berg hinaufströmen. Und dennoch, wie weit man seine Verehrung auch treiben möge: wer möchte nicht gern a n d e r e r Meinung sein, als Schopenhauer, im Ganzen und Grossen!—Und wer könnte jetzt Einer Meinung mit Richard Wagner sein, im Ganzen und im Kleinen? so wahr es auch sein mag, was Jemand gesagt hat, dass überall, wo er Anstoss nimmt und wo er A n -
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stoss giebt, ein Problem v e r g r a b e n liegt, — genug, er selber bringt es nicht an das Licht. — Und endlich, wie Viele möchten von ganzem Herzen mit Bismarck Einer Meinung sein, wenn er selber nur mit sich Einer Meinung wäre oder auch nur Miene machte, es fürderhin zu sein! Zwar: o h n e G r u n d s ä t z e , a b e r m i t G r u n d t r i e b e n , ein beweglicher Geist im Dienste starker Grundtriebe, und eben desshalb ohne Grundsätze, — das sollte an einem Staatsmanne nichts Auffälliges haben, vielmehr als das Rechte und Naturgemässe gelten; aber leider war es bisher so durchaus nicht deutsch! ebenso wenig, als Lärm um Musik, und Missklang und Missmuth um den Musiker, ebenso wenig, als die neue und ausserordentliche Stellung, welche Schopenhauer wählte: nämlich weder ü b e r den Dingen, noch auf den Knieen vor den Dingen — beides hätte noch deutsch heissen können —, sondern g e g e n die Dinge! Unglaublich! Und unangenehm! Sich in Eine Reihe mit den Dingen stellen und doch als ihr Gegner, zu guterletzt gar als der Gegner seiner selber! — was kann der unbedingte Verehrer mit einem solchen Vorbilde anfangen! Und was überhaupt mit drei solchen Vorbildern, die unter einander selber nicht Frieden halten wollen! Da ist Schopenhauer ein Gegner der Musik Wagner's, und Wagner ein Gegner der Politik Bismarck's, und Bismarck ein Gegner aller Wagnerei und Schopenhauerei! Was bleibt da zu thun! Wohin sich mit seinem Durste nach der „Huldigung in Bausch und Bogen" flüchten! Könnte man sich vielleicht aus der Musik des Musikers einige hundert Tacte guter Musik auslesen, die sich Einem an's Herz legen und denen man sich gern an's Herz legt, weil sie ein Herz haben, — könnte man mit diesem kleinen Raub bei Seite gehen und den ganzen Rest — vergessen? Und ein eben solches Abkommen in Hinsicht des Philosophen und des Staatsmannes ausfindig machen, — auslesen, sich an's Herz legen und namentlich d e n R e s t v e r g e s s e n ? Ja, wenn nur das Vergessen nicht so schwer wäre! Da gab es einen sehr stolzen Menschen, der durchaus nur von sich
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Morgenröthe
selber Etwas annehmen wollte, Gutes und Schlimmes: als er aber das V e r g e s s e n nöthig hatte, konnte er es sich selber nicht geben, sondern musste dreimal die Geister beschwören; sie kamen, sie hörten sein Verlangen, und zuletzt sagten sie: „nur diess gerade steht nicht in unserer Macht!" Sollten die Deutschen sich die Erfahrung M a n f r e d ' s nicht zu Nutze machen? Warum erst noch die Geister beschwören! Es ist unnütz, man vergisst nicht, wenn man vergessen will. Und wie gross wäre „der Rest", den man hier, von diesen drei Grössen der Zeit, vergessen müsste, um fürderhin ihr Verehrer in Bausch und Bogen sein zu können! D a ist es doch räthlicher, die gute Gelegenheit zu benutzen und etwas Neues zu versuchen: nämlich in der R e d l i c h k e i t g e g e n s i c h s e l b e r zuzunehmen und aus einem Volke des gläubigen Nadisprechens und der bitterbösen blinden Feindseligkeit ein Volk der bedingten Zustimmung und der wohl wollenden Gegnerschaft zu werden; zunächst aber zu lernen, dass unbedingte Huldigungen vor Personen etwas Lächerliches sind, dass hierin Umlernen auch für Deutsche nicht unrühmlich ist, und dass es einen tiefen, beherzigenswerthen Spruch giebt: „Ce qui importe, ce ne sont point les personnes: mais les choses." Dieser Spruch ist wie Der, welcher ihn sprach, gross, brav, einfach und schweigsam, — ganz wie Carnot, der Soldat und der Republicaner. — Aber darf man jetzt so von einem Franzosen zu Deutschen sprechen, noch dazu von einem Republicaner? Vielleicht nicht; ja, vielleicht darf man nicht einmal daran erinnern, was Niebuhr seiner Zeit den Deutschen sagen durfte: Niemand habe ihm so sehr den Eindruck der w a h r e n G r ö s s e gegeben, als Carnot.
168.
E i n V o r b i l d . — Was liebe ich an Thukydides, was macht, dass ich ihn höher ehre, als Plato? Er hat die umfänglichste und unbefangenste Freude an allem Typischen des Menschen und der
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Ereignisse und findet, dass zu jedem Typus ein Quantum g u t e r V e r n u n f t gehört: d i e s e sucht er zu entdecken. Er hat eine grössere praktische Gerechtigkeit, als Plato; er ist kein Verlästerer und Verkleinerer der Menschen, die ihm nicht gefallen oder die ihm im Leben wehe gethan haben. Im Gegentheil: er sieht etwas Grosses in alle Dinge und Personen hinein und zu ihnen hinzu, indem er nur Typen sieht; was hätte auch die ganze Nachwelt, der er sein Werk weiht, mit dem zu schaffen, was n i c h t typisch wäre! So kommt in ihm, dem Menschen-Denker, jene C u l t u r d e r unbefangensten W e l t k e n n t n i s s zu einem letzten herrlichen Ausblühen, welche in Sophokles ihren Dichter, in Perikles ihren Staatsmann, in Hippokrates ihren Arzt, in Demokrit ihren Naturforscher hatte: jene Cultur, welche auf den Namen ihrer Lehrer, der S o p h i s t e n , getauft zu werden verdient und leider von diesem Augenblicke der Taufe an uns auf einmal blass und unfassbar zu werden beginnt, — denn nun argwöhnen wir, es müsse eine sehr unsittliche Cultur gewesen sein, gegen welche ein Plato mit allen sokratischen Schulen kämpfte! Die Wahrheit ist hier so verzwickt und verhäkelt, dass es Widerwillen macht, sie aufzudröseln: so laufe der alte Irrthum (error veritate simplicior) seinen alten Weg!
169.
D a s G r i e c h i s c h e u n s s e h r f r e m d . — Orientalisch oder Modern, Asiatisch oder Europäisch: im Verhältniss zum Griechischen ist diesem Allem die Massenhaftigkeit und der Genuss an der grossen Quantität als der Sprache des Erhabenen zu eigen, während man in Pästum, Pompeji und Athen und vor der ganzen griechischen Architektur so erstaunt darüber wird, m i t w i e k l e i n e n M a s s e n die Griechen etwas Erhabenes ausztÜsprechen wissen und auszusprechen l i e b e n . — Ebenfalls: wie einfach waren in Griechenland die ^Menschen sich selber
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i n i h r e r V o r s t e l l u n g ! Wie weit übertreffen wir sie in der Menschenkenntniss! Wie labyrinthisch aber auch nehmen sich unsere Seelen und unsere Vorstellungen von den Seelen gegen die ihrigen aus! Wollten und wagten wir eine Architektur nach u n s e r e r Seelen-Art (wir sind zu feige dazu!) — so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein! Die uns eigene und uns wirklich aussprechende Musik lässt es schon errathen! (In der Musik nämlich lassen sich die Menschen gehen, weil sie wähnen, es sei Niemand da, der sie selber u n t e r ihrer Musik zu sehen vermöge.) 170. A n d e r e P e r s p e c t i v e d e s G e f ü h l e s . — Was ist unser Geschwätz von den Griechen! Was verstehen wir denn von ihrer Kunst, deren Seele — die Leidenschaft für die m ä n n l i c h e nackte Schönheit ist! — Erst v o n d a a u s empfanden sie die weibliche Schönheit. So hatten sie also für sie eine völlig andere Perspective, als wir. Und ähnlich stand es mit ihrer Liebe zum Weibe: sie verehrten anders, sie verachteten anders. 171. Die E r n ä h r u n g des m o d e r n e n Menschen. — Er versteht Vieles, ja fast Alles zu verdauen, — es ist seine Art Ehrgeiz: aber er würde höherer Ordnung sein, wenn er diess gerade n i c h t verstünde; homo pamphagus ist nidit die feinste Species. Wir leben zwischen einer Vergangenheit, die einen verrückteren und eigensinnigeren Geschmack hatte, als wir, und einer Zukunft, die vielleicht einen gewählteren haben wird, — wir leben zu sehr in der Mitte. 172. T r a g ö d i e u n d M u s i k . — Männer in einer kriegerischen Grundverfassung des Gemüths, wie zum Beispiel die Griechen in
Drittes Buch 169—172
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der Zeit des Äschylus, sind s c h w e r z u r ü h r e n , und wenn das Mitleiden einmal über ihre Härte siegt, so ergreift es sie wie ein Taumel und gleich einer „dämonischen Gewalt", — sie fühlen sich dann unfrei und von einem religiösen Schauder erregt. Hinterher haben sie ihre Bedenken gegen diesen Zustand; so lange sie in ihm sind, geniessen sie das Entzücken des Ausser-sichseins und des Wunderbaren, gemischt mit dem bittersten Wermuth des Leidens: es ist das so recht ein Getränk für Krieger, etwas Seltenes, Gefährliches und Bittersüsses, das Einem nicht leicht zu Theil wird. — An Seelen, die so das Mitleiden empfinden, wendet sich die Tragödie, an harte und kriegerische Seelen, welche man schwer besiegt, sei es durch Furcht, sei es durch Mitleid, welchen es aber nütze ist, von Zeit zu Zeit e r w e i c h t zu werden: aber was soll die Tragödie Denen, welche den „sympathischen Affectionen" offen stehen wie die Segel den Winden! Als die Athener weicher und empfindsamer geworden waren, zur Zeit Plato's, — ach, wie ferne waren sie noch von der Rührseligkeit unserer Gross- und Kleinstädter! — aber doch klagten schon die Philosophen über die S c h ä d l i c h k e i t der Tragödie. Ein Zeitalter voller Gefahren, wie das eben beginnende, in welchem die Tapferkeit und Männlichkeit im Preise steigen, wird vielleicht allmählich die Seelen wieder so hart machen, dass tragische Dichter ihnen noth thun: einstweilen aber waren diese ein Wenig ü b e r f l ü s s i g , — um das mildeste Wort zu gebraudien. — So kommt vielleicht auch für die Musik noch einmal das bessere Zeitalter (gewiss wird es das b ö s e r e sein!), dann, wenn die Künstler sich mit ihr an streng persönliche, in sich harte, vom dunklen Ernste eigener Leidenschaft beherrschte Mensdien zu wenden haben: aber was soll die Musik diesen heutigen allzubeweglichen, unausgewachsenen, halbpersönlichen, neugierigen und nach Allem lüsternen Seelchen des verschwindenden Zeitalters?
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Morgenröthe 173·
D i e L o b r e d n e r d e r A r b e i t . — Bei der Verherrlichung der „Arbeit", bei dem unermüdlichen Reden vom „Segen der Arbeit" sehe ich den selben Hintergedanken, wie bei dem Lobe der gemeinnützigen unpersönlichen Handlungen: den der Furcht vor allem Individuellen. Im Grunde fühlt man jetzt, beim Anblick der Arbeit — man meint immer dabei jene harte Arbeitsamkeit von früh bis spät —, dass eine solche Arbeit die beste Polizei ist, dass sie Jeden im Zaume hält und die Entwickelung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhängigkeitsgelüstes kräftig zu hindern versteht. Denn sie verbraucht ausserordentlich viel Nervenkraft und entzieht dieselbe dem Nachdenken, Grübeln, Träumen, Sorgen, Lieben, Hassen, sie stellt ein kleines Ziel immer in's Auge und gewährt leidite und regelmässige Befriedigungen. So wird eine Gesellschaft, in welcher fortwährend hart gearbeitet wird, mehr Sicherheit haben: und die Sicherheit betet man jetzt als die oberste Gottheit an. — Und nun! Entsetzen! Gerade der „Arbeiter" ist g e f ä h r l i c h geworden! Es wimmelt von „gefährlichen Individuen"! Und hinter ihnen die Gefahr der Gefahren — d a s individuum!
174.
Moralische Mode einer handeltreibenden G e s e l l s c h a f t . — Hinter dem Grundsatze der jetzigen moralischen Mode: „moralische Handlungen sind die Handlungen der Sympathie für Andere" sehe ich einen socialen Trieb der Furchtsamkeit walten, welcher sich in dieser Weise intellectuell vermummt: dieser Trieb will, als Oberstes, Wichtigstes, Nächstes, dass dem Leben a l l e G e f ä h r l i c h k e i t genommen werde, welche es früher hatte und dass daran J e d e r und mit allen Kräften helfen solle: desshalb dürfen nur Handlungen, welche auf die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft abzielen, das Prädicat „gut" bekommen! — Wie
Drittes Buch 173—175
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wenig Freude müssen doch jetzt die Menschen an sich haben, wenn eine solche Tyrannei der Furchtsamkeit ihnen das oberste Sittengesetz vorschreibt, wenn sie es sich so widerspruchslos anbefehlen lassen, über sich, neben sich wegzusehen, aber für jeden Nothstand, für jedes Leiden anderwärts Luchs-Augen zu haben! Sind wir denn bei einer solchen ungeheuren Absichtlichkeit, dem Leben alle Schärfen und Kanten abzureiben, nicht auf dem besten Wege, die Menschheit zu S a n d zu machen? Sand! Kleiner, weicher, runder, unendlidier Sand! Ist das euer Ideal, ihr Herolde der sympathischen AfFectionen? — Inzwischen bleibt selbst die Frage unbeantwortet, ob man dem Anderen m e h r n ü t z t , indem man ihm unmittelbar fortwährend beispringt und h i l f t — was doch nur sehr oberflächlich geschehen kann, wo es nicht zu einem tyrannischen Ubergreifen und Umbilden wird — oder indem man aus sich selber Etwas f o r m t , was der Andere mit Genuss sieht, etwa einen schönen, ruhigen, in sich abgeschlossenen Garten, welcher hohe Mauern gegen die Stürme und den Staub der Landstrassen, aber audi eine gastfreundliche Pforte hat.
mG r u n d g e d a n k e einer C u l t u r der H a n d e l t r e i b e n d e n . — Man sieht jetzt mehrfach die Cultur einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das H a n d e l t r e i b e n ebenso sehr die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die älteren Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende versteht Alles zu taxiren, ohne es zu machen, und zwar zu taxiren n a c h d e m B e d ü r f n i s s e d e r C o n s u m e n t e n , nicht nach seinem eigenen persönlichsten Bedürfnisse; „wer und wie Viele consumiren diess?" ist seine Frage der Fragen. Diesen Typus der Taxation wendet er nun instinctiv und immerwährend an: auf Alles, und so auch auf die Hervorbringungen der Künste und Wissenschaften, der Denker, Gelehrten, Künstler, Staatsmänner, der Völker und
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Morgenröthe
Parteien, der ganzen Zeitalter: er fragt bei Allem, was geschaffen wird, nach Angebot und Nachfrage, u m f ü r s i c h d e n W e r t h e i n e r S a c h e f e s t z u s e t z e n . Diess zum Charakter einer ganzen Cultur gemacht, bis in's Unbegränzte und Fein5 ste durchgedacht und allem Wollen und Können aufgeformt: das ist es, worauf ihr Menschen des nächsten Jahrhunderts stolz sein werdet: wenn die Propheten der handeltreibenden Classe Recht haben, dieses in euren Besitz zu geben! Aber ich habe wenig Glauben an diese Propheten. Credat Judaeus Apella — 10 mit Horaz zu reden. 176.
D i e K r i t i k ü b e r d i e V ä t e r . — Warum verträgt man jetzt die Wahrheit schon über die jüngste Vergangenheit? Weil immer schon eine neue Generation da ist, die sich i m G e 15 g e n s a t z zu dieser Vergangenheit fühlt und die Erstlinge des Gefühles der Macht in dieser Kritik geniesst. Ehemals wollte umgekehrt die neue Generation sich auf die ältere g r ü n d e n , und sie begann sich zu f ü h l e n , indem sie die Ansichten der Väter nicht nur annahm, sondern womöglich s t r e n g e r nahm. 20 Die Kritik über die Väter war damals lasterhaft: jetzt b e g i n n e n die jüngeren Idealisten damit.
177· E i n s a m k e i t l e r n e n . — Oh, ihr armen Sdielme in den grossen Städten der Weltpolitik, ihr jungen, begabten, vom 2 $ Ehrgeiz gemarterten Männer, welche es für ihre Pflicht halten, zu allen Begebenheiten — es begiebt sich immer Etwas — ihr Wort zu sagen! Welche, wenn sie auf diese Art Staub und Lärm machen, glauben, der Wagen der Geschichte zu sein! Welche, weil sie immer horchen, immer auf den Augenblick passen, wo 30 sie ihr Wort hineinwerfen können, jede ächte Productivität verlieren! Mögen sie auch noch so begehrlich nach grossen Werken
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sein: die tiefe Schweigsamkeit der Schwangerschaft kommt nie zu ihnen! Das Ereigniss des Tages jagt sie wie Spreu vor sich her, während sie meinen, das Ereigniss zu jagen, — die armen Schelme! — Wenn man einen Helden auf der Bühne abgeben will, darf man nicht daran denken, Chorus zu machen, ja, man darf nicht einmal wissen, wie man Chorus macht.
178.
D i e T ä g l i c h - A b g e n ü t z t e n . — Diesen jungen Männern fehlt es weder an Charakter, noch an Begabung, noch an Fleiss: aber man hat ihnen nie Zeit gelassen, sich selber eine Richtung zu geben, vielmehr sie von Kindesbeinen an gewöhnt, eine Richtung zu empfangen. Damals, als sie reif genug waren, um „in die Wüste geschickt zu werden", that man etwas Anderes, — man benutzte sie, man entwendete sie sich selber, man erzog sie zu dem t ä g l i c h e n A b g e n u t z t w e r d e n , man machte ihnen eine Pflichtenlehre daraus — und jetzt können sie es nicht mehr entbehren und wollen es nicht anders. N u r darf man diesen armen Zugthieren ihre „Ferien" nicht versagen — wie man es nennt, diess Musse-Ideal eines überarbeiteten Jahrhunderts: wo man einmal nach Herzenslust faulenzen und blödsinnig und kindisch sein darf.
179· S o w e n i g a l s m ö g l i c h S t a a t ! — Alle politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind es nicht werth, dass gerade die begabtesten Geister sich mit ihnen befassen dürften und müssten: ein solcher Verbrauch des Geistes ist im Grunde schlimmer, als ein Nothstand. Es sind und bleiben Gebiete der Arbeit für die geringeren Köpfe, und andere als die geringen Köpfe sollten dieser Werkstätte nicht zu Diensten stehen: möge lieber die Maschine wieder einmal in Stücke gehen! So wie es aber
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Morgenröthe
jetzt steht, wo nicht nur Alle täglich darum glauben w i s s e n zu müssen, sondern auch Jedermann alle Augenblicke dafür thätig sein will und seine eigene Arbeit darüber im Stiche lässt, ist es ein grosser und lächerlicher Wahnsinn. Man bezahlt die „allgemeine Sicherheit" viel zu theuer um diesen Preis: und, was das Tollste ist, man bringt überdiess das Gegentheil der allgemeinen Sicherheit damit hervor, wie unser liebes Jahrhundert zu beweisen unternimmt: als ob es noch nie bewiesen wäre! Die Gesellschaft diebessicher und feuerfest und unendlich bequem für jeden Handel und Wandel zu machen und den Staat zur Vorsehung im guten und schlimmen Sinne umzuwandeln, — diess sind niedere, massige und nicht durchaus unentbehrliche Ziele, welche man nicht mit den höchsten Mitteln und Werkzeugen erstreben sollte, d i e es ü b e r h a u p t g i e b t , — den Mitteln, die man eben für die höchsten und seltensten Zwecke sich a u f z u s p a r e n hätte! Unser Zeitalter, so viel es von Ökonomie redet, ist ein Verschwender: es verschwendet das Kostbarste, den Geist. 180. D i e K r i e g e . — Die grossen Kriege der Gegenwart sind die Wirkungen des historischen Studiums.
181. R e g i e r e n . — Die Einen regieren, aus Lust am Regieren; die Andern, um nicht regiert zu werden: — Diesen ist es nur das geringere von zwei Übeln. 182. D i e g r o b e C o n s e q u e n z . — Man sagt mit grosser Auszeichnung: „das ist ein Charakter!" — ja! wenn er grobe Consequenz zeigt, wenn die Consequenz auch dem stumpfen Auge einleuchtet! Aber sobald ein feinerer und tieferer Geist waltet
Drittes Budi 179—184
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und auf seine höhere Weise folgerichtig ist, leugnen die Zuschauer das Vorhandensein des Charakters. Desshalb spielen verschlagene Staatsmänner ihre Komödie gewöhnlich hinter einem Deckmantel der groben Consequenz.
183.
D i e A l t e n u n d d i e J u n g e n . — „Es ist etwas Unmoralisches an den Parlamenten — so denkt Der und Jener immer nodi —, denn man darf da audi Ansichten g e g e n die Regierung haben!" — „Man muss immer die Ansicht von der Sache haben, welche der gnädige Herr befiehlt" — das ist das elfte Gebot in manchem braven alten Kopfe, namentlich im nördlichen Deutschland. Man lacht darüber wie über eine veraltete Mode: aber ehemals war es 3ie Moral! Vielleicht, dass man audi wieder einmal über Das lacht, was jetzt, unter dem parlamentarisch erzogenen jüngeren Geschlechte als moralisch gilt: nämlich die Politik der Partei über die eigne Weisheit zu stellen und jede Frage des öffentlichen Wohles so zu beantworten, wie es gerade guten Wind für die Segel der Partei macht. „Man muss die Ansicht von der Sache haben, welche die Situation der Partei erheischt" — so würde der Kanon lauten. Im Dienste einer solchen Moral giebt es jetzt jede Art von Opfer, Selbstüberwindung und Martyrium.
184.
D e r S t a a t als E r z e u g n i s s der A n a r c h i s t e n . — In den Ländern der gebändigten Menschen giebt es immer noch genug von den rückständigen und ungebändigten: augenblicklich sammeln sie sich in den socialistischen Lagern mehr als irgendwo anders. Sollte es dazu kommen, dass diese einmal G e s e t z e geben, so kann man darauf rechnen, dass sie sich an eine eiserne Kette legen und furchtbare Disciplin üben werden: — s i e k e n n e n s i c h ! Und sie werden diese Gesetze aus-
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Morgenröthe
halten, im Bewusstsein, dass sie selber dieselben gegeben haben, — das Gefühl der Macht, und d i e s e r Macht, ist zu jung und entzückend für sie, als dass sie nicht Alles um seinetwillen litten. 185.
B e t t l e r . — Man soll die Bettler abschaffen: denn man ärgert sich, ihnen zu geben, und ärgert sich, ihnen nicht zu geben.
186.
G e s c h ä f t s l e u t e . — Euer Geschäft — das ist euer grösstes Vorurtheil, es bindet euch an euren Ort, an eure Gesellschaft, an eure Neigungen. Im Geschäft fleissig, — aber im Geiste faul, mit eurer Dürftigkeit zufrieden und die Schürze der Pflidit über diese Zufriedenheit gehängt: so lebt ihr, so wollt ihr eure Kinder!
187.
A u s e i n e r m ö g l i c h e n Z u k u n f t . — Ist ein Zustand undenkbar, wo der Ubelthäter sich selber zur Anzeige bringt, sich selber seine Strafe öffentlich dictirt, im stolzen Gefühle, dass er so das Gesetz ehrt, das er selber gemacht hat, dass er seine Macht ausübt, indem er sich straft, die Macht des Gesetzgebers? Er kann sich einmal vergehen, aber er erhebt sich durch die freiwillige Strafe über sein Vergehen, er wischt das Vergehen durch Freimüthigkeit, Grösse und Ruhe nicht nur aus: er thut eine öffentliche Wohlthat hinzu. — Diess wäre der Verbrecher einer möglichen Zukunft, welcher freilich auch eine Gesetzgebung der Zukunft voraussetzt, des Grundgedankens: „ich beuge mich nur dem Gesetze, welches ich selber gegeben habe, im Kleinen und Grossen." Es müssen so viele Versuche noch gemacht werden! Es muss so manche Zukunft noch an's Licht kommen!
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188. R a u s c h u n d E r n ä h r u n g . — Die Völker werden so sehr betrogen, weil sie immer einen Betrüger s u c h e n , nämlich einen aufregenden Wein für ihre Sinne. Wenn sie nur d e n haben können, dann nehmen sie wohl mit schlechtem Brode fürlieb. Der Rausch gilt ihnen mehr, als die Nahrung, — hier ist der Köder, an dem sie immer anbeissen werden! Was sind ihnen Männer, aus ihrer Mitte gewählt — und seien es die sachkundigsten Praktiker — gegen glänzende Eroberer, oder alte prunkhafte Fürstenhäuser! Mindestens muss der Volksmann ihnen Eroberungen und Prunk in Aussicht stellen: so findet er vielleicht Glauben. Sie gehorchen immer, und thun noch mehr, als gehorchen, vorausgesetzt, dass sie sich dabei berauschen können! Man darf ihnen selbst die Ruhe und das Vergnügen nicht anbieten, ohne den Lorberkranz und seine verrückt machende Kraft darin. Dieser pöbelhafte Geschmack, welcher d e n R a u s c h w i c h t i g e r n i m m t , a l s d i e E r n ä h r u n g , ist aber keineswegs in der Tiefe des Pöbels entstanden: er ist vielmehr dorthin getragen, dorthin verpflanzt und dort nur noch am meisten rückständig und üppig aufsdiiessend, während er von den höchsten Intelligenzen her seinen Ursprung nimmt und Jahrtausende lang in ihnen geblüht hat. Das Volk ist der letzte w i l d e B o d e n , auf dem dieses glänzende Unkraut noch gedeihen kann. — Wie! Und ihm gerade sollte man die Politik anvertrauen? Damit es sich aus ihr seinen täglichen Rausch mache?
189. V o n d e r g r o s s e n P o l i t i k . — Soviel auch der Nutzen und die Eitelkeit, von Einzelnen wie von Völkern, in der g r o s s e n P o l i t i k mitwirken mögen: das gewaltigste Wasser, das sie vorwärts treibt, ist das B e d ü r f n i s s d e s M a c h t g e f ü h l s , welches nicht nur in den Seelen der Fürsten und Mäch-
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tigen, sondern nicht zum geringsten Theil gerade in den niederen Schichten des Volkes aus unversieglichen Quellen von Zeit zu Zeit hervorstösst. Es kommt immer wieder die Stunde, wo die Masse ihr Leben, ihr Vermögen, ihr Gewissen, ihre Tugend daranzusetzen b e r e i t i s t , um jenen ihren höchsten Genuss sich zu schaffen und als siegreiche, tyrannisch willkürliche Nation über andere Nationen zu schalten (oder sich schaltend zu denken). Da quellen die verschwenderischen, aufopfernden, hoffenden, vertrauenden, überverwegenen, phantastischen Gefühle so reichlich herauf, dass der ehrgeizige oder klug vorsorgende Fürst einen Krieg vom Zaune brechen und das gute Gewissen des Volkes seinem Unrecht unterschieben kann. Die grossen Eroberer haben immer die pathetische Sprache der Tugend im Munde geführt: sie hatten immer Massen um sich, welche sich im Zustande der Erhebung befanden und nur die erhobenste Sprache hören wollten. Wunderliche Tollheit der moralischen Urtheile! Wenn der Mensch im Gefühle der Macht ist, so fühlt und nennt er sich g u t : und gerade dann fühlen und nennen ihn die Anderen, an denen er seine Macht a u s l a s s e n muss, b ö s e ! — Hesiod hat in der Fabel von den Menschenaltern das selbe Zeitalter, das der homerischen Helden, zweimal hinter einander gemalt und z w e i a u s e i n e m gemacht: von Denen aus gesehen, welche unter dem ehernen, entsetzlichen Druck dieser abenteuernden Gewaltmenschen standen oder durch ihre Vorfahren davon wussten, erschien es b ö s e : aber die Nachkommen dieser ritterlichen Geschlechter verehrten in ihm eine g u t e alte, selig-halbselige Zeit. Da wusste sich der Dichter nicht anders zu helfen, als er gethan hat, — er hatte wohl Zuhörer beider Gattungen um sich!
190.
D i e e h e m a l i g e d e u t s c h e B i l d u n g . — Als die Deutschen den anderen Völkern Europa's anfiengen interessant zu
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werden — es ist nicht zu lange her —, geschah es vermöge einer Bildung, die sie jetzt nicht mehr besitzen, ja die sie mit einem blinden Eifer abgeschüttelt haben, wie als ob sie eine Krankheit gewesen sei: und doch wussten sie nichts Besseres dagegen einzutauschen, als den politischen und nationalen Wahnsinn. Freilich haben sie mit ihm erreicht, dass sie den anderen Völkern noch weit interessanter geworden sind, als sie es damals durch ihre Bildung waren: und so mögen sie ihre Zufriedenheit haben! Inzwischen ist nicht zu leugnen, dass jene deutsche Bildung die Europäer genarrt hat und dass sie eines solchen Interesses, ja einer solchen Nachahmung und wetteifernden Aneignung nicht werth war. Man sehe sich heute einmal nach Schiller, Wilhelm von Humboldt, Schleiermacher, Hegel, Schelling um, man lese ihre Briefwechsel und führe sich in den grossen Kreis ihrer Anhänger ein: was ist ihnen gemeinsam, was an ihnen wirkt auf uns, wie wir jetzt sind, bald so unausstehlich, bald so rührend und bemitleidenswerth? Einmal die Sucht, um jeden Preis moralisch e r r e g t zu erscheinen; sodann das Verlangen nach glänzenden knochenlosen Allgemeinheiten, nebst der Absicht auf ein Schöner-sehen-wollen in Bezug auf Alles (Charaktere, Leidenschaften, Zeiten, Sitten), — leider „schön" nach einem schlechten verschwommenen Geschmack, der sich nichtsdestoweniger griechischer Abkunft rühmte. Es ist ein weicher, gutartiger, silbern glitzernder Idealismus, welcher vor Allem edel verstellte Gebärden und edel verstellte Stimmen haben will, ein Ding, ebenso anmaasslich als harmlos, beseelt vom herzlichsten Widerwillen gegen die „kalte" oder „trockene" Wirklichkeit, gegen die Anatomie, gegen die vollständigen Leidenschaften, gegen jede Art philosophischer Enthaltsamkeit und Skepsis, zumal aber gegen die Naturerkenntniss, sofern sie sich nicht zu einer religiösen Symbolik gebrauchen Hess. Diesem Treiben der deutschen Bildung sah Goethe zu, in seiner Art: danebenstehend, mild widerstrebend, schweigsam, sich auf seinem eignen, besseren Wege immer mehr bestärkend. Dem sah etwas später
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auch Schopenhauer zu, — ihm war viel wirkliche Welt und Teufelei der Welt wieder sichtbar geworden, und er sprach davon ebenso grob als begeistert: denn diese Teufelei hat ihre S c h ö n h e i t ! — Und was verführte im Grunde die Ausländer, dass sie dem nidit so zusahen, wie Goethe und Schopenhauer, oder einfach davon absahen? Es war jener matte Glanz, jenes räthselhafte Milchstrassen-Licht, welches um diese Bildung leuchtete: dabei sagte sich der Ausländer „Das ist uns sehr, sehr ferne, da hört für uns Sehen, Hören, Verstehen, Geniessen, Abschätzen auf; trotzdem könnten es Sterne sein! Sollten die Deutschen in aller Stille eine Ecke des Himmels entdeckt und sich dort niedergelassen haben? Man muss suchen, den Deutschen näher zu kommen." Und man kam ihnen näher: während kaum viel später die selben Deutschen sich zu bemühen anfiengen, den MilchstrassenGlanz von sich abzustreifen; sie wussten zu gut, dass sie nicht im Himmel gewesen waren, — sondern in einer Wolke!
191.
B e s s e r e M e n s c h e n ! — Man sagt mir, unsere Kunst wende sich an die gierigen, unersättlichen, ungebändigten, verekelten, zerquälten Menschen der Gegenwart und zeige ihnen ein Bild von Seligkeit, Höhe und Entweltlichung neben dem Bilde ihrer Wüstheit: sodass sie einmal vergessen und aufathmen können, ja vielleicht den Antrieb zur Flucht und Umkehr mit aus jenem Vergessen zurückbringen. Arme Künstler, mit einem solchen Publicum! Mit soldien halb priesterlichen, halb irrenärztlichen Hintergedanken! Um wie viel glücklicher war Corneille — „unser grosser Corneille", wie Frau von Sevigne, mit einem Accent des Weibes vor einem ganzen M a n n e , ausruft, — um wie viel höher s e i n e Zuhörerschaft, welcher er mit den Bildern ritterlicher Tugenden, strenger Pflicht, grossmüthiger Aufopferung, heldenhafter Bändigung seiner selber wohlthun konnte! Wie anders liebten er und sie das Dasein, nicht aus
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einem blinden wüsten „Willen" heraus, den man verflucht, weil man ihn nicht zu tödten vermag, sondern als einen Ort, auf dem Grösse und Humanität mitsammen m ö g l i c h sind und wo selbst der strengste Zwang der Formen, die Unterwerfung unter eine fürstliche und geistliche Willkür weder den Stolz, noch die Ritterlichkeit, noch die Anmuth, noch den Geist aller Einzelnen unterdrücken können, vielmehr als ein R e i z u n d S p o r n d e s G e g e n s a t z e s zur angeborenen Selbstherrlichkeit und Vornehmheit, zur ererbten Macht des Wollens und der Leidenschaft empfunden werden!
192.
S i c h v o l l k o m m e n e G e g n e r w ü n s c h e n . — Man kann es den Franzosen nicht streitig machen, dass sie das c h r i s t l i c h s t e Volk der Erde gewesen sind: nicht in Hinsicht darauf, dass die Gläubigkeit der Masse bei ihnen grösser gewesen sei, als anderwärts, sondern desshalb, weil bei ihnen die schwierigsten christlichen Ideale sich in Menschen verwandelt haben und nicht nur Vorstellung, Ansatz, Halbheit geblieben sind. Da steht Pascal, in der Vereinigung von Gluth, Geist und Redlichkeit der erste aller Christen, — und man erwäge, was sich hier zu vereinigen hatte! Da steht Fenelon, der vollkommene und bezaubernde Ausdruck der k i r c h l i c h e n C u l t u r in allen ihren Kräften: eine goldene Mitte, die man als Historiker geneigt sein könnte, als etwas Unmögliches zu beweisen, während die nur etwas unsäglich Schwieriges und Unwahrscheinliches gewesen ist. Da steht Frau von Guyon unter ihres Gleichen, den französischen Quietisten: und Alles, was die Beredtsamkeit und die Brunst des Apostels Paulus vom Zustande der erhabensten, liebendsten, stillsten, verzücktesten Halbgöttlichkeit des Christen zu errathen gesucht hat, ist da Wahrheit geworden und hat dabei jene jüdische Zudringlichkeit, welche Paulus gegen Gott hat, abgestreift, Dank einer ächten, frauenhaften, feinen, vor-
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nehmen, altfranzösischen Naivität in Wort und Gebärde. D a steht der Gründer der Trappistenklöster, er, der mit dem asketischen Ideale des Christenthums den letzten Ernst gemacht hat, nicht als eine Ausnahme unter Franzosen, sondern recht als 5 Franzose: denn bis zu diesem Augenblick vermochte seine düstere Schöpfung nur unter Franzosen heimisch und kräftig zu bleiben, sie folgte ihnen in den Eisass und nach Algerien. Vergessen wir die Hugenotten nicht: schöner ist die Vereinigung des kriegerischen und arbeitsamen Sinnes, der feineren Sitte und der christlichen Strenge bisher nicht dagewesen. Und in Port Royal kam zum letzten Male das grosse christliche Gelehrtenthum zum Blühen: und das Blühen verstehen grosse Menschen in Frankreich besser, als anderwärts. Ferne davon, oberflächlich zu sein, hat ein grosser Franzose immer doch seine Oberfläche, 15 eine natürliche Haut für seinen Inhalt und seine Tiefe, — während die Tiefe eines grossen Deutschen zumeist wie in einer krausförmigen Kapsel verschlossen gehalten wird, als ein Elixir, das vor Licht und leichtfertigen Händen durch seine harte und wunderliche Hülle sich zu schützen sucht. — Und nun errathe man, warum dieses Volk der vollendeten Typen der Christlichkeit auch die vollendeten Gegentypen des unchristlichen Freigeistes erzeugen musste! Der französische Freigeist kämpfte in sich immer mit grossen Menschen und nicht nur mit Dogmen und erhabenen Missgeburten, wie die Freigeister anderer Völker.
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E s p r i t u n d M o r a l . — Der Deutsche, welcher sich auf das Geheimniss versteht, mit Geist, Wissen und Gemüth langweilig zu sein, und sich gewöhnt hat, die Langeweile als moralisch zu empfinden, — hat vor dem französischen esprit die Angst, er 3° möchte der Moral die Augen ausstechen — und doch eine Angst und Lust, wie das Vöglein vor der Klapperschlange. Von den berühmten Deutschen hat vielleicht Niemand mehr esprit gehabt,
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als H e g e l , — aber er hatte dafür auch eine so grosse deutsche Angst vor ihm, dass sie seinen eigentümlichen schlechten Stil geschaffen hat. Dessen Wesen ist nämlich, dass ein Kern umwickelt und nochmals und wiederum umwickelt wird, bis er kaum noch hindurchblickt, verschämt und neugierig, — wie „junge Frau'n durch ihre Schleier blicken", um mit dem alten Weiberhasser Aeschylus zu reden —: jener Kern ist aber ein witziger, oft vorlauter Einfall über die geistigsten Dinge, eine feine, gewagte Wortverbindung, wie so Etwas in die G e s e l l s c h a f t v o n D e n k e r n gehört, als Zukost der Wissenschaft, — aber in jenen Umwickelungen präsentirt es sich als abstruse Wissenschaft selber und durchaus als höchst moralische Langeweile! Da hatten die Deutschen eine ihnen e r l a u b t e Form des esprit und sie genossen sie mit solchem ausgelassenen Entzücken, dass Schopenhauer's guter, sehr guter Verstand davor stille stand, — er hat zeitlebens gegen das Schauspiel, welches ihm die Deutschen boten, gepoltert, aber es nie sich zu erklären vermocht. 194.
E i t e l k e i t d e r M o r a l l e h r e r . — Der im Ganzen geringe Erfolg der Morallehrer hat darin seine Erklärung, dass sie zu viel auf Ein Mal wollten, das heisst, dass sie zu ehrgeizig waren: sie wollten allzugern Vorschriften f ü r A l l e geben. Diess aber heisst im Unbestimmten schweifen und Reden an die Thiere halten, um sie zu Menschen zu machen: was Wunder, dass die Thiere diess langweilig finden! Man sollte begränzte Kreise sich aussuchen und für sie die Moral suchen und fördern, also zum Beispiel Reden vor den Wölfen halten, um sie zu Hunden zu machen. Vor Allem aber bleibt der grosse Erfolg immer Dem, welcher weder Alle, noch begränzte Kreise, sondern Einen erziehen will und gar nicht nach rechts und links ausspäht. Das vorige Jahrhundert ist dem unseren eben dadurch überlegen, dass es in ihm so viele einzeln erzogene Menschen
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gab, nebst eben so vielen Erziehern, welche hier die A u f g a b e ihres Lebens gefunden hatten — und mit der Aufgabe auch W ü r d e , vor sich und aller anderen „guten Gesellschaft".
195· Die sogenannte classische Erziehung. — Zu entdecken, dass unser Leben der Erkenntniss g e w e i h t ist; dass wir es wegwerfen würden, nein! dass wir es weggeworfen hätten, wenn nicht diese Weihe es vor uns selber schützte; jenen Vers sich oft und mit Erschütterung vorsprechen: is „Schicksal, ich f o l g e dir! Und wollt' ich nicht, ich m ü s s t ' es doch und unter Seufzen thun!" — Und nun, bei einem Rückblick auf den Weg des Lebens, ebenfalls entdecken, dass Etwas nicht wieder gut zu machen ist: die Vergeudung unserer Jugend, als unsre Erzieher jene wiss15 begierigen, heissen und durstigen Jahre nicht dazu verwandten, uns der E r k e n n t n i s s der Dinge entgegenzuführen, sondern der sogenannten „classischen Bildung"! Die Vergeudung unserer Jugend, als man uns ein dürftiges Wissen um Griechen und Römer und deren Sprachen ebenso ungeschickt, als quälerisch beibrachte und zuwider dem obersten Satze aller Bildung: dass man nur Dem, d e r H u n g e r d a r n a c h h a t , eine Speise gebe! Als man uns Mathematik und Physik auf eine gewaltsame Weise aufzwang, a n s t a t t uns erst in die Verzweiflung der Unwissenheit zu führen und unser kleines tägliches Leben, unsere Hantierungen und Alles, was sich zwischen Morgen und Abend im Hause, in der Werkstatt, am Himmel, in der Landschaft begiebt, in Tausende von Problemen aufzulösen, von peinigenden, beschämenden, aufreizenden Problemen, — um unsrer Begierde dann zu zeigen, dass wir ein mathematisches 3° und mechanisches Wissen zu allernächst n ö t h i g haben und uns dann das erste wissenschaftliche E n t z ü c k e n an der absoluten Folgerichtigkeit dieses Wissens zu lehren! Hätte man 5
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uns auch nur die E h r f u r c h t vor diesen Wissenschaften gelehrt, hätte man uns mit dem Ringen und Unterliegen und Wieder-Weiterkämpfen der Grossen, von dem Martyrium, welches die Geschichte der s t r e n g e n Wissenschaft ist, auch nur Ein Mal die Seele erzittern machen! Vielmehr blies uns der Hauch einer gewissen Geringschätzung der eigentlichen Wissenschaften an, zu Gunsten der Historie, der „formalen Bildung" und der „Classicität"! Und wir Hessen uns so leicht betrügen! Formale Bildung! Hätten wir nicht auf die besten Lehrer unserer Gymnasien zeigen können, lachend und fragend: „wo ist denn da die formale Bildung? Und wenn sie fehlt, wie sollen sie dieselbe lehren?" Und Classicität! Lernten wir Etwas von dem, worin gerade die Alten ihre Jugend erzogen? Lernten wir sprechen wie sie, schreiben wie sie? Übten wir uns unablässig in der Fechtkunst des Gesprächs, in der Dialektik? Lernten wir uns schön und stolz bewegen wie sie, ringen, werfen, faustkämpfen wie sie? Lernten wir Etwas von der praktischen Asketik aller griechischen Philosophen? Wurden wir in einer einzigen antiken Tugend geübt und in der Weise, wie die Alten sie übten? Fehlte nicht überhaupt das ganze Nachdenken über Moral in unserer Erziehung, um wieviel mehr gar die einzig mögliche Kritik desselben, jene strengen und muthigen Versuche, in dieser oder jener Moral zu l e b e n ? Erregte man in uns irgend ein Gefühl, das den Alten höher galt, als den Neueren? Zeigte man uns die Eintheilung des Tages und des Lebens und die Ziele über dem Leben in einem antiken Geiste? Lernten wir audi nur die alten Sprachen so, wie wir die lebender Völker lernen, — nämlich zum Sprechen und zum Bequem-und-Gut-Sprechen? Nirgends ein wirkliches Können, ein neues Vermögen als Ergebniss mühseliger Jahre! Sondern ein Wissen darum, was ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben! Und was für ein Wissen! Nichts wird mir von Jahr zu Jahr deutlicher, als dass alles griechische und antike Wesen, so schlicht und weltbekannt es vor uns zu liegen scheint, sehr schwer verständlich, ja, kaum zu-
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gänglich ist, und dass die übliche Leichtigkeit, mit der von den Alten geredet wird, entweder eine Leichtfertigkeit oder ein alter erblicher Dünkel der Gedankenlosigkeit ist. Die ähnlichen Worte und Begriffe täuschen uns: aber hinter ihnen liegt immer eine Empfindung versteckt, welche dem modernen Empfinden fremd, unverständlich oder peinlich s e i n m ü s s t e . Das sind mir Gebiete, auf denen sich Knaben tummeln dürften! Genug, wir haben es gethan, als wir Knaben waren und uns beinahe für immer dabei einen Widerwillen gegen das Alterthum heimgeholt, den Widerwillen einer scheinbar allzugrossen Vertraulichkeit! Denn so weit geht die stolze Einbildung unserer classischen Erzieher, gleichsam i m B e s i t z e d e r A l t e n zu sein, dass sie diesen Dünkel noch auf die Erzogenen überfliessen lassen, nebst dem Verdachte, dass ein soldier Besitz nicht wohl selig machen könne, sondern dass er gut genug für rechtschaffene, arme, närrische alte Bücher-Drachen sei: „mögen diese auf ihrem Horte brüten! er wird wohl ihrer würdig sein!" — mit diesem stillen Hintergedanken vollendete sich unsere classische Erziehung. — Diess ist nicht wieder gut zu machen — an uns! Aber denken wir nicht nur an uns!
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Die p e r s ö n l i c h s t e n F r a g e n der Wahrheit. — „Was ist Das eigentlich, was ich t h u e ? Und was will gerade i c h damit?" — das ist die Frage der Wahrheit, welche bei unserer jetzigen Art Bildung nicht gelehrt und folglich nicht gefragt wird, für sie giebt es keine Zeit. Dagegen mit Kindern von Possen zu reden und nicht von der Wahrheit, mit Frauen, die später Mütter werden sollen, Artigkeiten zu reden und nicht von der Wahrheit, mit Jünglingen von ihrer Zukunft und ihrem Vergnügen zu reden und nicht von der Wahrheit, — dafür ist immer Zeit und Lust da! — Aber was sind auch siebenzig Jahre! — das läuft hin und ist bald zu Ende; es liegt so Wenig
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daran, dass die Welle wisse, wie und wohin sie laufe! Ja, es könnte Klugheit sein, es n i c h t z u w i s s e n . — „Zugegeben: aber stolz ist es nicht, auch nicht einmal darnach zu f r a g e n ; unsere Bildung macht die Menschen nicht stolz." — Um so besser! — „Wirklich?"
197Die F e i n d s c h a f t der Deutschen gegen die A u f k l ä r u n g . — Man überschlage den Beitrag, den die Deutschen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mit ihrer geistigen Arbeit der allgemeinen Cultur gebracht haben und nehme erstens die deutschen Philosophen: sie sind auf die erste und älteste Stufe der Speculation zurückgegangen, denn sie fanden in Begriffen ihr Genüge, anstatt in Erklärungen, gleich den Denkern träumerischer Zeitalter, — eine vorwissenschaftliche Art der Philosophie wurde durch sie wieder lebendig gemacht. Zweitens die deutschen Historiker und Romantiker: ihre allgemeine Bemühung gieng dahin, ältere, primitive Empfindungen und namentlich das Christenthum, die Volksseele, Volkssage, Volkssprache, die Mittelalterlichkeit, die orientalische Asketik, das Inderthum zu Ehren zu bringen. Drittens die Naturforscher: sie kämpften gegen Newton's und Voltaire's Geist und suchten, gleich Goethe und Schopenhauer, den Gedanken einer vergöttlichten oder verteufelten Natur und ihrer durchgängigen ethischen und symbolischen Bedeutsamkeit wieder aufrecht zu stellen. Der ganze grosse Hang der Deutschen gieng gegen die Aufklärung, und gegen die Revolution der Gesellschaft, welche mit grobem Missverständniss als deren Folge galt: die Pietät gegen alles noch Bestehende suchte sich in Pietät gegen Alles, was bestanden hat, umzusetzen, nur damit Herz und Geist wieder einmal v o l l würden und keinen Raum mehr für zukünftige und neuernde Ziele hätten. Der Cultus des Gefühls wurde aufgerichtet an Stelle des Cultus' der Vernunft, und die deutschen
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Musiker, als die Künstler des Unsichtbaren, Schwärmerischen, Märchenhaften, Sehnsüchtigen, bauten an dem neuen Tempel erfolgreicher, als alle Künstler des Wortes und der Gedanken. Bringen wir in Anrechnung, dass unzähliges Gute im Einzelnen gesagt und erforscht worden ist und Manches seitdem billiger beurtheilt wird, als jemals: so bleibt doch übrig, vom Ganzen zu sagen, dass es k e i n e g e r i n g e a l l g e m e i n e G e f a h r war, unter dem Anscheine der voll- und endgültigsten Erkenntniss des Vergangenen die Erkenntniss überhaupt unter das Gefühl hinabzudrücken und — um mit Kant zu reden, der so seine eigene Aufgabe bestimmte — „dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem man dem Wissen seine Gränzen wies." Athmen wir wieder freie Luft: die Stunde dieser Gefahr ist vorübergegangen! Und seltsam: gerade die Geister, welche von den Deutschen so beredt beschworen wurden, sind auf die Dauer den Absichten ihrer Beschwörer am schädlichsten geworden, — die Historie, das Verständniss des Ursprungs und der Entwidkelung, die Mitempfindung für das Vergangene, die neu erregte Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntniss, nachdem sie alle eine Zeit lang hülfreiche Gesellen des verdunkelnden, schwärmenden, zurückbildenden Geistes schienen, haben eines Tages eine andere Natur angenommen und fliegen nun mit den breitesten Flügeln an ihren alten Beschwörern vorüber und hinauf, als neue und stärkere Genien e b e n j e n e r A u f k l ä r u n g , wider welche sie beschworen waren. Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen, — unbekümmert darum, dass es eine „grosse Revolution" und wiederum eine „grosse Reaction" gegen dieselbe gegeben hat, ja dass es Beides noch giebt: es sind doch nur Wellenspiele, im Vergleiche mit der wahrhaft grossen Fluth, in welcher w i r treiben und treiben wollen! 198.
S e i n e m V o l k e d e n R a n g g e b e n . — Viele grosse innere Erfahrungen haben, und auf und über ihnen mit einem
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geistigen Auge ruhen, — das macht die Menschen der Cultur, welche ihrem Volke den R a n g geben. In Frankreich und Italien that diess der Adel, in Deutschland, wo der Adel bisher im Ganzen zu den Armen im Geiste gehörte (vielleicht nicht mehr auf lange), thaten es Priester, Lehrer und deren Nachkommen.
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W i r s i n d v o r n e h m e r . — Treue, Grossmuth, die Scham des guten Rufs: diese Drei in Einer Gesinnung verbunden — das nennen wir a d e l i g , v o r n e h m , e d e l , und damit übertreffen wir die Griechen. Wir wollen es ja nicht preisgeben, aus dem Gefühle, dass die alten Gegenstände dieser Tugenden in der Achtung gesunken sind (und mit Recht), sondern behutsam diesem unserem köstlichen Erbtriebe neue Gegenstände unterschieben. — Um zu begreifen, dass die Gesinnung der vornehmsten Griechen inmitten unserer immer noch ritterlichen und feudalistischen Vornehmheit als gering und kaum anständig empfunden werden müsste, erinnere man sich jenes Trostspruches, den Odysseus in schmählichen Lagen im Munde führt: „Ertrag' es nur, mein liebes Herz! du hast schon Hundemässigeres ertragen!" Und dazu nehme man als Nutzanwendung des mythischen Vorbildes die Geschichte von jenem athenischen Officier, der, vor dem ganzen Generalstabe, von einem andern Officier mit dem Stocke bedroht, diese Schmach mit dem Worte von sich abschüttelte: „Schlag' mich nur! Nun aber höre mich auch!" (Diess that Themistokles, jener vielgewandte Odysseus des classischen Zeitalters, der recht der Mann dazu war, in diesem schmählichen Augenblick jenen Trost- und Nothvers an sein „liebes Herz" hinunterzuschicken.) Es lag den Griechen ferne, Leben und Tod einer Beschimpfung halber so leicht zu nehmen, wie wir es thun, unter dem Eindruck vererbter ritterlicher Abenteuerlichkeit und Opferlust; oder Gelegenheiten aufzusuchen,
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wo man Beides auf ein ehrenvolles Spiel setzen könne, wie wir bei Duellen; oder die Erhaltung des guten Namens (Ehre) höher zu achten, als die Eroberung des bösen Namens, wenn Letzteres mit Ruhm und Machtgefühl verträglich ist; oder den ständischen Vorurtheilen und Glaubensartikeln Treue zu halten, wenn sie verhindern könnten, ein Tyrann zu werden. Denn diess ist das unedle Geheimniss jedes guten griechischen Aristokraten: er hält aus tiefster Eifersucht jeden seiner Standesgenossen auf gleidiem Fusse mit sich, ist aber jeden Augenblick wie ein Tiger bereit, auf seine Beute, die Gewaltherrschaft, loszustürzen: was ist ihm dabei Lüge, Mord, Verrath, Verkauf der Vaterstadt! Die Gerechtigkeit wurde dieser Art Menschen ausserordentlich schwer, sie galt beinahe für etwas Unglaubliches; „der Gerechte" — das klang unter Griechen wie „der Heilige" unter Christen. Wenn aber gar Sokrates sagte: „der Tugendhafte ist der Glücklichste", so traute man seinen Ohren nicht, man glaubte etwas Verrücktes gehört zu haben. Denn bei dem Bilde des Glücklichsten dachte jeder Mann vornehmer Abkunft an die vollendete Rücksichtslosigkeit und Teufelei des Tyrannen, der seinem Übermuthe und seiner Lust Alles und Alle opfert. Unter Menschen, welche im Geheimen über ein solches Glück wild phantasirten, konnte freilich die Verehrung des Staates nicht tief genug gepflanzt werden, — aber ich meine: Menschen, deren Machtgelüst nicht mehr so blind wüthet, wie das jener vornehmen Griechen, haben auch jene Abgötterei des Staats-Begriffes nicht mehr nöthig, mit welcher damals jenes Gelüst im Zaume gehalten wurde.
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A r m u t h e r t r a g e n . — Der grosse Vorzug adeliger Ab3° kunft ist, dass sie die Armuth besser ertragen lässt.
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201. Z u k u n f t d e s A d e l s . — Die Gebärden der vornehmen Welt drücken aus, dass in ihren Gliedern fortwährend das Bewusstsein der Macht sein reizvolles Spiel spielt. So lässt sich der Mensch von adeliger Sitte, Mann oder Weib, nicht gern wie ganz erschöpft in den Sessel fallen, er vermeidet es, wo alle Welt es sich bequem macht, zum Beispiel auf der Eisenbahn, den Rücken anzulehnen, er scheint nicht müde zu werden, wenn er stundenlang bei Hofe auf seinen Füssen steht, er richtet sein Haus nicht auf das Behagliche, sondern grossräumig und würdevoll, wie zu einem Aufenthalt grösserer (auch längerer) Wesen ein, er beantwortet eine herausfordernde Rede mit Haltung und geistiger Helle, nicht wie entsetzt, zermalmt, beschämt, ausser Athem, nach Art des Plebejers. So wie er den Anschein einer beständig gegenwärtigen hohen physischen Kraft zu wahren weiss, wünscht er audi durch beständige Heiterkeit und Verbindlichkeit, selbst in peinlichen Lagen, den Eindruck aufrecht zu erhalten, dass seine Seele und sein Geist den Gefahren und den Überraschungen gewachsen ist. Eine vornehme Cultur kann in Absicht der Leidenschaften entweder dem Reiter gleichen, der Wonne empfindet, ein leidenschaftliches stolzes Thier im spanischen Tritt gehen zu lassen — man stelle sich das Zeitalter Ludwig's des Vierzehnten vor Augen —, oder dem Reiter, der sein Pferd wie eine Naturgewalt unter sich hinschiessen fühlt, hart an der Gränze, wo Pferd und Reiter den Kopf verlieren, aber im Genuss der Wonne, gerade jetzt noch den Kopf oben zu behalten: in beiden Fällen athmet die vornehme C u l t u r Macht, und wenn sie sehr oft in ihren Sitten auch nur den Schein des Machtgefühls fordert, so wächst doch durch den Eindruck, welchen dieses Spiel auf die Nicht-Vornehmen macht, und durch das Schauspiel dieses Eindrucks, das wirkliche Gefühl der Überlegenheit fortwährend. — Diess unbestreitbare Glück der vornehmen Cultur, welches auf dem Gefühl der Überlegenheit sich aufbaut, beginnt jetzt auf eine noch höhere Stufe zu steigen, da
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es nunmehr, Dank allen freien Geistern, dem adelig Geborenen und Erzogenen erlaubt und nicht mehr schimpflich ist, in den Orden der Erkenntniss zu treten und dort geistigere Weihen zu holen, höhere Ritterdienste zu lernen, als bisher, und zu jenem Ideal der s i e g r e i c h e n W e i s h e i t aufzuschauen, welches holen, höhere Ritterdienste zu lernen, als bisher, und zu jenem wie die Zeit, welche gerade jetzt kommen will. Zu guterletzt: womit soll sich denn fürderhin der Adel beschäftigen, wenn es von Tag zu Tage mehr den Anschein hat, dass es u n a n s t ä n d i g wird, sich mit Politik zu befassen?
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Z u r P f l e g e d e r G e s u n d h e i t . — Man hat kaum angefangen, über die Physiologie der Verbrecher nachzudenken und doch steht man schon vor der unabweislichen Einsicht, dass zwischen Verbrechern und Geisteskranken kein wesentlicher Unterschied besteht: vorausgesetzt, dass man g l a u b t , die ü b l i c h e moralische Denkweise sei die Denkweise der g e i s t i g e n G e s u n d h e i t . Kein Glaube aber wird jetzt so gut noch geglaubt, wie dieser, und so scheue man sich nicht, seine Consequenz zu ziehen und den Verbrecher wie einen Geisteskranken zu behandeln: vor Allem nicht mit hochmüthiger Barmherzigkeit, sondern mit ärztlicher Klugheit, ärztlichem guten Willen. Es thut ihm Luftwechsel, andere Gesellschaft, zeitweiliges Verschwinden, vielleicht Alleinsein und eine neue Beschäftigung noth, — gut! Vielleicht findet er es selber in seinem Vortheil, eine Zeit hindurch in einem Gewahrsam zu leben, um so Schutz gegen sich selber und einen lästigen t y r a n n i s c h e n T r i e b zu finden, — gut! Man soll ihm die Möglichkeit und die Mittel des Geheiltwerdens (der Ausrottung, Umbildung, Sublimirung jenes Triebes) ganz klar vorlegen, auch, im schlimmen Falle, die Unwahrscheinlichkeit desselben; man soll dem unheilbaren Verbrecher, der sich selber zum Greuel ge-
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worden ist, die Gelegenheit zum Selbstmord anbieten. Diess als äusserstes Mittel der Erleichterung vorbehalten: soll man Nichts verabsäumen, um vor Allem dem Verbrecher den guten Muth und die Freiheit des Gemüthes wieder zu geben; man soll Gewissensbisse wie eine Sache der Unreinlichkeit ihm von der Seele wischen und ihm Fingerzeige geben, wie er den Schaden, welchen er vielleicht an dem Einen geübt, durch eine Wohlthat am Anderen, ja vielleicht an der Gesammtheit ausgleichen und überbieten könne. Alles in äusserster Schonung! Und namentlich in Anonymität oder unter neuen Namen und mit häufigerem Ortswechsel, damit die Unbescholtenheit des Rufes und sein künftiges Leben so wenig wie möglich dabei Gefahr laufe. Jetzt zwar will immer noch Der, welchem ein Schaden zugefügt ist, ganz abgesehen davon, wie dieser Schaden etwa gut zu machen ist, seine R a c h e haben und wendet sich ihrethalben an die Gerichte, — und diess hält einstweilen unsere abscheulichen Strafordnungen noch aufrecht, sammt ihrer Krämerwage und dem Aufwiegenwollen der Schuld durch die S t r a f e : aber dürften wir nicht hierüber hinaus kommen können? Wie erleichtert wäre das allgemeine Gefühl des Lebens, wenn man mit dem Glauben an die Schuld auch vom alten Instinct der Rache sich losmachte und es selbst als eine feine Klugheit der Glücklichen betrachtete, mit dem Christenthum den Segen über seine Feinde zu sprechen und Denen w o h l z u t h u n , die uns beleidigt haben! Schaffen wir den Begriff der S ü n d e aus der Welt — und schicken wir ihm den Begriff der S t r a f e bald hinterdrein! Mögen diese verbannten Unholde irgendwo anders fürderhin, als unter Menschen, leben, wenn sie durchaus leben wollen und nicht am eigenen Ekel zu Grunde gehen! — Inzwischen erwäge man, dass die Einbusse, welche die Gesellschaft und die Einzelnen durch die Verbrecher erleiden, der Einbusse ganz gleichartig ist, welche sie von den Kranken erleiden: die Kranken verbreiten Sorge, Missmuth, produciren nicht, zehren den Ertrag Anderer auf, brauchen Wärter, Ärzte,
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Unterhaltung und leben von der Zeit und den Kräften der Gesunden. Trotzdem würde man jetzt Den als unmenschlich bezeichnen, welcher dafür an den Kranken R a c h e nehmen wollte. Ehedem freilich that man diess; in rohen Zuständen der Cultur und jetzt noch bei manchen wilden Völkern, wird der Kranke in der That als Verbrecher behandelt, als die Gefahr der Gemeinde und als Wohnsitz irgend eines dämonischen Wesens, welches sich ihm in Folge einer Schuld einverleibt hat, — da heisst es: jeder Kranke ist ein Schuldiger! U n d wir, — sollten wir noch nicht reif f ü r die entgegengesetzte Anschauung sein? sollten wir noch nicht sagen dürfen: jeder „Schuldige" ist ein Kranker? — Nein, die Stunde dafür ist noch nicht gekommen. Noch fehlen vor Allem die Ärzte, für welche Das, was wir bisher praktische Moral nannten, sich in ein Stück ihrer Heilkunst und Heil Wissenschaft umgewandelt haben muss; noch fehlt allgemein jenes hungrige Interesse an diesen Dingen, das vielleicht einmal dem Sturm und Drang jener alten religiösen Erregungen nicht unähnlich erscheinen wird; noch sind die Kirchen nicht im Besitz der Pfleger der Gesundheit; noch gehört die Lehre von dem Leibe und von der Diät nicht zu den Verpflichtungen aller niederen und höheren Schulen; noch giebt es keine stillen Vereine Solcher, welche sich unter einander verpflichtet haben, auf die Hülfe der Gerichte und auf Strafe und Rache an ihren Übelthätern zu verzichten; noch hat kein Denker den Muth gehabt, die Gesundheit einer Gesellschaft und der Einzelnen darnach zu bemessen, wie viel Parasiten sie ertragen kann, und noch fand sich kein Staatengründer, weldier die Pflugschar im Geiste jener freigebigen und mildherzigen Rede führte: „willst du das Land bauen, so baue mit dem Pfluge: da geneusst dein der Vogel und der Wolf, der hinter deinem Pfluge geht, — es g e n e u s s t d e i n a l l e C r e a t u r . "
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203.
G e g e n d i e s c h l e c h t e D i ä t . — Pfui über die Mahlzeiten, welche jetzt die Menschen machen, in den Gasthäusern sowohl als überall, wo die wohlbestellte Classe der Gesellschaft lebt! Selbst wenn hochansehnliche Gelehrte zusammenkommen, ist es die selbe Sitte, welche ihren Tisch wie den des Banquiers füllt: nach dem Gesetz des „Viel zu viel" und des „Vielerlei", — woraus folgt, dass die Speisen auf den Effect und nicht auf die Wirkung hin zubereitet werden, und aufregende Getränke helfen müssen, die Schwere im Magen und Gehirn zu vertreiben. Pfui, welche Wüstheit und Oberempfindsamkeit muss die allgemeine Folge sein! Pfui, welche Träume müssen ihnen kommen! Pfui, welche Künste und Bücher werden der Nachtisch soldier Mahlzeiten sein! Und mögen sie thun, was sie wollen: in ihrem Thun wird der Pfeffer und der Widerspruch oder die Weltmüdigkeit regieren! (Die reiche Classe in England hat ihr Christenthum nöthig, um ihre Verdauungsbeschwerden und ihre Kopfschmerzen ertragen zu können.) Zuletzt, um das Lustige an der Sache und nicht nur deren Ekelhaftes zu sagen, sind diese Menschen keineswegs Schlemmer; unser Jahrhundert und seine Art Geschäftigkeit ist mächtiger über ihre Glieder, als ihr Bauch: was wollen also diese Mahlzeiten? — S i e r e p r ä s e n t i r e n ! Was, in aller Heiligen Namen? Den Stand? — Nein, das Geld: man hat keinen Stand mehr! Man ist „Individuum"! Aber Geld ist Macht, Ruhm, Würde, Vorrang, Einfluss; Geld macht jetzt das grosse oder kleine moralische Vorurtheil für einen Menschen, je nachdem er davon hat! Niemand will es unter den Scheffel, Niemand möchte es auf den Tisch stellen; folglich muss das Geld einen Repräsentanten haben, den man auf den Tisch stellen kann: siehe unsere Mahlzeiten! —
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204.
D a n a e u n d G o t t i m G o l d e . — Woher diese unmässige Ungeduld, welche jetzt den Menschen zum Verbrecher macht, in Zuständen, welche den entgegengesetzten Hang besser erklären würden? Denn, wenn Dieser falsches Gewicht gebraucht, Jener sein Haus anbrennt, nachdem er es hoch versichert hat, ein Dritter am Prägen falschen Geldes Antheil nimmt, wenn drei Viertel der höheren Gesellschaft dem erlaubten Betrüge nachhängt und am schlechten Gewissen der Börse und der Speculation zu tragen hat: was treibt sie? Nicht die eigentliche Noth, es geht ihnen nicht so ganz schlecht, vielleicht sogar essen und trinken sie ohne Sorge, — aber eine furchtbare Ungeduld darüber, dass das Geld sich zu langsam häuft und eine ebenso furchtbare Lust und Liebe zu gehäuftem Gelde drängt sie bei Tag und bei der Nacht. In dieser Ungeduld und dieser Liebe aber kommt jener Fanatismus des M a c h t g e l ü s t e s wieder zum Vorschein, welcher ehemals durch den Glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein, entzündet wurde und der so schöne Namen trug, dass man es daraufhin wagen konnte, m i t g u t e m G e w i s s e n unmenschlich zu sein (Juden, Ketzer und gute Bücher zu verbrennen und ganze höhere Culturen wie die von Peru und Mexiko auszurotten). Die Mittel des Machtgelüstes haben sich verändert, aber der selbe Vulcan glüht noch immer, die Ungeduld und die unmässige Liebe wollen ihre Opfer: und was man ehedem „um Gottes willen" that, thut man jetzt um des Geldes willen, das heisst um dessen willen, was j e t z t am höchsten Machtgefühl und gutes Gewissen giebt.
205.
V o m V o l k e I s r a e l . — Zu den Schauspielen, auf welche uns das nächste Jahrhundert einladet, gehört die Entscheidung im Schicksale der europäischen Juden. Dass sie ihren Würfel geworfen, ihren Rubikon überschritten haben, greift
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man jetzt mit beiden Händen: es bleibt ihnen nur noch übrig, entweder die Herren Europa's zu werden oder Europa zu verlieren, so wie sie einst vor langen Zeiten Aegypten verloren, wo sie sich vor ein ähnliches Entweder-Oder gestellt hatten. In Europa aber haben sie eine Schule von achtzehn Jahrhunderten durchgemacht, wie sie hier kein andres Volk aufweisen kann, und zwar so, dass nicht eben der Gemeinschaft, aber umsomehr den Einzelnen die Erfahrungen dieser entsetzlichen Ubungszeit zu Gute gekommen sind. In Folge davon sind die seelischen und geistigen Hülfsquellen bei den jetzigen Juden ausserordentlich; sie greifen in der Noth am seltensten von Allen, die Europa bewohnen, zum Becher oder zum Selbstmord, um einer tiefen Verlegenheit zu entgehen, — was dem geringer Begabten so nahe liegt. Jeder Jude hat in der Geschichte seiner Väter und Grossväter eine Fundgrube von Beispielen kältester Besonnenheit und Beharrlichkeit in furchtbaren Lagen, von feinster Uberlistung und Ausnützung des Unglücks und des Zufalls; ihre Tapferkeit unter dem Deckmantel erbärmlicher Unterwerfung, ihr Heroismus im spernere se sperni übertrifft die Tugenden aller Heiligen. Man hat sie verächtlich machen wollen, dadurch dass man sie zwei Jahrtausende lang verächtlich behandelte und ihnen den Zugang zu allen Ehren, zu allem Ehrbaren verwehrte, dafür sie um so tiefer in die schmutzigeren Gewerbe hineinstiess, — und wahrhaftig, sie sind unter dieser Procedur nicht reinlicher geworden. Aber verächtlich? Sie haben selber nie aufgehört, sich zu den höchsten Dingen berufen zu glauben, und ebenso haben die Tugenden aller Leidenden nie aufgehört, sie zu schmücken. Die Art, wie sie ihre Väter und ihre Kinder ehren, die Vernunft ihrer Ehen und Ehesitten zeichnet sie unter allen Europäern aus. Zu alledem verstanden sie es, ein Gefühl der Macht und der ewigen Rache sich aus eben den Gewerben zu schaffen, welche man ihnen überliess (oder denen man sie überliess); man muss es zur Entschuldigung selbst ihres Wuchers sagen, dass sie ohne diese gelegentliche angenehme und nützliche Folterung
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ihrer Verächter es schwerlich ausgehalten hätten, sich so lange selbst zu achten. Denn unsere Achtung vor uns selber ist daran gebunden, dass wir Wiedervergeltung im Guten und Schlimmen üben können. Dabei reisst sie ihre Rache nicht leicht zu weit: denn sie haben Alle die Freisinnigkeit, audi die der Seele, zu welcher der häufige Wechsel des Ortes, des Klima's, der Sitten von Nachbarn und Unterdrückern den Menschen erzieht, sie besitzen die bei Weitem grösste Erfahrung in allem menschlichen Verkehre und üben selbst in der Leidenschaft noch die Vorsicht dieser Erfahrung. Ihrer geistigen Geschmeidigkeit und Gewitztheit sind sie so sicher, dass sie nie, selbst in der bittersten Lage nicht, nöthig haben, mit der physischen Kraft, als grobe Arbeiter, Lastträger, Ackerbausclaven ihr Brod zu erwerben. Ihren Manieren merkt man noch an, dass man ihnen niemals ritterlich vornehme Empfindungen in die Seele und schöne Waffen um den Leib gegeben hat: etwas Zudringliches wechselt mit einer oft zärtlichen, fast stets peinlichen Unterwürfigkeit. Aber jetzt, da sie unvermeidlich von Jahr zu Jahr mehr sich mit dem besten Adel Europa's verschwägern, werden sie bald eine gute Erbschaft von Manieren des Geistes und Leibes gemacht haben: sodass sie in hundert Jahren schon vornehm genug dreinschauen werden, um als Herren bei den ihnen Unterworfenen nicht S c h a m zu erregen. Und darauf kommt es an! Desshalb ist ein Austrag ihrer Sache für jetzt noch verfrüht! Sie wissen selber am besten, dass an eine Eroberung Europa's und an irgend welche Gewaltsamkeit für sie nicht zu denken ist: wohl aber, dass Europa irgendwann einmal wie eine völlig reife Frucht ihnen in die Hand fallen dürfte, welche sich ihr nur leicht entgegenstreckt. Inzwischen haben sie dazu nöthig, auf allen Gebieten der europäischen Auszeichnung sich auszuzeichnen und unter den Ersten zu stehen: bis sie es so weit bringen, Das, was auszeichnen soll, selber zu bestimmen. Dann werden sie die Erlinder und Wegzeiger der Europäer heissen und nicht mehr deren Scham beleidigen. Und wohin soll auch diese Fülle angesam-
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melter grosser Eindrücke, welche die jüdische Geschichte für jede jüdische Familie ausmacht, diese Fülle von Leidenschaften, Tugenden, Entschlüssen, Entsagungen, Kämpfen, Siegen aller Art, — wohin soll sie sich ausströmen, wenn nicht zuletzt in grosse geistige Menschen und Werke! Dann, wenn die Juden auf solche Edelsteine und goldene Gefässe als ihr Werk hinzuweisen haben, wie sie die europäischen Völker kürzerer und weniger tiefer Erfahrung nicht hervorzubringen vermögen und vermochten, wenn Israel seine ewige Rache in eine ewige Segnung Europa's verwandelt haben wird: dann wird jener siebente Tag wieder einmal da sein, an dem der alte Judengott sich seiner selber, seiner Schöpfung und seines auserwählten Volkes f r e u e n darf, — und wir Alle, Alle wollen uns mit ihm freun!
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D e r u n m ö g l i c h e S t a n d . — Arm, fröhlich und unabhängig! — das ist beisammen möglich; arm, fröhlich und Sclave! — das ist auch möglich, — und ich wüsste den Arbeitern der Fabrik-Sclaverei nichts Besseres zu sagen: gesetzt, sie empfinden es nicht überhaupt als S c h a n d e , dergestalt, wie es geschieht, als Schrauben einer Maschine und gleichsam als Lükkenbüsser der menschlichen Erfindungskunst v e r b r a u c h t zu werden! Pfui! zu glauben, dass durch höhere Zahlung das W e s e n t l i c h e ihres Elends, ich meine, ihre unpersönliche Verknechtung, gehoben werden könne! Pfui! sich aufreden zu lassen, durch eine Steigerung dieser Unpersönlichkeit, innerhalb des maschinenhaften Getriebes einer neuen Gesellschaft könne die Schande der Sclaverei zur Tugend gemacht werden! Pfui! einen Preis zu haben, für den man nicht mehr Person, sondern Schraube wird! Seid ihr die Mitverschworenen in der jetzigen Narrheit der Nationen, welche vor Allem möglichst Viel produciren und möglichst reich sein wollen? Eure Sache wäre es, ihnen die Gegenrechnung vorzuhalten: wie grosse Summen
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i n n e r e n Werthes für ein solches äusserliches Ziel weggeworfen werden! W o ist aber euer innerer Werth, wenn ihr nicht mehr wisst, was frei athmen heisst? euch selber nicht einmal nothdürftig in der Gewalt habt? eurer wie eines abgestandenen Getränkes allzu oft überdrüssig werdet? nach der Zeitung hinhorcht und den reichen Nachbar anschielt, lüstern gemacht durch das schnelle Steigen und Fallen von Macht, Geld und Meinungen? wenn ihr keinen Glauben mehr an die Philosophie, die Lumpen trägt, an die Freimüthigkeit des Bedürfnisslosen habt? wenn euch die freiwillige idyllische Armuth, Berufs- und Ehelosigkeit, wie sie recht wohl den Geistigeren unter euch anstehen sollte, zum Gelächter geworden ist? Dagegen die Pfeife der socialistischen Rattenfänger immer im Ohre tönt, die euch mit tollen Hoffnungen brünstig machen wollen? welche euch heissen, b e r e i t zu sein und Nichts weiter, bereit von heute auf morgen, sodass ihr auf Etwas von Aussen her wartet und wartet und in Allem sonst lebt, wie ihr sonst gelebt habt, — bis dieses Warten zum Hunger und zum Durst und zum Fieber und zum Wahnsinn wird, und endlich der Tag der bestia triumphans in aller Herrlichkeit aufgeht? — Dagegen sollte doch Jeder bei sich denken: „lieber auswandern, in wilden und frischen Gegenden der Welt H e r r zu werden suchen und vor Allem Herr über mich selber; den Ort so lange wechseln, als noch irgend ein Zeichen von Sclaverei mir winkt; dem Abenteuer und dem Kriege nicht aus dem Wege gehen und für die schlimmsten Zufälle den Tod in Bereitschaft halten: nur nicht länger diese unanständige Knechtschaft, nur nicht länger diess Sauer- und Giftig- und Verschwörerisch-werden!" Diess wäre die rechte Gesinnung: die Arbeiter in Europa sollten sich a l s S t a n d fürderhin für eine Menschen-Unmöglichkeit, und nicht nur, wie meistens geschieht, als etwas hart und unzweckmässig Eingerichtetes erklären; sie sollten ein Zeitalter des grossen Ausschwärmens im europäischen Bienenstocke heraufführen, wie dergleichen bisher noch nicht erlebt wurde, und, durch diese That der Freizügig-
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keit im grossen Stil, gegen die Maschine, das Capital und die jetzt ihnen drohende Wahl protestiren, entweder Sclave des Staates oder Sclave einer Umsturz-Partei werden zu m ü s s e n . Möge sich Europa des vierten Theiles seiner Bewohner erleichtern! Ihm und ihnen wird es leichter um's Herz werden! In der Ferne erst, bei den Unternehmungen schwärmender ColonistenZüge wird man recht erkennen, wie viel gute Vernunft und Billigkeit, wie viel gesundes Misstrauen die Mutter Europa ihren Söhnen einverleibt hat, — diesen Söhnen, welche es neben ihr, dem verdumpften alten Weibe, nicht mehr aushalten konnten und Gefahr liefen, griesgrämig, reizbar und genusssüchtig, wie sie selber, zu werden. Ausserhalb Europa's werden die Tugenden Europa's mit diesen Arbeitern auf der Wanderschaft sein; und Das, was zu gefährlichem Missmuth und verbrecherischem Hange innerhalb der Heimath zu entarten begann, wird draussen eine wilde schöne Natürlichkeit gewinnen und Heroismus heissen. — So käme doch endlich auch wieder reinere Luft in das alte, jetzt übervölkerte und in sich brütende Europa! Mag es immerhin dann an „Arbeitskräften" etwas fehlen! Vielleicht wird man sich dabei besinnen, dass man an viele Bedürfnisse sich erst seitdem gewöhnt hat, als es so l e i c h t wurde, sie zu befriedigen, — man wird einige Bedürfnisse wieder verlernen! Vielleicht auch wird man dann C h i n e s e n hereinholen: und diese würden die Denk- und Lebensweise mitbringen, welche sich für arbeitsame Ameisen schickt. Ja, sie könnten im Ganzen dazu helfen, dem unruhigen und sich aufreibenden Europa etwas asiatische Ruhe und Betrachtsamkeit und — was am meisten wohl noth thut — asiatische D a u e r h a f t i g k e i t in's Geblüt zu geben. 207.
V e r h a l t e n d e r D e u t s c h e n z u r M o r a l . — Ein Deutscher ist grosser Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie thut: denn er gehorcht, w o e r k a n n , wie diess
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einem an sich trägen Geiste wohlthut. Wird er in die Noth gebracht, allein zu stehen und seine Trägheit abzuwerfen, ist es ihm nicht mehr möglich, als Ziffer in einer Summe unterzuducken (in dieser Eigenschaft ist er bei Weitem nicht so viel werth wie ein Franzose oder Engländer) — so entdeckt er seine Kräfte: dann wird er gefährlich, böse, tief, verwegen, und bringt den Schatz von schlafender Energie an ; s Licht, den er in sich trägt und an den sonst Niemand (und er selber nicht) glaubte. Wenn ein Deutscher sich in solchem Falle selbst gehorcht — es ist die grosse Ausnahme —, so geschieht es mit der gleichen Schwerfälligkeit, Unerbittlichkeit und Dauer, mit der er sonst seinem Fürsten, seinen amtlichen Obliegenheiten gehorcht: sodass er, wie gesagt, dann grossen Dingen gewachsen ist, die zu dem „schwachen Charakter", den er bei sich voraussetzt, in gar keinem Verhältniss stehen. Für gewöhnlich aber fürchtet er sich, v o n s i c h a l l e i n abzuhängen, zu i m p r o v i s i r e n : desshalb verbraucht Deutschland so viel Beamte, so viel Tinte. — Der Leichtsinn ist ihm fremd, für ihn ist er zu ängstlich; aber in ganz neuen Lagen, die ihn aus der Schläfrigkeit herausziehen, ist er b e i n a h e leichtsinnig; er geniesst dann die Seltenheit der neuen Lage wie einen Rausch, und er versteht sich auf den Rausch! So ist der Deutsche jetzt in der Politik beinahe leichtsinnig: hat er das Vorurtheil der Gründlichkeit und des Ernstes auch hier für sich und benutzt er es im Verkehr mit den anderen politischen Mächten reichlich, so ist er doch insgeheim voller Übermuth, einmal schwärmen und launenhaft und neuerungssüchtig sein zu dürfen und mit Personen, Parteien, Hoffnungen wie mit Masken zu wechseln. — Die deutschen Gelehrten, welche bisher das Ansehen hatten, die Deutschesten unter den Deutschen zu sein, waren und sind vielleicht noch so gut wie die deutschen Soldaten, wegen ihres tiefen, fast kindlichen Hanges zum Gehorchen in allen äusseren Dingen und der Nöthigung, in der Wissenschaft viel allein zu stehen und Viel zu verantworten; wenn sie ihre stolze, schlichte und geduldige Art und ihre Freiheit von
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politischer Narrheit zu sichern wissen, in Zeiten, wo der Wind anders bläst, so steht noch Grosses von ihnen zu erwarten: so wie sie sind (oder waren), sind sie der embryonische Zustand von etwas H ö h e r e m . — Der Vortheil und der Nachtheil der Deutschen, und selbst ihrer Gelehrten, war bisher, dass sie dem Aberglauben und der Lust, zu glauben, näher standen, als andere Völker; ihre Laster sind, nach wie vor, der Trunk und der Hang zum Selbstmord (dieser ein Zeichen von Schwerfälligkeit des Geistes, der schnell dazu gebracht werden kann, die Zügel wegzuwerfen); ihre Gefahr liegt in Allem, was die Verstandeskräfte bindet und die Affecte entfesselt (wie zum Beispiel der übermässige Gebrauch der Musik und der geistigen Getränke) : denn der deutsche Affect ist gegen den eigenen Nutzen gerichtet und selbstzerstörerisch wie der des Trunkenboldes. Die Begeisterung selber ist in Deutschland weniger werth, als anderwärts, denn sie ist unfruchtbar. Wenn je ein Deutscher etwas Grosses that, so geschah es in der Noth, im Zustande der Tapferkeit, der zusammengebissenen Zähne, der gespanntesten Besonnenheit und oft der Grossmuth. — Der Umgang mit ihnen wäre wohl anzurathen, — denn fast jeder Deutsche hat Etwas zu g e b e n , wenn man versteht, ihn dahin zu bringen, dass er es f i n d e t , w i e d e r f i n d e t (er ist unordentlich in sich). Wenn nun ein Volk dieser Art sich mit Moral abgiebt: welche Moral wird es sein, die gerade ihm genugthut? Sicherlich wird es zuerst wollen, dass sein herzlicher Hang zum Gehorsam in ihr idealisirt erscheine. „Der Mensch muss Etwas haben, dem er u n b e d i n g t g e h o r c h e n kann" — das ist eine deutsche Empfindung, eine deutsche Folgerichtigkeit: man begegnet ihr auf dem Grunde aller deutschen Morallehren. Wie anders ist der Eindruck, wenn man sich vor die gesammte antike Moral stellt! Alle diese griechischen Denker, so vielartig ihr Bild uns entgegenkommt, scheinen als Moralisten dem Turnmeister zu gleichen, der einem Jünglinge zuspricht „Komm! Folge mir! Ergieb dich meiner Zucht! So wirst du es vielleicht
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so hoch bringen, vor allen Hellenen einen Preis davonzutragen." Persönliche Auszeichnung, — das ist die antike Tugend. Sich unterwerfen, folgen, öffentlich oder in der Verborgenheit, — das ist deutsche Tugend. Lange vor Kant und seinem kategorischen Imperativ hatte Luther aus der selben Empfindung gesagt: es müsse ein Wesen geben, dem der Mensch unbedingt vertrauen könne, — es war sein G o t t e s b e w e i s , er wollte, gröber und volksthümlicher als Kant, dass man nicht einem Begriff, sondern einer Person unbedingt gehorche und schliesslich hat auch Kant seinen Umweg um die Moral nur desshalb genommen, um zum G e h o r s a m g e g e n d i e P e r s o n zu gelangen: das ist eben der Cultus des Deutschen, je weniger ihm gerade vom Cultus in der Religion übrig geblieben ist. Griechen und Römer empfanden anders und würden über ein solches „es m u s s ein Wesen geben" — gespottet haben: es gehörte zu ihrer südländischen Freiheit des Gefühls, sich des „unbedingten Vertrauens" zu erwehren und im letzten Verschluss des Herzens eine kleine Skepsis gegen Alles und Jedes, sei es Gott oder Mensch oder Begriff, zurückzubehalten. Gar der antike Philosoph! Nil admirari — in diesem Satze sieht er die Philosophie. Und ein Deutscher, nämlich Schopenhauer, geht so weit im Gegentheil zu sagen: admirari id est philosophari. — Wie aber nun, wenn der Deutsche einmal, wie es vorkommt, in den Zustand geräth, wo er g r o s s e r D i n g e fähig ist? Wenn die Stunde der A u s n a h m e , die Stunde des Ungehorsams kommt? — Ich glaube nicht, dass Schopenhauer mit Recht sagt, es sei der einzige Vorzug der Deutschen vor anderen Völkern, dass es unter ihnen mehr Atheisten gebe, als anderwärts, — aber Das weiss ich: wenn der Deutsche in den Zustand geräth, wo er grosser Dinge fähig ist, so e r h e b t e r s i c h a l l e m a l ü b e r d i e M o r a l ! Und wie sollte er nicht? Jetzt muss er etwas Neues thun, nämlich befehlen — sich oder Anderen! Das Befehlen hat ihn aber seine deutsche Moral nicht gelehrt! Das Befehlen ist in ihr vergessen!
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208. G e w i s s e n s f r a g e . — „Und in summa: was wollt ihr eigentlich Neues?" — Wir wollen nicht mehr die Ursachen zu Sündern und die Folgen zu Henkern machen.
209. 5
DieNützlichkeitderstrengstenTheorien. — Man sieht einem Menschen viele Schwächen der Moralität nach und handhabt dabei ein grobes Sieb, v o r a u s g e s e t z t , dass er sich immer zur strengsten T h e o r i e d e r M o r a l bekennt! Dagegen hat man das Leben der freigeistischen Mora10 listen immer unter das Mikroskop gestellt: mit dem Hintergedanken, dass ein Fehltritt des Lebens das sicherste Argument gegen eine unwillkommene Erkenntniss sei.
2x0. D a s „ a n s i c h " . — Ehemals fragte man: was ist das ' J Lächerliche? wie als ob es ausser uns Dinge gebe, welchen das Lächerliche als Eigenschaft anhafte, und man erschöpfte sich in Einfallen (ein Theologe meinte sogar, dass es „die Naivität der Sünde" sei). Jetzt fragt man: was ist das Lachen? Wie entsteht das Lachen? Man hat sich besonnen und endlich festgestellt,
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dass es nichts Gutes, nichts Schönes, nichts Erhabenes, nichts Böses an sich giebt, wohl aber Seelenzustände, in denen wir die Dinge ausser und in uns mit solchen Worten belegen. Wir haben die Prädicate der Dinge wieder z u r ü c k g e n o m m e n , oder wenigstens uns daran erinnert, dass wir sie ihnen g e l i e h e n haben: — sehen wir zu, dass wir bei dieser Einsicht die F ä h i g k e i t zum Verleihen nicht verlieren, und dass wir nicht zugleich r e i c h e r und g e i z i g e r geworden sind. 211.
An die T r ä u m e r der U n s t e r b l i c h k e i t . — Diesem schönen Bewusstsein eurer selbst wünscht ihr also e w i g e D a u e r ? Ist das nicht schamlos? Denkt ihr denn nidit an alle anderen Dinge, die e u c h dann in alle Ewigkeit zu e r t r a g e n hätten, wie sie euch bisher ertragen haben mit einer mehr als christlichen Geduld? Oder meint ihr, ihnen ein ewiges Wohlgefühl an euch geben zu können? Ein einziger unsterblicher Mensch auf der Erde wäre ja schon genug, um alles Andere, das noch da wäre, durch Ü b e r d r u s s a n i h m in eine allgemeine Sterbe- und Aufhängewuth zu versetzen! Und ihr Erdenbewohner mit euren BegrifFelchen von ein paar Tausend Zeitminütchen wollt dem ewigen allgemeinen Dasein ewig lästig fallen! Giebt es etwas Zudringlicheres! — Zuletzt: seien wir milde gegen ein Wesen von siebenzig Jahren! — es hat seine Phantasie im Ausmalen der e i g n e n „ewigen Langenweile" nicht üben können, — es fehlte ihm an der Zeit! 212.
W o r i n m a n s i c h k e n n t . — Sobald ein Thier ein anderes sieht, so misst es sich im Geiste mit ihm; und ebenso machen es die Menschen wilder Zeitalter. Daraus ergiebt sich, dass sich da jeder Mensch fast nur in Hinsicht auf seine Wehrund Angriffskräfte kennen lernt.
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213. D i e M e n s c h e n d e s v e r f e h l t e n L e b e n s . — Die Einen sind aus solchem S t o f f e , dass es der Gesellschaft erlaubt ist, Diess oder Jenes aus ihnen zu m a c h e n : unter allen Umständen werden sie sich gut dabei befinden und nicht über ein verfehltes Leben zu klagen haben. Andere sind von zu besonderem Stoffe — es braucht desshalb nodi kein besonders edler, sondern eben nur ein seltnerer zu sein —, als dass sie nicht sich schlecht befinden müssten, den einzigen Fall ausgenommen, dass sie ihrem einzigen Zwecke gemäss leben können: — in allen anderen Fällen hat die Gesellschaft den Schaden davon. Denn Alles, was dem Einzelnen als verfehltes, missrathenes Leben erscheint, seine ganze Bürde von Missmuth, Lähmung, Erkrankung, Reizbarkeit, Begehrlichkeit, wirft er auf die Gesellschaft zurück — und so bildet sich um sie eine schlechte dumpfe Luft und, im günstigsten Falle, eine Gewitterwolke.
214. W a s N a c h s i c h t ! — Ihr leidet, und verlangt, dass wir nachsichtig gegen euch sind, wenn ihr im Leiden den Dingen und Menschen Unrecht thut! Aber was liegt an unserer Nachsicht! Ihr aber solltet v o r s i c h t i g e r um euer selbst willen sein! Das ist eine schöne Art, sich für sein Leiden so zu entschädigen, dass man noch dazu s e i n U r t h e i l s c h ä d i g t ! Auf euch selber fällt eure eigne Rache zurück, wenn ihr Etwas verunglimpft; ihr trübt damit e u e r Auge, nicht das der Anderen: ihr gewöhnt euch an das F a l s c h - u n d Schief-Sehen! 215. M o r a l d e r O p f e r t h i e r e . — »Sich begeistert hingeben", „sich selber zum Opfer bringen" — diess sind die Stichworte eurer Moral, und ich glaube es gerne, dass ihr, wie ihr
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sagt, „es damit ehrlich meint": nur kenne ich euch besser, als ihr euch kennt, wenn eure „Ehrlichkeit" mit einer solchen Moral Arm in Arm zu gehen vermag. Ihr seht von der Höhe derselben herab auf jene andere nüchterne Moral, welche Selbstbeherrschung, Strenge, Gehorsam fordert, ihr nennt sie wohl gar egoistisch, und gewiss! — ihr s e i d ehrlich gegen euch, wenn sie euch missfällt, — sie m u s s euch missfallen! Denn indem ihr euch begeistert hingebt und aus euch ein Opfer macht, geniesst ihr jenen Rausch des Gedankens, nunmehr eins zu sein mit dem Mächtigen, sei es ein Gott oder ein Mensch, dem ihr euch weiht: ihr schwelgt in dem Gefühle seiner Macht, die eben wieder durch ein Opfer bezeugt ist. In Wahrheit s c h e i n t ihr euch nur zu opfern, ihr wandelt euch vielmehr in Gedanken zu Göttern um und geniesst euch als solche. Von diesem Genüsse aus gerechnet, — wie schwach und arm dünkt euch jene „egoistische" Moral des Gehorsams, der Pflicht, der Vernünftigkeit: sie missfällt euch, weil hier wirklich geopfert und hingegeben werden muss, o h n e dass der Opferer sich in einen Gott verwandelt wähnt, wie ihr wähnt. Kurz, i h r wollt den Rausch und das Übermaass, und jene von euch verachtete Moral hebt den Finger auf g e g e n Rausch und Übermaass, — ich glaube euch wohl, dass sie euch Missbehagen macht!
216.
D i e B ö s e n u n d d i e M u s i k . — Sollte die volle Seligkeit der Liebe, welche im u n b e d i n g t e n V e r t r a u e n liegt, jemals anderen Personen zu Theil geworden sein, als tief misstrauischen, bösen und galligen? Diese nämlich geniessen in ihr die ungeheure, nie geglaubte und glaubliche A u s n a h m e ihrer Seele! Eines Tages kommt jene gränzenlose, traumhafte Empfindung über sie, gegen die sich ihr ganzes übriges heimliches und sichtbares Leben abhebt: wie ein köstliches Räthsel und Wunder, voll goldenen Glanzes und über alle Worte und
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Bilder hinaus. Das unbedingte Vertrauen macht stumm; ja, selbst ein Leiden und eine Schwere ist in diesem seligen Stummwerden, wesshalb audi solche vom Glück gedrückte Seelen der M u s i k dankbarer zu sein pflegen, als alle anderen und besseren: denn durch die Musik hindurch sehen und hören sie, wie durdi einen farbigen Rauch, ihre Liebe gleichsam f e r n e r , rührender und weniger schwer geworden; Musik ist ihnen das einzige Mittel, ihrem ausserordentlichen Zustande z u z u s c h a u e n und mit einer Art von Entfremdung und Erleichterung erst seines Anblicks theilhaft zu werden. Jeder Liebende denkt bei der Musik: „sie redet von mir, sie redet an meiner Statt, s i e w e i s s A l l e s ! " —
217.
D e r K ü n s t l e r . — Die Deutschen wollen durch den Künstler in eine Art erträumter Passion kommen; die Italiäner wollen durch ihn von ihren wirklichen Passionen ausruhen; die Franzosen wollen von ihm Gelegenheit, ihr Urtheil zu beweisen, und Anlässe zum Reden haben. Also seien wir billig!
218.
Mit seinen S c h w ä c h e n als K ü n s t l e r s c h a l t e n . — Wenn wir durchaus Schwächen haben sollen und sie als Gesetze über uns endlich auch anerkennen müssen, so wünsche ich Jedem wenigstens so viel künstlerische Kraft, dass er aus seinen Schwächen die Folie seiner Tugenden und durch seine Schwächen uns begehrlich nach seinen Tugenden zu machen verstehe: Das, was in so ausgezeichnetem Maasse die grossen Musiker verstanden haben. Wie häufig ist in Beethoven's Musik ein grober rechthaberischer, ungeduldiger Ton, bei Mozart eine Jovialität biederer Gesellen, bei der Herz und Geist ein Wenig fürlieb nehmen müssen, bei Richard Wagner eine abspringende
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Morgenröthe
und zudringende Unruhe, bei der dem Geduldigsten die gute Laune e b e n abhanden kommen will: d a aber kehrt er zu seiner Kraft zurück, und ebenso Jene; sie Alle haben uns mit ihren Schwächen einen Heisshunger nach ihren Tugenden und eine zehnmal empfindlichere Zunge für jeden Tropfen tönenden Geistes, tönender Schönheit, tönender Güte gemacht.
219.
D e r B e t r u g b e i d e r D e m ü t h i g u n g . — Du hast deinem Nächsten mit deiner Unvernunft ein tiefes Leid zugefügt und ein unwiederbringliches Glück zerstört — und nun gewinnst du es über deine Eitelkeit, zu ihm zu gehen, du demüthigst didi vor ihm, giebst deine Unvernunft vor ihm der Verachtung preis und meinst, nach dieser harten, für dich äusserst beschwerlichen Scene sei im Grunde alles wieder in Ordnung gebracht, — deine freiwillige Einbusse an Ehre gleiche die unfreiwillige Einbusse des Andern an Glück aus: mit diesem Gefühle gehst du erhoben und in deiner Tugend wiederhergestellt davon. Aber der Andere hat sein tiefes Leid wie vorher, es liegt ihm gar nichts Tröstliches darin, dass du unvernünftig bist und es gesagt hast, er erinnert sich sogar des peinlichen Anblicks, den du ihm gegeben hast, als du dich vor ihm selbst verachtetest, wie einer neuen Wunde, welche er dir verdankt, — aber er denkt nicht an Rache und begreift nicht, wie zwischen dir und ihm Etwas a u s g e g l i c h e n werden könnte. Im Grunde hast du jene Scene vor dir selber aufgeführt und für dich selber: du hattest einen Zeugen dazu eingeladen, deinetwegen wiederum und nicht seinetwegen, — betrüge dich nicht!
220.
Würde und Furchtsamkeit. — Die Ceremonien, die Amts- und Standestrachten, die ernsten Mienen, das
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feierliche Dreinschauen, die langsame Gangart, die gewundene Rede und Alles überhaupt, was Würde heisst: das ist die Verstellungsform Derer, welche im Grunde furchtsam sind, — sie wollen damit fürchten machen (sich oder Das, was sie repräsentiren). Die Furchtlosen, das heisst ursprünglich: die jederzeit und unzweifelhaft Fürchterlichen haben Würde und Ceremonien nicht nöthig, sie bringen die Ehrlichkeit, das Geradezu in Worten und Gebärden in Ruf und noch mehr in Verruf, als Anzeichen der selbstbewussten Fürchterlichkeit.
221.
M o r a l i t ä t d e s O p f e r s . — Die Moralität, welche sich nach der Aufopferung bemisst, ist die der halbwilden Stufe. Die Vernunft hat da nur einen schwierigen und blutigen Sieg innerhalb der Seele, es sind gewaltige Gegentriebe niederzuwerfen; ohne eine Art Grausamkeit, wie bei den Opfern, welche kanibalische Götter verlangen, geht es dabei nicht ab.
222.
W o F a n a t i s m u s z u w ü n s c h e n i s t . — Phlegmatische Naturen sind nur so zu begeistern, dass man sie fanatisirt.
223.
D a s g e f ü r c h t e t e A u g e . — Nichts wird von Künstlern, Dichtern und Schriftstellern mehr gefürchtet, als jenes Auge, welches ihren k l e i n e n B e t r u g sieht, welches nachträglich wahrnimmt, wie oft sie an dem Gränzwege gestanden haben, wo es entweder zur unschuldigen Lust an sich selber oder zum Effect-machen abführte; welches ihnen nachrechnet, wenn sie Wenig für Viel verkaufen wollten, wenn sie zu erheben und zu schmücken suchten, ohne selber erhoben zu sein; welches
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Morgen röthe
den Gedanken durch allen Trug ihrer Kunst hindurch so sieht, wie er zuerst vor ihnen stand, vielleicht wie eine entzückende Lichtgestalt, vielleicht aber auch als ein Diebstahl an aller Welt, als ein Alltags-Gedanke, den sie dehnen, kürzen, färben, einwikkeln, würzen mussten, um Etwas aus ihm zu machen, anstatt dass der Gedanke Etwas aus ihnen machte, — oh dieses Auge, welches alle eure Unruhe, euer Spähen und Gieren, euer Nachmachen und Uberbieten (diess ist nur ein neidisches Nachmachen) eurem Werke anmerkt, welches eure Schamröthe so gut kennt, wie eure Kunst, diese Röthe zu verbergen und vor euch selber umzudeuten! 224. D a s „ E r h e b e n d e " am U n g l ü c k des N ä c h s t e n . — Er ist im Unglück, und nun kommen die „Mitleidigen" und malen ihm sein Unglück aus, — endlich gehen sie befriedigt und erhoben fort: sie haben sich an dem Entsetzen des Unglücklichen wie an dem eigenen Entsetzen geweidet und sich einen guten Nachmittag gemacht. 225. M i t t e l , um s c h n e l l v e r a c h t e t zu w e r d e n . — Ein Mensch, der schnell und viel spricht, sinkt ausserordentlich tief in unserer Achtung, nach dem kürzesten Verkehre, und selbst wenn er verständig spricht, — nicht nur in dem Maasse als er lästig fällt, sondern weit tiefer. Denn wir errathen, wie vielen Menschen er schon lästig gefallen ist, und rechnen zu dem Missbehagen, das er macht, noch die Missachtung hinzu, welche wir für ihn voraussetzen. 22 6. V o m V e r k e h r e m i t C e l e b r i t ä t e n . — A : Aber warum weichst du diesem grossen Manne aus? — B: Ich möchte
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ihn nicht verkennen lernen! Unsere Fehler vertragen sich nicht bei einander: ich bin kurzsichtig und misstrauisch, und er trägt seine falschen Diamanten so gern wie seine ächten.
22 7.
K e t t e n t r ä g e r . — Vorsicht vor allen Geistern, die an Ketten liegen! Zum Beispiel vor den klugen Frauen, welche ihr Schicksal in eine kleine, dumpfe Umgebung gebannt hat und die darin alt werden. Zwar liegen sie scheinbar träge und halb blind in der Sonne da: aber bei jedem fremden Tritt, bei allem Unvermutheten fahren sie auf, um zu beissen; sie nehmen an Allem Rache, was ihrer Hundehütte entkommen ist.
228.
R a c h e i m L o b e . — Hier ist eine geschriebene Seite voller Lob, und ihr nennt sie flach: aber wenn ihr errathet, dass Rache in diesem Lobe verborgen liegt, so werdet ihr sie fast überfein finden und an dem Reichthum kleiner kühner Striche und Figuren euch sehr ergötzen. Nicht der Mensch, sondern seine Rache ist so fein, reich und erfinderisch; er selber merkt kaum Etwas davon. 229.
S t o l z . — Ach, ihr kennt alle das Gefühl nicht, welches der Gefolterte nach der Folterung hat, wenn er in die Zelle zurückgebracht wird und sein Geheimniss mit ihm! — er hält es immer noch mit den Zähnen fest. Was wisst ihr vom Jubel des menschlichen Stolzes! 230.
„ U t i l i t a r i s c h " . — Jetzt gehen die Empfindungen in moralischen Dingen so kreuz und quer, dass man für diesen
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Morgenröthe
Mensdien eine Moral durch ihre Nützlichkeit beweist, für jenen gerade durch die Nützlichkeit widerlegt.
231. V o n d e r d e u t s c h e n T u g e n d . — Wie entartet in seinem Geschmack, wie sclavisch vor Würden, Ständen, Trachten, Pomp und Prunk muss ein Volk gewesen sein, als es das S c h l i c h t e als das S c h l e c h t e , den schlichten Mann als den schlechten Mann abschätzte! Man soll dem moralischen Hochmuthe der Deutschen immer diess Wörtlein „schlecht" und Nichts weiter entgegenhalten! 232. A u s e i n e r D i s p u t a t i o n . — A : Freund, Sie haben sich heiser gesprochen! — B: So bin ich widerlegt. Reden wir nicht weiter davon. 233·
D i e „ G e w i s s e n h a f t e n " . — Habt ihr Acht gegeben, was für Menschen am meisten Werth auf strengste Gewissenhaftigkeit legen? Die, welche sich vieler erbärmlicher Empfindungen bewusst sind, ängstlich von sich und an sich denken und Angst vor Anderen haben, die ihr Inneres so sehr wie möglich verbergen wollen, — sie suchen s i c h s e l b e r z u i m p o n i r e n , durch jene Strenge der Gewissenhaftigkeit und Härte der Pflicht, vermöge des strengen und harten Eindrucks, den Andere von ihnen dadurch bekommen müssen (namentlich Untergebene). 234. S c h e u v o r d e m R u h m e . — A : Dass Einer seinem Ruhme ausweicht, dass Einer seinen Lobredner absichtlich belei-
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digt, dass Einer sich scheut, Urtheile über sich zu hören, aus Scheu vor dem Lobe, — d a s f i n d e t m a n , d a s g i e b t e s , — glaubt oder glaubt es nicht! — B: Das findet sich, das giebt sich! Nur etwas Geduld, Junker Hochmuth! —
235· D a n k a b w e i s e n . — Man darf wohl eine Bitte abweisen, aber nimmermehr darf man einen Dank abweisen (oder, was das Selbe ist, ihn kalt und conventionell annehmen). Diess beleidigt tief — und warum? 23 6.
S t r a f e . — Ein seltsames Ding, unsere Strafe! Sie reinigt nicht den Verbrecher, sie ist kein Abbüssen: im Gegentheil, sie beschmutzt mehr, als das Verbrechen selber.
237· E i n e P a r t e i n o t h . — Es giebt eine lächerliche, aber nicht ungefährliche Betriibniss fast in jeder Partei: an ihr leiden alle Die, welche die jahrelangen, treuen und ehrenwerthen Verfechter der Parteimeinung waren und plötzlich, eines Tages, merken, dass ein viel Mächtigerer die Trompete in die Hand genommen hat. Wie wollen sie es ertragen, stumm gemacht zu sein! Und so werden sie laut und mitunter in neuen Tönen.
238.
D a s S t r e b e n n a c h A n m u t h . — Wenn eine starke Natur nicht den Hang der Grausamkeit hat und nicht immer von sidi selber occupirt ist, so strebt sie unwillkürlich nach Α η m u t h , — diess ist ihr Abzeichen. Die schwachen Charaktere dagegen lieben die herben Urtheile, — sie gesellen sich zu den
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Morgenröthe
Helden der Menschenverachtung, zu den religiösen oder philosophischen Anschwärzern des Daseins oder ziehen sich hinter strenge Sitten und peinliche „Lebensberufe" zurück: so suchen sie sich einen Charakter und eine A r t Stärke zu schaffen. Und diess thun sie ebenfalls unwillkürlich.
239.
W i n k f ü r M o r a l i s t e n . — Unsere Musiker haben eine grosse Entdeckung gemacht: die i n t e r e s s a n t e Hässl i c h k e i t ist auch in ihrer Kunst möglich! Und so werfen sie sich in diesen eröffneten Ozean des Hässlichen, wie trunken, und noch niemals war es so leicht, Musik zu machen. Jetzt hat man erst den allgemeinen dunkelfarbigen Hintergrund gewonnen, auf dem ein noch so kleiner Lichtstreifen schöner Musik den Glanz von Gold und Smaragd erhält; jetzt wagt man erst den Zuhörer in Sturm, Empörung und ausser Athem zu bringen, um ihm nachher durch einen Augenblick des Hinsinkens in Ruhe ein Gefühl der Seligkeit zu geben, welches der Schätzung der Musik überhaupt zu Gute kommt. Man hat den Contrast entdeckt: jetzt erst sind die stärksten Effecte möglich — und w o h l f e i l : Niemand fragt mehr nach guter Musik. Aber ihr müsst euch beeilen! Es ist für jede Kunst nur eine kurze Spanne Zeit noch, wenn sie erst zu dieser Entdeckung gelangt ist. — Oh, wenn unsere Denker Ohren hätten, um in die Seelen unserer Musiker, vermittelst ihrer Musik, hineinzuhören! Wie lange muss man warten, ehe solch eine Gelegenheit sich wiederfindet, den innerlichen Menschen auf der bösen That und in der Unsdiuld dieser That zu ertappen! Denn unsere Musiker haben nicht den leisesten Geruch davon, dass sie ihre eigene Geschichte, die Geschichte der Verhässlichung der Seele, in Musik setzen. Ehemals musste der gute Musiker beinahe um seiner Kunst willen ein guter Mensch werden — . Und jetzt!
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240.
V o n d e r M o r a l i t ä t d e r S c h a u b ü h n e . — Wer da meint, Shakespeare's Theater wirke moralisch und der Anblick des Macbeth ziehe unwiderstehlich vom Bösen des Ehrgeizes ab, der irrt sich: und er irrt sich noch einmal, wenn er glaubt, Shakespeare selber habe so empfunden wie er. Wer wirklich vom rasenden Ehrgeiz besessen ist, sieht diess sein Bild mit L u s t ; und wenn der Held an seiner Leidenschaft zu Grunde geht, so ist diess gerade die schärfste Würze in dem heissen Getränke dieser Lust. Empfand es der Dichter denn anders? Wie königlich, und durchaus nicht schurkenhaft, läuft sein Ehrgeiziger vom Augenblick des grossen Verbrechens an seine Bahn! Erst von da ab zieht er „dämonisch" an und reizt ähnliche Naturen zur Nachahmung auf; — dämonisch heisst hier: zum Trotz g e g e n Vortheil und Leben, zu Gunsten eines Gedankens und Triebes. Glaubt ihr denn, Tristan und Isolde gäben dadurch eine Lehre g e g e n den Ehebruch, dass sie Beide an ihm zu Grunde gehen? Diess hiesse die Dichter auf den Kopf stellen: weldie, wie namentlich Shakespeare, verliebt in die Leidenschaften an sich sind, und nicht am geringsten in ihre t o d b e r e i t e n Stimmungen: — jene, wo das Herz nicht fester mehr am Leben hängt, als ein Tropfen am Glase. Nicht die Schuld und deren schlimmer Ausgang liegt ihnen am Herzen, dem Shakespeare so wenig wie dem Sophokles (im Ajax, Philoktet, Oedipus): so leicht es gewesen wäre, in den genannten Fällen die Schuld zum Hebel des Drama's zu madien, so bestimmt ist diess gerade vermieden. Ebensowenig will der Tragödiendichter mit seinen Bildern des Lebens g e g e n das Leben einnehmen! Er ruft vielmehr: „es ist der Reiz allen Reizes, dieses aufregende, wechselnde, gefährliche, düstere und oft sonnendurchglühte Dasein! Es ist ein A b e n t e u e r , zu leben, — nehmt diese oder jene Partei darin, immer wird es diesen Charakter behalten!" — So spricht er aus einer unruhigen und kraftvollen Zeit heraus, die von ihrer Überfülle an Blut und Energie
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Morgenröthe
halb trunken und betäubt ist, — aus einer böseren Zeit heraus, als die unsere ist: wesshalb wir nöthig haben, uns den Zweck eines Shakespearischen Drama's erst ζ u r e c h t und g e r e c h t zu machen, das heisst, es nicht zu verstehen.
241.
F u r c h t u n d I n t e l l i g e n z . — Wenn es wahr ist, was man jetzt des Bestimmtesten behauptet, dass die Ursache des schwarzen Hautpigmentes n i c h t im Lichte zu suchen sei: könnte es vielleicht die letzte Wirkung häufiger und durch Jahrtausende gehäufter Wuthanfälle sein (und Blutunterströmungen der Haut)? Während bei anderen i n t e l l i g e n t e r e n Stämmen das ebenso häufige Erschrecken und Bleichwerden endlich die weisse Hautfarbe ergeben hätte? — Denn der Grad der Furchtsamkeit ist ein Gradmesser der Intelligenz: und sich oft der blinden Wuth überlassen, das Zeichen davon, dass die Thierheit noch ganz nahe ist und sich wieder durchsetzen möchte. — Braun-grau wäre also wohl die Urfarbe des Menschen, — etwas Affen- und Bärenhaftes, wie billig.
242.
U n a b h ä n g i g k e i t . — Unabhängigkeit (in ihrer schwächsten Dosis „Gedankenfreiheit" benannt) ist die Form der Entsagung, welche der Herrschsüchtige endlich annimmt, — er, der lange Das gesucht hat, was er beherrschen könnte, und Nichts gefunden hat, als sich selber.
243.
D i e z w e i R i c h t u n g e n . — Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir endlich Nichts, als die Dinge auf ihm. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen
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wir zuletzt wieder auf Nichts, als auf den Spiegel. — Diess ist die allgemeinste Geschichte der Erkenntniss.
244.
F r e u d e a m W i r k l i c h e n . — Unser jetziger Hang zur Freude am Wirklichen — wir haben ihn fast Alle — ist nur daraus zu verstehen, dass wir so lange und bis zum Überdruss Freude am Unwirklichen gehabt haben. An sich ist es ein nicht unbedenklicher Hang, so wie er jetzt auftritt, ohne Wahl und Feinheit: — seine mindeste Gefahr ist die Geschmacklosigkeit.
245.
F e i n h e i t d e s M a c h t g e f ü h l s . — Napoleon ärgerte sich, schlecht zu sprechen, und belog sich hierüber nicht: aber seine Herrschsucht, die keine Gelegenheit verschmähte und feiner war, als sein feiner Geist, brachte ihn dahin, noch schlechter zu sprechen, a l s e r k o n n t e . So rächte er sich an seinem eignen Ärger (er war eifersüchtig auf alle seine Affecte, weil sie M a c h t hatten) und genoss sein autokratisches B e l i e b e n . Sodann, in Hinsicht auf Ohren und Urtheil der Hörenden, genoss er diess Belieben noch einmal: wie als ob so zu ihnen zu reden immer noch gut genug sei. Ja, er frohlockte im Geheimen bei dem Gedanken, durch Blitz und Donner der höchsten Autorität — welche im Bunde von Macht und Genialität liegt — das Urtheil zu betäuben und den Geschmack irrezuführen; während Beides in ihm kalt und stolz an der Wahrheit festhielt, dass er s c h l e c h t spreche. — Napoleon, als ein vollkommen zu Ende gedachter und ausgearbeiteter Typus Eines Triebes, gehört zu der antiken Menschheit: deren Merkmale — der einfache Aufbau und das erfinderische Ausbilden und Ausdichten Eines Motivs oder weniger Motive — leicht genug zu erkennen sind.
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246.
A r i s t o t e l e s u n d d i e E h e . — Bei den Kindern der grossen Genie's bricht der Wahnsinn heraus, bei den Kindern der grossen Tugendhaften der Stumpfsinn — bemerkt Aristoteles. Wollte er damit die Ausnahme-Menschen zur Ehe einladen? 247.
H e r k u n f t des s c h l e c h t e n T e m p e r a m e n t s . — Das Ungerechte und Sprunghafte im Gemüth mancher Menschen, ihre Unordnung und Maasslosigkeit sind die letzten Folgen unzähliger logischer Ungenauigkeiten, Ungründlichkeiten und übereilter Schlüsse, welcher sich ihre Vorfahren schuldig gemacht haben. Die Menschen mit gutem Temperament dagegen stammen aus Überlegsamen und gründlichen Geschlechtern, welche die Vernunft hochgestellt haben, — ob zu löblichen oder bösen Zwecken, das kommt nicht so sehr in Betracht.
248.
V e r s t e l l u n g a l s P f l i c h t . — Am meisten ist die Güte durch die lange Verstellung, weldhe Güte zu scheinen suchte, entwickelt worden: überall, wo grosse Macht bestand, wurde die Nothwendigkeit gerade dieser Art von Verstellung eingesehen, — sie flösst Sicherheit und Vertrauen ein und verhundertfacht die wirkliche Summe der physischen Macht. Die Lüge ist, wenn nicht die Mutter, so doch die Amme der Güte. Die Ehrlichkeit ist ebenfalls am meisten durch die Anforderung eines Anscheins der Ehrlichkeit und Biederkeit grossgezogen worden: in den erblichen Aristokratien. Aus der dauernden Übung einer Verstellung entsteht zuletzt N a t u r : die Verstellung hebt sich am Ende selber auf, und Organe und Instincte sind die kaum erwarteten Früchte im Garten der Heuchelei.
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245».
W e r i s t d e n n j e a l l e i n ! — Der Furchtsame weiss nicht, was Alleinsein ist: hinter seinem Stuhle steht immer ein Feind. — Oh, wer die Geschichte jenes feinen Gefühls, welches Einsamkeit heisst, uns erzählen könnte!
250.
N a c h t u n d M u s i k . — Das Ohr, das Organ der Furdit, hat sich nur in der Nacht und in der Halbnacht dunkler Wälder und Höhlen so reich entwickeln können, wie es sich entwickelt hat, gemäss der Lebensweise des furchtsamen, das heisst des allerlängsten menschlichen Zeitalters, welches es gegeben hat: im Hellen ist das Ohr weniger nöthig. Daher der Charakter der Musik, als einer Kunst der Nacht und Halbnacht.
251.
S t o i s c h . — Es giebt eine Heiterkeit des Stoikers, wenn er sich von dem Ceremoniell beengt fühlt, das er selber seinem Wandel vorgeschrieben hat, er geniesst sich dabei als Herrschenden. 252.
M a n e r w ä g e ! — Der gestraft wird, ist nicht mehr Der, welcher die That gethan hat. Er ist immer der Sündenbock.
253·
A u g e n s c h e i n . — Schlimm! Schlimm! Was man am besten, am hartnäckigsten beweisen muss, das ist der Augenschein. Denn Allzuvielen fehlen die Augen, ihn zu sehen. Aber es ist so langweilig!
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Morgenröthe 254.
D i e V o r w e g n e h m e n d e n . — Das Auszeichnende, aber audi Gefährliche in den dichterischen Naturen ist ihre e r s c h ö p f e n d e Phantasie: die, welche Das, was wird und werden könnte, vorweg nimmt, vorweg geniesst, vorweg erleidet und im endlichen Augenblick des Geschehens und der That bereits m ü d e ist. Lord Byron, der diess Alles zu gut kannte, schrieb in sein Tagebuch: „Wenn ich einen Sohn habe, so soll er etwas ganz Prosaisches werden — Jurist oder Seeräuber."
255· G e s p r ä c h ü b e r M u s i k . — A : Was sagen Sie zu dieser Musik? — B: Sie hat mich überwältigt, ich habe gar Nichts zu sagen. Horch! D a beginnt sie von Neuem! — A : Um so besser! Sehen wir zu, dass w i r sie diessmal überwältigen. Darf ich einige Worte zu dieser Musik machen? Und Ihnen auch ein Drama zeigen, welches Sie vielleicht beim ersten Hören nicht sehen wollten? — B: Wohlan! ich habe zwei Ohren und mehr, wenn es nöthig ist. Rücken Sie dicht an mich heran! — A : — Diess ist es noch nicht, was er uns sagen will, er verspricht bisher nur, dass er Etwas sagen werde, etwas Unerhörtes, wie er mit diesen Gebärden zu verstehen giebt. Denn Gebärden sind es. Wie er winkt! sich hoch aufrichtet! die Arme wirft! Und jetzt scheint ihm der höchste Augenblick der Spannung gekommen: noch zwei Fanfaren, und er führt sein Thema vor, prächtig und geputzt, wie klirrend von edlen Steinen. Ist es eine schöne Frau? Oder ein schönes Pferd? Genug, er sieht entzückt um sich, denn er hat Blicke des Entzückens zu sammeln, — jetzt erst gefällt ihm sein Thema ganz, jetzt wird er erfindsam, wagt neue und kühne Züge. Wie er sein Thema heraustreibt! A h ! Geben Sie Acht, — er versteht nicht nur, es zu schmücken, sondern auch zu s c h m i n k e n ! Ja, er weiss, was Farbe der Gesundheit ist, er versteht sich darauf, sie erscheinen zu lassen, — er ist
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feiner in seiner Selbstkenntniss, als ich dachte. Und jetzt ist er überzeugt, dass er seine Hörer überzeugt hat, er giebt seine Einfalle, als seien es die wichtigsten Dinge unter der Sonne, er hat unverschämte Fingerzeige auf sein Thema, als sei es zu gut für diese Welt. — Ha, wie misstrauisch er ist! Dass wir nur nicht müde werden! So verschüttet er seine Melodien unter Süssigkeiten, — jetzt ruft er sogar unsere gröberen Sinne an, um uns aufzuregen und so wieder unter seine Gewalt zu bringen! Hören Sie, wie er das Elementarische stürmischer und donnernder Rhythmen beschwört! Und jetzt, da er merkt, dass diese uns fassen, würgen und beinahe zerdrücken, wagt er es, sein Thema wieder in's Spiel der Elemente zu mischen und uns Halbbetäubte und Erschütterte zu ü b e r r e d e n , unsere Betäubung und Erschütterung sei die Wirkung seines Wunder-Thema's. Und fürderhin glauben es ihm die Zuhörer: sobald es erklingt, entsteht in ihnen eine Erinnerung an jene erschütternde Elementarwirkung, — diese Erinnerung kommt jetzt dem Thema zu Gute, — es ist nun „dämonisch" geworden! Was für ein Kenner der Seele er ist! Er gebietet mit den Künsten eines Volksredners über uns. — Aber die Musik verstummt! — B: Und gut, dass sie es thut! denn ich kann es nicht mehr ertragen, S i e zu hören! Zehnmal lieber will ich doch mich t ä u s c h e n l a s s e n , als Einmal in Ihrer Art die Wahrheit zu wissen! — A: Diess ist es, was ich von Ihnen hören wollte. So, wie Sie, sind die Besten jetzt: ihr seid zufrieden damit, euch täuschen zu lassen! Ihr kommt mit groben und lüsternen Ohren, ihr bringt das Gewissen der Kunst zum Hören nicht mit, ihr habt eure f e i n s t e R e d l i c h k e i t unterwegs weggeworfen! Und damit verderbt ihr die Kunst und die Künstler! Immer, wenn ihr klatsdit und jubelt, habt ihr das Gewissen der Künstler in den Händen, — und wehe, wenn sie merken, dass ihr zwischen unschuldiger und schuldiger Musik nicht unterscheiden könnt! Ich meine wahrlich nicht „gute" und „schlechte" Musik, — von dieser und jener giebt es in beiden Arten! Aber ich nenne eine u n s c h u l d i g e M u s i k jene, welche ganz und
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gar nur an sich denkt, an sich glaubt, und über sich die Welt vergessen hat, — das Von-selber-Ertönen der tiefsten Einsamkeit, die über sich mit sich redet und nicht mehr weiss, dass es Körer und Lauscher und Wirkungen und Missverständnisse und Misserfolge da draussen giebt. — Zuletzt: die Musik, welche wir eben hörten, i s t gerade von dieser edlen und seltenen Art, und Alles, was ich von ihr sagte, war erlogen, — verzeihen Sie meine Bosheit, wenn Sie Lust haben! — B: Oh, Sie lieben also d i e s e Musik auch? Dann sind Ihnen viele Sünden vergeben!
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G l ü c k d e r B ö s e n . — Diese stillen, düsteren, bösen Menschen haben Etwas, das ihr ihnen nicht streitig machen könnt, einen seltenen und seltsamen Genuss im dolce far niente, eine Abend- und Sonnenuntergangs-Ruhe, wie sie nur ein Herz kennt, das allzu oft durch Affecte verzehrt, zerrissen, vergiftet worden ist.
25 7W o r t e i n u n s g e g e n w ä r t i g . — Wir drücken unsere Gedanken immer mit den Worten aus, die uns zur Hand sind. Oder um meinen ganzen Verdacht auszudrücken: wir haben in jedem Momente eben nur den Gedanken, für welchen uns die Worte zur Hand sind, die ihn ungefähr auszudrücken vermögen.
258.
D e m H u n d e s c h m e i c h e l n . — Man muss diesem Hunde nur einmal das Fell streichen: sofort knistert er und sprüht Funken, wie jeder andere Schmeichler — und ist geistreich auf seine Art. Warum sollten wir ihn nicht so ertragen!
Viertes Buch 255—262
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259·
D e r e h e m a l i g e L o b r e d n e r . — „Er ist stumm über mich geworden, obwohl er die Wahrheit jetzt weiss und sie sagen könnte. Aber sie würde wie Rache klingen — und er achtet die Wahrheit so hoch, der Achtungswürdige!"
260.
A m u l e t d e r A b h ä n g i g e n . — Wer unvermeidlich von einem Gebieter abhängig ist, soll Etwas haben, wodurdi er Furcht einflösst und den Gebieter im Zaume hält, zum Beispiel Rechtschaffenheit oder Aufrichtigkeit oder eine böse Zunge.
261.
W a r u m so e r h a b e n ! — Oh, ich kenne diess Gethier! Freilich gefällt es sich selber besser, wenn es auf zwei Beinen „wie ein Gott" daherschreitet, — aber wenn es wieder auf seine vier Füsse zurückgefallen ist, gefällt es mir besser: diess steht ihm so unvergleichlich natürlicher!
262.
D e r D ä m o n d e r M a c h t . — Nicht die Nothdurfl, nicht die Begierde, — nein, die Liebe zur Macht ist der Dämon der Menschen. Man gebe ihnen Alles, Gesundheit, Nahrung, Wohnung, Unterhaltung, — sie sind und bleiben unglücklich und grillig: denn der Dämon wartet und wartet und will befriedigt sein. Man nehme ihnen Alles und befriedige diesen: so sind sie beinahe glücklich, — so glücklich als eben Menschen und Dämonen sein können. Aber warum sage ich diess noch? Luther hat es schon gesagt, und besser als ich, in den Versen: „Nehmen sie uns den Leib, Gut, Ehr', Kind und Weib: lass fahren dahin, — das Reich muss uns doch bleiben!" Ja! Ja! Das „Reich"!
212
Morgenröthe 263.
Der
Widerspruch
leibhaft
und
beseelt.
—
Im sogenannten Genie ist ein physiologischer Widerspruch: es besitzt einmal viele wilde, unordentliche, unwillkürliche Bewegung und sodann wiederum viele höchste Zweckthätigkeit der Bewegung, — dabei ist ihm ein Spiegel zu eigen, der beide Bewegungen neben einander und in einander, aber auch oft genug wider einander zeigt. In Folge dieses Anblicks ist es oft unglücklich, und wenn es ihm am wohlsten wird, im Schaffen, so ist es, weil es vergisst, dass es gerade jetzt mit höchster Zweckthätigkeit etwas Phantastisches und Unvernünftiges thut (das ist alle Kunst) — thun muss.
264.
Sich
irren
wollen. —
Neidische Menschen mit fei-
nerer Witterung suchen ihren Rivalen nicht genauer kennen zu lernen, um sich ihm überlegen fühlen zu können.
265.
D a s T h e a t e r h a t s e i n e Z e i t . — Wenn die Phantasie eines Volkes nachlässt, entsteht der H a n g in ihm, seine Sagen sich auf der Bühne vorführen zu lassen, jetzt e r t r ä g t es die groben Ersatzstücke der Phantasie, — aber für jenes Zeitalter, dem der epische Rhapsode zugehört, ist das Theater und der als H e l d verkleidete Schauspieler ein Hemmschuh anstatt ein Flügel der Phantasie: zu nah, zu bestimmt, zu schwer, zu wenig Traum und Vogelflug.
266.
Ohne
A n m u t h . — Er hat einen Mangel an Anmuth,
und weiss es: oh, wie er es versteht, diess zu maskiren! Durch strenge Tugend, durch Düsterkeit des Blickes, durch angenoni-
Viertes Buch 263—270
213
menes Misstrauen gegen die Menschen und das Dasein, durch derbe Possen, durch Verachtung der feineren Lebensart, durch Pathos und Ansprüche, durch cynische Philosophie, — ja, er ist zum Charakter geworden, im steten Bewusstsein seines Mangels.
267.
W a r u m so s t o l z ! — Ein edler Charakter unterscheidet sich von einem gemeinen dadurch, dass er eine Anzahl Gewohnheiten und Gesichtspuncte n i c h t z u r H a n d h a t , wie jener: sie sind ihm zufällig nicht vererbt und nicht anerzogen. 268.
S c y l l a u n d C h a r y b d i s d e s R e d n e r s . — Wie schwer war es in Athen, so zu sprechen, dass man die Zuhörer f ü r die Sache gewann, ohne sie d u r c h d i e F o r m abzustossen oder von der Sache mit ihr abzuziehen! Wie schwer ist es noch in Frankreich, so zu schreiben!
269.
D i e K r a n k e n u n d d i e K u n s t . — Gegen jede Art von Trübsal und Seelen-Elend soll man zunächst versuchen: Veränderung der Diät und körperliche derbe Arbeit. Aber die Menschen sind gewohnt, in diesem Falle nach Mitteln der Berauschung zu greifen: zum Beispiel nach der Kunst, — zu ihrem und der Kunst Unheil! Merkt ihr nicht, dass, wenn ihr als Kranke nach der Kunst verlangt, ihr die Künstler krank macht?
270.
A n s c h e i n e n d e T o l e r a n z . — Es sind diess gute, wohlwollende, verständige Worte über und für die Wissenschaft,
214
Morgenröthe
aber! aber! ich sehe h i n t e r diese eure Toleranz gegen die Wissenschaft! Im Winkel eures Herzens meint ihr trotz alledem, s i e s e i e u c h n i c h t n ö t h i g , es sei grossmüthig von euch, sie gelten zu lassen, ja, ihre Fürsprecher zu sein, zumal die Wissenschaft gegen eure Meinungen nicht diese Grossmuth übe! Wisst ihr, dass ihr gar kein Recht zu dieser ToleranzÜbung habt? dass diese huldreiche Gebärde eine gröbere Verunglimpfung der Wissenschaft ist, als ein offener Hohn, welchen sich irgend ein übermüthiger Priester oder Künstler gegen sie erlaubt? Es fehlt euch jenes strenge Gewissen für Das, was wahr und wirklich ist, es quält und martert euch nicht, die Wissenschaft im Widerspruch mit euren Empfindungen zu finden, ihr kennt die gierige Sehnsucht der Erkenntniss nicht als ein Gesetz über euch waltend, ihr fühlt keine Pflicht in dem Verlangen, mit dem Auge überall gegenwärtig zu sein, w ο erkannt wird, Nichts sich entschlüpfen zu lassen, w a s erkannt ist. Ihr k e n n t D a s n i c h t , was ihr so tolerant behandelt! Und nur, w e i l ihr es nicht kennt, gelingt es euch, so gnädige Mienen anzunehmen! Ihr, gerade ihr würdet erbittert und fanatisch blicken, wenn die Wissenschaft euch einmal in's Gesicht leuchten wollte, mit i h r e n Augen — Was kümmert es uns also, dass ihr Toleranz übt — gegen ein P h a n t o m ! und nicht einmal gegen uns! Und was liegt an uns!
271.
D i e F e s t s t i m m u n g . — Gerade für jene Menschen, welche am hitzigsten nach Macht streben, ist es unbeschreiblich angenehm, sich ü b e r w ä l t i g t zu fühlen! Plötzlich und tief in ein Gefühl, wie in einen Strudel hinabzusinken! Sich die Zügel aus der Hand reissen zu lassen, und einer Bewegung wer weiss wohin? zuzusehen! Wer es ist, was es ist, das uns diesen Dienst leistet, — es ist ein grosser Dienst: wir sind so glücklich und athemlos und fühlen eine Ausnahme-Stille um uns wie
Viertes Buch
270—272
215
im mittelsten Grunde der Erde. Einmal ganz ohne Macht! Ein Spielball von Urkräften! Es ist eine Ausspannung in diesem Glück, ein Abwerfen der grossen Last, ein Abwärtsrollen ohne Mühen wie in blinder Schwerkraft. Es ist der Traum des Bergsteigers, der sein Z i e l zwar oben hat, aber unterwegs aus tiefer Müdigkeit einmal einschläft und vom G l ü c k d e s G e g e n s a t z e s — eben vom mühelosesten Abwärtsrollen — träumt. — Ich beschreibe das Glück, wie ich es mir bei unserer jetzigen gehetzten, machtdürstigen Gesellschaft Europa's und Amerika's denke. Hier und da wollen sie einmal in die O h n m a c h t zurücktaumeln, — diesen Genuss bieten ihnen Kriege, Künste, Religionen, Genie's. Wenn man sich einem Alles verschlingenden und zerdrückenden Eindruck einmal zeitweilig überlassen hat—es ist die moderne F e s t s t i m m u n g ! — dann ist man wieder freier, erholter, kälter, strenger und strebt unermüdlich nach dem Gegentheil weiter: nach M a c h t . —
272. D i e R e i n i g u n g d e r R a s s e . — Es giebt wahrscheinlich keine reinen, sondern nur reingewordene Rassen, und diese in grosser Seltenheit. Das Gewöhnliche sind die gekreuzten Rassen, bei denen sich immer, neben der Disharmonie von Körperformen (zum Beispiel wenn Auge und Mund nicht zu einander stimmen), auch Disharmonien der Gewohnheiten und Werthbegriffe finden müssen. (Livingstone hörte Jemand sagen: „Gott schuf weisse und schwarze Menschen, der Teufel aber schuf die Halbrassen".) Gekreuzte Rassen sind stets zugleich auch gekreuzte Culturen, gekreuzte Moralitäten: sie sind meistens böser, grausamer, unruhiger. Die Reinheit ist das letzte Resultat von zahllosen Anpassungen, Einsaugungen und Ausscheidungen, und der Fortschritt zur Reinheit zeigt sich darin, dass die in einer Rasse vorhandene Kraft sich immer mehr auf einzelne ausgewählte Functionen b e s c h r ä n k t , während sie
216
Morgen röthe
vordem zu viel und oft Widersprechendes zu besorgen hatte: eine solche Beschränkung wird sich immer zugleich audi wie eine V e r a r m u n g ausnehmen und will vorsichtig und zart beurtheilt sein. Endlich aber, wenn der Process der Reinigung gelungen ist, steht alle jene Kraft, die früher bei dem Kampfe der disharmonischen Eigenschaften daraufgieng, dem gesammten Organismus zu Gebote: wesshalb rein gewordene Rassen immer auch s t ä r k e r und s c h ö n e r geworden sind. — Die Griechen geben uns das Muster einer reingewordenen Rasse und Cultur: und hoffentlich gelingt einmal auch eine reine europäische Rasse und Cultur.
27 3· D a s L o b e n . — Hier ist Einer, dem du anmerkst, dass er dich l o b e n will: du beisst die Lippen zusammen, das Herz wird geschnürt: ach, dass d e r Kelch vorübergienge! Aber er geht nicht, er kommt! Trinken wir also die süsse Unverschämtheit des Lobredners, überwinden wir den Ekel und die tiefe Verachtung für den Kern seines Lobes, ziehen wir die Falten der dankbaren Freude über's Gesicht! — er hat uns ja wohlthun wollen! Und jetzt, nachdem es geschehen, wissen wir, dass er sich sehr erhaben fühlt, er hat einen Sieg über uns errungen, — ja! und auch über sich selber, der Hund! — denn es wurde ihm nicht leicht, sich diess Lob abzuringen.
274.
M e n s c h e n r e c h t u n d - V o r r e c h t . — Wir Menschen sind die einzigen Geschöpfe, welche, wenn sie missrathen, sich selber durchstreichen können wie einen missrathenen Satz, — sei es, dass wir diess zur Ehre der Menschheit oder aus Mitleiden mit ihr oder aus Widerwillen gegen uns thun.
Viertes Buch 2 7 2 — 2 7 8
217
275·
D e r V e r w a n d e l t e . — Jetzt wird er tugendhaft, nur um Anderen wehe damit zu thun. Seht nicht soviel nach ihm hin!
276.
W i e o f t ! W i e u n v e r h o f f t ! — Wie viele verheirathete Männer haben den Morgen erlebt, wo es ihnen tagte, dass ihre junge Gattin langweilig ist und das Gegentheil glaubt! Gar nicht zu reden von jenen Weibern, deren Fleisch willig und deren Geist schwach ist! 277·
W a r m e u n d k a l t e T u g e n d e n . — Den Muth als kalte Herzhaftigkeit und Unerschütterlichkeit und den Muth als hitzige, halbblinde Bravour, — beides nennt man mit Einem Namen! Wie verschieden sind doch die k a l t e n T u g e n d e n von den w a r m e n ! Und Narr wäre Der, welcher meinte, das „Gutsein" werde nur durch die Wärme hinzugethan: und kein geringerer Narr Der, welcher es nur der Kälte zuschreiben wollte! Die Wahrheit ist, dass die Menschheit den warmen und den kalten Muth sehr nützlich gefunden hat, und überdiess nicht häufig genug, um ihn nicht in beiden Farben unter die Edelsteine zu rechnen. 278.
D a s v e r b i n d l i c h e G e d ä c h t n i s s . — Wer einen hohen Rang hat, thut gut, sich ein verbindliches Gedächtniss anzuschaffen, das heisst, sich von den Personen alles mögliche Gute zu merken und dahinter einen Strich zu machen: damit hält man sie in einer angenehmen Abhängigkeit. So kann der Mensch auch mit sich selber verfahren: ob er ein verbindliches Gedächtniss hat oder nicht, das entscheidet zuletzt über seine eigene Hai-
218
Morgenröthe
tung zu sich selber, über die Vornehmheit, Güte oder das Misstrauen bei der Beobachtung seiner Neigungen und Absichten und zuletzt wieder über die A r t der Neigungen und Absichten selber.
279· W o r i n w i r K ü n s t l e r w e r d e n . — Wer Jemanden zu seinem Abgott macht, versucht, sich vor sich selber zu rechtfertigen, indem er ihn in's Ideal erhebt; er wird zum Künstler daran, um ein gutes Gewissen zu haben. Wenn er leidet, so leidet er nicht am N i c h t w i s s e n , sondern am Sich-belügen, als ob er nicht wüsste. — D i e innere Noth und Lust eines solchen Menschen — und alle leidenschaftlich Liebenden gehören dazu — ist mit gewöhnlichen Eimern nicht auszuschöpfen.
280.
K i n d l i c h . — Wer lebt, wie die Kinder — also nicht um sein Brod kämpft und nicht glaubt, dass seinen Handlungen eine endgültige Bedeutung zukomme — bleibt kindlich.
281.
D a s I c h w i l l A l l e s h a b e n . — Es scheint, dass der Mensch überhaupt nur handelt, u m zu besitzen: wenigstens legen die Sprachen diesen Gedanken nahe, welche alles vergangene Handeln so betrachten, als ob wir damit Etwas besässen („ich h a b e gesprochen, gekämpft, gesiegt": das ist, ich bin nun im Besitze meines Spruches, Kampfes, Sieges). Wie habsüchtig nimmt sich hierbei der Mensch aus! Selbst die Vergangenheit sich nicht entwinden lassen, gerade auch sie noch h a b e n wollen!
Viertes Buch 2 7 8 — 2 8 6
219
282.
G e f a h r in d e r S c h ö n h e i t . — Diese Frau ist schön und klug: ach, wie viel klüger aber würde sie geworden sein, wenn sie nicht schön wäre! 283.
H a u s f r i e d e n u n d S e e l e n f r i e d e n . — Unsere gewöhnliche Stimmung hängt von der Stimmung ab, in der wir unsere Umgebung zu erhalten wissen.
284.
D a s N e u e a l s a l t v o r b r i n g e n . — Viele erscheinen gereizt, wenn man ihnen eine Neuigkeit erzählt, sie empfinden das Übergewicht, welches die Neuigkeit Dem giebt, der sie früher weiss. 285.
W o h ö r t d a s I c h a u f ? — Die Meisten nehmen eine Sache, die sie w i s s e n , unter ihre Protection, wie als ob das Wissen sie schon zu ihrem Eigenthum mache. Die Aneignungslust des Ichgefühls hat keine Gränzen: die grossen Männer reden so, als ob die ganze Zeit hinter ihnen stünde und sie der Kopf dieses langen Leibes seien, und die guten Frauen rechnen sich die Schönheit ihrer Kinder, ihrer Kleider, ihres Hundes, ihres Arztes, ihrer Stadt zum Verdienste und wagen es nur nidit, zu sagen „das Alles bin ich". Chi non ha, non e — sagt man in Italien.
286.
H a u s - und Schoossthiere und V e r w a n d t e s . — Giebt es etwas Ekelhafteres, als die Sentimentalität gegen Pflanzen und Thiere, von Seiten eines Geschöpfes, das wie der wü-
220
Morgenröthe
thendste Feind von Anbeginn unter ihnen gehaust hat und zuletzt bei seinen geschwächten und verstümmelten Opfern gar noch auf zärtliche Gefühle Anspruch erhebt! Vor dieser Art „Natur" geziemt dem Menschen vor Allem E r n s t , wenn anders er ein denkender Mensch ist.
287.
Z w e i F r e u n d e . — Es waren Freunde, aber sie haben aufgehört, es zu sein, und sie knüpften von beiden Seiten zugleich ihre Freundschaft los, der Eine, weil er sich zu sehr verkannt glaubte, der Andere, weil er sich zu sehr erkannt glaubte — und Beide haben sich dabei getäuscht! — denn Jeder von ihnen kannte sich selber nicht genug.
288.
K o m ö d i e d e r E d l e n . — Die, welchen die edle herzliche Vertraulichkeit nicht gelingt, versuchen es, ihre edle Natur durch Zurückhaltung und Strenge und eine gewisse Geringschätzung der Vertraulichkeit errathen zu lassen: wie als ob das starke Gefühl ihres Vertrauens Scham hätte, sich zu zeigen.
289.
Wo man N i c h t s gegen eine T u g e n d s a g e n d a r f . — Unter den Feiglingen ist es von schlechtem Tone, etwas gegen die Tapferkeit zu sagen, und erregt Verachtung; und rücksichtslose Menschen zeigen sich erbittert, wenn Etwas gegen das Mitleiden gesagt wird. 290.
E i n e V e r g e u d u n g . — Bei erregbaren und plötzlichen Naturen sind die ersten Worte und Handlungen meisthin u η -
Viertes Budi 286—292
221
b e z e i c h n e n d für ihren eigentlichen Charakter (sie werden durch die Umstände eingegeben und sind gleichsam Nachahmungen vom Geiste der Umstände), aber weil sie einmal gesprochen und gethan sind, so müssen die später nachkommenden eigentlichen Charakterworte und Charakterhandlungen häufig im Ausgleichen oder im Wieder-gut- oder -vergessen-Machen daraufgehen. 291. A n m a a s s u n g . — Anmaassung ist ein gespielter und erheuchelter Stolz; dem Stolze aber ist gerade eigenthümlich, dass er kein Spiel, keine Verstellung und Heuchelei kann und mag, — insofern ist die Anmaassung die Heudielei der Unfähigkeit zur Heudielei, etwas sehr Schweres und meist Misslingendes. Gesetzt aber, dass er sich, wie gewöhnlich geschieht, dabei verräth, so erwartet den Anmaassenden eine dreifache Unannehmlichkeit: man zürnt ihm, weil er uns betrügen will, und zürnt ihm, weil er sich über uns hat erhaben zeigen wollen, — und zuletzt lacht man noch über ihn, weil ihm Beides missrathen ist. Wie sehr ist also von der Anmaassung abzurathen!
292. E i n e A r t V e r k e n n u n g . — Wenn wir Jemanden sprechen hören, so genügt oft der Klang eines einzigen Consonanten (zum Beispiel eines r), um uns einen Zweifel über die Ehrlichkeit seiner Empfindung einzuflössen: w i r sind diesen Klang nicht gewöhnt und würden ihn m a c h e n müssen, mit Willkür, — er klingt uns „gemacht". Hier ist ein Gebiet der gröbsten Verkennung: und das Selbe gilt vom Stile eines Schriftstellers, der Gewohnheiten hat, welche nicht aller Welt Gewohnheiten sind. Seine „Natürlichkeit" wird nur von ihm als solche empfunden, und gerade mit dem, was er selber als „ge-
222
Morgenröthe
macht" fühlt, weil er damit einmal der Mode und dem sogenannten „guten Geschmacke" nachgegeben hat, gefällt er vielleicht und erregt Zutrauen.
29 3.
5
D a n k b a r . — Ein Gran dankbaren Sinnes und Pietät zu v i e l : — u n d man leidet daran wie an einem Laster und geräth mit seiner ganzen Selbständigkeit und Redlichkeit unter das böse Gewissen. 294.
0
H e i l i g e . — Die s i n n l i c h s t e n Männer sind es, welche vor den Frauen fliehn und den Leib martern m ü s s e n .
295.
F e i n h e i t d e s D i e n e n s . — Innerhalb der grossen Kunst des Dienens gehört es zu den feinsten Aufgaben, einem unbän15 dig Ehrgeizigen zu dienen, der zwar der stärkste Egoist in Allem ist, aber durchaus nicht dafür gelten will (es ist diess gerade ein Stück seines Ehrgeizes), dem Alles nach Willen und Laune geschehen muss und doch immer so, dass es den Anschein hat, als ob er sich aufopferte und selten für sich selber Etwas wollte.
20
296.
D a s D u e l l . — Ich erachte es als einen Vortheil, sagte Jemand, ein Duell haben zu können, wenn ich durchaus eines nöthig habe; denn es giebt allezeit brave Kameraden um mich. Das Duell ist der letzte übrig gebliebene, völlig ehrenvolle Weg 25 zum Selbstmord, leider ein Umschweif, und nicht einmal ein ganz sicherer.
Viertes Buch 2 9 2 — 2 9 8
223
297·
V e r d e r b l i c h . — Man verdirbt einen Jüngling am sichersten, wenn man ihn anleitet, den Gleichdenkenden höher zu achten, als den Andersdenkenden.
298.
Der H e r o e n - C u l t u s und seine Fanatiker. — Der Fanatiker eines Ideals, welches Fleisch und Blut hat, ist gewöhnlich so lange im Rechte, als er v e r n e i n t , und er ist furchtbar darin: er kennt das Verneinte so gut wie sich selber, aus dem einfachsten Grunde, dass er von dorther kommt, dort zu Hause ist und sich im Geheimen immer fürchtet, dorthin noch zurückzumüssen, — er will sich die Rückkehr unmöglich machen, durch die Art, wie er verneint. Sobald er aber bejaht, macht er die Augen halb zu und fängt an zu idealisiren (häufig auch nur, um den zu Hause Gebliebenen damit wehe zu thun — ); man nennt diess wohl etwas Künstlerisches, — gut, aber es ist auch etwas Unredliches daran. Der Idealist einer Person stellt sich diese Person so in die Ferne, dass er sie nicht mehr scharf sehen kann — und nun deutet er, was er noch sieht, in's „Schöne" um, das will sagen: in's Symmetrische, Weichlinienhafte, Unbestimmte. Da er sein in der Ferne und Höhe schwebendes Ideal nunmehr auch anbeten will, so hat er, zum Schutze vor dem profanum vulgus, nöthig, einen Tempel für seine Anbetung zu bauen. Hierhin bringt er alle ehrwürdigen und geweihten Gegenstände, die er sonst noch besitzt, damit deren Zauber audi noch dem Ideal zu Gute komme und es in dieser N a h r u n g wachse und immer göttlicher werde. Zuletzt hat er wirklich seinen Gott fertig gemacht, — aber wehe! es giebt Einen, der darum weiss, wie das zugegangen ist, sein intellectuelles Gewissen, — und es giebt auch Einen, der dagegen, ganz unbewusst, protestirt, nämlich der Vergöttlichte selber, der nunmehr, in Folge von Cultus, Lobgesang und
224
Morgenröthe
Weihrauch, unausstehlich wird und augenscheinlich in abscheulicher Weise sich als Nicht-Gott und All-zu-sehr-Mensch verräth. Hier bleibt nun einem solchen Fanatiker nur noch Ein Ausweg: er lässt sich und seines Gleichen geduldig misshandeln und interpretirt das ganze Elend auch noch in majorem dei gloriam, durch eine neue Gattung von Selbstbetrug und edler Lüge: er nimmt gegen sich Partei und empfindet, als Gemisshandelter und als Interpret, dabei Etwas wie ein Martyrium, — so steigt er auf den Gipfel seines Dünkels. — Menschen dieser Art lebten zum Beispiel um N a p o l e o n : ja vielleicht ist gerade er es, der die romantische dem Geiste der Aufklärung fremde Prostration vor dem „Genie" und dem „Heros" unserem Jahrhundert in die Seele gegeben hat, er, vor dem ein Byron sich nicht zu sagen schämte, er sei ein „Wurm gegen solch ein Wesen". (Die Formeln einer solchen Prostration sind von jenem alten anmaasslichen Wirr- und Murrkopfe, Thomas Carlyle, gefunden worden, der ein langes Leben darauf verwendet hat, die Vernunft seiner Engländer romantisch zu machen: umsonst!)
2 99. A n s c h e i n d e s H e r o i s m u s . — Sich mitten unter die Feinde werfen, kann das Merkmal der Feigheit sein.
300.
G n ä d i g g e g e n d e n S c h m e i c h l e r . — Die letzte Klugheit der unersättlich Ehrgeizigen ist, ihre Menschenverachtung nicht merken zu lassen, welche der Anblick der Schmeichler ihnen einflösst: sondern gnädig auch gegen sie zu erscheinen, wie ein Gott, der nicht anders als gnädig sein kann.
Viertes Buch 2 9 8 — 3 0 3
225
301. „ C h a r a k t e r v o l l " . — „Was ich einmal gesagt habe, das thue ich" — diese Denkweise gilt als charaktervoll. Wie viele Handlungen werden gethan, nicht weil sie als die vernünftigsten ausgewählt worden sind, sondern weil sie, als sie uns einfielen, auf irgend welche Art unsere Ehrsucht und Eitelkeit gereizt haben, sodass wir dabei verbleiben und sie blindlings durchsetzen! So mehren sie bei uns selber den Glauben an unseren Charakter und unser gutes Gewissen, also, im Ganzen, unsere K r a f t : während das Auswählen des möglichst Vernünftigen die Skepsis gegen uns und dermaassen ein Gefühl der Schwäche in uns unterhält.
302. E i n m a l , z w e i m a l u n d d r e i m a l w a h r ! — Die Menschen lügen unsäglich oft, aber sie denken hinterher nicht daran und glauben im Ganzen nicht daran.
303. K u r z w e i l d e s M e n s c h e n k e n n e r s . — Er glaubt mich zu kennen und fühlt sich fein und wichtig, wenn er so und so mit mir verkehrt: ich hüte midi, ihn zu enttäuschen. Denn ich würde es zu entgelten haben, während er mir jetzt w o h l w i l l , da ich ihm ein Gefühl der wissenden Überlegenheit verschaffe. — D a ist ein Anderer: der fürchtet sich, dass ich mir einbilde, ihn zu kennen, und sieht sich dabei erniedrigt. So beträgt er sich schauerlich und unbestimmt und sucht midi über sich in die Irre zu führen, — um sich über mich wieder zu erheben.
226
Morgenröthe 304.
Die
Welt-Vernichter.
—
Diesem
gelingt
Etwas
nicht; schliesslich ruft er empört aus: „so möge doch die ganze Welt zu Grunde gehen!" Dieses abscheuliche G e f ü h l ist der G i p f e l des Neides, welcher folgert: weil ich E t w a s haben kann, soll alle Welt N i c h t s
nicht
haben! soll alle W e l t
Nichts s e i n ! 305.
G e i z . — Unser Geiz beim K a u f e n nimmt mit der Wohlfeilheit der Gegenstände zu, — warum? Ist es, dass die kleinen Preis-Unterschiede
eben
erst
das
kleine
Auge
des
Geizes
machen ? 30 6.
Griechisches
I d e a l . — Was bewunderten die Grie-
chen an Odysseus? V o r A l l e m die Fähigkeit zur Lüge und zur listigen und furchtbaren Wiedervergeltung; den Umständen gewachsen sein; wenn es gilt, edler erscheinen als der Edelste; sein können,
was
man
w i l l ; heldenhafte Beharrlichkeit;
sich alle Mittel zu Gebote stellen; Geist haben — sein Geist ist die Bewunderung der Götter, sie lächeln, wenn sie daran denken — : diess Alles ist griechisches I d e a l ! Das Merkwürdigste daran ist, dass hier der Gegensatz v o n Scheinen und Sein gar nicht gefühlt und also auch nicht sittlich angerechnet wird. G a b es je so gründliche Schauspieler!
307.
Facta!
Ja
Facta
ficta!
—
Ein
Geschichtsschreiber
hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu thun: denn nur diese haben g e w i r k t .
Ebenso nur mit den vermeintlichen Helden.
Sein Thema, die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen
Viertes Buch 304—310
227
über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf w i r k t , — ein fortwährendes Zeugen und Schwangerwerden von Phantomen über den tiefen Nebeln der unergründlichen Wirklichkeit. Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existirt haben, ausser in der Vorstellung. 308.
Sich n i c h t auf den H a n d e l v e r s t e h e n ist v o r n e h m . — Seine Tugend nur zum höchsten Preise verkaufen oder gar mit ihr Wucher treiben, als Lehrer, Beamter, Künstler, — macht aus Genie und Begabung eine Krämer-Angelegenheit. Mit seiner W e i s h e i t soll man nun einmal nicht k l u g sein wollen! 309.
F u r c h t u n d L i e b e . — Die Furcht hat die allgemeine Einsicht über den Menschen mehr gefördert, als die Liebe, denn die Furcht will errathen, wer der Andere ist, was er kann, was er will: sich hierin zu täuschen, wäre Gefahr und Nachtheil. Umgekehrt hat die Liebe einen geheimen Impuls, in dem Andern so viel Schönes als möglich zu sehen oder ihn sich so hoch als möglich zu heben: sich dabei zu täuschen, wäre für sie eine Lust und ein Vortheil — und so thut sie es. 310.
D i e G u t m ü t h i g e n . — Die Gutmüthigen haben ihr Wesen durch die beständige Furcht erlangt, welche ihre Voreltern vor fremden Ubergriffen gehabt haben, — sie milderten, beschwichtigten, baten ab, beugten vor, zerstreuten, schmeichelten, duckten sich, verbargen den Schmerz, den Verdruss, glät-
228
Morgenröthe
teten sofort wieder ihre Züge — und zuletzt vererbten sie diesen ganzen zarten und wohlgespielten Medianismus auf ihre Kinder und Enkel. Diesen gab ein günstigeres Geschick keinen Anlass zu jener beständigen Furcht: nichtsdestoweniger spielen sie beständig auf ihrem Instrumente.
311. D i e s o g e n a n n t e S e e l e . — Die Summe innerer Bewegungen, welche dem Menschen l e i c h t f a l l e n und die er in Folge dessen gerne und mit Anmuth thut, nennt man seine Seele; — er gilt als seelenlos, wenn er Mühe und Härte bei inneren Bewegungen merken lässt.
312. D i e V e r g e s s l i c h e n . — In den Ausbrüchen der Leidenschaft und im Phantasiren des Traumes und des Irrsinns entdeckt der Mensch seine und der Menschheit Vorgeschichte wieder: die T h i e r h e i t mit ihren wilden Grimassen; sein Gedächtniss greift einmal weit genug rückwärts, während sein civilisirter Zustand sich aus dem Vergessen dieser Urerfahrungen, also aus dem Nachlassen jenes Gedächtnisses entwikkelt. Wer als ein Vergesslicher höchster Gattung allem Diesen immerdar sehr fern geblieben ist, v e r s t e h t d i e M e n s c h e n n i c h t , — aber es ist ein Vortheil für Alle, wenn es hier und da solche Einzelne giebt, welche „sie nicht verstehen" und die gleichsam aus göttlichem Samen gezeugt und von der Vernunft geboren sind. 313· D e r n i c h t m e h r e r w ü n s c h t e F r e u n d . — Den Freund, dessen Hoffnungen man nicht befriedigen kann, wünscht man sich lieber zum Feinde.
Viertes Budi310—317
229
314.
A u s d e r G e s e l l s c h a f t d e r D e n k e r . — Inmitten des Ozeans des Werdens wachen wir auf einem Inselchen, das nicht grösser als ein Nachen ist, auf, wir Abenteuerer und Wandervögel, und sehen uns hier eine kleine Weile um: so eilig und so neugierig wie möglich, denn wie schnell kann uns ein Wind verwehen oder eine Welle über das Inselchen hinwegspülen, sodass Nichts mehr von uns da ist! Aber hier, auf diesem kleinen Räume, finden wir andere Wandervögel und hören von früheren, — und so leben wir eine köstliche Minute der Erkenntniss und des Errathens, unter fröhlichem Flügelschlagen und Gezwitscher mit einander und abenteuern im Geiste hinaus auf den Ozean, nicht weniger stolz als er selber!
315· S i c h e n t ä u s s e r n . — Etwas von seinem Eigenthume fahren lassen, sein Recht aufgeben — macht Freude, wenn es grossen Reichthum anzeigt. Dahin gehört die Grossmuth.
3 Ii.
S c h w a c h e S e c t e n . — Die Secten, welche fühlen, dass sie schwach bleiben werden, machen Jagd auf einzelne intelligente Anhänger und wollen durch Qualität ersetzen, was ihnen an Quantität abgeht. Hierin liegt keine geringe Gefahr für die Intelligenten. 317· D a s U r t h e i l d e s A b e n d s . — Wer über sein Tagesund Lebenswerk nachdenkt, wenn er am Ende und müde ist, kommt gewöhnlich zu einer melancholischen Betrachtung: das liegt aber nicht am Tage und am Leben, sondern an der
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Morgenröthe
Müdigkeit. — Mitten im Schaffen nehmen wir uns gewöhnlich keine Zeit zu Urtheilen über das Leben und das Dasein, und mitten im Geniessen auch nicht: kommt es aber einmal doch dazu, so geben wir Dem nicht mehr Recht, welcher auf den siebenten Tag und die Ruhe wartete, um Alles, was da ist, sehr schön zu finden, — er hatte den b e s s e r e n Augenblick verpasst.
318.
V o r s i c h t v o r d e n S y s t e m a t i k e r n ! — Es giebt eine Schauspielerei der Systematiker: indem sie ein System ausfüllen wollen und den Horizont darum rund machen, müssen sie versuchen, ihre schwächeren Eigenschaften im Stile ihrer stärkeren auftreten zu lassen, — sie wollen vollständige und einartig starke Naturen darstellen.
319.
G a s t f r e u n d s c h a f t . — Der Sinn in den Gebräudien der Gastfreundschaft ist: das Feindliche im Fremden zu lahmen. Wo man im Fremden nicht mehr zunächst den Feind empfindet, nimmt die Gastfreundschaft ab; sie blüht, so lange ihre böse Voraussetzung blüht.
320.
V o m W e t t e r . — Ein sehr ungewöhnliches und unberechenbares Wetter macht die Menschen auch gegen einander misstrauisch; sie werden dabei neuerungssüchtig, denn sie müssen von ihren Gewohnheiten abgehen. Desshalb lieben die Despoten alle Länderstriche, wo das Wetter moralisch ist.
Viertes Buch 317—321
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321.
G e f a h r i n d e r U n s c h u l d . — Die unschuldigen Menschen werden in allen Stücken die Opfer, weil ihre Unwissenheit sie hindert, zwischen Maass und Ubermaass zu unterscheiden und bei Zeiten vorsichtig gegen sich selber zu sein. So gewöhnen sich unschuldige, das heisst unwissende junge Frauen an den häufigen Genuss der Aphrodisien und entbehren ihn später sehr, wenn ihre Männer krank oder frühzeitig welk werden; gerade die harmlose und gläubige Auffassung, als ob diese häufige Art, mit ihnen zu verkehren, das Recht und die Regel sei, bringt sie zu einem Bedürfniss, welches sie später den heftigsten Anfechtungen und Schlimmerem aussetzt. Aber ganz allgemein und hoch genommen: wer einen Menschen und ein Ding liebt, ohne ihn und es zu kennen, wird die Beute von Etwas, das er nicht lieben würde, wenn er es sehen könnte. Überall, wo Erfahrenheit, Vorsicht und abgewogene Schritte noth thun, wird gerade der Unschuldige am gründlichsten verdorben werden, denn er muss mit blinden Augen die Hefe und das unterste Gift jeder Sache austrinken. Man erwäge die Praxis aller Fürsten, Kirchen, Secten, Parteien, Körperschaften: wird nicht immer der Unschuldige als der süsseste Köder zu den ganz gefährlichen und verruchten Fällen verwendet? — so wie Odysseus den unschuldigen Neoptolemos verwendet, um dem alten kranken Einsiedler und Unhold von Lemnos den Bogen und die Pfeile abzulisten. — Das Christenthum, mit seiner Verachtung der Welt, hat aus der Unwissenheit eine T u g e n d gemacht, die christliche Unschuld, vielleicht weil das häufigste Resultat dieser Unschuld eben, wie angedeutet, die Schuld, das Schuldgefühl und die Verzweiflung ist, somit eine Tugend, welche auf dem Umweg der Hölle zum Himmel führt: denn nun erst können sich die düsteren Propyläen des christlichen Heils aufthun, nun erst wirkt die Verheissung einer nachgeborenen z w e i t e n U n s c h u l d : — sie ist eine der schönsten Erfindungen des Christenthums!
232
Morgenröthe 322.
W o m ö g l i c h o h n e A r z t l e b e n . — Es will mir scheinen, als ob ein Kranker leichtsinniger sei, wenn er einen A r z t hat, als wenn er selber seine Gesundheit besorgt. Im ersten Falle genügt es ihm, streng in Bezug auf alles Vorgeschriebene zu sein; im andern Falle fassen wir Das, worauf jene Vorschriften abzielen, unsere Gesundheit, mit mehr Gewissen in's Auge und bemerken viel mehr, gebieten und verbieten uns viel mehr, als auf Veranlassung des Arztes geschehen würde. — Alle Regeln haben diese Wirkung: vom Zwecke hinter der Regel abzuziehen und leichtsinniger zu machen. — Und wie würde der Leichtsinn der Menschheit in's Unbändige und Zerstörerische gestiegen sein, wenn sie jemals vollkommen ehrlich der Gottheit als ihrem Arzte Alles überlassen hätte, nach dem Worte „wie Gott will"! —
323· V e r d u n k e l u n g d e s H i m m e l s . — Kennt ihr die Rache der schüchternen Menschen, welche sich in der Gesellschaft benehmen, als hätten sie ihre Gliedmaassen gestohlen? Die Rache der demüthigen christenmässigen Seelen, welche sich auf Erden überall nur durchschleichen? Die Rache Derer, die immer sogleich urtheilen und immer sogleich Unrecht bekommen? Die Rache der Trunkenbolde aller Gattungen, denen der Morgen das Unheimlichste am Tage ist? Desgleichen der Krankenbolde aller Gattungen, der Kränkelnden und Gedrückten, welche nicht mehr den Muth haben, gesund zu werden? Die Zahl dieser kleinen Rachsüchtigen und gar die ihrer kleinen Rache-Acte ist ungeheuer; die ganze Luft schwirrt fortwährend von den abgeschossenen Pfeilen und Pfeilchen ihrer Bosheit, sodass die Sonne und der Himmel des Lebens dadurch verdunkelt werden — nicht nur ihnen, sondern noch mehr uns, den Anderen, Übrigen: was schlimmer ist, als dass sie uns allzu oft
Viertes Buch 322—325
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Haut und Herz ritzen. L e u g n e n wir nicht mitunter Sonne und Himmel, blos weil wir sie so lange nicht gesehen haben? — Also: Einsamkeit! Auch darum Einsamkeit!
324.
P h i l o s o p h i e d e r S c h a u s p i e l e r . — Es ist der beglückende Wahn der grossen Schauspieler, dass es den historischen Personen, welche sie darstellen, wirklich so zu Muthe gewesen sei, wie ihnen bei ihrer Darstellung, — aber sie irren sich stark darin: ihre nachahmende und errathende Kraft, die sie gerne für ein hellseherisches Vermögen ausgeben möchten, dringt nur gerade tief genug ein, um Gebärden, Töne und Blicke und überhaupt das Äusserliche zu erklären; das heisst, der Schatten von der Seele eines grossen Helden, Staatsmannes, Kriegers, Ehrgeizigen, Eifersüchtigen, Verzweifelnden wird von ihnen erhascht, sie dringen bis nahe an die Seele, aber nicht bis in den Geist ihrer Objecte. Das wäre freilich eine schöne Entdeckung, dass es nur des hellseherischen Schauspielers bedürfe, statt aller Denker, Kenner, Fachmänner, um in's W e s e n irgend eines Zustandes hinabzuleuchten! Vergessen wir doch nie, sobald derartige Anmaassungen laut werden, dass der Schauspieler eben ein idealer Affe ist und so sehr Affe, dass er an das „Wesen" und das „Wesentliche" gar nicht zu glauben vermag: Alles wird ihm Spiel, Ton, Gebärde, Bühne, Coulisse und Publicum. 325· A b s e i t s l e b e n u n d g l a u b e n . — Das Mittel, um der Prophet und Wundermann seiner Zeit zu werden, gilt heute noch wie vor Alters: man lebe abseits, mit wenig Kenntnissen, einigen Gedanken und sehr viel Dünkel, — endlich stellt sich der Glaube bei uns ein, dass die Menschheit ohne uns nicht fortkommen könne, w e i l w i r n ä m l i c h g a n z e r s i c h t l i c h
234
Morgenröthe
ohne sie fortkommen. Sobald dieser Glaube da ist, findet man auch Glauben. Zuletzt ein Rath für Den, der ihn brauchen mag (er wurde Wesley von seinem geistlichen Lehrer Böhler gegeben): „Predige den Glauben, bis du ihn hast, und dann wirst du ihn predigen, weil du ihn hast!" —
326.
S e i n e U m s t ä n d e k e n n e n . — Unsere Kräfte können wir abschätzen, aber nicht unsere K r a f t . Die Umstände verbergen und zeigen uns dieselbe nicht nur, — nein! sie vergrössern und verkleinern sie. Man soll sich für eine variable Grösse halten, deren Leistungsfähigkeit unter Umständen der Begünstigung vielleicht der allerhöchsten gleichkommen kann: man soll also über die Umstände nachdenken und keinen Fleiss in deren Beobachtung scheuen. 327· E i n e F a b e l . — Der Don Juan der Erkenntniss: er ist noch von keinem Philosophen und Dichter entdeckt worden. Ihm fehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat Geist, Kitzel und Genuss an J a g d und Intriguen der Erkenntniss — bis an die höchsten und fernsten Sterne der Erkenntniss hinauf! — bis ihm zuletzt Nichts mehr zu erjagen übrig bleibt, als das absolut W e h e t h u e n d e der Erkenntniss, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und Scheidewasser trinkt. So gelüstet es ihn am Ende nach der Hölle, — es ist die letzte Erkenntniss, die ihn v e r f ü h r t . Vielleicht, dass auch sie ihn enttäuscht, wie alles Erkannte! Und dann müsste er in alle Ewigkeit stehen bleiben, an die Enttäuschung festgenagelt und selber zum steinernen Gast geworden, mit einem Verlangen nach einer Abendmahlzeit der Erkenntniss, die ihm nie mehr zu Theilwird! — denn die ganze Welt der Dinge hat diesem Hungrigen keinen Bissen mehr zu reichen.
Viertes Buch 325—329
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328.
Worauf idealistische Theorien rathen lass e n . — Man trifft die idealistischen Theorien am sichersten bei den unbedenklichen Praktikern; denn sie brauchen deren Lichtglanz für ihren Ruf. Sie greifen darnach mit ihren Instincten und haben gar kein Gefühl von Heuchelei dabei: so wenig ein Engländer mit seiner Christlichkeit und Sonntagsheiligung sich als Heuchler fühlt. Umgekehrt: den beschaulichen Naturen, welche sich gegen alles Phantasiren in Zucht zu halten haben und auch den Ruf der Schwärmerei scheuen, genügen allein die harten realistischen Theorien: nach ihnen greifen sie mit der gleichen instinctiven Nöthigung, und ohne ihre Ehrlichkeit dabei zu verlieren.
329· D i e V e r l e u m d e r d e r H e i t e r k e i t . — Tief vom Leben verwundete Menschen haben alle Heiterkeit verdächtigt, als ob sie immer kindlich und kindisch sei und eine Unvernunft verrathe, bei deren Anblick man nur Erbarmen und Rührung empfinden könne, wie wenn ein dem Tode nahes Kind auf seinem Bette noch seine Spielsachen liebkost. Solche Menschen sehen unter allen Rosen verborgene und verhehlte Gräber; Lustbarkeiten, Getümmel, fröhliche Musik erscheint ihnen wie die entschlossene Selbsttäuschung des Schwerkranken, der noch einmal eine Minute den Rausch des Lebens schlürfen will. Aber dieses Urtheil über die Heiterkeit ist nichts Anderes, als deren Strahlenbrechung auf dem düsteren Grunde der Ermüdung und Krankheit: es ist selber etwas Rührendes, Unvernünftiges, zum Mitleiden Drängendes, ja sogar etwas Kindliches und Kindisches, aber aus jener z w e i t e n K i n d h e i t her, welche dem Alter folgt und dem Tode voranläuft.
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Morgenröthe
33°. N o c h n i c h t g e n u g ! — Es ist noch nicht genug, eine Sache zu beweisen, man muss die Menschen zu ihr auch noch verführen oder zu ihr erheben. Desshalb soll der Wissende lernen, seine Weisheit zu s a g e n : und oft so, dass sie wie Thorheit k l i n g t !
331· R e c h t u n d G r ä n z e . — Der Asketismus ist für Solche die rechte Denkweise, welche ihre sinnlichen Triebe ausrotten müssen, weil dieselben wüthende Raubthiere sind. Aber auch nur für Solche! 332. D e r a u f g e b l a s e n e S t i l . — Ein Künstler, der sein hochgeschwollenes Gefühl nicht im Werke entladen und sich so erleichtern, sondern vielmehr gerade das Gefühl der Schwellung mittheilen will, ist schwülstig und sein Stil ist der aufgeblasene Stil. 333· „M e η s c h 1 i c h k e i t". — Wir halten die Thiere nicht für moralische Wesen. Aber meint ihr denn, dass die Thiere uns für moralische Wesen halten? — Ein Thier, welches reden konnte, sagte: „Menschlichkeit ist ein Vorurtheil, an dem wenigstens wir Thiere nicht leiden."
334· D e r W o h l t h ä t i g e . — Der Wohlthätige befriedigt ein Bedürfniss seines Gemüths, wenn er wohlthut. Je stärker dieses Bedürfniss ist, um so weniger denkt er sich in den Anderen
Viertes Buch 330—338
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hinein, der ihm dient, sein Bedürfniss zu stillen, er wird unzart und beleidigt unter Umständen. (Diess sagt man der jüdischen Wohlthätigkeit und Barmherzigkeit nach: welche bekanntlich etwas hitziger ist, als die anderer Völker.)
335· D a m i t L i e b e a l s L i e b e g e s p ü r t w e r d e . — Wir haben nöthig, gegen uns redlich zu sein und uns sehr gut zu kennen, um gegen Andere jene menschenfreundliche Verstellung üben zu können, welche Liebe und Güte genannt wird.
336.
W e s s e n s i n d w i r f ä h i g ? — Einer war durch seinen ungerathenen und boshaften Sohn den ganzen Tag so gequält worden, dass er ihn Abends erschlug und aufathmend zur übrigen Familie sagte: „So! nun können wir ruhig schlafen!" — Was wissen wir, wozu uns Umstände treiben k ö n n t e n !
337· „N a t ü r 1 i c h". — In seinen Fehlern wenigstens n a t ü r l i c h zu sein, — ist vielleicht das letzte Lob eines künstlichen und überall sonst schauspielerischen und halbächten Künstlers. Ein solches Wesen wird deshalb gerade seine Fehler keck herauslassen. 338.
E r s a t z - G e w i s s e n . — Der eine Mensch ist für den anderen sein Gewissen: und diess ist namentlich wichtig, wenn der andere sonst keines hat.
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Morgenröthe
339· V e r w a n d l u n g d e r P f l i c h t e n . — Wenn die Pflicht aufhört, schwer zu fallen, wenn sie sich nach langer Übung zur lustvollen Neigung und zum Bedürfniss umwandelt, dann wer5 den die Rechte Anderer, auf welche sich unsere Pflichten, jetzt unsere Neigungen beziehen, etwas Anderes: nämlich Anlässe zu angenehmen Empfindungen f ü r uns. D e r Andere w i r d vermöge seiner Rechte von da an liebenswürdig (anstatt ehrwürdig und furchtbar, wie vordem). Wir suchen unsere L u s t , wenn w i r io jetzt den Bereich seiner Macht anerkennen und unterhalten. Als die Quietisten keine Last mehr an ihrem Christenthume hatten und in G o t t nur ihre Lust fanden, nahmen sie ihren Wahlspruch „Alles zur Ehre Gottes!" an: was sie auch immer in diesem Sinne thaten, es w a r kein O p f e r mehr; es hiess so viel als i j „Alles zu unserm Vergnügen!" Z u verlangen, dass die Pflicht i m m e r etwas lästig falle — wie es K a n t thut — heisst verlangen, dass sie niemals Gewohnheit und Sitte werde: in diesem Verlangen steckt ein kleiner Rest von asketischer Grausamkeit. 340. 2°
D e r A u g e n s c h e i n ist gegen den H i s t o r i k e r . — Es ist eine gut bewiesene Sache, dass die Menschen aus dem Mutterleibe hervorgehen: trotzdem lassen erwachsene Kinder, die neben ihrer Mutter stehen, die Hypothese als sehr ungereimt erscheinen; sie hat den Augenschein gegen sich.
25
341.
V o r t h e i l i m V e r k e n n e n . — J e m a n d sagte, er habe in der Kindheit eine solche Verachtung gegen die gefallsüchtigen Grillen des melancholischen Temperaments gehabt, dass es ihm bis zur Mitte seines Lebens verborgen geblieben sei, welches Tem3° perament er habe: nämlich eben das melancholische. E r erklärte diess f ü r die beste aller möglichen Unwissenheiten.
Viertes Buch 339—345
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342.
N i c h t z u v e r w e c h s e l n ! — J a ! Er betrachtet die Sache von allen Seiten, und ihr meint, das sein ein rechter Mann der Erkenntniss. Aber er will nur den Preis herabsetzen, — er will sie kaufen! 343·
A n g e b l i c h m o r a l i s c h . — Ihr wollt nie mit euch unzufrieden werden, nie an euch leiden, — und nennt diess euren moralischen Hang! Nun gut, ein Andrer mag es eure Feigheit nennen. Aber Eins ist gewiss: ihr werdet niemals die Reise um die Welt (die ihr selber seid!) machen und in euch selber ein Zufall und eine Scholle auf der Scholle bleiben! Glaubt ihr denn, dass wir Andersgesinnten der reinen Narrheit halber uns der Reise durch die eigenen Öden, Sümpfe und Eisgebirge aussetzen und Schmerzen und Überdruss an uns freiwillig erwählen, wie die Säulenheiligen?
344·
F e i n h e i t i m F e h l g r e i f e n . — Wenn Homer, wie man sagt, bisweilen geschlafen hat, so war er klüger als alle die Künstler des schlaflosen Ehrgeizes. Man muss die Bewunderer zu Athem kommen lassen, dadurch dass man sie von Zeit zu Zeit in Tadler verwandelt; denn Niemand hält eine ununterbrochen glänzende und wache Güte aus; und statt wohlzuthun, wird ein Meister der Art zum Zuchtmeister, den man hasst, während er vor uns hergeht.
345·
Unser Glück ist kein A r g u m e n t für und w i d e r . — Viele Menschen sind nur eines geringen Glückes fähig: es ist ebenso wenig ein Einwand gegen ihre Weisheit, dass
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Morgenröthe
diese ihnen nicht mehr Glück geben könne, als es ein Einwand gegen die Heilkunst ist, dass manche Menschen nicht zu curiren und andere immer kränklich sind. Möge Jeder mit gutem Glück gerade die Lebensauffassung finden, bei der er s e i n höchstes Maass von Glück verwirklichen kann: dabei kann sein Leben immer noch erbärmlich und wenig neidenswerth sein.
346.
W e i b e r f e i n d e . — „Das Weib ist unser Feind" — wer so als Mann zu Männern spricht, aus dem redet der ungebändigte Trieb, der nicht nur sich selber, sondern auch seine Mittel hasst. 347·
E i n e S c h u l e d e s R e d n e r s . — Wenn man ein Jahr lang schweigt, so verlernt man das Schwätzen und lernt das Reden. Die Pythagoreer waren die besten Staatsmänner ihrer Zeit. 348.
G e f ü h l d e r M a c h t . — Man unterscheide wohl: wer das Gefühl der Macht erst gewinnen will, greift nach allen Mitteln und verschmäht keine Nahrung desselben. Wer es aber hat, der ist sehr wählerisch und vornehm in seinem Geschmack geworden; selten, dass ihm Etwas noch genugthut.
349·
N i c h t g a r so w i c h t i g . — Bei einem Sterbefalle, dem man zusieht, steigt ein Gedanke regelmässig auf, den man sofort, aus einem falschen Gefühl der Anständigkeit, in sich unterdrückt: dass der Act des Sterbens nicht so bedeutend sei, wie die
Viertes Buch 345—352
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allgemeine Ehrfurcht behauptet, und dass der Sterbende im Leben wahrscheinlich wichtigere Dinge verloren habe, als er hier zu verlieren im Begriffe steht. Das Ende ist hier gewiss nicht das Ziel. — 350.
W i e m a n a m b e s t e n v e r s p r i c h t . — Wenn ein Versprechen gemacht wird, so ist es nicht das Wort, welches verspricht, sondern das Unausgesprochene hinter dem Worte. J a , die Worte machen ein Versprechen unkräftiger, indem sie eine Kraft entladen und verbrauchen, welche ein Theil jener Kraft ist, die verspricht. Lasst euch also die Hand reichen und legt dabei den Finger auf den Mund, — so macht ihr die sichersten Gelöbnisse. 351· Gewöhnlich missverstanden. — Im Gespräche bemerkt man den Einen bemüht, eine Falle zu legen, in welche der Andere fällt, nicht aus Bosheit, wie man denken sollte, sondern aus Vergnügen an der eignen Pfiffigkeit: dann wieder Andre, welche den Witz vorbereiten, damit der Andre ihn mache, und welche die Schleife knüpfen, damit Jener den Knoten daraus ziehe: nicht aus Wohlwollen, wie man denken sollte, sondern aus Bosheit und Verachtung der groben Intellecte.
35*·
C e n t r u m . — Jenes Gefühl: „ich bin der Mittelpunct der Welt!" tritt sehr stark auf, wenn man plötzlich von der Schande überfallen wird; man steht dann da wie betäubt inmitten einer Brandung und fühlt sich geblendet wie von Einem grossen Auge, das von allen Seiten auf uns und durch uns blickt.
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Morgenröthe 353·
R e d e f r e i h e i t . — „Die Wahrheit muss gesagt werden, und wenn die Welt in Stücke gehen sollte!" — so ruft, mit grossem Munde, der grosse Fichte! — Ja! Ja! Aber man müsste sie audi haben! — Aber er meint, Jeder solle seine Meinung sagen, und wenn Alles drunter und drüber gienge. Darüber Hesse sich mit ihm noch rechten.
354·
M u t h z u m L e i d e n . — So wie wir jetzt sind, können wir eine ziemliche Menge von Unlust ertragen, und unser Magen ist auf diese schwere Kost eingerichtet. Vielleicht fänden wir ohne sie die Mahlzeit des Lebens fade: und ohne den guten Willen zum Schmerze würden wir allzu viele Freuden fahren lassen müssen!
355·
V e r e h r e r . — Wer so verehrt, dass er den Nichtverehrenden kreuzigt, gehört zu den Henkern seiner Partei, — man hütet sich, ihm die Hand zu geben, selbst wenn man auch von der Partei ist. 356.
W i r k u n g d e s G l ü c k e s . — Die erste Wirkung des Glückes ist das G e f ü h l d e r M a c h t : diese will s i c h ä u s s e r n , sei es gegen uns selber oder gegen andere Menschen oder gegen Vorstellungen oder gegen eingebildete Wesen. Die gewöhnlichsten Arten, sich zu äussern, sind: Beschenken, Verspotten, Vernichten, — alle drei mit einem gemeinsamen Grundtriebe.
Viertes Budi 353—360
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357·
M o r a l i s c h e S t e c h f l i e g e n . — Jene Moralisten, denen die Liebe zur Erkenntniss abgeht und welche nur den Genuss des Wehethuns kennen — haben den Geist und die Langeweile von Kleinstädtern; ihr ebenso grausames, als jämmerliches Vergnügen ist, dem Nachbar auf die Finger zu sehen und unvermerkt eine Nadel so zu stecken, dass er sich daran sticht. In ihnen ist die Unart kleiner Knaben rückständig, welche nicht munter sein können ohne etwas Jagd und Misshandlung von Lebendigem und Todtem.
358.
G r ü n d e u n d i h r e G r u n d l o s i g k e i t . — Du hast eine Abneigung gegen ihn und bringst auch reichliche Gründe für diese Abneigung vor, — ich glaube aber nur deiner Abneigung, und nicht deinen Gründen! Es ist eine Schönthuerei vor dir selber, Das, was instinctiv geschieht, dir und mir wie einen Vernunftschluss vorzuführen.
359·
E t w a s g u t h e i s s e n . — Man heisst die Ehe gut, erstens weil man sie noch nicht kennt, zweitens weil man sich an sie gewöhnt hat, drittens weil man sie geschlossen hat, — das heisst fast in allen Fällen. Und doch ist damit Nichts für die Güte der Ehe überhaupt bewiesen. 360.
K e i n e U t i l i t a r i e r . — „Die Macht, der viel Böses angethan und angedacht wird, ist mehr werth, als die Ohnmacht, der nur Gutes widerfährt", — so empfanden die Griechen. Das heisst: das Gefühl der Macht wurde von ihnen höher geschätzt, als irgend ein Nutzen oder guter Ruf.
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Morgenröthe
361. H ä s s l i c h s c h e i n e n . — Die Massigkeit sieht sich selber als sdiön; sie ist unschuldig daran, dass sie im Auge des Unmässigen rauh und nüditern, folglich als hässlich erscheint.
362. V e r s c h i e d e n i m H a s s e . — Manche hassen erst, wenn sie sich schwach und müde fühlen: sonst sind sie billig und übersehend. Andre hassen erst, wenn sie die Möglichkeit der Rache sehen: sonst hüten sie sich vor allem heimlichen und lauten Zorn, und denken, wenn es Anlässe dazu giebt, daran vorbei. 363. M e n s c h e n d e s Z u f a l l s . — Das Wesentliche an jeder Erfindung thut der Zufall, aber den meisten Menschen begegnet dieser Zufall nicht. 364. W a h l d e r U m g e b u n g . — Man hüte sich, in einer Umgebung zu leben, vor der man weder würdig schweigen, noch sein Höheres mitzutheilen vermag, sodass unsere Klagen und Bedürfnisse und die ganze Geschichte unserer Nothstände zur Mittheilung übrig bleiben. Dabei wird man mit sich unzufrieden, und unzufrieden mit dieser Umgebung, ja, nimmt den Verdruss, sich immer als Klagenden zu empfinden, noch zu dem Nothstände hinzu, der uns klagen macht. Sondern dort soll man leben, wo man s i c h s c h ä m t , von sich zu reden, und es nicht nöthig hat. — Aber wer denkt an solche Dinge, an eine W a h l in solchen Dingen! Man redet von seinem „Verhängniss", stellt sich mit breitem Rücken hin und seufzt „ich unglückseliger Atlas!"
Viertes Buch 361—368
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365. E i t e l k e i t . — Die Eitelkeit ist die Furcht, original zu erscheinen, also ein Mangel an Stolz, aber nicht nothwendig ein Mangel an Originalität. 3 66. V e r b r e c h e r - K u m m e r . — Man leidet als entdeckter Verbrecher nidit am Verbrechen, sondern an der Sdiande oder am Verdruss über eine gemachte Dummheit oder an der Entbehrung des gewohnten Elementes, und es bedarf einer Fein10 heit, die selten ist, hierin zu unterscheiden. Jeder, der viel in Gefängnissen und Zuchthäusern verkehrt hat, ist erstaunt, wie selten daselbst ein unzweideutiger „Gewissensbiss" anzutreffen ist: um so mehr aber das Heimweh nach dem alten bösen geliebten Verbrechen. s
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367.
I m m e r g l ü c k l i c h s c h e i n e n . — Als die Philosophie Sache des öffentlichen Wetteifers war, im Griechenland des dritten Jahrhunderts, gab es nicht wenige Philosophen, welche glücklich durch den Hintergedanken wurden, dass Andere, die nach 20 anderen Principien lebten und sich dabei quälten, an ihrem Glücke Ärger haben müssten: sie glaubten, mit ihrem Glücke jene am besten zu widerlegen, und dazu genügte es ihnen, immer glücklich zu scheinen: aber dabei mussten sie auf die Dauer glücklich w e r d e n ! Diess war zum Beispiel das Loos 25 der Cyniker. 368. G r u n d v i e l e r V e r k e n n u n g . — Die Moralität der zunehmenden Nervenkraft ist freudig und unruhig; die Moralität der abnehmenden Nervenkraft, am Abende oder bei Kran3° ken und alten Leuten, ist leidend, beruhigend, abwartend, weh-
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Morgenröthe
müthig, ja nicht selten düster. Je nachdem man von dieser oder jener hat, versteht man die uns fehlende nicht, und dem Andern legt man sie oft als Unsittlichkeit und Schwäche aus.
3 69. S i c h ü b e r s e i n e E r b ä r m l i c h k e i t zu h e b e n . — Das sind mir stolze Gesellen, die, um das Gefühl ihrer Würde und Wichtigkeit herzustellen, immer erst Andere brauchen, die sie anherrschen und vergewaltigen können: Solche nämlich, deren Ohnmacht und Feigheit es erlaubt, dass Einer vor ihnen ungestraft erhabene und zornige Gebärden machen kann! — sodass sie die Erbärmlichkeit ihrer Umgebung nöthig haben, um sich auf einen Augenblick über die eigene Erbärmlichkeit zu heben! — Dazu hat Mancher einen Hund, ein Andrer einen Freund, ein Dritter eine Frau, ein Vierter eine Partei und ein sehr Seltener ein ganzes Zeitalter nöthig.
370. I n w i e f e r n der D e n k e r seinen Feind liebt. — Nie Etwas zurückhalten oder dir verschweigen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann! Gelobe es dir! Es gehört zur ersten Redlichkeit des Denkens. Du musst jeden Tag auch deinen Feldzug gegen dich selber führen. Ein Sieg und eine eroberte Schanze sind nicht mehr deine Angelegenheit, sondern die der Wahrheit, — aber auch deine Niederlage ist nicht mehr deine Angelegenheit!
371-
D a s B ö s e d e r S t ä r k e . — Die Gewaltthätigkeit als Folge der Leidenschaft, zum Beispiel des Zornes, ist physiologisch als ein Versuch zu verstehen, einem drohenden Erstik-
Viertes Buch 3 6 8 — 3 7 5
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kungsanfall vorzubeugen. Zahllose Handlungen des Übermuths, der sich an anderen Personen auslässt, sind Ableitungen eines plötzlichen Blutandranges durch eine starke MuskelAction gewesen: und vielleicht gehört das ganze „Böse der Stärke" unter diesen Gesiditspunct. (Das Böse der Stärke thut dem Andern wehe, ohne daran zu denken, — es m u s s sich auslassen; das Böse der Schwäche w i l l wehe thun und die Zeichen des Leidens sehen.)
372·
Z u r E h r e d e r K e n n e r . — Sobald Einer, ohne Kenner zu sein, doch den Urtheiler spielt, soll man sofort protestiren: ob es nun Männlein oder Weiblein sei. Schwärmerei und Entzücken für ein Ding oder einen Menschen sind keine Argumente: Widerwillen und Hass gegen sie auch nicht.
373·
V e r r ä t h e r i s c h e r T a d e l . — „Er kennt die Menschen nicht" — das heisst im Munde des Einen: „er kennt die Gemeinheit nicht", im Munde des Andern: „er kennt die Ungewöhnlichkeit nicht und die Gemeinheit zu gut".
374·
W e r t h d e s O p f e r s . — Je mehr man den Staaten und Fürsten das Recht aberkennt, die Einzelnen zu opfern (wie bei der Rechtspflege, der Heeresfolge u.s.w.), um so höher wird der Werth der Selbst-Opferung steigen.
375·
Z u d e u t l i c h r e d e n . — Man kann aus verschiedenen Gründen zu deutlich articulirt sprechen: einmal, aus Miss-
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Morgenröthe
trauen gegen sich, in einer neuen ungeübten Sprache, sodann aber auch aus Misstrauen gegen die Anderen, wegen ihrer Dummheit oder Langsamkeit des Verständnisses. Und so auch im Geistigsten: unsere Mittheilung ist mitunter zu deutlich, zu peinlich, weil Die, welchen wir uns mittheilen, uns sonst nicht verstehen. Folglich ist der vollkommene und leicJite Stil nur vor einer vollkommenen Zuhörerschaft e r l a u b t .
376. V i e l s c h l a f e n . — Was thun, um sich anzuregen, wenn man müde und seiner selbst satt ist? Der Eine empfiehlt die Spielbank, der Andere das Christenthum, der Dritte die Electricität. Das Beste aber, mein lieber Melancholiker, ist und bleibt: v i e l s c h l a f e n , eigentlich und uneigentlich! So wird man auch seinen Morgen wieder haben! Das Kunststück der Lebensweisheit ist, den Schlaf jeder Art zur rechten Zeit einzuschieben wissen.
377·
W o r a u f p h a n t a s t i s c h e I d e a l e rathen lassen. — Dort, wo unsere Mängel liegen, ergeht sich unsere Schwärmerei. Den schwärmerischen Satz „liebet eure Feinde!" haben Juden erfinden müssen, die besten Hasser, die es gegeben hat, und die schönste Verherrlichung der Keuschheit ist von Solchen gedichtet worden, die in ihrer Jugend wüst und abscheulich gelebt haben.
378. R e i n e H a n d u n d r e i n e W a n d . — Man soll weder Gott noch den Teufel an die Wand malen. Man verdirbt damit seine Wand und seine Nachbarschaft.
Viertes Budi 375—381
249
379· Wahrscheinlich und unwahrscheinlich. — Eine Frau liebte heimlich einen Mann, hob ihn hoch über sich und sagte sich im Geheimsten hundert Male: „wenn mich ein soldier Mann liebte, so wäre diess wie eine Gnade, vor der ich im Staube liegen müsste!" — Und dem Manne gieng es ganz ebenso, und gerade in Bezug auf diese Frau, und er sagte sich im Geheimsten audi gerade diesen Gedanken. Als endlich einmal Beiden die Zunge sich gelöst hatte und sie alles das Verschwiegene und Verschwiegenste des Herzens einander sagten, entstand schliesslich ein Stillschweigen und einige Besinnung. Darauf hob die Frau an, mit erkälteter Stimme: „aber es ist ja ganz klar! wir sind Beide nicht Das, was wir geliebt haben! Wenn du Das bist, was du sagst und nicht mehr, so habe idi mich umsonst erniedrigt und dich geliebt; der Dämon verführte midi so wie dich." — Diese sehr wahrscheinliche Geschichte kommt nie vor, — wesshalb?
380.
E r p r o b t e r R a t h . — Von allen Trostmitteln thut Trostbedürftigen Nidits so wohl, als die Behauptung, f ü r ihren Fall gebe es keinen Trost. Darin liegt eine soldie Auszeichnung, dass sie wieder den Kopf erheben.
381.
S e i n e „ E i n z e l h e i t " k e n n e n . — Wir vergessen zu leicht, dass wir im Auge fremder Menschen, die uns zum ersten Male sehen, etwas ganz Anderes sind, als Das, wofür wir uns selber halten: meistens Nichts mehr, als eine in die Augen springende Einzelheit, welche den Eindruck bestimmt. So kann der sanftmüthigste und billigste Mensch, wenn er nur einen grossen Schnurrbart hat, gleichsam im Schatten desselben sit-
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Morgenröthe
zen, und ruhig sitzen, — die gewöhnlichen Augen sehen in ihm den Zubehör zu einem grossen Schnurrbart, will sagen: einen militärischen, leicht aufbrausenden, unter Umständen gewaltsamen Charakter — und benehmen sich darnach vor ihm.
382.
G ä r t n e r u n d G a r t e n . — Aus feuchten trüben Tagen, Einsamkeit, lieblosen Worten an uns, wachsen S c h l ü s s e auf wie Pilze: sie sind eines Morgens da, wir wissen nicht woher, und sehen sich grau und griesgrämig nach uns um. Wehe dem Denker, der nicht der Gärtner, sondern nur der Boden seiner Gewächse ist!
383.
D i e K o m ö d i e d e s M i t l e i d e n s . — Wir mögen noch so sehr an einem Unglücklichen Antheil nehmen: in seiner Gegenwart spielen wir immer etwas Komödie, wir sagen Vieles nicht, was wir denken und wie wir es denken, mit jener Behutsamkeit des Arztes am Bette von Schwerkranken.
384.
W u n d e r l i c h e H e i l i g e . — Es giebt Kleinmüthige, welche von ihrem besten Werke und Wirken Nichts halten und es schlecht zur Mittheilung oder zum Vortrage bringen: aber aus einer A r t Rache halten sie auch Nichts von der Sympathie Anderer oder glauben gar nicht an Sympathie; sie schämen sich, von sich selber hingerissen zu erscheinen und fühlen ein trotziges Wohlbehagen darin, lächerlich zu werden. — Diess sind Zustände aus der Seele melancholischer Künstler.
Viertes Buch 381—388
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385. D i e E i t e l n . — Wir sind wie Schauläden, in denen wir selber unsere angeblichen Eigenschaften, welche Andere uns zusprechen, fortwährend anordnen, verdecken oder in's Licht stellen, — um u η s zu betrügen. 386.
D i e P a t h e t i s c h e n u n d d i e N a i v e n . — Es kann eine sehr unedle Gewohnheit sein, keine Gelegenheit vorbei zu lassen, wo man sich pathetisch zeigen kann: um jenes Genusses willen, sich den Zuschauer dabei zu denken, der sich an die Brust schlägt und sich selber jämmerlich und klein fühlt. Es kann folglich auch ein Zeichen des Edelsinns sein, mit pathetischen Lagen Spott zu treiben und in ihnen sich unwürdig zu benehmen. Der alte kriegerische Adel Frankreichs hatte diese Art Vornehmheit und Feinheit.
387.
P r o b e e i n e r Ü b e r l e g u n g v o r d e r E h e . — Gesetzt, sie liebte mich, wie lästig würde sie mir auf die Dauer werden! Und gesetzt, sie liebte mich nicht, wie lästig würde sie erst da mir auf die Dauer werden! — Es handelt sich nur um zwei verschiedene Arten des Lästigen: — heirathen wir also! 388.
D i e S c h u r k e r e i m i t g u t e m G e w i s s e n . — Im kleinen Handel übervortheilt zu werden, — das ist in manchen Gegenden, zum Beispiel in Tyrol, so unangenehm, weil man das böse Gesicht und die grobe Begierde darin, nebst dem schlechten Gewissen und der plumpen Feindseligkeit, welche im betrügerischen Verkäufer gegen uns entsteht, noch obendrein in den schlechten Kauf bekommt. In Venedig dagegen ist der
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Morgenröthe
Prellende von Herzen über das gelungene Schelmenstück vergnügt und gar nicht feindselig gegen den Geprellten gestimmt, ja geneigt, ihm eine Artigkeit zu erweisen und namentlich mit ihm zu lachen, falls er dazu Lust haben sollte. — Kurz, man muss zur Schurkerei auch den Geist und das gute Gewissen haben: das versöhnt den Betrogenen beinahe mit dem Betrüge. 389. E t w a s z u s c h w e r . — Sehr brave Leute, die aber etwas zu schwer sind, um höflich und liebenswürdig zu sein, suchen eine Artigkeit sofort mit einer ernsthaften Dienstleistung oder mit einem Beitrag aus ihrer Kraft zu beantworten. Es ist rührend anzusehen, wie sie ihre Goldstücke schüchtern heranbringen, wenn ein Anderer ihnen seine vergoldeten Pfennige geboten hat. 390.
G e i s t v e r b e r g e n . — Wenn wir Jemanden dabei ertappen, dass er seinen Geist vor uns verbirgt, so nennen wir ihn böse: und zwar um so mehr, wenn wir argwöhnen, dass Artigkeit und Menschenfreundlichkeit ihn dazu getrieben haben. 391·
D e r b ö s e A u g e n b l i c k . — Lebhafte Naturen lügen nur einen Augenblick: nachher haben sie sich selber belogen und sind überzeugt und rechtschaffen.
392· B e d i n g u n g d e r H ö f l i c h k e i t . — Die Höflichkeit ist eine sehr gute Sache und wirklich eine der vier Haupttugenden (wenn audi die letzte): aber damit wir uns einander nicht mit
Viertes Budi 388—396
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ihr lästig werden, muss Der, mit dem ich gerade zu thun habe, um einen Grad weniger oder mehr höflich sein, als ich es bin, — sonst kommen wir nicht von der Stelle, und die Salbe salbt nicht nur, sondern klebt uns fest.
393· G e f ä h r l i c h e T u g e n d e n . — „Er vergisst Nichts, aber er vergiebt Alles." — Dann wird er doppelt gehasst, denn er beschämt doppelt, mit seinem Gedächtniss und mit seiner Grossmuth.
394· O h n e E i t e l k e i t . — Leidenschaftliche Menschen denken wenig an Das, was die Anderen denken, ihr Zustand erhebt sie über die Eitelkeit.
395· D i e C o n t e m p l a t i o n . — Bei dem einen Denker folgt der dem Denker eigene beschauliche Zustand immer auf den Zustand der Furcht, bei einem andern immer auf den Zustand der Begierde. Dem ersten scheint demnach die Beschaulichkeit mit dem Gefühl der S i c h e r h e i t verbunden, dem andern mit dem Gefühl der S ä t t i g u n g — das heisst: jener ist dabei muthig, dieser überdrüssig und neutral gestimmt. 3 96.
A u f d e r J a g d . — Jener ist auf der Jagd, angenehme Wahrheiten zu haschen, dieser — unangenehme. Aber auch der Erstere hat mehr Vergnügen an der Jagd, als an der Beute.
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Morgenröthe
397· E r z i e h u n g . — Die Erziehung ist eine Fortsetzung der Zeugung und oft eine Art nachträglicher Beschönigung derselben. 398. W o r a n d e r H i t z i g e r e z u e r k e n n e n i s t . — Von zwei Personen, die mit einander kämpfen oder sich lieben oder sich bewundern, übernimmt die, welche die hitzigere ist, immer die unbequemere Stellung. Das Selbe gilt auch von zwei Völkern. 399· S i c h v e r t h e i d i g e n . — Manche Menschen haben das beste Recht, so und so zu handeln; aber wenn sie sich darob vertheidigen, glaubt man's nicht mehr — und irrt sich.
400. M o r a l i s c h e V e r z ä r t e l u n g . — Es giebt zart moralische Naturen, welche bei jedem Erfolge Beschämung und bei jedem Misserfolge Gewissensbisse haben.
401. G e f ä h r l i c h s t e s V e r l e r n e n . — Man fängt damit an, zu verlernen, Andere zu lieben und hört damit auf, an sich nichts Liebenswerthes mehr zu finden.
402. A u c h e i n e T o l e r a n z . — „Eine Minute zu lange auf glühenden Kohlen gelegen haben und ein Wenig dabei a η -
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z u b r e n n e n , — das schadet noch Nichts, bei Mensdien und Kastanien! Diese kleine Bitterkeit und Härte lässt erst recht schmecken, wie süss und milde der Kern ist." — Ja! So urtheilt ihr Geniessenden! Ihr sublimen Menschenfresser!
403.
V e r s c h i e d e n e r S t o l z . — Die Frauen sind es, weldie bei der Vorstellung erbleichen, ihr Geliebter möchte ihrer nicht werth sein; die Männer sind es, welche bei der Vorstellung erbleichen, sie möchten ihrer Geliebten nicht werth sein. Es ist hier von ganzen Frauen, ganzen Männern die Rede. Solche Männer, als die Menschen der Zuversichtlichkeit und des Machtgefühls f ü r g e w ö h n l i c h , haben im Zustande der Passion ihre Verschämtheit, ihren Zweifel an sich; solche Frauen aber fühlen sich sonst immer als die Schwachen, zur Hingebung Bereiten, aber in der hohen A u s n a h m e der Passion haben sie ihren Stolz und ihr Machtgefühl, — als welches frägt: wer ist m e i n e r würdig?
404.
W e m m a n s e l t e n g e r e c h t w i r d . — Mancher kann sich nicht für etwas Gutes und Grosses erwärmen, ohne schweres Unrecht nach irgend einer Seite hin zu thun: diess ist s e i n e Art Moralität.
405.
L u x u s . — Der Hang zum Luxus geht in die Tiefe eines Menschen: er verräth, dass das Überflüssige und Unmässige das Wasser ist, in dem seine Seele am liebsten schwimmt.
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Morgenröthe
406. U n s t e r b l i c h m a c h e n . — Wer seinen Gegner tödten will, mag erwägen, ob er ihn nicht gerade dadurch bei sich verewigt. 407. W i d e r u n s e r n C h a r a k t e r . — Geht die Wahrheit, die wir zu sagen haben, wider unsern Charakter — wie es oft vorkommt —, so benehmen wir uns dabei, als ob wir schlecht lögen und erregen Misstrauen.
408. W o v i e l M i l d e n o t h t h u t . — Manche Naturen haben nur die Wahl, entweder öffentliche Übelthäter oder geheime Leidträger zu sein. 409. K r a n k h e i t . — Unter Krankheit ist zu verstehen: eine unzeitige Annäherung des Alters, der Hässlichkeit und der pessimistischen Urtheile: welche Dinge zu einander gehören.
410. D i e Ä n g s t l i c h e n . — Gerade die ungeschickten ängstlichen Wesen werden leicht zu Todtschlägern: sie verstehen die kleine zweckentsprechende Vertheidigung oder Rache nidit, ihr Hass weiss aus Mangel an Geist und Geistesgegenwart keinen andern Ausweg, als die Vernichtung.
411. O h n e H a s s . — Du willst von deiner Leidenschaft Abschied nehmen? Thue es, aber o h n e H a s s gegen sie! Sonst
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hast du eine zweite Leidenschaft. — Die Seele der Christen, die sich von der Sünde freigemacht hat, wird gewöhnlich hinterher durch den Hass gegen die Sünde ruinirt. Sieh die Gesichter der grossen Christen an! Es sind die Gesichter von grossen Hassern. 412. G e i s t r e i c h u n d b e s c h r ä n k t . — Er versteht Nichts zu schätzen, ausser sich; und wenn er Andere schätzen will, so muss er sie immer erst in sich verwandeln. Darin aber ist er geistreich. 413. Die privaten und ö f f e n t l i c h e n Ankläger. — Sieh dir Jeden genau an, der anklagt und inquirirt, — er enthüllt dabei seinen Charakter: und zwar nicht selten einen schlechteren Charakter, als das Opfer hat, hinter dessen Verbrechen er her ist. Der Anklagende meint in aller Unschuld, der Gegner eines Frevels und eines Frevlers müsse schon an sich von gutem Charakter sein oder als gut gelten, — und so lässt er sich gehen, das heisst: er lässt sich h e r a u s . 414. D i e f r e i w i l l i g B l i n d e n . — Es giebt eine Art schwärmerischer, bis zum Äussersten gehender Hingebung an eine Person oder Partei, die verräth, dass wir im Geheimen uns ihr überlegen fühlen und darüber mit uns grollen. Wir blenden uns gleichsam freiwillig zur Strafe dafür, dass unser Auge zu viel gesehen hat. 415. R e m e d i u m a m o r i s . — Immer noch hilft gegen die Liebe in den meisten Fällen jenes alte Radicalmittel: die Gegenliebe.
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Morgenröthe
416. W o i s t d e r s c h l i m m s t e F e i n d ? — Wer seine Sache gut führen kann und sich dessen bewusst ist, ist gegen seinen Widersacher meist versöhnlich gestimmt. Aber zu glauben, dass man die gute Sache für sich habe, und zu wissen, dass man n i c h t geschickt ist, sie zu vertheidigen, — das macht einen ingrimmigen und unversöhnlichen Hass auf den Gegner der eignen Sache. — Möge Jeder darnach berechnen, wo seine schlimmsten Feinde zu suchen sind!
417. G r ä n z e a l l e r D e m u t h . — Zu der Demuth, welche spricht: credo quia absurdum est, und ihre Vernunft zum Opfer anbietet, brachte es wohl schon Mancher: aber Keiner, so viel ich weiss, bis zu jener Demuth, die doch nur einen Schritt davon entfernt ist und welche spricht: credo quia absurdus sum.
418. W a h r s p i e l e r e i . — Mancher ist wahrhaftig, — niclit weil er es verabscheut, Empfindungen zu heucheln, sondern weil es ihm schlecht gelingen würde, seiner Heuchelei Glauben zu verschaffen. Kurz, er traut seinem Talent als Schauspieler nicht und zieht die Redlichkeit vor, die „Wahrspielerei".
419. M u t h i n d e r P a r t e i . — Die armen Schafe sagen zu ihrem Zugführer: „gehe nur immer voran, so wird es uns nie an Muth fehlen, dir zu folgen." Der arme Zugführer aber denkt bei sich: „folgt mir nur immer nach, so wird es mir nie an Muth fehlen, euch zu führen."
Viertes Buch 416—422
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420.
V e r s c h l a g e n h e i t d e s O p f e r t h i e r s . — Es ist eine traurige Verschlagenheit, wenn man sich über Jemanden täuschen will, dem man sich geopfert hat, und ihm Gelegenheit bietet, wo er uns so erscheinen muss, wie wir wünschen, dass er wäre. 421.
D u r c h A n d r e h i n d u r c h . — Es giebt Menschen, die gar nicht anders gesehen werden wollen, als durch Andre hindurchschimmernd. Und daran ist viel Klugheit. 422.
A n d e r n F r e u d e m a c h e n . — Warum geht Freudemachen über alle Freuden? — Weil man damit seinen fünfzig eignen Trieben auf Einmal eine Freude macht. Es mögen das einzeln sehr kleine Freuden sein: aber thut man sie alle in Eine Hand, so hat man die Hand voller, als jemals sonst, — und das Herz auch! —
Fünftes Buch.
423. I m g r o s s e n S c h w e i g e n . — Hier ist das Meer, hier können wir der Stadt vergessen. Zwar lärmen eben jetzt noch ihre Glocken das Ave Maria — es ist jener düstere und thörichte, aber süsse Lärm am Kreuzwege von Tag und Nacht —, aber nur noch einen Augenblick! Jetzt schweigt Alles! Das Meer liegt bleich und glänzend da, es kann nicht reden. Der Himmel spielt sein ewiges stummes Abendspiel mit rothen, gelben, grünen Farben, er kann nicht reden. Die kleinen Klippen und Felsenbänder, welche in's Meer hineinlaufen, wie um den Ort zu finden, wo es am einsamsten ist, sie können alle nicht reden. Diese ungeheure Stummheit, die uns plötzlich überfällt, ist schön und grausenhaft, das Herz schwillt dabei. — Oh der Gleissnerei dieser stummen Schönheit! Wie gut könnte sie reden, und wie böse audi, wenn sie wollte! Ihre gebundene Zunge und ihr leidendes Glück im Antlitz ist eine Tücke, um über dein Mitgefühl zu spotten! — Sei es drum! Ich schäme mich dessen nicht, der Spott solcher Mächte zu sein. Aber ich bemitleide dich, Natur, weil du schweigen musst, auch wenn es nur deine Bosheit ist, die dir die Zunge bindet: ja, ich bemitleide dich um deiner Bosheit willen! — Ach, es wird noch stiller, und noch einmal schwillt mir das Herz: es erschrickt vor einer neuen Wahrheit, es k a n n a u c h n i c h t r e d e n , es spottet selber mit, wenn der Mund Etwas in diese Schönheit
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Morgenröthe
hinausruft, es geniesst selber seine süsse Bosheit des Schweigens. Das Sprechen, ja das Denken wird mir verhasst: höre ich denn nicht hinter jedem Worte den Irrthum, die Einbildung, den Wahngeist lachen? Muss ich nicht meines Mitleidens spotten? Meines Spottes spotten? — Oh Meer! O h Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister! Ihr lehrt den Menschen a u f h ö r e n , Mensch zu sein! Soll er sich euch hingeben? Soll er werden, wie ihr es jetzt seid, bleich, glänzend, stumm, ungeheuer, über sich selber ruhend? Über sich selber erhaben?
424.
F ü r w e n d i e W a h r h e i t d a i s t . — Bis jetzt sind die Irrthümer die t r o s t r e i c h e n Mächte gewesen: nun erwartet man von den erkannten Wahrheiten die selbe Wirkung und wartet ein Wenig lange schon. Wie, wenn die Wahrheiten gerade diess — zu trösten — nicht zu leisten vermöchten? — Wäre diess denn ein Einwand gegen die Wahrheiten? Was haben diese mit den Zuständen leidender, verkümmerter, kranker Menschen gemeinsam, dass sie gerade ihnen nützlich sein müssten? Es ist doch kein Beweis gegen die W a h r h e i t einer Pflanze, wenn festgestellt wird, dass sie zur Genesung kranker Menschen Nichts beiträgt. Aber ehemals war man bis zu dem Grade vom Menschen als dem Zwecke der Natur überzeugt, dass man ohne Weiteres annahm, es könne auch durch die Erkenntniss Nichts aufgedeckt werden, was nicht dem Menschen heilsam und nützlich sei, ja, es k ö n n e , es d ü r f e gar keine anderen Dinge g e b e n . — Vielleicht folgt aus alledem der Satz, dass die Wahrheit a l s G a n z e s und Zusammenhängendes nur für die zugleich mächtigen und harmlosen, freudund friedenvollen Seelen (wie es die des Aristoteles war) da ist, ebenso wie diese wohl auch nur im Stande sein werden, s i e z u s u c h e n : denn die anderen suchen H e i l m i t t e l für sich, mögen sie noch so stolz über ihren Intellect und dessen
Fünftes Buch 423—426
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Freiheit denken, — sie suchen n i c h t die Wahrheit. Daher kommt es, dass diese Anderen so wenig ächte Freude an der Wissenschaft haben und ihr Kälte, Trockenheit und Unmenschlichkeit zum Vorwurf machen: es ist diess das Urtheil der Kranken über die Spiele der Gesunden. — Auch die griechischen Götter verstanden nicht zu trösten; als endlich auch die griechischen Menschen allesammt krank wurden, war diess ein Grund zum Untergang solcher Götter.
425.
W i r G ö t t e r i n d e r V e r b a n n u n g ! — Durch I r r t h ü m e r über ihre Herkunft, ihre Einzigkeit, ihre Bestimmung, und durch A n f o r d e r u n g e n , die auf Grund dieser Irrthümer gestellt wurden, hat sich die Menschheit hoch gehoben und sich immer wieder „selber übertreffen": aber durch die selben Irrthümer ist unsäglich viel Leiden, gegenseitige Verfolgung, Verdächtigung, Verkennung, und noch mehr Elend des Einzelnen in sich und an sich in die Welt gekommen. Die Menschen sind l e i d e n d e Geschöpfe geworden, in Folge ihrer Moralen: was sie damit eingekauft haben, das ist, Alles in Allem, ein Gefühl, als ob sie im Grunde zu gut und zu bedeutend für die Erde wären und nur vorübergehend sich auf ihr aufhielten. „Der leidende Hochmüthige" ist einstweilen immer noch der höchste Typus des Menschen.
426.
Farbenblindheit d e r D e n k e r . — Wie anders sahen die Griechen in ihre Natur, wenn ihnen, wie man sich eingestehen muss, das Auge für Blau und Grün blind war, und sie statt des ersteren ein tieferes Braun, statt des zweiten ein Gelb sahen (wenn sie also mit gleichem Worte zum Beispiel die Farbe des dunkelen Haares, die der Kornblume und die des
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Morgenröthe
südländischen Meeres bezeichneten, und wiederum mit gleichem Worte die Farbe der grünsten Gewächse und der menschlichen Haut, des Honigs und der gelben Harze: sodass ihre grössten Maler bezeugtermaassen ihre Welt nur mit Schwarz, Weiss, Roth und Gelb wiedergegeben haben), — wie anders und wie viel näher an den Menschen gerückt musste ihnen die Natur erscheinen, weil in ihrem Auge die Farben des Menschen auch in der Natur überwogen und diese gleichsam in dem Farbenäther der Menschheit schwamm! (Blau und Grün entmenschlichen die Natur mehr, als alles Andere.) Auf diesem M a n g e l ist die spielende Leichtigkeit, welche die Griechen auszeichnet, Naturvorgänge als Götter und Halbgötter, das heisst als menschartige Gestalten zu sehen, grossgewachsen. — Diess sei aber nur das Gleichniss für eine weitere Vermuthung. Jeder Denker malt seine Welt und jedes Ding mit weniger Farben, a l s es g i e b t , und ist gegen einzelne Farben blind. Diess ist nicht nur ein Mangel. Er sieht vermöge dieser Annäherung und Vereinfachung Harmonien der Farben i n d i e D i n g e h i n e i n , welche einen grossen Reiz haben und eine Bereicherung der Natur ausmachen können. Vielleicht ist diess sogar der Weg gewesen, auf dem die Menschheit d e n G e n u s s im Anblick des Daseins erst gelernt hat: dadurch, dass ihr dieses Dasein zunächst in einem oder zwei Farbentönen und dadurch harmonisirt vorgeführt wurde: sie übte sich gleichsam auf diese wenigen Töne ein, bevor sie zu mehreren übergehen konnte. Und noch jetzt arbeitet sich mancher Einzelne aus einer theilweisen Farbenblindheit in ein reicheres Sehen und Unterscheiden hinaus: wobei er aber nicht nur neue Genüsse findet, sondern immer auch einige der früheren a u f g e b e n und v e r l i e r e n muss.
Fünftes Buch 426—427
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427. D i e V e r s c h ö n e r u n g d e r W i s s e n s c h a f t . — Wie die Rococo-Gartenkunst entstand, aus dem Gefühl „die Natur ist hässlich, wild, langweilig, — auf! wir wollen sie verschönern (embellir la nature)!" — so entsteht aus dem Gefühl „die Wissenschaft ist hässlich, trocken, trostlos, schwierig, langwierig, — auf! lasst uns sie verschönern!" immer wieder Etwas, das sich d i e P h i l o s o p h i e nennt. Sie will, was alle Künste und Dichtungen wollen, — vor Allem u n t e r h a l t e n : sie will diess aber, gemäss ihrem ererbten Stolze, in einer erhabeneren und höheren Art, vor einer Auswahl von Geistern. Für diese eine Gartenkunst zu schaffen, deren Hauptreiz wie bei jener „gemeineren" die T ä u s c h u n g d e r A u g e n ist (durch Tempel, Fernblicke, Grotten, Irrpfade, Wasserfälle, um im Gleichnisse zu reden), die Wissenschaft in einem Auszuge und mit allerlei wunderbaren und plötzlichen Beleuchtungen vorzuführen und so viel Unbestimmtheit, Unvernunft und Träumerei in sie einzumischen, dass man in ihr „wie in der wilden Natur" und doch ohne Mühsal und Langeweile wandeln könne, — das ist kein geringer Ehrgeiz: wer ihn hat, träumt sogar davon, auf diese Art die Religion entbehrlich zu machen, welche bei den früheren Menschen die höchste Gattung von Unterhaltungskunst abgegeben hat. — Diess geht nun seinen Gang und erreicht eines Tages seine hohe Fluth: jetzt schon beginnen die Gegenstimmen gegen die Philosophie laut zu werden, welche rufen „Rückkehr zur Wissenschaft! Zur Natur und Natürlichkeit der Wissenschaft!" — womit vielleicht ein Zeitalter a n h e b t , das die mächtigste Schönheit gerade in den „wilden, hässlichen" Theilen der Wissenschaft entdeckt, wie man seit Rousseau erst den Sinn für die Schönheit des Hochgebirges und der Wüste entdeckt hat.
268
Morgenröthe 428.
Z w e i A r t e n M o r a l i s t e n . — Ein Gesetz der Natur zum ersten Male sehen und ganz sehen, also es n a c h w e i s e n (zum Beispiel das der Fallkraft, der Licht- und Schallreflexion) ist etwas Anderes und die Sache anderer Geister, als ein solches Gesetz e r k l ä r e n . So unterscheiden sich auch jene Moralisten, welche die menschlichen Gesetze und Gewohnheiten sehen und aufzeigen — die feinohrigen, feinnasigen, feinäugigen Moralisten — durchaus von denen, welche das Beobachtete erklären. Die letzteren müssen vor Allem e r f i n d e r i s c h sein und eine durch Scharfsinn und Wissen e n t z ü g e l t e Phantasie haben.
429.
D i e n e u e L e i d e n s c h a f t . — Warum fürchten und hassen wir eine mögliche Rückkehr zur Barbarei? Weil sie die Menschen unglücklicher machen würde, als sie es sind? Ach nein! Die Barbaren aller Zeiten hatten m e h r Glück: täuschen wir uns nicht! — Sondern unser T r i e b z u r E r k e n n t n i s s ist zu stark, als dass wir noch das Glück ohne Erkenntniss oder das Glück eines starken festen Wahnes zu schätzen vermöchten; es macht Pein, uns solche Zustände auch nur vorzustellen! Die Unruhe des Entdeckens und Errathens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die unglückliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen den Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde; — j a , vielleicht sind wir auch u n g l ü c k l i c h Liebende! Die Erkenntniss hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde Nichts fürchtet, als ihr eigenes Erlöschen; wir glauben aufrichtig, dass die gesammte Menschheit unter dem Drange und Leiden d i e s e r Leidenschaft sich erhabener und getrösteter glauben müsste als bisher, wo sie den Neid auf das gröbere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt, noch nicht
Fünftes Buch 428—431
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überwunden hat. Vielleicht selbst, dass die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntniss zu Grunde geht! — auch dieser Gedanke vermag Nichts über uns! H a t sich denn das Christenthum je vor einem ähnlichen Gedanken gescheut? Sind die Liebe und der Tod nicht Geschwister? Ja, wir hassen die Barbarei, — wir wollen Alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntniss! Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer L e i d e n s c h a f t zu Grunde geht, so wird sie an einer S c h w ä c h e zu Grunde gehen: was will man lieber? Diess ist die Hauptfrage. Wollen wir für sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande? — 430.
A u c h h e l d e n h a f t . — Dinge vom übelsten Gerüche thun, von denen man kaum zu reden wagt, die aber nützlich und nöthig sind, — ist auch heldenhaft. Die Griechen haben sich nicht geschämt, unter die grossen Arbeiten des Herakles auch die Ausmistung eines Stalles zu setzen. 431.
D i e M e i n u n g e n d e r G e g n e r . — Um zu messen, wie fein oder wie schwachsinnig von Natur auch die gescheutesten Köpfe sind, gebe man darauf Acht, wie sie die Meinungen ihrer Gegner auffassen und wiedergeben: dabei verräth sich das natürliche Maass jedes Intellectes. — Der vollkommene Weise erhebt, ohne es zu wollen, seinen Gegner in's Ideal und macht dessen Widerspruch frei von allen Flecken und Zufälligkeiten: erst wenn dadurch aus seinem Gegner ein Gott mit leuchtenden Waffen geworden ist, kämpft er gegen ihn.
270
Morgenröthe 432.
F o r s c h e r u n d V e r s u c h e r . — Es giebt keine alleinwissendmachende Methode der Wissenschaft! Wir müssen versuchsweise mit den Dingen verfahren, bald böse, bald gut gegen sie sein und Gerechtigkeit, Leidenschaft und Kälte nach einander für sie haben. Dieser redet mit den Dingen als Polizist, Jener als Beichtvater, ein Dritter als Wanderer und Neugieriger. Bald mit Sympathie, bald mit Vergewaltigung wird man ihnen Etwas abdringen; Einen führt Ehrfurcht vor ihren Geheimnissen vorwärts und zur Einsicht, Einen wiederum Indiscretion und Schelmerei in der Erklärung von Geheimnissen. Wir Forscher sind wie alle Eroberer, Entdecker, Schifffahrer, Abenteuerer von einer verwegenen Moralität und müssen es uns gefallen lassen, im Ganzen für böse zu gelten.
433·
M i t n e u e n A u g e n s e h e n . — Gesetzt, dass unter Schönheit in der Kunst immer die N a c h b i l d u n g d e s G l ü c k l i c h e n zu verstehen ist — und so halte ich es für die Wahrheit — , je nachdem eine Zeit, ein Volk, ein grosses in sich selber gesetzgeberisches Individuum sich den Glücklichen vorstellt: was giebt dann der sogenannte R e a l i s m u s der jetzigen Künstler über das Glück unserer Zeit zu verstehen? Es ist unzweifelhaft s e i n e A r t von Schönheit, welche wir jetzt am leichtesten zu erfassen und zu geniessen wissen. Folglich muss man wohl glauben, das jetzige u n s eigene Glück liege im Realistischen, in möglichst scharfen Sinnen und treuer A u f fassung des Wirklichen, nicht also in der Realität, sondern im W i s s e n u m d i e R e a l i t ä t ? So sehr hat die Wirkung der Wissenschaft schon Tiefe und Breite gewonnen, dass die Künstler des Jahrhunderts, ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern der wissenschaftlichen „Seligkeiten" an sich geworden sind!
Fünftes Buch 432—436
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434·
F ü r s p r a c h e e i n l e g e n . — Für die grossen Landschaftsmaler sind die anspruchslosen Gegenden da, die merkwürdigen und seltenen Gegenden aber für die kleinen. Nämlich: die grossen Dinge der Natur und Menschheit müssen für alle die Kleinen, Mittelmässigen und Ehrgeizigen unter ihren Verehrern Fürsprache einlegen, — aber d e r G r o s s e legt Fürsprache für die s c h l i c h t e n Dinge ein.
435·
N i c h t u n v e r m e r k t z u G r u n d e g e h e n . — Nicht Einmal, sondern fortwährend bröckelt es an unserer Tüchtigkeit und Grösse; die kleine Vegetation, welche zwischen Allem hineinwächst und sich überall anzuklammern versteht, diese ruinirt Das, was gross an uns ist, — die alltägliche, stündliche übersehene Erbärmlichkeit unserer Umgebung, die tausend Würzelchen dieser oder jener kleinen und kleinmüthigen Empfindung, welche aus unserer Nachbarschaft, aus unserem Amte, unserer Geselligkeit, unserer Tageseintheilung herauswächst. Lassen wir diess kleine Unkraut unbemerkt, so gehen wir an ihm unbemerkt zu Grunde! — Und wollt ihr durchaus zu Grunde gehen, so thut es lieber a u f e i n m a l und plötzlich: dann bleiben vielleicht von euch e r h a b e n e T r ü m m e r übrig! Und nicht, wie jetzt zu befürchten steht, Maulwurfshügel! Und Gras und Unkraut auf ihnen, die kleinen Siegreichen, bescheiden wie vordem, und zu erbärmlich selbst zum Triumphiren!
436. C a s u i s t i s c h . — Es giebt eine bitterböse Alternative, der nicht Jedermanns Tapferkeit und Charakter gewachsen ist: als Passagier eines Schiffes zu entdecken, dass Capitän und Steuermann gefährliche Fehler machen und dass man ihnen in
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Morgenröthe
nautischem Wissen überlegen sei, — und nun sich zu fragen: Wie! wenn du gegen sie eine Meuterei erregtest und sie Beide gefangen nehmen liessest? Verpflichtet dich deine Überlegenheit nicht dazu? Und sind sie nicht wiederum im Rechte, dich einzusperren, weil du den Gehorsam untergräbst? — Diess ist ein Gleichniss für höhere und bösere Lagen: wobei zuletzt immer noch die Frage bleibt, was uns unsere Überlegenheit, unseren Glauben an uns selber in solchen Fällen gewährleistet. Der Erfolg? Aber da muss man eben schon das Ding t h u η , welches alle Gefahren in sich trägt, — und nicht nur Gefahren für uns, sondern für das Schiff.
437· V o r r e c h t e . — Wer sich selber wirklich besitzt, das heisst wer sich endgültig e r o b e r t h a t , betrachtet es fürderhin als sein eigenes Vorrecht, sich zu strafen, sich zu begnadigen, sich zu bemitleiden: er braucht diess Niemandem zuzugestehen, er kann es aber auch einem Andern mit Freiheit in die Hand geben, einem Freunde zum Beispiel, — aber er weiss, dass er damit ein R e c h t verleiht und dass man nur aus dem Besitze der M a c h t heraus Rechte verleihen kann.
438.
M e n s c h u n d D i n g e . — Warum sieht der Mensch die Dinge nicht? Er steht selber im Wege: er verdeckt die Dinge.
439· M e r k m a l e d e s G l ü c k s . — Das Gemeinsame aller Glücksempfindungen ist zweierlei: F ü l l e des Gefühls und Ü b e r m u t h darin, sodass man wie ein Fisch sein Element
Fünftes Buch 436—442
273
um sich fühlt und in ihm springt. Gute Christen werden verstehen, was christliche Ausgelassenheit ist.
440.
N i c h t e n t s a g e n ! — Auf die Welt verzichten, ohne sie zu kennen, gleich einer N o n n e , — das giebt eine unfruchtbare, vielleicht schwermüthige Einsamkeit. Diess hat Nichts gemeinsam mit der Einsamkeit der vita contemplativa des Denkers: wenn er s i e wählt, will er keineswegs entsagen; vielmehr wäre es ihm Entsagung, Schwermuth, Untergang seiner selbst, in der vita practica ausharren zu müssen: auf diese verzichtet er, weil er sie kennt, weil er sich kennt. So springt er in s e i n Wasser, so gewinnt er s e i n e Heiterkeit.
441.
W a r u m das N ä c h s t e uns immer f e r n e r wird. — Je mehr wir an Alles, was war und sein wird, denken, um so bleicher wird uns Das, was gerade jetzt ist. Wenn wir mit Gestorbenen leben und in ihrem Sterben mitsterben, was sind uns dann noch die „Nächsten"? Wir werden einsamer, — und zwar w e i l die ganze Fluth der Menschheit um uns rauscht. Die Gluth in uns, die allem Menschlichen gilt, nimmt immer zu — und d a r u m blicken wir auf Das, was uns umgiebt, wie als ob es gleichgültiger und schattenhafter geworden wäre. — Aber unser kalter Blick b e l e i d i g t !
442.
D i e R e g e l . — „Die Regel ist mir immer interessanter, als die Ausnahme" — wer so empfindet, der ist in der Erkenntniss weit voraus und gehört zu den Eingeweihten.
274
Morgenröthe 443·
Z u r E r z i e h u n g . — Allmählich ist mir das Licht über den allgemeinsten Mangel unserer Art Bildung und Erziehung aufgegangen: Niemand lernt, Niemand strebt darnach, Niemand lehrt — d i e E i n s a m k e i t e r t r a g e n .
444·
Verwunderung über W i d e r s t a n d . — Weil Etwas für uns durchsichtig geworden ist, meinen wir, es könne uns nunmehr keinen Widerstand leisten — und sind dann erstaunt, dass wir hindurchsehen und doch nicht hindurch können! Es ist diess die selbe Thorheit und das selbe Erstaunen, in welches die Fliege vor jedem Glasfenster geräth.
445·
W o r i n s i c h d i e E d e l s t e n v e r r e c h n e n . — Man giebt Jemandem endlich sein Bestes, sein Kleinod, — nun hat die Liebe Nichts mehr zu geben: aber Der, welcher es annimmt, hat daran gewiss nicht s e i n Bestes, und folglich fehlt ihm jene volle und letzte Erkenntlichkeit, auf welche der Gebende rechnet. 446.
R a n g o r d n u n g . — Es giebt erstens oberflächliche Denker, zweitens tiefe Denker — solche, welche in die Tiefe einer Sache gehen —, drittens gründliche Denker, die einer Sache auf den Grund gehen, — was sehr viel mehr werth ist, als nur in ihre Tiefe hinabsteigen! — endlich solche, welche den Kopf in den Morast stecken: was doch weder ein Zeichen von Tiefe noch von Gründlichkeit sein sollte! Es sind die lieben Untergründlichen.
Fünftes Buch 443—449
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447· M e i s t e r u n d S c h ü l e r . — Zur Humanität eines Meisters gehört, seine Schüler vor sich zu warnen.
448.
D i e W i r k l i c h k e i t e h r e n . — Wie kann man dieser jubelnden Volksmenge ohne Thränen und ohne Zustimmung zusehen! Wir dachten vorher gering von dem Gegenstand ihres Jubels und würden noch immer so denken, w e n n wir ihn nicht erlebt hätten! Wozu können uns also die Erlebnisse fortreissen! Was sind unsere Meinungen! Man muss, um sich nicht zu verlieren, um seine V e r n u n f t nicht zu verlieren, vor den Erlebnissen flüchten! So floh Plato vor der Wirklichkeit und wollte die Dinge nur in den blassen Gedankenbildern anschauen; er war voller Empfindung und wußte, wie leicht die Wellen der Empfindung über seiner Vernunft zusammenschlugen. — So hätte sich demnach der Weise zu sagen: „ich will die W i r k l i c h k e i t ehren, aber ihr den Rücken dabei zuwenden, w e i l ich sie kenne und fürchte"? — er müsste es machen wie africanische Völkerschaften vor ihrem Fürsten: welche ihm nur rückwärts nahen und ihre Verehrung zugleich mit ihrer Angst zu zeigen wissen?
449· W o s i n d d i e B e d ü r f t i g e n d e s G e i s t e s ? — Ah! Wie es mich anwidert, einem Anderen die eigenen Gedanken a u f z u d r ä n g e n ! Wie ich mich jeder Stimmung und heimlichen Umkehr in mir freue, bei der die Gedanken A n d e r e r gegen die eigenen zu Rechte kommen! Ab und zu giebt es aber ein noch höheres Fest, dann, wenn es einmal e r l a u b t ist, sein geistiges Haus und Habe w e g z u s c h e n k e n , dem Beichtvater gleich, der im Winkel sitzt, begierig, dass e i n B e -
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Morgenröthe
d ü r f t i g e r komme und von der Noth seiner Gedanken erzähle, damit er ihm wieder einmal Hand und Herz voll und die beunruhigte Seele l e i c h t m a c h e ! Nicht nur, dass er keinen Ruhm davon haben will: er möchte auch der Dankbarkeit aus dem Wege laufen, denn sie ist zudringlich und ohne Scheu vor Einsamkeit und Stillschweigen. Aber namenlos oder leicht verspottet leben, zu niedrig, um Neid oder Feindschaft zu erwecken, mit einem Kopf ohne Fieber, einer Handvoll Wissen und einem Beutel voll Erfahrungen ausgerüstet, gleichsam ein Armenarzt des Geistes sein und Dem und Jenem, dessen Kopf d u r c h M e i n u n g e n v e r s t ö r t i s t , helfen, ohne dass er recht merkt, wer ihm geholfen hat! Nicht vor ihm Recht haben und einen Sieg feiern wollen, sondern so zu ihm sprechen, dass er das Rechte nach einem kleinen unvermerkten Fingerzeig oder Widerspruch sich selber sagt und stolz darüber fortgeht! Wie eine geringe Herberge sein, die Niemanden zurückstösst, der bedürftig ist, die aber hinterher vergessen oder verlacht wird! Nichts voraus haben, weder die bessere Nahrung, noch die reinere Luft, noch den freudigeren Geist, — sondern abgeben, zurückgeben, mittheilen, ärmer werden! Niedrig sein können, um Vielen zugänglich und für Niemanden demüthigend zu sein! Viel Unrecht auf sich liegen haben und durch die Wurmgänge aller Art Irrthümer gekrochen sein, um zu vielen verborgenen Seelen auf ihren geheimen Wegen gelangen zu können! Immer in einer Art Liebe und immer in einer Art Selbstsucht und Selbstgeniessens! Im Besitz einer Herrschaft und zugleich verborgen und entsagend sein! Beständig in der Sonne und Milde der Anmuth liegen und doch die Aufstiege zum Erhabenen in der Nähe wissen! — Das wäre ein Leben! Das wäre ein Grund, lange zu leben!
Fünftes Buch 449—452
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45°·
D i e L o c k u n g d e r E r k e n n t n i s s . — Auf leidenschaftliche Geister wirkt der Bilde durch das Thor der Wissenschaft wie der Zauber aller Zauber; und vermuthlich werden sie dabei zu Phantasten und im günstigen Falle zu Dichtern: so heftig ist ihre Begierde nach dem Glück der Erkennenden. Geht es euch nicht durch alle Sinne, — dieser Ton der süssen Lockung, mit dem die Wissenschaft ihre frohe Botschaft verkündet hat, in hundert Worten und im hundert-ersten und schönsten: „Lass den Wahn schwinden! Dann ist auch das ,Wehe mir!' verschwunden; und mit dem ,Wehe mir!' ist auch das Wehe dahin." (Marc Aurel.) 4ji.
W e m e i n H o f n a r r n ö t h i g i s t . — Die sehr Schönen, die sehr Guten, die sehr Mächtigen erfahren fast nie über irgend Etwas die volle und gemeine Wahrheit, — denn in ihrer Gegenwart lügt man unwillkürlich ein Wenig, weil man ihre Wirkungen empfindet und diesen Wirkungen gemäss Das, was man an Wahrheit mittheilen könnte, in der Form einer A n p a s s u n g vorbringt (also Farben und Grade des Thatsächlichen fälscht, Einzelheiten weglässt oder hinzuthut und Das, was sich gar nicht anpassen lassen will, hinter seinen Lippen zurückbehält). Wollen Menschen der Art trotz Alledem und durchaus die Wahrheit hören, so müssen sie sich ihren H o f n a r r e n halten, — ein Wesen mit dem Vorrechte des Verrückten, sich nicht anpassen zu können. 452. U n g e d u l d . — Es giebt einen Grad von Ungeduld bei Menschen der That und des Gedankens, welcher sie, bei einem Misserfolge, sofort in das entgegengesetzte Reich übertreten, sich dort passioniren und in Unternehmungen einlassen heisst, — bis auch von hier wieder ein Zögern des Erfolges sie ver-
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Morgenröthe
treibt: so irren sie, abenteuernd und heftig, durch die Praxis vieler Reiche und Naturen und können zuletzt, durch die Allkenntniss von Menschen und Dingen, welche ihre ungeheuere Wanderung und Übung in ihnen zurücklässt, und bei einiger Milderung ihres Triebes, — zu mächtigen Praktikern werden. So wird ein Fehler des Charakters zur Schule des Genie's.
453·
M o r a l i s c h e s I n t e r r e g n u m . — Wer wäre jetzt schon im Stande, Das zu beschreiben, was einmal die moralischen Gefühle und Urtheile a b l ö s e n wird! — so sicher man auch einzusehen vermag, dass diese in allen Fundamenten irrthümlich angelegt sind und ihr Gebäude der Reparatur unfähig ist: ihre Verbindlichkeit muss von Tag zu Tage immer abnehmen, sofern nur die Verbindlichkeit der Vernunft nicht abnimmt! Die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen, — zu dieser Aufgabe sind unsere Wissenschaften der Physiologie, Medicin, Gesellschafts- und Einsamkeitslehre ihrer selbst noch nicht sicher genug: und nur aus ihnen kann man die Grundsteine für neue Ideale (wenn auch nicht die neuen Ideale selber) entnehmen. So leben wir denn ein v o r l ä u f i g e s Dasein oder ein n a c h l ä u f i g e s Dasein, je nach Geschmack: und Begabung, und thun am besten, in diesem Interregnum, so sehr, als nur möglich, unsere eigenen reges zu sein und kleine V e r s u c h s s t a a t e n zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!
454·
Z w i s c h e n r e d e . — Ein Buch, wie dieses, ist nicht zum Durchlesen und Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reisen, man muss den Kopf hinein- und immer wieder hinausstecken können und nichts Gewohntes um sich finden.
Fünftes Buch 4 5 2 — 4 5 7
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455 ·
D i e e r s t e N a t u r . — So wie man uns jetzt erzieht, bekommen wir zuerst eine z w e i t e N a t u r : und wir haben sie, wenn die Welt uns reif, mündig, brauchbar nennt. Einige Wenige sind Schlangen genug, um diese Haut eines Tages abzustossen: dann, wenn unter ihrer Hülle ihre e r s t e N a t u r reif geworden ist. Bei den Meisten vertrocknet der Keim davon. 4 j6. E i n e w e r d e n d e T u g e n d . — Solche Behauptungen und Verheissungen, wie die der antiken Philosophen von der Einheit der Tugend und der Glückseligkeit, oder wie die des Christenthums „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch solches Alles zufallen!" — sind nie mit voller Redlichkeit, und doch immer ohne schlechtes Gewissen, gemacht worden: man stellte solche Sätze, deren Wahrheit man sehr wünschte, keck als die Wahrheit gegen den Augenschein auf, und empfand dabei nicht einen religiösen oder moralischen Gewissensbiss — denn man war in honorem majorem der Tugend oder Gottes über die Wirklichkeit hinausgegangen und ohne alle eigennützigen Absichten! Auf dieser S t u f e d e r W a h r h a f t i g k e i t stehen noch viele brave Menschen: wenn sie sich selbstlos f ü h l e n , scheint es ihnen erlaubt, es mit der Wahrheit l e i c h t e r z u n e h m e n . Man beachte doch, dass weder unter den somatischen, noch unter den christlichen Tugenden die R e d l i c h k e i t vorkommt: diese ist eine der jüngsten Tugenden, noch wenig gereift, noch oft verwechselt und verkannt, ihrer selber noch kaum bewusst, — etwas Werdendes, das wir fördern oder hemmen können, je nachdem unser Sinn steht.
457·
L e t z t e S c h w e i g s a m k e i t . — Einzelnen geht es so wie Schatzgräbern: sie entdecken zufällig die verborgen gehaltenen
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Morgenröthe
Dinge einer fremden Seele und haben daran ein Wissen, welches oft schwer zu tragen ist! Man kann unter Umständen Lebende und Todte bis zu einem Grade gut kennen und innerlich ausfindig machen, dass es Einem peinlich wird, von ihnen gegen Andere zu reden: man fürchtet mit jedem Worte indiscret zu sein. — Ich könnte mir ein plötzliches Stummwerden des weisesten Historikers denken.
458.
D a s g r o s s e L o o s . — Das ist etwas sehr Seltenes, aber ein Ding zum Entzücken: der Mensch nämlich mit schön gestaltetem Intellecte, welcher den Charakter, die Neigungen und a u c h d i e E r l e b n i s s e hat, die zu einem solchen Intellecte gehören. 459·
D i e G r o s s m ü t h i g k e i t d e s D e n k e r s . — Rousseau und Schopenhauer — Beide waren stolz genug, ihrem Dasein den Wahlspruch aufzuschreiben: vitam impendere vero. Und Beide wiederum — was mögen sie in ihrem Stolze gelitten haben, dass es ihnen nicht gelingen wollte, verum impendere vitae! — verum, wie es jeder von ihnen verstand —, dass ihr Leben neben ihrer Erkenntniss nebenherlief wie ein launischer Bass, der zur Melodie nicht stimmen will! — Aber es stünde schlimm um die Erkenntniss, wenn sie jedem Denker nur in dem Maasse zugemessen würde, als sie ihm gerade auf den Leib passt! Und es stünde schlimm um die Denker, wenn ihre Eitelkeit so gross wäre, dass sie diess allein ertrügen! Gerade darin glänzt die schönste Tugend des grossen Denkers: die Grossmüthigkeit, dass er als Erkennender sich selber und sein Leben unverzagt, oftmals beschämt, oftmals mit erhabenem Spotte und lächelnd — zum Opfer bringt.
Fünftes Buch 457—461
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460.
S e i n e g e f ä h r l i c h e n S t u n d e n a u s n ü t z e n . — Man lernt einen Menschen und einen Zustand ganz anders kennen, wenn Gefahr um Hab und Gut, Ehre, Leben und Tod, für uns und unsere Liebsten, in jeder ihrer Bewegungen liegt: wie zum Beispiel Tiberius tiefer über das Innere des Kaisers Augustus und seines Regimentes nachgedacht und mehr davon gewusst haben muss, als dem weisesten Historiker es auch nur möglich wäre. Nun leben wir Alle vergleichungsweise in einer viel zu grossen Sicherheit, als dass wir gute Menschenkenner werden könnten: der Eine erkennt aus Liebhaberei, der Andere aus Langerweile, der Dritte aus Gewohnheit; niemals heisst es: „erkenne, oder geh' zu Grunde!" Solange sich uns die Wahrheiten nicht mit Messern in's Fleisch schneiden, haben wir in uns einen geheimen Vorbehalt der Geringschätzung gegen sie: sie scheinen uns immer noch den „gefiederten Träumen" zu ähnlich, wie als ob wir sie haben und auch nicht haben könnten, — als ob Etwas an ihnen in unserem Belieben stünde, als ob wir auch von diesen unseren Wahrheiten e r w a c h e n könnten!
461.
H i c R h o d u s , h i c s a l t a . — Unsere Musik, die sich in Alles verwandeln kann und verwandeln muss, weil sie, wie der Dämon des Meeres, an sich keinen Charakter hat: diese Musik ist ehemals dem c h r i s t l i c h e n G e l e h r t e n nachgegangen und hat dessen Ideal in Klänge zu übersetzen vermocht: warum sollte sie nicht endlich auch jenen helleren, freudigeren und allgemeinen Klang finden, der d e m i d e a l e n D e n k e r entspricht? — eine Musik, die erst in den weiten schwebenden Wölbungen s e i n e r Seele sich h e i m i s c h auf und nieder zu wiegen vermöchte? — Unsere Musik war bisher so gross, so gut: bei ihr war kein Ding unmöglich! So zeige sie denn, dass es möglich ist, diese Drei: Erhabenheit, tiefes und warmes Licht
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Morgenröthe
und die Wonne der höchsten Folgerichtigkeit auf Einmal zu empfinden! 462.
L a n g s a m e C u r e n . — Die chronischen Krankheiten der Seele entstehen wie die des Leibes, sehr selten nur durch einmalige grobe Vergehungen gegen die Vernunft von Leib und Seele, sondern gewöhnlich durch zahllose unbemerkte kleine Nachlässigkeiten. — Wer zum Beispiel Tag für Tag um einen noch so unbedeutenden Grad zu schwach athmet und zu wenig Luft in die Lunge nimmt, sodass sie als Ganzes nicht hinreichend angestrengt und geübt wird, trägt endlich ein chronisches Lungenleiden davon: in einem solchen Falle kann die Heilung auf keinem anderen Wege erfolgen, als dass wiederum zahllose kleine Übungen des Gegentheils vorgenommen und unvermerkt andere Gewohnheiten gepflegt werden, zum Beispiel, wenn man sich zur Regel macht, alle Viertelstunden des Tages Einmal stark und tief aufzuathmen (womöglich platt am Boden liegend; eine Uhr, welche die Viertelstunden schlägt, muss dabei zur Lebensgefährtin gewählt werden). L a n g s a m und kleinlich sind alle diese Curen; auch wer seine Seele heilen will, soll über die Veränderung der kleinsten Gewohnheiten nachdenken. Mancher sagt zehnmal des Tages ein böses kaltes Wort an seine Umgebung und denkt sich Wenig dabei, namentlich nicht, dass nach einigen Jahren er ein G e s e t z der Gewohnheit über sich geschaffen hat, welches ihn nunmehr η ö t h i g t , zehnmal jedes Tages seine Umgebung zu verstimmen. Aber er kann sich auch daran gewöhnen, ihr zehnmal wohlzuthun! —
463.
A m s i e b e n t e n T a g e . — „Ihr preist Jenes als mein S c h a f f e n ? Ich habe nur von mir hinweggethan, was mir
Fünftes Buch 461—465
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lästig war! Meine Seele ist über der Eitelkeit der Schaffenden erhaben. — Ihr preist Diess als meine R e s i g n a t i o n ? Ich habe nur von mir hinweggethan, was mir lästig war! Meine Seele ist über der Eitelkeit der Resignirten erhaben."
464.
S c h a m d e s S c h e n k e n d e n . — Es ist so ungrossmüthig, immer den Gebenden und Schenkenden zu machen und dabei sein Gesicht zu zeigen! Aber geben und schenken und seinen Namen und seine Gunst verhehlen! Oder keinen Namen haben, wie die Natur, in der uns eben Diess mehr als Alles erquickt, hier endlich einmal nicht mehr einem Schenkenden und Gebenden, nicht mehr einem „gnädigen Gesichte" zu begegnen! — Freilich, ihr verscherzt euch auch diese Erquickung, denn ihr habt einen Gott in diese Natur gesteckt — und nun ist wieder Alles unfrei und beklommen! Wie? Niemals mit sich allein sein dürfen? Nie mehr unbewacht, unbehütet, ungegängelt, unbeschenkt? Wenn immer ein Anderer um uns ist, so ist das Beste von Muth und Güte in der Welt unmöglich gemacht. Möchte man nicht gegen diese Zudringlichkeit des Himmels, gegen diesen unvermeidlichen übernatürlichen Nachbar ganz des Teufels werden! — Aber es ist nicht nöthig, es war ja nur ein Traum! Wachen wir auf!
465.
B e i e i n e r B e g e g n u n g . — A: Wohin blickst du? Du stehst so lange schon still hier. — B: Immer das Alte und das Neue! Die Hülfsbedürftigkeit einer Sache reisst mich so weit und so tief in sie hinein, dass ich endlich ihr dabei auf den Grund komme und einsehe, dass sie nicht gar so viel werth ist. Am Ende aller solcher Erfahrungen steht eine Art Trauer und Starrheit. Diess erlebe ich alle Tage im Kleinen zu dreien Malen.
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Morgenröthe
466. V e r l u s t i m R u h m e . — Welcher Vorzug, als ein Unbekannter zu den Menschen reden zu dürfen! „Die Hälfte unserer Tugend" nehmen uns die Götter, wenn sie uns das Incognito nehmen und uns berühmt machen.
467. Z w e i m a l G e d u l d ! — „Damit machst du vielen Menschen Schmerz." — Ich weiss es; und weiss audi diess, dass ich doppelt dafür leiden muss, einmal durch Mitleid an ihrem Leide und dann durch die Rache, die sie an mir nehmen werden. Aber trotzdem ist es nicht weniger nöthig, so zu thun, wie ich thue.
468. D a s Reich der S c h ö n h e i t ist grösser. — Wie wir in der Natur herumgehen, listig und froh, um die Allem eigene Schönheit zu entdecken und gleichsam auf der That zu ertappen, wie wir bald bei Sonnenschein, bald bei gewitterhaftem Himmel, bald in der bleichsten Dämmerung einen Versuch machen, jenes Stück Küste mit Felsen, Meerbuchten, ö l bäumen und Pinien so zu sehen, wie es zu seiner Vollkommenheit und Meisterschaft kommt: so sollten wir audi unter den Menschen umhergehen, als ihre Entdecker und Ausspäher, Gutes und Böses ihnen erweisend, damit die ihnen eigene Schönheit sidi offenbare, welche bei Diesem sonnenhaft, bei Jenem gewitterhaft und bei einem Dritten erst in der halben Nacht und bei Regenhimmel sich entfaltet. Ist es denn verboten, den b ö s e n Menschen als eine wilde Landschaft zu g e η i e s s e η , die ihre eigenen kühnen Linien und Lichtwirkungen hat, wenn der selbe Mensch, solange er sich gut und gesetzlich stellt, unserm Auge wie eine Verzeichnung und Carricatur erscheint und als ein Flecken in der Natur uns Pein macht? — Ja, es ist verboten: bisher war es nur
Fünftes Buch 466—469
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erlaubt, im M o r a l i s c h - G u t e n nach Schönheit zu suchen, — Grund genug, dass man so Wenig gefunden und sich so viel nach imaginären Schönheiten ohne Knochen hat umthun müssen! — So gewiss es hundert Arten von Glück bei den Bösen giebt, von denen die Tugendhaften Nichts ahnen, so giebt es an ihnen auch hundert Arten von Schönheit: und viele sind noch nicht entdeckt. 469. D i e U n m e n s c h l i c h k e i t d e s W e i s e n . — Bei dem schweren, Alles zermalmenden Gange des Weisen, welcher, nach dem buddhistischen Liede, „einsam wandelt wie das Rhinozeros", — bedarf es von Zeit zu Zeit der Zeichen einer versöhnlichen und gemilderten Menschlichkeit: und zwar nicht nur jener schnelleren Schritte, jener artigen und geselligen Wendungen des Geistes, nicht nur des Witzes und einer gewissen Selbstverspottung, sondern selbst der Widersprüche, der gelegentlichen Rückfälle in die herrschende Ungereimtheit. Damit er nicht der Walze gleiche, welche wie das Verhängniss daherrollt, muss der Weise, der lehren will, seine F e h l e r zu seiner Beschönigung gebrauchen, und indem er sagt „verachtet mich!", bittet er um die Gunst, der Fürsprecher einer anmaasslichen Wahrheit zu sein. Er will euch in's Gebirge führen, er wird euer Leben vielleicht in Gefahr bringen: dafür überlässt er es euch willig, vorher und nachher, an einem solchen Führer Rache zu nehmen, — es ist der Preis, um den er sich selber den Genuss macht, v o r a n z u g e h e n . — Gedenkt ihr dessen, was euch durch den Sinn gieng, als er euch einmal durch eine finstere Höhle auf schlüpfrigen Wegen geleitete? Wie euer Herz, klopfend und missmuthig, sich sagte: „dieser Führer da könnte Besseres thun, als hier herumzukriechen! Er gehört zu einer neugierigen Art von Müssiggängern: — ist es nicht schon zu viel Ehre für ihn, dass wir ihm überhaupt einen Werth zuzuerkennen scheinen, indem wir ihm folgen?"
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Morgenröthe
47°· A m G a s t m a h l e V i e l e r . — Wie glücklich ist man, wenn man so genährt wird, wie die Vögel, aus der Hand Eines, der den Vögeln ausstreut, ohne sie genauer anzusehen und auf ihre Würdigkeit zu prüfen! Zu leben als ein Vogel, der kommt und fortfliegt und keinen Namen im Schnabel trägt! So am Gastmahle Vieler mich zu sättigen, ist meine Freude. 471.
E i n e a n d e r e N ä c h s t e n l i e b e . — Das aufgeregte, lärmende, ungleiche, nervöse Wesen macht den Gegensatz zur g r o s s e n L e i d e n s c h a f t : diese, wie eine stille düstere Gluth im Innern wohnend und dort alles Heisse und Hitzige sammelnd, lässt den Menschen nach Aussen hin kalt und gleichgültig blicken und drückt den Zügen eine gewisse Impassibilität auf. Solche Menschen sind gelegentlich wohl der N ä c h s t e n l i e b e fähig, — aber sie ist anderer Art, als die der Geselligen und Gefallsüchtigen: es ist eine milde, betrachtsame, gelassene Freundlichkeit; sie blicken gleichsam aus den Fenstern ihrer Burg hinaus, die ihre Festung und eben dadurch ihr Gefängniss ist: — der Blick in's Fremde, Freie, in d a s A n d e r e thut ihnen so wohl! 472.
S i c h n i c h t r e c h t f e r t i g e n . — A: Aber warum willst du dich nicht rechtfertigen? — B: Ich könnte es, hierin und in hundert Dingen, aber ich verachte das Vergnügen, das in der Rechtfertigung liegt: denn diese Dinge sind für mich nicht gross genug, und lieber will ich Flecken an mir tragen, als jenen Kleinlichen zu ihrer hämischen Freude verhelfen, dass sie sagen könnten: „er nimmt diese Dinge doch sehr wichtig!" Diess ist eben nicht wahr! Vielleicht müsste mir noch mehr an mir selber gelegen sein, um eine Pflicht zu haben, fehlerhafte Vorstellungen über mich zu berichtigen; — ich bin zu gleidi-
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gültig und träge gegen mich und so auch gegen Das, was durch mich gewirkt wird. 473· W o m a n s e i n H a u s b a u e n s o l l . — Wenn du in der Einsamkeit dich gross und fruchtbar fühlst, so wird dich die Geselligkeit verkleinern und veröden: und umgekehrt. Machtvolle Milde, wie die eines Vaters: — wo diese Stimmung dich ergreift, da gründe dein Haus, sei es nun im Gewühl oder in der Stille. Ubi pater sum, ibi patria.
474· D i e e i n z i g e n W e g e . — „Dialektik ist der einzige Weg, um zu den göttlichen Wesen und hinter den Schleier der Erscheinung zu gelangen" — diess behauptet Plato ebenso feierlich und leidenschaftlich, als es Schopenhauer von dem Gegensatze der Dialektik behauptet, — und Beide haben Unrecht. Denn es g i e b t Das gar nicht, zu dem hin sie einen Weg uns zeigen wollen. — Und waren nicht alle grossen Leidenschaften der Menschheit bisher solche Leidenschaften für ein Nichts? Und alle ihre Feierlichkeiten — Feierlichkeiten um ein Nichts?
475· S c h w e r w e r d e n . — Ihr kennt ihn nicht: er kann viel Gewichte an sich hängen, er nimmt sie doch alle mit in die Höhe. Und ihr schliesst, nach eurem kleinen Flügelschlage, er wolle u n t e n bleiben, w e i l er diese Gewichte an sich hänge!
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A m E r n t e f e s t e d e s G e i s t e s . — Das häuft sich von Tag zu Tage und quillt auf, Erfahrungen, Erlebnisse, Ge-
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Morgenröthe
danken über sie und Träume über diese Gedanken, — ein unermesslicher, entzückender Reichthum! Sein Anblick macht Schwindeln; ich begreife nicht mehr, wie man die GeistigArmen s e l i g preisen kann! — Aber ich beneide sie mitunter, dann, wenn ich müde bin: denn die V e r w a l t u n g eines solchen Reichthumes ist eine schwere Sache, und ihre Schwere erdrückt nicht selten alles Glück. — Ja, wenn es genügte, ihn nur anzublicken! Wenn man nur der Geizhals seiner Erkenntnisse wäre!
477· V o n d e r S k e p s i s e r l ö s t . — A: „Andre kommen misslaunig und schwach, zernagt, wurmstichig, ja halb zerfressen aus einer allgemeinen moralischen Skepsis heraus, — ich aber muthiger und gesünder als je, mit wiedererworbenen Instincten. Wo scharfer Wind weht, die See hoch geht und keine kleine Gefahr zu bestehen ist, da wird mir wohl. Zum Wurm bin ich nicht geworden, ob ich gleich oftmals wie ein Wurm habe arbeiten und graben müssen." — B: Du hast eben a u f g e h ö r t , Skeptiker zu sein! Denn du v e r n e i n s t ! — A: „Und damit habe ich wieder J a - s a g e n gelernt."
478.
G e h e n w i r v o r ü b e r ! — Schont ihn! Lasst ihn in seiner Einsamkeit! Wollt ihr ihn ganz zerbrechen? Er hat einen Sprung bekommen, wie ein Glas, in das sich plötzlich etwas zu Heisses ergoss, — und er war ein so kostbares Glas!
479· L i e b e u n d W a h r h a f t i g k e i t . — Wir sind aus Liebe arge Verbrecher an der Wahrheit und gewohnte Hehler und
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Stehler, welche mehr wahr sein lassen, als uns wahr scheint, — desshalb muss der Denker immer wieder von Zeit zu Zeit die Personen, welche er liebt (es werden nicht gerade die sein, welche ihn lieben), in die Flucht jagen, damit sie ihren Stachel und ihre Bosheit zeigen und aufhören, ihn zu v e r f ü h r e n . Demnach wird die Güte des Denkers ihren ab- und zunehmenden Mond haben. 480.
U n v e r m e i d l i c h . — Erlebt, was ihr wollt: wer euch nicht wohl will, sieht in eurem Erlebniss einen Anlass, euch zu verkleinern! Erfahrt die tiefsten Umwälzungen des Gemüths und der Erkenntniss und gelangt endlich wie ein Genesender mit schmerzlichem Lächeln hinaus in Freiheit und lichte Stille: — es wird doch Einer sagen „Der da hält seine Krankheit für ein Argument, seine Ohnmacht für den Beweis der Ohnmacht Aller; er ist eitel genug, um krank zu werden, damit er das Übergewicht des Leidenden fühle." — Und gesetzt, dass Jemand seine eignen Fesseln sprengt und sich dabei tief verwundet: so wird ein Andrer mit Spott darauf hinzeigen. „Wie gross ist doch seine Ungeschicklichkeit!" wird er sagen; „So muss es einem Menschen ergehen, der an seine Fesseln gewöhnt ist und Narr genug ist, sie zu zerreissen!"
481.
Z w e i D e u t s c h e . — Vergleicht man Kant und Schopenhauer mit Plato, Spinoza, Pascal, Rousseau, Goethe in Absehung auf ihre Seele und nicht auf ihren Geist: so sind die erstgenannten Denker im Nachtheil: ihre Gedanken machen nicht eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte aus, es giebt da keinen Roman, keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu errathen, ihr Denken ist nicht zugleich eine unwillkürliche Biographie einer
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Morgenröthe
Seele, sondern, im Falle Kant's, eines K o p f e s , im Falle Schopenhauer's, die Beschreibung und Spiegelung eines C h a r a k t e r s („des unveränderlichen") und die Freude am „Spiegel" selber, das heisst an einem vorzüglichen Intellecte. Kant erscheint, wenn er durch seine Gedanken hindurchschimmert, als wacker und ehrenwerth im besten Sinne, aber als unbedeutend: es fehlt ihm an Breite und Macht; er hat nicht zu viel erlebt, und seine Art, zu arbeiten, nimmt ihm die Z e i t , Etwas zu erleben, — ich denke, wie billig, nicht an grobe „Ereignisse" von Aussen, sondern an die Schicksale und Zuckungen, denen das einsamste und stillste Leben verfällt, welches Müsse hat und in der Leidenschaft des Denkens verbrennt. Schopenhauer hat einen Vorsprung vor ihm: er besitzt wenigstens eine gewisse h e f t i g e H ä s s l i c h k e i t der Natur, in Hass, Begierde, Eitelkeit, Misstrauen, er ist etwas wilder angelegt und hatte Zeit und Müsse für diese Wildheit. Aber ihm fehlte die „Entwickelung": wie sie in seinem Gedankenumkreise fehlte; er hatte keine „Geschichte".
482.
S e i n e n U m g a n g s u c h e n . — Suchen wir denn zu viel, wenn wir den Umgang von Männern suchen, welche mild, wohlschmeckend und nahrhaft geworden sind wie Kastanien, die man zur rechten Zeit in's Feuer gelegt und aus dem Feuer genommen hat? Welche Weniges vom Leben erwarten, und dieses lieber als geschenkt, und nicht als verdient, annehmen, wie als ob die Vögel und die Bienen es ihnen gebracht hätten? Welche zu stolz sind, um sich je belohnt fühlen zu können? Und zu ernst in ihrer Leidenschaft der Erkenntniss und der Redlichkeit, als dass sie noch Zeit und Gefälligkeit für den Ruhm hätten? — Solche Männer würden wir Philosophen nennen; und sie selber werden immer noch einen bescheideneren Namen finden.
Fünftes Buch 481—484
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483.
Ü b e r d r u s s a m M e n s c h e n . — A: Erkenne! Ja! Aber immer als Mensch! Wie? Immer vor der gleichen Komödie sitzen, in der gleichen Komödie spielen? Niemals aus anderen, als aus d i e s e n Augen in die Dinge sehen können? Und welche unzählbaren Arten von Wesen mag es geben, deren Organe besser zur Erkenntniss taugen! Was wird am Ende aller ihrer Erkenntniss die Menschheit erkannt haben? — ihre Organe! Und das heisst vielleicht: die Unmöglichkeit der Erkenntniss! Jammer und Ekel! — B: Das ist ein böser Anfall, — d i e V e r n u n f t fällt dich an! Aber morgen wirst du wieder mitten im Erkennen sein und damit auch mitten in der Unvernunft, will sagen: in der L u s t am Menschlichen. Gehen wir an's Meer! —
484.
D e r e i g e n e W e g . — Wenn wir den entscheidenden Schritt thun und den Weg antreten, welchen man den „eigenen Weg" nennt: so enthüllt sich uns plötzlich ein Geheimniss: wer auch alles mit uns freund und vertraut war, — Alle haben sich bisher eine Überlegenheit über uns eingebildet und sind beleidigt. Die Besten von ihnen sind nachsichtig und warten geduldig, dass wir den „rechten Weg" — sie wissen ihn ja! — schon wieder finden werden. Die Anderen spotten und thun, als sei man vorübergehend närrisch geworden oder bezeichnen hämisch einen Verführer. Die Böseren erklären uns für eitle Narren und suchen unsere Motive zu schwärzen, und der Schlimmste sieht in uns seinen schlimmsten Feind, einen, den nach Rache für eine lange Abhängigkeit dürstet, — und fürchtet sich vor uns. — Was also thun? Ich rathe: seine Souveränität damit anfangen, dass man für ein Jahr voraus allen uns Bekannten für Sünden jeder Art Amnestie zusichert.
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Morgenröthe
485· F e r n e P e r s p e c t i v e n . — A : Aber warum diese Einsamkeit? — B: Ich zürne Niemandem. Aber allein scheine ich meine Freunde deutlicher und schöner zu sehen, als zusammen mit ihnen; und als ich die Musik am meisten liebte und empfand, iebte ich ferne von ihr. Es scheint, ich brauche die fernen Perspectiven, um gut von den Dingen zu denken.
486.
G o l d u n d H u n g e r . — Hier und da giebt es einen Menschen, der Alles, was er berührt, in Gold verwandelt. Eines guten bösen Tages wird er entdecken, dass er selber dabei verhungern muss. Er hat Alles glänzend, herrlich, idealisch-unnahbar um sich, und nun sehnt er sich nach Dingen, welche in Gold zu verwandeln i h m d u r c h a u s u n m ö g l i c h ist — und wie sehnt er sich! Wie ein Verhungernder nach Speise! — Wonach wird er greifen?
487.
S c h a m . — D a steht das schöne Ross und scharrt den Boden, es schnaubt, es verlangt nach einem Ritte und liebt Den, der es sonst reitet, — aber oh Scham! dieser kann sich heute nicht hinaufschwingen, er ist müde. — Diess ist die Scham des ermüdeten Denkers vor seiner eigenen Philosophie.
488.
G e g e n d i e V e r s c h w e n d u n g d e r L i e b e . — Erröthen wir nicht, wenn wir uns auf einer heftigen Abneigung ertappen? Aber wir sollten es auch bei heftigen Zuneigungen thun, der Ungerechtigkeit wegen, die auch in ihnen liegt! Ja, noch mehr: es giebt Menschen, die sich wie eingeengt und ge-
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schnürten Herzens fühlen, wenn Jemand ihnen seine Zuneigung nur s ο zu Gute kommen lässt, dass er damit Anderen Etwas von Zuneigung e n t z i e h t . Wenn wir es der Stimme anhören, dass w i r ausgewählt, vorgezogen werden! Ach, ich bin nicht dankbar für dieses Auswählen, ich merke, dass ich es Dem nachtrage, der mich so auszeichnen will: er soll mich nicht auf U n k o s t e n der Anderen lieben! Will ich doch schon zusehen, mit mir mich selber zu ertragen! Und oft habe ich noch das Herz voll und Grund zu Ubermuth, — einem Solchen, der Solches hat, soll man Nichts bringen, was A n d e r e nöthig, bitter nöthig haben!
489· F r e u n d e i n d e r N o t h . — Mitunter merken wir, dass einer unserer Freunde mehr zu einem Andern, als zu uns gehört, dass sein Zartsinn sich bei dieser Entscheidung quält und seine Selbstsucht dieser Entscheidung nicht gewachsen ist: da müssen wir es ihm erleichtern und ihn von uns f o r t b e l e i d i g e n . — Diess ist ebenfalls da nöthig, wo wir in eine Art zu denken übergehen, welche ihm verderblich sein würde: unsere Liebe zu ihm muss uns treiben, durch ein Unrecht, das wir auf uns nehmen, ihm ein gutes Gewissen zu seiner Lossagung von uns zu schaffen.
49°·
D i e s e k l e i n e n W a h r h e i t e n ! — „Ihr kennt diess Alles, aber ihr habt es nie erlebt, — ich nehme euer Zeugniss nicht an. Diese ,kleinen Wahrheiten'! — sie dünken euch klein, weil ihr sie nicht mit eurem Blute bezahlt habt!" — Aber sind sie denn gross, desshalb, weil man Ζ u ν i e 1 dafür bezahlt hat? Und Blut ist immer ein Zuviel! — „Glaubt ihr? Was ihr geizig mit Blute seid!"
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Morgenröthe
491. A u c h d e s s h a l b E i n s a m k e i t ! — A : S o willst du wieder in deine Wüste zurück? — B : Ich bin nicht schnell, ich muss auf mich warten, — es wird spät, bis jedesmal das Wasser aus dem Brunnen meines Selbst an's Licht kommt, und oft muss ich länger Durst leiden, als ich Geduld habe. Desshalb gehe ich in die Einsamkeit, — um nicht aus den Cisternen für Jedermann zu trinken. Unter Vielen lebe ich wie Viele und denke nicht wie ich; nach einiger Zeit ist es mir dann immer, als wolle man mich aus mir verbannen und mir die Seele rauben — und idi werde böse auf Jedermann und fürchte Jedermann. Die Wüste thut mir dann noth, um wieder gut zu werden.
492. U n t e r d e n S ü d w i n d e n . — A : Ich verstehe mich nicht mehr! Gestern noch war es in mir so stürmisch und dabei so warm, so sonnig — und hell bis zum Äussersten. Und heute! Alles ist nun ruhig, weit, schwermüthig, dunkel, wie die Lagune von Venedig: — ich will Nichts und athme tief auf dabei und doch bin ich mir (bei) insgeheim unwillig über diess NichtsWollen: — so plätschern die Wellen hin und her, im See meiner Melancholie. — B: Du beschreibst da eine kleine angenehme Krankheit. Der nächste Nordostwind wird sie von dir nehmen! — A : Warum doch! 493· A u f d e m e i g e n e n B a u m e . — A : „Ich habe bei den Gedanken keines Denkers so viel Vergnügen, wie bei den eigenen: das sagt freilich Nichts über ihren Werth, aber ich müsste ein N a r r sein, um die für mich schmackhaftesten Früchte zurückzusetzen, weil sie zufällig auf m e i n e m Baume wachsen! — Und ich war einmal dieser N a r r . " — B: „Andern geht
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es umgekehrt: und auch diess sagt Nichts über den Werth ihrer Gedanken, namentlich noch Nichts gegen ihren Werth."
494· L e t z t e s A r g u m e n t d e s T a p f e r e n . — „In diesem Gebüsche sind Schlangen." — Gut, ich werde in das Gebüsch gehen und sie tödten. — „Aber vielleicht wirst du dabei das Opfer, und sie werden nicht einmal das deine!" — Was liegt an mir! 49JU n s e r e L e h r e r . — In der Jugend nimmt man seine Lehrer und Wegweiser aus der Gegenwart und aus den Kreisen, auf welche wir gerade stossen: wir haben die gedankenlose Zuversicht, dass die Gegenwart Lehrer haben müsse, die für uns mehr, als für jeden Anderen taugen und dass wir sie finden müssen, ohne viel zu suchen. Für diese Kinderei muss man später hartes Lösegeld zahlen: m a n m u s s s e i n e L e h r e r a n s i c h a b b ü s s e n . Dann geht man wohl nach den rechten Wegweisern suchen in der ganzen Welt herum, die Vorwelt eingerechnet, — aber es ist vielleicht zu spät. Und schlimmsten Falles entdecken wir, dass sie lebten, als wir jung waren — und dass wir uns damals vergriffen haben.
496.
D a s b ö s e P r i n c i p . — Plato hat es prachtvoll beschrieben, wie der philosophische Denker inmitten jeder bestehenden Gesellschaft als der Ausbund aller Ruchlosigkeit gelten muss: denn als Kritiker aller Sitten ist er der Gegensatz des sittlichen Menschen, und wenn er es nicht so weit bringt, der Gesetzgeber neuer Sitten zu werden, so bleibt er in der Erinnerung der Menschen zurück als „das böse Princip". Wir dürfen hier-
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aus errathen, wie die ziemlich freisinnige und neuerungssüchtige Stadt Athen dem Rufe Plato's bei seinen Lebzeiten mitgespielt hat: was Wunders, dass er — der, wie er selber sagt, den „politischen Trieb" im Leibe hatte, — dreimal einen Versuch in Sicilien gemacht hat, wo sich damals gerade ein gesammtgriechischer Mittelmeer-Staat vorzubereiten schien? In ihm und mit seiner Hülfe gedachte Plato für alle Griechen Das zu thun, was Muhammed später für seine Araber that: die grossen und kleinen Bräuche und namentlich die tägliche Lebensweise von Jedermann festzusetzen. M ö g l i c h waren seine Gedanken, so gewiss die des Muhammed möglich waren: sind doch viel unglaublichere, die des Christenthums, als möglich bewiesen worden! Ein paar Zufälle weniger und ein paar andere Zufälle mehr — und die Welt hätte die Platonisirung des europäischen Südens erlebt; und gesetzt, dieser Zustand dauerte jetzt noch fort, so würde muthmaasslich in Plato das „gute Princip" von uns verehrt werden. Aber der Erfolg fehlte ihm: und so blieb ihm der Ruf eines Phantasten und Utopisten, — die härteren Namen sind mit dem alten Athen zu Grunde gegangen.
497· D a s r e i n m a c h e n d e A u g e . — Von „Genius" wäre am ehesten bei solchen Menschen zu reden, wo der Geist, wie bei Plato, Spinoza und Goethe, an den Charakter und das Temperament nur l o s e a n g e k n ü p f t erscheint, als ein beflügeltes Wesen, das sich von jenen leicht trennen und sich dann weit über sie erheben kann. Dagegen haben gerade Solche am lebhaftesten von ihrem „Genius" gesprochen, welche von ihrem Temperamente n i e l o s k a m e n und ihm den geistigsten, grössten, allgemeinsten, ja unter Umständen kosmischen Ausdruck zu geben wussten (wie zum Beispiel Schopenhauer). Diese Genie's konnten nicht über sich hinausfliegen, aber sie glaubten s i c h vorzufinden, wiederzufinden, wohin sie auch
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nur flogen, — das ist i h r e „Grösse", und k a n n Grösse sein! — Die Anderen, welchen der Name eigentlicher zukommt, haben das r e i n e , r e i n m a c h e n d e A u g e , das nicht aus ihrem Temperament und Charakter gewachsen scheint, sondern frei von ihnen und meist in einem milden Widerspruch gegen sie auf die Welt wie auf einen Gott blickt und diesen Gott liebt. Audi ihnen ist aber dieses Auge nicht mit Einem Male geschenkt: es giebt eine Übung und Vorschule des Sehens, und wer rechtes Glück hat, findet zur rechten Zeit auch einen Lehrer des reinen Sehens.
498.
N i c h t f o r d e r n ! — Ihr kennt ihn nicht! Ja, er u n t e r w i r f t sich leicht und frei den Menschen und den Dingen, und ist gütig gegen Beide; seine einzige Bitte ist, in Ruhe gelassen zu werden, — aber nur s o l a n g e Menschen und Dinge nicht Unterwerfung f o r d e r n . Alles Fordern macht ihn stolz, scheu und kriegerisch.
499·
D e r B ö s e . — „Nur der Einsame ist böse," rief Diderot: und sogleich fühlte sich Rousseau tödtlich verletzt. Folglich gestand er sich zu, dass Diderot Recht habe. In der That hat jeder böse Hang inmitten der Gesellschaft und Geselligkeit so viel Zwang sich anzuthun, so viel Larven vorzunehmen, so oft sich selbst in das Prokrustes-Bett der Tugend zu legen, dass man recht wohl von einem Märtyrerthum des Bösen reden könnte. In der Einsamkeit fällt diess Alles dahin. Wer böse ist, ist es am meisten in der Einsamkeit: auch am besten — und folglich für das Auge Dessen, der überall nur ein Schauspiel sieht, auch am schönsten.
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Morgenröthe
500. W i d e r d e n S t r i c h . — Ein Denker kann sich Jahre lang zwingen, wider den Strich zu denken: ich meine, nicht den Gedanken zu folgen, die sich ihm von Innen her anbieten, sondern denen, zu welchen ein Amt, eine vorgeschriebene Zeiteintheilung, eine willkürliche Art von Fleiss ihn zu verpflichten scheinen. Endlich aber wird er krank: denn diese anscheinend moralische Uberwindung verdirbt seine Nervenkraft ebenso gründlich, wie es nur eine zur Regel gemachte Ausschweifung thun könnte. yoi.
S t e r b l i c h e S e e l e n ! — In Betreff der Erkenntniss ist vielleicht die nützlichste Errungenschaft: dass der Glaube an die unsterbliche Seele aufgegeben ist. Jetzt darf die Menschheit warten, jetzt hat sie nicht mehr nöthig, sich zu überstürzen und halbgeprüfte Gedanken hinunterzuwürgen, wie sie ehedem musste. Denn damals hieng das Heil der armen „ewigen Seele" von ihren Erkenntnissen während des kurzen Lebens ab, sie musste sich von heut zu morgen e n t s c h e i d e n , — die „Erkenntniss" hatte eine entsetzliche Wichtigkeit! Wir haben den guten Muth zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen wieder erobert — es ist Alles nicht so wichtig! — und gerade desshalb können Individuen und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Grossartigkeit in's Auge fassen, welche früheren Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel und Hölle erschienen sein würden. Wir dürfen mit uns selber experimentiren! J a die Menschheit darf es mit sich! Die grössten Opfer sind der Erkenntniss noch nicht gebracht worden, — ja, es wäre früher Gotteslästerung und Preisgeben des ewigen Heils gewesen, solche Gedanken auch nur zu a h n e n , wie sie unserem Thun jetzt voranlaufen.
Fünftes Buch 500—504
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502.
Ein Wort für drei verschiedene Zustände.— In der Leidenschaft bricht bei Diesem das wilde, scheussliche, unausstehliche Thier hervor; Jener erhebt sich durch sie in eine Höhe und Grösse und Pracht der Gebärde, gegen die sein sonstiges Sein dürftig erscheint. Ein Dritter, durch und durch veredelt, hat auch den edelsten Sturm und Drang, er ist in diesem Zustande die w i l d s c h ö n e N a t u r und nur um einen Grad t i e f e r , als die grosse ruhig-schöne Natur, welche er für gewöhnlich darstellt: aber von den Menschen wird er in der Leidenschaft mehr begriffen und gerade dieser Momente wegen mehr verehrt, — er ist ihnen da einen Schritt näher und verwandter. Sie empfinden Entzücken und Entsetzen bei einem solchen Anblick und nennen ihn g e r a d e d a : göttlich.
503.
F r e u n d s c h a f t . — Jener Einwand gegen das philosophische Leben, dass man mit ihm seinen Freunden u n n ü t z l i c h werde, wäre nie einem Modernen gekommen: er ist antik. Das Alterthum hat die Freundschaft tief und stark ausgelebt, ausgedacht und fast mit sich in's Grab gelegt. Diess ist sein Vorsprung vor uns: dagegen haben wir die idealisirte Geschlechtsliebe aufzuweisen. Alle grossen Tüchtigkeiten der antiken Menschen hatten darin ihren Halt, dass M a n n n e b e n M a n n stand, und dass nicht ein Weib den Anspruch erheben durfte, das Nächste, Höchste, ja Einzige seiner Liebe zu sein, — wie die Passion zu empfinden lehrt. Vielleicht wachsen unsere Bäume nicht so hoch, wegen des Epheu's und der Weinreben daran. 504.
V e r s ö h n e n ! — Sollte es denn die Aufgabe der Philosophie sein, zwischen dem, was das K i n d gelernt und der
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Morgenröthe
M a n n erkannt hat, zu v e r s ö h n e n ? Sollte die Philosophie gerade die Aufgabe der Jünglinge sein, weil diese in der Mitte zwischen Kind und Mann stehen und das mittlere Bedürfniss haben? Fast will es so scheinen, wenn man erwägt, in welchen Lebensaltern die Philosophen jetzt ihre Conception zu machen pflegen: dann, wenn es zum Glauben zu spät und zum Wissen noch zu früh ist.
JOJ.
D i e P r a k t i s c h e n . — Wir Denker haben den W o h l g e s c h m a c k aller Dinge erst festzustellen und nöthigenfalls ihn zu decretiren. Die praktischen Leute nehmen ihn endlich von uns an, ihre Abhängigkeit von uns ist unglaublich gross und das lächerlichste Schauspiel der Welt, so wenig sie um dieselbe wissen und so stolz sie über uns Unpraktische hinwegzureden lieben: ja sie würden ihr praktisches Leben geringschätzen, wenn wir es geringschätzen wollten: — wozu uns hier und da ein kleines Rachegelüst reizen könnte.
j o 6. Die nöthige Austrocknung alles Guten. — Wie! Man müsse ein Werk gerade so auffassen, wie die Zeit, die es hervorbrachte? Aber man hat mehr Freude, mehr Erstaunen und auch mehr zu lernen daran, wenn man es gerade nicht so auffasst! Habt ihr nicht gemerkt, dass jedes neue gute Werk, so lange es in der feuchten Luft seiner Zeit liegt, seinen mindesten Werth besitzt, — gerade weil es so sehr noch den Geruch des Marktes und der Gegnerschaft und der neuesten Meinungen und alles Vergänglichen zwischen heut und morgen an sich trägt? Später trocknet es aus, seine „Zeitlichkeit" stirbt ab — und dann erst bekommt es seinen tiefen Glanz und Wohlgeruch, ja, wenn es darnach ist, sein stilles Auge der Ewigkeit.
Fünftes Buch 504—509
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ί°7· G e g e n d i e T y r a n n e i d e s W a h r e n . — Selbst wenn wir so toll wären, alle unsere Meinungen für wahr zu halten, so würden wir doch nicht wollen, dass sie allein existirten —: ich wüsste nicht, warum die Alleinherrschaft und Allmacht der Wahrheit zu wünschen wäre; mir genügte schon, dass sie eine g r o s s e M a c h t habe. Aber sie muss k ä m p f e n können und eine Gegnerschaft haben, und man muss sich von ihr im Unwahren ab und zu e r h o l e n können, — sonst wird sie uns langweilig, kraft- und geschmacklos werden und uns eben dazu auch machen. jo8. N i c h t p a t h e t i s c h n e h m e n . — Das, was wir thun, um uns zu n ü t z e n , soll uns keinen moralischen Lobspruch eintragen, weder von Anderen, noch von uns selber; ebenso wenig Das, was wir thun, um uns an uns zu f r e u e n. In solchen Fällen das Pathetisch-nehmen abweisen und sich selber alles Pathetischen enthalten, ist d e r g u t e T o n bei allen höheren Menschen: und wer sich an ihn gewöhnt hat, dem ist die N a i v i t ä t wiedergeschenkt. 509.
D a s d r i t t e A u g e . — Wie! du bedarfst noch des Theaters! Bist du noch so jung? Werde klug und suche die Tragödie und Komödie dort, wo sie besser gespielt wird! Wo es interessanter und interessirter zugeht! Ja, es ist nicht ganz leicht, dabei eben nur Zuschauer zu bleiben, — aber lerne es! Und fast in allen Lagen, die dir schwer und peinlich fallen, hast du dann ein Pförtchen zur Freude und eine Zuflucht, selbst noch, wenn deine eigenen Leidenschaften über dich herfallen. Madie dein Theater-Auge auf, das grosse dritte Auge, welches durch die zwei anderen in die Welt schaut!
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Morgenröthe
J ΙΟ. S e i n e n T u g e n d e n e n t l a u f e n . — Was liegt an einem Denker, wenn er nicht gelegentlich seinen eigenen Tugenden zu entlaufen weiss! Er soll ja „nicht nur ein moralisches Wesen" sein! JII. D i e V e r s u c h e r in. — Die Ehrlichkeit ist die grosse Versucherin aller Fanatiker. Was sich Luthern in Gestalt des Teufels oder eines schönen Weibes zu nahen schien und was er auf jene ungeschlachte Manier von sich abwehrte, war wohl die Ehrlichkeit und vielleicht, in seltneren Fällen, sogar die Wahrheit. JI2.
G e g e n d i e S a c h e n m u t h i g . — Wer seiner Natur nach gegen Personen rücksichtsvoll oder ängstlich ist, aber seinen Muth gegen die Sachen hat, scheut sich vor neuen und näheren Bekanntschaften und beschränkt seine alten: damit sein Incognito und seine Rücksichtslosigkeit in der Wahrheit zusammenwachsen. 513· S c h r a n k e u n d S c h ö n h e i t . — Suchst du Menschen mit s c h ö n e r Cultur? Aber dann musst du dir, wie wenn du schöne Gegenden suchst, auch b e s c h r ä n k t e Aussichten und Ansichten gefallen lassen. — Gewiss giebt es auch panoramatische Menschen, gewiss sind sie, wie die panoramatischen Gegenden, lehrreich und erstaunlich: aber nicht schön. 514.
A n d i e S t ä r k e r e n . — Ihr stärkeren und hochmüthigen Geister, nur um Eins seid gebeten: legt uns Anderen
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keine neue Last auf, sondern nehmt Etwas von unserer Last auf euch, da ihr ja die Stärkeren seid! Aber ihr macht es so gerne umgekehrt: denn i h r wollt fliegen, und desshalb sollen wir auch noch eure Last zur unsren tragen: das heisst, w i r sollen kriechen! 515· Z u n a h m e d e r S c h ö n h e i t . — Warum nimmt die Schönheit mit der Civilisation zu? Weil bei dem civilisirten Menschen die drei Gelegenheiten zur Hässlichkeit selten und immer seltener kommen: erstens die Affecte in ihren wildesten Ausbrüchen, zweitens die leiblichen Anstrengungen des äussersten Grades, drittens die Nöthigung, durch den Anblick Furcht einzuflössen, welche auf niederen und gefährdeten Culturstufen so gross und häufig ist, dass sie selbst Gebärden und Ceremoniell festsetzt und die Hässlichkeit zur P f l i c h t macht.
516.
S e i n e n D ä m o n n i c h t in d i e N ä c h s t e n f a h r e n l a s s e n ! — Bleiben wir immerhin für unsere Zeit dabei, dass Wohlwollen und Wohlthun den guten Menschen ausmache; nur lasst uns hinzufügen: „vorausgesetzt, dass er zuerst g e g e n s i c h s e l b e r wohlwollend und wohlthuend gesinnt sei!" Denn o h n e D i e s e s — wenn er vor sich flieht, sich hasst, sich Schaden zufügt — ist er gewiss kein guter Mensch. Dann rettet er sich nur i n d i e A n d e r e n , vor sich selber: mögen diese Anderen zusehen, dass sie nicht schlimm dabei fahren, so wohl er ihnen anscheinend auch will! — Aber gerade Diess: das ego fliehen und hassen und im Anderen, für den Anderen leben — hat man bisher, ebenso gedankenlos als zuversichtlich, „ u n e g o i s t i s c h " u n d f o l g l i c h „ g u t " geheissen!
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517· Z u r L i e b e v e r f ü h r e n . — Wer sich selber hasst, den haben wir zu fürchten, denn wir werden die Opfer seines Grolls und seiner Rache sein. Sehen wir also zu, wie wir ihn zur Liebe zu sich selber verführen!
5x8. R e s i g n a t i o n . — Was ist Ergebung? Es ist die bequemste Lage eines Kranken, der sich lange unter Martern herumgeworfen hat, um sie zu f i n d e n , der dadurch m ü d e w a r d — und sie nun auch fand!
519· B e t r o g e n w e r d e n . — Sobald ihr handeln wollt, müsst ihr die Thür zum Zweifel verschliessen, — sagte ein Handelnder. — Und du fürchtest dich nicht, auf diese Weise d e r B e t r o g e n e zu werden? — antwortete ein Beschaulicher. 520. D i e e w i g e T o d t e n f e i e r . — Es könnte Jemand über die Geschichte weg eine fortgesetzte Grabrede zu hören glauben: man begrub und begräbt immer sein Liebstes, Gedanken und Hoffnungen, und erhielt und erhält Stolz dafür, gloria mundi, das heisst, den Pomp der Leichenrede. Damit soll Alles gut gemacht werden! Und der Leichenredner ist immer noch der grösste öffentliche Wohlthäter! 521. A u s n a h m e - E i t e l k e i t . — Jener hat Eine hohe Eigenschaft, zu seinem Tröste: über den Rest seines Wesens — es ist fast Alles Rest! — gleitet sein Blick verächtlich hin. Aber er er-
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holt sich von sich selber, wenn er wie zu seinem Heiligthume geht; schon der Weg dahin dünkt ihm wie ein Aufsteigen auf breiten sanften Stufen: — und ihr Grausamen nennt ihn desshalb eitel! 522.
D i e W e i s h e i t o h n e O h r e n . — Täglich zu hören, was über uns gesprochen wird, oder gar zu ergrübein, was über uns gedacht wird, — das vernichtet den stärksten Mann. Darum lassen uns ja die Anderen leben, um täglich über uns Recht zu behalten! Sie würden uns ja nicht aushalten, wenn wir gegen sie Recht hätten oder gar h a b e n w o l l t e n ! Kurz, bringen wir der allgemeinen Verträglichkeit das Opfer, horchen wir nicht hin, wenn über uns geredet, gelobt, getadelt, gewünscht, gehofft wird, denken wir auch nicht einmal daran!
523· H i n t e r f r a g e n . — Bei Allem, was ein Mensch sichtbar werden lässt, kann man fragen: was soll es verbergen? Wovon soll es den Blick ablenken? Welches Vorurtheil soll es erregen? Und dann noch: bis wie weit geht die Feinheit dieser Verstellung? Und worin vergreift er sich dabei?
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E i f e r s u c h t d e r E i n s a m e n . — Zwischen geselligen und einsamen Naturen ist dieser Unterschied (vorausgesetzt, dass beide Geist haben!): die ersteren werden zufrieden oder beinahe zufrieden mit einer Sache, welche sie auch sei, von dem Augenblicke an, da sie eine mittheilbare glückliche Wendung über dieselbe in ihrem Geiste gefunden haben, — das versöhnt sie mit dem Teufel selber! Die Einsamen aber haben ihr stilles Entzücken, ihre stille Qual an einer Sache, sie hassen die geistreiche
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Morgenröthe
glänzende Ausstellung ihrer innersten Probleme, wie sie die allzugewählte Tracht an ihrer Geliebten hassen: sie sehen dann melancholisch auf sie hin, wie als ob der Verdacht ihnen aufstiege, dass sie Anderen gefallen wolle! Diess ist die Eifersucht aller einsamen Denker und leidenschaftlichen Träumer auf den esprit.
525. W i r k u n g d e s L o b e s . — Die Einen werden durch grosses Lob schamhaft, die Anderen frech.
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N i c h t S y m b o l s e i n w o l l e n . — Ich beklage die Fürsten: es ist ihnen nicht erlaubt, sich zeitweilig im Verkehre zu annulliren und so lernen sie die Menschen nur aus einer unbequemen Lage und Verstellung kennen; der fortwährende Zwang, Etwas zu bedeuten, macht sie zuletzt thatsächlich zu feierlichen Nullen. — Und so geht es Allen, welche ihre Pflicht darin sehen, Symbole zu sein.
527. D i e V e r s t e c k t e n . — Habt ihr jene Menschen noch nicht gefunden, welche auch ihr entzücktes Herz festhalten und pressen und welche lieber stumm werden, als dass sie die Scham des Maasses verlören? — Und jene Unbequemen und oft so Gutartigen fandet ihr auch noch nicht, welche nicht erkannt werden wollen, und die ihre Fusstapfen im Sande immer wieder verwischen, ja die Betrüger sind, vor Anderen und vor sich, um verborgen zu bleiben?
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528.
S e l t n e r e E n t h a l t s a m k e i t . — Es ist oft kein geringes Zeichen von Humanität, einen Andern nicht beurtheilen zu wollen und sich zu weigern, über ihn zu denken.
529· W o d u r c h Menschen und Völker Glanz bek o m m e n . — Wie viele ächte i n d i v i d u e l l e Handlungen werden desshalb u n t e r l a s s e n , weil man, bevor man sie thut, einsieht oder argwöhnt, dass sie missverstanden werden! — also gerade jene Handlungen, welche überhaupt W e r t h h a b e n , im Guten und Schlimmen. Je höher also eine Zeit, ein Volk die Individuen achtet und je mehr man ihnen das Recht und Ubergewicht zugesteht, um so mehr Handlungen jener Art werden sich an's Licht wagen — und so breitet sich zuletzt ein Schimmer von Ehrlichkeit, von Ächtheit im Guten und Schlimmen über ganzen Zeiten und Völkern aus, dass sie, wie zum Beispiel die Griechen, nach ihrem Untergange noch Jahrtausende lang gleich manchen Sternen fortleuchten.
53°·
U m s c h w e i f e d e s D e n k e r s . — Bei Manchen ist der Gang ihres gesammten Denkens streng und unerbittlich kühn, ja, mitunter grausam gegen sich, aber im Einzelnen sind sie milde und beugsam; sie drehen sich zehnmal um eine Sache, mit wohlwollendem Zögern, aber endlich gehen sie ihren strengen Weg weiter. Es sind Ströme mit vielen Krümmungen und abgeschiedenen Einsiedeleien; es giebt Stellen in ihrem Laufe, wo der Strom mit sich selber Versteckens spielt und sich eine kurze Idylle macht, mit Inseln, Bäumen, Grotten und Wasserfällen: und dann zieht er wieder weiter, an Felsen vorüber und sich durch das härteste Gestein zwingend.
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Morgenröthe
53ΐ·
D i e K u n s t a n d e r s e m p f i n d e n . — Von der Zeit an, wo man einsiedlerisch-gesellig, verzehrend und verzehrt, mit tiefen fruchtbaren Gedanken, und nur noch mit ihnen, lebt, will man von der Kunst entweder überhaupt Nidits mehr oder man will etwas ganz Anderes, als früher, — das heisst, man ändert seinen Geschmack. Denn früher wollte man durch die Thür der Kunst gerade in das Element auf einen Augenblick hineintauchen, in welchem man nun dauernd lebt; damals träumte man sich damit in das Entzücken eines Besitzes, und nun besitzt man. Ja, vorübergehend wegwerfen, was man jetzt hat, und sich arm, als Kind, Bettler und Narr träumen — kann uns nunmehr gelegentlich entzücken.
532. „ D i e L i e b e m a c h t g l e i c h . " — Die Liebe will dem Andern, dem sie sich weiht, jedes Gefühl von F r e m d s e i n ersparen, sie ist folglich voller Verstellung und Anähnlichung, sie betrügt fortwährend und schauspielert eine Gleichheit, die es in Wahrheit nicht giebt. Und diess geschieht so instinctiv, dass liebende Frauen diese Verstellung und beständige zarteste Betrügerei ableugnen und kühn behaupten, die Liebe m a c h e g l e i c h (das heisst sie thue ein Wunder!). — Dieser Vorgang ist einfach, wenn die eine Person s i c h l i e b e n l ä s s t und es nicht nöthig findet, sich zu verstellen, vielmehr diess der anderen, liebenden überlässt: aber nichts Verwickelteres und Undurchdringbareres von Schauspielerei giebt es, als wenn beide in der vollen Leidenschaft für einander sind und folglich Jeder sich aufgiebt und sich dem Anderen gleichstellen und ihm allein gleichmachen will: und keiner zuletzt mehr weiss, was er nachahmen, wozu er sich verstellen, als was er sich geben soll. Die schöne Tollheit dieses Schauspiels ist zu gut für diese Welt und zu fein für menschliche Augen.
Fünftes Buch 531—534
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533·
W i r A n f ä n g e r ! — Was erräth und sieht ein Schauspieler Alles, wenn er einen anderen spielen sieht! Er weiss es, wenn ein Muskel an einer Gebärde den Dienst versagt, er sondert jene kleinen, gemachten Dinge ab, welche einzeln und kaltblütig vor dem Spiegel eingeübt sind und nicht in's Ganze hineinwachsen wollen, er fühlt es, wenn der Spieler von seiner eigenen Erfindung auf der Scene überrascht wird und wenn er sie in der Überraschung v e r d i r b t . — Wie anders wieder sieht ein Maler auf einen vor ihm sich bewegenden Menschen! Er sieht namentlich sofort Vieles h i n z u , um das Gegenwärtige zu vervollständigen und zur ganzen Wirkung zu bringen; er probirt im Geiste mehrere Beleuchtungen des selben Gegenstandes, er dividirt das Ganze der Wirkung durch einen Gegensatz, den er hinzustellt. — Hätten wir doch erst das Auge dieses Schauspielers und dieses Malers für das Reich der menschlichen Seelen! 534·
D i e k l e i n e n D o s e n . — Soll eine Veränderung möglichst in die Tiefe gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablässig auf weite Zeitstrecken hin! Was ist Grosses auf Einmal zu schaffen! So wollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind, mit einer neuen Werthschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten zu vertauschen, — nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben — bis wir, sehr spät vermuthlich, inne werden, dass d i e n e u e W e r t h s c h ä t z u n g in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist und dass die kleinen Dosen derselben, a n d i e w i r u n s v o n j e t z t a b g e w ö h n e n m ü s s e n , eine neue Natur in uns gelegt haben. — Man fängt ja an, auch diess einzusehen, dass der letzte Versuch einer grossen Veränderung der Werthschätzungen, und zwar in Bezug auf die politischen Dinge, — die „grosse Revolution" —
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Morgenröthe
nicht m e h r war, als eine pathetische und blutige s a l b e r e i , welche durch plötzliche Krisen dem Europa die Hoffnung auf p l ö t z l i c h e Genesung gen wusste — und damit alle politischen Kranken bis Augenblick u n g e d u l d i g u n d g e f ä h r l i c h hat. —
Quackgläubigen beizubrinauf diesen gemacht
535·
D i e W a h r h e i t h a t d i e M a c h t n ö t h i g . — An sich ist die Wahrheit durchaus keine Macht, — was auch immer des Gegentheils der schönthuerische Aufklärer zu sagen gewohnt sein mag! — Sie muss vielmehr die Macht auf ihre Seite ziehen oder sich auf die Seite der Macht schlagen, sonst wird sie immer wieder zu Grunde gehen! Diess ist nun genug und übergenug bewiesen!
536.
D i e D a u m e n s c h r a u b e . — Es empört endlich, immer und immer wieder zu sehen, wie grausam Jeder seine paar Privat-Tugenden den Anderen, die sie zufällig nicht haben, aufrechnet, wie er sie damit zwickt und plagt. Und so wollen wir es auch mit dem „Sinn für Redlichkeit" menschlich treiben, so gewiss man an ihm eine Daumenschraube besitzt, um allen diesen grossartigen Selbstlingen, die auch jetzt noch ihren Glauben der ganzen Welt aufdringen wollen, bis auf's Blut wehe zu thun: — wir haben sie an uns selber erprobt!
537·
M e i s t e r s c h a f t . — Die Meisterschaft ist dann erreicht, wenn man sich in der Ausführung weder vergreift, n o c h z ö gert.
Fünftes Buch 534—539
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538· M o r a l i s c h e r I r r s i n n d e s G e n i e ' s . — Bei einer gewissen Gattung grosser Geister giebt es ein peinliches, zum Theil fürchterliches Schauspiel zu beobachten: ihre fruchtbarsten Augenblicke, ihre Flüge aufwärts und in die Ferne scheinen ihrer gesammten Constitution nicht gemäss zu sein und irgendwie über deren Kraft hinauszugehen, sodass jedes Mal ein Fehler und auf die Dauer die F e h l e r h a f t i g k e i t d e r Maschine zurückbleibt, als welche sich aber wiederum, bei so hochgeistigen Naturen wie den hier gemeinten, in allerlei moralischen und intellectuellen Symptomen viel regelmässiger als in körperlichen Nothzuständen zu erkennen giebt. So könnte das unbegreiflich Ängstliche, Eitle, Gehässige, Neidische, Eingeschnürte und Einschnürende, welches plötzlich aus ihnen hervorspringt, jenes ganze Allzupersönliche und Unfreie in Naturen, wie denen Rousseau's und Schopenhauer's, recht wohl die Folge eines periodischen Herzleidens sein: diess aber die Folge eines Nervenleidens und dieses endlich die Folge . So lange der Genius in uns wohnt, sind wir beherzt, ja wie toll, und achten nicht des Lebens, der Gesundheit und der Ehre; wir durchfliegen den Tag freier, als ein Adler, und sind sicherer im Dunkel, als die Eule. Aber auf einmal verlässt er uns, und ebenso plötzlich fällt tiefe Furchtsamkeit auf uns: wir verstehen uns selber nicht mehr, wir leiden an allem Erlebten, an allem Nichterlebten, wir sind wie unter nackten Felsen, vor einem Sturme, und zugleich wie erbärmliche Kindsseelen, die sich vor einem Geraschel und einem Schatten fürchten. — Drei Viertel alles Bösen, das in der Welt gethan wird, geschieht aus Furchtsamkeit: und diese ist vor Allem ein physiologischer Vorgang! —
539-
W i s s t i h r a u c h , w a s i h r w o l l t ? — H a t euch nie die Angst geplagt, ihr möchtet gar nicht dazu taugen, Das, was
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Morgenröthe
wahr ist, zu erkennen? Die Angst, dass euer Sinn zu stumpf, und selbst euer Feingefühl des Sehens noch viel zu grob sei? Wenn ihr einmal merktet, w a s für ein Wille hinter eurem Sehen waltete? Zum Beispiel, wie ihr gestern m e h r sehen wolltet, als ein Anderer, heute es a n d e r s sehen wollt, als der Andere, oder wie ihr von vornherein euch sehnt, eine Übereinstimmung, oder das Gegentheil von dem zu finden, was man bisher zu finden vermeinte! Oh der schämenswerthen Gelüste! Wie ihr oft nach dem Starkwirkenden, oft nach dem Beruhigenden ausspäht, — weil ihr gerade müde seid! Immer voller geheimer Vorbestimmungen, w i e die Wahrheit beschaffen sein müsse, dass ihr, gerade ihr sie annehmen könntet! Oder meint ihr, heute, da ihr gefroren und trocken wie ein heller Morgen im Winter seid und euch Nichts am Herzen liegt, ihr hättet bessere Augen? Gehört nicht Wärme und Schwärmerei dazu, einem Gedankendinge G e r e c h t i g k e i t zu schaffen? — u n d d a s e b e n h e i s s t S e h e n ! Als ob ihr überhaupt mit Gedankendingen anders verkehren k ö n n t e t , als mit Menschen! Es ist in diesem Verkehre die gleiche Moralität, die gleiche Ehrenhaftigkeit, der gleiche Hintergedanke, die gleiche Schlaffheit, die gleiche Furchtsamkeit, — euer ganzes Hebens- und hassenswürdiges Ich! Eure körperlichen Ermattungen werden den Dingen matte Farben geben, eure Fieber werden Ungeheuer aus ihnen machen! Leuchtet euer Morgen nicht anders auf die Dinge, als euer Abend? Fürchtet ihr nicht in der Höhle jeder Erkenntniss euer eigenes Gespenst wieder zu finden, als das Gespinnst, in welches die Wahrheit sich vor euch verkleidet hat? Ist es nicht eine schauerliche Komödie, in welcher ihr so unbedachtsam mitspielen wollt? — 540.
L e r n e n . — Michelangelo sah in Raffael das Studium, in sich die Natur: dort das L e r n e n , hier die B e g a b u n g . Indessen ist diess eine Pedanterie, mit aller Ehrfurcht vor dem
Fünftes Buch 539—542
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grossen Pedanten gesagt. Was ist denn Begabung Anderes, als ein Name für ein ä l t e r e s Stück Lernens, Erfahrens, Einübens, Aneignens, Einverleibens, sei es auf der Stufe unserer Väter oder noch früher! Und wiederum: Der, welcher lernt, b e g a b t s i c h s e l b e r , — nur ist es nicht so leicht, zu l e r n e n , und nicht nur die Sache des guten Willens; man muss lernen k ö n n e n . Bei einem Künstler stellt sich dem oft der Neid entgegen, oder jener Stolz, welcher beim Gefühl des Fremdartigen sofort seine Stacheln hervorkehrt und sich unwillkürlich in einen Vertheidigungszustand, statt in den des Lernenden, versetzt. An beidem fehlte es Raffael, gleich Goethe, und desshalb waren sie g r o s s e L e r n e r und nicht nur die Ausbeuter jener Erzgänge, welche sich aus dem Geschiebe und der Geschichte ihrer Vorfahren ausgelaugt hatten. Raffael verschwindet vor uns als Lernender, mitten in der Aneignung dessen, was sein grosser Nebenbuhler als s e i n e „Natur" bezeichnete: er trug täglich ein Stück davon hinweg, dieser edelste Dieb; aber ehe er den ganzen Michelangelo in sich hinübergetragen hatte, starb er — und die letzte Reihe seiner Werke, als der A n f a n g eines neuen Studienplanes, ist weniger vollkommen und schlechthin gut, eben weil der grosser Lerner vom Tode in seinem schwierigsten Pensum gestört worden ist und das rechtfertigende letzte Ziel, nach welchem er ausschaute, mit sich genommen hat. 541.
W i e m a n v e r s t e i n e r n s o l l . — Langsam, langsam hart werden wie ein Edelstein — und zuletzt still und zur Freude der Ewigkeit liegen bleiben.
542.
D e r P h i l o s o p h u n d d a s A l t e r . — Man thut nicht klug, den Abend über den Tag urtheilen zu lassen: denn allzu
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Morgenröthe
oft wird da die Ermüdung zur Richterin über Kraft, Erfolg und guten Willen. Und ebenso sollte die höchste Vorsicht in Absehung auf das A l t e r und seine Beurtheilung des Lebens geboten sein, zumal das Alter, wie der Abend, sich in eine neue und reizende Moralität zu verkleiden liebt und durch Abendröthe, Dämmerung, friedliche oder sehnsüchtige Stille den Tag zu beschämen weiss. Die Pietät, welche wir dem alten Manne entgegenbringen, zumal wenn es ein alter Denker und Weiser ist, macht uns leicht blind gegen die A l t e r u n g s e i n e s G e i s t e s , und es thut immer noth, die M e r k m a l e solcher Alterung und Ermüdung aus ihrem Versteck, das heisst: das p h y s i o l o g i s c h e Phänomen hinter dem moralischen Für- und Vorurtheile hervorzuziehen, um nicht die Narren der Pietät und die Schädiger der Erkenntniss zu werden. Nicht selten nämlich tritt der alte Mann in den Wahn einer grossen moralischen Erneuerung und Wiedergeburt und giebt von dieser Empfindung aus Urtheile über das Werk und den Gang seines Lebens ab, wie als ob er jetzt erst hellsichtig geworden sei: und doch steht hinter diesem Wohlgefühle und diesem zuversichtlichen Urtheilen als Einbläserin nicht die Weisheit, sondern die M ü d i g k e i t . Als deren gefährlichstes Kennzeichen mag wohl der G e n i e g l a u b e bezeichnet werden, welcher erst um diese Lebensgränze grosse und halbgrosse Männer des Geistes zu überfallen pflegt: der Glaube an eine Ausnahmestellung und an Ausnahmerechte. Der von ihm heimgesuchte Denker hält es nunmehr für erlaubt, s i c h es l e i c h t e r z u m a c h e n und als Genie mehr zu decretiren, als zu beweisen: wahrscheinlich ist aber eben der Trieb, welchen die Müdigkeit des Geistes nach E r l e i c h t e r u n g empfindet, die stärkste Quelle jenes Glaubens, er geht ihm der Zeit nach zuvor, wie es auch anders erscheinen möge. Sodann: um diese Zeit will man gemäss der Genusssucht aller Müden und Alten die Resultate seines Denkens g e n i e s s e n , anstatt sie wieder zu prüfen und auszusäen, und hat dazu nöthig, sie
Fünftes Buch 542
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sich mundgerecht und geniessbar zu machen und ihre Trockenheit, Kälte und Würzlosigkeit zu beseitigen; und so geschieht es, dass der alte Denker sich scheinbar über das Werk seines Lebens erhebt, in Wahrheit aber dasselbe durch eingemischte Schwärmereien, Süssigkeiten, Würzen, dichterische Nebel und mystische Lichter verdirbt. So ergieng es zuletzt Plato, so ergieng es zuletzt jenem grossen rechtschaffenen Franzosen, dem die Deutschen und die Engländer dieses Jahrhunderts, als einem Umschlinger und Bändiger der strengen Wissenschaften, Keinen an die Seite zu stellen vermögen, Auguste Comte. Ein drittes Merkmal der Ermüdung: jener Ehrgeiz, welcher in der Brust des grossen Denkers stürmte, als er jung war, und der damals in Nichts sein Genügen fand, ist nun auch alt geworden, er greift, wie Einer, der keine Zeit mehr zu verlieren hat, nach den gröberen und bereiteren Mitteln der Befriedigung, das heisst, nach denen der thätigen, herrschenden, gewaltsamen, erobernden Naturen: von jetzt ab will er Institutionen gründen, die seinen Namen tragen, und nicht mehr GedankenBauten; was sind ihm jetzt noch die ätherhaften Siege und Ehren im Reiche der Beweise und Widerlegungen! was ist ihm eine Verewigung in Büchern, ein zitterndes Frohlocken in der Seele eines Lesers! Die Institution dagegen ist ein Tempel, — das weiss er wohl, und ein Tempel von Stein und Dauer erhält seinen Gott sicherer am Leben, als die Opfergaben zarter und seltener Seelen. Vielleicht findet er um diese Zeit auch zum ersten Mal jene Liebe, welche mehr einem Gotte gilt, als einem Menschen, und sein ganzes Wesen mildert und versüsst sich unter den Strahlen einer solchen Sonne gleich einer Frucht im Herbste. Ja, er wird göttlicher und schöner, der grosse Alte — und trotzdem ist es das Alter und die Müdigkeit, welche ihm e r l a u b e n , derartig auszureifen, stille zu werden und in der leuchtenden Abgötterei einer Frau auszuruhen. Nun ist es vorbei mit seinem früheren trotzigen, dem eignen Selbst überlegenen Verlangen nach ächten Schülern, nämlich ächten Fort-
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Morgenröthe
denkern, das heisst, ächten Gegnern: jenes Verlangen kam aus der ungeschwächten Kraft, aus dem bewussten Stolze, jederzeit noch selber der Gegner und Todfeind seiner eigenen Lehre werden zu können, — jetzt will er entschlossene Parteigänger, unbedenkliche Kameraden, Hülfstruppen, Herolde, ein pomphaftes Gefolge. Jetzt hält er überhaupt die furchtbare Isolation nicht mehr aus, in der jeder vorwärts- und vorausfliegende Geist lebt, er umstellt sich nunmehr mit Gegenständen der Verehrung, der Gemeinschaft, der Rührung und Liebe, er will es endlich auch einmal so gut haben, wie alle Religiösen, und in der G e m e i n d e feiern, was er hochschätzt, ja, er wird dazu eine Religion erfinden, um nur die Gemeinde zu haben. So lebt der weise Alte und geräth dabei unvermerkt in eine solche klägliche Nähe zu priesterhaften, dichterischen Ausschweifungen, dass man sich kaum dabei seiner weisen und strengen Jugend, seiner damaligen straffen Moralität des Kopfes, seiner wahrhaft männlichen Scheu vor Einfallen und Schwärmereien erinnern darf. Wenn er sich früher mit anderen, älteren Denkern verglich, so geschah es, um seine Schwäche ernst mit ihrer Kraft zu messen und gegen sich selber kälter und freier zu werden: jetzt thut er es nur, um sich bei der Vergleichung am eigenen Wahne zu berauschen. Früher dachte er mit Zuversicht an die kommenden Denker, ja, mit Wonne sah er sich einstmals in ihrem volleren Lichte untergehen: jetzt quält es ihn, nicht der Letzte sein zu können, er sinnt über Mittel nach, mit seiner Erbschaft, die er den Menschen schenkt, audi eine Beschränkung des souveränen Denkens ihnen aufzuerlegen, er fürchtet und verunglimpft den Stolz und den Freiheitsdurst der individuellen Geister — : nach ihm soll keiner mehr seinen Intellect völlig frei walten lassen, er selber will als das Bollwerk für immer stehen bleiben, an welches die Brandung des Denkens überhaupt schlagen dürfe, — das sind seine geheimen, vielleicht nicht einmal immer geheimen Wünsche! Die harte Thatsache hinter solchen Wünschen ist aber, dass er selber vor
Fünftes Buch 542—543
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seiner Lehre H a l t gemacht h a t und in ihr seinen Gränzstein, sein „Bis hierher und nicht weiter" aufgerichtet hat. Indem er sich selber k a n o n i s i r t , hat er auch das Zeugniss des Todes über sich ausgestellt: von jetzt ab d a r f sein Geist sich nicht weiter entwickeln, die Zeit für ihn ist um, der Zeiger fällt. Wenn ein grosser Denker aus sich eine bindende Institution für die zukünftige Menschheit machen will, darf man sicherlich annehmen, dass er über den Gipfel seiner Kraft gegangen und sehr müde, sehr nahe seinem Sonnenuntergänge ist. 543·
N i c h t die L e i d e n s c h a f t zum A r g u m e n t der W a h r h e i t m a c h e n ! — Oh, ihr gutartigen und sogar edlen Schwärmer, ich kenne euch! Ihr wollt Recht behalten, vor uns, aber auch vor euch, und vor Allem vor euch! — und ein reizbares und feines böses Gewissen stachelt und treibt euch so oft gerade g e g e n euere Schwärmerei! Wie geistreich werdet ihr dann, in der Überlistung und Betäubung dieses Gewissens! Wie hasst ihr die Ehrlichen, Einfachen, Reinlichen, wie meidet ihr ihre unschuldigen Augen! Jenes b e s s e r e W i s s e n , dessen Vertreter s i e sind und dessen Stimme ihr in euch selber zu laut hört, wie es an eurem Glauben zweifelt, — wie sucht ihr es zu verdächtigen, als schlechte Gewohnheit, als Krankheit der Zeit, als Vernachlässigung und Ansteckung eurer eigenen geistigen Gesundheit! Bis zum Hass gegen die Kritik, die Wissenschaft, die Vernunft treibt ihr es! Ihr müsst die Geschichte fälschen, damit sie für euch zeuge, ihr müsst Tugenden leugnen, damit sie die eurer Abgötter und Ideale nicht in Schatten stellen! Farbige Bilder, wo Vernunftgründe noth thäten! Gluth und Macht der Ausdrücke! Silberne Nebel! Ambrosische Nächte! Ihr versteht euch darauf, zu beleuchten und zu verdunkeln, und mit L i c h t zu verdunkeln! Und wirklich, wenn eure Leidenschaft in's Toben geräth, so kommt
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Morgenröthe
ein Augenblick, da ihr euch sagt: jetzt habe ich mir das gute Gewissen e r o b e r t , jetzt bin ich hochherzig, muthig, selbstverleugnend, grossartig, jetzt bin ich ehrlich! Wie dürstet ihr nach diesen Augenblicken, wo eure Leidenschaft euch vor euch selber volles, unbedingtes Recht und gleichsam die Unschuld giebt, wo ihr in Kampf, Rausch, Wuth, Hoffnung ausser euch und über alle Zweifel hinweg seid, wo ihr decretirt „wer nicht ausser sich ist, wie wir, der kann gar nicht wissen, was und wo die Wahrheit ist!" Wie dürstet ihr darnach, Menschen eures Glaubens in diesem Zustande — es ist der der L a s t e r h a f t i g k e i t d e s I n t e l l e c t e s — zu finden und an ihrem Brande eure Flammen zu entzünden! Oh über euer Martyrium! Über euren Sieg der heilig gesprochenen Lüge! Müsst ihr euch s o v i e l Leides selber anthun? — M ü s s t ihr? —
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W i e m a n j e t z t P h i l o s o p h i e t r e i b t . — Ich merke wohl: unsere philosophirenden Jünglinge, Frauen und Künstler verlangen jetzt gerade d a s G e g e n t h e i l dessen von der Philosophie, was die Griechen von ihr empfiengen! Wer das fortwährende Jauchzen nicht hört, welches durch jede Rede und Gegenrede eines platonischen Dialogs geht, das Jauchzen über die neue Erfindung des v e r n ü n f t i g e n Denkens, was versteht der von Plato, was von der alten Philosophie? Damals füllten sich die Seelen mit Trunkenheit, wenn das strenge und nüchterne Spiel der Begriffe, der Verallgemeinerung, Widerlegung, Engführung getrieben wurde, — mit jener Trunkenheit, welche vielleicht auch die alten grossen strengen und nüchternen Contrapunctiker der Musik gekannt haben. Damals hatte man in Griechenland den anderen älteren und ehedem allmächtigen Geschmack noch auf der Zunge: und gegen ihn hob sich das Neue so zauberhaft ab, dass man von der Dialektik, der „göttlichen Kunst", wie im Liebeswahnsinn sang und
Fünftes Buch 543—545
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stammelte. Jenes Alte aber war das Denken im Banne der Sittlichkeit, für das es lauter festgestellte Urtheile, festgestellte Ursachen, keine anderen Gründe als die der Autorität gab: sodass Denken ein N a c h r e d e n war und aller Genuss der Rede und des Gesprächs in der F o r m liegen musste. (Uberall, wo der Gehalt als ewig und allgültig gedacht wird, giebt es nur Einen grossen Zauber: den der wechselnden Form, das heisst der Mode. Der Grieche genoss auch an den Dichtern, von den Zeiten Homer's her, und später an den Plastikern, nicht die Originalität, sondern deren Widerspiel.) Sokrates war es, der den entgegengesetzten Zauber, den der Ursache und Wirkung, des Grundes und der Folge entdeckte: und wir modernen Menschen sind so sehr an die Nothdurft der Logik gewöhnt und zu ihr erzogen, dass sie uns als der normale Geschmack auf der Zunge liegt und als solche den Lüsternen und Dünkelhaften zuwider sein muss. Was sich gegen ihn abhebt, entzückt diese: ihr feinerer Ehrgeiz möchte gar zu gerne sich glauben machen, dass ihre Seelen Ausnahmen seien, nicht dialektische und vernünftige Wesen, sondern — nun zum Beispiel „intuitive Wesen", begabt mit dem „inneren Sinn" oder mit der „intellectualen Anschauung". Vor Allem aber wollen sie „künstlerische Naturen" sein, mit einem Genius im Kopfe und einem Dämon im Leibe und folglich auch mit Sonderrechten für diese und jene Welt, namentlich mit dem Götter-Vorrecht, unbegreiflich zu sein. — D a s treibt nun auch Philosophie! Ich fürchte, sie merken eines Tages, dass sie sich vergriffen haben, — das, was sie wollen, ist Religion!
545· A b e r w i r g l a u b e n e u c h n i c h t ! — Ihr möchtet euch gerne als Menschenkenner geben, aber wir werden euch nicht durchschlüpfen lassen! Sollen wir es nicht merken, dass ihr euch erfahrener, tiefer, erregter, vollständiger darstellt,
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Morgenröthe
als ihr seid? So gut wir an jenem Maler es fühlen, wie schon in der Führung seines Pinsels eine Anmaassung liegt: so gut wir es jenem Musiker anhören, dass er durch die Art, wie er sein Thema einführt, es als höher ausgeben möchte, als es ist. Habt ihr G e s c h i c h t e in euch erlebt, Erschütterungen, Erdbeben, weite lange Traurigkeiten, blitzartige Beglückungen? Seid ihr närrisch gewesen mit grossen und kleinen Narren? Habt ihr den Wahn und das Wehe der guten Menschen wirklich getragen? Und das Wehe und die Art Glück der schlechtesten hinzu? Dann redet mir von Moral, sonst nicht!
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S c l a v e u n d I d e a l i s t . — Der Epiktetische Mensch wäre wahrlich nicht nach dem Geschmacke Derer, welche jetzt nach dem Ideale streben. Die stete Spannung seines Wesens, der nach Innen gewendete unermüdliche Blick, das Verschlossene, Vorsichtige, Unmittheilsame seines Auges, falls er sich einmal der Aussenwelt zukehrt; und gar das Schweigen oder Kurzreden: Alles Merkmale der strengsten Tapferkeit, — was wäre das für unsere Idealisten, die vor Allem nach der E x p a n s i o n lüstern sind! Zu alledem ist er nicht fanatisch, er hasst die Schaustellung und die Ruhmredigkeit unserer Idealisten: sein Hochmuth, so gross er ist, will doch nicht die Anderen stören, er gesteht eine gewisse milde Annäherung zu und möchte Niemandem die gute Laune verderben, — ja er kann lächeln! Es ist sehr viel antike Humanität in diesem Ideale! Das Schönste aber ist, dass ihm die Angst vor Gott völlig abgeht, dass er streng an die Vernunft glaubt, dass er kein Bussredner ist. Epiktet war ein Sclave: sein idealer Mensch ist ohne Stand und in allen Ständen möglich, vor Allem aber wird er in der tiefen, niedrigen Masse zu suchen sein, als der Stille, Sich-Selbst-Genügende innerhalb einer allgemeinen V e r f e c h tung, der sich nach Aussen hin für sich selber wehrt und fort-
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während im Zustande der höchsten Tapferkeit lebt. Von dem C h r i s t e n unterscheidet er sich vor Allem hierin, dass der Christ in Hoffnung lebt, in der Vertröstung auf „unaussprechbare Herrlichkeiten", dass er sich beschenken lässt und das Beste von der göttlichen Liebe und Gnade, und nicht von sich, erwartet und annimmt: während Epiktet nicht hofft und sein Bestes sich nicht schenken lässt, — er besitzt es, er hält es tapfer in seiner Hand, er macht es der ganzen Welt streitig, wenn diese es ihm rauben will. Das Christenthum war für eine andere Gattung antiker Sclaven gemacht, für die willens- und vernunftschwachen, also für die grosse Masse der Sclaven.
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D i e T y r a n n e n d e s G e i s t e s . — Der Gang der Wissenschaft wird jetzt nicht mehr durch die zufällige Thatsache, dass der Mensch ungefähr siebenzig Jahre alt wird, gekreuzt, wie es allzulange der Fall war. Ehemals wollte Einer während dieses Zeitraumes an's Ende der Erkenntnis kommen und nach diesem allgemeinen Gelüste schätzte man die Methoden der Erkenntniss ab. Die kleinen einzelnen Fragen und Versuche galten als verächtlich, man wollte den kürzesten Weg, man glaubte, weil Alles in der Welt a u f d e n M e n s c h e n h i n eingerichtet schien, dass audi die Erkennbarkeit der Dinge auf ein menschliches Zeitmaass eingerichtet sei. Alles mit Einem Schlage, mit Einem Worte zu lösen, — das war der geheime Wunsch: unter dem Bilde des gordischen Knotens oder unter dem des Eies des Columbus dachte man sich die Aufgabe; man zweifelte nicht, dass es möglich sei, auch in der Erkenntniss nach Art des Alexander oder des Columbus zum Ziele zu kommen und alle Fragen mit Einer Antwort zu erledigen. „Ein R ä t h s e l ist zu lösen": so trat das Lebensziel vor das Auge des Philosophen; zunächst war das Räthsel zu finden und das Problem der Welt in die einfachste Räthselform zusammen-
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Morgenröthe
zudrängen. Der gränzenlose Ehrgeiz und Jubel, der „Enträthsler der Welt" zu sein, machte die Träume des Denkers aus: Nichts schien ihm der Mühe werth, wenn es nicht das Mittel war, Alles f ü r i h n zu Ende zu bringen! So war Philosophie eine A r t höchsten Ringens um die Tyrannenherrschaft des Geistes, — dass eine solche irgend einem Sehr-Glücklichen, Feinen, Erfindsamen, Kühnen, Gewaltigen vorbehalten und aufgespart sei, — einem Einzigen! — daran zweifelte Keiner, und Mehrere haben gewähnt, zuletzt noch Schopenhauer, dieser Einzige zu sein. — Daraus ergiebt sich, dass im Grossen und Ganzen die Wissenschaft bisher durch die m o r a l i s c h e B e s c h r ä n k t h e i t ihrer Jünger zurückgeblieben ist und dass sie mit einer höheren und g r o s s m ü t h i g e r e n Grundempfindung fürderhin getrieben werden muss. „Was liegt an mir!" — steht über der Thür des künftigen Denkers.
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D e r S i e g ü b e r d i e K r a f t . — Erwägt man, was bisher Alles als „übermenschlicher Geist", als „Genie" verehrt worden ist, so kommt man zu dem traurigen Schlüsse, dass im Ganzen die Intellectualität der Menschheit doch etwas sehr Niedriges und Armseliges gewesen sein muss: so wenig Geist gehörte bisher dazu, um sich gleich erheblich über sie hinaus zu fühlen! Ach, um den wohlfeilen Ruhm des „Genie's"! Wie schnell ist sein Thron errichtet, seine Anbetung zum Brauch geworden! Immer noch liegt man vor der K r a f t auf den Knieen — nach alter Sclaven-Gewohnheit — und doch ist, wenn der Grad von V e r e h r u n g s w ü r d i g k e i t festgestellt werden soll, nur d e r G r a d d e r V e r n u n f t i n d e r K r a f t entscheidend: man muss messen, inwieweit gerade die Kraft durch etwas Höheres überwunden worden ist und als ihr Werkzeug und Mittel nunmehr in Diensten steht! Aber für ein solches Messen giebt es noch gar zu wenig Augen,
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ja zumeist wird noch das Messen des Genie's für einen Frevel gehalten. Und so geht vielleicht das Schönste immer noch im Dunkel vor sich und versinkt, kaum geboren, in ewige Nacht, — nämlich das Schauspiel jener Kraft, welche ein Genie n i c h t a u f W e r k e , sondern a u f s i c h a l s W e r k , verwendet, das heisst auf seine eigene Bändigung, auf Reinigung seiner Phantasie, auf Ordnung und Auswahl im Zuströmen von Aufgaben und Einfällen. Noch immer ist der grosse Mensch gerade in dem Grössten, was Verehrung erheischt, unsichtbar wie ein zu fernes Gestirn: sein S i e g ü b e r d i e K r a f t bleibt ohne Augen und folglich auch ohne Lied und Sänger. Noch immer ist die Rangordnung der Grösse für alle vergangene Menschheit noch nicht festgesetzt.
549·
„ S e l b s t f l u c h t " . — Jene Menschen der intellectuellen Krämpfe, welche gegen sich selber ungeduldig und verfinstert sind, wie Byron oder Alfred de Musset, und in Allem, was sie thun, durchgehenden Pferden gleichen, ja, die aus ihrem eigenen Schaffen nur eine kurze, die Adern fast sprengende Lust und Gluth und dann eine um so winterlichere Öde und Vergrämtheit davontragen, wie sollen sie es in s i c h aushalten! Sie dürsten nach einem Aufgehen in einem „ A u s s e r s i c h " ; ist man mit einem solchen Durste ein Christ, so zielt man nach dem Aufgehen in Gott, nach dem „Ganz-eins-mitihm-werden"; ist man Shakespeare, so genügt einem erst das Aufgehen in Bildern des leidenschaftlichsten Lebens; ist man Byron, so dürstet man nach Τ h a t e η , weil diese noch mehr uns von uns abziehen, als Gedanken, Gefühle und Werke. Und so wäre vielleicht doch der Thatendrang im Grunde Selbstfludit? — würde Pascal uns fragen. Und in der That! Bei den höchsten Exemplaren des Thatendranges möchte der Satz sich beweisen lassen: man erwäge doch, mit dem Wissen und den
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Morgenröthe
Erfahrungen eines Irrenarztes, wie billig, — dass Vier von den Thatendurstigsten aller Zeiten Epileptiker gewesen sind (nämlich Alexander, Cäsar, Muhammed und Napoleon): so wie auch Byron diesem Leiden unterworfen war.
55°.
E r k e n n t n i s s u n d S c h ö n h e i t . — Wenn die Menschen, so wie sie immer noch thun, ihre Verehrung und ihr Glücksgefühl für die Werke der Einbildung und der Verstellung gleichsam aufsparen, so darf es nicht Wunder nehmen, wenn sie sich beim Gegensatz der Einbildung und Verstellung kalt und unlustig finden. Das Entzücken, welches schon beim kleinsten sicheren endgültigen Schritt und Fortschritt der Einsicht entsteht und welches aus der jetzigen Art der Wissenschaft so reichlich und schon für so Viele herausströmt, — dieses Entzücken wird einstweilen von allen Denen nicht g e g l a u b t , welche sich daran gewöhnt haben, immer nur beim Verlassen der Wirklichkeit, beim Sprung in die Tiefen des Scheins entzückt zu werden. Diese meinen, die Wirklichkeit sei hässlich: aber daran denken sie nicht, dass die Erkenntniss auch der hässlichsten Wirklichkeit schön ist, ebenso dass wer oft und viel erkennt, zuletzt sehr ferne davon ist, das grosse Ganze der Wirklichkeit, deren Entdeckung ihm immer Glück gab, hässlich zu finden. Giebt es denn etwas „an sich Schönes"? Das Glück der Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt und macht Alles, was da ist, sonniger; die Erkenntniss legt ihre Schönheit nicht nur um die Dinge, sondern, auf die Dauer, in die Dinge; — möge die zukünftige Menschheit für diesen Satz ihr Zeugniss abgeben! Inzwischen gedenken wir einer alten Erfahrung: zwei so grundverschiedene Menschen, wie Plato und Aristoteles, kamen in dem überein, was d a s h ö c h s t e G l ü c k ausmache, nicht nur für sie oder für Menschen, sondern an sich, selbst für Götter der letzten Seligkeiten: sie fanden
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es im E r k e n n e n , in der Thätigkeit eines wohlgeübten findenden und erfindenden V e r s t a n d e s ( n i c h t etwa in der „Intuition", wie die deutschen Halb- und Ganztheologen, n i c h t in der Vision, wie die Mystiker, und ebenfalls n i c h t im Schaffen, wie alle Praktiker). Ähnlich urtheilten Descartes und Spinoza: wie müssen sie Alle die Erkenntniss g e n o s s e n haben! Und welche Gefahr für ihre Redlichkeit, dadurch zu Lobrednern der Dinge zu werden! —
551V o n z u k ü n f t i g e n T u g e n d e n . — Wie kommt es, dass, je begreiflicher die Welt geworden ist, um so mehr die Feierlichkeit jeder Art abgenommen hat? Ist es, dass die Furcht so sehr das Grundelement jener Ehrfurcht war, welche uns bei allem Unbekannten, Geheimnissvollen überfiel und uns vor dem Unbegreiflichen niedersinken und um Gnade bitten lehrte? Und sollte die Welt dadurch, dass wir weniger furchtsam geworden sind, nicht audi an Reiz für uns verloren haben? Sollte mit unserer Furchtsamkeit nicht auch unsre eigene Würde und Feierlichkeit, u n s r e e i g e n e F u r c h t b a r k e i t , geringer geworden sein? Vielleicht, dass wir die Welt und uns selber geringer achten, seit wir muthiger über sie und uns denken? Vielleicht, dass es eine Zukunft giebt, wo dieser Muth des Denkens so angewachsen sein wird, dass er als der äusserste Hochmuth sich ü b e r den Menschen und Dingen fühlt, — wo der Weise als der am meisten Muthige sich selber und das Dasein am meisten unter sich sieht? — Diese Gattung des Muthes, welche nicht ferne einer ausschweifenden Grossmuth ist, f e h l t e bisher der Menschheit. — Oh, wollten doch die Dichter wieder werden, was sie einstmals gewesen sein sollen: — S e h e r , die uns Etwas von dem M ö g l i c h e n erzählen! Jetzt, da ihnen das Wirkliche und das Vergangene immer mehr aus den Händen genommen wird und werden muss, — denn
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Morgenröthe
die Zeit der harmlosen Falschmünzerei ist zu Ende! Wollten sie uns von den z u k ü n f t i g e n T u g e n d e n Etwas vorausempfinden lassen! Oder von Tugenden, die nie auf Erden sein werden, obschon sie irgendwo in der Welt sein könnten, — von purpurnglühenden Sternbildern und ganzen Milchstrassen des Schönen! Wo seid ihr, ihr Astronomen des Ideals?
5 J2·
D i e i d e a l i s c h e S e l b s t s u c h t . — Giebt es einen weihevolleren Zustand, als den der Schwangerschaft? Alles, was man thut, in dem stillen Glauben thun, es müsse irgendwie dem Werdenden in uns zu Gute kommen! Es müsse seinen geheimnissvollen Werth, an den wir mit Entzücken denken, e r h ö h e n ! D a geht man Vielem aus dem Wege, ohne hart sich zwingen zu müssen! D a unterdrückt man ein heftiges Wort, man giebt versöhnlich die Hand: aus dem Mildesten und Besten soll das Kind hervorwachsen. Es schaudert uns vor unsrer Schärfe und Plötzlichkeit: wie wenn sie dem geliebtesten Unbekannten einen Tropfen Unheil in den Becher seines Lebens gösse! Alles ist verschleiert, ahnungsvoll, man weiss von Nichts, wie es zugeht, man wartet ab und sucht b e r e i t zu sein. Dabei waltet ein reines und reinigendes Gefühl tiefer Unverantwortlichkeit in uns, fast wie es ein Zuschauer vor dem geschlossenen Vorhang hat, — e s wächst, e s tritt an den Tag: w i r haben Nichts in der Hand, zu bestimmen, weder seinen Werth, noch seine Stunde. Einzig auf jeden mittelbaren segnenden und wehrenden Einfluss sind wir angewiesen. „Es ist etwas Grösseres, das hier wächst, als wir sind" ist unsere geheimste Hoffnung: ihm legen wir Alles zurecht, dass es gedeihlich zur Welt komme: nicht nur alles Nützliche, sondern auch die Herzlichkeiten und Kränze unserer Seele. — I n d i e s e r W e i h e soll man leben! Kann man leben! Und sei das Erwartete ein Gedanke, eine That, — wir haben zu allem wesent-
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lichen Vollbringen kein anderes Verhältniss, als das der Schwangerschaft und sollten das anmaassliche Reden von „Wollen" und „Schaffen" in den Wind blasen! Diess ist die rechte i d e a l i s c h e S e l b s t s u c h t : immer zu sorgen und zu wachen und die Seele still zu halten, dass unsere Fruchtbarkeit s c h ö n z u E n d e g e h e ! So, in dieser mittelbaren Art sorgen und wachen wir für den N u t z e n A l l e r ; und die Stimmung, in der wir leben, diese stolze und milde Stimmung, ist ein ö l , welches sich weit um uns her audi auf die unruhigen Seelen ausbreitet. — Aber w u n d e r l i c h sind die Schwangeren! Seien wir also auch wunderlich und verargen wir es den Anderen nicht, wenn sie es sein müssen! Und selbst, wo diess in's Schlimme und Gefährliche sich verläuft: bleiben wir in der Ehrfurcht vor dem Werdenden nicht hinter der weltlichen Gerechtigkeit zurück, welche dem Richter und dem Henker nicht erlaubt, eine Schwangere zu berühren!
553·
A u f U m w e g e n . — Wohin will diese ganze Philosophie mit allen ihren Umwegen? Thut sie mehr, als einen stäten und starken Trieb gleichsam in Vernunft zu übersetzen, einen Trieb nach milder Sonne, heller und bewegter Luft, südlichen Pflanzen, Meeres-Athem, flüchtiger Fleisch-, Eier- und Früchtenahrung, heissem Wasser zum Getränke, tagelangen stillen Wanderungen, wenigem Sprechen, seltenem und vorsichtigem Lesen, einsamem Wohnen, reinlichen, schlichten und fast soldatischen Gewohnheiten, kurz nach allen Dingen, die gerade mir am besten schmecken, gerade mir am zuträglichsten sind? Eine Philosophie, welche im Grunde der Instinct für eine persönliche Diät ist? Ein Instinct, welcher nach meiner Luft, meiner Höhe, meiner Witterung, meiner Art Gesundheit durch den Umweg meines Kopfes sucht? Es giebt viele andere und gewiss auch viele höhere Erhabenheiten der Philosophie, und nicht
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Morgenröthe
nur solche, welche düsterer und anspruchsvoller sind, als die meinen, — vielleicht sind auch sie insgesammt nichts Anderes, als intellectuelle Umwege derartig persönlicher Triebe? — Inzwischen sehe ich mit einem neuen Auge auf das heimliche und einsame Schwärmen eines Schmetterlings, hoch an den Felsenufern des See's, wo viele gute Pflanzen wachsen: er fliegt umher, unbekümmert darum, dass er nur das Leben Eines Tages noch lebt, und dass die Nacht zu kalt für seine geflügelte Gebrechlichkeit sein wird. Es würde sich wohl auch für ihn eine Philosophie finden lassen: ob es schon nicht die meine sein mag.— 554-
V o r s c h r i t t . — Wenn man den F o r t s c h r i t t rühmt, so rühmt man damit nur die Bewegung und Die, welche uns nicht auf der Stelle stehen bleiben lassen, — und damit ist gewiss unter Umständen viel gethan, insonderheit, wenn man unter Ägyptern lebt. Im beweglichen Europa aber, wo sich die Bewegung, wie man sagt, „von selber versteht" — ach, wenn w i r nur auch Etwas davon verstünden! — lobe ich mir den V o r s c h r i t t und die Vorschreitenden, das heisst Die, welche sich selber immer wieder zurücklassen und die gar nicht daran denken, ob ihnen Jemand sonst nachkommt. „Wo ich Halt mache, da finde ich mich allein: wozu sollte ich Halt machen! Die Wüste ist noch gross!" — so empfindet ein solcher Vorschreitender. 555·
D i e g e r i n g s t e n g e n ü g e n s c h o n . — Man soll den Ereignissen aus dem Wege gehen, wenn man weiss, dass die g e r i n g s t e n sich schon stark genug auf uns einzeichnen, — und diesen entgeht man doch nicht. — Der Denker muss einen ungefähren Kanon aller der Dinge in sich haben, welche er überhaupt noch e r l e b e n w i l l .
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556D i e g u t e n V i e r . — R e d l i c h gegen uns und was s o n s t uns Freund ist; t a p f e r gegen den Feind; g r o s s m ü t h i g gegen den Besiegten: h ö f l i c h — immer: so wollen uns die vier Cardinaltugenden.
557·
A u f e i n e n F e i n d l o s . — Wie gut klingen schlechte Musik und schlechte Gründe, wenn man auf einen Feind los marschirt! 558.
Aber auch nicht seine Tugenden verbergen! — Ich liebe die Menschen, welche durchsichtiges Wasser sind und die, mit Pope zu reden, auch „die Unreinlichkeiten auf dem Grunde ihres Stromes sehen lassen." Selbst für sie giebt es aber noch eine Eitelkeit, freilich von seltener und sublimirter Art: Einige von ihnen wollen, dass man eben nur die Unreinlichkeiten sehe und die Durchsichtigkeit des Wassers, die diess möglich macht, für Nichts achte. Kein Geringerer, als Gotama Buddha, hat die Eitelkeit dieser Wenigen erdacht, in der Formel: „lasset eure Sünden sehen vor den Leuten und verberget eure Tugenden!" Diess heisst aber der Welt kein gutes Schauspiel geben, — es ist eine Sünde wider den Geschmack.
559·
„ N i c h t z u s e h r ! " — Wie oft wird dem Einzelnen angerathen, sich ein Ziel zu setzen, das er nicht erreichen kann und das über seine Kräfte geht, um so wenigstens Das zu erreichen, was seine Kräfte bei der a l l e r h ö c h s t e n A n s p a n n u n g leisten können! Ist diess aber wirklich so wünschenswerth? Bekommen nicht nothwendig die besten
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Morgenröthe
Menschen, die nach dieser Lehre leben, und ihre besten Handlungen etwas Übertriebenes und Verzerrtes, eben weil zu viel Spannung in ihnen ist? Und verbreitet sich nicht ein grauer Schimmer von E r f o l g l o s i g k e i t dadurch über die Welt, dass man immer kämpfende Athleten, ungeheure Gebärden und nirgends einen bekränzten und siegesgemuthen Sieger sieht?
560.
W a s u n s f r e i s t e h t . — Man kann wie ein Gärtner mit seinen Trieben schalten und, was Wenige wissen, die Keime des Zornes, des Mitleidens, des Nachgrübelns, der Eitelkeit so fruchtbar und nutzbringend ziehen wie ein schönes Obst an Spalieren; man kann es thun mit dem guten und dem schlechten Geschmack eines Gärtners und gleichsam in französischer oder englischer oder holländischer oder chinesischer Manier, man kann auch die Natur walten lassen und nur hier und da für ein Wenig Schmuck und Reinigung sorgen, man kann endlich audi ohne alles Wissen und Nachdenken die Pflanzen in ihren natürlichen Begünstigungen und Hindernissen aufwachsen und unter sich ihren Kampf auskämpfen lassen, — ja, man kann an einer solchen Wildniss seine Freude haben und gerade diese Freude haben wollen, wenn man auch seine Noth damit hat. Diess Alles steht uns frei: aber wie Viele wissen denn davon, dass uns diess frei steht? G l a u b e n nicht die Meisten an s i c h wie an vollendete a u s g e w a c h s e n e Thatsachen? Haben nicht grosse Philosophen noch ihr Siegel auf diess Vorurtheil gedrückt, mit der Lehre von der Unveränderlichkeit des Charakters?
561.
S e i n G l ü c k a u c h l e u c h t e n l a s s e n . — Wie die Maler, welche den tiefen, leuchtenden Ton des wirklichen
Fünftes Buch 559—562
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Himmels auf keine Weise erreichen können, genöthigt sind, alle Farben, die sie zu ihrer Landschaft brauchen, um ein paar Töne niedriger zu nehmen, als die Natur sie zeigt: wie sie durch diesen Kunstgriff wieder eine Ähnlichkeit im Glänze und eine Harmonie der Töne erreichen, welche der in der Natur entspricht: so müssen sich auch Dichter und Philosophen zu helfen wissen, denen der leuchtende Glanz des Glückes unerreichbar ist; indem sie alle Dinge um einige Grade dunkler färben, als sie sind, wirkt ihr Licht, auf welches sie sich verstehen, beinahe sonnenhaft und dem Lichte des vollen Glücks ähnlich. — Der Pessimist, der die schwärzesten und düstersten Farben allen Dingen giebt, verbraucht nur Flammen und Blitze, himmlische Glorien und Alles, was grelle Leuchtkraft hat und die Augen unsicher macht; bei ihm ist die Helle nur dazu da, das Entsetzen zu vermehren und mehr Schreckliches in den Dingen ahnen zu lassen, als sie haben.
562.
D i e S e s s h a f t e n u n d d i e F r e i e n . — Erst in der Unterwelt zeigt man uns Etwas von dem düsteren Hintergrunde aller jener Abenteurer-Seligkeit, welche um Odysseus und Seinesgleichen wie ein ewiges Meeresleuchten liegt, — von jenem Hintergrunde, den man dann nicht mehr vergisst: die Mutter des Odysseus starb aus Gram und Verlangen nach ihrem Kinde! Den Einen treibt es von Ort zu Ort, und dem Andern, dem S e s s h a f t e n und Zärtlichen, bricht das Herz darüber: so ist es immer! Der Kummer bricht Denen das Herz, welche es erleben, dass gerade ihr Geliebtester ihre Meinung, ihren Glauben verlässt, — es gehört diess in die Tragödie, welche die freien Geister m a c h e n , — um die sie mitunter auch w i s s e n ! Dann müssen sie auch wohl einmal, wie Odysseus, zu den Todten steigen, um ihren Gram zu heben und ihre Zärtlichkeit zu beschwichtigen.
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Morgenröthe 563.
D e r W a h n d e r s i t t l i c h e n W e l t o r d n u n g . — Es g i e b t g a r k e i n e e w i g e N o t w e n d i g k e i t , welche forderte, dass jede Schuld gebüsst und bezahlt werde, — es war ein schrecklicher, zum kleinsten Theile nützlicher Wahn, dass es eine solche gebe — ; ebenso wie es ein Wahn ist, dass Alles eine Schuld ist, was a l s s o l c h e gefühlt wird. Nicht d i e D i n g e , sondern die Meinungen ü b e r D i n g e , d i e e s g a r n i c h t g i e b t , haben die Menschen so verstört!
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G l e i c h n e b e n d e r E r f a h r u n g ! — Auch grosse Geister haben nur ihre fünf Finger breite E r f a h r u n g , — gleich daneben hört ihr Nachdenken auf: und es beginnt ihr unendlicher leerer Raum und ihre Dummheit.
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W ü r d e u n d U n w i s s e n h e i t i m B u n d e . — Wo wir verstehen, da werden wir artig, glücklich, erfinderisch, und überall, wo wir nur genug gelernt und uns Augen und Ohren g e m a c h t haben, zeigt unsere Seele mehr Geschmeidigkeit und Anmuth. Aber wir begreifen so Wenig und sind armselig unterrichtet, und so kommt es selten dazu, dass wir eine Sache umarmen und uns dabei selber liebenswerth machen: vielmehr gehen wir steif und unempfindlich durch die Stadt, die Natur, die Geschichte und bilden uns Etwas auf diese Haltung und Kälte ein, als ob sie eine Wirkung der Überlegenheit sei. Ja, unsere Unwissenheit und unser geringer Durst nach Wissen verstehen sich trefflich darauf, als Würde, als Charakter einherzustolzieren.
Fünftes Buch 563—568
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j 66. W o h l f e i l l e b e n . — Die wohlfeilste und harmloseste Art zu leben ist die des Denkers: denn, um gleich das Wichtigste zu sagen, er bedarf gerade der Dinge am meisten, welche die Anderen geringschätzen und übriglassen —. Sodann: er freut sich leicht und kennt keine kostspieligen Zugänge zum Vergnügen; seine Arbeit ist nicht hart, sondern gleichsam südländisch; sein Tag und seine Nacht werden nicht durch Gewissensbisse verdorben; er bewegt sich, isst, trinkt und schläft nach dem Maasse, dass sein Geist immer ruhiger, kräftiger und heller werde; er freut sich seines Leibes und hat keinen Grund, ihn zu fürchten; er bedarf der Geselligkeit nicht, es sei denn von Zeit zu Zeit, um hinterher seine Einsamkeit um so zärtlicher zu umarmen; er hat an den Todten Ersatz für Lebende, und selbst für Freunde einen Ersatz: nämlich an den Besten, die je gelebt haben. — Man erwäge, ob nicht die umgekehrten Gelüste und Gewohnheiten es sind, welche das Leben der Menschen kostspielig, und folglich mühsam, und oft unausstehlich machen. — In einem anderen Sinne freilich ist das Leben des Denkers das kostspieligste, — es ist Nichts zu gut für ihn; und gerade d e s B e s t e n zu entbehren wäre hier eine u n e r t r ä g l i c h e Entbehrung.
567.
I m F e l d e . — „Wir müssen die Dinge lustiger nehmen, als sie es verdienen; zumal wir sie lange Zeit ernster genommen haben, als sie es verdienen." — So sprechen brave Soldaten der Erkenntniss. 568.
D i c h t e r u n d V o g e l . — Der Vogel Phönix zeigte dem Dichter eine glühende und verkohlende Rolle. „Erschrick nicht! sagte er, es ist dein Werk! Es hat nicht den Geist der Zeit und
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Morgenröthe
noch weniger den Geist Derer, die gegen die Zeit sind: folglich muss es verbrannt werden. Aber diess ist ein gutes Zeichen. Es giebt manche Arten von Morgenröthen." 569. A n d i e E i n s a m e n . — Wenn wir die Ehre anderer Personen nicht in unseren Selbstgesprächen ebenso schonen, wie in der Öffentlichkeit, so sind wir unanständige Menschen. 570. V e r l u s t e . — Es giebt Verluste, welche der Seele eine Erhabenheit mittheilen, bei der sie sich des Jammerns enthält und sich wie unter hohen schwarzen Cypressen schweigend ergeht. 571Feld-Apotheke d e r S e e l e . — Welches ist das stärkste Heilmittel? — Der Sieg.
572·
D a s L e b e n s o l l u n s b e r u h i g e n . — Wenn man, wie der Denker, für gewöhnlich in dem grossen Strome des Gedankens und Gefühls lebt, und selbst unsere Träume in der Nacht diesem Strome folgen: so begehrt man vom L e b e n Beruhigung und Stille, — während Andere gerade vom Leben ausruhen wollen, wenn sie sich der Meditation übergeben.
573·
S i c h h ä u t e n . — Die Schlange, welche sich nicht häuten kann, geht zu Grunde. Ebenso die Geister, welche man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln; sie hören auf, Geist zu sein.
Fünftes Buch 568—575
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574·
N i c h t z u v e r g e s s e n ! — Je höher wir uns erheben, um so kleiner erscheinen wir Denen, welche nicht fliegen können.
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W i r L u f t - S c h i f f f a h r e r d e s G e i s t e s ! — Alle diese kühnen Vögel, die in's Weite, Weiteste hinausfliegen, — gewiss! irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken — und noch dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft! Aber wer dürfte daraus schliessen, dass es vor ihnen k e i n e ungeheuere freie Bahn mehr gebe, dass sie so weit geflogen sind, als man fliegen k ö n n e ! Alle unsere grossen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und es ist nicht die edelste und anmuthigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und dich an! A n d e r e V ö g e l w e r d e n w e i t e r f l i e g e n ! Diese unsere Einsicht und Gläubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs über unserm Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Schaaren viel mächtigerer Vögel, als wir sind, voraus, die dahin streben werden wohin wir strebten, und wo Alles noch Meer, Meer, Meer ist! — Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn ü b e r das Meer? Wohin reisst uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit u n t e r g e g a n g e n sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, n a c h W e s t e n s t e u e r n d , ein I n d i e n zu e r r e i c h e n h o f f t e n , — dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? —
Nachgelassene
Fragmente
Anfang 1880 bis Frühjahr 188χ
[1 = N V 1. Anfang 1880]
Φ]
Vom Aberglauben. Vom Loben und Tadeln. Von der zulässigen Lüge.
Φ]
Schätzung des Mitleids (von Seiten derer ausgehend, die bemitleidet werden?) Monogamie Φ ]
Befinden die Menschen sich schlecht in Folge i h r e r U n m o r a l i t ä t oder ihrer M o r a l i t ä t ? — Oder in Folge von Beiden und vielen anderen Dingen?
Φ]
Wie soll man handeln? So daß der Einzelne möglichst erhalten bleibt? Oder so daß die Rasse möglichst erhalten bleibt? Oder so daß eine andere Rasse möglichst erhalten bleibt? (Moralität der Thiere) Oder so daß das Leben überhaupt erhalten bleibt? Oder so daß die höchsten Gattungen des Lebens erhalten bleiben? Die Interessen dieser verschiedenen Sphären gehen auseinander. Aber was sind höchste Gattungen? Giebt die Höhe des Intellekts oder die Güte oder die Kraft den Ausschlag? In Bezug auf diese allgemeinsten Maaßstäbe für das Handeln gab es kein Nachdenken, geschweige denn Übereinstimmung.
Φ]
Was Freundlichkeit und Wohlwollen betrifft, steht Europa nicht auf der Höhe: es zeugt g e g e n das Christenthum.
340
Nachgelassene Fragmente
i[6] Das u n i v e r s a l e Glück zu erstreben ist eine Unverschämtheit, und Albernheit. I[7]
Der schlechte der kranke der nicht erzogene Mensch ist ein Resultat, dem man die Fortdauer und die Wirksamkeit beschneiden muß. i[8] _ Die schädlichste Tendenz ist die, immer a n A n d e r e zu denken ( f ü r sie thätig sein ist fast eben so schlimm als g e g e n sie, es ist eine Vergewaltigung ihrer Sphäre. Welche Brutalität ist die gewöhnliche Erziehung, der Eingriff der Eltern in die Sphäre der Kinder! i[9] _ Die Moralität (ebenso wie die Dichtkunst) ist am stärksten bei Naturvölkern (ihre Gebundenheit durch die Sitten) Bei den höchst cultivirten Nationen sind die Sitten meist das Rückständigste, oft Lächerliche, hier ist der ausgezeichnete Mensch immer unmoralisch. I[I0] Gesetzt, es wird m e h r g e s c h ä t z t , für Andere sich zu opfern, so thut man es: aber weil es g e s c h ä t z t wird. Instruktiv! I[II]
Teufelsanbetung Spencer p. 31 I[I2] _
Erziehung Fortsetzung der Zeugung. Das ganze Leben ist Anpassung des Neuen an das Alte.
Anfang 1880 1 [6—19]
341
1
C13 ] Napoleons p r ä s e n t a b l e s Motiv: „ich will Allen überlegen sein". Wahres Motiv: „ich will Allen überlegen erscheinen". Φ4] Das größte Problem der kommenden Zeit ist die Abschaffung der moralischen Begriffe und die Reinigung unserer Vorstellungen von den eingeschlichenen und oft uns schwer erkennbaren moralischen Formen und Farben. x[i5] Der „Mörder", den wir verurtheilen, ist ein Phantom: „der Mensch der eines Mordes fähig ist". Aber das sind wir Alle.
An dem Gleich-sein-wollen verkümmert die Fähigkeit der Freude. i[i7] Die Barbarei im Christenthum. z) Uberreste der Teufelsanbetung usw. Φ8] Wenn man ein so außerordentliches Wohlgefallen an seinen Werken hat und ihretwegen sich selber überhebt, so setzt man sich in der Rangordnung der Geister herab: denn es liegt nun nicht mehr viel daran, was man über andere Werke und Menschen urtheilt. Man hat die große Feuer-Probe der Gerechtigkeit nicht bestanden und darf nicht mehr auf dem Riditerstuhl sitzen wollen. Φ5>] Wenn es nicht verboten ist: „du s o l l s t nicht morden!" — in ganzen Perioden hat das innere Gefühl nichts gegen den Mord einzuwenden.
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Nachgelassene Fragmente
l[20] Wer die Pein erfahren hat, (die) Wahrheit zu sagen t r o t z seiner Freundschaften und Verehrungen, scheut sich gewiß vor neuen.
Es giebt ganz gescheute Menschen, welche meinen, wenn sie gegen eine Sache hartnäckig die Augen verschließen, dieselbe sei nicht mehr auf der Welt.
Giebt es etwas Wichtigeres und Wirksameres, als jeden Menschen seiner Bekanntschaft als einen schwierigen Prozeß anzusehen, vermöge dessen sich eine s p e z i f i s c h e A r t W o h l s e i n durchsetzen möchte: erst wenn dies Wohlsein erreicht ist, ist das Gleichgewicht zwischen ihm und uns Allen hergestellt; von da an theilt er von seiner Freude mit und drängt sich doch nicht in die Sphäre der Anderen, er steht als kräftiger Baum unter anderen Bäumen, in der Freiheit des Waldes.
NB. D u n k l e glauben i) aufgeklärten
und 2)
abergläubische Menschen 3) im Gegensatz zu den
Φ4] _ Das Mitleid ohne Intelligenz ist eine der unangenehmsten und störendsten Erscheinungen: von sich aus ist leider das Mitleid durchaus nicht hellsichtig, wie Schopenhauer will.
Keine lauere und flauere Empfindung wäre möglich als wenn alle Menschen sich einander eins oder audi nur gleich wähnten. Die schwungvollste Empfindung, die der amour-passion, besteht gerade im Gefühl der größten Verschiedenheit.
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I [26] Dadurch daß das Christenthum entwurzelt ist, wächst unsere Jugend ohne Erziehung. I[27] Die Gesellschaft muß immer mehr W a h r h e i t lernen.
ertragen
Φ8] Menschen die vor Gift und Eifersucht gegen Menschen beißen möchten, predigen Wohlwollen gegen die Thiere l[29] Eine neue Cultur — die soll man nicht verschauspielern! i[3°] Gerade jetzt wo die bejammernswerthe Comödie die Kunst mit dem Christenthum zu versöhnen wieder aufgeführt, an Schopenhauer zu erinnern! ihm sehr zu Ehren, daß er nie — i[3i] Das Bedürfniß, sich über alle Sachen auszusprechen, die uns quälen — ließ Gott dem Christen immer gegenwärtig erscheinen; für die gröberen phantasieärmeren Naturen schuf die Kirche seinen Vertreter, den Beichtvater. W a r u m will man sich aussprechen? Weil eine Lust dabei ist, eine Vergewaltigung des Anderen, dem wir unser Leid zu hören, mitzuempfinden, mitzutragen geben — Gott als Sündenbock muß auch Beichtvater sein. Ich kenne einen, der sich durch den kleinen Windhauch seiner „Freiheit" so verwöhnt hat, daß die Vorstellung zu einer P a r t e i zu gehören, ihm Angstschweiß macht — selbst wenn es seine eigne Partei wäre!
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Nachgelassene Fragmente
i[33]
Unsere Aufgabe ist die Cultur zu reinigen, den neuen Trieben Luft und Licht zu schaffen und im Glauben, daß nadi Uberwindung der Gegensätze sehr viel Kraft mehr da ist. 1
[34] Ob ein Mensch zum Nutzen der Gesellschaft zu tödten sei? Der Mörder stört die Sicherheit, der Freigeist gefährdet die Seele für alle Ewigkeit. Die Murrköpfe stören das Behagen i[35l Die unmoralischen Handlungen machen die m o r a l i s c h e Lebensweise bestimmter roher Culturen aus. — Sie sind audi noch in unseren O r g a n e n vorhanden. Wir morden, stehlen, lügen, verstellen uns usw. selbst im Höchsten. I[36] Unsere späteren Werthsdiätzungen bilden sich nach Analogie der angelernten, wie ein angefangenes Haus ausgebaut wird — d.h. i [ 3 7 ]
So lange euch diese Sätze noch irgendwie paradox klingen, habt ihr sie nicht verstanden: sie müssen euch überflüssig und allzuklar erscheinen. Man kann nicht leicht genug darüber nachdenken. i[3»] . Freie Geister versuchen a n d e r e A r t e n des Lebens, unschätzbar! die moralischen Menschen würden die Welt verdorren lassen. Die Versuchs-Stationen der Menschheit x[3 9]
Es wird erstaunlich viel S c h m e r z auf den Versuchsstationen neuer Lebensweisen und Nützlichkeiten umsonst er-
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litten — es hilft nichts: möge es nur Andern helfen! daß sie erkennen, was hier für ein verfehltes Experiment gemacht wurde. i[4o] Nach Gewohnheit zu handeln ist „sich selber nachahmen", das Nächste und Leichteste — o h n e daß die Motive der ehemaligen Handlungen wieder wirken. i[4i] Der erfinderische G(eist) muß Z e i t haben und darf sich nicht zu sehr an R e g e l m ä ß i g k e i t gewöhnen. I[42]
Unabhängig von gewissen körperlichen und geistigen Zuständen sollten wir Gott aus dem Teufel kennen, denn audi die göttlichen Zustände („Gott wirkt in uns" der Teufel wüthet in ihm usw.) i[43] Moralität als Η i η d e r η i ß der Erfindungen. Der Erfindsame, der zu faul ist, erfindet die Maschine und das Thier; der Ehrsüchtige die Staaten, der Versteller das Schauspiel usw. — Der vernünftige Mensch lebt von den Errungenschaften der Erfindsamen. Sittlich ist die vernünftige Handlung thun, deren Zwecke und Mittel gebilligt werden. N u r sittlich: da verarmt die Menschheit und wird nichts erfunden. ι [44] Wo E r r e g u n g e n noth thun, da ist das zwecklose Ü b e r s t r ö m e n d e r K r a f t nicht mehr da; dies will man also herstellen — aber Uberströmen?
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Nachgelassene Fragmente
[45 Π
Man ist thätig, weil alles was lebt sich bewegen muß — n i c h t um der F r e u d e willen, also o h n e Z w e c k : obschon Freude dabei ist. Diese Bewegung ist n i c h t Nachahmung der zweckmäßigen Bewegungen, es ist anders. i[46] Gesetzt, es würde durch die Wissenschaft sehr vielen z u f r i e d e n e n Vorstellungen und mancher angenehmen Faulheit ein Ende gemacht, so wirkt sie ungesund. Aber dagegen ist zu rechnen, daß sie sehr viele Unzufriedenheit beseitigt und namentlich die schrecklichen Vorstellungen aller bösen Philosophien und Religionen, daß wir durch und durch böse sind und harten Bußen entgegengehen. [47] Die Handlungen der Gewohnheit hat man nur in Hinsicht auf ihren g e m e i n e n N u t z e n sittlich, also mit dem höchsten menschlichen Prädikat, nennen können — in sich sind sie sehr arm und fast „unter-thierisch". 1
i[48] Eine Sache beschreiben i[49] Die unmoralischen Menschen sind die, welche freie Bewegung haben ohne Zwecke, oder die alten Bahnen gehen mit anderen Zwecken. [j°] Bisher hat von den 2 Hauptmotiven die Furcht vor dem Schmerz ganz übermächtig mehr gewirkt als das Trachten nach Freude. Man kannte gar zu wenig Freuden und gar zu viele Gefahren. — Hier zeigt sich im Ganzen die Zurückgeblieben1
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heit des Menschen, je nachdem die Motive der Furcht gröber verfeinert oder erblaßt und von den Motiven der Freude überleuchtet sind. i[Si] Ein z u f ä l l i g e s Zusammentreffen zweier Worte oder eines Wortes und eines Schauspiels ist der Ursprung eines neuen Gedankens.
Menschen, welche viel Z u f ä l l i g e s haben und gerne herumschweifen, andere welche nur auf den b e k a n n t e n W e g e n nach Zwecken gehen. [53] Das Genie wie ein blinder Seekrebs, der fortwährend nach allen Seiten tastet und g e l e g e n t l i c h etwas fängt: er tastet aber nicht, um zu fangen, sondern weil seine Glieder sich tummeln müssen. 1
i[54] Die Handlungen mit einem u n e r w a r t e t e n E r f o l g , z u einem a n d e r e n Zwecke unternommen — ζ. B. ein Thier das seine Eier bewacht, als N a h r u n g und plötzlich Wesen seines Gleichen vor sich sieht.
Wer sich auf prachtvolle moralische Attitüden versteht, den rechne man unter die Hanswürste Kapuziner Seiltänzer Feuerfresser und andere Künstler, die für die arbeitende Masse da sind, diese hat solche Lust am Unwahrscheinlichen und Verrückten; ich habe die besten Menschen in ihren besten Handlungen immer etwas beschämt und kurzathmig gefunden. Es giebt schon eine Art moralische Augen zu machen, wodurch der
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Nachgelassene Fragmente
ganze Kerl verdächtig wird. Die Tugend ohne Scham vor sich selber ist nichts als eine List. I[56] Veränderung der Werthschätzung z.B. Verachtung gegen die Abergläubischen und ihre Gegenstände. i[$7] Das Gute, das Ausgezeichnete thun, ohne Lob dafür zu erwarten, zu stolz sein, Lob dafür anzunehmen, und einen geringschätzigen Blick für den Allzudreisten, welcher trotzdem lobt, bereit halten, und an diese männliche Praxis Jedermann aus seiner Umgebung gewöhnen; das Gelobtwerden aber den weibischen und künstlerischen Naturen gestehen und es da auch gelten lassen, weil diese Naturen ihr Bestes nidit aus Stolz, sondern aus Gründen der Eitelkeit thun. — Das ist das Rechte! Wenn wir es nur in Stunden der vollen Kraft ebenso als das R e c h t e empfänden, so ist dies gewiß kein Einwand dagegen. Für den Kranken und Müden mag etwas Lob als Würze oder Betäubung nöthig sein. — Zwischen gerechtem und ungerechtem Lobe mache ich hier keinen Unterschied und ebensowenig zwischen gerechtem und ungerechtem Tadel: letzteren sollen wir nidit nur gelten lassen, sondern herausfordern und ermuthigen; vermöge umfänglichen und jederzeit erklingenden Tadeins, sei dieses gerecht oder ungerecht, erheben wir uns über uns selber, denn wir sehen damit uns so, wie wir erscheinen, und zwar in unbestochenen Augen. 1C58] Man lernt die präsentablen Motive. i[59] Ein ganz bewußter Egoismus würde jener Freuden entbehren, welche durch eingebildete Motive entstehen oder dadurch weil wir nur E i n Motiv von den vielen sehen wollen.
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ι [6ο] „Alle Menschen sind Sünder" ist eine solche Übertreibung, wie „alle Menschen sind Irre", auf welche Ärzte gerathen könnten. Hier sind die Gradunterschiede außer Acht gelassen, und das Wort und die Empfindung, welche der abnorme äußerste Grad erweckt hat, sind auf das ganze verwandte Seelenleben der mittleren und niederen Grade mit übertragen. Man hat die Menschheit schrecklich gemacht, dadurch daß man eine Abnormität in ihr Wesen verlegte.
Die e r f i n d e r i s c h e n und die z w e c k t h ä t i g e n Naturen — Gegensatz.
Zu begreifen, wie wenig Werth die sittlidien Handlungen haben, wie wenig Unwerth die unmoralischen — wie groß dagegen die intellektuelle Verschiedenheit in ihnen ist — diese Aufklärung über die Motive der Handlungen zu bekommen, bringt das höchste Erstaunen hervor.
Grundsatz: in der gesamten Geschichte der Menschheit bisher kein Zweck, keine vernünftige geheime Leitung, kein Instinkt, sondern Zufall, Zufall, Zufall — und mancher günstige. Diese sind ins Licht zu setzen. Wir dürfen kein falsches Vertrauen haben und am allerwenigsten uns weiter auf den Zufall verlassen. Derselbe ist in den meisten Fällen ein sinnloser Zerstörer. I[64] Wenn ein Volk auf bestimmten moralischen Urtheilen stehen bleibt, so wird es dadurch beschränkt, verknöchert, isolirt, alt und geht endlich daran zu Grunde.
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I[65] Moralische Urtheile werden am sichersten von Leuten ausgesprochen, die nie gedacht haben, und am unsichersten von denen, welche die Menschen kennen. Es ist nichts zu loben und zu tadeln.
Willkürliche Handlungen — das ist eigentlich ein negativer Begriff — Handlungen welche nicht unwillkürlich, nicht automatisch, ohne Zwecke verlaufen. Das Positive, was man dabei empfindet, ist ein Irrthum. „Unwillkürlich" das ist eigentlich der positive Begriff. Streng genommen, sind willkürliche Handlungen z w e i u n w i l l k ü r l i c h e , welche zeitlich aneinander schließen, eine Gehirnbewegung, welcher eine Muskelbewegung nachfolgt, ohne ihre Wirkung zu sein.
Die größte Mannigfaltigkeit der menschlichen Existenz-Bedingungen aufrecht erhalten und nicht mit einem moralischen Codex die Menschen uniformiren — dies ist das allgemeinste Mittel, den g ü n s t i g e n Zufall vorzubereiten. — Bisher hat sich die Menschheit keinen Zweck gesetzt, welchen sie als Ganzes erreichen will — vielleicht geschieht es einmal. Einstweilen, da der Zweck fehlt, sind auch keine Mittel dazu erkenntlich. Inzwischen ist die möglichst große Masse solcher Individuen herzustellen welche individuelles Wohlbefinden haben — was sich gegenseitig bedingt — das allgemeinste . Die Moral ist die Gesetzgebung solcher, welche sich klüger wußten als ihre Umgebung und für sie mit dachten. Man machte die oft sdiweren Anforderungen unwidersprechlich, dadurch daß man den Willen der Gottheit dazu gewann. l[68]
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i[69]
Es giebt also keine tadelnswürdigen H a n d l u n g e n , sondern Lob und Tadel trifft nur Menschen, nicht Dinge. φο]
Alles, was lebt, bewegt sich; diese Thätigkeit ist nicht um bestimmter Zwecke willen da, es ist eben das Leben selber. Die Menschheit als Ganzes ist in ihren Bewegungen ohne Zwecke und Ziele, es ist darin von vornherein k e i n W i l l e : wohl aber wäre es nicht unmöglich, daß der Mensch einmal einen Zweck hineinlegte: so wie gewisse ursprünglich zwecklose Bewegungen der Thiere zum Dienst ihrer Ernährung verwandt werden. . Bei Siegesfesten geht die siegreiche Armee fast zu Grunde, der Sieger streicht den Tag schwarz an und erholt sich ein Jahr lang nicht von dieser Strapatze — aber die Straßenjungen aller Geschlechter und Lebensalter sind glücklich. Doch muß man zugeben daß es billige Mittel (giebt), sie glücklich und zwar sehr I[7I]
viel Glückliche zu machen. I[72]
Das Christenthum gieng in dem Grade bei dem alten Testament in die Schule, als es sich bemühte eine Weltreligion zu werden. Das weltflüchtige Christenthum brauchte das alte Testament nicht. i[73] In unseren Schulen wird die jüdische Geschichte als die heilige vorgetragen: Abraham ist uns mehr als irgend eine Person der griechischen oder deutschen Geschichte: und von dem, was wir bei Davids Psalmen empfinden, ist das, was das Lesen Pindars oder Petrarca's in uns erregt, so verschieden wie die Heimat von
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Nachgelassene Fragmente
der Fremde. Dieser Zug zu Erzeugnissen einer asiatischen, sehr fernen und sehr absonderlichen Rasse ist vielleicht inmitten der Verworrenheit unserer modernen Cultur eine der wenigen sicheren Erscheinungen, welche noch über dem Gegensatz von Bildung und Unbildung erhaben stehen: die stärkste sittliche Nachwirkung des Christenthums, welches sich nicht an Völker sondern an Menschen wendete und deshalb gar kein Arg dabei hatte, den Menschen der indogermanischen Rasse das Religionsbuch eines semitischen Volkes in die Hand zu geben. Erwägt man aber welche Anstrengungen das nichtsemitische Europa gemacht hat, um diese fremdartige kleine jüdische Welt sich redit nahe ans Herz zu legen, sich über nichts darin mehr zu wundern, sondern sich nur über sich selbst und seine Befremdung zu wundern — so hat vielleicht in nichts Europa sich so sehr selbst überwunden wie in dieser Aneignung der jüdischen Litteratur. Das jetzige europäische Gefühl für die Bibel ist der größte Sieg über die Beschränktheit der Rasse und über den Dünkel daß für Jeden eigentlich nur das werthvoll sei, was sein Großvater und dessen Großvater gesagt und gethan haben. Dieses Gefühl ist so mächtig, daß wer sich jetzt frei und erkennend zur Geschichte der Juden stellen will, erst viele Mühe nöthig hat, um aus der allzugroßen Nähe und Vertraulichkeit herauszukommen und das Jüdische wieder als fremdartig zu empfinden. Denn Europa hat sich selber zu einem guten Theil in die Bibel hineinlegen und im Ganzen und Großen etwas Ähnliches thun müssen, wie die Puritaner Englands, welche ihre Sentenzen, ihre Gewohnheiten, ihre Zeitgenossen, ihre Kriege, ihre kleinen und großen Schicksale in dem jüdischen Buche aufgezeichnet (prophezeit) fanden. — Was aber sagt der Europäer, welcher nach dem Vorzug der altjüdischen Litteratur vor allen anderen alten Litteraturen gefragt wird: „ E s i s t m e h r M o r a l d a r i n " . Das heißt aber: es ist mehr von der Moral darin, welche jetzt in Europa anerkannt wird: und dies heißt wiederum nichts anderes als: Europa hat die jüdische Moralität angenommen und hält diese für eine
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bessere, höhere, der gegenwärtigen Gesittung und Erkenntniß angemessenere als die arabische, griechische, indische, chinesische. — Was ist der Charakter dieser Moralität? Sind die Europäer wirklich v e r m ö g e dieses moralischen Charakters die ersten und herrschenden Menschen des Erdballs? Aber wonach bemißt man den Rang der verschiedenen Moralitäten? Zudem wollen es die Nicht-Europäer wie die Chinesen gar nicht Wort haben, daß die Europäer sich durch M o r a l i t ä t vor ihnen auszeichneten. Es gehört vielleicht mit zum Wesen der jüdischen Moralität, daß sie sich für die erste und höchste hält: es ist vielleicht eine Einbildung. Ja man kann fragen: giebt es überhaupt eine Rangordnung der Moralität Giebt es einen Kanon, der über allen waltet, das Sittliche definirt ohne Rücksicht auf Volk, Zeit, Umstände, Erkenntnißgrad? Oder ist eine Ingredienz aller Moralen, der Grad von Anpassung an die Erkenntniß, vielleicht das, was eine Rangordnung der Moralen ermöglicht? i[74]
Wie viel Glück ist bei der Aufopferung für eine geliebte Sekte, usw. (man freut sich selbst mißachtet, gekränkt zu werden — wie kommt es? i[75] Die schädliche Seite der Religion ist oft hervorgehoben (worden), ich möchte die schädliche Seite der Moral zum ersten Male zeigen und dem Irrthum entgegnen, daß sie den Sinnen von Nützlichkeit ist.
Φ6] Den angeblichen Causalitäten in Gebieten, wo in Wahrheit es nur ein Hintereinander giebt, danken viele Illusionen über die Moral ihre Entstehung.
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Nadigelassene Fragmente
ι [77] Die Wissenschaft zu verwünschen, weil ihre Art bisweilen wehe thut, wäre so klug als das Feuer zu verwünschen weil ein Kind oder eine Mücke sidi daran verbrannt hat. In der That verbrennen sich jetzt nur Mücken und Kinder an der Wissenschaft — ich meine die Schwärmer. I [ 7 8 ]
Das Urtheil sehr arbeitsamer und thätiger Zeitalter über den Werth des Lebens klingt wie fast desperat: man dachte über das Leben nach, wenn man nicht mehr arbeiten konnte und müde war. Die Griechen dachten besser vom Leben, dafür waren sie das Volk der Muße: sie arbeiteten eigentlich zur Erholung vom Müßiggang, und ihr Nachdenken kam aus frischer Kraft. i[79] „In den A u g e n liegt die Seele": die gewöhnliche Art der Bewegungen und der Muskelcontraktionen herum verräth, wozu die Augen zumeist gebraucht werden. Denker haben einen vollen klaren oder durchdringenden Blick; das Auge des Ängstlichen scheut sich g a n z hinzusehen; der Neidische streift von der Seite und will etwas erhäschen. Auch wenn wir gar nicht im Dienste dieser Empfindungen sehen wollen, so zeigt die Stellung des Auges doch die Gewöhnung an. i[8o] Die erfinderischen Menschen leben g a n z a n d e r s als die Thätigen; sie brauchen Z e i t , damit sich die zwecklose ungereregelte Thätigkeit einstellt, Versuche, neue Bahnen, sie tasten mehr als daß sie nur die bekannten Wege gehen, wie die nützlich-Thätigen.
Anfang 1880 1 [77—85]
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ι[8ι] Einstmals muß die Kunst der Künstler ganz in das Festebedürfniß der Menschen aufgehen: der einsiedlerische und sein Werk ausstellende Künstler wird verschwunden sein: sie stehen dann in der ersten Reihe derer, welche in Bezug auf Freuden und Feste erfinderisch sind.
l[8l] Schopenhauer, der letzte der die ethische Bedeut(ung) des Daseins vertritt: er fügt seine triftigen Trümpfe bei, ohne welche er uns nichts schenkt und welche in den Augen der einen Gattung seiner Leser seine Glaubwürdigkeit ebenso verstärken als sie dieselbe in den Augen einer anderen Gattung verringern.
i[8 3 ] Einige zeigen Geist, Andere beweisen ihn, noch andere zeigen ihn, aber beweisen ihn nicht, die Vielen aber thun keines von Beiden, und glauben beides zu thun. i[«4] Die ärmliche Handvoll Wissen, womit die heutige Erziehung den Gebildeten abfindet, scheint diesen engen und pfäffischen Köpfen schon zu viel, sie bekommen Angst, es möchte der Kunst ein Abbruch geschehen, und dieselbe sich nicht mehr so dünkelhaft gebärden dürfen, wie es jetzt wohl geschieht. — Die Nothstände welche bei jenen seltenen Menschen entstehen, in denen die Wissenschaft ein gewaltiges Feuer ist, dürften solche Köpfe wahrlich nicht im Munde führen i[»5] Wir finden die Schwäche der Furcht verächtlich bei dem welcher weiß, daß ihm Wein schädlich ist und trotzdem Wein trinkt.
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Nachgelassene Fragmente
I[86]
. Die Moral hat die Erkenntniß gehemmt insofern sie das Bedürfniß danach hemmt, sie gab Regeln zum Handeln und erweckte den Glauben, daß die Erkenntniß nicht nöthig sei, um auf das zweckmäßigste Handeln zu kommen. i[87] Manche Philosophen entsprechen vergangenen Zuständen, manche gegenwärtigen, manche zukünftigen und mandie unwirklichen. i[88] Das Individuum stand in manchen Epochen höher, war häufiger. Es sind die b ö s e r e n Zeiten, es wurde mehr sichtbar, man wagte mehr, man schadete mehr, aber log weniger. I[89]
. Die Einbildung über die Schätzung (allgemeine Werthsdiätzung) und ebenso falsche Schätzung sind der Ursprung vieler unegoistischer Handlungen. Moralität, v o n Asien ab.
e i n e asiatische Erfindung. Wir h ä n g e n
i[9i] Den Zufall benützen und e r k e n n e n heißt Genie. Das Zweckmäßige und Bekannte benützen — Moralität?
So nützlich und unangenehm wie ein eingeöltes S c h l ü s s e l loch i[i>3] Die Ängstlichkeit vergiftet die Seele.
Anfang 1880 1 [86—99]
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I [94] Man sollte keine neuen Wege gehen, (wenn) unser Herz nicht noch kühner ist als unser Kopf: sonst frißt i[95] Niemand ist einer grausameren Rache fähig als jene dichterischen und empfindlichen Seelen ohne Stolz, die fortwährend im Verborgenen leiden und aus Furcht ruhig und sanft erscheinen — ich denke ζ. B. an Racine. 1 [96]
Das ganze vergangene Zeitalter ist das der F u r c h t . Man lernt die Dinge wie sie in anderen Köpfen sind, man lernt, wie sie geschätzt werden, man thut dasselbe in Betreff der Mittel. Man ängstigt sich, abzuweichen, aufzufallen. Unsere Fertigkeiten sind das, was A n d e r e n nutzt und Freude macht. — Unsere größte Freude ist Anderen zu gefallen, unsere beständige Furcht ist, ihnen nicht gefallen zu k ö n n e n . — Dies hat die einsiedlerische Thierheit g e b ä n d i g t . i[97] Wer eine herrschende L e i d e n s c h a f t hat, der empfindet bei der Ausnahmehandlung einen Gewissenbiß z.B. der Jude (bei Stendhal) der verliebt ist und Geld für ein Armband von seinem Geschäft bei Seite legt, oder Napoleon nach einer generösen Handlung, der Diplomat, der einmal ehrlich gewesen ist usw. I[98]
Spencer setzt immer „Gleichheit der Menschen" voraus. Λ99]
Auch im Handeln giebt es solche erfinderischen, stets versuchenden Menschen, welche den Zufall aus sich nicht bannen mögen (Napoleon).
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Nachgelassene Fragmente
I[ioo] Die a n g e l e r n t e n Werthschätzungen verringern die Freude und in Folge die Lebensfähigkeit. Zeiten der „Gleichheit" sind matt und lassen vor der Zukunft erschrecken. Die Freude an fremden Urtheilen über uns ist jetzt beinahe die mächtigste aller Freuden. I[IOI]
Was ist Gewohnheit? — Ü b u n g . l[l02]
„Es merkt doch niemand" — aber es pflanzt niemand das was du thust in dir aus, sodann wächst deine Gewohnheit des Verheimlichens und Für-sich-Behaltens, man sieht dir endlich Beides doch an. i[i03] Das Bisdien Wissenschaft, das jetzt auf der Erde ist, macht ihnen schon angst und bange so daß Unkenrufe laut werden. Und diese schändliche wissenschaftliche Erziehung! I[io4] Die verborgenen d. h. die häufigsten Handlungen zwingen uns zuletzt zu unseren sichtbaren seltenen, ohne daß wir an Zwang denken. I[IOJ]
Bei den Christen herrschen noch alle jene Vorstellungen wie bei den Wilden — cfr. Spencer p. 52 und Roskoff. I[IO6]
Spencer verwechselt die Systeme der Moral „wie soll gehandelt werden?" mit der Entstehung der Moral. Der Mangel der Einsicht in die Causalität ist für letztere wichtig.
Anfang 1880 1 [100—110]
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Φ°7] Überall wo es eine furchteinflößende Macht giebt, die befiehlt und gebietet, entsteht Moralität d. h. die Gewohnheit zu thun und zu lassen, wie jene Macht will, der das Wohlgefühl auf dem Fuße folgt, der Gefahr entronnen zu sein: während im umgekehrten Falle das Gewissen sich regt, die Stimme der Furcht vor dem Kommenden, des Verdrusses über das Gethane usw. Es giebt persönliche Mächte, wie Fürsten, Generale, Vorgesetzte, dann Abstrakte wie Staat Gesellschaft, endlich imaginirte Wesen, wie Gott, die Tugend, der kategorische Imperativ usw. I[IO8]
Tragische Hanswürste Φ09] Es giebt bei jeder Handlung x) das wirkliche Motiv das verschwiegen wird 2) das p r ä s e n t a b l e eingeständlidie Motiv. Letzteres geht von uns aus, von unserer Freude, unserem Individuum, wir s t e l l e n u n s i n d i v i d u e l l damit. Ersteres aber hat die Rücksicht auf das, was die Andern denken, wir handeln, wie jeder handelt, wir p r ä s e n t i r e n uns als Individuen, aber handeln als Gattungswesen. Komisch! Z . B . ich suche ein A m t 2) „ich bin es mir schuldig, midi nützlich zu machen" 1) „Ich will meines Amtes wegen von den Andern respektirt werden". φι°] Die Erzeugung einer Nachkommenschaft ist nicht altruistisch. Das einzelne Thier folgt dabei einer Lust, an der es oft zu Grunde geht. Die Aufopferung für die Brut ist Aufopferung für das Eigen-Nächste, für das Erzeugniß usw., absurd noch nicht Altruismus.
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Nachgelassene Fragmente
I[»I] Dieselben Dinge werden immer wieder g e t h a η , aber die Menschen umspinnen sie mit immer neuen Gedanken (Werthsdiätzungen) l[lI2] Motive und den Mechanismus zu unterscheiden — und dabei ist der Ausdruck Motiv irreführend, sie setzen nicht in Bewegung — sondern wenn sie in Bewegung sind, tritt die Bewegung des Mechanismus ein. i[ii3] Das Unglück des Frevlers, d. h. er hat Furcht vor schlimmen Folgen oder Ekel und Übersättigung usw., nicht Gewissensnoth. i[ii4] Man soll auch die kleinste Berührung mit Menschen benützen, um seinen gerechten und wohlwollenden Sinn zu üben.
Wenn wir in einen bestimmten physiologischen Zustand treten, dann tritt uns das ins Gedächtniß, was das letzte Mal, als wir in ihm waren, von uns gedacht wurde. Es muß eine Auslösung im Gehirn für jeden Zustand geben. I[II6] Es giebt Menschen welche ihre nicht eben landläufigen Gedanken nicht anders mitzutheilen wissen als indem sie dabei an aller Welt ihren Ärger auslassen. Das heißt doch seine Meinungen etwas zu theuer auf den Markt bringen. Giebt es aber oft solche Käuze, so entsteht ein Vorurtheil gegen alle nicht landläufigen Meinungen, wie als ob Zank, Verdruß, Verleumdung Verbitterung Niedertracht ihre nothwendigen Begleiter sein müßten.
Anfang 1880 1 [111—122]
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I["7] Handlungen der G e w o h n h e i t („sittlich" unter Umständen genannt) sind Mechanismen ohne Bewußtsein, so wenig moralisch wie die Themen einer aufgezogenen Spieluhr. Weder „frei" noch mit „bewußter Aufopferung", noch „für Andere" — aber angenehm und nützlich und deshalb mit den höchsten Prädikaten bezeichnet.
Vor jedem Einzelnen sind wir voll ioo Rücksichten: aber w e n n man s c h r e i b t , so verstehe ich nicht, warum man da nicht bis an den äußersten Rand seiner Ehrlichkeit vortritt. Das ist ja die Erholung! i[ii9] Um die Moral haben sich im Ganzen immer nur die sehr moralischen Menschen bekümmert, meistens in der Absicht, sie zu steigern. Was Wunder, daß eigentlich die unmoralischen und durchschnittlichen Menschen dabei fast unbekannt geblieben sind! Die moralischen Menschen haben über sie phantasirt und vielfach ihre Phantasien den Leuten in den Kopf gesetzt. ΐ[ΐ2θ] Versuche einer außermoralischen Weltbet r a c h t u n g früher zu leicht von mir versucht — eine a e s t h e t i s c h e (die Verehrung des Genies —) l[l2l] Wer so thut, ist abergläubisch usw. Wer so thut, ist abergläubisch Wer a l l e s d a s t h u t , ist ein C h r i s t . ι [122]
Schopenhauer's Theorie ist unpsychologisch. Sehr leidende oder sorgende Menschen sind ohne Mitleid. Wenn wir alles
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Nachgelassene Fragmente
vergangene Elend wiederkäuen, welches die Menschheit erlitten hat, so werden wir krank und schwach. Man muß den Blick abwenden. Nur glückliche Menschen sind zur Historie geeignet. l[l23] Falscher Begriff des G e n i e ' s in jetziger Zeit: man verehrt den wilden Intellekt und verachtet den gezähmten d. h. man ist der Moralität m ü d e . Die Consequenz der Moralität ist der S a n d . Kritik der bisherigen Moralität, dadurch daß man ihre Resultate in der Zukunft aufzeigt. Nothwendigkeit a n t i m o r a l i s c h e r Theorien. i[«4] Es giebt Musik, welche sosehr den Eindruck sichtbarer Dinge nachahmt, daß man sie allen denen empfehlen kann, welche Ohren haben, u m z u s e h e n . I[I2$]
W o l l e n d.h. ich stelle mir den Erfolg einer Handlung vor dieser Erfolg hat diesen oder jenen Werth für mich diese Werthschätzung hat diese oder jene Ursachen der Erfolg bedingt diese oder jene Aktion (als Mittel, die mir meiner Erfahrung bekannt und noch viele andre welche mir nicht bewußt sein können. Also was will ich Absicht: warum will ich Motiv: was treibt mich zu dieser Schätzung? Die Absicht geht auf etwas das für uns Werth hat. Wie erreiche ich das Ziel? Das Motiv ist die Ursache der Werthschätzung I[I26]
Wir vergessen immer das Wesentlichste, weil es am nächsten
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liegt ζ. Β. beim Spielen die Spontaneität, das fortwährende T a s t e n u n d T a p p e n d e r B e w e g u n g . Die F o l g e n der Bewegung lehren uns. Worte schweben uns fortwährend vor, daraus bilden sich die Gedanken, dem Auge zahllose Figuren fortwährend l[l27
.]
Die wenigsten Handlungen geschehen nach Zwecken, die meisten sind nur Thätigkeiten, Bewegungen, in denen sich eine Kraft entladet. Die Resultate, die sich am Ende ihrer Bahn e r g e b e n , bringen uns bei öfterem Wiederholen auf den Gedanken von Ursache und Wirkung d.h. w i r t h u n e t w a s a b s i c h t l i c h und erwarten daß sich etwas ereignet — wir erzeugen willkürlich eine Vorstellung und deren Werthschätzung, und dabei geräth unwillkürlich der Mechanismus in Bewegung, dessen Resultat unserem Willen entspricht. Es giebt viel höhere S c h a u s p i e l e r , die den Staatsmann, den Cultur begründenden moralischen) Prophenten (Frauen, die die Hofdame usw.) s p i e l e n : kommt man dahinter, so hört man auf, sich über sie zu ärgern und hat einen Genuß mehr. l[l29] Das M o r a l i s c h e hat eine sehr sublime Art von Lustempfindungen geschaffen. Nützlich ist die Unmoralität sowohl als das M(oralische).
Φ3°] _
Orient Europa unmoralisch, Schopenhauer's schlechter Geschmack für die Buddhistischen) Heiligen — besser die Brahmanen Stoicism ist semitisch Europa arm in der Moralität
[2 = N V 2. Frühjahr 1880]
2[l]
Von der Knechtschaft des Geistes (wir übertragen die Vorgänge der politischen Tyrannis und Knechtschaft auf das Gebiet des Geistes Der Weinende will daß mitgeweint werde, so übt er Herrschaft aus und freut sich. 2[3]
. Sittlich leben und sichs dabei sauer werden lassen mag gut sein, aber wenn daraus immer, wie es scheint, die Forderung entsteht, daß das Leben durchaus einen ethischen letzten Sinn haben müsse, so müßte man es sich verbitten, denn es wäre dann die Quelle der größten Unverschämtheit.
2
[4] _ Viele machen eine Theorie des Handelns und reden stets davon, handeln aber nie darnach. Es ist ihre Huldigung und Abfindung vor der Moral (Engländer) So finden sich katholisdie Priester mit Gott ab, ihre Devotion ist um so größer, je gottloser ihr Leben ist. D a b e i erst fühlen sie sich wohl. — Andere haben audi den Widerspruch, aber befinden sich schlecht dabei. Andere haben den
Stark sinnliche Menschen gewinnen ihre i n t e l l e k t u e l l e Kraft erst bei der a b n e h m e n d e n E b b e ihrer Nerven: das giebt ihrer Produktion den s c h w e r m ü t h i g e n Charakter.
Frühjahr 1880 2[1—10]
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2[6]
. Die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zu unserer V o r s t e l l u n g vom Nächsten. Wir können nur u n s selber lieben, weil wir uns kennen. Die Moral des Altruism ist unmöglich. *[7] Das Weibliche erscheint bei Bach religiös befangen und fast nonnenhaft, ich denke ζ. B. an manche verschleierte schamhafte Klagen, wie die einer Nonne (Bachs Präludien
wo wir nicht wissen, was allein wir eigentlich k ö n n e n , reden wir von „Willen". Die vollkommene Einsicht redet nur von M ü s s e n . Wir übersehen immer e i n i g e Kräfte die zu einer That nöthig sind. Jede That (Willensakt) ist ein Experiment, ob unser Urtheil (im Willen) richtig war
Die meisten Philosophien sind erdacht, um Ubelstände so für die Empfindung zu verändern, daß man sie ins N o t w e n dige der Welt verlegt — während die Verstimmung und der Übelstand fugitiv sind! Philosophie gehört in den Kampf gegen den Schmerz, ist also bestimmt zu Grunde zu gehen! z[io] Für einen einzigen Menschen wäre die Realität der Welt ohne Wahrscheinlichkeit. Aber für zwei Menschen wird sie wahrscheinlich. Der andere Mensch ist nämlich eine Einbildung von uns, ganz unser »Wille", ganz unsere „Vorstellung": und wir sind wieder dasselbe in ihm. Aber weil wir wissen daß er sich über uns täuschen muß und daß wir eine Realität sind trotz dem
Nadigelassene Fragmente
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Phantom, das er von uns im Kopf trägt, schließen wir daß audi er eine Realität ist trotz unserer Einbildung über ihn: kurz daß es Realitäten außer uns giebt. 2 [ I I ]
.
Die e i n g e b i l d e t e Welt (wir lieben und hassen meist Einbildungen, nicht Realitäten, Menschen). 2[l2] Schilderung der E h e zum Zweck der Erkenntniß — St. Mill (Comte) *[i3] Gesetz der Welt-Verdüsterungen
In der belebten Welt (von der Pflanze an) sucht sich so viel Individualismus als möglich zu entfalten. Er ist jetzt größer als je,im G a n z e n .
Der M a n g e l an Selbstsucht ist es, woran die Menschheit leidet.
2[16] N u r die m o r a l i s c h e n Menschen empfinden Gewissensbisse: das Elend des Unmoralischen ist eine Dichtung. Achtung, Freude an den V e r s c h i e d e n h e i t e n der Ind i v i d u e n ) ! Freude am Fremdartigen der Nationen und Culturen ist ein Schritt dazu (das „Romantische" —) Erst die Fabel-Menschheit, wie sie in den Köpfen spukt, ist gleichheitlich und bildet die wirklichen Menschen zur Gleichheit (jeden nach ihrem Bilde) Diese „Fabel" zu beseitigen!
Frühjahr 1880 2[10—25]
367
2[l8].
Die bildenden Künste und der Roman sind auf dem rechten Wege! 2[i
9]
es giebt viel m e h r Moralität (latente) Moralische) Manschen) im Affekt bejahen die Moralität der v o r l e t z t e n S t u f e , die e f f e k t v o l l e Moralität. Diese wird w e i t ü b e r s c h ä t z t 2[2θ] Unser Leben muß g e f ä h r l i c h e r werden. 2[2l]
Wie kann sich der moderne Mensch den Vortheil der A b s o l u t i o n verschaffen, dem Gewissensbiß ein Ende machen? Ehemals hieß es: „Gott ist gnädig": es hilft nichts, die Menschen müssen es jetzt sein! 2 [ 2 2 ]
Trauer um die Todten — sie sind nicht unglücklich! also egoistisch J e mehr E r k e n n t n i s s e und Vernunft ich habe, um so mehr nimmt der Glaube an die Freiheit ab, es steht uns nicht viel zu wählen offen 2[24].
Mit Hülfe der Wissenschaft kann jeder Mensch seine Originalität f o r t s c h r e i t e n lassen 2[25]
Z ü g e l l o s i g k e i t der Trauer wie der Liebe ist gemeiner Seelen Art.
368
Nachgelassene Fragmente
2[l6]
In Rußland Absolutismus in Deutschland sucht man, was Richelieu für Frankreich in Frankreich experimentirt man 25 Verfassungsformen in 100 Jahren. Φ 7 ]
Gang und Eintritt in die Cultur!
2[*8] Ein Corse hält Betteln für unmoralisch, als Bandit leben nicht: Tödten der vendetta sogar moralisch. Stolz! als Maßstab. Φ9] 100 tiefe Einsamkeiten bilden zusammen die Stadt Venedig — dies ihr Zauber. Ein Bild für die Menschen der Zukunft. ^[30] Die dramatische Musik ist ein Mittel zur Erregung oder Steigerung von Affekten: sie will nicht Freude an der Musik selber geben, wie die Musik für Kenner und Liebhaber (Kammermusik) Weil sie von etwas überzeugen will, was a u ß e r i h r liegt, gehört sie in die Rhetorik.
Durch die Worte, die uns umschweben, kommen wir auf Gedanken.
Wer wird das lesen wollen! Gott weiß es nicht, ich auch nicht. 2[33]
Südliche Musik. Haydn empfand bei der i t a l i e n i s c h e n ) Oper wohl das, was Chopin bei einer i t a ieηi -
Frühjahr 1880 2[26—37]
sehen)
369
Barcarole! Beide machten Musik der Sehnsucht mit
Verwendung der wirklichen ital(ienischen) Musik. 2[34]
Warum erscheint es uns verächtlich, daß jemand sich öffentlich schmeicheln läßt, etwa ein alter Mann durch Jünglinge? Weil er der Scham ins Gesicht schlägt: die Scham will, daß eine so große Begierde wie die nach der Schmeichelei gar nicht oder nur im Verborgenen befriedigt werde: jene allzugroße Unsinnigkeit macht der allgemeinen menschlichen Vernunft Schande.
Vermöge des Wissens um das Leid kann man es verringern. Das eigentliche Mitleiden verdoppelt eben nur das Leid und ist vielleicht selbst Quelle des Unvermögens zu helfen (beim Arzte). — Weshalb hilft der Wissende aber? Weil ein Übel nicht verhindern, das man hindern kann, beinahe so schlimm ist als es thun. 2[36]
„Malerische Moralität" Die Effekt-Moralität ist gewaltsam, ein Ausbruch, der so viel angehäufte Unmoralität (ζ. B. feiges Nachgeben gegen ungerechte Herrn usw.) zurückwerfen muß. Im Kleinen, aber beständig das Ungerechte hemmen ist weniger pathetisch f ü r A n d e r e und f ü r uns selber. Ebenso die absolute Abstinenz effektvoller als die relative kleine 437] Eine diätetische Vorschrift gegeben, und wir handeln nicht darnach: unmoralisch (weil unvernünftig, weil sich selber schädlich). Aber „sich selber will man nicht schaden": es ist eine Illusion: der Selbstschaden
370
Nachgelassene Fragmente
also weil wir nicht schaden wollen. — Wesh(alb) aber wollen wir nicht schaden? — Aus Gewohnheit j e t z t — und aus Furcht u r s p r ü n g l i c h . . . Keiner weiß genau, was er thut, wenn er ein Kind zeugt; für den Weisesten ist es ein Lotteriespiel. Und der Mensdi soll frei sein! der nicht einem Vernunft-Akte sein Dasein dankt!
2 [ 3 § ]
* [ 3 9] Mitwissen um das Leiden — Leidet man wirklich durch das Mitleid, so nimmt man sich ein Leid ab. Nur wenn man drum weiß, aber n i c h t l e i d e t , kann man um des Nächsten willen handeln, wie der Arzt. Solche welche drum wissen und sich freuen (die Götter der Kannibalen und Asketen) 2[40] Hoffentlich giebt es noch genug von solchen, welche wissen was ein olympisches Geläditer ist: es entsteht, wenn jemand erleichtert darüber ist, daß Andere nicht seinen Geschmack theilen. 2[4I] . Kein Blut sehen können — ist das moralisch? 2 [42] sich dem Schmerz hingeben ist ein Vergnügen (Napoleon) *[43] öffentliche Vorleser (gegen die Restaurants und die Presse.) Untergang des Theaters. Wie griediisch zu lernen ist? Abends wird die Seele verwirrt.
Frühjahr 1880 2 [ 3 7 — 4 9 ]
371
Mangel an sittlicher Erziehung, keine Rechenschaft über den Tag. 2
[44] Das zweite Greisenalter, das Leben im Hades, auch mit der unwürdigen Gier nach Leben wie sie alte Leute haben.
Wie ist der entmenschte Mensch zu denken wenn der Mensch das entthierte Thier ist? 2
[46] Menschen des l a b i l e n G l e i c h g e w i c h t s , fährliche Kleinigkeiten im Sittlichen und Gesunden.
deren ge-
2
[47] Moralität: wir legen unseren Handlungen einen imaginären W e r t h zu (abhängig vom E r f o l g e ) die Empfindung des N i c h t - m e h r - S k l a v e n ! auf alles drückt er das Siegel der neuen Freiheit. Stärkstes Gefühl der V e r ä n d e r u n g , wenn der Sklave thun kann, was er w i l l 2 [48] Ermüdungen unvermeidlich — also angenehm! Warum Verstimmungen, peinlich, gefährlich? a
[49] Moralität, w e n n nothwendig Verantwortlichkeit, dann nur die Handlungen, die aus klarstem Verstände hervorgegangen, die oberflächlichsten, deren Motive wir kennen k ö n n e n . „Warum habe ich dies gethan?" Bei den aus dem Gemüth kommenden ist Verantwortlichkeit unmöglich, weil wir die Motive nicht kennen. Insofern hieße moralisch handeln immer nur oberflächlich handeln, ohne Passion-Nachdruck? Verantwortlichkeit ist eine Großthuerei. Wo wir e m p f i n d e n , sind wir unverantwortlich, also „unmoralisch"?
Nachgelassene Fragmente
372
Der Glaube an die Freiheit g e n ü g t , zur Moralität: die Illusion. °] . Es ist schwer, etwas zu thun, was denen, die wir am höchsten verehren, mißfällig ist, auch wenn wir nur ihre Schwächen verehren würden, falls wir uns der Handlung enthielten. 2[5
. . . . Pfui über alle Parteien! Sie fälschen die Freundschaft die reinste Ergebenheit, die stärkste Wahrheitsliebe — ihre fortwährende Thätigkeit ist Falschmünzerei. Der bedeutendste Mensdi ist nicht weit vom Schurken und Verleumder, wenn er eine Partei machen will. *[$*] 2[51]
Der Altruism gilt nicht andren I n d i v i d u e n , sondern imaginären g l e i c h e n Wesen. Dem Individuum zu helfen ist unmöglich, weil man es nicht erkennen kann. Das Unerkennbare — das ist der Nächste. Unter Ausländern kann man hören, daß die Juden noch nicht das Unangenehmste sind, was aus Deutschland zu ihnen komme. Abnahme der Nerven und ihre Philosophie. Mor(al) im Dienste physiologischer Funktionen. 2[56]
.
Die „Möglichkeit einer äußeren Einwirkung, das Bedingtwerden-können" setzt gerade nicht „Freiheit" sondern „Bedingtheit" voraus.
Frühjahr 1880 2 [ 4 9 — 6 2 ]
373
Zwei unbedingte Dinge können nicht aufeinander wirken. 2[57J
Das vollkommene Wissen hätte den Begriff „Freiheit" nicht entstehen lassen und so die moralische Abschätzung der Thaten verhindert. Wenn es keine unmoralischen Thaten gäbe, so gäbe es k e i n e M o r a l . M(enschen) müssen ihren täglichen Ärger haben. *[$
9\
Die Anmaßenden aus früheren Gewohnheiten, die es nidit mehr merken (und doch nicht den Stolzen gleichen, weil ihre Gebärden Accente usw. anders sind) z[6o]
Mandie wollen für anmaßend gelten, weil es immer noch besser ist als für einen armen gedrückten Teufel zu gelten. 2 [ 6 l ]
.
Wir lernen Gewohnheiten und Meinungen der Anderen, n i c h t Individuen kennen. So setzen wir uns im späteren Leben auch nicht mit Individuen auseinander d. h. wir behandeln uns selber nicht wie Individuen. 2[62]
.
Die schwere physische Arbeit wie die der Packträger Rudermeister Ackerbauer wird schlecht bezahlt, der welcher sie thut geringgeschätzt. Der Handelsmann läßt sich seinen Uberschuß an Geist zu hoch bezahlen; höhere Rassen wie ζ. B. die jüdische gerathen auch in den schrecklichsten Lagen nicht leidit in die äußerste Noth, sich als physische Maschinen vermiethen zu müssen.
374
Nachgelassene Fragmente
*[63] Die Emotionen sind eine physiologisdie Gegenkraft. 2 [64]
Einer, der etwas n a c h e m p f i n d e t , schätzt es darauf höher, ja er will es wiederhergestellt haben z . B . das Religiöse (F. Schlegel) Es kommt darauf an, daß eine Tugend e r r e i c h t werde, n i c h t auf welchem Wege. Der Erfolg sei das Glück: es handelt sich darum, eine schwere Mechanik so zu lernen, daß sie so leicht wie ein Spiel wird. 2 [66]
Jede Handlung, jeder Gedanke, jede Regung baut an dem Glück oder Unglück deiner Zukunft; sie bauen dein G e m ü t h , deine Gewohnheiten, es giebt nichts Indifferentes. Dein logischer Leichtsinn wird zu büßen sein. Das Gemüth ist die große Cisterne, klares Bewußtsein ist das Mittel, endlich ein klares Gemüth zu haben — aber vielleicht erst in der 3"" Generation. . Die moralischen Handlungen sind Mittel, deren Zwecke man aus den Augen verloren hat und die an sich zu erreichen jetzt schon Vergnügen macht. 2[67]
Es giebt kein eigenes Organ des „Gedächtnisses": alle Nerven ζ. B. im Beine, gedenken früherer Erfahrungen. Jedes Wort, jede Zahl ist das Resultat eines physischen Vorgangs und irgendwo in den Nerven festgeworden. Alles was den Nerven anorganisirt worden, lebt in ihnen fort. Es giebt Wellenberge der Erregung, wo dies Leben ins B e w u ß t s e i n tritt, wo wir uns erinnern.
Frühjahr 1880 2 [63—75]
375
Wer jetzt zum Christenthum eine zweideutige Stellung einnimmt, sieht sich sofort von der besten strengeren edleren Gesellschaft verlassen. 2[7
°]. Die bewußte Erfahrung des einzelnen Individuums ist eine
zu kurze Kette und mißt nicht bis an sein Ende. 2[7I]
Der Eitle bleibt beim Mittel zum Zweck stehen und bekommt es lieb, so daß er den Zweck vergißt. 2[72]
. . . Es ist so viel überflüssiger Verdruß Leid und Elend in den unabhängigen Klassen, weil so wenige ihres Wirkens froh werden können — in Folge falscher Lebensführung, falschen Berufes d. h. in Folge einer überflüssigen Abhängigkeit. 2[73]
. Widerlich! Jemand kommt uns mit einem Lobspruch entgegen, er will uns damit für sich einnehmen d. h. er will von uns Besitz ergreifen, weil er glaubt, daß wir dem Lobenden eine freie Hand machen. Aber der Lobende stellt sich über uns, er will uns besitzen — es ist unser Feind. 2
[74]
Liebe zum Nächsten 2[7
?] ich gestehe, es ist angenehm daß nicht alle guten Gedanken über das Thema schon darin stehen
376
Nachgelassene Fragmente
2[ 7 6] nidit mehr bewußtes Denken bei Mutter und Kind 2
[77]
der faut(e)-de-mieux-Mann Dühring
[3 = Μ II 1. Frühjahr 1880]
L'Ombra di V e η e ζ i a. 3[ι] Vorrede Als idi jüngst den Versuch machte, meine älteren Schriften, die ich vergessen hatte, kennen zu lernen, erschrak ich über ein gemeinsames Merkmal derselben: sie sprechen die Sprache des Fanatismus. Fast überall, wo in ihnen die Rede auf Andersdenkende kommt, macht sich jene blutige Art zu lästern und jene Begeisterung in der Bosheit bemerklich, welche die Abzeichen des Fanatismus sind, — häßliche Abzeichen, um derentwegen ich diese Schriften zu Ende zu lesen nicht ausgehalten hätte, wäre der Verfasser mir nur etwas weniger bekannt gewesen. Der Fanatismus verdirbt den Charakter, den Geschmack und zuletzt auch die Gesundheit: und wer diesen dreien zugleich wieder von Grund aus aufhelfen will, muß sich auf eine langwierige Cur gefaßt machen. Nachdem ich so viel und dazu nicht das Erbaulichste von mir gesagt habe — wie es die Sitte der Vorrede zwar nidit anräth, aber doch erlaubt — darf ich wenigstens hoffen damit erreicht zu haben, daß meine neuesten Gedanken, welche ich im vorliegenden Buche mittheile, n i c h t o h n e V o r s i c h t gelesen werden. 3[2]
i. Wir gehen leichter an unsern Stärken, als an unsern Schwächen zu Grunde; denn in Bezug auf diese leben wir vernünftig, nicht aber in Bezug auf unsere Stärken.
378
Nachgelassene Fragmente
3f3] 2. Zur selben Zeit geht immer in uns eine Art Betrachtung der Welt ihrem Ende zu und eine andere wächst: denn unsre unklare Erziehung macht uns mit verschiedenen zu gleicher Zeit bekannt, und jede versucht, auf unserem Boden zu wachsen.
3 [4] 3. Unsere Liebe zur Wahrheit zeigen wir am deutlichsten in der Behandlung der „Wahrheiten", welche A n d e r e dafür halten: da verräth sich, ob wir wirklich die Wahrheit oder nur uns selber lieben.
3[5] 5. Dies sind die abnehmenden Grade des Mitleidens: e r s t e n s Mitleid mit Eigenem (Kind, Erzeugniß, Besitz, Weib, Diener), z w e i t e n s mit dem von uns zum Eigenthum Begehrten, d r i t t e n s mit uns Ähnlichem, v i e r t e n s mit uns Bekanntem. Das Merkmal, welches das Mitleid vom Leiden unterscheidet, ist die Erbitterung, daß unserem Eigenthum oder Eigenthum-Ähnlichen Etwas zu Leide geschieht. Das Leiden des uns Feindlichen ist angenehm, als Anzeichen vom Schwinden einer Kraft der Feindseligkeit: am Fremden, uns Unähnlichen, beinahe angenehm, weil dies uns beinahe feindlich dünkt, wie das Ähnliche und Bekannte in uns eine Empfindung erweckt, die der Empfindung für das Eigenthum verwandt ist. 3 [6]
8. Einem kommenden Zeitalter, welches wir d a s b u n t e nennen wollen und das viele Experimente des Lebens machen soll, wird eigentümlich sein: e r s t e n s die Enthaltung in Bezug auf die letzten Entscheidungen (sobald man nämlich eingesehen hat, wodurch diese bisher ihre ungeheure Uberschätzung erhalten haben, hören sie auf für uns bedeutend zu sein);
Frühjahr 1880 3 [ 3 — 9 ]
379
z w e i t e n s die Voreingenommenheit gegen alle Sitten und alles nach Art der Sitte Bindende; d r i t t e n s eine größere Ehrlichkeit im Sichtbar-werden-lassen sogenannter böser Eigenschaften. 3 [7] xo. Es ist ein Vorurtheil, daß die zweckmäßige Kost dem Menschen audi die natürliche und von vornherein angenehme sei; ursprünglich aber schmeckte wohl Vieles schlecht, und war ihm „unnatürlich", was die Noth doch zu essen anbefahl; im Verlauf der Gewöhnung kam aber der Reiz und die Lust dazu. Und so steht es in vielen Dingen, die nichts mit der Nahrung zu thun haben: das Erste ist der Zwang dazu: die Freude daran ist nachgeboren und oft spätgeboren. 3[8] 11. Der Anmaaßende stellt sich stolz, aber gerade der Stolz ist frei von Verstellung (zum Unterschiede vom Eiteln); insofern ist Anmaaßung die Heuchelei einer Art Verstellungslosigkeit und wird in dem Falle, wo sie meisterhaft gespielt wird, mit dem Stolz verwechselt. 3 [9] 12. Man trachte immerhin nach allen Freuden, aber besinne sich wohl bei jenen, welche nothwendig Unlust und Erschöpfung nach sich ziehen; dies sind je nach der Art des Menschen die betäubenden und erschütternden Genüsse der Begeisterung, des Mitleidens, der Ekstase, des Zorns, der Rache oder des Alcohols, des Opiums, der Geschlechtlichkeit usw. Zuletzt wird man als die werthvollsten Freuden weder die höchsten, noch die schwächsten, sondern die mittleren bezeichnen und erstreben: das heißt die, welche Dauer haben und keine Unlust nach sich ziehen und anderseits intensiver sind als die schwächsten. Insofern haben Plato und Aristoteles Recht, in den Freuden der
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Nachgelassene Fragmente
Erkenntniß das Erstrebenswertheste zu sehen — vorausgesetzt daß sie damit eine persönliche Erfahrung und nicht eine allgemeine ausspredien wollen: denn für die meisten Menschen gehören die Freuden der Erkenntniß zu den schwächsten und stehen tief unter den Freuden der Mahlzeit.
3[i°] 1 3 . Bevor wir die physiologischen Zustände physiologisch verstehen lernten, meinten die Menschen mit moralischen Zuständen zu thun zu haben. Folglich hat sich das Bereich des Moralischen außerordentlich verkleinert — und wird fortwährend nodi kleiner: ganz so wie die Religion im Leben der Alten umfänglicher war als im Leben des katholischen Christen, und wie wiederum der Protestant den Umfang der Religion noch einmal verkleinert hat.
3[n] 18. Die Natur ist böse, sagt das Christenthum; sollte das Christenthum also nicht ein Ding wider die Natur sein? Sonst wäre es ja, nach seinem eigenen Urtheil, etwas Böses.
2 1 . In den Leidenschaften des Menschen erwacht das Thier wieder; die Menschen kennen nichts Interessanteres, als diesen Rückgang ins Reich des Unberechenbaren. Es ist als ob sie sich an der Vernunft allzusehr lan(g)weilten.
3[i3] 22. Was man besitzt, das vertritt man, helfend und fürsorgend; was man liebt, begehrt, das heißt besitzen will, vertritt man noch lebhafter, weil der Besitz noch nicht enttäuscht, noch nidit gesättigt hat. Die Empfindung der L i e b e setzt die Empfindung für das Eigenthum voraus.
Frühjahr 1880 3[9—18]
381
3[14] 2 j . Wir können dem Nächsten immer nur helfen, indem wir ihn in eine Gattung (Kranke, Gefangene, Bettler, Künstler, Kinder) einordnen und dergestalt e r n i e d r i g e n ; dem Individuum ist nicht zu helfen. 3[ii] 26. In Risano (Dalmatien) wurden die gefallenen Mäddien gesteinigt; noch 1802 verhinderten die Österreicher einen solchen Akt, der Vater an der Spitze des Volkes hob eben den ersten Stein auf. In der Sahara-Stadt Biskra lebt eine Zeit lang jedes Mädchen der benachbarten Völker von der Prostitution, um sich durch sie zu bereichern; der Erwerb wird dann den Eltern überbracht und es würde als unmoralisch, ja als unverzeihlich gelten, wenn Jemand nicht auf diese Weise seine Pietät ausdrückte. 3[I6] 27. Da das Mitleiden das einzelne Wehe in der Welt verdoppelt, ja verhundert- und vertausendfacht, so dürfte es wohl in den Augen solcher Götter, wie sie Kanibalen und Asketen haben, die größte Tugend heißen. 3[i7] 30. Der Tadelnde grenzt sich gegen uns ab; er ist nicht für uns eingenommen und will uns nicht einnehmen: er läßt frei, während der Lobende von uns Besitz ergreifen will. Dies beachte der, welcher sich selber kennen und doch — unabhängig bleiben will. 3[I8] 32. Das Bild des Nächsten, wie es uns immer vorschwebt, ist entweder das Erzeugniß einer Fülle, die nach Entladung begehrt, oder eine Leere, die nach Füllung begehrt — es ist
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Nachgelassene Fragmente
immer ein physiologischer Zustand, für den wir kein eigentliches und bezeichnendes Wort haben. 3t*9] 33. Das Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie ist eine Uberzeugung, die noch kein Zeitalter hatte: d a ß w i r d i e W a h r h e i t n i c h t h a b e n . Alle früheren Menschen „hatten die Wahrheit": selbst die Skeptiker.
30°] 34. Wie ist es doch geschehen, daß, in der Geschichte des Christenthums, zu den Geistig-Armen, unter und aus denen es geboren wurde, endlich auch die Geistreichen, ja selbst die Reichen des Geistes überliefen? Das Christenthum als große PöbelBewegung des römischen Reichs ist die Erhebung der Schlechten, Ungebildeten, Gedrückten, Kranken, Irrsinnigen, Armen, der Sklaven, der alten Weiber, der feigen Männer, im Ganzen aller derer, welche Grund zum Selbstmord gehabt hätten, aber den Muth dazu nicht hatten; sie suchten mit Inbrunst ein Mittel, ihr Leben auszuhalten und aushaltenswerth zu finden, fanden es, und boten der Welt ihre neue Art von Glück an. Ein Glück solchen Ursprungs war die größte Paradoxie des Alterthums; die damalige Bildung war zu paradoxensüchtig, um es nicht sehr anziehend zu finden. „Das Heil kommt von den Juden", — das war ein Satz, gegen den kein geistreicher Alter seine Haltung auf die Dauer behauptete. „Versuchen wir es also mit den Juden" — so klang die innere Stimme, durch welche der G e i s t auf die Seite der großen Bewegung gerufen wurde. 3[2I]
3 j . Unsere Nächsten geben im Kreislaufe unserer körperlichen und seelischen Funktionen die Gelegenheitsursachen ab,
Frühjahr 1880 3[18—24]
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um physiologische Vorgänge, die in uns nöthig sind, zu fördern. 3[22]
37. Wenn Einer gähnt — und das ist doch etwas Unangenehmes — und der Andere mitgähnt, so haben wir ein einfaches Beispiel für das Phänomen des Mitleidens. Sollte aber wirklich dabei das principium individuationis durchbrochen sein? 3l>3]
38. Jene Moralität, welche am allerstrengsten von Jedermann gefordert, geehrt und heilig gesprochen wird, die Grundlage des socialen Lebens: was ist sie denn als jene Verstellung, welche die Menschen nöthig haben, um mit einander o h n e F u r c h t leben zu können? (So daß der Einzelne sidi dem Anderen als gleich giebt und sich benutzen läßt, so wie er jenen benutzt.) Der allergrößte Theil dieser Verstellung ist schon in Fleisch Blut und Muskel übergegangen, wir fühlen es nicht mehr als Verstellung, so wenig wir bei Begrüßungsworten und höflichen Mienen an Verstellung denken: was sie trotzdem sind. Die gewöhnlichsten Arten der Verstellung sind: e r s t e n s man ähnelt sich seiner Umgebung an, man versteckt sich gleichsam in ihr; z w e i t e n s man macht es einem andern Menschen, der Ansehen und Erfolg hat, nach und giebt sich als etwas Höheres als man ist. Im ersten Falle folgt man der Sitte und wird „sittlich", im zweiten Falle folgt man der Autorität und wird „gläubig": unter allen Umständen erregt man keine Furcht mehr — denn wir haben jetzt viele „Unsers Gleichen". 3l>4]
43. Wir lernen die Ansprüche und Meinungen der Anderen eher kennen, als unsere eigenen; jene werden durch lange Übung uns anorganisirt. Wenn wir später selbstständiger wer-
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Nachgelassene Fragmente
den, beziehen wir doch all unser bewußtes Urtheilen und Handeln immer auf den anorganisirten Grundstock, vergleichend oder widerstrebend, uns dagegen empörend oder uns mit ihm versöhnend. 3l>$] . 45. Die Moral und die Civilisation suchen „weniger Schmerz", aber nicht „mehr Glück". 3 Μ 46. Ein Herz voll Tapferkeit und guter Dinge braucht von Zeit zu Zeit etwas Gefahr, sonst wird ihm die Welt unausstehlich. ?[27]
48. Der dramatische Musiker muß nicht nur als Dichter, sondern audi als Musiker Schauspieler und ganz und gar Schauspieler sein. Dies trennt ihn unerbittlich ab vom eigentlichen Dichter und eigentlichen Musiker; er ist im Vergleich zu Jedem von ihnen geringerer Gattung. Aber als S c h a u s p i e l e r kann er sich zur Genialität und zum gleichen Range mit ihnen erheben. 3[28] 53. Der Eine giebt seinen Handlungen am Schluß einen anmaaßlichen Charakter durch eine A r t Ausdeutung, der Andere handelt von vornherein anmaaßend. Der Erste, der sich gehen läßt und erst am Schluß der Handlung einen Blick auf die Anderen wirft, hat mehr Stolz, als der Andere, aber kennt das Wesen des Stolzes schlechter, als der Andere. 3 [29] j 6. Das, was man nicht kennt, das kann man nicht lieben, sonst liebt man etwas Anderes, nämlich ein Phantom, und dies ist das Gewöhnliche. Die Liebe ist gewiß alles Andere eher, als ein Mittel der Erkenntniß.
Frühjahr 1880 3[24—34]
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3[30] 6j. Um über das Mitleid so zu phantasiren, wie Schopenhauer, muß man es an sich nicht aus Erfahrung kennen. Wo die Mängel eines Menschen liegen, da werden seine Ideale phantastisch. 3[3i] 68. Dreimal hat Deutschland auf Frankreich eingewirkt; im dritten Jahrhundert brachte es wilde Sitten und barbarische Unwissenheit; im Zeitalter Montaigne's brachte es ein zweites nachgeborenes Mittelalter und Religionskriege, und in diesem Jahrhundert brachte es die deutsche Philosophie, die Romantik und das Bier. 3[3*] 70. Sein heller Kopf trieb ihn oft auf einsame Bahnen, wo er die Menschen los war; aber sein Herz war zu ängstlich dafür und schlug unerträglich dabei gegen seine Rippen. Gab er dem Herzen nach, so mischte er sich wieder unter die Menschen und nun befand sich sein Kopf elend. 3[33l 74. Alles, was wir für uns thun, thun wir um der Anderen willen; aber auch Alles, was wir f ü r die Anderen thun, thun wir um der Anderen willen. Dies ist aber kein „Altruismus"! 3 [34] 7J. Das Nachmachen, das Äffische, ist das eigentlich und ältest Menschliche — bis zu dem Maaße, daß wir nur die Speisen essen, die Anderen gut schmecken. — Kein Thier ist so sehr Affe als der Mensch. — Vielleicht gehört audi das menschliche Mitleiden hierher, sofern es ein unwillkürliches inneres Nachmachen ist.
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Nachgelassene Fragmente
3 [35] 77. Die schüchternsten Mädchen präsentiren sich halb nackt, wenn es die Mode gebietet, und selbst verwelkte alte Weiber wagen einem solchen Gebote nicht zu widerstehen, so geistreich und gut sie sonst auch sein mögen. 3 [3 6] 78. Die Kraft, zu wollen, die einige Menschen und Culturen in höherem Grade, als andere, besitzen, besteht darin, daß man ungefähr die g l e i c h e A n z a h l von eingeübten inneren Mechanismen und von Werthsdiätzungen hat: so daß, sobald nur ein werthgeschätztes Ding in die Vorstellung tritt, sofort audi der dazu gehörige Mechanismus sein Stück abspielt. Anderen Menschen und Zeitaltern fehlt es an einer solchen Zahlencongruenz von Mechanismen und Werthschätzungen. Sie erzeugen sehr viel mehr Werthschätzungen, bei denen Nichts herauskommt, als solche, welche eine „Wirkung" haben, wie man sagt. Dabei ist immer festzuhalten, daß die Werthschätzung niemals die Ursache einer Handlung ist; vielmehr tritt durch eine alte Association der Mechanismus automatisch in Bewegung, wenn eine werthgeschätzte Vorstellung im Gehirne aufgestiegen ist: es ist ein regelmäßiges Nacheinander, nicht Ursache und Wirkung, so wenig etwa, als ein Wort die Ursache des Begriffs ist, welcher bei seinem Erklingen in uns erscheint. — Wollende Zeitalter waren bis jetzt immer gedankenarm, aber nothwendig ist dies nicht. 3 [37] 79. Der Anschein des Seienden und Festen im Individuum, der Anschein willkürlicher Handlungen, der Anschein eines absoluten Charakters der Handlungen, der Anschein eines absoluten Werthes gewisser Handlungen (das heißt eines unbegrenzt höchsten Werthes), — diese vier Irrthümer haben zur Weiterentwicklung der Moral am meisten beigetragen.
Frühjahr 1880 3[35—41]
387
3t38] 80. Weshalb der religiöse Glaube jetzt nicht mehr aufrecht stehen kann, ist oft gezeigt worden; aber noch Niemand hat gezeigt, warum audi der Glaube an die Moral unglaublich geworden ist. 3[3 9] 81. Die Ehe giebt verschiedenen Arten von Menschen zu verschiedenen Arten des moralischen Heroismus Anlaß: ich weiß nicht, ob darin nicht ihr höchster Werth zu suchen ist. Die Einen würden auch mit der geliebtesten Person keine Ehe eingehen, im Falle die Kirche ihren Segen vorbehielte, und Andere umgekehrt würden auf die Ehe verzichten, wenn dieselbe von einer kirchlichen Einsegnung abhängig gemacht würde; wieder Andere finden Gelegenheit zum Heroismus in dem Gedanken, daß die einmal geschlossene Ehe unlösbar sei, dagegen hatte die George Sand umgekehrt ihre strengsten und sittlichsten Empfindungen in die Forderung gedrängt, daß die Ehe nur so lange Dauer haben d ü r f e , als die leibliche Vereinigung von Seiten beider Gatten mit dem Zustande einer seelischen Begeisterung für einander verbunden ist. 3 [40] 82. Der Irrthum der kirchlichen Absolution (und oft auch der staatlichen Strafen) besteht darin, daß hier ein Einmal zum Keinmal gemacht werden soll. Wenn die Erinnerung an eine Schuld nicht mehr quält, dann wirkt der durch sie eingeübte innere Mechanismus viel leichter und es giebt kein Hinderniß mehr für ein neues Abspielen des alten Liedes. Daher fromme ehebrecherische Frauen unter den Katholiken keine Seltenheit sind, weldie täglich sündigen und sich täglich absolviren lassen. 3t4i] 83. Man soll das unbeschreibliche Unbehagen, welches so oft produktive Menschen um sich verbreiten, als Gegenrechnung
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Nadigelassene Fragmente
aufstellen, wenn man die Freude und Erhebung überschlägt, welche die Menschen ihren Werken danken. Ihre Unfähigkeit, sich zu beherrschen, ihr Neid, die Böswilligkeit und Unsicherheit ihres Charakters machen aus ihnen leicht ebenso Ubelthäter der Menschheit, als sie sonst deren Wohlthäter sein mögen. Namentlich ist das Verhalten der Genie's zu einander eines der dunkelsten Blätter der Geschichte. Die Genieverehrung ist oft eine unbewußte Teufelanbetung gewesen. Man sollte überrechnen, wie viele Menschen in der Umgebung eines Genie's sich ihren Charakter und ihren Geschmack verdorben haben. Große Mensdien ohne Werke thun vielleicht mehr noth, als große Werke, um die man einen solchen Preis von Menschenseelen zahlen muß. Aber einstweilen versteht man kaum, was ein großer Mensch ohne große Werke ist. 3 [42] 84. Schopenhauer hatte sich seinen Ruhm zu früh festgestellt und war nicht stolz genug, sich gegen seine ausgesprochenen Grundsätze weiter zu entwickeln. Er fürchtete für seinen Ruhm und zog die verhältnißmäßige Unfruchtbarkeit der Beschämung vor, sich widersprechen zu müssen. 3[43] 87. Ob man lobt oder tadelt: man fürchtet dabei. Mit dem Tadel wollen wir uns fürchten machen, mit dem Lobe wollen wir den Andern heimlich einnehmen, ihn mit uns versöhnen oder uns auf die Seite jener Macht bringen, die wir fürchten. — Aber nur das seltenste Lob, der seltenste Tadel ist ehrlich, das heißt drückt einfach unsere Furcht vor einer Person aus, sondern zumeist drücken wir unsere Furcht vor Anderen anders aus, als wir empfinden, aus Furcht vor einer zweiten Person. Gewöhnlich ist Lob und Tadel eine durch Furcht gekreuzte Furdit.
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3 [44] 9 1 . Die Moralität der Männer nimmt im Leben ab; als Kinder sind wir am moralischesten, weil ohne Furcht, von Liebe umgeben und der Anmaaßung fremd. Die Moralität der Frauen, welche in ähnlichen Verhältnissen wie die Kinder zeitlebens leben, nimmt deshalb mit den Jahren eher zu, als ab. 3t45] 93. Was wir erwarten, das nennen wir recht und billig; was uns verwundert, was uns wunderbar vorkommt, das loben oder tadeln wir. Die erste Empfindung der Verwunderung ist die Furcht: Lob und Tadel ist ein Produkt der Furcht. Dagegen läßt das Rechte und Billige uns zufrieden, ist für die Empfindung neutral und entspricht der Gesundheit. — Das, was Jeder von sich und Anderen erwartet in jeder Lage, also das Gewöhnliche einer ganzen Cultur, ist aber für eine andere Cultur nicht das Gewöhnliche und erregt deren Verwunderung, erweckt Lob und Tadel, und wird also jedenfalls zu stark empfunden. Die Culturen verstehen das, was zur Gesundheit der anderen gehört, nicht. Das Erwartete, das Gewöhnliche, das Gesunde, das für die Empfindung Neutrale macht den größten Theil dessen aus, was eine Cultur ihre Sittlichkeit nennt. 3 [46] 94. Gesetzt, man erwartet immer das Böse, die unangenehme Überraschung, so ist man immer in feindseliger Spannung, wird für Andere unerträglich und leidet selber an der Gesundheit: solche Naturen sterben aus. Im Ganzen sind nur die zufriedeneren und hoffnungsreicheren Rassen am Leben geblieben. — Wer immer Schlimmes erwartet, wird böse, nämlich feindselig argwöhnisch unruhig; dies ist die Wirkung pessimistischer Denkweisen.
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3 [47] 95. Die Wissenschaft, die das Loben und Tadeln aufheben will, will das Verwundern beseitigen und die Menschen so leiten, daß sie immer das Billige und Rechte erwarten; zuletzt sollen sie, selbst wenn ein Vulcan ausbricht, sich sagen: es ist billig und gerecht, er kann ja nicht anders; was ist da zu verwundern? 3 [48] 96. Wo wir fühlen, daß wir etwas mit einem Uberschuß von Kraft thun, da fühlen wir uns frei; wo das Thun selber ergötzt und nicht nur um des ergötzlichen Zweckes willen gethan wird, da entsteht das Gefühl der Freiheit des Wollens: wir wollen hier zwar einen Zweck, aber der Zweck beherrscht uns nicht ganz, er giebt nur eine Gelegenheit, damit unsere Kraft mit sich spiele, wir wissen, es giebt noch viele andere Gelegenheiten dazu; weil wir den Zwedc etwas beliebig und gering schätzen, so fühlen wir uns nicht als seine Sklaven, das heißt, wir fühlen uns als wollend in Bezug auf diesen Zweck, aber auch als frei vor ihm. 3 [49] 99. Auf Menschen, denen viel Plötzliches begegnet, sei es von außen oder von innen her, wirkt Alles, was ruhig erwartet werden kann, humanisirend; also zum Beispiel jede Gewohnheit, welche über sie und über ihre Gesellschaft herrscht: denn das Gewohnte macht keine rasche Spannung, keine schnelle Maaßregel nöthig. Plötzliches ungestümes Handeln ist ebenso halbwildenhaft wie plötzliches ungestümes Überwunden-werden von Affekten; für solche Zustände besteht das Moralische im Gewohnten, Ruhigen, Abwartenden, Uberlegenden. In anderen Zeitaltern, wo dagegen gerade ein Ubermaaß von diesen Eigenschaften existirt, scheinen die Leidenschaften und ungestümen Handlungen moralischer; es ist als ob den Menschen
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dieser Zeiten ein Blick in die Natur dabei gegönnt wäre, so daß ihnen freier, kühner, erregter zu Muthe wird, sie halten also das Plötzliche für das humanisirende Element wie jene Früheren das Gegentheil. 3[50] ί ο i . Giebt es Menschen, welche die Affekte bewundern, die Vernünftigkeit verachten und die moralische Werthschätzung (bei Seite) stellen? Unter den handelnden Menschen gewiß nicht; hie und da aber wird ein Künstler die Vernünftigkeit und die Moralität nidbt malerisch genug finden: er will Menschen mit starken Contrasten. 3[5i] 102. Die moralischen Urtheile sind Mittel, unsere Affekte auf eine intellektuelle Weise zu entladen als dies durch Gebärden und Handlungen geschieht. Das Schimpfwort ist besser, als ein Faustschlag oder ein Anspeien; die Schmeichelei (Lob) besser, als ein Streicheln oder Lecken (Kuß); der Fluch übergiebt einem Gotte oder Geiste die Rache, die das Thier selbst gegen seinen Feind ausübt. Vermöge der moralischen Urtheile wird es dem Menschen leichter zu Muthe, sein Affekt wird entladen. Schon der Gebrauch von Formen der Vernunft bringt eine gewisse Nerven- und Muskelbeschwichtigung mit sich; das moralische Urtheil entsteht in jenen Zeiten, wo die Affekte als lästig und die Gebärden als eine zu grobe Erleichterung empfunden werden. 3[J2] 103. Die plötzlichen Affekte sind das, was die Menschen auf die Dauer häßlich macht. Das Christenthum hat die plötzlichen Affekte entfesselt, folglich —
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3[53] 106. Das niedere katholische Volk, das gar nichts von freiwilliger Enthaltsamkeit weiß, aber sehr viel von unfreiwilliger — weshalb es die Genüsse des Lebens anbetet —, sieht im Heiligen ein Gegenstück von Handlungsweise, von dem es nichts begreift: es glaubt an den Heiligen, quia absurdus est. In unsern protestantischen Ländern, wo gerade jetzt die moralische Erziehung fast fehlt oder ganz gedankenlos vor sich geht, hat man vor dem Heiligen einen fast gleichen Respekt; man denkt an die Asketik wie an etwas Übermenschliches und vergißt dabei, daß zu jeder antiken Moral, selbst zur epikureischen, eine Asketik gehörte. 3[J4] 107. Zuerst lernt man nicht Einsichten in die Dinge und Menschen, sondern Werthurtheile über die Dinge und Menschen; diese verhindern den Zugang zur wirklichen Erkenntniß. Man müßte durch eine radikale Skepsis des Werthes erst einmal alle Werthurtheile umwerfen, um freie Bahn zu haben. 3 [5 5 3 108. Die feine höfische Cultur unter Ludwig X I V hatte in vielen Stücken den Stoicismus nöthig; viele Empfindungsstürme mußte man in's Herz verschließen, viele Müdigkeit verhehlen, vielen Schmerz mit Heiterkeit bedecken. Unsern bequemen Mitmenschen würde diese Lebensart zu streng sein. 3[J6] 109. Es ist die Art der Juden, ihre Chancen im Verhältniß zu Personen auszunützen, indem sie dicht an die Grenze derselben treten und es merken lassen, daß sie sich an der Grenze wissen. Dies macht sie zudringlich; wir alle wollen ja unnahbar sein und unbegrenzt erscheinen; die Juden wirken diesem phantastischen Unfaßbar-sein-wollen bei Einzelnen und bei Nationen entgegen und werden dafür sehr gehaßt.
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n o . Erkenntnißtheorie ist die Liebhaberei jener scharf sinnigen Köpfe, die nicht genug gelernt haben und welche vermeinen, hier wenigstens könne ein Jeder von vorne anfangen, hier genüge die „Selbstbeobachtung". 3[58] 1 1 3 . Wenn wir das Gute, das wir einem Besitze verdanken, bei allem Bemühen, es zu überschauen, nicht mehr zu überschauen vermögen, so entsteht Liebe: ein Überströmen gegen etwas Unbegrenztes; es fehlt ihr die Kenntniß des ganzen Werthes einer Sache oder Person, weil keine Wage groß genug ist (ihn) zu fassen. Man bringt alles Höchste, das man kennt, zur Vergleichung heran; lieben wir, so denken wir fortwährend an alles Höchste aller Art, und weil es (uns) immer zugleidi mit dem geliebten Gegenstande einfällt, so verwechseln wir es auch wohl mit ihm. 3 [ J 9]
1 1 4 . Anstatt zu wünschen, daß Andere uns so kennen wie wir sind, wünschen wir, daß sie so gut als möglich von uns denken; wir begehren also, daß die Anderen sich über uns täuschen: das heißt wir sind nicht stolz auf unsere Einzigkeit. 3[6O]
1 1 5 . Die Verkümmerung vieler Menschen hat darin ihren Grund, daß sie immer an ihre Existenz in den Köpfen der Anderen denken, das heißt sie nehmen ihre Wirkungen ernst und nicht das, was wirkt: sich selber. Unsere Wirkungen aber hängen von dem ab, worauf gewirkt werden muß, stehen also nicht in unserer Gewalt. Daher so viel Unruhe und Verdruß. 3[6I]
χι6. Trübe und bittere Gedanken sind ohne physiologische Ursachen gar nicht möglich. Um der große Ankläger der Zeit
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oder des ganzen Lebens zu werden, muß unsere Leber dazu präparirt sein. 3[62]
1 1 7 . Unsere ersten leidenschaftlichen Entscheidungen für oder gegen, mit denen wir in der Jugend unserem Lebenskahne die Richtung geben, sind gewöhnlich die Beweise für schlechte Erziehung, unreifen Geschmack und den Mangel an Nachdenken, in dem wir bis dahin gelebt haben. 3[6 3 ] 1 2 1 . Das große volle offene Auge hat der, welcher gewohnheitsmäßig viel auf einmal überschauen will, also das Kind, welches oft erstaunt ist, der Liebende, der all sein Glück mit seinem Blicke umspannen möchte, der Denker, der viele wichtige Dinge vor sich hat und sie ordnen will; Andere, welche viel an kleine Dinge denken, haben das verkleinerte scharfe Auge, sie wollen möglichst genau sehen, als ob sie den Bewegungen eines Insektes folgten, so auch der Argwöhnische. Der Schrekken blickt groß, weil in ihm Erstaunen ist, die Furcht wechselt die Richtung des scharfen Blickes sehr schnell, unruhig darüber, woher die Gefahr kommt. 3 [64] 122. Unsere Werthschätzungen bestimmen unsere Lebensweise (Aufenthalt, Beruf, Umgang usw.), und unsere Lebensweise bestimmt, wie sehr oder wie wenig wir einen Schmerz oder eine Lust fühlen, nicht nur im Feineren und Geistigsten, sondern bis auf's Körperlichste herab. Wer die Werthschätzungen verändert, verändert mittelbar auch die Lust- und UnlustArten und -Grade der Menschen. 3[6j] 123. Zu den Trostmitteln der leidenschaftlichen und ungebändigten Charaktere gehört die Tragödie; sie räth an, Ruhe und
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innere Freiheit n u r jenseits der Welt zu erwarten — damit beseitigt sie vorübergehend die moralische Unzufriedenheit solcher Naturen mit sich, denn sie scheint zu sagen: das Unmögliche nicht zu vermögen, sollte keinen Kummer machen. 3[66] 125. Alles, was wir jetzt unmoralisch nennen, ist irgendwann und irgendwo einmal moralisch gewesen. Was bürgt dafür, daß es seinen Namen nicht noch einmal verändert? 3[6/] 128. Es giebt eine komische Definition des Komischen: es soll, nach Vinet, die Naivetät der Sünde sein. 3[ι] ι j j . Was Dasein hat, kann nicht zum Dasein wollen; was kein Dasein hat, kann es auch nicht. Also giebt es keinen Willen zum Dasein. Es ist dies eine schlechte und widersinnige Wörterzusammenstellung. Wohl wäre zu verstehen: Wille zu einem längeren, oder höheren, oder anderen Dasein. — Wille ist die Vorstellung eines werthgeschätzten Gegenstandes verbunden mit der Erwartung, daß wir uns seiner bemächtigen werden. „Struggle for existence"? 3 [92] 156. Wenn nicht das alte jus talionis noch fortwirkte, so würde man gewiß nicht gerade den Mörder hinrichten, sondern nach dem Satze, daß die Ehre mehr werth ist, als das Leben, viel eher den Ehrenräuber, den Verleumder. Ebenso ist schmerzhafte Verstümmelung und Ähnliches ein viel schwereres Leiden als das Sterben; folglich wäre der Grausame eher hinzurichten, als der Mörder, insgleichen der gewissenlose Arzt, Hebamme usw. Endlich, insofern der Urheber vieler Tode unheilvoller ist, als der Mörder, so müßten alle Fürsten, Minister, Volksredner und Zeitungsschreiber, durch welche ein Krieg erregt und befürwortet worden ist, hingerichtet werden; ich meine natürlich die ungerechten Kriege, aber man wird mir sagen, daß es keine ungerechten Kriege giebt. 3 [93] 157. Die moralischen Vorschriften stammen aus Zeiten, in welchen man die Natur, die Völker und Menschen viel weniger kannte, als jetzt. Unwissenheit und falsche Voraussetzungen sind durch die feierliche Unantastbarkeit, in der die Moral lebt, mitheiliggesprochen. 3 [94] 158. Wenn man sagt: dies ist nützlich, jenes ist schädlich, so
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muß dieser Satz sich in seinen Folgen beweisen, das heißt er wird fortwährend geprüft und je nachdem verfeinert oder verworfen. Sagt man dagegen: dies ist sittlich — so glaubt man etwas gesagt zu haben, das durch seine Folgen nicht bewiesen zu werden braucht, ja nicht bewiesen werden kann. Deshalb hält sich das Schädliche unter der Aufschrift „sittlich" so lange aufrecht. 3 [95] 159. Manche allzuängstliche Staatsmänner mögen thun, was sie wollen, es bleibt immer ein Flecken an ihnen haften: wie Manche nidit ein Ei aufschlagen können, ohne sich schmutzig zu machen. 3 [96] 160. Das Leben für die Zukunft — das ist eine Folge der Moral, bei der das ganze Leben, das heißt die Summe aller gegenwärtigen Momente, eine Thorheit und Jagd und Unannehmlichkeit wird. Das Leben für die Anderen — eine Folge der Moral, bei der die Anderen willkürlich gemaaßregelt werden und der Mensch selber allen seinen Verstandes- und Herzensschwächen um seines guten Zieles willen ohne Bedenken nachhängt. 3 [97] 1 6 1 . Inwiefern hat die Moral s c h ä d l i c h gewirkt? Insofern sie den Körper verachtete, im Asketismus der Pflicht, des Muthes, des Fleißes, der Treue usw. Namentlich in jenem mit Religion verquickten Kanon, daß Sich-Freuden-bereiten der Gottheit unangenehm, Sich-Leiden-bereiten ihr angenehm sei. Man lehrte, zu leiden, man rieth ab, sich zu freuen, — in allen Moralen (die des Epikur ausgenommen), das heißt die Moral war bisher ein Mittel, die physiologische Grundlage des Menschen in ihrer Entwicklung zu stören — an der Schwäche der
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Moral lag es, daß sie diese Grundlage nicht zerstört hat; sie war ein furchtbarer Würfel im großen Würfelspiel. — Wir müssen das Gewissen verlernen, wie wir es gelernt haben. — Im Ganzen war die große erhaltende Kraft, welche gegen die Moral das Übergewicht behauptete, das, was sie das Böse nannten, das Streben des Individuums, sich ohne Rücksicht auf Lehren selbst zu behaupten, sich wohl zu fühlen, sein Vergnügen zu suchen, die näheren Bedürfnisse den entfernteren unterzuordnen, während die Moral diese nicht nur als höhere und niedere Bedürfnisse unterscheidet, sondern die letzteren verachten und oft verdammen lehrt (die sogenannten sinnlichen Freuden). 3 [98] 162. Je mehr das Gefühl der Einheit mit den Mitmenschen überhand nimmt, um so mehr werden die Menschen uniformirt, um so strenger werden sie alle Verschiedenheit als unmoralisch empfinden. So entsteht nothwendig der Sand der Menschheit: Alle sehr gleich, sehr klein, sehr rund, sehr verträglich, sehr langweilig. Das Christenthum und die Demokratie haben bis jetzt die Menschheit auf dem Wege zum Sande am weitesten gefahren. Ein kleines, schwaches, dämmerndes Wohlgefühlchen über Alle gleichmäßig verbreitet, ein verbessertes und auf die Spitze getriebenes Chinesenthum, das wäre das letzte Bild, welches die Menschheit bieten könnte? Auf der Bahn der bisherigen moralischen Empfindung unvermeidlich. Es thut eine große Überlegung noth, vielleicht muß die Menschheit einen Strich unter ihre Vergangenheit machen, vielleicht muß sie den neuen Kanon an alle Einzelnen richten: sei anders, als alle Übrigen und freue dich, wenn Jeder anders ist, als der Andere; die gröbsten Unthiere sind ja unter dem Regimente der bisherigen Moral ausgetilgt worden — es war dies ihre Aufgabe; wir wollen nicht gedankenlos unter dem Regimente der Furcht vor wilden Thieren weiterleben. So lang, allzulang hieß es: Einer wie Alle, Einer für Alle.
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3 [99] 163. Bei Allem, was geschieht, sagen: Gott würde es nicht zulassen, wennn es mir nicht zuträglich wäre — an dieser himmlisdien Kinderei hätte die Menschheit schon mehrere Male zu Grunde gehen können. Glücklicherweise gab es immer Menschen, die nicht christlich genug waren, um sidi so kindlich zu beruhigen. 3[ioo] 164. Wenn das allgemeine Glück das Ziel jeder einzelnen Handlung sein sollte, so müßte der Einzelne darauf verzichten, in seinem Leben eine einzige Handlung wirklich zu thun: die Überlegung, ob sein Vorhaben wirklich dem höchsten Wohle aller gegenwärtigen und zukünftigen Menschen entsprechen werde, würde sein ganzes Leben verzehren. Das Christenthum bezeichnete den Nächsten als den Zielpunkt unserer Handlungen und überließ es Gott, zu bestimmen, wer unsere Nächsten werden sollten; wem dieser religiöse Ausweg nicht offen steht, müßte doch sagen: ich will mir in Bezug auf die Handlungen, die ich thue, doch nicht jeden beliebigen Nächsten als Objekt gefallen lassen, sondern die suchen, zu denen meine Handlungen am meisten passen, denen sie wirklich nützen k ö n n e n . Dazu freilich müßte man seinen Nächsten so gut wie sich kennen lernen, und das könnte wieder das ganze Leben verzehren. 3[ior] 165. Vorschriften, wie gehandelt werden soll, sind um so indiskutabler, je mehr die Einsicht der Handelnden unter der des Vorschreibenden steht. Da außer ihm niemand genau weiß, w e l c h e Folgen er von den Handlungen erwartet, so sind auch jene Folgen, welche sich thatsächlich aus den Vorschriften ergeben, indiskutabel. So stellt sich der religiöse Mensch zu Gottes Gebot, der moralische Mensch zum Sittengesetz — eine
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Erbsdiaft aus Zeiten, in denen es einen Häuptling und blind gehorchende Anhänger gab, welche in ihm ihre Vernunft sahen und ohne ihn keine hatten. 3[I02]
166. Der metaphysische Pessimist, der das Vergnügen und die Sicherheit flieht und dem Unglück und Leiden den höchsten Werth beimißt — nämlich über den Unwerth des Lebens aufzuklären —, wie dürfte er Mitleiden haben, wenn ein Anderer leidet? Er dürfte sich darüber nur freuen, wie er gleichfalls das Mitleiden zurückzuweisen hätte, wenn er in Noth wäre; andererseits würde er, wenn er den Anderen in der Freude fände, Leid über ihn empfinden und ihm die Freude zu vergällen suchen, — so sollte Schopenhauer's praktische Moral klingen. Das Mitleiden, wie es Schopenhauer schildert, ist, von seinem Standpunkte aus, die eigentliche Perversität, die gründlichste aller möglichen Dummheiten. 3[io3] 168. Ich weiß nicht zu erklären, wie es kommt, daß die Juden von allen Nationen die sittliche Erhabenheit auf's Höchste gebracht haben, im Theoretischen wie im Praktischen. Nur ihnen ist ein Jesus von Nazareth gelungen; nur ihnen ein heiliger Gott, nur ihnen die Sünde an ihm. Dazu der Prophet, der Erlöser — das sind ihre Erfindungen. 3 LI04]
169. Was die Römer an den Juden haßten, das war nicht die Rasse, sondern eine von ihnen beargwöhnte Art des Aberglaubens und namentlich die Energie dieses Glaubens (die Römer, wie alle Südländer, waren im Glauben lässig und skeptisch, und nahmen nur die Gebräuche streng). Dasselbe ist ihnen an den Juden anstößig was ihnen an den Christen anstößig ist: der Mangel an Götterbildern, die sogenannte Geistigkeit ihrer Reli-
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gion, eine Religion, die das Licht sdieut, mit einem Gott, der sich nicht sehen lassen kann, dies erweckte Argwohn, noch mehr das, was man vom Osterlamm munkelte, vom Essen des Leibes, Trinken des Blutes und dergleichen. — In summa: die Menschen der Bildung damals meinten, Juden und Christen seien heimliche Kanibalen. Dann traute man ihnen zu, verrücktes Zeug ehrlich zu glauben, das jüdische und christliche Maaß im Glauben-können war den Römern verächtlich; der Jude in Christus war es, der vor allem Glauben forderte; die Gebildeten jener Zeit, vor denen alle philosophischen Systeme einander in den Haaren lagen, fanden dieses Glauben-fordern unausstehlich. „Credat Judaeus Apella" (Horaz). 3[i°S] 170. Das Christenthum hält 1 . eine fundamentale Verbesserung des Menschen für möglich ohne Verbesserung ihres Wissens, ohne Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Zustände; 2. es will Enthaltung von der Welt, aber nicht Förderung der Welt; 3. es zieht Leid und Trübsal vor, und erweckt Argwohn gegen das Wohlbefinden; 4. es zieht den Glauben dem Wissen und die Unbegreiflichkeit dem Verständniß vor und macht argwöhnisch gegen die Vernuft; 5. es beachtet Geschlecht, Stand, Volk nicht, diese Unterscheidungen sind ihm unwesentlich; wenn aber mit diesen Unterscheidungen Nothstände verbunden sind, so findet es die Aufrechterhaltung der Unterschiede wünschenswerth, um der Nothstände und ihrer Heilswirkungen halber; 6. es setzt die tiefe Verderbtheit aller Dinge und Menschen voraus und sieht den Untergang als bevorstehend an; es will diesen Untergang nicht aufhalten, es will die Welt sich möglichst verleiden. — Dächte man sich das Christenthum, in seiner ganzen Stärke aufgefaßt, als herrschend, dächte man sich, daß keine Kräfte dagegen wirken, so würde es in kurzer Zeit den Untergang des Menschengeschlechtes herbeiführen: es nimmt den Menschen die Gesundheit, die
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Freude, das Zutrauen, die Absichten für die Zukunft der Welt (also die Thätigkeit). Diese Consequenz geben einige Kirchenväter zu: sie sehen hier keinen Vorwurf und Einwand. 3[io6] 172. Das christliche Mitleid, ganz verschieden von dem der Inder und ihres Jüngers Schopenhauer, entsteht in Hinsicht auf die ewige Verdammniß des Anderen, auf die Ungnade Gottes, auf den Mangel an Glauben, auf die Freude am Weltlichen, auf die Fülle von teuflischem Trug, welche den Nicht-Christen, zum Beispiel den ungetauften Barbaren, ihm unbewußt, umringt: es ist ein Erbarmen über den Anschein von Glück oder über den Irrthum, mit welchem der Andere sein Unglück bejammert, Mitleid mit Unwissenheit und Irrthum also, nicht mit Schmerz — also eigentlich nicht Mit-Leid. 3 C1°7Ü 173. Fast überall auf Erden, wo eine Kirdie, ein Tempel steht oder stand, hat sich einmal ein Wunder begeben, das heißt der Pilz der sakralen Baukunst schießt überall dort auf, wo religiösen Menschen ein kleiner Irrsinn begegnete. Hat man je schon an einem Orte gebaut, wo einem Menschen eine große Wahrheit zuerst aufleuchtet? wahrscheinlich nicht; aber warum auch, eine solche Wahrheit will kritisirt, nicht angebetet sein. 3
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175. Der Dichter s c h e i n t fortwährend Zugänge zu einer neuen oder besseren Erkenntniß von Natur und menschlichen Dingen zu eröffnen: bevor man noch recht begriffen hat, daß was hier so aufregend winkt, ein Irrlicht ist, gaukelt schon wieder ein anderes vor den Sinnen. Die Vergleichungen, die Metaphern des Dichters sind von ihm durchaus nidit als solche gegeben, sondern als neue, bisher unerhörte Identitäten, ver-
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möge deren ein Reich der Erkenntniß sich zu eröffnen scheint. Je weniger noch darüber fest steht, was in der Natur wirklich wahr und erwiesen ist, um so stärker ist die Wirkung des Dichters, um so größer seine Schauspielerkunst, zeitweilig den Ergründer der Natur zu repräsentiren. Die Frage, wie weit etwas, das ein Dichter sagt, wahr ist, ist eine Pedanterie. Aller Werth liegt gerade darin, daß es nur einen Augenblick wahr s c h e i n t , und dies gilt von seiner gesammten Weltbetrachtung, seiner moralischen Ordnung, seinen moralischen Sentenzen ebenso sehr wie von seinen Gleichnissen, seinen Charakteren, seinen Geschichten. Eine ernsthafte, der Wissenschaft zugehörige Meinung damit bekräftigen wollen, daß irgend ein Tragiker etwas Ähnliches gesagt hat, ist eine Albernheit: Dichter haben in Dingen der Erkenntniß immer Unrecht, weil sie als Künstler täuschen wollen und als Künstler gar nicht das Bestreben nach höchster Wahrhaftigkeit verstehen; sagen sie zufällig etwas Wahres, so ist ihre Autorität nicht geeignet, Glauben, sondern Mißtrauen zu erwecken. Es ist ein solcher Genuß, daß der erkennen wollende Trieb auch einmal mit sich spielt und von einem Zweige zum andern hüpft, mit reizenden Tönen und bunten Federchen geschmückt — und wir sollten Narren sein und da ein Orakel erwarten, wo ein Vogel singt undtirilirt! 3[109] 176. Hier wird eine Handlung geschätzt, weil sie dem Handelnden schwer fällt, dort eine andere, weil sie ihm leicht fällt, dort eine, weil sie selten ist, dort eine, weil sie nach der Regel ist, dort eine, weil der Beurtheilende sie bei sich für unmöglich hält, dort eine, weil der Beurtheilende sie überhaupt für unmöglich hält (ein Wunder), dort eine, weil sie für nützlich gilt, dort eine, weil sie keine Rücksicht auf Nutzen zeigt, dort eine, weil der Mensdi so für sein bestes Heil sorgt, dort eine, weil er nicht dabei für sich sorgt, dort, weil sie Pflicht ist, dort.
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weil sie Neigung ist, dort, weil sie ohne Neigung gethan wird, dort, weil sie Instinkt ist, dort, weil sie hellste Vernunft ist — und alles das heißt man gelegentlich sittlich! Man handhabt jetzt die Maaßstäbe der verschiedensten Culturen zugleich und vermag durch diese beinahe jedes Ding als sittlich oder als unsittlich abzuschätzen, wie man eben will, das heißt je nach unserm guten oder bösen Willen gegen die Mitmenschen oder gegen uns selbst; die Moral ist jetzt die große Topik des Lobens und Tadeins — , aber warum immer loben und tadeln? Könnte man sich dessen entschlagen, so hätte man auch die große Topik nicht mehr nöthig. 3[no] 177. Der trübe Ernst, die Spannung und die Furcht sind allen Leidenschaften gemeinsam: es ist in ihnen kein Überschuß von Leben, ja es scheint, als ob nicht genug davon vorhanden sei. 3["i] 179. Jetzt sucht man vor allem das Menschenleben zu erhalten: dies giebt unserer Cultur den Anstrich der Feigheit und der Alten-Manns-Gier nach langem Leben; ehemals, w o man das Leben viel zufälliger verlieren konnte, als jetzt, gehörte es zum Wesen der Tugend, daß man das Leben leicht wegwarf und sehr viele Dinge für höher im Preise hielt. 3[lI2] 180. Das moderne Leben will so sehr wie möglich vor allen Gefahren geschützt sein: mit den Gefahren aber geht viel Munterkeit, Übermuth und Anregung verloren, unsere groben Remeduren sind Revolutionen und Kriege. 3 C113 ] 181. Mit dem Almosen unterhält man den Zustand, der als Motiv des Almosens wirkt, man giebt also nicht aus Mitleiden, denn dieses würde den Zustand nicht unterhalten wollen.
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Nadigelassene Fragmente
3["4] 182. Der Kraftüberschuß sucht den Kampf und wird darin böse; das Bösesein ist aber hier doch nur Mittel (zum Zweck der Entladung) und deshalb harmloser, als beim Schwachen, der böse ist, um weh zu thun. 3["5] 183. Will man behaupten, daß der Germane für das Christenthum vorgebildet und vorbestimmt gewesen sei, so darf es Einem nicht an Unverschämtheit fehlen, denn das Gegentheil ist nicht nur wahr, sondern auch handgreiflich. Woher sollte auch die Erfindung zweier ausgezeichneter Juden, des Jesus und des Saulus, der zwei jüdischesten Juden, die es vielleicht gegeben hat, gerade die Germanen mehr anheimeln, als andere Völker? (Beide meinten, das Schicksal jedes Menschen und aller Zeiten, vorher und nachher, nebst dem Schicksal der Erde, der Sonne und der Sterne, hänge von einer jüdischen Begebenheit ab: dieser Glaube ist das jüdische Non plus ultra.) Wie reimt sich die höchste moralische Subtilität, welche ein Rabbiner- und nicht ein Bärenhäuter-Verstand so geschärft hat, und welcher die Erfindung des heiligen Gottes und der Sünde an ihm zuerst gelungen ist, das Gefühl der Unfreiheit und Knechtschaft in einem grenzenlos ehrsüchtigen Völkchen, sein Ausschauen nach dem Erlöser und Vollender aller Hoffnungen, die priesterliche Hierarchie und das volkstümlichere Asketenthum, die überall fühlbare Nähe der Wüste, und nicht die des Bärenwaldes, — wie reimt sich dies alles zum faulen, aber kriegerischen und raubsüchtigen Germanen, zum sinnlich kalten Jagdliebhaber und Biertrinker, der es nicht höher als bis zu einer rechten und schlechten Indianer-Religion gebracht hat und Menschen auf Opfersteinen zu schlachten noch vor zehnhundert Jahren nicht verlernt hatte?
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3[H6] 184. Nicht die Sittenverderbniß — diese beschränkte sich auf fünf bis zehn Städte des ungeheuren Reiches —, sondern die Ermüdung, welche überall eintrat, weil man am Ziele zu sein glaubte, in Betreff der Cultur und der staatlichen Formen, führte die alte Welt in die Schlinge des Christenthums; die Menschen wollen lieber untergehen, als sich am Ende wissen, das Ausleben als einziger Zweck des Lebens ist ihnen ein unerträglicher Gedanke; man war seiner selbst und der Welt müde: das Christenthum machte Alles wieder interessant, indem es alle Werthurtheile umdrehte und hinter das Ende aller Dinge ein Gericht setzte. 3[»7] 185. Das Christenthum erscheint als eine epidemische Panik; es war prophezeit worden, daß in Kürze die Erde untergehen würde. An den Gedanken dieser furchtbaren Gefahr rankten sich benachbarte Gedanken an, — Untergang warum? um unserer Sünden halber? also vielleicht ein Gericht? und wo ein Fürsprecher? usw. Zuletzt erschien es als das allgemein Rathsamste, in gewohnter antiker Weise vor die Richtstätte zu treten, das heißt in dem denkbar erbärmlichsten und mitleiderweckendsten Zustande. Dieses Bild des antiken Angeklagten halten später die Anachoreten fest, — sie wollen jeden Augenblick bereit sein und die Vorstellung des plötzlich hereinbrechenden Gerichtes ließ sie Alles ersinnen, wodurch ein Mensch bejammernswürdig erscheint; Gott solle es, wie ein römischer Prätor, nicht aushalten, ein so verkümmertes und entsetzlich leidendes Wesen als schuldig zu behandeln. Das Christenthum kennt nur den würdelosen Schuldigen. 3
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187. Der Dichter läßt den erkennenwollenden Trieb s p i e l e n , der Musiker läßt ihn a u s r u h e n , — sollte wirklich
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Nachgelassene Fragmente
Beides neben einander möglich sein? Sind wir ganz der Musik hingegeben, so giebt es keine Worte in unserem Kopfe, — eine große Erleichterung; sobald wir wieder Worte hören und Schlüsse machen, das heißt sobald wir den Text verstehen, ist unsere Empfindung für die Musik oberflächlich geworden: wir verbinden sie jetzt mit Begriffen, wir vergleichen sie mit Gefühlen und üben uns im symbolischen Verstehen, — sehr unterhaltend! Aber mit dem tiefen seltsamen Zauber, der unsern Gedanken einmal Ruhe gab, mit jener farbigen Dämmerung, welche den geistigen Tag einmal auslöschte, ist es vorbei. — Sobald man freilich die Worte nicht mehr versteht, ist Alles wieder in Ordnung: und dies ist glücklicherweise die Regel; immerhin sind billigerweise schlechte Texte den besseren vorzuziehen, weil sie kein Interesse auf sich lenken und überhört sein wollen. — Die Oper will die Augen zugleich beschäftigen, und weil bei der großen Menge die Augen größer sind, als die Ohren, was viel sagen will, so richtet sich die Musik der Oper nach den Augen und begnügt sich, charakteristische Fanfaren zu blasen, sobald etwas Neues zu sehen ist, — Anfang der Barbarei. 3["9]
189. Ein Mädchen, das ihre Jungfernschaft hingiebt, ohne daß der Mann feierlich vorher vor Zeugen geschworen hat, das ganze Leben nicht mehr von ihr zu lassen, gilt nicht nur für unklug: man nennt sie unsittlich. Sie folgte nicht der Sitte, sie war nicht nur unklug, sondern auch ungehorsam, denn sie wußte, was die Sitte gebietet. Wo die Sitte nicht so gebietet, wird das Betragen eines Mädchens in jenem Falle auch nicht als unsittlich bezeichnet, ja es giebt Gegenden, wo es sittlich genannt wird, seine Jungfernschaft vor der Ehe zu verlieren. — Also den Ungehorsam trifft der Kern des Vorwurfs, dieser ist unsittlich; ist dies genug? Ein solches Mädchen gilt als verächtlich, — aber welche Art des Ungehorsams ist es, die man ver-
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achtet? (Die Unklugheit verachtet man nicht.) Man sagt von ihr: sie konnte sich nicht beherrschen, deshalb war sie ungehorsam gegen die Sitte; man verachtet also die Blindheit der Begierde, das Thier im Mädchen. Insofern sagt man auch: sie ist unkeusch — denn damit kann ja nicht gesagt sein, daß sie das thut, was die ehelich angetraute Gattin auch thut, und welche man deshalb doch nicht unkeusch nennt. — Die Sitte fordert demnach, daß die Unlust des unbefriedigten Bedürfnisses ertragen werde, daß die Begierde w a r t e n könne. Unsittlich heißt also hier, eine Unlust trotz des Gedankens an die vorschriftengebende Macht nicht ertragen können. Es soll e i n G e f ü h l durch einen Gedanken niedergerungen werd e n , genauer: durch den Gedanken der Furcht (sei dies die Furcht vor der heiligen Sitte oder vor der Strafe und Schande, welche die Sitte androht). An sich ist es nun keineswegs schimpflich, sondern natürlich und billig, daß ein Bedürfniß s o f o r t befriedigt werde; somit liegt das eigentlich Verächtliche in jenem Mädchen in der S c h w ä c h e i h r e r F u r c h t . Sittlich sein heißt: in hohem Grade der Furcht zugänglich sein; Furcht ist die Macht, von welcher das Gemeinwesen erhalten wird. — Erwägt man andererseits, daß jedes ursprüngliche Gemeinwesen in anderen Stücken auf's Höchste gerade die Furchtlosigkeit seiner Mitglieder nöthig hat, so ergiebt sich, daß, was im Falle des Sittlichen schlechterdings gefürchtet werden soll, i m h ö c h s t e n G r a d e furchtgebietend sein muß, deshalb hat sich die Sitte überall als g ö t t l i c h e n Willen eingeführt und sich unter die Furchtbarkeit von Göttern und dämonischen Strafmitteln zurückgezogen: so daß unsittlich sein bedeutete das unbegrenzt Furchtbare n i c h t fürchten. — Von Einem, der die Götter leugnete, war man Alles gewärtig, es war dadurch der fürchterlichste Mensch, den kein Gemeinwesen ertragen konnte: weil er die Wurzeln der Furcht ausriß, auf denen das Gemeinwesen gewachsen war. Man nahm an, daß in einem solchen Menschen die Begierde schrankenlos walte:
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man hielt jeden Menschen ohne diese Furcht für grenzenlos böse. — Nun geht aber völlige Furchtlosigkeit auf einen Mangel an Phantasie zurück; der böse Mensch in diesem Sinne wird immer ein Mensch ohne Phantasie sein. Die Phantasie der Guten war eine Phantasie der Furcht, eine böse Phantasie, — eine andere kannte man noch nicht. Die böse Phantasie sollte die böse Begierde niederhalten, das war das alte Sittengesetz; die beständige Herrschaft der Furcht über die Begierde machte den sittlichen Menschen aus. Daraus entsteht als Anzeichen des Sittlichen die Asketik: Ertragenkönnen, Wartenkönnen, Schweigenkönnen, Hungernkönnen — das ist zum Beispiel die Moralität der Indianer. — Man leitete die verhältnißmäßige Sicherheit der Gemeinschaft von der Fähigkeit ab, sich oft und stark unangenehme Bilder vor die Seele zu stellen, vermöge deren man sich der sofortigen Befriedigung schmerzhafter Bedürfnisse enthalten konnte. Es sind die Bilder der Strafen und der Schande, und zwar vor allen die unbestimmteren, unheimlicheren Strafen von Göttern und Geistern: während bei den Strafen der weltlidien Gerechtigkeit nicht zuerst an die abschreckende Wirkung gedacht werden darf (zumeist handelt es sich bei ihnen um Bußgelder, vermöge deren ein Schaden wieder gut gemacht werden soll). Selbst die Aussicht auf die schmerzhaftesten Strafen der weltlichen Gerechtigkeit, auf Tod mit Martern und dergleichen, thut in wilderen Zeiten lange nicht die Wirkung, wie die Aussicht auf Götter- und GeisterStrafen: man fürchtete damals den Tod viel weniger, als heute, und war im Ertragen von Martern geübt und stolz; um solcher Gründe willen sein Rachegelüst, sein Raubgelüst, seine Wolllust in Schranken zu halten, würde man kaum für männlich gehalten haben; anders ist es, wenn mit Wahnsinn, Furien, Ausschlag, weißen Haaren, mit plötzlichem Altwerden, mit nächtlichen Schrecken gedroht wird: die Drohung solcher Strafen wirkt. Kurz gesagt, die Furcht, auf der damals die Sittlichkeit ruhte, war die abergläubische Furcht: u n s i t t l i c h
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sein hieß ohne a b e r g l ä u b i s c h e F u r c h t sein. — Je friedlicher der Zustand eines Gemeinwesens ist, je feiger seine Bürger werden, je weniger sie an das Ertragen von Schmerzen gewöhnt sind, um so mehr werden die weltlichen Strafen als Abschreckungsmittel schon genügen, um so schneller erweisen sich die religiösen Drohungen als überflüssig. Der Friede also verdrängt die Religion, die unbestimmten Angstmittel der Phantasie werden nicht mehr nöthig; denn die Ängstlichkeit vor den bekannten Strafen des Staates und der bürgerlichen Achtung ist schon groß genug. In hoch cultivirten Völkern dürften endlich selbst die Strafen höchst überflüssige Schreckmittel werden; schon die Furcht vor Schande, das Erzittern der Eitelkeit ist so beständig wirksam, daß daraufhin die unsittlichen Handlungen unterbleiben. — Die Verfeinerung der Sittlichkeit nimmt mit der Verfeinerung der Furchtsamkeit zu. Jetzt ist die Furcht vor unangenehmen Empfindungen anderer Menschen fast die stärkste unserer unangenehmen Empfindungen. Man möchte gar zu gerne so leben, daß man nichts mehr thue, als was Anderen a n g e n e h m e Empfindungen macht und selber an nichts mehr Vergnügen habe, bei dem nicht diese Bedingung mit erfüllt wird.
3[ΐ2θ]
190. Wir begreifen den allerkleinsten Theil dessen, woraus sich jede Handlung zusammensetzt, und die lange Kette von strenge in einander greifenden Nerven- und Muskelvorgängen dabei ist uns sogar ganz unbekannt. So nehmen wir denn die Handlung als einen momentanen Akt des Willens in der Art wie ein hebräischer Schriftsteller es von Gott sagt: er gebeut und es steht da, das heißt wir machen eine Zauberei daraus und fühlen uns als Zauberer frei. Unsere Unwissenheit spielt uns den angenehmen Streich, daß sie unsern Stolz aufrecht erhält. Gelingt es einmal nicht, was wir wollen, so muß es wohl an einem feindlichen Wesen liegen, welches, wiederum
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Nachgelassene Fragmente
durch Zauberei, zwischen unsern Willen und die That ein Hemmniß legt. Das Gute wollen und das Verkehrte thun — das schiebt der Eine dem Teufel zu, der Andere der Sündhaftigkeit, ein Dritter sieht darin die Strafe für die Schuld früherer Lebenszeiten: alle fast legen es moralisch und dämonisch aus. Kurz, nachdem wir den Wilden-Glauben an die W u n d e r a l s d i e R e g e l d e r N a t u r aufgegeben haben, hat derselbe Glaube sich in Bezug auf unsere psychologischen Vorgänge festgesetzt; hier gilt noch immer das Wunder als die Regel. In Wahrheit heißt etwas wollen ein Experiment machen, um zu erfahren, was wir k ö n n e n ; darüber kann uns allein der Erfolg oder Mißerfolg belehren.
3[I2I]
191.
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.
.
.
Einige zeigen Geist, Andere verbergen und beweisen ihn.
3[l22] 192. Das allgemeine Glück oder die allgemeine Nächstenliebe sind R e s u l t a t e , welche v i e l l e i c h t durch fortwährendes Wachsen der Moralität erreicht werden können (vielleicht auch nicht!). Nichts von den menschlichen Errungenschaften wieder fahren lassen und immer die jeweilige Höhe der Menschheit festhalten, das ist vielleicht eine F o l g e der allgemeinen Moralität (eine Begleit-Erscheinung); aber das, was die Menschen zu moralischen Handlungen treibt, j e t z t treibt, sind nicht jene Resultate, noch weniger diese Folgen, auch etwas anderes, als das, was ursprünglich die Anerkennung moralischer Prädikate erzeugt hat. Der Ursprung der Moralität kann nicht im Moralischen liegen. Man hat also nicht zu verwechseln: e r s t e n s Resultate der Moral, z w e i t e n s Folgen der Moral, d r i t t e n s Motive moralischer Handlungen, v i e r t e n s Motive der Entstehung moralischer Begriffe. U n d doch soll in den bisherigen Moralen Ein Ding, das „Princip", für so verschiedene Dienste genügen.
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3[l23] 1 9 3 . Wir verehren, w o wir nicht begreifen, zum Beispiel bei alten Sitten, bei Worten, die mit feierlichem Tone gesprochen werden usw. Aber wir sollten unser Urtheil zurückhalten, w o wir nicht begreifen, damit der aufgethürmten Verehrung ohne Kern nicht noch mehr auf Erden werde: sieht doch unsere geistige Welt noch sehr ägyptisdi aus, Wüste und ungeheure Pyramiden darin — und in den Pyramiden, meist unzugänglich, ein erbärmlicher Leichnam. 3[«4] 1 9 5 . Plato mußte es noch erleben, daß die Lehre von den Ideen von einem helleren und umfänglicheren Geiste, als er war, widerlegt wurde: und der Widerlegende w a r noch jüngst sein Schüler gewesen. So lange die Denker ihre Erkenntnisse als ihre Erzeugnisse betrachten, so lange noch jene lächerliche Vater-Eitelkeit in ihnen wüthet, wird die Widerlegung
die
Dornenkrone der Philosophen sein — wie viele haben sie schon tragen müssen! — während ein Freund der Wahrheit, das heißt ein Feind des Betrogenwerdens, das heißt ein Freund der U n abhängigkeit, bei einer Widerlegung ausrufen sollte: ich bin einer großen Gefahr entronnen, fast hätte idi mich in meiner eigenen
Schlinge
erdrosselt.
Einem so
ingrimmigen
und
herrschsüchtigen Menschen, wie Schopenhauer war, kann man Glück wünschen, daß er es nicht errathen hat, wie kurz der Triumph seiner Philosophie sein solle und wie bald alle Prachtstücke seiner Erfindung als Trugbilder erkannt würden. 3[i2j] 196. Sobald die Schulweisheit es sich träumen läßt, giebt es ein Ding mehr zwischen Himmel und Erde; wenn aber eine Wahrheit erkannt ist, so nimmt die Zahl solcher Dinge ab, und eine Anzahl angeblicher Sterne löscht aus. Freilich nicht etwa sogleich! sondern wie man von Sternen spricht, deren
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Lichtstrahlen uns erst erreichen nachdem sie längst schon zerfallen sind, so strahlen die Irrthümer noch lange ihren Glanz fort, nachdem sie widerlegt sind. Denkt man an die Kürze des Menschenlebens, so reicht auch wohl ein Irrthum aus, um das Leben vieler Geschlechter ganz in Licht zu tauchen; wenn endlich sein Glanz verbleicht und stirbt, so sind sie längst dahin und haben die äußerste Bitterkeit, die es giebt, nicht erfahren: den Stern erlöschen zu sehen. 3[126] 197. Ein Übel geschehen lassen, das man hindern kann, heißt beinahe es thun, deshalb retten wir das Kind, das spielend auf den offenen Brunnen zuläuft, nehmen den Stein aus dem Wege, der auf eine glatte Bahn gefallen ist, stellen einen Stuhl zurecht, der umzufallen droht, — Alles nicht aus Mitleid, sondern weil wir uns hüten, Schaden anzurichten. Daran haben wir uns g e w ö h n t ; was auch die Motive für diese Gewohnheit sein mögen, jetzt handeln wir nach Gewohnheit und nicht mehr nach jenen Motiven. 3 ["7] 199. Wir können manches Wort einer fremden Sprache nicht nachsprechen, ja nicht einmal richtig h ö r e n ; wir können manche Dinge nicht sehen, wenn wir nicht gelernt haben, die Theile zu sehen. Auch das Sprechen, Hören und Sehen muß gelernt werden; aber bei unserer ungenauen Beobachtung des Lernvorganges glauben wir in allen drei Fällen, der gute Wille genüge und setzen bei einem jungen Menschen, dem es mißlingt, bösen Willen voraus. Wie böse hat man sich die Menschheit dadurch gemacht, daß man ihr Unvermögen in den Willen verlegte. 3[I28]
201.
Europa hat einen Exceß von orientalischer Moralität in
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sich wuchern lassen, wie die J u d e n ihn ausgedacht und ausempfunden haben. Man wird nicht das glücklichste und besonnenste Volk sein, wenn man derart im Moralisdien ausschweift und es in's Göttliche, Menschen-Unmögliche hineinverlegt. Sie sind viel gefangen und unterworfen gewesen, sie haben die orientalische Verachtung kennen gelernt dafür, daß sie in ihrem Glauben hartnäckig waren; sie haben sich gegen diesen Glauben so benommen wie asiatische Völker gegen ihre Fürsten, kriechend ergeben und voller Angst, audi nicht frei vom Gelüst der Unabhängigkeit: so bekamen sie eine unruhige, begehrliche, im Heimlichen sich schadlos haltende Phantasie, die Brutstätte jener sublimen anklägerischen Moralität und jenes wilden Heroismus, der sich ebenso in der Hingebung an ihren Heerführer Gott als in der Verachtung gegen sich selbst kund giebt. Das Christenthum hat vermöge seiner jüdischen Eigenschaften den Europäern jenes jüdische Unbehagen an sich selber gegeben, die Vorstellung von der inneren Unruhe als der menschlichen Normalität: daher die Flucht der Europäer vor sich selber, daher diese unerhörte Thätigkeit; sie stecken Kopf und Hände überallhin. Zudem ist es dem Christenthum gelungen, die rein orientalischen Gegentypen, den Anachoreten und den Mönch, als die Vertreter eines „höheren Lebens" in Europa auftreten zu lassen; dadurch hat es eine falsche Kritik über alles andere Leben ausgesprochen und das Griechische in Europa unmöglich gemacht. Die Athener fühlten sich zwar als die unruhigsten Griechen: aber wie ruhig, wie voll von sich und anderen guten Dingen erscheinen sie neben uns! Sie wußten niemanden über sich und brauchten sich selbst nicht zu verachten. 3[i29] 202. Was ist denn die Phantasie? Eine gröbere, ungereinigte Vernunft, — eine Vernunft, die bei Vergleichungen und Einordnungen große Fehler macht, unstät im Tempo ist und von
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den Affekten hin- und hergegängelt wird: eine wilde und malerische A r t der Vernunft, die Mutter der Scheinerkenntnisse und der „plötzlichen Erleuchtungen" (wo der Glanz einer Idee mit dem Lichte der Wahrheit verwediselt wird); beide, die Vernunft und die Phantasie sind gebärend, aber letztere wird leichter befruchtet und setzt vielmehr Mißgeburten und Mondkälber in die Welt. Vernunft ist eine Phantasie, welche durch Schaden klug geworden ist, vermöge des zunehmend besseren Sehens, Hörens und Sich-erinnerns. 3tI3°] 203. Das allgemeine Gebot aller Sitten und Moralen heißt: denke nach und fürdhte dich, beherrsche didi, verstelle dich. 3 C131J 204. Für die bisweilen sichtbar werdende Verdüsterung der Welt giebt es folgende Veranlassung: e r s t e n s die Kreuzung der Culturen, aus welcher viel Häßlichkeit entsteht; der beständige Anblick des Häßlidien macht düster: z w e i t e n s die moralische Phantastik des Christenthums, welche den menschlichen Handlungen nur die bösen Prädikate gelassen hat und eine Verherrlichung von Leben, Menschen, Handlungen eigentlich unmöglich machen wollte; wenn man niemals verherrlichen darf, wird man düster; d r i t t e n s das Barbarische und Thierhafte, das uns zeitlich noch nicht fern genug liegt; v i e r t e n s die Angst vor dem Individuellen und die Beargwöhnung desselben, weil die Gesellschaft ihrer selber nidit mehr sicher ist; f ü n f t e n s die Angst vor dem Natürlichen, welche an die Stelle der früheren Angst vor der Natur getreten ist; s e c h s t e n s die Vergleichung des Lebens mit imaginären Seligkeiten, von denen das Christenthum und die Dichter gesprochen haben; s i e b e n t e n s das übertriebene Gefühl der Verantwortlichkeit, welches alle indifferenten, kleinen und harmlosen Dinge wegstreicht und in jedem Falle so
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gehandelt wissen will, daß man damit einem Ankläger Stand halten kann. 3tI32]
20j. Hat die Moral den Menschen wirklich mehr Glück oder Unglück gegeben? Und selbst, wenn man an Stelle von Glück „mehr Schmerzlosigkeit und geringere Schmerzen" setzt, kann man noch zweifelhaft bleiben; sie ist das Erzeugniß jener Zeiten, wo, dem Andern mit That und Urtheil wehe zu thun, eine viel größere Befriedigung brachte, als ihm eben damit wohl zu thun: die Zeit, wo man an böse Gottheiten glaubte. Die Freude an dem Wehethun durch moralische Urtheile stärkte immer den Hang zu schädlichen und grausamen Handlungen und wurde so selber die Veranlassung größeren Wehes, als das moralische Urtheil zu thun vermag. 3[i33] 206. Den moralischen und den religiösen Urtheilen ist gemeinsam: e r s t e n s der Glaube, die Erkenntniß der menschlidien Natur und des menschlichen Innern zu besitzen; z w e i t e n s beide leugnen es, nur einen lokalen und relativen Werth zu haben: wo sie auch nur erscheinen, so benehmen sie sidi als absolute, allzeitlich gültige Urtheile; d r i t t e n s beide glauben an Zugänge zur Erkenntniß, welche verschieden von denen sind, die die Wissenschaft kennt; v i e r t e n s beide imaginiren Wesen, die nicht existiren, die religiösen Urtheile Götter, die moralischen Urtheile gute und böse Menschen und dergleichen; f ü n f t e n s beide hassen die Untersuchung und sprechen von Schamlosigkeit und Schlimmerem, wenn man sie nackt sehen will; s e c h s t e n s s i e sind einander selber gemeinsam, sie haben sich mit einander verbunden, um sich zu stützen, und trennt man sie, so doch nie vollständig: die einen leben in den anderen weiter.
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3ÜI34] 207. Höflich (hübsch), gentile, edel, vornehm, noble, genereux, courtoisie, gentleman — dies bezeichnet die Eigenschaften, welche man an der obersten Kaste wahrnahm und nachahmte; somit stammt ein guter Theil der Moralität wahrscheinlich aus 5 den Instinkten d i e s e r Klasse, als aus dem persönlichen Stolz und der Lust am Gehorsam gegen einen Chef, der Auszeichnung verleiht; sie verachten nach unten hin, sie achten nach oben hin und bei ihres Gleichen, sie verlangen selber aber von aller Welt (Ober-, Mittel- und Unterwelt) Achtung, sie gebärden sich als 10 die bessere Hälfte der Menschheit. Dagegen bedeutete im Deutschen der schlichte Mann ehemals den schlechten Mann: so weit gieng das Mißtrauen gegen den, welcher nicht die künstlicheren Gebärden und Ausdrücke der guten Gesellschaft besaß. 3Ci35] 208. Das Christenthum (und nicht nur die katholische Kirche) 15 fährt fort, sich zu stellen, als ob es alles forderte, aber es ist sehr zufrieden, sehr dankbar, wenn es nur e t w a s erhält. In dieser Genügsamkeit ist jetzt auch der beste Christ, nach christlichem Maaße gemessen, schlimmer als ein Heide; er will weder f ü r seinen Glauben leben, noch m i t seinem Glauben sterben; 20 er ist zufrieden, wenn man ihnen beiden ein Almosen giebt. 3CI36] 209. Stark empfinden, eine starke Empfindung lange anhalten lassen können und auf Einer Saite viele Melodien spielen — das macht die großen Pathetiker unter den großen Schriftstellern, zu denen auch Schopenhauer gehört: sie unterscheiden sich von 15 den Philosophen, ob sich schon Schopenhauer zu diesen rechnete: sie wollen nämlich nicht um jeden Preis erkennen, sonder um jeden Preis i h r Lied singen.
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3 Ε137] 210. Das Christenthum ist aus dem Judenthum h e r v o r g e g a n g e n und aus nichts Anderem, aber es ist in die römische Welt hineingewachsen und hat Früchte hervorgetrieben, welche sowohl jüdisch als römisch sind. Dieses gekreuzte Christenthum hat im Katholicismus eine Form gefunden, bei der das römische Element zum Übergewicht gekommen ist: und im Protestantismus eine andere, bei der das jüdische Element vorherrscht; dies liegt nicht daran, daß die Germanen, die Träger der protestantischen Gesinnung, den Juden verwandter sind, sondern daß sie den Römern ferner stehen, als die katholische Bevölkerung SüdEuropas. 3[i38] _ 2 1 1 . Die moralischen Vorstellungen sind Genußmittel und Würzen, um derentwillen wir die nöthigen Handlungen leiditer thun; ohne sie wären uns diese Handlungen widerlich oder langweilig. 3l>3 9] 212. N i c h t an den Anderen denken, alles strengstens um seiner selber willen thun ist auch eine hohe Moralität. Der Mensch hat so viel für sich zu thun, daß er immer fahrlässig ist, wenn er etwas für Andere thut. Weil so viel für Andere gethan wird, deshalb sieht die Welt so unvollkommen aus. 3[i40] 213. Ist nicht unsere Denkfreigeisterei als ein übertriebenes einseitiges Handeln aufzufassen, dem das Gegengewicht abhanden gekommen ist? Wird nicht auch der Künstler häufig durch sein künstlerisches Schaffen aus seinem Centrum geworfen? Sind nicht Sich-verhehlen, Sich-vergessen, Sich-verleugnen die Gefahren des fruchtbaren Einsamen?
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3[i4i] 214. Es ist selten, daß Einer, der berühmt geworden ist, nicht eben dadurch feige und närrisch geworden ist; die Anhänger als Masse hängen sich immer an seine Schwächen und Übertriebenheiten und haben leichtes Spiel, ihn zu überreden, daß hier seine Tugend, seine Bestimmung zu sehen sei. Ist jemals ein großer Mann von seinen Zeitgenossen darin erkannt worden, worin er groß ist? ist jemals ein berühmter Mann der Feind seiner Anhänger gewesen? — Schopenhauer war zum Narren seines Ruhmes geworden, bevor er ihn hatte. 3[142] 218. Die größte Masse des Bösen wird aus Schwäche und Krankheit gethan, um sich das Gefühl der Überlegenheit zu schaffen (durch Wehethun), zum Ersatz des physischen Kraftgefühles. Schwädie und Krankheit aber haben ihre Wurzeln zumeist in der Unkenntniß. 3 C I 43Ü 219. Wenn uns die Freude der Anderen wehe thut, zum Beispiel wenn wir uns in tiefer Trauer befinden, so verhindern wir diese Freude, wir verbieten dann zum Beispiel den Kindern das Lachen. Sind wir dagegen froh, so ist uns der Schmerz der Anderen peinlich. Was ist denn Sympathie? 3[i44] 220. Die Gleichheit läßt das Glück der Einzelnen abnehmen, aber bahnt den Weg zur Schmerzlosigkeit Aller. A m Ende ihres Zieles stünde freilich neben der Schmerzlosigkeit audi die Glückslosigkeit. 3[i45] 221. Die Lüge und die Verstellung, welche innerhalb der Gemeinde groß gezüchtet werden, zur Herstellung der Gleichheit,
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ergeben zuletzt einen freien Uberschuß, der sich in der Erzeugung von Diditern und Schauspielern entladet. Man denke, welche Lust eine Gemeinde an der Aufschneiderei, Schimpferei, Taschenspielerei und ähnlichen Urkünsten hat. 3[i46] 22 6. Die Vaterlandsliebe nimmt ab, wenn das Vaterland aufhört, unglücklich zu sein. 3 [ M 7]
227. Die Fanatiker haben zwar keine moralischen, wohl aber intellektuelle Gewissensbisse; sie nehmen an allen Andersdenkenden dafür Rache, daß sie selbst im Grunde und heimlich und unter ingrimmigem Schmerzgefühl — anders denken. 3[i4»] 228. Die Natur benutzt das Gehirn, um dem Unterleibe eine Funktion zu erleichtern und umgekehrt. 3[i49]
229. Es giebt keine unmittelbare instinktive Furcht vor dem Tode; man flieht vor dem Schmerz, der an der Pforte des Todes steht, vor dem Unbekannten, zu dem der Tod führt und das er selber ist; man will sich noch oft freuen, deshalb will man leben, deshalb erträgt man auch das Leiden. Auch der Selbsterhaltungstrieb ist ein Stück Mythologie. 3[iJ°]
230. Hier sind Menschen, welche alle Welt mit Musik trunken machen möchten und vermeinen, dann käme die Cultur; bisher aber kam auf die Trunkenheit immerdar etwas Anderes, als die Cultur.
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3[iJi] 232. Das Glück liegt in der Zunahme der Originalität, weshalb andere Zeiten als die unsere reichlicher davon gehabt haben mögen. — Die Wissenschaft ist das Mittel, die N o t w e n d i g k e i t der Erziehung zur Originalität zu beweisen. — Wenn das Herkommen und das cosi fan tutti die Moralität ausmachen, so ist diese der Hemmschuh des Glücks. — Die Lehre, daß die Moralität das redite Mittel zur Schmerzlosigkeit des Lebens sei, ist gewiß das Produkt sehr schmerzlicher Zeiten. — Wenn die Originalität tyrannisiren will, so legt sie die Hand an ihr eigenes Lebensprincip. — Freude an fremder Originalität haben, ohne der A f f e derselben zu werden, wird vielleicht einmal das Zeichen einer neuen Cultur sein. 3[i52] 233. Keine Mythologie hat schädlichere Folgen gehabt, als die, welche von der Knechtschaft der Seele unter dem Körper spricht. 3[iJ3] 237. Die Moralität wirkt malerisch, wenn sie lange durch Unmoralität aufgestaut war. 3 C15 4 J 238. Der Intellekt der jetzigen Menschen reichte wohl aus, um aus einem Chaos ein geordnetes Sonnensystem herzustellen, aber es fehlt ihm vielleicht die dazu nöthige Zeit und vor allem das Chaos; sicherlich wäre die Welt unendlich weiter, wenn der menschliche Intellekt an Stelle des Zufalls hätte schalten und walten dürfen, auch hätte er Milliarden von Jahren gespart. 3 C15 5 ü 240. Wer sich jetzt auf die Sitte beruft, als den Grund seiner Handlungsweise, sagt beinahe: idi bin abergläubisch, oder: idi bin tolerant, — aber ehemals hieß es: ich bin klug und gut.
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3[i*6] 241. Das Ziel der christlichen Moralität ist nicht das irdische Glück, sondern die irdische Unseligkeit. Das Ziel des praktischen Christen, der in der Welt steht, ist nicht der Welterfolg, sondern das Nicht-mehr-handeln-müssen oder sogar der Mißerfolg. Jene Unseligkeit und diese Mißerfolge sind die Mittel und Stufen zur Entweltlichung. Giebt es noch Christenthum? Es scheint, es ist schon am Ziele seiner Entweltlichung, nämlich zur Welt hinaus. Aber es hat, bevor es schied, an die Wand seine Schrift gemalt, und diese ist noch nicht verschwunden: die Welt ist verächtlich, die Welt ist böse, die Welt ist das Verderben. 3[iJ7] 242. Es vollzieht sich eine Reduktion des Gefühls von Moral: alle Faktoren dieses Gefühls, welche aus Einbildungen stammen, aus Verehrungen, wo nichts zu verehren war, aus Anhäufung der Achtung, weil die Kritik gegen das Geachtete fehlte, aus der nachbarlichen Dämmerung der Religion — alles dies wird allmählich subtrahirt werden und das Resultat wird sein, daß die Verbindlichkeit der Moral für die Thörichten abnimmt. Daraus ergiebt sidi die Aufgabe, mit allen Kräften danach zu streben, daß die Thörichten abnehmen. 3[I*8] 243. Gewiß ist unsere gegenwärtige Bildung etwas Erbärmlidies, eine faulriechende Sdiüssel, in der lauter geschmacklose Brocken durch einander schwimmen, Brocken von Christenthum, von Wissen, von der Kunst, an denen sich nicht einmal Hunde satt essen könnten. Aber die Mittel gegen diese Bildung etwas aufzustellen, sind kaum weniger erbärmlich, nämlich christlicher Fanatismus oder wissenschaftlicher Fanatismus oder künstlerischer Fanatismus von Leuten, die kaum auf ihren Beinen stehen können, es ist, als ob man einen Mangel durch ein Laster curiren wolle. In Wahrheit erscheint aber die gegenwärtige
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Bildung erbärmlich, weil eine große Aufgabe vor ihr am Horizont aufgestiegen ist, nämlich die Revision aller Werthschätzungen; dazu bedarf es aber, noch bevor die sämmtlichen Dinge auf die Wage gelegt werden, der Wage selber — ich meine jene 5 höchste Billigkeit der höchsten Intelligenz, welche im Fanatismus ihren Todfeind und in der jetzigen „allseitigen Bildung" ihren Affen und Vortänzer hat. 3[iJ9] 245. Wenn wir überall, wo der Christ sich seinen Gott wirkend denkt, den Zufall an die Stelle Gottes setzen, so bekommt 10 man einen Uberblick, wie sehr der Christ in der Summe seines Handelns die Welt entgeistet und dem Zufall wieder preisgiebt (zum Beispiel wenn er in Krankheiten den Arzt ablehnt). Die Religionen haben das Reich des Zufalls v e r l ä n g e r t , das heißt dem Geiste seine Zeit und Kraft beschränkt. — So lange 15 wir moralisch handeln, lassen wir den Zufall, daß wir in diesem Lande geboren sind und diese Menschen um uns haben, zum Gesetz über uns werden und entziehen uns dem Geiste, welcher nur das individuelle Beste sucht. 3[I6O] 246. Wir Fliegen von einem Tage wollen nicht allzugefährlich 20 und ängstlich mit unsern Gedanken thun; man kann ja mit ihnen nicht mehr die Seele eines Andern in ewige Gefahr bringen, — was das Mittelalter glaubte. Das Princip der Gedankenund Preßfreiheit ruht auf dem Unglauben an die Unsterblichkeit. 3[i6I] •2J 247. Welches audi immer die Stufe der Gesittung, die Lage der Gesellschaft, der Grad der Erkenntniß sei: für das Individuum ist immer dabei eine Art g l ü c k l i c h e n Lebens möglich, — das wollen ihm die Religion und die Moral aus der Nähe zeigen
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und anempfehlen. Ob das Gefühl des Glücks und die Unvermischtheit desselben mit Leid wirklich w ä c h s t mit Zunahme der Erkenntniß, Verbesserung der gesellschaftlichen Lage, Erleichterung des Lebens, ist zu bezweifeln, denn es gehen bei diesem Wachsthum immer Kräfte verloren oder werden schwach, denen man ehemals das Glücksgefühl vornehmlich dankte: die Sicherheit und die Verlängerung des Lebens, worauf sich unsere moderne Welt als ihre Errungenschaften so viel zu Gute thut, sind vielleicht durch A b n a h m e d e s G l ü c k s g e f ü h l s als durch Zunahme erkauft worden. Die Cultur u m d e s G l ü c k s d e r E i n z e l n e n w i l l e n fördern — das wäre demnach eine sehr zweifelhafte und vielleicht thörichte Sache! — aber sind wir einmal irgendwie im Glück, so k ö n n e n w i r g a r n i c h t a n d e r s als die Cultur fördern! Das neue hohe Vertrauen auf uns, die Befriedigung an unserer Kraft, das Aufhören der Furcht vor Anderen, das Verlangen nach ihrer Nähe, der Ringkampf mit ihnen im Guten, der Uberschuß an Vermögen, Werkzeugen, Kindern, Dienern, dessen wir bewußt werden, — in summa: jede Art von Glücksgefühl treibt uns in die Bahnen der höheren Cultur und in ihnen vorwärts. Noth dagegen bildet uns zurück, macht uns defensiv, argwöhnisch, in der Sitte abergläubisch und überstreng. Die Cultur ist eine allmähliche F o l g e v o m G l ü c k z a h l l o s e r E i n z e l n e r , nicht die Absicht dieser Einzelnen! — Je individueller der Einzelne wird, um so produktiver für die Cultur wird sein Glück sein, selbst wenn dessen Zeitdauer kürzer und dessen Intensität geringer und gebrochener sein sollte, als das Glück auf niedrigeren Culturstufen. Wenn man die Förderung der Cultur dem Glücklichen versagen wollte, um das Glück im Allgemeinen auf einem hohen Grade zu erhalten, so wäre das so thöricht als dem Seidenwurme das Spinnen zu verbieten um des Glücks der Seidenwürmer willen. Was h a t man denn vom Glück jeder Art, wenn nicht eben aus ihm etwas zum Besten der Cultur thun zu müssen? — Glück ist gar n i c h t zu erhalten weder hoch, noch
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niedrig, wenn man seine n o t w e n d i g e n Ä u ß e r u n g e n unterbinden wollte. Also: die Cultur ist die Ä u ß e r u n g d e s Glücks.
248. Die Entstehung des kategorischen Imperativs ist nichts Erhebliches. Gewiß wollen die Meisten einen unbedingten Befehl, ein unbedingtes Gebot lieber als etwas Bedingtes: das Unbedingte erlaubt ihnen, den Intellekt aus dem Spiele zu lassen und ist ihrer Faulheit gemäßer; häufig entspricht es audi einem gewissen Hange zur Hartnäckigkeit und gefällt den Personen, welche sich ihres Charakters rühmen. Uberhaupt gehört es in den Bereich des blinden militärischen Gehorsams, zu welchem die Menschen durch ihre Fürsten gezüditet worden sind: sie glauben, daß es mehr Ordnung und Sicherheit giebt, wenn der Eine absolut herrscht, der Andere absolut gehorcht. So will man auch, daß der moralische Imperativ kategorisch sei, weil man meint, daß er so der Moralität am nützlichsten sei. Man will den kategorischen Imperativ: das heißt, es soll ein absoluter Herr durch den Willen Vieler geschaffen werden, welche sich vor sich und vor einander fürchten: er soll eine moralische Diktatur ausüben. Hätte man jene Furcht nicht, so hätte man keinen solchen Herrn nöthig. 3[i63] . 249. Die Werke des deutschen Genie's halten sich nicht, wenn sie in's Ausland kommen: sie müssen wie die italiänischen Weine an Ort und Stelle getrunken werden. 3[i64]
250. Es ist die europäische A r t des moralischen Idealismus, sich die moralischen Vorstellungen so hoch und so fein auszudichten, daß, wenn der Mensch von ihnen aus auf sein Handeln zurückblickt, er sich gedemüthigt fühlt. Diese A r t Idealismus verträgt
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mit
einem
gewinnsüchtigen,
431 rücksichtslosen,
ehrgeizigen Leben, die Minute der Demuth ist Abschlagszahlung f ü r ein Leben, welches mit jenem Idealismus nichts zu thun hat. 3[iij] 251.
Was haben die Philosophen vom Glücke derer phantasirt,
welche die Welt überwunden haben! Welche Wunder hat sich Schopenhauer über jenen Zustand eingeredet, w o der Mensch nicht mehr v o n seiner Geschlechtlichkeit incommodirt wird.
3[i66] 253.
Geistesgegenwart: das heißt die Fähigkeit sich seine W o r -
te und Handlungen durch die Umstände diktiren ( z u ) lassen, — ist also eine Fähigkeit zu lügen und zu heucheln. 3[167] 254.
Wenn die Lüge zu unserm Charakter stimmt, lügen wir
am besten. 3 [x68]
2 j 7.
E s gab Götter, die das Unglück wollten, andere, die vor
Unglück schützten, noch andere, die im Unglück trösteten. 3[i69] 259.
W o die Moralität am größten ist, da geht der Intellekt
zu Grunde. D i e Voraussetzung, daß der Nachbar uns betrügt, w o er kann, hält unsern K o p f in Spannung, und dies kann wie in italiänischen Städten mit Schelmerei geschehen, ohne daß w i r dem Nachbar gram sind. 3[170] 260.
Die Ehrlichkeit verlangt, daß man anstatt der unbestimm-
ten moralischen Worte von edlem Klange, wie sie üblich sind, nur die erkennbaren und in der Mischung überwiegenden Ele-
432
Nachgelassene Fragmente
mente bei Namen nenne, trotz dem Fehler der UnVollständigkeit und trotz dem, daß diese überwiegenden Elemente bisher einen bösen Klang hatten; aber wenigstens wird so ein falscher Heiligenschein zerstört. Man soll ein Ding a potiori nennen, und nicht a nihilo. 3[i7i] 261. Wie soll man handeln? So, daß der Einzelne möglichst erhalten bleibt? Oder so, daß die Rasse möglichst erhalten bleibt? Oder so, daß durch unsere Rasse eine andere Rasse möglichst erhalten bleibt? Oder so, daß möglidist viel Leben erhalten bleibt? Oder so, daß die höchsten Gattungen des Lebens erhalten bleiben? 3[i72] 262. Die vollkommene Moralität ist die der Gerechtigkeit, welche jedem Ding das Seine giebt und nichts von Lohn, Strafe, Lob und Tadel weiß. In jeder ganzen Erkenntniß vollzieht sich diese vollkommene Moralität, jede Übung der Erkenntniß ist eine Übung dieser Moralität, und wenn sich selbst die Erkenntniß mit der gefährlichsten Kritik der moralischen Handlungen abgiebt, so ist sie dennoch ferne davon, dieselbe zu untergraben. Im Augenblick, da eine Erkenntniß zu Stande kommt, ist der Erkennende moralisch absolut vollkommen, an einer mangelhaften Erkenntniß sind gewöhnlich moralische Fehler mitbetheiligt, wie Ungeduld, Ungerechtigkeit, Neid, Hochmuth. — Aber verbergen wir es uns nicht: es giebt keine anderen als mangelhafte Erkenntnisse!
[4 = Ν V 3.
Sommer 1880]
4[ι] 26}. Das Volk oder richtiger die wenigen Leute, welche sich an den Theaterbesuch gewöhnt haben, nehmen es als Mährchen, und geben die feierlichste Versicherung, es sei nichts Geringeres als Mythus, und alles Ernst, und nicht ohne philosophische Geheimnisse 4M 264. Man verlangt von der Musik, sie solle m ä h r c h e n h a f t seltsam unverständlich sein: wovon frühere Zeiten gar keine Vorstellung hatten. Ja festlich lustig gesellig innig feierlich! aber
4[3] 265. Jede Zeit hat ihren Erzähler von Tausend und Einer Nacht. Unserer ist jetzt Wagner; es sind Dinge, die man nicht glaubt, nicht für möglich hält—aber sehr gern einmal im Theater sieht, als wären sie wahr.
4[4] 4[5]
Die moralischen WAS ZU
Vorurtheile.
VERLERNEN
IST.
4[«]
2. Alle Fortschritte der Individuen werden durch den Zufall der Ehen wieder unnütz gemacht, deshalb ist es mit der Menschheit nichts. Und Gott soll die Ehen schließen!
4 [7] .
7. Die Illusionen haben den Menschen auch B e d ü r f n i s s e angezüditet, welche die Wahrheit n i c h t befriedigen kann.
434
Nachgelassene Fragmente
4[8] Byron sagt „hätte Coleridge sein schönes Talent nicht mit transcendentaler Philosophie und deutscher Metaphysik v e r d o r b e n , so würde er der größte Dichter seiner Zeit geworden sein" 4 [9] 10. Die moralischen Vorschriften werden in gebildeten Zeiten immer unbestimmter, wie audi die Gottesvorstellung immer blasser wird. Es wird der Moral immer mehr Gebiet entrissen (überall w o der Erfolg controlirbar wird und die Erkenntniß eintritt, hört der moralische Maaßstab auf) Da flüchtet die Moral in's „Ideale" usw. 4[io] 11.
Wie viel Illusion der Mensch zum Wohlleben nöthig hat!
4[n] 12. Wo man nicht mehr versteht, wird man feierlich. Dies kam der Moral zu Gute.
4["]# W i e soll man handeln? W o z u soll man handeln? Aber je höher hinauf, um so w i l l k ü r l i c h e r wird die Entscheidung: um so mehr muß sie künstlich autoritativ g e m a c h t werden. Zwecke und Mittel pathetisch machen, je weniger sie an sich klar sind. 4[i3] 21. Der Beweis für die Sitten liegt nicht in ihren Folgen, sondern in den Zufällen, weldie eine Gemeinde treffen. Wenn Unglück sie trifft, glauben sie entweder Verstöße gemacht zu haben, oder neue Sitten sich angewöhnen zu müssen.
Sommer 1880 4[8—17]
435
4[i4] 23. Gegen den, der außerhalb der Gemeinde ist, giebt es keine Sitte. Hier tritt Furcht vor dem Individuum, Mitleid mit dem Individuum auf. Innerhalb der Gemeinde ist der Leidende nicht Gegenstand des Mitleids, sondern des Argwohns, er hat sich wohl versündigt. Krankheit ist dämonisch. — Gegen den Feind entsteht das Mitleid auf der Basis der Verachtung, ein nicht-zuFürchtender. 4[IJ] 24. Die Tugend des Buddh(ismus) ist: zu deinem Leid noch fremdes Leid hinzunehmen (während alles voll Leid ist) Die Tugend Christi: die Sündenstrafe auf sich zu nehmen, und die Tugend des Christen, f r e i w i l l i g zu leiden nach seinem Vorbild (nidit Mitleiden —) Dies sind Anfänge der Moral mit dem Zwecke i n d i v i d u e l l e r F o l g e n . Dies der Fortschritt. Der Aberglaube daß sich mit Leiden eine Schuld t i l g e n lasse — ein mysteriöser Vorgang, nicht Abschreckung, nidit Rache, sondern Purgation von der Befleckung. 4[i6] 2$. Jene neue Moral hebt an, wenn die Gemeinde und der Staat nicht mehr in der Furcht vor Feinden leben und die S i t t e n s i c h l o c k e r n , d.h. das Individuum hervortritt, das Unsittliche. Jetzt werden die i n d i v i d u e l l e n F o l g e n in den Vordergrund gerückt, die abergläubischen voran. 4[i7] 28. Zwei Moralen der Individuen a) man lebt, um völlig dem vorschwebenden Typus in der Gemeinde g l e i c h zu werden („wie sein Vater", Sprudi der Spartaner) oder b) man lebt, um sich unter seines Gleichen auszuzeichnen. Im ersten Falle ist das Verschiedensein vom Typus etwas, was als Mangel empfunden wird, und das Ziel ist sdiwer. Im zweiten Falle ist die Gleichheit als leicht erreichbar gedacht, sie giebt noch keine Ehre!
436 4
Nachgelassene Fragmente
[I8]
29. In Deutschland hat man unbändigen Respekt vor ungereiften oder verwilderten Talenten, man nennt sie „Genies", man ist gegen den malerischen Effekt des Geistes sehr empfänglich, es ist der Geschmack für das Wildromantische. Vollendung Anmuth und Freiheit des Geistes werden nicht „genossen" — man spricht da von esprit usw. 4[i9l 30. Der Verrückte der Lahme als L u s t i g m a c h e r . Quixotes schauderhaftes Beispiel. Hephäst im Olymp.
Don
4[*o] 32. Der Werth einer Sache wird gesteigert, wenn die Verehrung sich anhäuft d. h. wenn man den Nutzen einer Sache für das Individuum aus dem Auge verliert und ins Auge faßt, w i e v i e l e n Individuen sie schon genützt hat (oder zu haben scheint) Man traut ihr jetzt mehr Kräfte zu — 4[2I] . . . 33. Die N a i v e t ä t bei den Deutschen! während alle diese verwilderten Talente damit Theater gespielt haben! In Frankreich gieng sie durch den Hof zu Grunde, in Deutschland durch die Genies (selbst Beethoven) 4[22] Das Problem in der Zeit der griechischen Tragödie war: wie konnten diese g r ä ß l i c h e n Dinge eigentlich geschehen, während die Thäter Heroen und keine Verbrecher waren? Dies war die große Übung in der Psychologie Athens. 4[*3] Die Neigung zu scheußlichen Thematen. Nothzucht, Blutschande usw.—woraufhin?
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4 Μ Ungeschickte Gebärden und Worte der Abweisung werden als Beleidigung empfunden, wenn jemand aus dem tiefsten Gefühle reden möchte z.B. „sagen Sie mir keine Complimente" 4[*5l Die Kindesmörderin handelt aus Furcht vor Schande und bringt ihr das größte Opfer. Wenn die Gesellschaft nicht verachtete und schändete, würde das Kind leben bleiben. Adam Bede. 4[26]
Das V e r h e h l e n der That als m o r a l i s c h ursprünglich — der Gesellschaft soll sie aus der Welt geschafft werden: ebenso Verhehlung des Übelthäters. 4[*7] Man kann den Werth der Moralität nur bestimmen indem man sie an etwas m i ß t z.B. am Nutzen (oder Glück); aber audi den Nutzen muß man wieder an etwas messen — immer Relationen — absoluter Werth ist Unsinn. 4 [28]
Die Vernunft als U r s a c h e der moralischen Gefühle — und der Einfluß der moralischen Gefühle a u f die E n t w i c k l u n g der V e r n u n f t ! 4l>9] Die Anrede „mein Herr" zeigt, wie sehr a l l e n Menschen die Unterwerfung schmeichelt und wie jeder vor allem s t o l z und herrschend gedacht werden will. 4[3°] Schopenhauer, so fern der Verneinung, war doch so anständig, sie nie zu heucheln und keinen Putz daraus zu machen; was
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Nachgelassene Fragmente
ehrgeizige Künstler sofort thun, weil sie dadurch einen Vorrang zu gewinnen hoffen. Die Schauspielerei mit asketischen und mirakulösen Stoffen ist schon e i n S t ü c k p e r s ö n l i c h e r Heuchelei.
4[3i] Die Rhetorik eine Kunst wie die Architektur — der Nutzen ist die erste Norm (und sobald sie als Kunst b e w u ß t wirkt, hebt sie die Wirkung ihres Nutzens auf oder stellt ihn in Frage. Oder umgekehrt?) Wir sollen dabei nicht an den Nutzen d e n k e n , aber unvermerkt dazu geführt werden, daß uns genützt werde. N e i n ! Der R h e t o r i k e r und der S c h a u s p i e l e r sind zu vergleichen: i) geht auf eine Wirkung aus 2) stellt eine Wirkung dar. 4[32]
Shakespeare und Aeschylus, die vielartigen Dramatiker, b e u g e n sich vor den einartigen höheren Mensdien, den Dichtern ihrer Zeit. Goethe beugt sich vor Shakespeare — n i c h t vor dem Theater-Dichter, sondern, als Anhänger Rousseaus, vor der N a t u r - U n e n d l i c h k e i t in ihm. Es ist ein Zeitgeschmack.
4t33] A d i der menschliche Intellekt! A d i „Genie"! Es ist nicht so gar viel, einen „Faust", eine Schopenhauerische Philosophie, eine Eroica gemacht zu haben!
4[34] G e r e c h t sein — nichts! Alles flüssig! um nur zu s e h e n brauchen wir Flächen, Beschränktheiten!
4[35]
Die Thatsache ist der ewige Fluß. Der Staat bemüht sich,
Sommer 1880 4 [30—41]
439
aus seinen Bürgern etwas von bleibendem Charakter zu machen, die Moral aus jedem Individuum etwas Festes — Das G e d ä c h t n i ß ist die Grundlage für diese anscheinende Festigkeit (von Tag zu Tag, von Generation zu Generation), Verachtung gegen den Wechsel g e l e h r t . 4[3*] Der blinde Maulwurf stammt vom gut sehenden ab — Wirkung der Dunkelheit auf die Sehnerven. 4[3 7] In der Moral ist selbst die Periode der Hypothesen noch nicht dagewesen: sie ist jetzt gut zu heißen; der Umfang der Möglichkeiten, aus denen die Moralität ihre Entstehung haben k ö n n t e , ist jetzt durch Phantasie zu erschöpfen. Ich mache den Anfang; sehr skeptisch! 4Ü38] Irgendwann einmal wird „ V e r e r b u n g " eben auch als Schlupfwinkel der Unklarheit und der Mythologie gelten: einstweilen ist es nodi etwas. 4[39] Die Art, wie der M(ensch) von seinen Mitm(enschen) im Geiste a b h ä n g t , ist sehr p a r a d o x und gar nidit so von selber einleuchtend. 4 [40] Goethe that sich etwas darauf zu Gute, was für Mühe nöthig gewesen sei, um gegen Voltaires Naturauffassung Stand zu halten. — Es war ein Irrthum, und es bezeichnet die R e a k t i o n . 4[4i]_ Die Huldigung des Genies vor der Güte bei Schopenhauer war eine sdiöne Attitüde.
440
Nachgelassene Fragmente
4[4*] Der Mensdi, erstaunlich furchtsam, versucht nur nothgedrungen etwas Neues. Gelingt es, so wiederholt er es, bis es eine Sitte wird und spricht es heilig. 4[43]
Werden die Contemplation die Thätigen nicht nothwendig mißverstehen? Ist viel Erkenntniß also von ihnen in Betreff der Geschichte zu erwarten? Aber es giebt z u r ü c k g e k o m m e n e T h ä t i g e : deren Sache ist dies. 4C44] Das höchste Glück, wie es Plato und Aristoteles erkannten, ist n i c h t in der intuitiven Erkenntniß (Genialität Schopenhauer's), sondern der thätige dialektische Verstand ist die Quelle dieses Glücks — Übrigens sind es subjektive Urtheile, daß hierin das größte Glück liege — aber für solche Subjekte danke ich. 4C45]
Menschen, die in der Einsamkeit leben, quälen sich oft erstaunlich über ihren Charakter: aber nidit der Charakter, sondern die Einsamkeit ist (es), woran sie leiden. Wer dies nicht hinnehmen will, der gehe in den Strom der Welt zurück, wo man „seinen Charakter bildet": während die Einsamkeit ihn verzehrt. — Man gewöhne sich an den Verkehr mit den Todten: dies erhält den Charakter. Nein, man soll sich mit g e b i l d e t e m C h a r a k t e r erst in die Einsamkeit begeben — nicht zu früh! 4 [46]
Auf die Welt verzichten, o h n e sie zu kennen, wie eine Nonne — dies giebt eine unfruchtbare Einsamkeit, vielleicht eine schwermüthige, entsagende — aber vita contemplativa soll
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nidits von Entsagung haben, sondern von solchen Naturen gewählt werden, denen die vita practica eine Entsagung wäre, Entsagung von sich selber. Zuletzt braucht die vita contemplativa nicht e i n s a m zu sein: selbst als Ehe denkbar. 4 [47] Jemand der starken Kafee getrunken hat, sieht nicht nur im Spiegel gesehen lebhafter aus, sondern er sieht auch sein Bild lebhafter an (sieht mehr als sonst davon) 4[48] Sich vor einem Gotte hinwerfen, sich ganz in seine Gnade begeben, noch über sein Almosen überselig zu sein, einem Hunde gleich ihn umwedeln — das hat als h ö c h s t e A u f g a b e des Menschen gegolten! Dadurch ist die L i e b e als Μ ο r a 1 ρ r i η c i ρ für alle Zeiten etwas verdächtig geworden. Was ehemals einem Gotte gegeben wurde, das jetzt einem Genie, einem Fürsten; einem Weibe 4 [49] Richard Wagner trägt für mich — zu viel falsche Diamanten. 4[50] Nicht das unegoistische Handeln ist (durch Vergessen) aus Vererbung entstanden, sondern das fortwährende D e n k e n a n A n d e r e als Maaß unserer Handlungen. 4[ji] Wir thun so vieles um der Andern Willen, fast Alles, daß die Handlungen, bei welchen wir einzig an uns denken, Ausnahme sind: die E g o i s t e n sind die größte Ausnahme.
442
Nachgelassene Fragmente
4[52] Auch die (chinesische) Tugend der Höflichkeit ist eine Folge des Gedankens: ich thue den Anderen wohl, w e i l es mir so zu Gute kommt — doch so daß dies W e i l vergessen worden ist. N i c h t aber entsteht Wohlwollen auf dem angegebenen Wege durch Vergessen. — Aber Höflichkeit ist doch sehr benachbart. Die Chinesen haben die Familienempfindung d u r c h g e f ü h r t (Kinder ζ u den Eltern), die Römer mehr die der Väter zu der Familie (Pflicht 4[53] κρεΐττον τ'άγαθόν αληθείας, sagen die Neuplatoniker, d.h. nützlicher ist das Nützliche als die Wahrheit — natürlich. Wenn die Erhaltung und Förderung des Glückes die letzte Aufgabe ist, da mag die Wahrheit zusehn, wie sie dem Irrthum im Wettstreit Stand hält. Zuletzt aber wird sich die Menschheit auf die Wahrheit e i n r i c h t e n müssen, wie sie sich auf die Natur einrichtet, obwohl eine Allgegenwart liebevoller Mächte ein a n g e n e h m e r e r Glaube gewesen sein mag. Dann wird viel trüglidie Hoffnung und also viel Enttäuschung w e n i g e r sein, und der Anlaß zum T r ö s t e n seltener als jetzt. 4C54] Die Philosophen jetzt als Dekorationskünstler der Wissenschaft, sie arrangiren effektvoller (die) Natur. 4[5J] Grundsätze: es giebt in der Natur keine Zwecke, es giebt keinen Geist außer bei Menschen und menschenartigen Wesen, es giebt keine Wunder und keine Vorsehung, es giebt keinen Schöpfer, keinen Gesetzgeber, keine Schuld, keine Strafe. 4[j6] Luther läugnet daß Gott Gefallen haben könne an den „ge-
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443
rühmten geistlichen Werken der Heiligen" — etwas boshaft. Nur an den io Geboten.
4[J7] (Baum(ann) 243) Luther: etwas haben, dem das menschliche Herz in Allem t r a u e n könne d. h. einen G o t t haben. Nach Thomas Aquinas braucht der Mensch wegen der Mängel, die er fühlt, einen Höheren, dem er sich unterordnet, und der ihm helfen und leiten kann: Gott. — Beide meinen es müsse einen Gott geben, weil die Menschen ihn n ö t h i g h a b e n . So auch Fräulein v(on) M(eysenbug), es wäre das Leben nicht auszuhalten, wenn alles nur eine letzte physische Bedeutung hätte. In Wahrheit ist es umgekehrt: weil man an Gott oder an die ethische Bedeutung des Daseins gewöhnt ist zu glauben, vermeint man, „der Mensch" habe sie nöthig, es sei sonst nicht zu leben möglich. — Übrigens ergäben sich daraus höchstens „ η ο t h wendige Vorstellungen" — erst wäre ein Gott oder die ethische Bedeutung des Daseins damit nöthig. 4[5δ] Unter den c o n t e m p l a t i v e n Naturen haben 1) die religiösen am stärksten gewirkt, den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen 2) die Künstler sind gewöhnlich unerträglich als Personen, und dies ist vom Gewinn ihrer Werke abzuziehen 3) die Philosophen waren etwas von beider Art und noch dazu gemischt das Dialektische, wodurch sie langweilig wurden für die Praktiker 4) die Denker 4 [59] Luther ließ seine Wuth gegen die vita contemplativa aus, nachdem ihm das Mönchsleben mißrathen war und er sich zum Heiligen unfähig fühlte, rachsüchtig und rechthaberisch, wie er war, trat er auf die Seite der vita practica, der Ackerbauer und Schmiede.
444
Nachgelassene Fragmente
4[6O]
Ich glaube daß viele von uns, wenn sie mit ihren enthaltsamen mäßigen Sitten ihrer Sanftmuth ihrem Sinn fürs Redite in die Halbbarbarei des 6.—10. Jahrhunderts versetzt würden, als Heilige verehrt würden. 4[6I]
Ach die t i e f e E r n i e d r i g u n g , die mich ergreift, wenn ich die Badegesellschaft sprechen höre, oder in einen Speisesaal junger Männer trete, oder eine Zeitung in die Hand nehme. 4[6z]
Nehmen wir an, daß ein guter Arzt unter Wilde käme, und ließe sich das Zauberer-Wesen gefallen, um wie viel wäre er allen Zauberern überlegen! Ebenso jeder gute Historiker jetzt jedem Propheten! 4[*3] Zwecke sind meistens ungewollte, aber sehr erwünschte Ergebnisse, mit denen wir nachträglich unsere Handlungsweise vor der Vernunft rechtfertigen. 4[«4] Etwas, das seit langem besteht, nicht zu Grunde gehen lassen — eine vorsichtige Praxis, weil alles Wadisthum so langsam ist und selbst der Boden so selten günstig zum Pflanzen. Die bestehenden Kräfte u m b i e g e n zu anderen Wirkungen! 4[6j] Theatralische Musik ( — nicht „dramatische Musik") richtet den Geschmack an der Musik zu Grunde, wie das Theater selber die Freude an der Poesie beeinträchtigt (es fehlt Einsamkeit Natur, wirkliches Leben um uns, es ist ein Luxus und eine Versammlung der Müssiggänger, stimmungslos.
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445
4 [66] Der gemischte u n r e i n e Charakter der Künstler: ehrgeizig und rücksichtslos, in wüthender Rivalität gegen alles, was Ansehen hat, ja selber gegen alles, was tüchtig und achtungswerth ist, und in den Mitteln ohne Bedenken, verleumderisch tückisch — ganz N a p o l e o n , aber man fühlt sich bei i h m in ehrlicher Luft, weil er weiß, was er will und sich nichts über sich vormadit. Die Spekulation auf die Massen, auf die Enthusiasten jeder Art, diese Furcht vor dem Geiste und der moralist(ischen) Wissenschaft (Napoleon litt nicht daß von de Tracy und Cabanis in irgendeinem Sinne geredet wurde) — alles, was die Instinkte der besten Anhänger, der Fanatiker verletzen würde, wird herausgewittert und verunglimpft, als Gegenstand des Hasses selbst im M o t i v d e r K u n s t noch gebrandmarkt, und umgekehrt: der Fanatismus die todwüthende Liebe d u r c h d i e K u n s t gepredigt. Im eignen Leben völlig bequem, bekennt man sich zu den extremsten fanatischen T u g e n d e n (wie Keusdiheit Heiligkeit unbedingte Treue) — so wird alles eine Schule des Fanatismus, Kunst, Ansichten, Anhänger. [67] Alle Moralen und Gesetze gehen darauf aus, G e w o h n h e i t e n anzupflanzen d. h. für sehr viele Handlungen die Frage nach dem Warum? aufzuheben, so daß sie instinktiv gethan werden. Dies ist auf die Dauer eine große B e e i n t r ä c h t i g u n g d e r V e r n u n f t . Sodann ist „Handeln aus Gewohnheit" ein Handeln aus Bequemlichkeit, auf den nächsten Impuls hin, zugleich eine Furcht vor dem Ungewöhnlichen, vor dem, was die Andern thun, e i n e B e e i n t r ä c h t i g u n g d e s I n d i v i d u u m s . Eine Rasse mit starken Instinkten züchten — das will eine Moral. 4
446 4
Nachgelassene Fragmente
[68]
„Moralische Gefühle" sagen die Deutschen, „moralische Urtheile" die Engländer. „Mitleid" gehört ζ. B. für St. Mill nicht unter die moralischen Phänomene, sondern unter die der „Liebenswürdigkeit", es ist Sache der „Sympathie"; und die großen Stoiker haben sie sogar als unmoralisch bezeichnet. Für die Gefühle giebt es kein „du sollst", sondern nur „ich muß": aber was wird aus der Pflicht, wenn der Mensch sich sagt „dies m u ß ich thun, ob ich es soll oder nicht" „ich k a n n nicht anders". Dies bewundert der Deutsche z.B. an Luther: n i c h t , wie einer sich u n t e r e i n G e s e t z zwingt, beugt, sondern wie einer t r o t z allem Gebot und Verbot s i c h selber treu ist, d. h. man b e w u n d e r t in Deutschland das i n d i v i d u e l l e Handeln, wohl weil es dem furchtsamen und gehorsamen Deutschen so selten ist. 4 [69] Wenn ich sage: „diesen Menschen mag ich, mit ihm sympathisire ich", so soll das nach Schopenhauer moralisch sein! Und wieder die Antipathie das Unmoralische — als ob nicht aus d e m s e l b e n Grunde einer für diesen sympathisch, für den anderen antipathisch empfände! So wäre der Moralische nothwendigerweise unmoralisch! — Vielmehr hat man Sympathieund Antipathie-haben n i e ins Moralische gerechnet, es ist eine Art G e s c h m a c k — und Schopenhauer will, daß wir den Geschmack für a l l e s w a s l e b t hätten? Das müßte ein sehr grober und roher gefräßiger Geschmack sein, der mit allem zufrieden ist! 4 [7°] Wenn ein Idealist der Praxis nicht Skeptiker aus Instinkt ist, so wird er zum Narren der Eitelkeit und hält sich zuletzt für Gottessohn.
Sommer 1880 4[68—73]
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4[7i] _ Es ist ein Interesse des Menschen, das was er seinem Eigennutze abgerungen hat und dem allgemeinen Besten opfert, mit so hohen Worten wie möglich zu benennen; die, welche wenig opfern, bestehen am strengsten auf der moralischen Prachtrede. Wem es natürlich ist, der will, daß e i n f a c h davon gesprochen werde, womöglich etwas zu gering: so fällt es nicht in die Augen und kann s t i l l geübt werden. Die Besten haben ein Interesse an der Verkleinerung der moralischen Wortwerthe. Andere haben die moralischen erhabenen Attitüden nöthig, jene Halbschauspieler, deren Werth in dem liegt, was sie b e d e u t e n , nicht in dem, was sie s i n d . 4[7*] Wenn ein Mensch, dessen Leben voll von Ehebruch und Unzucht ist, die Keuschheit verherrlicht, so hat er allen Grund dazu: denn mit derselben wäre sein Leben viel würdiger gewesen; er kennt den Eros nicht anders als einen wilden unersättlichen wüsten Dämon. Aber für wen er etwas anderes ist (für einen Anacreon), für den wird audi die Keuschheit nichts so Verehrungswürdiges an sich sein. 4Ü73] Wie die Natur nicht nach Zwecken verfährt, so sollte der Denker auch nicht nach Zwecken d e n k e n d. h. nichts suchen, nichts beweisen oder widerlegen wollen, aber so wie bei einem Musikstück z u h ö r e n : er trägt einen Eindruck davon, j e w i e v i e l o d e r w i e w e n i g er gehört hat. Dieser Eindruck entsteht aus einer Vergleidiung dessen, was man früher an Eindrücken von Musik gehabt hat, man muß diese Art Sprache verstehen; je feiner man sie versteht, desto g r ö ß e r ist L u s t und U n l u s t dabei. Der grobe Mensch genießt das Leben wie die Musik j e d e r A r t , w e s e n t l i c h a l s G e n u ß u n d
448
Nachgelassene Fragmente
L u s t . — Die f e i n e r e n Kunstfreuden sowie die feineren Erkenntnisse muß man theuer erkaufen d. h. zu oft durch Enttäuschung Unbehagen leiden. — Die Masse und die Häufigkeit des musikalischen Genusses nimmt mit der Verfeinerung des Geschmacks ab — ist dies ein G e g e n g r u n d g e g e n die Entwicklung der Musik und die Pflege derselben? Und ist es nicht in allem so, auch in der Erkenntniß? An was für Dingen hat ein Kind Erkenntnißfreuden! Und wie groß! 4 [74] Wir dürften nicht erstaunt sein, wenn einer lehrte, kein Mensch habe bis jetzt das Motiv seines Handelns gekannt, denn zwischen das wirkliche Motiv habe sich das angelernte S c h e i n m o t i v gelegt, seit Menschenanbeginn. Wir s e h e n und h ö r e n so s c h l e c h t und sind so e i n g e b i l d e t dazu! 4
[75\
Die vielen Kümmernisse und Ärger der gebildeten Stände, ja der sublimsten Geister — 4 [76] Als die h ö h e r e n Triebe werden die bezeichnet, die im G e g e n s a t z zu den v e r a c h t e t e n stehen. Man verachtet aber, was keine Furcht einflößt, bei niedrigen Leuten zu haben ist usw. — Es sind ganz verschiedene Dinge zur h ö h e r e n Menschlichkeit gerechnet worden, entgegengesetzte. 4 [77] Die Moral die zunächst gar n i c h t an's Glück der Individuen denkt, vielmehr dasselbe fürchtet und zu dämpfen sucht („Maaß" der Griechen) will etwas, das über die Zeit der Individuen hinausreicht, den Verband mehrerer Generationen und zwar vom Standpunkt der Gemeinde: das Individuum ist der
Sommer 1880 4[73—79]
449
Sündenbock für die Collektiva „Staat" Menschheit usw. „Nur a l s G a n z e s können wir uns erhalten" das ist die Grundüberzeugung. So denken die alten Männer und die Fürsten, welche ihren Nachkommen die Gemeinde gesichert übergeben wollen. „Tugend" ist hier nicht etwas Auszeichnendes, sondern die verlangte Regel, welche kein Lob erntet (wie in militärischen Organisationen) I n d i v i d u e l l e Auszeichnung ist überhaupt erst in Griechenland erfunden worden, in Asien gab es nur Fürsten und Gesetzgeber. Die Moral für Individuen t r o t z der Gemeinde und deren Satzung beginnt mit Sokrates. 4[7»] Wenn die Moral Tapferkeit Treue Enthaltsamkeit außer der Ehe vorschreibt, so denkt sie nicht an das Glück des Einzelnen als Zweck, an seine geistige und leibliche Gesundheit: vielmehr bringt sie diese dem allgemeinen Wohle zum Opfer. Für die Moral besitzt die geringere Menschlichkeit einer Masse einen Werth, den sie mit der höheren Menschlichkeit Einzelner zu bezahlen kein Bedenken trägt: ebenso in Betreff der Gesundheit, des Glücks. Dabei geht sie von sehr unwissenschaftlichen Voraussetzungen über die M i t t e l aus, wodurch eine Masse Glück Gesundheit Fortbestand erlangt: sie irrt sich oft genug. Die Ä n d e r u n g e n der Moral sind Beweise, daß man sich geirrt hat und es fühlt. 4 [79] Alle bisherigen Moralen gehen von dem Vorurtheil aus, daß man wüßte, w o z u der Mensch da sei: also sein Ideal kenne. Jetzt weiß man, daß es viele Ideale giebt: die Consequenz ist der Individualismus des Ideals, die Leugnung einer allgemeinen Moral.
450
Nachgelassene Fragmente
4[8O] Viele Menschen sind nur eines sehr g e r i n g e n G l ü c k s fähig: es ist kein Einwand gegen eine Moral, daß sie diesen nicht mehr Glück geben könne, so wenig es Einwand gegen die Heilkunst ist, daß manche Menschen nicht zu kuriren und ewig kränklich sind. — Es ist die Lebensauffassung zu wählen, bei der wir u n s e r höchstes Maaß an Glück erreichen: das immer noch sehr klein sein kann. 4
[8I]
Wodurch haben sich die adligen Geschlechter so gut erhalten, zu allen Zeiten? Dadurch daß der junge Mann in der Ehe nicht vor allem Geschlechtsbefriedigung suchte, und in Folge dessen sich hierin berathen ließ und n i c h t von der amour passion oder amour physique sich fortreißen ließ, unpassende Ehen zu schließen. Erstens waren es in Sachen der Liebe e r f a h r e n e junge Männer, welche sich verheirateten: und dann hatten sie an Repräsentation usw. zu denken, kurz mehr an ihr Geschlecht als an sich zu denken. Ich bin dafür, moralische Aristokratien wieder zu züchten und außerhalb der Ehe etwas Freiheit zu geben. 4[82] Es giebt keine Handlung noch Denkweise, die a n s i c h s i t t l i c h wären, ohne Rücksicht auf das, was in einem Land und Volk als Sitte gilt. Wohl wäre es möglich daß ein Philosoph die Menschen eines Landes überredet, es anders zu empfinden: also an das „An sich Sittliche" zu glauben. Damit ist dann diese Denkweise (der Glaube an das Sittliche) zur Sitte geworden: d. h. ein Irrthum gilt hier als sittliches Gebot. 4[«3] List Betrug Wortbruch Mord Grausamkeit, in Hinsicht auf die F e i n d e der Gemeinde — gilt als tugendhaft: ein [—] Behandeln der Feinde als auszeichnend und ruhmgebend.
Sommer 1880 4[80—87]
451
4[84] Bei der Annahme einer ewigen Existenz des Individuums ist der Individualismus extrem, er kennt keine Rücksicht auf bestehende Gemeinwesen, es ist jede Rücksicht unsinnig im Verhältniß zu einer Ewigkeit: kein Compromiß, keine Milde, nicht eine Linie breit ist nachzugeben, wenn es sich d a r u m handelt. Hier ist der F a n a t i s m u s des Individuums auf seiner H ö h e : dagegen wir mit unseren 70 Jahren dürfen milder sein. Was liegt zuletzt daran ob einer 70 Jahre leidet! 4[85] Ein I d e a l aufstellen, voranstellen, als Einleitung? Ungestört in ewiger Ruhe, durch sein Vorbild, nicht durch aktives Eingreifen wirken, sich sichtbar werden lassen, nicht lang leben wollen, sondern individuell, durch keine Tugend sich auszeichnen, in keiner Sitte heimisch, ohne Vaterland, leicht angeknüpft an die Bedürfnisse, nicht nörgelnd und verunglimpfend, aber t a p f e r allerwegen, im Erkennen Anerkennen, und daher versöhnend in der That, ohne Absicht, den großen Worten und dem sittlichen Richten abgeneigt, nicht böse sein über die, welchen manche dieser Einsichten zu häßlich sind und deshalb n i c h t mit uns weitergehen wollen — vielleicht sind sie feinere Naturen, und Tapferkeit ist keine Tugend, sondern Sache des Temperaments — 4[86] Die Historie ist als r e a k t i o n ä r e Macht nach der Revolution aufgetreten (s. St. Mill über Coleridge). Und jetzt? — 4[87]
Die Naturen welche sich am kräftigsten gegen die M o r a l g e s t r ä u b t haben (wohl die Individuen!) müssen noch ihre E h r e haben. Bis jetzt sieht man den F o r t s c h r i t t nur auf der anderen Seite.
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Nachgelassene Fragmente
4[88]
Diese Betrachtung ist nicht für — geschrieben. Herzliches und feines Theilnehmen an den menschlichen Dingen, ohne aufdringlich durch Rathgeben zu werden. 4[8?] Jene Wirkung der „Erlösung" übte eine Einbildung: genug daß eine V o r s t e l l u n g im Stande ist, dem Menschen den Sieg über sein anhängendes unvermeidliches Wesen zu geben und ihn triumphiren zu lassen. 4[9°] Man könnte die Menschen darnach a b s c h ä t z e n , wie hoch das Glück eines Jeden ist, das ihm überhaupt m ö g l i c h ist: wiederum, wie viel Glück er mitzutheilen vermag, wie viel Unbehagen und Unglück usw. 4[9i] B e s c h ä f t i g t wollen die Menschen noch mehr als glücklich sein. Also ist jeder, der sie beschäftigt, ein W ο h 11 h ä t e r. Die Flucht vor der Langeweile! Im Orient findet sich die Weisheit mit der Langeweile ab, das Kunststück, das den Europäern so schwer ist, daß sie die Weisheit als unmöglich verdächtigen. 4[S>2] Die Wirkung der Musik auf hysterische Personen männlichen und weiblichen Geschlechts kann ungeheuer sein und ganz unabhängig vom Verdienst des Componisten. Elementarische Wirkungen treten häufig bei Wagn(erischer) Musik auf. Die Grenzen der reinen Elemente der M(usik) sind noch nicht erkannt (Bergluft Schönheit
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4Ü93] Das Gewissen, insofern es wesentlich unlustvolle Empfindungen erzeugt hat, gehört unter die Krankheiten der Menschheit. 4 [94] Man beachte wie ζ. B. ein plötzlicher Regenguß auf verschiedene Personen wirkt: jeder legt das Ereigniß nach Stim5 mung und Temperament aus. Unsere S c h m e r z empfindungen scheinen nur S c h w ä c h e n des Organism zu sein: dieselben Reize führen zur Lust. Es giebt n i c h t s a n s i c h U n glückliches. 4[9J] „ D a s Auge kann nie durch das Sehen hervorgerufen worden 10 sein" Semper. N B . „ N i e wird eine F a r b e durch Zuchtwahl oder Anpassung hervorgebracht, sondern immer nur eine F ä r b u n g , Anordnung der Farben" Semper 4 [96] Es herrscht immer noch die Neigung alle hochgeschätzten Dinge und Zustände auf eine noch höhere Ursache zurückzu15 führen: so daß diese Welt hoher Dinge gleichsam ein Abglanz einer noch höheren sei. Es scheint also die V e r m i n d e r u n g einer Eigenschaft den Menschen natürlicher als eine Steigerung: „das Vollkommene kann nicht w e r d e n , sondern nur vergehen" ist eine uralte Hypothese. Erinnerung an eine frühere 20 bessere Welt (Präexistenz) oder Paradies im Anfange oder Gott als Ursache der Dinge — alles setzt die gleiche Hypothese voraus. „Der werdende G o t t " ist der mythologische Ausdruck für die wahren Vorgänge. 4Ü97] „Gehirn im Fuße", Mollusken theilweise: Ohr im Schwänze, 25 Crustaceen
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Nachgelassene Fragmente
4 [98] Die Entsinnlichung in der Moral und das Lob der Heiligkeit ist ein niedrigerer Grad als die hellenische Forderung der Mäßigkeit. Orientalische Wüstheit weiß sich nicht anders zu helfen. Die Verneinung der Welt ist die Consequenz des Dünkels solcher Naturen. — Statt zu herrschen, lieber v e r z i c h t e n , so daß es nichts mehr zu beherrschen giebt: Mittel der äußersten Gefahr. 4 [99] Es ist vollkommen falsch, daß die großen Geister wesentlich g l e i c h über das Dasein und den Menschen geurtheilt hätten: diese Gleichheit nachzuweisen geht (man) vom Glauben aus, daß die Genie's dem Wesen der Welt näher ständen und insofern auch richtiger d. h. gleichmäßiger sagen müßten, was sie sei. A b e r die Genie's haben i n d i v i d u e l l e Ansichten gehabt — und sich in die Dinge hineingetragen: weshalb sie sich tief widersprechen und immer alle andern vernichten zu müssen glauben. 4[ioo] Es giebt so viele Moralen jetzt: der Einzelne wählt unwillkürlich die, welche ihm am nützlichsten ist (er hat nämlich Furcht vor sich selber) d.h. er muß den I r r t h u m u m a r m e n , im Grade darnach, daß er ein gefährliches Thier ist. — Ehemals wo die Leute Einer Rasse gleich waren, genügte auch E i n e Moral. Jetzt sind die Menschen sich sehr u n g l e i c h ! Es giebt mehr Individuen als je, man lasse sich nicht täuschen! Nur so malerisch und grob sichtbar sind sie n i c h t , wie früher. 4[I°I] Da es mehr als je individuelle Maßstäbe giebt, so ist wohl auch die U n g e r e c h t i g k e i t größer als je. — Der historische
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Sinn eine moralische) Gegenkraft. Das Wehethun durch Urtheile ist jetzt die größte Bestialität, die noch existirt. Es giebt keine a l l g e m e i n e Moral mehr; wenigstens wird sie immer schwächer, ebenso der Glaube daran unter den Denkern. Es giebt genug Menschen, welche o h n e Moral leben, weil sie dieselbe nicht mehr nöthig haben (wie solche die o h n e Arzt Medizin peinliche Prozeduren leben, weil sie gesund sind und entsprechende Gewohnheiten haben) Moralisch bewußt leben — setzt Fehlerhaftigkeit voraus und deren Druck und Folgen d. h. wir haben unsere Existenzbedingungen noch nicht gefunden und suchen sie noch. Für das Individuum, so w e i t e s k e i n D e n k e r ist, hat Moral ein b e g r e n z t e s Interesse: so lange es ihm nicht wohl, nicht regelmäßig zu Muthe ist, denkt er nach den Ursachen und sucht moralische, da andere ihm als Schlechtgelehrten unbekannt sind. Die Fehler seiner Constitution seines Charakters in die Moralität s i c h s c h i e b e n , an seiner Krankheit s c h u l d sein wollen — ist moralisch! 4
[l02]
Wenn einer seine Sitten festgestellt hat, mit denen er seine Umgebung erträgt und die Umgebung ihn erträgt, so ist er s i t t l i c h . So lange er schwankt und niemand sich auf ihn verlassen kann, ist er es noch nicht. Der „Sittliche" wird „ b e r e c h e n b a r " z . B . als Parteimann: daher viel Haß gegen den Unsittlichen. 4[i°3] Der Trost Luthers als die Sache nicht vorwärts gieng, „Untergang der Welt". Die Nihilisten hatten Schopenhauer als Philosophen. Alle die extrem Aktiven wollen die Welt in Stücke gehen lassen, wenn sie ihren Willen als unmöglich erkennen (Wotan)
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Nachgelassene Fragmente
4[l°4] Wir haben nur gegen uns selber wahr zu sein: gegen A n d e r e es zu sein ist A u f o p f e r u n g , und nur in dem Falle, daß dazu der natürliche Hang in uns ist, ist audi die Wahrheit gegen Andere ein Gebot der Natur, das befriedigt werden will. — Gegen uns selber ist es Selbsterhaltung ζ. B. unsere physischen Kräfte müssen wir uns r i c h t i g vorstellen. Uns im Geistigen einen Sprung zumuthen, zu dem unsere Beine nicht reichen, ebenso im Moralischen ist Anlaß zu Beinbrüchen und den schwersten Schmerzen; unsere Moralität hat das Maaß ihrer Idealität an dem Maaße der uns möglichen Kraft, vorausgesetzt daß wir diese steigern können. Alles Wachsthum muß allmählich, nicht sprungweise geschehen. — Wie viel Elend ist in der Welt, dadurch daß man an sich den Maaßstab einer unmöglichen Moralität legt! Man schämt sich doch nicht, wenn man nicht wie ein Läufer zu laufen vermag: aber in moralischen Dingen sind wir so kindisch, das F e h l e n der natürlichen Bedingungen sich zur S c h u l d und S c h a n d e anzurechnen! Als ob wir unser Werk wären! Dies ist auch wirklich die Hypothese, auf der jenes Schamgefühl wuchs. •4 C 10 5 3 Die höheren Menschen unterscheiden sich von den niederen wie die höheren Thiere von den niederen, durch die Complicirtheit ihrer Organe und Menge derselben. Sich nach Einfachheit sehnen — d. h. es leichter haben wollen! Jetzt wird immer noch, namentlich von Künstlern, der Halbbarbar verherrlicht: Kraft Gefühl Unwissenheit natürliche Gebärde und Instinkte — dies ist der m a l e r i s c h e Standpunkt „diese Gattung nimmt sich gut aus" — jetzt ist die Gefahr der Erkrankung und partiellen Verkümmerung so vieler Organe groß.
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4
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[io6]
Jetzt gefällt es, sich hetzen zu lassen und zu hetzen: selbst Künstler wählen den Geist der Unzufriedenheit als die Muse, welche sie begeistert. Sieht man sie dann in ihren Erholungen, so sind sie ganz leer, sie haben keine Kraft daran zu verschwenden und ziehen das Fadeste vor (selbst bedeutende Gelehrte). Es wäre sehr unbillig, d a r n a c h die Zeit zu beurtheilen: sie giebt im Vergnügen und der Erholung nicht sich ganz, g e s c h w e i g e denn ihren besten Theil zu erkennen. So sei man tolerant gegen ihre Kunst, und bedaure die höheren Künstler, denen die Zeit nicht entspricht, w a h r l i c h nicht, weil sie ihrer unwürdig wäre! Das beurtheilt man als Jüngling falsch. 4[i°7] Die Moralisten nahmen die vom Volke verehrte Moral als heilig und w a h r und suchten sie nur zu systematisiren, d. h. sie hiengen ihr das Kleid der Wissenschaft um. Den Ursprung zu untersuchen hat kein Moralist gewagt: der rührte an Gott und dessen Boten! Man nahm an, daß die Moral im Munde des Volks entstellt lebe, daß es ihrer „Reinigung" bedürfe. — 4
[IO8]
Man ehrt die welche im D e n k e n den Bann der Sitte durchbrachen. Aber die welche es durch die T h a t thaten, verunglimpft man und schiebt ihnen schlimme Motive unter. Dies ist unbillig, mindestens sollte man den Freidenkern dieselben schlimmen Motive unterschieben. — Daß im V e r b r e c h e r sehr viel Muth und Originalität des Geistes, Unabhängigkeit bewiesen werden könne, wird verhehlt. Der „Tyrann" ist vielfach ein freierer tapferer Geist, sein Wesen nicht schlechter als das der Furchtsamen, oft besser, weil ehrlicher. Man beantwortet jetzt allgemein die Frage ob die russischen Nihilisten unmoralischer seien als die russischen Beamten zu Gunsten der
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Nachgelassene Fragmente
Nihilisten. — Es sind zahllose Sitten den Angriffen der Freidenker und Freithäter zum Opfer gefallen: unsere jetzige individuelle Denkweise ist das Resultat von lauter V e r b r e c h e n gegen die Sittlichkeit. Jeder der das Bestehende angriff, galt als 5 „schlechter Mensch"; die Geschichte handelt nur von diesen schlechten Menschen!
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4[i09] Die Freithäter sind im Nachtheil gegen die Freidenker, weil ihre egoistischen Motive sichtbarer werden als die jener. Aber jene fanden die Befriedigung ihrer egoistischen Motive oft schon im Aussprechen des Verbotenen: so ist das Unmoralische harmloser und deshalb beschimpft man es nicht. In Hinsicht auf die Quelle ist alles Eins: Napoleon und Christus.
[no] Die Griechen litten nach Aristoteles öfter an einem Ubermaaß von Mitleid: daher die nothwendige Entladung durch 15 die Tragödie. Wir sehen, wie verdächtig diese Neigung ihnen vorkam. Sie ist staatsgefährlich, nimmt die nöthige Härte und Straffheit, macht, daß Heroen sich gebärden wie heulende Weiber usw. — In jetziger Zeit will man das Mitleid durch die Tragödie s t ä r k e n — wohl bekomm's! Aber man merkt 20 nichts davon, daß es da ist, vorher und nachher. 4
4[III]
Entweder man g e h o r c h t als Sklave und Schwacher, oder man b e f i e h l t mit: letzteres der Ausweg aller stolzen Naturen, welche jede Pflicht sich a u s l e g e n als Gesetz, das sie s i c h u n d d e n A n d e r e n a u f e r l e g e n : ob es gleich von 25 außen her ihnen auferlegt wird. Dies ist die große Vornehmthuerei in der Moralität — „ich soll, was ich w i l l " ist die Formel.
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4[lI2] Seit Rousseau hat man d i e U n m i t t e l b a r k e i t d e s G e f ü h 1 s verherrlicht, sich jemandem an die Brust werfen, seinen Zorn wie seinen Speichel auswerfen usw. Sonderbar, daß alle großen Weisen der Moral das gerade Gegentheil verlangt haben! Zurückhaltung des Gefühls — und daher die Würde im Benehmen des sittlichen Menschen. Es giebt reizende vollkommene Seelen, denen es wohl ansteht, weil sie kein Ubermaaß in sich haben: aber das Gesetz nach einem Mozart machen, heißt doch ; wir sind keine Singvögelchen. Auch gute und respektable Gefühle, maaßlos und unmittelbar geäußert, erregen Widerwillen gegen sich: so hat wohl jeder einmal das Mitleiden, das sich nicht in Schranken hält, zu allen Teufeln gewünscht. 4["3] Ist es nöthig die sittlichen Worte beizubehalten? Was haben die Ausdrücke der Alchymie in der Chemie zu suchen? 4["4] i) Vorurtheil: die Folgen die man einer geheiligten moralischen Vorschrift nachrühmt, würden auch die Folgen anderer Vorschriften sein: aber man meint, diese Eine allein habe das Privilegium 2) die Folgen sind that(sächlich) gar nicht die Folgen sondern ein häufiges post hoc 3) die Folgen sind in Wahrheit die Folgen einer Begleiterscheinung die man übersieht usw. •4 [ 1 1 5 J Da jedes Ding bei längerem Bestehen etwas Würde haben will, so sehen wir auch die Wagnerische Kunst nach allem greifen, was im Stande ist, Würde zu verleihen, Christenthum, Fürsten- und Adelsgunst usw., gar zu gern möchte sie einen Heiligenschein, aber wo sind die Mächte, welche solche zu vergeben hätten!
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Nachgelassene Fragmente
4[»6] Dinge, die man dauernd lieb haben will, muß man ein wenig unter ihrem wahren Werthe ansetzen: man darf nie ganz wissen, was sie sind. Wehe dem, der übertreibt! Er verliert jedes Kleinod: falls er nämlich aus der Stimmung der Übertreibung 5 in ihren Gegensatz geräth.
4[n7] Im Sittlichen muß man nicht an seine äußersten Grenzen gehen: sonst geräth man in den Ekel am Sittlichen. 4
[II8]
Kenntniß seiner Kräfte, Gesetz ihrer Ordnung und Auslösung, die Vertheilung derselben, ohne die einen zu sehr, die andern zu wenig zu gebrauchen, das Zeichen der U n l u s t als unfehlbarer Wink daß ein Fehler, ein Exceß usw. begangen ist — alles in Hinsicht auf ein Z i e l : wie s c h w e r ist diese i n d i v i d u e l l e W i s s e n s c h a f t ! Und in Ermangelung derselben greift man nach dem Volksaberglauben der Moral: 15 weil hier die Recepte schon präparirt sind. Aber man sehe auf den Erfolg — wir sind das Opfer dieser abergläubischen Medizin; das Individuum n i c h t , sondern die Gemeinde s o l l t e durch ihre Recepte erhalten bleiben! 4[n9] Was die Werthschätzungen ursprünglicher Völker aus20 macht, läßt sich durch keine Phantasie e r r a t h e n , man muß es erfahren. Bestimmte Gebräuche und der damit verbundene Gedankenkreis sind n i c h t zu c o n s t r u i r e n ; wenn man von den „natürlichen" Bedürfnissen und Begehrungen der Menschen redet, so denkt man sich die Sache zu einfach: die intellektuellen 25 Bedürfnisse ζ. B. sind höchst absonderlich befriedigt worden.
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4[ΐ2θ] Oft kommen ζ Menschen zusammen, deren Sittlichkeit so schlecht zusammen paßt, daß der eine da ein vacuum hat, wo der andere seine Kraft und Tugend fühlt; sie nennen sich gegenseitig „ u n s i t t l i c h " . 4[l2l] Das, was über die Nothdurft h i n a u s g e h t , höher zu achten, das Entbehrliche, den Putz usw. ein uralter Trieb: eine gewisse V e r a c h t u n g gegen das, was den Organismus und das Leben constituirt. Καλόν Griechen, honestum Römer — sehr sonderbar! das Außerordentliche? Die Moral wollte den menschlichen Handlungen eine Bedeutung geben, einen Putz, einen fremden Reiz, ebenso alle Beziehungen zur Gottheit — ein intellektueller T r i e b äußert sich so, das Leben soll interessant aufgefaßt werden, und ehe man die Wissenschaft hatte, welche gerade alles was zur Nothdurft gehört, im höchsten Maaße interessant machte, glaubte man sich über die Nothdurft erheben zu müssen, um den Menschen interessant zu finden. Deshalb die Annahme geheimnißvoller dämonischer Gewalten in ihm usw. (Namentlich wo die Befriedigung der natürlichen Triebe leicht ist, bei großer Fruchtbarkeit des Bodens usw. trat schnell Geringschätzung gegen das „Natürliche" ein) 4[l22] Das Re g e l m ä ß i g e in der Natur, das ist das Berechenbare, dem kann man sich fügen, so daß es unschädlich oder gar n ü t z l i c h verläuft: so hat man überall wo Regel waltet, an g u t e wohlthätige Mächte geglaubt (durch eine Verwechslung). Das Böse, das ist das Unberechenbare ζ. B. der Blitz. Der Mensch ist berechenbar auf Grund der Moral, insofern g u t , das fremde Volk unberechenbar, also böse, fremde Sitten wer-
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Nachgelassene Fragmente
den als böse betrachtet. Die Übertragung dessen, was u n s gut ist, auf das Objekt, das nun gut genannt wird — 4["3] Das Gefühl der Sympathie könnte aus dem Gegensatz entstanden sein: die Furcht und die Antipathie gegen das Fremde Andere ist das Natürliche. Nun tritt der Fall ein, wo dies Gefühl schweigt, keine Furcht: wir beginnen d i e s Ding zu behandeln, w i e u n s s e l b e r . 4["4] Der Mensch ist n i c h t der Erbe a l l e r Empfindungen der Thierwelt.
sympathischen
4["J] Wenn die Geschlechter sich suchen und locken, entsteht ein Gegensatz von Antipathie: hier ist die Heimat der Moral als sympathischer Regungen. „Mit einander ein Vergnügen haben" — nach einander verlangen, nicht um sich zu fressen. — Die Moralität als sympathisches Verhalten der Thiere steht im Verhältniß zum Grade ihrer Sinnlichkeit. — Unter Menschen auch? Die Religionen welche Mitleid und Liebe am höchsten geachtet haben, sind unter sehr sinnlichen Völkern entstanden, was sich schon dadurch beweist, daß sie in Bezug auf Sinnlichkeit das asketische Ideal aufstellten: ein Beweis, daß sie sich in dieser Hinsicht maaßlos und ungebändigt fühlten (Inder und Juden) 4[I26]
Die Novelle wirkt stärker als das aufgeführte Schauspiel, weil sie sich der Historie gleichstellt; während das Schauspiel die Illusion fortwährend zerstört; gesetzt e i η Schauspieler bringt sie hervor, dann zerstört sie ein anderer, und j e d e n f a l l s das Theater und die Menschen um uns. Wie matt, wie wenig überzeugend ist Mozarts Don Juan gegen Merimees Don
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Juan! Dann sind wir beim Erzählenhören viel t h ä t i g e r als beim Anschauen, letzteres erzeugt den Hang zu kritisiren viel öfter. Die Musik wirkt, als fortwährende Begleitung, unter allen Umständen abziehend und störend, auch die beste Musik langweilt zu oft. 4[127] Sympathie für jemand, d. h. (ihn) nicht fürchten und Freude von ihm erwarten. Und das soll unegoistisch sein! [I28] Zu v e r s t e h e n , wie es einem Anderen (oder einem Thiere) zu Muthe ist, ist etwas anderes als m i t e m p f i n d e n , das Wissen des Arztes ζ. B. und das der Mutter des kranken Kindes — aber die Voraussetzung? Es ist durchaus nicht ein Nachbilden dieses b e s t i m m t e n Leidensgefühls, sondern ein Leiden darüber, daß jemand leidet. Dagegen bezieht sich das Wissen auf die bestimmte Art des Schmerzes. „Seinen Schmerz ihm nachfühlen" weil man ähnliches erlebt hat ist von der Art des ärztlichen W i s s e n s um den Schmerz — ist nicht das eigentliche Mitleid, das generell mit dem Leide e i n e r P e r s o n leidet, nicht mit dem bestimmten Leide. Das Gefühl, jemand leidet, den wir lieben der in unserer Pflege oder Macht steht, ist g a n z p e r s ö n l i c h , gewöhnlich mit dem Ärger über unsere Ohnmacht verknüpft (beim Mitleid kann die Fähigkeit, sich die Art des Leidens vorzustellen, sehr gering sein). 4
Aus Mitleid die Freunde schonen gilt als Schwäche und ist der Gegensatz der Tugend, welche Strenge gegen sich gebietet, wo es gemeinnützige Maaßregeln gilt.
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Nachgelassene Fragmente
4ί>3°] In Indien ist das Höchste Contemplation, das Zweite Leben nach den Vorschriften der Kaste — 4 C131D Die Leidenschaften sind „falsche Urtheile" nach den Stoikern. 4l>3*] Das erste Christenthum schätzte am höchsten d i e E i g e n s c h a f t e n , die zur Mission befähigten, um vor dem nahen Ende die Lehre bis an die Grenzen der Erde zu tragen (Ehelosigkeit und Verlassen der Güter) — Weltflucht hieß das griechisch-römische Leben nicht mitmachen, da dies durch und durch auf heidnischer Cultur ruhte. Neuplatonische Grundannahme, daß wir für ein höheres Leben zu leben hätten, die Erde erschien zu niedrig, insgleichen die Cultur. Dieser naive Stolz! „Entrücktund Erhobensein von der Erde, Berühren des höchsten Weltgrundes im Gefühle" — eine Art platonischer Erkenntniß — alles Täuschung. Die neuplatonische Ansicht verschmolz mit dem Christenthum, es sind die religiosi, die höheren Menschen. Die Reformation verwarf diese Höheren und leugnete die Erfüllung des sittlichen religiösen Ideals, sie hatte gegen die vita contemplativa viel Bosheit und Widerspruch. 4 [13 3 3 In der Moral f o r d e r t von Jedermann.
man die strengste
Theorie
4[134] Dem theoretischen Leben ist die Oberflächlichkeit zu eigen: das praktische ist gründlich und führt immer durch alle η ö t h i g e n Mittel zum Ziele oder anders wird das Ziel verfehlt. Dagegen erreicht der Denker oft vermeintlich sein Ziel, und be-
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merkt die fehlerhaften Wege und Sprünge nicht als solche: er hat zu oft und zu leicht das Gefühl des Gelingens. 4[i35] Die Keuschheit ist nur für das Alter der Halbjünglinge und Mädchen eine Tugend: an sich eine Perversität, weil es die Gattung vernichten würde. Als individuelle Maßregel im Interesse der Anderen eine Ausnahme: wo nämlich nur die völlige Entsagung den M(enschen) retten kann. 4[i36] Die Menschheit wird sich im neuen Jahrhundert vielleicht schon viel mehr Kraft durch Beherrschung der Natur erworben haben als sie verbrauchen kann und dann wird etwas vom Luxushaften unter die Menschen kommen, von dem wir uns jetzt keine Vorstellung machen können. Gesetzt, der Idealismus der Menschen in ihren Zielen bliebe nicht stehen, so könnten dann großartige Unternehmungen gemacht werden, wie wir sie jetzt noch nicht träumen. Allein die Luftschifffahrt wirft alle unsere Culturbegriffe über den Haufen. Statt Kunstwerke zu schaffen wird man die Natur in großem Maaße verschönern in ein paar Jahrhunderte Arbeit, um ζ. B. die A l p e n aus ihren Ansätzen und Motiven der Schönheit zur Vollkommenheit zu erheben. Dann wird alle frühere Litteratur etwas nach der Enge kleiner Städte riechen. Ein Zeitalter der Architektur kommt, wo man wieder für Ewigkeiten wie die Römer baut. Man wird die zurückgebliebenen Völkerschaften Asiens Afrikas usw. als Arbeiter verwenden, die Bevölkerungen des Erdbodens werden anfangen sich zu mischen. Wenn man an die Vergangenheit denkt, wird man an den düsteren Trübsinn und die träge Beschaulichkeit derselben denken: Feuer und Oberschuß an Kraft Folge der gesunden Art zu leben. Um eine solche Zukunft vorzubereiten, müssen wir die Trübsinnigen Griesgrämigen Nörgler Pessimisten separiren und zum Aussterben bringen. Die Politik so geordnet,
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Nachgelassene Fragmente
daß mäßige Intellekte ihr genügen und nicht Jedermann jeden Tag drum zu wissen braucht. Ebenso die wirtschaftlichen Verhältnisse ohne die Gier ob leben und sterben. Zeitalter der Feste. 4[i37] Ich halte es für möglich, daß ein mit Thatsachen reichlich angefüllter und logisch meisterlicher Geist in einer ungeheuren Aufregung des Intellekts eine unerhörte Masse von Schlüssen hintereinander macht und so zu Resultaten kommt weldie ganze Generationen von Forschern erst einholen: ein Phantasiren ist es auch — er wird es büßen müssen. 4[i38] Bei unsern jetzigen induktiven Forschern ist der Scharfsinn und die Vorsicht geist- und erfindungsreicher (auch phantasievoller) als bei den eigentlichen Philosophen. 4[i39] Vorurtheil, daß man, um selbständig zu urtheilen einen hohen Rang, eine Macht repräsentiren müsse, daß die Niederen audi nicht frei im Gedanken sein dürfen. „Das will räsonniren, Ansichten haben usw. usw.", als man, nach seiner Meinung, zu lange über die Ansichten 4[i4o] Es haben doch zu viel Jammerseelen und Kopfhänger sich fortgepflanzt! 4[i4i] Das Glück der Menschen welche sich befehlen lassen (zumal Militärs Beamte): keine völlige Verantwortung in Betreif der Richtung ihrer Thätigkeit, ein Leichtsinn und Harmlosigkeit, Forderung der strengen Pflichterfüllung (welches der schönere
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Name für Gehorsam ist, dessen Würde). Auch kluge Christen haben diesen Leichtsinn. Die Wissenschaft e n t l a s t e t ebenso (Unverantwortlichkeit) 4tI42J Nichts mit der Wirklichkeit zu thun haben wollen, die wahre Wirklichkeit in entrückten Gefühlen zu tasten suchen, abweichend zu sein und ohne Verständniß für das Leben: dafür hatte die frühere „Wissenschaft" ihre Formeln, es war ihr eine vernünftige Tendenz, weil sie an die Hinterwelt glaubte. Dem Dichter concedirt man es, wenn er schöne Narrheiten aus einer „möglichen" Welt erzählt: sei es daß er selber unsere Welt v e r a c h t e t , er zahlt für diese Geringschätzung mit seinen Werken. Aber wehe ihm, wenn er uns verführen wollte, uns „über die Welt zu erheben" d. h. im Handeln zu schwärmen und die angenehme Lügnerei einer müssigen Stunde zur Richterin des Lebens zu machen! Darin sind wir jetzt streng. 4[i43] Sind nicht alle „erhabenen Gefühle" jetzt verdächtig geworden, weil die falsche Schwärmerphilosophie sich so nah seit langer Zeit an sie gelegt hat, daß neben einem erhabenen Gefühl fast regelmäßig ein verdrehter Gedanke, ein überspannter Gesichtspunkt aufsteigt! Traurig. Die ästhetische Rücksicht findet noch dazu die phantastischen Gedanken reizvoller als die strengen und angepaßten, und alle Künste bestehen wie auf einem Dogma, daß die intellektuelle Verstiegenheit und die erhabenen Gefühle zusammen leben und sterben. D a ß es Erhebung ohne Phantasterei giebt, bitte beweist es täglich und stündlich! Freunde! 4[i44] Geht man einem moralischen Gefühle nach, so entdeckt man, nach dem Gange desselben durch Nachahmung, endlich eine sehr
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Nachgelassene Fragmente
starke Werthschätzung einer Sache oder Handlung, welche ihren Grund in einer Theorie hat. Also wenn Begriffe die Menschen überreden unterjochen und sie n a c h ihnen etwas m e s s e n , so entsteht als praktisches Resultat ein Begehren oder ein Verabscheuen. Dies wird dann direkt weiter gepflanzt, ohne die dazu gehörige Motivation und oft hinterher mit einer untergeschobenen neuen. Wo es moralische Gefühle giebt, da ist entweder ein Begriff ins Blut übergegangen oder ein Gefühl nachgeahmt. 4[i4j] Alle halten das für moralisch, was ihren S t a n d aufrechterhält, die Mutter, was ihr Ansehen mehrt, der Politiker, was seiner Partei nützt, der Künstler, was seinem Kunstwerke zur Verewigung verhilft: und der G r a d von Geist und Kenntnissen entscheidet, w i e w e i t einer dies Interesse treibt, ob er die Reform der ganzen Welt, ja selbst den Untergang derselben für das s i t t l i c h e Ziel erklärt, d a m i t er so dem Interesse seines Standes usw. am höchsten nütze. Der Fürst, der Adlige haben Eine Moral mit dem Volksmann, aber ihre Mittel nennen sie gegenseitig unsittlich. „Die Sittlichkeit ist immer b e i u n s zu H a u s e " ; es fragt sich, wie weit wir dies „bei uns" ausdehnen. 4[i46] Blutschande Ehebruch Nothzucht erotische Besessenheit, nach denen nicht nur die französischen Dramatiker des romantischen Geschmacks, sondern audi die deutschen Operncomponisten griffen — Zeichen wovon? Diese Neigung zu mythischen Gräueln, woran auch die Griechen litten, ist jedenfalls ein schlechter Geschmack: schlimm genug, wenn die Philosophie d e s s e n bedarf, um ihre Sätze glaubhaft zu machen. 4[i47] Wir b e g r e i f e n
nicht, was der andere will, ärgern uns
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und ihn: entsetzliches Elend in der Familie ist der Grund, und dabei sind es die g u t e n Menschen, welche am meisten sich ärgern, weil sie, was sie nicht verstehen, sich fremd, also b ö s e fühlen. 4[i48] Da die moralischen Urtheile und Gefühle sehr viel Elend gebracht haben, namentlich die Gewissensbisse, so ist zu fragen: ist dies durch ein größeres Gut aufgewogen? „Die Menschheit existirt durch sie" zweifelhaft: die thierischen Gattungen existiren ohne sie. Viele Stämme haben gegen ihre Nachbarn wegen der moralischen Unterschiede solche Vernichtungswuth. 4[i49]
In den Wissenschaften der speziellsten Art redet man am bestimmtesten: jeder Begriff ist genau umgrenzt. Am unsichersten wohl in der Moral, jeder empfindet bei jedem Worte etwas Anderes und je nach Stimmung, hier ist die Erziehung vernachlässigt, a l l e Worte haben einen Dunstkreis bald groß bald eng werdend. 4[ijo]
Ein Uberdruß am Menschlichen, als ob es immer die alte Komödie sei, ist möglich, für ein erkennendes Wesen ist es eine furchtbare Beschränkung, immer als Mensch erkennen zu müssen, es kann einen intellektuellen Ekel vor dem Menschen geben. 4[iji] Sehr ehrgeizige Menschen, denen der Zugang zu einem Gebiete der Auszeichnung verschlossen ist ζ. B. der Feldherrnkunst der Astronomie der Medizin, rächen sich entweder, indem sie diese Dinge und ihre Vertreter geringschätzen und bespötteln oder — sie wähnen, es gäbe für sie einen besonderen „königlichen Weg" um gleich zur Quintessenz zu kommen. Da bildet man sich hellseherische Kräfte eben ein.
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Nachgelassene Fragmente
4l>J*] Jenes heiße brennende Gefühl der Verzückten „dies ist die Wahrheit" dies mit Händen Greifen und mit Augen Sehen bei denen, über welche die Phantasie Herr geworden ist, das Tasten an der neuen anderen Welt — ist eine Krankheit des Intellekts, kein Weg der Erkenntniß. 4[i53j Erster Grundsatz: erfüllbare und nahe Ideale: also individuelle! 4Γ 1 54] „Ihr braucht nur Märtyrer zu sein, dann seid ihr eurer Sache gewiß!" — so klang die Stimme der Verführung, mit der man über die Moralforderungen triumphirte. Ein Entschluß wie zum Zahnausziehen! 4 C15 5 D Ohne l e i b l i c h e Vollkommenheit — ist denn eine geistige oder sittliche möglich? — Welches Aufpassen beim kränklichen Zustand, wie nöthig das Durchsieben. Übrigens hat das Wieder-gesund-werden vielleicht zu viel vom Rausch der Gesundheit, als daß nicht audi s e i n e Erkenntnisse etwas verdächtig sein sollten. 4[iS] D a s Gefühl gänzlich gut geworden zu sein ist ebensosehr herstellbar als das, gänzlich verworfen zu sein. Es handelt sich um eine Ausdeutung, eine Anpassung. 4[i70] Der Fanatismus ein Mittel gegen den Ekel an sich. Was hat Paulus auf dem Gewissen? Die σάρξ hat ihn verleitet zu Unreinheit Bilderdienst und Zauberei (φαρμακεία) Feindschaft und Mord, Trunkenheit und Gelage (κώμοι) Alles M i t t e l zum G e f ü h l der Macht. 4[171] Wenn dem Gesetze durch Christi Tod genug gethan, kann man sich von ihm e m a n e i p i r t fühlen. D a s gottfeindliche Princip ist vernichtet, indem der Fleischesleib Christi untergeht: nicht nur ist eine Schuld abgetragen — sondern „die Schuld" an sich aus der Welt verdrängt. 4[i72]
In den vier Hauptbriefen Gedankenarbeit im K a m p f e mit dem Judaismus.
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4[I73] Wir würden jetzt die Neigung zu religiösen Verzückungen mit Abführmitteln behandeln. 4[i74] Wodurch wird im Menschen das Gefühl unbändiger M a c h t e r h ö h u n g hervorgebracht? Bramanen: sich mächtige Götter vorstellen und sich Mittel ausdenken, sie in seine Gewalt zu bekommen und als Werkzeuge zu behandeln. (oder: sich große Menschen in's Gigantische vergrößern und dieselben als Vorstufen für sich selber hinstellen. 4l>7$] Das Gefühl der Macht? Die Askese als Mittel dazu (Vereinigung mit Gott, Verkehr mit Todten usw.) Das der-Weltabsterben ist schon Hochmuth. 4[i76] Das Gefühl der Macht, insofern man zu einem starken Häuptling Familie Gemeinde Staat gehört — fundamental für Stiftung moralischer Verbindlichkeit; wir ordnen uns unter, d a m i t wir das Gefühl der Macht haben. — Wer dem Vaterland abgeneigt ist, hat doch in Augenblicken der Gefahr desselben sofort seinen Opfermuth wieder: er will das Gefühl der Ohnmacht nicht. 4[i77] Übergang aus dem Gefühl der Ohnmacht in das der Macht sehr l u s t v o l l : daher oft die tiefste Demüthigung gesucht. David, u m nachher —. Vielleicht jüdisch? Der g e h e i m e Hochmuth des S k l a v e n : religiös ζ. B. Die Abgrenzung gegen die Thiere; der Erde gegen die Sterne.
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4[i78] In Betreff eines Dramas wollen die Deutschen, daß man begreife, w a s geschieht, die Franzosen, daß man begreife, w a r u m es geschieht; sie sind vernünftiger, erstere bleiben bei der Anschauung und der Freude stehen. 4[179] Die erste Wirkung des Glückes ist das Gefühl der Macht: diese will sich äußern 1) gegen uns selber 2) gegen Menschen 3) gegen Vorstellungen 4) gegen eingebildete Wesen und Dinge. Vernichten, verspotten, beschenken. 4
[I8O]
Die Herrschaft über die Natur, die fixe Idee des 20. Jahrhunderts ist Bramanismus, indogermanisch. 4
[I8I]
Schauspieler-Genie. Ist es denkbar, daß jemand solchen Unsinn aufstellen kann? — Ich selber habe ihn einstmals aufgestellt. Dulce est desipere in loco. — Sed non hic locus. 4
[I82]
Man soll doch die Behauptung, daß Moral Aberglaube ist, nicht damit zu widerlegen glauben, daß man sagt, Moral sei unsäglich nützlich und namentlich gewesen: also ein sehr nützlicher, vielleicht unentbehrlicher Aberglaube. 4[I83]
Das Gefühl der Macht heute auf Seiten der Wissenschaft: nicht der Einzelne für sich („Philosoph") sondern als Glied. Die Fürsten und Völker dienen ihr. — Bramanenthum ist vielleicht zu übertreffen. Was sind die Mittel, die Unabhängigkeit des Einzelnen zu steigern? Das Gefühl der höheren Wesen?
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4[i8 4 ] Zu allen Zeiten haben die Menschen darnach gestrebt, zum Gefühl der Macht zu kommen: die Mittel dazu, welche sie erfanden, sind fast die Geschichte der Cultur. Jetzt sind viele dieser Mittel nicht mehr m ö g l i c h oder nicht mehr r ä t h lich. 4[I85] Er fühlt sich, sie fühlt sich, es fühlt sich — Mann Frau und Kind. 4[I86] „Nicht die indischen Götter sind die Geber der Gaben: aus den heiligen Handlungen, aus den Liedern, ja aus deren Metren geht aller Reichthum und alles irdische Glück hervor." W(ackernagel) 4[I8 7 ] Die Gegengabe gegen die moralische Einschränkung des Individuums ist die Steigerung seines Gefühls von Macht (als Mitglied einer Gemeinde, später einer höheren geistigen Menschheit, eines Ordens) Vermöge der moralischen Handlung kann man z a u b e r n . Untergehen mit dem Gefühl der Macht — ein besonderer Kunstgriff, im Sterben siegen („die Materie abschütteln" usw.) 4[i88] Die unpersönliche Geistigkeit Gottes ist griechisch, die Juden hatten den Gott ihres Volkes, den Bundesgott, eine Persönlichkeit. Die Christen schwanken, doch mehr jüdisch. 4
[I89]
Cyprian „alle außerhalb der Kirche geübte Tugend, selbst das Martyrium ist werthlos".
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Nachgelassene Fragmente
„felsenfeste Uberzeugungen und todesmuthige Gewißheit" soll das Christenthum der alten Welt gebracht haben. 4[i9o] Plato im Grunde Pantheist, doch in der Verkleidung des Dualisten. 4[191] Die Spirituosen und Narcotica als Mittel zum Gefühl der Macht. Die Berauschungen der Künste, der Feste der Schönheit der Pflicht 4[i9*] Zu wissen daß so und soviel Personen mit uns sterben als unser nöthiges Gefolge, oder als Gattinnen usw. — giebt ein Gefühl und einen Ausdruck von M a c h t , der wieder die zukünftigen Opfer s t o l z macht, als einem so Mächtigen unterthan. 4 [19 3 ] Die Kunst der Schmeichelei vor Gott Fürsten Frauen hat im Werthe eingebüßt; man wünsdit jetzt die freie Gefolgschaft oder die widerwillige wird verachtet die Knechtsgebärde: es ist so ästhetischer. 4[i94] Je nachdem das Gefühl der Schwäche (Furcht) oder das der Macht überwiegen, entstehen pessimistische oder optimistische Systeme. 4[i9*1 Es ist das klügste, sich auf die Dinge zu beschränken, wo wir ein Gefühl der Macht erwerben k ö n n e n , das auch von Anderen anerkannt wird. Aber die U n k e n n t n i ß ihrer selber ist
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so g r o ß : sie werden durch Furcht und Ehrfurcht auf Gebiete fortgerissen, wo sie n u r d u r c h I l l u s i o n ein Gefühl der Macht haben können. Reißt der Schleier, so giebt es N e i d . 4[196] Von außen her sich seine Macht beweisen lassen, an die man selbst nicht glaubt — also durch Furcht in der Unterordnung unter das Urtheil der Anderen — ein Umweg eitler Menschen. 4[197] Die große Leidenschaft der M(acht) (Napoleon Cäsar) man muß dabei eitler erscheinen als man ist, es w o l l e n , um das Gefühl der Macht bei den Werkzeugen (Nationen) zu befriedigen. Für mich und mein Volk Macht und nicht nur das Gefühl i η uns, sondern die Macht sichtbar außer uns. Weil eine solche Macht das stärkste und erhebendste Gefühl befriedigt, geht die Geschichte hier ihren g r o ß e n G a n g : die Eroberer sind wirklich die Hauptsache, die inneren Vorgänge der Völker, ihre Nothdurftfragen sind Nebensache d. h. w e r d e n i m m e r so e m p f u n d e n : die Völker wollen l i e b e r Wein als Brod. 4
[I98]
Die Macht der Wissenschaft baut jetzt ein Gefühl der Macht auf, wie es Menschen noch nicht gehabt haben. Alles durch sich selber. — Was ist dann die Gefahr? Welches wäre die größte Vermessenheit, v o r a u s g e s e t z t daß die Wissenschaft eben Wissenschaft bleibt? 4
0 99]
Die Blase der eingebildeten Macht platzt: dies ist das Cardinalereigniß im Leben. Da zieht sich der Mench böse zurück oder zerschmettert oder verdummt. Tod der Geliebtesten, Sturz einer Dynastie, Untreue des Freundes, Unhaltbarkeit einer Philosophie, einer Partei. — Dann will man T r o s t d. h. eine neue Blase.
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Nachgelassene Fragmente
4[2θθ] Gegen Jedermann ein spitzes zweischneidiges aufreizendes Wörtchen haben: das sind die, welche es gern haben, wenn die Ochsen schneller laufen und etwas nachhelfen. Aber es giebt Tollkühne, welche jedermann rasend machen wollen, um sich so der Wirkung ihrer Kraft zu freuen. 4[20l] Die sogenannten Commensalisten fressen ihre Wohnthiere nicht, benutzen sie aber häufig als Mittel, sich die ihnen zuträgliche Nahrung zu schaffen. Hier haben w i r eine Schonung zum Zweck der Ernährung. Etwas Belebtes um sich zu haben, das nicht Furcht einflößt — könnte den Thieren ihre Jungen anempfehlen. D a ß sie ernährt werden wollen, wird errathen. Das Gefühl des Eigenthums, der Herrschaft läßt die Eltern dann sehr gereizt erscheinen, wenn man sie ihnen nehmen will. Vergesellschaftung von Thieren ist wohl eine ebenso alte Sache als Pflege der Jungen. Wie sich auf vielen Thieren P a r a s i t e n ansiedeln, welche das Thier nicht los werden kann, so auch auf Menschen — sie unterscheiden sich v o n den Dienern, daß sie v o m Wirthe leben, wider oder mit seinem Willen, ohne ihn zu Grunde giengen: viele Frauen. Ehemals freies Leben und dazu eine Menge O r gane, die dann für das Parasitenleben nicht mehr nöthig sind: sie degeneriren und werden r u d i m e n t ä r e Organe. Giebt es so etwas bei Menschen? 4[202] Diese Kriege, diese Religionen, die extremen Moralen, diese fanatischen Künste, dieser Parteihaß — das ist die große Schauspielerei der Ohnmacht, die sich selber Machtgefühl anlügt und einmal Kraft bedeuten will — immer mit dem Rückfall in den Pessimismus und den Jammer! Es fehlt euch an M a c h t ü b e r euch!
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4l>°3] Ich empfehle Euch die Mäßigkeitsvereine, nicht als ob Ihr eine Kraft hättet, die zu mäßigen wäre, sondern damit ihr nicht zuviel g e i s t i g e G e t r ä n k e trinkt, die Euch das Gefühl der Macht auf Stunden und den Ekel an euch auf die Dauer geben. 4O04] Die Asketen erlangen ein ungeheures Gefühl von Macht; die Stoiker ebenfalls, weil sie sich immer siegreich, unerschüttert zeigen müssen. Die Epikureer n i c h t ; sie finden das Glück nicht im Gefühl der Macht über sich, sondern der Furchtlosigkeit in Hinsicht auf Götter und Natur; ihr Glück ist n e g a t i v (wie nach Ej] Selbst aus der Geschichte der Moral soll das Gefühl der Macht strömen: unwillkürlich wird sie gefälscht, der Mensch wird herrlich gedacht, als höheres Wesen mit Eigenschaften, welche die Thiere nicht haben. Fast alle Schriften sind der Schmeichelei gegen d e n M e n s c h e n v e r d ä c h t i g . 4[2O6] Wollen wir durch die Wissenschaft den Menschen ihren Stolz wiedergeben, wie sie ihn aus Kriegen davon trugen, so muß die Wissenschaft g e f ä h r l i c h e r w e r d e n , m e h r A u f o p f e r u n g bedingen: sich selber preisgeben
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Nachgelassene Fragmente
4[207] Man schuf die Götter, n i c h t nur aus Furcht: sondern wenn das Gefühl der Macht phantastisch wurde und sich selber in Personen entlud. 4
[2O8]
Der Luxus ist erniedrigend für den Mann der Erkenntniß. Er 5 ist nicht etwa bloß entbehrlich für ihn, sondern er r e p r ä s e n t i r t ein anderes Leben als das s c h l i c h t e und h e r o i s c h e — und wirkt insofern auf die Phantasie lähmend und widersprechend. Wir sind nicht „zu Hause". Hang zum Luxus geht in die Tiefe eines Mensdien: das Überflüssige und Unmäßige für 10 das Auge und O h r als Wasser, worin ein soldier sich wohl fühlt. 4O09] Der Taschenspieler scheint n e u e C a u s a l i t ä t darzustellen, die man noch nicht kennt, das e r h e b t ! Ebenso der Dichter durch seine Bilder und Gleichnisse. 4[2I0] Von der L i e b e haben nur solche Menschen so emphatisch 15 und sehnsüchtig gesprochen, die wenig davon hatten. A l l g e m e i n e Menschenliebe wäre gar nicht auszuhalten: wenn nach uns nicht einer, nein Hunderte sich so sehnten und bemühten, wie es jetzt die Liebenden thun, da würde jeder nach den Zeiten o h n e L i e b e zurückverlangen. Gefühl der Macht als Basis des Helfenwollens ist schon gefährlich, weil der vorausgesetzt wird, der sich helfen läßt. 4[2Il] W o man sich auch nur hinstellt in der Geschichte, es war immer der Augenblick einer tiefen Gährung, wo neue Begriffe überall siegten: so ist es nicht erst heute.
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4[2I2] Ein Zeitalter des Überganges: so heißt unsere Zeit bei Jedermann und jedermann hat damit Recht. Indessen nicht in dem Sinne als ob unserem Zeitalter dies Wort mehr zukomme als irgend einem anderen. Wo wir auch in der Geschichte Fuß fassen, überall finden wir die Gährung, die alten Begriffe im Kampf mit den Neuen; und die Menschen der feinen Witterung, die man ehemals Propheten nannte, die aber nur empfanden und sahen, was an ihnen geschah — wußten es und fürchteten sidi gewöhnlich sehr. Geht es so fort, fällt alles in Stücke, nun so muß die Welt untergehen. Aber sie ist nicht untergegangen, die alten Stämme des Waldes zerbrachen, aber immer wudis ein neuer Wald wieder und zu jeder Zeit gab es eine verwesende und eine werdende Welt. 4θΐ3] Wenn doch die Künstler wüßten, was für Phantasie jede größere Erkenntniß zur Voraussetzung hat, wie viel erdacht {werden) und erblühen muß, um unbarmherzig abgeschnitten zu werden! Wir sind ein Fruchtgarten: meint ihr denn, es sei so leicht, die anmuthigsten Erfindungen und Hypothesen einfach zu annulliren? Wir sind gegen uns fast grausam, aber um der Früchte willen, die ihr und Alle haben sollt! — Goethe wußte es, was zum wissenschaftlichen Menschen gehört: er ist ein Ideal, in dem alle menschlichen Tüchtigkeiten sich vereinigen wie alle Ströme im Meer. Warum beurtheilt ihr ihn nach den Arbeitern des Geistes? Wir beurtheilen euch ja auch nicht nach euren Farbenreibern und Statisten. 4[2i4] Die Deutschen haben den betrunkenen Scharfsinn der Hegelianer erlebt, welche Goethe zu erklären vermeinten, indem sie ihn in Schemen zerschlugen, und die widerliche Beschränktheit der Anhänger Wagners, welche aus jeder Schwäche ihres Mei-
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sters ein Dogma und eine Aufforderung machten, daß hier jeder sdrwach sein solle.
Φ15] Trostmittel: m e h r zu ertragen haben als alle anderen, das giebt ein Gefühl von Vorrecht, von Macht. 4[2I6] Wie kann das Gefühl von Macht 1) immer mehr substantiell und nicht illusionär gemacht werden? 2) seiner Wirkungen, welche schädigen, unterdrücken, geringschätzen usw. entkleidet werden? 4[>i 7] Wer „in Zungen redet", hat von dem, was er sagt, kein klares Bewußtsein. 4[*I8] Das Herz als jüdischer Begriff, unverständig verfinstert erblindet verhärtet, durch Schmeicheleien zu berücken oder das Gegentheil: seine Funktionen sind die Affekte: das Alte Testament theilt das Vermögen des νοΰς dem Herzen zu: nur Gott vermag in das Herz zu blicken. Das fleischerne Herz: in den Affekten sind die Eingeweide thätig. Ungefähr entspricht es dem Schopenhauerschen „Willen" 4[2I9] Paulus glaubt an einen himmlischen Leibesstoff, den der A u f erstehungleib bekommt. Paulus fühlt, daß er bei den Korinthern äußerlich sehr schüchtern erschienen ist. „Das paradoxe Todesschicksal ist der Knoten des Räthsels, hier muß man hinter den Rathschluß Gottes kommen können."
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Zunächst stritt der Tod Christi g e g e n die Messianität: aber das Wunder bei Damascus bewies sie. Befreit von der σάρξ, erfüllt von dem πνεϋμα, sind wir nicht mehr unter dem Gesetz. Das Gesetz stellt die αμαρτία der σάρξ in ihrer größten Kraft vor Augen, wodurch sie dem Menschen unerträglich wird. „Im Fleische sein" heißt „im Gesetze sein". Dem Bösen absterben ist auch dem Gesetze absterben. — Welchen tiefen H a ß trägt hier Paulus ihm nach! Paulus hat durch m e h r e r e Acte das Gesetz als abgethan erklärt, es war ihm der wichtigste Punkt. Was jetzt ein Christ that, er hatte es n i c h t m e h r am Gesetz zu messen, das war todt, wie die σάρξ. Einer dieser Acte: Christus hatte es erfüllt Im Gefühle göttlicher V e r z e i h u n g und G n a d e die eine Argumentation, die andere im Gefühle der innersten Einvergeistung in Christum durch die Taufe. „Aus dem Glauben und durch Gnade" — das Gesetz sollte die Übertretungen erst provociren. Der Tod Christi wäre im göttlichen Rathschluß unmöglich, wenn es überhaupt eine Gesetzerfüllung geben k ö n n t e : „Käme die Gerechtigkeit durch's Gesetz, so wäre er unnütz gestorben". Sich vom Geiste treiben zu lassen, sich ihm ganz hingeben, ohne den eignen Willen zu befragen — Das Gesetz ist die Ursache daß ich gestorben bin. Damit bin ich aber dem Gesetz abgestorben. W e n n ein Christ auch sündigt, so doch nicht mehr gegen das Gesetz, er ist außerhalb desselben „Ich lebe nicht mehr i c h , sondern Christus lebt in mir. Was ich noch im Fleische lebe, das lebe ich im Glauben an ihn. Wenn ich jetzt das Gesetz wieder aufnehmen wollte (so daß ich mich ihm unterordne), so mache ich Christum zum Mithelfer der Sünde." Die αμαρτία ist noch da, aber sie ist überwindlich: während unter dem Gesetz die αμαρτία unüberwindlich ist: das sündenwirkende Gesetz ist vernichtet (und zwar die N a t u r nothwendigkeit der Sünde ist vernichtet)
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Die Sünde bald als Schwäche und Unvollkommenheit gegen den heiligen Gott — bald als selbstthätiges diabolisches Princip. p. 204—5 steht die Schärfe der Sache.
4[220] Sobald etwas als wahr gilt, hört alles feinere Verstehen auf, z.B. hat die ganze Christenheit ihren Paulus wort- und satzweise zur Erbauung gelesen, aber die eigentliche Dialektik, seine widerstrebenden Gedankengänge, seine eigentliche Noth und crux: also den leidenden und kämpfenden Paulus g a r n i c h t gefaßt: er war todt d. h. er redete inspirirt, als Mundstück Gottes. 4l>2i] Wer ausschließlich einer einzigen Gattung Musik Gehör schenkt, weiß endlich nicht mehr, wie abscheulich sie klingt: mehr noch, er weiß die feineren und guten Sachen nidit mehr von den schwachen und übertriebenen zu unterscheiden und genießt im Einzelnen weniger als man glaubt, im Ganzen freilich hat er das Gefühl der Macht — s e i n e Musik sei die beste Musik und sei durchweg gute Musik: obschon von beiden das Gegentheil wahr ist. Wer nur sich liebt, kann aus dem schlechtesten Geschmack eine Seligkeit empfinden und daraus ein Gesetz, eine Tyrannei machen: le mauvais goüt mene au crime.
Φ22] Wenn die Don Quixoterie unseres Gefühls von Macht einmal uns zum Bewußtsein kommt und wir aufwachen — dann kriechen wir zu K r e u z e wie Don Quixote, — entsetzliches Ende! Die Menschheit ist immer bedroht von dieser schmählichen S i c h - s e l b s t - V e r l e u g n u n g am E n d e ihres Strebens. 4[223]
Ich will der fanatischen Selbstüberhebung der Kunst Einhalt thun, sie soll sich nicht als Heilmittel gebärden, sie ist ein Labsal
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für Augenblicke, von geringem Lebens werthe: sehr gefährlich, wenn sie mehr sein will. 4["4] Die Griechen in alter Zeit hielten Milch und Honig für die Kost der Götter — das waren keine Weintrinkerzeiten. Den Germanengöttern war Meth der Trank, der Unsterblichkeit gab: da haben wir die Trinker. Soma der Eranier ein b e r a u s c h e n d e s Getränk, das nur im Opfer vorkommt. Also: man bringt im Gedanken die berauschenden Getränke und die Empfindungen der Unsterblichkeit und Leidlosigkeit in Verbindung. Durch den Genuß des Soma hören für den Sterblichen am Ende der Tage alle Leiden der Sterblichkeit auf, sie gehen zur Seligkeit der Götter über. — Die Entzückung bei Milch und Honig: zu denken an Ninon d'Enclos, welche eine Suppe schon berauschte.
Dionysisch — für uns ist der Wein etwas sehr Nüchternes. Und so suchen wir die Ursache des Dionysischen n e b e n dem Wein und nehmen dessen Wirkung höchstens als Symbol. Umgekehrt! Die Wirkung des Weins war das Neue, was man nur wie ein neues Leben und eine neue Gottheit zu fassen wußte — man verstand andere Erscheinungen d a r n a c h symbolisch. 4[226] Die epileptische Drehwuth, welche die hysterischen Weiber Griechenlands befiel, wurde mit dem Weintaumel verglichen. 4 ["7] Flössen alle Thränen, die jeden Augenblick auf Erden geweint werden, zusammen, es flösse beständig ein starker Strom durch die „Wiese des Unheils"
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4["8] Alles ist eitel und vergänglich, nichts dauernder Anstrengung werth; also genieße den Augenblick, das Unheil kommt doch — Salomo 4[229] Sich ein Unglück aus dem Sinn schlagen, durch heftige Arbeit, heftiges Vergnügen. Epicureer. 4l>3°] ein schlimmes Ding nicht sehen wollen, seine Existenz nicht zugestehen, es ableugnen, umdeuten, seine intellektuelle Ehre in die Leugnung setzen — ein Trostmittel. 4l>3i] Paulus ist ein Fanatiker und Ehrenwäditer des Gesetzes gewesen und hat ihm genug thun wollen: aber es gieng nicht! Die σάρξ! Und dann das Gesetz selbst, das reizte zur Übertretung! — Er hat einen tiefen H a ß ihm nadigetragen: es v e r n i c h t e t zu sehen durch Chr(isti) Tod war sein Triumph, der u n b e s i e g b a r e Feind dieses herrschsüchtigen Menschen war besiegt. 4l>3*] Der Wein hat anders auf die Griechen gewirkt als auf unsere alkoholisirten Gehirne. „UnvermischterWein macht wahnsinnig" sagten sie. 4l>33] Falsche Schlüsse: „ich schätze die Menschen gering, folglich schätzen sie mich hoch" „ich fürchte die Menschen nicht, folglich fürchten sie mich" — aber die u m g e k e h r t e n Schlüsse sind ebenso falsch. Das Schließen ist hier eben das Falsche: es ist als ob ein Kind schließt: ich mache die Augen zu, folglich sehen midi die Anderen nicht.
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4 034] Die Genies, die ihren Anhängern ein Stück Gehirn ausschneiden, gleich Hühnern, so daß diese dann halbtrunken und schwankend die Reflexbewegungen der Anbetung ausführen. 4l>35_] Die Christen verlernten das L e s e n , und wie hatte sich das Alterthum, in seinen Philologen, bemüht, es zu lernen! Aber die Bibel! 4[236] Ehemals meinte man, wo Wein sei, da sei Gott. Wo Erhebung ist, meint man noch, sei Gott. Ach, Erhebung ist wie Wein: Alcohol und Narcose. 4l>37] Unglück der Menschheit und Grund ihres langsamen Fortschrittes ist, daß man die e r h e b e n d e n und e r r e g e n d e n Dinge höher geschätzt hat als die n ä h r e n d e n . 4C238] Wenn die Menschheit uns im Werthe sinkt (ζ. B. bei Krankheit), sinkt auch unsre Achtung vor ihren Institutionen, „der Kranke ist ein Schuft" und der Heilige auch! 4l>39] Sagt nicht, daß die Langeweile sie plagt: sie wollen an nichts anbeißen, weil ihr Wille zur Macht nicht weiß, wie er zu sättigen ist — alles andre ist nichts dagegen. 4l>4°] Bei einem Verbrechen: die furchtbare Erniedrigung im Gefühle der Macht, aus einer unbescholtenen eine bescholtene Familie zu werden. Der Gedanke an Feinde quält nie mehr. Nicht Gewissensbisse!
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Nachgelassene Fragmente
4l>4l] Wesen der Kunst: eine schädliche Funktion wird ausgeübt, o h n e daß sie Schaden bringt. Angenehmste Paradoxie. 4l>42] Racoczi-Marsch der schönste der Welt. 4043] Man verträgt jetzt die Wahrheit schon über jüngste Vergangenheit, weil die Generationen nicht ihre Ansichten auf die vergangenen gründen und s 0 ihre Ehre haben — sondern sie der früheren Ansicht entgegensetzen und so ihr Gefühl von Macht von Unabhängigkeit haben. 4l>44] Die großen Staatsmänner haben die Phantasie ihres Volkes — dadurch sind sie groß d. h. wirksam: man empfindet im Volk, daß sie das Gefühl von Macht hervorbringen, nach dem man dürstet. Das eine Volk will die Macht mit Prunk und m i l i t ä rischem) Erfolg, ein anderes will sie mit List und diplomatischer Überlegenheit. 4l>4$] Die großen Fürsten und Eroberer sprechen die pathetische Sprache der Tugend, zum Zeichen, daß diese vermöge des Gefühls von Macht, welches sie giebt, unter den Menschen anerkannt ist. Die Unehrlichkeit jeder Politik liegt darin, daß die großen Worte, welche jeder im Munde führen muß, um sich als im Besitz der M(acht) zu kennzeichnen, nicht sich mit den wahren Zuständen und Motiven decken k ö n n e n . 4|>4 6] Ach es ist unmöglich, mit der Sprache der Wahrheit zu w i r k e n : Rhetorik ist nöthig, d. h. die alte Gewohnheit, nur
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bei gewissen Worten und Motiven b e w e g t zu werden, regiert und verlangt die Verkleidung der Wahrheit. 4l>47] Ich sehe vom Interesse und von der Eitelkeit des Einzelnen und der Völker ab: aber das Bedürfniß, Madit in sich zu fühlen, verschwenderische aufopfernde hoffende trauende phantastische Empfindungen d a r a u s quellen zu lassen — das treibt die große Politik als gewaltigstes Wasser. Man handelt da gegen sein Interesse, gegen seine Eitelkeit (denn man hat vielleicht Sklavendienste zu thun, damit die Nation das Gefühl der Macht haben kann, oder sein Leben, sein Vermögen seine Ehre in Gefahr zu bringen) (Tugend) 4 [2 4 8]
Man darf den Völkern selbst die Ruhe und das Vergnügen nicht anbieten, ohne den Lorbeerkranz darum: als ob es i m G e f ü h l e d e r M a c h t erlaubt sei, ruhig und vergnügt zu sein, sonst aber nicht: ja als ob es eine Pflicht sei, sich so zu zeigen, weil man so sich mächtig zeige. 4[249] Die Falschmünzerei des Machtgefühls und das Bezahlen mit falschen Münzen ist das größte Leiden der Menschheit. Die Völker werden so betrogen, weil sie einen Betrüger s u c h e n : einen aufregenden Wein für ihre Sinne, nicht eine gute Nahrung. Die Regierungen sind das Mittel, dem Volke jenes Gefühl zu geben: Männer aus dem Volke gewählt, geben es viel weniger als glänzende Eroberer, kühne Verschwörer, alte legitime Häuser: sie müssen etwas haben, an dem man sich berauschen kann.
Die Kriege sind einstweilen die größten Phantasieaufregungen, nachdem alle christlichen Entzückungen und Schrecknisse
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matt geworden sind. Die sociale Revolution ist vielleicht etwas noch Größeres, deshalb kommt sie. Aber ihr Erfolg wird geringer sein als man denkt: die Menschheit k a n n so sehr viel weniger als sie w i l l , wie es sich bei der französischen Revolution zeigte. "Wenn der große Effekt und die Trunkenheit des Gewitters vorbei ist, ergiebt sich, daß man, um mehr zu können, mehr Kräfte, mehr Übung haben müßte. 4[*Ji] Das Christenthum siegte, wie ein starker Wein siegt; das Alterthum betrank sich, weil es sich nicht mehr stark und froh fühlte und sich an große Aufregungen gewöhnt hatte. Die Vorstellung vom Ende der Welt nahm sich angesichts des römischen imperium höchst phantastisch und berauschend aus. 4l>5»] Eigentlich war es für Paulus consequent zu sagen, durch den Tod Chr(isti) und die Vereinigung mit ihm durch die Taufe sei die σάρξ todt und unser Leib somit ein anderer Leib, der himmlische Leib. Aber das war nicht möglich zu sagen, obwohl in einzelnen Moment(en) er es vielleicht glaubte: aber n i e m a n d g l a u b t e es i h m ! Wenn die Vereinigung also nicht völlig war — w o d u r c h wird sie das? Glaube und Taufe nicht genug. Warum erst bei der Auferstehung? In Nachahmung Chr(isti)! Drei Tage V e r w e s u n g ? 4[>53] An der Herrlichkeit Glorie (Ruhm) Gottes theilhaben, Söhne Gottes werden — das ist freilich ein Ziel! D a ist keine Bescheidenheit mehr! Es darf nur ihrer nicht z u V i e l e geben, sonst ist die Ehre zu gering! D a f ü r wird gesorgt! 4t254] Solche Naturen wie Paulus legen sich alle Erlebnisse nach der Logik ihrer Leidenschaft zurecht. Der Erscheinung von Da-
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masc(us) war der Gedanke vorangegangen: „gesetzt die Christen hätten Recht" — und er hatte die Vortheile geahnt für seine persönliche Pein — vor allem war es ein neuer Versuch, und der Widerwille gegen seinen bisherigen Zustand wurde zu groß. So sah er „Christus" — woher wußte er es! warum glaubte er es, wenn die Erscheinung es sagte? „ W a r u m verfolgst du mich" — es ist n i c h t v e r n ü n f t i g , sagte sich der kluge Jude. 4055] Paulus als Bekehrer der H e i d e n : dazu war nöthig „vom Gesetz erlöst zu sein" — stolzeste Aufgabe ach der H e i l i g e Paulus! Man sieht bei ihm durch und durch. 4[*J6] Gehorchen, mehr thun als seine Pflicht ist, Lob ablehnen, stolz sein auf Integrität: d e u t s c h . Jetzt haben wir die wüthend gewordene Eitelkeit, und leider sind einige unsrer hervorragenden Denker und Künstler vorangegangen: jeder will mehr bedeuten als sein und macht für sich „Reclame". 4l>5 7] Warum macht die Cultur s c h w a c h ? Carthago unterlag dem weniger cultivirten Rom, die hohe arabische Cultur unterlag usw. Weil in der Cultur die Phantasie-Befriedigung der Macht zu hoch geschätzt und zu leicht gemacht wird: so daß die wahre Madit schwach wird (Macht über sich selbst usw.) 4[*j8] Wie erhob sich das Christenthum über den Begriff eines „erfüllten Judenthums", einer jüdischen Spezialität, während die Nation dabei blieb, ihr Ideal sei noch nicht erfüllt? — Das ist eigentlich die persönliche Geschichte des Paulus, den es vor Juden und Judenchristen d a v o n trieb — er wollte nichts mehr mit dem Gesetz zu thun haben. Daß man Christ werden
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könne, ohne vorher Jude zu werden — war s e i n e Erfindung. — Übrigens war es ein Irrthum: die Christen sind doch Juden geworden. 4l>59] Soll man denn in der Welt leben, als habe man die Gebote 5 einer h ö h e r e n G e i s t e r w e l t hier d u r c h z u f ü h r e n und nichts anderes zu thun? Dies könnte geschehen aus Interesse oder aus Eitelkeit oder aus einem Gefühl der Macht (aus der Überzeugung, man g e h ö r e zu dieser Geisterwelt und führe seine eigenen B e d ü r f n i s s e durch) Wenn man aber io n i c h t m e h r g l a u b t ? Dann leitet uns unser Interesse, unsere Eitelkeit, unser Gefühl der Macht d i r e k t im Handeln, nicht mehr indirekt. Denn alle alten Moralen, so heilig sie empfunden werden mögen, sind aus n i e d e r e r E r k e n n t n i ß entsprungen, sie d ü r f e n nicht mehr herrschen. 4[26O]
Unser Leben soll ein Steigen sein von Hochebene zu Hochebene, aber kein Fliegen und Fallen — letzteres ist aber das Ideal der Phantasiemenschen: höhere Augenblicke und Zeiten der Erniedrigung. Diese schlimme Verwöhnung degradirt den allergrößten Theil des eignen Lebens, zugleich lernen wir die anderen 20 Menschen, weil wir sie nicht in der Ekstase sehen, geringschätzen: es ist ungesund, denn wir müssen die moral63]
Herumgehen wie verwandelt, mit einer anderen Schwere in den Füßen, beladen mit einer Last, daß man immer niederfallen möchte, die Töne der Andern kommen wie aus einem dikken Nebel, ihre Gründe klingen wie fließende dumpfrauschende Wasser, es ist h e l l , und dabei die Empfindung der Nacht. 4(264] Einem Regiment treu und gewissenhaft gedient zu haben, welches sich zuletzt als ein böses und verhängnißvolles herausstellt — und nicht mehr zurück, nicht mehr rechts und links können — welche Bitterkeit! In der Schlinge seiner arglosen
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Tugend sich gefangen sehen! Gewissenhaft sein und als sicheren Lohn die Verachtung derer die das Regiment verachten d.h. der Besten ernten! D a auszuharren kann heroischer sein als die Flucht aus dem Kampf und das Preisgeben der Sicherheit und der Güter. 4[265] Es giebt Vorstellungen, welche die Aufgabe des Weins haben: sie erheben vergnügen ermuthigen, aber viel genossen erzeugen sie den Rausch und oft genossen ein Bedürfniß, ohne dessen Befriedigung das Leben oede und unausstehlich wird. 4 [*«s; was auf frühere, aus Schillers Themata. Man gedenke Corneilles. 4[>7i] Darf ich doch mitreden! Alle die Wahrheiten sind für midi blutige Wahrheiten — man sehe meine früheren Schriften an. 4l>72] Der Selbstmord ausgeübt an einer ganzen Epoche unseres Lebens, unserer Erfahrungen — alles soll todt sein — und alles soll vergessen sein — alles soll a n d e r s gewesen sein als es war! Paulus. 4l>73] Die Sprache ist u n d e u t l i c h geworden, weil so große U n k l a r h e i t in der U m g r e n z u n g d e r B e g r i f f e gewüthet hat und das B e d ü r f n i ß nach fester Bestimmung nicht gepflegt ist. Also ist die Aufgabe klar. 4l>74] Ach die Entwerthung der einfachen Freuden! Die Griechen haben damit angefangen; es sei sclavenhaft, sich mit den αναγκαία genügen lassen. F r ö h l i c h soll es zugehen! Das niedere Volk hat recht! — Luxus herrscht im Geistigen, daran kranken wir. Die Wahrheit ist: ihr lebt sklavenhaft in eurer Überarbeitung, in eurem Zwange der Gesellschaft, ihr braucht die Geistigkeit als R a u s c h : und sie bekommt euch schlecht.
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Nachgelassene Fragmente
4[275] Die Menschen jeder Zeit, welche Kunstbedürfnisse haben, vor allem aber eine tiefe schwere Gemüthsart, fallen dem Künstler zu, welcher tief und ernst ist, und sanktioniren ihn, indem sie ihm ihre Tugenden unterschieben: er kommt dem gern ent5 gegen. Aber b e w i e s e n für den Künstler ist damit nichts. 4[2/6] Die Seele erfüllt von häßlichen Erfahrungen, häß77] Das Nachdenken und die Erfindsamkeit in Bezug auf die 10 e l e m e n t a r e n R e i z e (in Musik und Farben usw.) gehört zum philosophischen Charakter in unserer Zeit: ebenso wie die Naturtreue der Maler. Man geht so weit man kann und ist radikal. 4[278] sie verachten die Form: als ob diese Musik das geringste 15 Interesse hätte, wenn sie nicht sich auf dem Hintergrund, der g e g e n s ä t z l i c h e n Forderung der Form, aufschriebe, gegen ihn abhöbe! 4[279] Was ein Künstler an Meinungen Sympathien Antipathien Gewohnheiten Excessen alles nöthig hat, um die Luft sich zu 20 schaffen, in der er seine Produktivität wachsen fühlt, das geht uns alles nichts an: so wenig uns der Boden kümmert, wenn wir Brod essen. Verlangt er freilich, daß wir alles jenes mit ihm theilen, um ganz den Genuß seiner Kunst zu haben, so ist zu antworten, daß der Genuß des größten Kunstwerkes ein einziges 25 verschrobenes Urtheil, eine Verrückung unserer Stellung nicht
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aufwiegt. Das Kunstwerk gehört nicht zur Nothdurft, die reine Luft in Kopf und Charakter gehört zur Nothdurft des Lebens. Wir sollen uns von einer Kunst losmachen, die ihre Früchte zu theuer verkauft. Hält es ein Künstler nicht in der hellen guten 5 Luft aus, muß er, um seine Phantasie zu schwängern, in die Nebelhöhlen und Vorhöllen hinein, gut: wir folgen nicht. Ebenso wenn er H a ß und Neid braucht, um seinem künstlerischen Charakter strenge Treue zu wahren. Ein Künstler ist nicht Führer des Lebens — wie ich früher sagte. 4
[28O]
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Sich vorstellen, was ein Anderer empfindet, wenn wir dies oder jenes thun — also den Nutzen oder Nachtheil von uns zu berechnen aus dem erschlossenen Nutzen oder Nachtheil eines Anderen, zu welchem ihn unsere Handlung führt — das ist e i n g e ü b t im Thierreich in den Mitteln des Schutzes und des 15 Angriffs. Sich die Wirkung auf einen Anderen vorstellen und um des Anderen willen etwas thun — die größte Schule! derErkenntniß! Dazu hat am wenigsten das instinktive Mitleid geführt, sondern die A n g s t und d e r e n Phantasie: und ihr Resultat ist vom Hunger (als Ausgang des Angriffs auf ein anderes 20 Wesen) acceptirt worden. Zu errathen, wie es einem zu Muthe ist, aus seinen Gebärden, ob er fliehen oder angreifen will usw. — ohne die h ö c h s t e A n s p a n n u n g des Intellekts durch die Noth hätte man das nicht gelernt. Das Mitleid kommt spät, nachdem alles gelernt ist, es s p a n n t den I n t e l l e k t n i c h t 2 5 an; es ist für die Kenntniß des Menschen ziemlich unproduktiv. 4[28l ]
. Die Liebe phantasirt über den Anderen: ihr geheimer Impuls ist, im Anderen so viel Schönes als möglich zu entdecken, oder ihn sich so schön als möglich zu d e n k e n . Die Illusion 3° ist hier also eher ein Vortheil. Die F u r c h t will errathen, was
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der Andere ist, was er kann und will: die Illusion wäre der größte Nachtheil. Also die Erkenntniß des w a h r e n Menschen ist viel m e h r durch F u r c h t als durch Liebe (Mitleid) gefördert worden. 4[282] Ich kenne jene schwellende Brust, jenes Herablächeln auf die irdischen Dinge, jenen heißen Strom, den stolzen Tritt des Fußes, jenes glühende verachtende und hoffende Auge — 4[28 3 ] Wenn man bedenkt, wie viel Schmerz man übernehmen, wie viele man sich anthun muß, wie fehlerhaft es wäre, die sofortige Befriedigung zu wählen; so ergiebt sich, daß auch im Verhältniß zu anderen Menschen wir Leid machen müssen und nicht gleich befriedigen dürfen d.h. daß das Mitleid uns nicht beherrschen, sondern unsere Einsicht über den Nutzen ü b e r das MitKeid) h e r r s c h e n müsse. 4[284] Die Männer gründen die Ehe, um das Gefühl der M(acht> zu haben: die Frauen auch (unabhängig sein) Aber sie irren sich beide. Die Liebe ist kein Grund zur Ehe, eher ein Gegengrund: ein tiefes Gefühl verbirgt sich. 4[28J] Ich habe meine Schriften jederzeit mit meinem ganzen Leib und Leben geschrieben: ich weiß nicht, was „rein geistige" Probleme sind. 4[z86]
Plato wurde ungeduldig, er wollte am Ende sein. Und warum? Sein Gefühl der Macht wollte Befriedigung, jener starke politische Trieb. Die Kürze unseres Lebens verlangt, daß an
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einem Punkte die Höhe eintritt und das Ziel erreicht ist: sonst blieben wir ewig in der Schwebe und das hält ma9°] Ich weiß so wenig von den Ergebnissen der Wissenschaft. Und doch scheint mir bereits dies Wenige u n e r s c h ö p f b a r r e i c h zu sein zur Erhellung des Dunklen und zur Beseitigung der früheren Arten zu denken und zu handeln.
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Im hingebenden und trotzigen Gefühle der Jugend hängt man sich gerade an jene Lehrer und Männer, die unseren Kräften fremd sind und sich auf den Gebieten erheben, wo wir unsere Mängel fühlen. So triumphiren wir durch unsere Parteinahme über den Zufall, gerade in dem und jenem arm und niedrig geboren zu sein. Später halten wir uns an unsere s t a r k e n Seiten, weil wir hier allein tüchtig arbeiten bauen können und Meister werden wollen.
Je mehr wir begreifen, w i e unsere Werthschätzungen entstanden sind, um so mehr verringert sich ihr Werth und das Bedürfniß nach neuen Abschätzungen stellt sich heraus. Das Studium der ersten und letzten Fragen ζ. B. verliert jene centnerschwere Bedeutung, wenn wir sehen, durch welche Irrthümer wir unser gegenwärtiges Befinden und ewiges Heil daran g e h ä n g t haben. 4l>93] Daß sich Schopenhauer's Lehre vom „Willen" so leicht einschmeichelt, liegt darin, daß wir auf das W e s e n t l i c h e derselben schon eingeübt worden sind — durch den jüdischen Begriff „Herz", wie er uns durch Luther's Bibel geläufig geworden ist. Die Empfindung, daß uns etwas leicht fällt und an lauter schon vorhandene Empfindungen anknüpft, gilt uns als Z e u g n i ß der Wahrheit. 4[294] Hat einer einen jener großen A u f s c h w ü n g e i n s h ö h e r e R e i c h der Geister gemacht und ihn d a r s t e l l e n können, da macht die Menschheit den Versuch, ihn in sich aufzusaugen: d. h. Viele versuchen in der gleichen Richtung zu fliegen und erst spät beruhigt sich die Begierde. Es sind die Moden im
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großen Stile, namentlich für die Ehrgeizigsten. Es war die Art, wie man ehemals r e i s t e und A b e n t e u e r suchte. 4[>95] Die Wissenschaften repräsentiren die höhere Sittlichkeit im Vergleich zu den Welträthsellösern und Systembauern: die Mäßigung Gerechtigkeit Enthaltsamkeit Friedfertigkeit Geduld Tapferkeit Schlichtheit Schweigsamkeit usw. 4 [296] Die Kunst hat a u c h die Phantasie-Befriedigung: und es ist diese unschuldiger und harmloser als sonst, weil die Schönheit den Maaßstab des Μ a a ß es mitbringt: sodann weil die Musen sagen: „wir lügen". 4 [297] Was bestimmt uns zu so rascher Verallgemeinerung, daß wir nach Einem Zuge uns den Menschen denken und schlechterdings niemand sein Bild eines Andern unausgeführt lassen will? Die F u r c h t und die Gewohnheit der Furcht: „er zeigt diesen Zug — wie, wenn er immer so wäre? Nehmen wir es der V o r s i c h t h a l b e r an, nämlich wenn es ein gefährlicher Zug ist!" 4[298] Die Thiere welche durch eine entsetzliche B u n t h e i t aller Augen auf sich ziehen, werden trotzdem sehr in Ruhe gelassen: sie haben alle eine böse Waffe, ein Gift und dergleichen — Gleichniß. 4l>99] Wenn wir eine Handlung im G e f ü h l e d e r M a c h t thun, so nennen wir sie moralisch und empfinden Freiheit des Willens. Handlungen im Gefühle der Ohnmacht gelten als unzurechnungsfähig. Also die begleitende Stimmung entscheidet, ob etwas in
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die moralische Sphäre gehört „gut oder böse" ist. Darum dieses unaufhörliche Bemühen um Mittel, diesen Zustand herbeizuführen: es ist der m e n s c h l i c h e ! „ I n Macht Böses thun ist mehr werth als in Ohnmacht Gutes thun" d. h. das Gefühl der Macht wird höher geschätzt als irgend ein Nutzen und Ruf. 4[300] sie begeistern sich in der Jugend einmal und sind dauernd dafür dankbar, während sie den Gegenständen dieser Begeisterung f e r n e r werden: aber an einer K r i t i k h i n d e r t sie die Pietät. Die Heiligsprechung n i m m t z u im Verhältniß, daß die Begeisterungszeit ferner wird und w i r den Objekten uns entrückt fühlen. „Was uns einmal so e r h o b e n hat, m u ß die W a h r h e i t gewesen sein" „Jetzt stehen wir fern und können es nicht mehr prüfen: aber damals waren wir ganz darin zu Hause." Der Wahn, daß was erhebt, wahr ist und daß alles Wahre erheben muß, ist die Folge von der Verachtung des Irdischen Materiellen als des Unwirklichen und (der Verehrung) des Geistigen und des Jenseits als der w a h r e n Welt, von w o aus alle Regungen kommen, die erheben. Wenn die Geschichte von Christus in diesem Jahrhundert sich ereignet hätte, so würde der für v e r r ü c k t gelten, der das glaubte, was jetzt noch viele davon glauben. 4[3°i] A l l e Griechen (v. Gorgias Plato's) glaubten, der Besitz der Macht als Tyrann sei das beneidenswertheste Glück: die Ruchlosigkeit desselben vorausgesetzt. A l l e waren bemüht, das Entstehen dieses Allerglücklichsten zu verhindern und, wenn er existirte, ihn zu hindern oder zu vernichten. Das höchste Glück, an das jeder glaubte, wurde ganz in das G e f ü h l der M a c h t gelegt: dieser Zustand aber als das absolut Unsittliche (Sittenfeindliche d. h. Individuelle Egoistische) behandelt. Man
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verabscheute und fürchtete den Glücklichen: in seinem Übermuth schont er niemanden. Allmacht wäre in ihren Augen vollendete Rücksichtslosigkeit und Teufelei, nicht zwar Lust zu schaden, sondern Opferung Aller für die Lust des Tyrannen. G a n z so verfährt nun audi der Tyrann des Geistes, er ist der Glücklichste und Gewissenloseste. Gerecht sein ein fortwährendes Opfer, nur zu ertragen in Hinsicht auf den R u h m bei der Gesellschaft (d. h. auf ein Gefühl der Macht): o h n e diesen Erfolg gerecht sein wäre das entsetzlichste Loos. Das ist griechisch gedacht. Aber ohne gerecht zu sein (ohne diese Mühen und Aufopferungen) den Lohn der Gerechtigkeit, den Ruhm haben erschien als das größte Glück. Der praktische Ausweg (da der zum Tyrannen gewöhnlich verschlossen war) war: der S c h e i n d e r G e r e c h t i g k e i t : so wie Napoleon in Worten und Handlungen den edleren Trieben seinen Beifall, ja Lohn zollte und so ihren Glanz für sich gewann. Die Gleichheit der Bürger ist das Mittel zur Verhinderung der Tyrannei, ihre gegenseitige Bewachung und Niederhaltung. Hätte man den Ring des Gyges, so wäre ein Jeder ungerecht. — Offenbar haben diese Gleichen über das Glück des Tyrannen wild phantasirt, es war die Begehrlichkeit ihrer Phantasie; noch in der Tragödie ist es des großen Paradoxons, „König sein und unglücklich", „nicht einmal den Perserkönig beneiden" Ausdruck. Das Gefühl der Macht reiche aus, alle Mühsal des Regierens, alle Furcht usw. weit aufzuwiegen (Xenophon's Hiero ist die sokratische Paradoxie, daß nicht viel am Glück des Tyrannen ist!) Der Tugendhafte sei der glückliche — das klang wie v e r r ü c k t : die Enthaltung war ja so lästig! Zuletzt blieb aber der Tugend s t o l z des Stoikers übrig, der König und Weise ist: das neue Gefühl der Macht: man kann ihn mit nichts u n t e r w e r f e n , er regiert. — Jede Philosophie hatte ihre herrische Seite: die Epicureer triumphirten, den Acheron besiegt zu haben und die Todesfurcht, die Furcht vor der Natur: also Herren der Natur zu sein.
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Nachgelassene Fragmente
4[3°2] Der Hauptvorwurf Plato's geht nicht gegen die Sophisten sondern gegen die D i c h t e r : sie lenken die Jünglinge, welche f ü r Höheres angelegt sind, auf die Bahn des politischen Ehrgeizes — während e r sie auf die des philosophischen Ehrgeizes bringen möchte. Die g e w ö h n l i c h e A r t der Befriedigung des Machtgefühls ist der tiefe Schatten, welchen Plato sieht: er will eine andere zeigen. Jetzt könnte man den Vorwurf wiederholen, aber umgekehrt. Die Philosophen befriedigen den Stolz der Jünglinge, wie die Dichter — s i e b r i n g e n s i e a b von der W i s s e n s c h a f t . 4l>3] Für mich erdacht und f ü r jene aufgeschrieben, welche einer herzlichen und feinen Antheilnahme an menschlichen Dingen ebenso fähig sind, als sie sich vom zudringlichen Gelüst des Reformators und Sittenpredigers frei wissen — so mögen diese Gedanken 4[3°4] Mill über den platon(ischen) P h i l o s o p h e n ) der, gleich den Göttern, über die Erde erhaben ist und im Anschauen der wahren Dinge lebt, p. 67. 4[3°5] Die Rangordnung der denkenden Geister ist erst noch zu machen. Bisher hat man die Philosophen zu sehr als Künstler behandelt, ihre Gabe der Darstellung, ihre Phantasie, ihr Coloritgebenkönnen als Argumente ihrer Genialität behandelt: aber den Grad ihrer Gerechtigkeit, Selbstbändigung außer Acht gelassen: eigentlich sie außerhalb der Moral beurtheilt. I h r e W i r k u n g entschied, und wer auf die empfänglichsten Menschen, solche welchen ihr Dank rhytmisch über die Lippen quoll, wirkte, galt als der größte: also der B e g e i s t e r e r d e r Jugend!
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4[306] Ach diese Erbärmlichen, welche glauben, die Menschheit möchte in Kürze z u k l u g werden, und es möchte um i h r e n Einfluß, i h r e n Ruhm geschehen sein! 4[3°7] Alle jene Wesen, die ihre Leidenschaft verschlingt Werther Tasso Tristan Isolde rufen uns zu: sei ein Mann und folge mir n i c h t nach! — und das rufen audi die Menschen der philosophischen Leidenschaft, welche individuell höchste Macht durch Erkennen begehren, Alchymisten sowohl wie Platoniker usw. 4
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Der Impuls, sich zu opfern, gilt für gut. Er ist es an sich n i c h t : wie sollte Schaden thun irgend jemand anderem (in diesem Falle sich selber) an sich gut sein? Und noch dazu ist dieser Schaden ein so überflüssiger! nichts als ein Gelüst der Herrschsucht und des Trotzes gegen sich, welches sich nicht vernünftig zu befriedigen weiß. 4[3°9] „Wille zum Uriniren" d. h. es giebt einmal einen Druck und Zwang, zweitens ein Mittel, sich davon zu befreien, drittens eine Gewöhnung, es anzuwenden, nachdem es von dem Verstände an die Hand gegeben ist. An sich hat jener Zwang und Druck niclits zu thun mit jener Entladung der Harnblase: er sagt nicht „ich will" sondern nur „ich leide". 4[3i°] Schopenhauer's Lehre ist eine verkappte Teleologie, aber die eines bösen und blinden Wesens, welches Zwecke erstrebt, die nicht zu bewundern und nicht zu lieben sind. Schien es bei der früheren Teleologie, als ob der Kopf des Universums und die hellste gerechteste Einsicht in ihm die Welt und die Menschen
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gemacht habe — wo man nicht begreifen konnte, warum beide nicht um etwas vernünftiger und gerechter ausgefallen sind — , so scheint bei Schopenhauer der Unterleib des Universums die Wurzel der Dinge zu sein: und die Begierden desselben erfinden sich erst einen Intellekt, um sich mit seiner Hülfe bessere Nester zu bauen. Eins ist so falsch wie das Andere: aber das Letztere ist unklarer, weil es v o m Wollen redet ohne von vornherein einen Intellekt anzunehmen, der sich vorstellen konnte w a s er will: einen solchen Willen in's Blaue (oder in's Dasein!) giebt es nicht, es ist ein leeres Wort. 4Ü3"] Vita contemplativa. Fingerzeige und Wegweiser dahin. 4Ü3"] Vom Leben der Denker. Moralische Fragen. 4[3 x3J Vademecum Vadetecum Gedanken über die individuelle Sittlichkeit. 4[3i4] Die moralischen Vorurtheile. Das Gefühl der Macht. 4 [3 1 5 D Die Erlösung. Was zu v e r l e r n e n
ist.
4t3i6] Wie sich Räuber und große Fausthelden zu Soldaten verhalten, so Philosophen zu w i s s e n s c h a f t l i c h e n
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M e n s c h e n . Freilich: die ersteren machte man zu H e r o e n , diese zu G e n i e s ! 4Ü3I7J In den w i s s e n s c h a f t l i c h e n M e n s c h e n leben die Tugenden der Soldaten und ihre Art Heiterkeit — es fehlt 5 ihnen die letzte Verantwortlichkeit. Sie sind streng gegen sich, gegen einander und erwarten für das Gute nicht, gelobt zu werden. Sie sind männlicher und haben eine Vorliebe für Gefahr, sie müssen sich t ü c h t i g machen, das Leben für die Erkenntniß aufs Spiel zu setzen: sie hassen die großen Worte und sind ι ° harmlos, und etwas geckenhaft. 4[3i8] Ich werde von der größten Krankheit der M(enschen) sprechen und will zeigen, daß sie aus der Bekämpfung anderer Krankheiten entstanden ist: daß das anscheinende Heilmittel auf die Dauer Schlimmeres erzeugt hat, als das ist, was durch 15 dasselbe beseitigt werden sollte. Werden sich meine Leser einen einzigen Gedanken und diesen in hundert und aberhundert Wendungen und Beleuchtungen gefallen lassen? Aber es ist ein Erforderniß der allgemeinen Gesundheit, und man hat Härteres in ihrem Dienste gethan als 20 ein Buch zu lesen, das nicht zu den unterhaltenden gehört. 4Ü3I9] schwärmerische mädchenhafte Empfindungen von sogenannter Seligkeit, Träume von bekehrten und geretteten Wüstlingen, Treue bis zum Sprung ins Wasser, und der Geliebte selber etwas Furchtbares Unheimliches, ein Mann unbekannter Unthaten, 25 aber ein Ubelthäter ohne Schuld, der zugleich ein verkappter Gott und Prinz ist, und alles in sehr reizvoller Natur — das sind jetzt die Erholungen des e i s e r n e n Deutschlands. — Böse Harmonien, wüthende Rhythmen und unsägliches chro-
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matisches Jammern, der Wechsel aller Tonarten als Sinnbild der Unbeständigkeit aller Dinge unter dem Monde — so wird die W i r k l i c h k e i t beschrieben. 4[32°] Ungarische Rhapsodie II — eine so g u t e und zugleich so 5 a u s g e l a s s e n e Musik, als ob Gott des Teufels geworden sei. 4 [ 32 1 ] Die „Erkenntnisse mit Einem Schlage", die „Intuitionen" sind keine Erkenntnisse, sondern Vorstellungen von hoher Lebhaftigkeit: so wenig eine Hallucination Wahr is5] Unsere Aufgabe ist, die richtige Empfindung d. h. die welche wahren Dingen und richtigen Urtheilen entspricht zu pflanzen. N i c h t die natürlichen wiederherstellen: denn sie haben nie existirt. Man lasse sich durch das Wort „natürlich" oder „wirklich" nicht täuschen! Das bedeutet „volksthümlich" „uralt" „allgemein" — mit der Wahrheit hat es nichts zu thun. Nur auf der Grundlage r i c h t i g e r Empfindungen können die Menschen sich auf die Dauer und auf alle Entfernungen h i n v e r s t e h e n . Dazu bedarf es n e u e r Werthschätzungen. Zunächst eine Kritik und Beseitigung der Alten. Das zu V e r l e r n e n d e ist jetzt die nächste Masse die Arbeit giebt. . Die Werthschätzungen auf u n r i c h t i g e r Grundlage führen einen Vernichtungskrieg gegen einander, aber vielleicht arbeiten alle zusammen doch daran, gewisse Grundimaginationen zu s t ä r k e n . Deshalb darf man sie sich nicht selber überlassen, sondern muß sie angreifen. N B — Die Aktion, in welche sie den Menschen ziehen, hilft dazu, falsche Maaßstäbe immer 5[26]
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wieder zu erzeugen — es wird der Teufel an die Wand gemalt und zuletzt wird man von den gleichen Empfindungen b e h e r r s c h t , wie die, welche man bekämpft. Also: man soll η i c h t ν i e 1 gegen sie kämpfen! 5 [*7] Schopenhauer's Lehre enthält als Kern im Innern den Satz: wir werden durch unsere B e g i e r d e n gelenkt: n i c h t durch unsere nützlichen und vernünftigen Interessen, geschweige durch unsere Tugend und Weisheit. Die Welt ist die Begierde. j[*8] Das M a r t y r i u m den Hochmuth.
beweist für die Wahrhaftigkeit und
Das Gefühl des Glückes hat die zwei Formen: das Gefühl der Macht und das Gefühl der Ergebung: letzteres ist da wie Müdigkeit und Abspannung. 5[3°] Das Chaos unrichtiger Empfindungen, die Anarchie zeitweilig sind Übergangsstufen: für gewisse Gruppen herbeizuführen. 5t3i] Richtige Empfindungen werden noch höchst verschieden sein: und gemeinsam ist, daß sie keine imaginären Faktoren in sich enthalten, d. h. das was g e w o g e n wird, ist w i r k l i c h : verschieden sind die W a g e n , nicht das Gewogene.
In vielen Dingen wird man lange n i c h t e m p f i n d e n dürfen, weil hier noch n i c h t s G e w i s s e s gesagt ist. Todte Punkte sich hier zu schaffen nothwendig!
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Nachgelassene Fragmente
$[33] Um von den Sünden zu erlösen, empfahl man früher den Glauben an Jesus Christus. Jetzt aber sage ich: das Mittel ist: glaubt nicht an die Sünde! Diese Kur ist r a d i k a l e r . Die frühere wollte einen Wahn durch einen andern erträglich machen. 5t34] Nur ist es nicht so leicht, n i c h t zu glauben — denn wir selber haben einmal daran geglaubt und alle Welt glaubt oder scheint doch daran zu glauben. Wir müssen nicht nur umlernen, sondern unsere Schätzungen u m g e w ö h n e n — es bedarf der Übung. 5 C3 5 D „Nehmt meine Kunst an: denn dann habt ihr Deutschen eine Kunst, die sich neben der der anderen Nationen sehen lassen kann, „d i e deutsche Kunst", — zunächst zwar nur „e i η e d(eutsche) K(unst") aber nun soll b e w i e s e n werden, w i e gerade diese Kunst dem Wesen der Deutschen entspricht, aus ihm gewachsen ist, Stoffe Gedanken Musik usw." — Dies ist Wagner's Art für s e i n e n Ruhm zu sorgen: er will, eine N a t i o n solle für ihn eintreten und ihn in sich und ihren „Ruhm" aufnehmen. Dies Spiel ist noch nie so offen gespielt worden — Grund, warum es bis jetzt nicht gelungen ist. Später, wenn Wagner todt und seine Schriften vergessen sind, ist so etwas möglich. Inzwischen bemächtigen sich die Musiker aller Völker seiner Musik und in Kürze wird es nicht mehr wie deutsche sondern wie „Musik" klingen. — Es (ist) die Musik der g r o ß e n Oper. 5[36] Wagner bewirbt sich darum, der d e u t s c h e Künstler zu heißen, aber ach, weder die große Oper, noch sein Charakter,
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sind spezifisch deutsch: weshalb er bis jetzt dem Volke nicht lieb wurde, sondern einer Klasse von Vornehmen und Überbildeten — dem Kreise, dem im vorigen Jahrhundert etwa Rousseau zusagte. 5 [37] Das Christenthum hat in Frankreich seine vollkommensten Typen erlangt: die Quietisten (Franz von Sales): sie stehen höher als Paulus. Fenelon ein vollkommener Christ auf einer antiken Grundlage. Pascal 5 [38] Man soll die Befriedigung des Triebes nicht zu einer Praxis machen, bei der die Rasse leidet d. h. gar keine Auswahl mehr stattfindet, sondern alles sidi paart und Kinder zeugt. Das A u s s t e r b e n vieler Arten von Menschen ist ebenso w ü η s c h e η s werth als irgend eine Fortpflanzung. — Und man sollte sich durch diese enge Verbindung mit einer Frau seine ganze Entwicklung durchkreuzen und stören lassen — um jenes Triebes willen!! Wenn man nicht einmal so enge Freundschaften nützlich (im höchsten Sinne) fände! Die „Ergänzung" des M49] Der Zweifel, was das Wirkliche ist, macht nicht gegen die Phantasmen geneigter: sondern zerstört allmählich den guten Willen, der zur A u s d i c h t u n g eines Phantasmas gehört. 6[2 5 o] Allgemein hält man keine Handlung für verständlich, außer der nach Zwecken: und überhaupt keine Bewegung in der Welt. Deshalb gieng das frühere Denken darauf aus, alle Bewegung in der Welt als zweckmäßig und zweckbewußt zu erklären (Gott) Es ist der größte Wendepunkt der Philosophie, daß man die Handlung nach Zwecken n i c h t mehr begreiflich f a n d ; damit sind alle früheren Tendenzen entwerthet. 6[25I]
Wenn wir verantwortlich machen, so setzen wir gleiche Kraft bei den Anderen voraus, und das gleiche Wissen um diese Kraft — was doch Mythologie ist. 6[2 5 2] Die spontane Masse von Energie unterscheidet die Menschen, nicht ein Individual-Atom. Sodann die eingeübten Bewegungen dieser Masse, durch Vererbung mitgetheilt. D i e s e l b e Kraft ist es, die bald durch die Muskeln, bald durch die Nerven verbraucht wird. 6[253] Der Gedanke ist ebenso wohl wie das Wort, nur ein Zeichen: von irgend einer Congruenz des Gedankens und des Wirklichen kann nicht die Rede sein. Das Wirkliche ist irgend eine Triebbewegung. 6[254] Jede Handlung ist von dem bleichen Bewußtseinsbild, das wir von ihr während ihrer Ausführung haben, etwas unendlich
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Verschiedenes. Ebenfalls ist sie von dem vor der That vorschwebenden Bewußtseinsbild (das Ende der Handlung = Zweck und der "Weg dahin) verschieden, unzählige Stücke des Wegs, die schließlich g e m a c h t werden, werden nicht gesehen und der Zweck selber ist ein kleines Theilchen von dem wirklichen E r f o l g der Handlung. Zwecke sind Z e i c h e n : nichts mehr! Signale! Während sonst die Copie hinter dem Vorbild nachfolgt, geht hier eine Art Copie dem Vorbild voraus. In Wahrh(eit) wissen wir n i e g a n z , w a s wir thun ζ. B. wenn wir einen Schritt thun wollen oder einen Laut von uns geben wollen. Vielleicht ist dies „Wollen" nur ein bleicher Schatten davon, was wirklich schon im Werden ist, ein nachkommendes Abbild von unserem K ö n n e n und Thun: mitunter ein sehr falsches, wo wir n i c h t zu können scheinen, was wir wollen. Unser „Wollen" war hier ein irregeleitetes Phantasma unseres Kopfes, wir hatten irgend ein Zeichen falsch verstanden. — Wenn einer b e f i e h l t , und wir wollen es thun, finden uns dann zu schwach — ? so gab Furcht (oder Liebe) uns einen Impuls, bei dem sehr viel Kraft in Bewegung gerieth. — Das e r s t e Gelingen auf den ersten Nerven- und Muskelbahnen giebt die verfrühte Vorstellung des Könnens, und daraus r e s u l t i r t das verfrühte Bild des gewollten Zwecks:die Z w e c k v o r s t e l l u n g entsteht, n a c h d e m schon die Handlung i m W e r d e n ist! 6[2J5] Der Glaube an uns ist die stärkste Fessel und der höchste Peitschenschlag — und der s t ä r k s t e F l ü g e l . Das Christenthum hätte die Unschuld des Menschen als Glaubensartikel aufstellen sollen — die Menschen wären Götter geworden: damals k o n n t e man noch glauben. 6[z56] „Um H ä r t e Kälte Erschöpfung" flehen — Marter, wenn man seinem Lebensziele nicht mehr traut. „Erhabener Zorn, zuk-
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kende Vorwürfe" — schluchzend einschlafen — in Kälte und Grauen hineinblickend kalt erwachend — »enge Zelle ihres Elends" — nur ein Blick heraus auf das Leben eines Anderen, nicht mehr. „Die Fülle sympathischer Erfahrung stellte sich als eine Gegenmacht ein" — Gerechtigkeit seinen eigenen Schmerz verstoßen. „Bedürfniß der Gerechtigkeit". „Das Gute Anderer überschätzen" blind für die guten Wirkungen, die wir in Anderen hervorrufen. 6[257] Wir müssen es dahin bringen, das Unmögliche Unnatürliche Gänzlich-Phantastische in dem Ideale Gottes Christi und der christlichen Heiligen mit intellektuellem E k e l zu empfinden. Das Muster soll kein Phantasma sein! 6[2j8] Für jeden Abfall eines Freundes eine höhere Seele eintauschen. 6[2 5 9] Habt ihr euch geübt, an Andere zu denken und für sie etwas zu thun, so bleibt, wenn euch unmöglich ist, euer Ziel zu erreichen, sehr viel übrig: nämlich das der Anderen zu fördern. Es ist gut und klug, diese zwei Saiten zum Spielen zu haben. Den Anderen begreifen und auf u n s v o n i h m a u s hinzusehen ist unentbehrlich für den Denker. 6[i6o]
Ich sehe es eurer Toleranz gegen die Wissenschaft ioo Schritte weit an: ihr meint, ihr habt sie nicht nöthig, ihr bildet euch etwas darauf ein, trotzdem ihre Fürsprecher zu sein, selbst wenn sie gegen eure Meinungen kämpft: — denn ihr habt kein so strenges Gefühl für das Wirkliche, daß es euch quält und mar-
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Nachgelassene Fragmente
tert, sie im Widerspruch zu euch zu finden: ebensowenig ihr gierig umschaut, w a s alles gegenwärtig erkannt wird und auf dem Wege ist, erkannt zu werden. 6[z6i]
Die Übung im Erkennen hat zuletzt ein B e d ü r f n i ß d e r 5 W a h r h a f t i g k e i t erzeugt, welches jetzt eine neue große Macht ist, mit Gefahren und Vortheilen. Titel vielleicht: „ d a s B e d ü r f n i ß d e r W a h r h a f tigkeit." 6[i6z]
Allen moralischen Systemen, welche befehlen, w i e d e r M e n s c h h a n d e l n soll, fehlte die Kenntniß und Untersuchung, w i e d e r M e n s c h h a n d e l t . Aber man meinte diese Kenntniß zu haben.
Das Bedürfniß der Aktivität trennt uns von der indischen Weisheit.
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Auch dem feinsten Gedanken entspricht eine Verhäkelung von Trieben. — Die Worte sind gleichsam eine C l a v i a t u r der Triebe, und Gedanken (in Worten) sind Akkorde darauf. Jedoch ist die anregende Kraft des Wortes für den Trieb nicht immer gleich, und mitunter ist das Wort fast nichts als ein Laut. 6[26 5 ] 1. Zeit der Triebe ohne Gedanken 2. Zeit der Triebe mit Gedanken (Urtheile) Hier werden Triebe und Trieb-Verhäkelungen v o r g e s t e l l t . Die häufige Wiederholung, das Zustimmen und Verwerfen soldier Vorstellungen, übt eine Rüdewirkung auf die Triebe selbst, einige werden sehr geübt, andere
Herbst 1860 6 [260—269]
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außer Übung gesetzt und ausgedorrt. A l l m ä h l i c h entsteht durch ungeheure Übung des Intellekts die L u s t a n s e i n e r A k t i v i t ä t : und daraus endlich wieder die L u s t a n d e r W a h r h a f t i g k e i t in seiner Aktivität. U r s p r ü n g l i c h ) sind die intellektuellen Funktionen sehr s c h w e r und m ü h s e l i g . Nachmachen ist das Beste, H a ß gegen das Neue. Spät endlich ist umgekehrt der Ekel am Nachmachen schnell da und die Lust am Neuen und am Wechsel sehr groß. 6[z66]
Die Menschen gehen an der V e r f e i n e r u n g d e s I n t e l l e k t s zu Grunde: physisch und vielleicht auch moralisch. — Wir Glücklichen! Wir sind in dem R e i c h d e r M i t t e ! 6[267] Die Vollkommenheit eines Napoleon, eines Cagliostro entzückt: unser Verbrecherthum hat nicht Musterbilder vor sich, sie haben kein fröhliches Gewissen. Ein guter Räuber, ein guter Rächer, Ehebrecher — das zeichnete das italienische Mittelalter und Renaissance aus, sie hatten den S i n n f ü r V o l l s t ä n d i g k e i t . Bei uns fürchten sich die Tugenden und die Laster, die öffentliche Meinung ist die Macht der Halben und Mittelmäßigen, der schlechten C ο ρ i e η , der zusammengestohlenen Allerweltsmenschen. 6[z68] Wir wollen keinen G o t t aus uns machen, wir gelüsten nicht nach den Idealen f r ü h e r e r Völker. Gerade die Ungöttlichkeit, die Freude an den zahllosen Einzelnen mit höchster Verschiedenheit, die wohl G e g n e r sein werden, aber wie Griechen und Trojaner! 6[i69]
Der leidenschaftliche Hang, Anderen zu helfen, verleidet das eigene Behagen.
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Nachgelassene Fragmente
6[2 7 o] Vor Menschen mit g r o ß e r S e e l e zeigen wir den g r o ß e n Zusammenhang unser selbst und g l a u b e n v o r i h n e n an denselben m e h r als allein. Deshalb sind sie uns nöthig. Unsäglich viel kleine verschobene Linien können wir p r e i s g e b e n — das thut wohl! Andere k ö n n e n nur diese Kleinigkeiten sehen, vor ihnen müssen wir sie eingestehen oder läugnen, in beiden Fällen ohne Genugthuung. 6[i7i] Mit einem g r o ß e n Z i e l e ist man nicht nur seiner Verleumdung, sondern auch einem großen Verbrechen überlegen und erhaben. 6[2 7 a] Einen Menschen vor n i e d r i g e n E r f a h r u n g e n zu hüten ist das Schönste — niedrig ohne Rücksicht auf uns, aber auf i h n. 6[273] Eine Gattin als Hemmung, ein Gatte als Entartungsmittel. 6[2/4] Unserem ganzen Organism ist das vorschnelle Zuneigen und Abneigen die Verstellung usw. e i n g e f o r m t worden: allmählich kann ihm auch die Wahrhaftigkeit angebildet werden und immer tiefer einwurzeln, mit welchen Wirkungen? Einstweilen ist er ein bewegtes Netz von Lüge und Trug und deren Fangarmen: ganz thierisch-nützlich. Die Erziehung zur Wahrheit — ist sie eine Verbesserung des Thieres, eine höhere Anpassung an die Wirklichkeit? — Unser Wohlwollen Mitleid, unsere Aufopferung, unsere Moralität ruht auf demselben U n t e r b a u von Lüge und Verstellung wie unser Böses und Selbstisches! Dies ist zu zeigen! Der unangenehme, ja tragische
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Eindruck dieser Entdeckung ist unvermeidlich zunächst. Aber alle unsere Triebe müssen zunächst ängstlicher mißtrauischer werden, allmählich mehr Vernunft und Redlichkeit in sich aufnehmen, hellsichtiger werden und immer mehr so den G r u n d zum M i ß t r a u e n gegen einander verlieren: so kann einmal eine größere Freudigkeit entstehen, eine fundamentalere: einstweilen wäre diese F r e u d i g k e i t nur d e m U n r e d l i chen möglich. Resignation und jene heroische L u s t am T r o t z u n d am Siege s i n d d i e einzigen Formen unserer Freudigkeit: wenn w i r E r k e n n e n d e s i n d . NB NB NB!!! Wie kommt es nur, daß wir gegen die g r ü n d l i c h e V e r l o g e n - u n d V e r s t e l l t h e i t ankämpfen? Ein Gefühl der M a c h t , welche in der Entwicklung und im Wirken unseres Intellekts frei wird, treibt uns: es macht Appetit. 6[i75] Das verfluchte Lehrer- und Reformatoren- und BußpredigerPathos „und unsere Pflicht gebeut, die Menschen unglücklich zu machen". 6[276] Die zunehmende L ü g η e r e i der Pathetiker (Hr. Lipiner) oder der Toleranten (Frl. v(on) M(eysenbug)) 6[2/7] Die wortkarge Leidenschaft mit düsteren Augen bei Calvin wird leicht verleumdet. Grazie und Geist in der Leidenschaft wird in Deutschland nicht geglaubt. 6[278] in Form einer Tragödie: 1 Der Pfad
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2 die furchtbare Aussicht 3 das Ausruhen Φ
79) Die Todesangst: „ich bin der Holzwurm" Verlust des Kindes Verlust der Ehre Krankheit
6[280] In wiefern es nützlich ist zu versuchen den Feind zu lieben? Es bricht das unbefriedigte Gefühl und giebt einen Sieg ü b e r uns.
6[28x] Das h ö c h s t e Todesziel der Menschheit auszudenken — irgendwann wird sich die Aufgabe darauf concentriren. Nicht leben, um zu leben. 6[ΐ8ΐ] Die Alten trauten den Frauen in der Leidenschaft das eigentlich Unmenschliche und Unglaubliche zu — zur Zeit des Aeschylus.
6[28 3 ] Wenn jemand zu den Juden übergeht (nach Tacitus) muß er die Götter verachten, seinem Vaterland entsagen und Eltern Kinder Geschwister verleugnen. Die Seelen derer, die in der Schlacht oder durch Hinrichtung umkommen, sind unsterblich (Märtyrer-Gedanke des Christenthums) Verachtung des Todes daher. Als Kaligula befahl sein Bildniß im Tempel aufzustellen, griffen sie zu den Waffen.
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6[28 4 ] „sie essen mit niemand, schlafen allein und enthalten sich, so geil sie sind, aller fremden Weibsbilder" „jeder schlechteste Mensch schickte Abgaben und Almosen nach Jerusalem, mit Hintansetzung des Landes, in dem er lebte." 6[28 5 ] Tacitus spricht höhnisch davon, wie sehr die Juden (und Christen) dem Aberglauben ergeben seien. Rom gieng in sein Extrem über als es christlich wurde: es ist ein Zeichen der impotentia der damaligen Menschen, dieses schroffe Umspringen. Die Wuth des Hasses machte zuletzt die Juden (Christen) interessant.
6|>86] Man nimmt verschiedene „besteDinge" vomUrtheil Anderer an (die selber sehr verschieden sind) und entdeckt, daß sie sich widersprechen: d . h . man glaubt s e i n Gewissen in Unruhe. 61**7] Die guten Menschen haben in schweren Augenblicken k e i n e Skrupel. 6[i88] Eine Art Gerechtigkeit: „ich habe sein Glück mit ihm genossen. N u n auch die Zeit seiner Schmach und Schuld". 6[ZS9]
So zu leben, daß unsere Energie am g r ö ß t e n und f r e u d i g s t e n ist — und dafür alles zu opfern. N B 6[ 290] das metaphysische Bedürfniß ist nicht die Quelle der Religionen, sondern die Nachwirkung nach ihrem Untergange. Man
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hat sich an die Vorstellung einer anderen Welt gewöhnt und vermißt sie (und aus diesem Triebe können neue Pflanzen aufwachsen „ N a c h religionen") aber das, was zur Annahme einer anderen Welt trieb, waren Irrthümer in der Auslegung bestimmter Vorgänge, also f a l s c h e U r t h e i l e d e s Intell e k t s . D a s „ B e d ü r f n i ß " i s t d a s R e s u l t a t nicht Ursprung. Durch M a n g e l an B e f r i e d i g u n g kann es absterben! So giebt es ein B e d ü r f n i ß , das Glockenläuten zu hören, welches mit dem u r s p r ü n g l i c h e n Z w e c k des Glockenläutens gar nichts zu thun hat. — Man hat sich gewöhnt, die Bedürfnisse an den Anfang zu stellen.
6[29i] Gegen das Christenthum: die vollkommene Moralität ist weder möglich, noch wünschenswerth. Ihr Werth ruht auf falschen Ansichten der Biologie.
6[292] Da seit uralters moralische U r t h e i l e gefällt worden sind (als Irrthümer über Handlungen) so haben sich daraus jedenfalls m o r a l i s c h e E m p f i n d u n g e n , Neigung e n A b n e i g u n g e n gebildet. Also diese sind w i r k l i c h . A b e r w i e v e r h a l t e n sie s i c h zu d e r W i r k l i c h k e i t d e r H a n d l u n g e n , über weldie die moralischen Urtheile irrthümlich gefällt werden? — Die Handlungen, über welche bei den Menschen zuerst moralische Urtheile gebildet wurden, sind die, welche sich alle bei den Thieren finden: deren Motive somit n i c h t erst zu schaffen waren. Man w ä h n t e , diese Handlungen zu verstehen, moralische Urtheile sind „Erklärungen derselben nach Zwecken", ein Ansatz der Wissenschaft. Indem man sie benannte (bös gut gerecht usw.) zweifelte man nicht, sie durch und durdi zu verstehen. Socrates gerieht erst in das Mißtrauen, ο b er sie verstünde. Aber er zweifelte nicht,
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daß den W o r t e n gut böse usw. etwas W e s e n t l i c h e s entspräche!
„Wie s o l l der Mensch handeln?" Das ist nur nach einem Ideal zu messen, entweder was die Menschheit erreichen soll, oder was der Einzelne erreichen soll. B i s h e r gab es solche Muster, die vor Völkern herschwebten (theils lebendige, theils erdichtete) oder vor Religionsgemeinden. Oder vor Parteien (oder der vollkommene Kaufmann Soldat Beamte). Oder vor philosophischen Sekten. Aber immer bisher vor Mehrheiten. Das Ziel ist aber: daß j e d e r sein Musterbild e n t w e r f e und es verwirkliche — das individuelle Muster. Im Entwerfen alle Zeugungskraft und Jugend und Männlichkeit nöthig, alle Einsicht in seine Kraft, Selbsterkenntniß. J e t z t ist es n o c h n i c h t möglich ! 6Ο94] Wir müssen unsere Fehler und Triebe nicht abrechnen beim Entwerfen unserer Muster, sondern ihre s u b l i m e F o r m zu finden wissen. 6[Z95] Es kann Tragödie sein! Unsere Milde und Mitleid und — unser Sinn für Wahrhaftigkeit im Kampfe mit einander in Bezug auf die Meinungen Anderer. 6[296] Eine Frau, die begreift, daß sie den Flug ihres Mannes hemmt, soll sich trennen — warum hört man von d i e s e m Akt der Liebe nicht? Φ97] Mit den Gedanken steht es wie mit den körperlichen Bewegungen: ich muß warten, o b sie sich ereignen, wenn ich sie
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audi will, es hängt davon ab, ob sie eingeübt sind. Das Wollen ist hier nicht das Vorstellen des Zieles, sondern die Vorstellung logischer Formen (Gegensatz eines Gedankens, parallel, ähnlich, Prämisse Schluß usw.) in der Form des Wunsches. Das Gedächtniß muß den Inhalt geben — Bei Gelegenheit eines Satzes versucht das Gedächtniß zu den einzelnen Worten etwas Zugehöriges a n z u h ä n g e n , und unser Urtheil entscheidet, ob es dazu paßt und wie. So versucht der Fuß eine Menge Lagen im Augenblick des Stolperns. Wir wählen aus diesen plötzlich auftauchenden Gedanken-Embryonen aus: wie wir aus den zu Gebote stehenden Worten unsere Gedanken in Formel bringen. Das Wesentlichste des Prozesses geht unter unserem Bewußtsein vor sich. U n s e r Charakter entscheidet, ob zugehörige Gedanken wesentlich die des Widerspruchs der Beschränkung der Zustimmung sind: das Entstehen jedes Gedankens ist ein m o r a l i s c h e s E r e i g n i ß . — Die logischen Formen erscheinen so als der allgemeinste Ausdruck unserer Triebe, Zuneigung, Widerspruch usw. — Bis in die Zelle hinein giebt es keine Bewegungen als solche „moralischen" in diesem Sinne. 6[ 298] Wer nach 2 Tagen strengen Fastens einen Schluck Champagner trinkt, der empfindet etwas, das der Wollust ganz nahe kommt. Der Blick eines Menschen, der wochenlang in einer dunklen Höhle gelebt hat, in die Natur ist ein Rausch des Auges. Und nach Jahren wieder unsere Musik hören! — Die Asketen wissen allein, was Wollüste sind. 6[299]
Die C h r i s t e n , nach Tacitus nicht der Mordbrennerei, aber odio generis humani „des Hasses gegen die Menschheit" überwiesen. Das ist wahr! „So schuldig sie waren und ob sie schon die härtesten Strafen verdienten" — „in Rom, wo alles Unnatürliche und Schändliche zusammenfließt" „wegen
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S c h a n d t h a t e n flagitia verhaßte Menschen" (so werden die Christen definirt. Man traute ihnen alles zu — weshalb? Pessimisten 6[3OO]
Immer so handeln, daß wir mit uns zufrieden sind — da kommt es auf die Feinheit der Wahrhaftigkeit gegen uns selber an. Zweitens auf den Maaßstab, mit dem wir messen. Ein gutes Gewissen kann also ein sehr starkes Anzeichen von Gemeinheit und intellektueller Grobheit sein: ein schlechtes Gewissen von intellektueller Delikatesse. Wenn die Anderen mit uns nicht unzufrieden wären, und nicht Vieles schief abliefe, so wäre die Zufriedenheit mit sich selber die Regel. Die unerwarteten unangenehmen Nachwirkungen stören diese Zufriedenheit: beim Unangenehmen suchen wir nach einer Entladung unseres Radiegefühls und treffen damit zumeist uns selber. Das Μ i ß g e s c h i c k ist es, das dem Menschen sein böses Gewissen giebt „es hätte anders sein können". Da tadeln wir uns und schätzen unseren Scharfsinn und unsere Absichten gering. Wären wir nicht M u n t e r S a t z u n g e n " die „N(atur) selbst unt Gesetzen." 7[6 7 ] Heiterkeit empfinden, wenn wir uns unter unserem eigenen Ceremoniell genirt fühlen. 7[68] da die Manschen) sich ändern, ändert sich das B i l d G e s c h i c h t e fortwährend NB.
der
7[6 9 ] Man lobt und tadelt nach einem Muster (nennt moralisch oder unmoralisch) Vorher geht die U n t e r w e r f u n g unter ein Muster. Gew(öhnlich) ist der, welcher Gewalt über uns hat, und nach seinem Willen lobt und tadelt, das Muster, es kostet am wenigsten Erfindung und Geist. Also: die s i c h a l s Z i e l a u f s t e l l e n d e n Individuen haben zuerst die Muster aufgestellt. Moral d. h. „ein Muster außerhalb" gab es nur für die Schwächeren. 7t7°] Ich will nur mit Menschen umgehen, welche ihr eigenes Muster haben und n i c h t in m i r es sehen. Denn dies machte mich für sie verantwortlich und zum Sklaven. 7[7i] _ Keine falsche Nothwendigkeit annehmen — das hieße sich unnützer Weise unterwerfen und wäre sklavisch — daher Erkenn tniß der Natur! — Aber dann nichts gegen die Nothwendigkeit w o l l e n ! Es hieße Kraft vergeuden und unserem Ideal entziehen, über dies die Enttäuschung statt des Erfolges wollen — NB.
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7[72]
Ich habe die M(uster) durchsucht und mein Ideal nicht unter ihnen gefunden. 7[73] Moralisch sein d.h. e i n Z i e l s e t z e n und daraus alle unsere Handlungen logisch deduziren. Aber unsere Natur hat w e d e r d i e s Z i e l , noch hat sie d i e s e s e l b e L o g i k ! Deshalb läuft die Moral darauf hinaus, uns über die Natur zu t ä u s c h e n d.h. uns von ihr führen zu lassen und uns etwas dabei vorzureden als ob w i r sie führten. 7[74] „Die Nothwendigkeit des Ungewissen für uns: das Herz soll schlagen, die Muskeln zittern vor erwartender Thätigkeit. Alle Fragen gelöst außer Einer, alle würden wie die Wespen sich an diesen Einen Punkt hängen" 7[75]
.
Wie ein Trieb, je nachdem man ihn lobt und tadelt, als gut oder böse empfunden wird, an der L i e b e zu zeigen (bei Griechen, bei asketischen Christen, in der christlichen Ehe usw.) Alle I d e a l i s i r u n g e i n e s T r i e b e s beginnt damit, daß man ihn unter die lobenswerthen Dinge rechnet. Wink für die Zukunft?? N B Den Neid, den Haß, dabei zu verbessern. Zu beachten, wie verschieden das Mitleid geworden ist. 7[7*] Die Thiere haben Gefühl der Macht d.h. G r a u s a m k e i t , und Glück der Ergebung d. h. Ruhe Trägheit NB. 7[77] Die Römer haben die Eitelkeit honestas gut genannt und hoch gehoben!
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7[/8] Scheinbar ist alles jetzt viel sicherer, die Welt viel fester (wegen der vielen streng bewiesenen Wahrheiten) Aber ehemals glaubte man mehr an den Irrthum als jetzt an die Wahrheit: wir sind unendlich vorsichtiger, skeptischer und folglich u n t e r U m s t ä n d e n p h a n t a s t i s c h e r als ehemals. Wir können ganz andere Träume träumen als die früheren! 7[79] Einfluß des Fliegens! — nicht mehr in den Ebenen! Auf den Stil selbst! 7[8O] Allseitig geübte Verachtung der Welt: alle Befriedigung hier abgewiesen oder bitterböse empfunden — so drängt sich alle Begierde der Befriedigung in Einen Kanal: Leben jenseits der Welt! 7[8I] Ich werde des Gil Blas nicht müde: ich athme auf, keine Sentimentalität, keine Rhetorik wie bei Shakespeare. 7[82] Wenn wir uns von der unlösbaren Aufgabe der sittlichen Autonomie und der unhaltbaren Aufgabe der Sittlichkeit als allgemeinem) Gesetz, voll Ekel wegwenden, zur Erkenntniß der Natur: sofort empfängt uns das Problem der Pflicht wieder: unsere Stellung zu den Dingen ist eine moralische, wenn wir sie wirklich e r k e n n e n wollen: also eine unhaltbare auf die Dauer! aber wir können uns lange Zeit darüber täuschen. Wir werden instinktiv uns von den höchsten Problemen abwenden, und uns dort aufhalten, wo die Täuschung einer moral l o s e n Erkenntniß leicht ist (wir verwenden hier eine uns n a t ü r l i c h gewordene Moralität, als ob diese etwas Natürliches und Außermoralisches wäre!)
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Nachgelassene Fragmente
7[§3] das Princip „das Wohl der Mehrzahl geht über das Wohl der Einzelnen" genügt um die Menschheit alle Schritte bis zur niedersten Thierheit zurück machen zu lassen. Denn das Umgekehrte („die Einzelnen mehr werth als die Masse") hat sie erhoben 7[ 84] Die moralischen) Urtheile über die Handlungen e n t s c h e i d e n über deren Moralität: diese i s t etwas relativ Ä u ß e r l i c h e s . Von innen gesehen sind die Handlungen anders als gut oder böse. Wohl aber können die moralischen) Urth(eile) uns zu Handlungen b e s t i m m e n und in ihrer Ausführung b e e i n f l u s s e n , wie eine allgegenwärtige Polizei, die auch die Handlungen nicht t h u t , über welche sie wacht. Ganze Gattungen von Handlungen können dabei a u s s t e r b e n : das mor(alische) Urth(eil) gehört unter die Frage nach dem Zweckmäßigen — sind die moralischen) Urtheile bisher im Interesse der menschlichen Entwicklung gewesen? Welche nicht? Ist das Ablehnen des moralischen) Urth(eils) nicht ein Nachtheil der Menschheit? Aber bisher war der Glaube an mor(alische) Urth] Ihr werdet nicht zu Don Juans der Erkenntniß, weil ihr nicht Consequenz genug und Charakter habt. 7[i4o] „Es hilft nichts: um die vollkommene Ruhe der antiken Skulptur zu empfinden, muß man keusch sein. Man muß die Leidenschaft in all ihrer Heftigkeit malen können, um jene Ruhe darzustellen." Stendhal 7[ 141] Ich hasse den Ruhm, der nur die Liebe der Frauen, Ansehen Reichthum Glück bringt. Ich w i l l nicht klug, mäßig, weise sein! Einsam, wild 7[i42] „Soll man das Leben nach der L ä n g e alberner Tage abschätzen? Oder nach der Zahl starker Freuden?"
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7[143] „Wie die Leidenschaften malen, wenn man sie (nicht) kennt! Und wie Zeit für das Talent finden, wenn man sie im Herzklopfen fühlt!" 7[i44] Et odoratus est deus suavitatem. 7[i45] „In den Andern können wir nur uns selber schätzen. Die Urtheile großer Künstler über die Werke ihrer Nebenbuhler sind nur Commentare ihres eigenen Stils." Stendhal 7[ΐ4δ] Man muß verstehen, die Hand von seinem Werke zu thun. 7i>47] H a t die Menschheit dasselbe Verfahren, wie die griechischen Künstler, welche um einen Gott auszudrücken ihren Statuen das Allzumenschliche der Muskeln usw. nahmen? die sämmtlichen D e t a i l s wegnahmen? Ist der große Mensch ein Mensch, dessen Details h i n w e g g e d a c h t werden, vermöge der zwingenden vergötternden Gewalt seines G a n z e n ? Ist so die Tugend entstanden daß man das Mikroskop des Blickes abwandte, also u n r e d l i c h e r sah? Ist so die Gottheit vom Menschen gebildet, daß er immer m e h r Menschliches übersah? 7[i48] „Die vier Linien, der Riß der Zeichnung ist das Erste in der Erfindung der Großen; die guten Arbeiter dagegen machen sofort die Minutien." Stendhal 7[i49] „Der antike Schmerz war schwächer als der unsere" Stendhal
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7[ii°] So lange ihr die Schönheit im Apollo findet, müßt ihr die dazu gehörige Moral suchen: jene Schönheit paßt nicht zur christlichen! 7 [1513 Lord Byron Rousseau Richard Wagner waren das einzige Objekt ihrer eigenen Aufmerksamkeit — „diese schlechte Gewohnheit ist der Aussatz der Civilisation" sagt Stendhal. „In Folge dessen ü b e r t r i e b er seine Leiden." „Immer occupirt von sich und von dem Eindruck, den er auf andere hervorbrachte." „Er verstand sich nicht in einen Anderen umzuformen, der wenigst dramatische Autor."
Die Gewissensbisse Byrons waren eine Affektation mehr, sie machten Mode. ZE15 3 ] Sich nicht vor sich selber schämen, wie die Figuren W. Scott's. Stendhal. Dies ist c h r i s t l i c h und sehr stark vererbt! 7 0 54]_ Es ist nicht möglich, a u ß e r d e r M o r a l z u l e b e n : aber für den E r k e n n e n d e n ist die Moral u n m ö g l i c h . Moral als ein Regulativ im Verhalten der Triebe zu einander. Aber woher soll das kommen! Es kann zuletzt doch nur von einem Triebe inspirirt sein, der die Oberhand hat! Und wer kann dies entdecken! (Stolz usw.) Aus der e r k a n n t e n N a t u r können wir keinen Antrieb nehmen. NB. 7[i55] Das Kleine Nächste streng nehmen und den Menschen im Leiblichen sehr fördern — sehen, was für eine Ethik ihm dann
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wächst — abwarten! die ethischen Bedürfnisse müssen uns auf den Leib passen! — Aber die Athleten! 7[ij6] Ich erinnere mich kaum noch der Zeit, wo ich Gewissensbisse hatte. Zwischen meinem Träumen und meinem Wachen ist fast Gleichgewicht: nur daß meine Narrheiten in den Handlungen des Traumes und mehr in den Gedanken des Tages hervortreten — doch in gleicher Art. Auch denke ich viel in den Träumen, und nicht viel v e r n ü n f t i g e r als jetzt. 7[i57]_ „Die Zeit heilt jeden Kummer": die Zeit thut gar nichts. Vielmehr sind es die Befriedigungen vieler Triebe, die allmählich eintreten und Vergessenheit bringen — es ist das Mittel Epikurs gegen die großen Schmerzen: sich den Vergnügungen ergeben (die Schweinejagd bei Pascal nach dem Tode eines Sohnes) Audi die „Tröstungen der Religion und Philosophie" gehören unter diese abziehenden Vergnügungen: ihr Werth besteht vor allem in den Beschäftigungen mit ihnen und dem Nachdenken usw. 7[i58] Die Vorstellung, daß etwas Fürchterliches an uns gekettet ist, färbt alle Empfindungen um. Oder: ein verbannter Gott zu sein, oder Schulden früherer Zeiten abzubüßen. Alle diese schrecklichen Geheimnisse um uns — machten uns vor uns sehr interessant! aber ganz egoistisch! Man k o n n t e und d u r f t e nicht von s i c h wegsehen! Das leidenschaftliche Interesse für uns verlieren und die Leidenschaft außer uns wenden, gegen die Dinge (Wissenschaft) ist jetzt möglich. Was liegt an mir! Das hätte Pascal nicht sagen können. 7[i59] Ich will es dahin bringen, daß es der
heroischen
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Nachgelassene Fragmente
S t i m m u n g bedarf, um sich der W i s s e n s c h a f t z u g e b e n ! NB 7
er-
[I6O]
„de l'amour" symbolice! 7[i6I] Die Mitempfindung erzwingen können — ist das die Strafe des Machtlüsternen? des Grausamen? Stendhal. Oder ist umgekehrt die Begierde nach Mitempfindung ein Verlangen der Machtlüsternheit? — 7
[I62]
Ihr gewöhnt euch an die große Unruhe des Lebens, an den köpf- und seelenfressenden Fleiß, an die Betäubtheit. — Ihr meint zuletzt, es sei nicht anders m ö g l i c h zu leben — ihr seid es eben gewohnt und tragt euer Joch! Es i s t anders möglich. 7[I63] Einsamkeit, viel freie Natur Einfachheit und Billigkeit Gesundheit Seltene und gewähltere Versuche im Lesen und in der Freundschaft Kein unsinniger Fleiß Zeit und Stimmung für Erhebungen des Herzens 7[i64] Eurem Besten euer Bestes an Kraft und Zeit widmen! Nichts Besseres läßt sich erzwingen! 7[I65] Man hat mir etwas vom ruhigen Glück der Erkenntniß vor-
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geflötet — aber ich fand es nicht, ja ich verachte es, jetzt wo ich die Seligkeit des Unglücks der Erkenntniß kenne. Bin idi je gelangweilt? Immer in Sorge, immer ein Herzklopfen der Erwartung oder der Enttäuschung! Ich segne dieses Elend, die "Welt ist reich dadurch! Ich gehe dabei den langsamsten Schritt und schlürfe diese bitteren Süßigkeiten. Ich will keine Erkenntniß mehr ohne Gefahr: immer sei das tückische Meer, oder das erbarmungslose Hochgebirge um den Forschenden. 7[I66] Ich will nie zum Widersprechen herausfordern: vielmehr: h e l f t , mit mir das Problem zu gestalten! Sobald ihr g e g e n mich empfindet, versteht ihr meinen Zustand und folglich meine Argumente nicht! Ihr müßt das Opfer d e r s e l b e n L e i d e n s c h a f t sein! 7[l67]
Gesundheit meldet sich an i) durch einen Gedanken mit weitem Horizont 2) durch versöhnliche tröstliche vergebende Empfindungen 3) durch ein schwermüthiges Lachen über den Alp, mit dem wir gerungen. 7 [x68]
— das allzu-persönlich-Nehmen aller Probleme, Finsterniß, schlechter Weg, üble Herberge für den Wanderer und das ganze e w i g e Wanderer-Elend [ 4- ] Menschen!!! 7[I69] Unsere Leidenschaften sind die Vegetation die den Felsen nackter Thatsachen sofort wieder zu umkleiden beginnt. Das ewige Spiel! 7[i7°] Weder gut noch böse!!!
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Nachgelassene Fragmente
7[i/i] Ja, wir gehen an dieser Leidenschaft zu Grunde! Aber es ist kein Argument gegen sie. Sonst wäre ja der Tod ein Argument gegen das Leben des Individuums. Wir m ü s s e n zu Grunde gehen, als Mensch wie als Menschheit! Das Christenthum zeigte die Eine Art, durch Aussterben und Verzicht auf alle rohen Triebe. Wir kommen durch Verzicht auf das Handeln, das Hassen das Lieben ebendahin, auf dem Wege der Leidenschaft der Erkenntniß. Friedliche Z u s c h a u e r — bis nichts mehr zu sehen ist! Verachtet uns deshalb, ihr Handelnden! Wir werden eure Verachtung anschauen —: l o s von uns, von der Menschheit, von der Dingheit, vom Werden — 7[i72] Ich meinte, das Wissen tödte die Kraft, den Instinkt, es lasse kein Handeln aus sich wachsen. Wahr ist nur, daß einem neuen Wissen zunächst kein eingeübter Mechanism zu Gebote steht, noch weniger eine angenehme leidenschaftliche Gewöhnung! Aber a l l e s das kann wachsen! ob es gleich heißt auf Bäume warten, die eine spätere Generation a b p f l ü c k e n wird — nicht wir! Das ist die Resignation des Wissenden! Er ist ärmer und kraftloser geworden, ungeschickter zum Handeln, gleichsam seiner Glieder beraubt — er ist S e h e r und blind und taub geworden!
7[i73] Auch die Genießenden wollen noch ihre Moralität (ihren Muth ihren Fleiß) dabei bewundern: deshalb haben die schweren Autoren, die künstlichen Dichter und Musiker so viel Studium so viel Bewundern! Marini. Mit dem naiven Stil, das Höchste in der Kunst, darf man diese Prätension nicht machen, Jeder w ä h n t , es sei leicht Rafael zu verstehen, und deshalb wird auch der, welcher weiß, daß dem nicht so ist, doch nicht mit sol-
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chem Heldeneifer darangehen: es fehlen die dankbaren Zuschauer zu s e i n e m Schauspiel! 7[i74] Eure Seele ist nicht s t a r k genug, so viele Kleinheiten der Erkenntniß, so viel Geringes und Niedriges mit in die Höhe hinaufzutragen! So müßt ihr euch über die Dinge belügen, damit ihr eures Kraft- und Größengefühls nicht verlustig geht! Anders Pascal und ich. — Ich brauche mich der kleinen erbärmlichen Details nicht zu entäußern — ich will ja keinen Gott aus mir machen. 7[i75] J ü d i s c h — eine Religion des Schreckens, der Verachtung und gelegentlich der Gnade (wie alte Patriarchen) G r i e c h i s c h — eine Religion der Freude an der Kraft, an der eigenen Vollkommenheit, gelegentlich eine Religion des Neides gegen die Allzuhochhinauswollenden (Agamemnon Achill) . . . „Irrsinnig" eine so ungewisse Grenze, wie gut und schön!
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oder „lächerlich" und „schamhaft" 7[i77] Die Ehrlichkeit der großen Männer des Glaubens an sich beweist sich nur durch die furchtbare Trübsal ihres Zweifeins an sich: wo dies nicht sichtbar ist, sind es Verrückte oder Schauspieler. 7[i78] Vertrauen wir den Trieben, sie werden schon wieder Ideale schaffen! wie es die Liebe immerfort thut. Und dann: von Zeit zu Zeit durch Stolz einen Trieb unterdrücken — sofort bekom-
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men alle anderen eine neue Färbung. Das Spiel kann lange fortgesetzt werden, wie Sonnenschein und Nacht. 7l>79] Die Wissenschaft kann durchaus nur zeigen, nicht befehlen (aber wenn der allgemeine Befehl gegeben ist „in welche Richtung?" dann kann sie die Mittel angeben) den allgemeinen Befehl der Richtung kann sie nicht geben! Es ist Photographie. Aber es bedarf der schaffenden Künstler: das sind die Triebe! 7
[I8O]
Ich gebe meinem Hange zur Einsamkeit nach, ich kann nicht anders: „ob ich es nicht nöthig hätte" — wie die Leute sagen. Aber ich h a b e es nöthig. Ich verbanne mich selber. 7
[I8I]
Jener plötzliche H a ß gegen das, was ich liebte. Jene Schüchternheit und jenes „was liegt an mir"! 7[l82]
Ich habe Mozart für heiter gehalten — wie tief muß ich melancholisch sein! D a h e r meine Begierde!! nach Helle Reinlichkeit Heiterkeit Schmuckheit Nüchternheit, meine Hoffnung, daß alles dies mir die W i s s e n s c h a f t geben werde! sie! 7[i»3] Jetzt machen Franzosen und Italiäner den Deutschen das Gewaltthätige und die bewußte Häßlichkeit in der Musik nach — es sind diese die nöthigen Gegenfarben, um die sublimirtesten himmlischen Reize und Eröffnungen paradiesischer Zauber in Tönen errathen zu lassen: da muß die physische Marter des Ohrs vorher nicht gering gewesen sein und — für den Himmel hat man erst den rechten Geschmack nach dem Fegefeuer. Das wußten die Älteren nicht! Sie verlangten, daß einer, der Musik hören
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wollte, verliebt oder noch besser passionirt sei! Jetzt gilt als der beste vorbereitende Zustand: die Verzweiflung, der Weltüberdruß. Gefühllos geworden durch das ewige Elend und für alles Elend, lassen wir die Marter über uns ergehen — und sind unsäglich dankbar, nachher uns gerührt und erschüttert zu finden! Mitleiden mit uns und allen Leidenden ist das Glück, welches diese Musik verspricht.
7[I84] Der Selbstbetrug Pascals: er geht schon von christlicher Prädisposition aus. Die „bösen Lüste"! Die Bedeutung des Todes! Denken wir doch so an den Tod, wie an den Tod bei Thieren — so ist die Sache nicht so furchtbar. Zum Tode verurtheilt — das ist nichts so Schlimmes an sich: nur beim Verbrecher macht es uns so schreckliche Empfindungen, wegen der Schande. Pascal war nicht vorsichtig genug, er w o l l t e beweisen! — die Verführungskunst des Christenthums.
7[i«5] Das Christenthum hat die Übel der menschlichen Lage übertrieben d. h. sie erst g e s c h a f f e n . Pascal thut noch das Äußerste. 7[I86] Der Stolze und Unabhängige fühlt sich tief erbittert beim Mitleiden „lieber gehaßt als bemitleidet".
7[I87] Man denke ja nicht, daß etwa Gesundheit ein festes Ziel sei: was hat das Christenthum die Krankheit vorgezogen und mit guten Gründen! Gesund ist fast ein Begriff wie „schön" „gut" — höchst wandelbar! Denn das S i c h - w o h l - f ü h l e n tritt
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Nachgelassene Fragmente
in Folge langer Gewohnheit bei entgegengesetzten Zuständen des Leibes ein! 7[I88] Alcohol: die Deutschen, die jetzt auf unverschämte Weise geldgierig geworden sind, Politik lieber als Arbeit wollen, und Sklaven des nationalen Dünkels (sind) — drei Quellen der Verdummung 7[I89] Ich habe keine Personen kennengelernt, welche eine solche Ehrfurcht einflößen, wie die griechischen Philosophen. 7l>9°] Pascal's Passion will sich als n o t h w e n d i g mann, als das einzig Nöthige beweisen.
für Jeder-
7[i9i] Ich habe die Verachtung Pascals und den Fluch Schopenhauer's auf mir! Und kann man anhänglicher gegen sie gesinnt sein als ich! Freilich mit jener Anhänglichkeit eines Freundes, welcher aufrichtig bleibt, um Freund zu bleiben und nicht Liebhaber und Narr zu werden! 7[i92] Es sind Aphorismen! Sind es Aphorismen? — mögen die welche mir daraus einen Vorwurf machen, ein wenig nachdenken und dann sich vor sich selber entschuldigen — ich brauche kein Wort für midi 7tI93] Freude bei schönen Gärten und Häusern, daß es Leute giebt, welche für diese Art Liebe Dauer haben und daß i c h diese Gärten und Häuser nicht habe — doppelte Freude!
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7[i94] Das Schöne — darunter verstehen die Amerikaner jetzt das Ruhig-Rührende. Es ist dem geschäftlichen Ernste und der praktischen Erwägung der Folgen, der Trockenheit und der Leidenschaft des Jagens Gewinnens und Sich-Besinnens entgegen 7[i95] Die Deutschen meinen, daß die K r a f t sich in Härte und Grausamkeit offenbaren müsse, sie unterwerfen sich dann gerne und mit Bewunderung: sie sind ihre mitleidige Schwäche ihre Empfindlichkeit für alle Nichtse auf einmal los und genießen andächtig den S c h r e c k e n . Daß es K r a f t giebt in der Milde und Stille, das glauben sie nicht leicht. Sie vermissen an Goethe Kraft und meinen, Beethoven habe mehr: und darin irren sie!!
Die Anhänger Wagner's wollen an ihre Befähigung der Exaltation und Expansion glauben machen — in einem n ü c h t e r n e n Zeitalter kein geringer Ehrgeiz! Aber es i s t kein nüchternes: so müssen sie excediren! 7[i97] Der Trieb der Erkenntniß ist noch jung und roh und folglich gegen die älteren und reicher entwickelten Triebe gehalten, häßlich und beleidigend: a l l e sind es einmal gewesen! Aber ich will ihn als Passion behandeln und als etwas, womit die einzelne Seele bei Seite gehen kann, um hülfreich und versöhnlich auf die Welt zurückzublicken: einstweilen thut Weltentsagung wieder noth, aber keine asketische! 7 [19 8 ] Zeitalter Louis XIV: der Zauber einer Unterwürfigkeit unter eine k ü n s t l i c h e F o r m empfunden von s t a r k e n Seelen,
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wie sie damals waren (sie waren voller H a ß und N e i d untereinander und durften es nicht zeigen. Sie hatten eine L u s t der Rache bei diesem Z w a n g des Dichters und seiner Helden, ihre G e f ü h l e schwer ausdrücken zu dürfen. D a s „ N a t ü r l i c h e " hätte sie empört: w a s gelte sonst ihre U n n a t u r ! N u r nicht peuple!): das ist schwer jetzt zu genießen! Anders bei den Griechen! welche sehr anhänglich an die Sitte waren und höchst vorsichtig gegen die N e u e r u n g ( d a f ü r auch den f e i n s t e n G a u m e n f ü r jeden kleinen neuernden Z u g hatten!) 7[i99] Was nennen die Anhänger Wagner's einen „musikalischen Menschen"? U n d w a s Andere und ehemals! Fast Gegensätze! A l s o Vorsicht! 7[200] Was ich an mir v e r m i s s e : jenes tiefe Interesse f ü r midi selber. Ich stelle mich zu gerne außer mir heraus und gebe allem zu leicht Recht, was mich umgiebt. Ich werde schnell müde, beim Versuch, mich pathetisch zu nehmen. Ich habe nie tief über mich nachgedacht. 7[20l] D i e Deutschen haben das Wort „Leidenschaft" k a u m hundert J a h r e — sie haben es dem Griechischen nachgemacht, ein Ubersetzer hat es gefunden. — 7[202] Tiefes Gelb der G e b ä u d e und das schwarze G r ü n der C y p r e s sen darüber — ein Kloster, und invalide Soldaten darin. 7l>°3] Wir s u c h e n die Situationen, welche unsere K r a f t auf das Höchste anspannen: aber dies sind oft entgegengesetzte: dieser sucht Einsamkeit und bemüht sich aus dem Munde der Menschen
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zu entschlüpfen. Und jener präsentirt sich einer Nation und fühlt sich am meisten durch die Vorstellung getrieben, daß diese in ihm sich selber verehren wolle — er kann es nicht hoch genug treiben. Ein dritter will seiner Geliebten gefallen, und da er sie für etwas Unvergleichliches hält, thut er sich nie genug. — A n d e r e s u c h e n die Situationen, welche ihnen erlauben träge zu sein. 7 0 ° 4] Ich hasse jene unfeinen Menschen, welche kaum daß wir uns ihnen genähert haben, mit ihrer tölpelhaften Herrschsucht auf uns ihre Hand legen, wie als ob wir Geräthschaft und Werkzeug für sie seien. Schon der Anspruch, daß sie nunmehr meinen, uns zu kennen um ein Urtheil fällen zu dürfen, ist eine Unverschämtheit des schlechtesten Geschmacks. Es ist die Art der geistigen Parvenus; die adelige Natur ist nicht in ihrem Grunde. sie haben keinen Begriff von der Herablassung, welche nöthig ist, um ihnen von uns aus Ehre und Auszeichnung zu erweisen, mögen sie nun sein, wer sie wollen 7[205] Zum P l a n . Ein Bild des G r i e c h e n t h u m s als der Zeit, die die meisten Individualitäten hervorgebracht hat. Das Fortleben in der Renaissance! Polemik gegen mittelalterlich, höfisch, liberal-parlamentarisch, socialistisch. Ich sehe die socialistischen Körper sich bilden, unvermeidlich! Sorgen wir, daß auch die K ö p f e für diese K ö r p e r anfangen zu keimen! jene Organisationen bilden den zukünftigen Sklavenstand, mit allen ihren Führern — aber darüber erhebt sich eine Aristokratie vielleicht von E i n s i e d l e r n ! Es ist d i e Zeit des Gelehrten v o r b e i , der wie alle Anderen lebt und glaubt (als Werkzeug der Kirchen, der Höfe, der kaufmännischen Parteien usw.)! Der g r o ß e H e r o i s m thut wieder noth!
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Die einzige erobernde Macht großen Stils ist Rußland ( o h n e dies Erobern-wollen sind die Staaten kastrirt! Es gehört d a z u , überschüssige Kraft nach außen zu wenden!) Folglich wird es Europa nöthigen sich zu einigen. Aber den Socialismus ergreift der endliche Ekel dieses Kriegszustands ohne Ende und überbrückt den Völker- und Dynastienhader! Wir gehen w i l d e r e n Zeiten entgegen! Das ist ein Vorzug, denn diese übernervöse Gegenwart ist nichts mehr werth, eine Reinigung von Hyperchristlich-Moralischen thut noth, ein Z u Grunde-gehen und O h n m ä c h t i g - w e r d e n der Eleganten Unkräftigen Verzärtelten, usw.! 7[206] Vom Willen zur Macht wird kaum mehr gewagt zu sprechen: anders zu Athen! 7l>°7] W a s trieb die Alten, Stoiker zu werden (da keine Höllenstrafen, keine Verachtung des Menschen, keine göttliche Heiligkeit ihnen die Entsagung nothwendig machte)? Die furchtbare M ö g l i c h k e i t großer plötzlicher Leiden, und die furchtbare Kraft ihrer L e i d e n s c h a f t e n — sie litten an sich und an der Welt der Unsicherheit (Sklave und Cäsar!) Dann der Ehrgeiz, in der Tugend die Ersten zu sein — Neid. Es war ein Mittel, bis an die Höfe hinauf beachtet und angerufen zu werden als Tröster. 7[2o8] Pascal verspricht, im geheimen Blatt, Gott „sogar seine Rache zu opfern". 7[20C>] Unwissende Menschen, die nichts anderes gesehen haben, machen aus ihren Gewohnheiten für ihre Umgebung einen
Ende 1880 7[205—213]
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Zwang, ein Gesetz — so wachsen die Jungen auf in V e r e h r u n g dagegen — und es ist das Neue: so wird die Sitte „sittlich".
7[2io] Jede Leidenschaft (im historischen Verlaufe) so hoch pflegen, bis sie ihre i n d i v i d u e l l e Blüthe zeigt. NB.
7[«i] Wir haben es in der Hand, unser Temperament wie einen Garten auszubilden. Erlebnisse hineinpflanzen, andere wegstreichen: eine schöne stille Allee der Freundschaft gründen, verschwiegener Ausblicke auf den Ruhm sich bewußt sein, — Zugänge zu allen diesen guten Winkeln seines Gartens bereit halten, daß er uns nicht fehle, wenn wir ihn η ö t h i g haben! 7[212] Die i n t e l l e k t u e l l e Großmuth besteht darin, den Durst nach absoluter Gültigkeit und nach ewigen Dingen zu brechen durch die Einsicht in die Relativität und L i e b e z u m K u r z l e b e n u n d W e c h s e l n d e n (statt Verachtung dafür). Ein Stück Grausamkeit. 7 [ " 3] Es ist Mythologie zu glauben, daß wir unser eigentliches Selbst finden werden, nachdem wir dies und jenes gelassen oder vergessen haben. So dröseln wir uns auf bis ins Unendliche zurück: sondern u n s s e l b e r m a c h e n , aus allen Elementen eine Form g e s t a l t e n — ist die Aufgabe! Immer die eines Bildhauers! Eines produktiven Menschen! N i c h t durch Erkenntniß, sondern durch Übung und ein Vorbild werden wir s e l b e r ! Die Erkenntniß hat bestenfalls den Werth eines Mittels!
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Nachgelassene Fragmente
7[*i4] Apollo und die Moral der Mäßigkeit gehören zusammen: wer Wagner's ideale Schönheit fände, würde sie gedunsen riesenhaft und nervös machen müssen. 7C2.15] Die sittliche Delikatesse und der hohe Geschmack in den Erzählungen von Jesus wird vielleicht von uns nicht abzuschätzen sein, weil wir damit geimpft worden sind, daß hier der höchste Geschmack des Guten sei. Was würde Aristoteles empfinden! Was Buddha! 7[2i6] Die Deutschen geben sich den Eindrücken ohne Kampf hin, aus Schwäche — deshalb hat gerade bei ihnen eine Religion des Mitleids so wenig Werth, weil sie der allgemeinen Schwäche schmeichelt, statt ihr zu widerstreben. Kant war es, der mit seinem kategorischen Imperativ dem Deutschen nützlich war. Jene Schwäche hat jetzt in der Musik ihren frappantesten Ausdruck bekommen — das unendlich Herumschweifen der Seele nach Emotionen, die äußerste Nervosität als Folge. W i r leiden daran, hinterdrein. Und w a s für Würzen braucht eine so empfindliche Rasse! die gröbsten! es ist die Rasse der Trunkenbolde! Vielleicht hat dies Trinken sie so schwach und sentimental gemacht. — Lob des Soldatenthums, entgegengesetzt dem Künstlerthum und seiner Schmeichelgier. 7[>i7] Den M(enschen) auf Ε i η ewiges Ideal beschränken — Stoiker Christenthum Kant Comte — das ist der noch nicht verstorbene Classicismus. Absolute Moral! 7[2l8]
eine angenehme Handlung thue ich nicht, weil ihr Zweck,
Ende 1880 7[214—222]
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ihr E n d e eine angenehme Empfindung mit sich bringt: sie ist nicht Mittel zu diesem Ende. Sondern das Angenehme ist so in sie gedrungen, daß sie sofort, n i c h t e r s t a m E n d e , angenehm ist. Mit den Zwecken machen wir Menschen uns vernünftiger als wir sind! „Warum schmeckt uns diese Speise? Quem in finem?" Keine Antwort! — Überall wo unsere Triebe reden, ist der „ Z w e c k " eine Groß thuerei!
Habt ihr es nicht erlebt? man thut sein Äußerstes an Selbstüberwindung und kommt wie ein halber Leichnam aber siegesfroh aus seinem Grabe — und die guten Freunde meinen, wir seien recht lustiger und absonderlicher Laune, merken nichts, aber meinen ein Recht zu haben, mit uns ihren Scherz zu treiben? Ich glaube, die Jünger in Gethsemane schliefen nicht, aber sie lagen im Grase und spielten Karten und lachten 7[220] Warum haben wir gerade bei der schwersten und schmerzhaftesten Art von Schaffen und Kunstform unsere Freude? Warum schämen wir uns bei jeder flachen und leichteren? Es ist Stolz, besiegte Schwierigkeit, der W i l l e , vor uns selber zum H e l d e n zu werden!
Es giebt einen c h r i s t l i c h e n Zug im alten Testament — man begreift die Entstehung des Gottes der Liebe! 7[222] Socrates' Skepsis in Betreff alles Wissens um die Moral ist immer noch das g r ö ß t e E r e i g n i ß — man hat es sich aus dem Sinne geschlagen.
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7["3] Was ist denn nun der wirkliche Unterschied des Guten und Schlechten in Bezug auf ihre gemeinsamen Triebe? Der Schlechte fühlt sein Urtheil über gut und böse als dasselbe wie das seiner Umgebung und thut das Böse, indem er Scham vor dem Urtheil Anderer und vor sich selber hat — "Widerspruch im Wissen und Thun. Oder er stellt sich gut, um diese Vortheile zu haben und im Geheimen die Vortheile des Bösen. — Dies ist alles nichts! was macht sein N e r v e n s y s t e m anders, daß er diesen W i d e r s p r u c h e r t r ä g t oder a u f s u c h t ? 7["4] Die Liebe zur Brut nichts Einfaches! wie man glaubt! sondern Produkt, Besitz, Unterhaltung, etwas Ungefährliches, etwas Unterwürfiges, worüber man h e r r s c h t , etwas W a r m e s — viel Gründe zur A n n e h m l i c h k e i t ! 7["$] Unsere Sicherstellung des Nächsten durch sociale Maßregeln beweist n i c h t mehr Mitleiden, aber mehr Vorsicht und Kälte. 7 [ Z 2 6 ]
Der Anblick der Welt wird erst erträglich, wenn wir sie durch den sanften Rauch des Feuers angenehmer Leidenschaften hindurch sehen, bald verborgen als einen Gegenstand des Errathens, bald verkleinert und verkürzt bald undeutlich, aber immer veredelt. Ohne unsere Leidenschaften ist die Welt Zahl und Linie und Gesetz und Unsinn in alledem das widerlichste und anmaaßlichste Paradoxum.
/["/] „Wir kommen nie zum Kern der Dinge": ich sage, wir kommen nie zum letzten Zipfel unserer Leidenschaften und sehen höchstens vermittelst der Einen über die andere h i n a u s .
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7["8] Für Racine war den Leidenschaften edel nachhängen schon eine Ausschweifung, man muß ihn mit Port Royal im Hintergrunde lesen. 7[229] Mir thut das amerikanische Lachen wohl, diese Art von derben Seeleuten wie Marc Twain. Ich habe über nichts Deutsches mehr lachen können. 7[230] „Classicism der Moral" herrscht noch. Seinem Gefühl hier folgen: das thaten auch die Anhänger der 3 Einheiten. 7 0 31] Die moralischen Phänomene machen die Geschichte der Krankheiten durch: erst etwas von außen her, Wirkungen übernatürlicher Mächte. Dann ganz menschlich, aber etwas f ü r s i c h , das „Moralische". Endlich erkennt man, daß es ebenso ungenau bezeichnete Vorgänge sind, wie die Krankheiten (über welche Jeder seine Meinung hat, und der V e r s t ä n d i g s t e sich dadurch auszeichnet zu schweigen) — d a ß d i e Z e i t d e r g r o ß e n S k e p s i s d a i s t ! Es giebt nichts „Moralisches an sich": es sind Meinungen v o n T r i e b e n e r z e u g t und d i e s e T r i e b e w i e d e r b e e i n f l u s s e n d . 7 0 32] „aufgezogen in angeblichen philosophischen Systemen, welche etwas wie dunkle und schlecht geschriebene Poesie sind, aber in moralischer Hinsicht von der höchsten und heiligsten Sublimität. Sie haben vom Mittelalter nicht den Republikanismus, das Mißtrauen und den Dolchstoß geerbt, sondern einen starken Hang zum Enthusiasmus und zum guten Glauben. Dafür bedürfen sie alle 10 Jahre einen neuen großen Mann, der alle anderen auslösche, nicht."
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Nachgelassene Fragmente
7[*33] Der Hauptfehler Pascals: er meint zu beweisen daß das Christenthum w a h r ist, weil es n ö t h i g ist — das setzt voraus, daß eine gute und wahre Vorsehung existirt, welche alles N ö t h i g e auch w a h r schafft: es könnte aber nöthige Irrthümer geben! Und endlich! Die Nöthigkeit könnte nur so e r s c h e i n e n , weil man sich an den Irrthum schon so gewöhnt hat, daß er wie eine 2 te Natur gebieterisch geworden ist. 7(>34] Der Zustand Pascal's ist eine Passion, und hat ganz die Anzeichen und Folgen von Glück Elend und tiefstem dauerndem Ernste. Deshalb ist es eigentlich zum Lachen, ihn so gegen die Passion stolz zu sehen — es ist eine A r t von Liebe, welche alle anderen verachtet und die Menschen bemitleidet, ihrer zu entbehren. 7l>3$] Was sind mir Freunde, welche nicht wissen, w o unser Schweres und w o unser Leichtes liegt! Es giebt Stunden, in denen wir unsere Freundschaften wiegen. 7[*36] Man wird älter, es ist mir schwer midi von einer Gegend, und führe sie die berühmtesten Namen, zu überzeugen. Ich habe fehlerhafte Linien bei Sorrent gesehen. Die bleichsüchtige Schönheit des lago maggiore im Spätherbst, welche alle Linien vergeistigt und die Gegend halb zur Vision macht, entzückt mich nicht, aber redet t r a u l i c h - t r a u r i g zu mir — ich kenne dergleichen nicht nur aus der Natur. 7i>37] Ich muß zu den Dingen reden, ich bin zu lange allein und ohne Zwiegespräch gewesen; ich will ihnen schmeicheln und ihnen Gutes nachsagen.
Ende 1880 7[233—242]
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Charakterzüge der Deutschen i ) sie exaltiren sich durch die Meditation, statt sich zu beruhigen z) sie sterben vor Begierde, einen Charakter zu haben. Stendhal 7Ο39] Die H o f f n u n g hatte für die Alten ein anderes Aussehen als für uns — Hesiod. Ebenso der N e i d . Bei andern Völkern hat die Lüge ein Ansehen (ζ. B. noch bei Napoleon) Die Fähigkeit zu trinken ist unter Deutschen oft ehrenvoll. 7t24°] Für Aeschylus war das Weib in der Leidenschaft etwas Abscheuliches und Schauerliches, wie die Thiere des Meeres — etwas Unzeigbares. 7l>4i_] Die Urtheile über Mozart verschieben sich, nach der Entwicklung der Musik, d.h. sie treffen seinen C h a r a k t e r u n d s e i n T e m p e r a m e n t — dieses scheint sich zu wandeln in Folge der neuen Beleuchtung und der Gegensätze, die er immer wieder erhält. Ein Wink für Künstler und Denker a l l e r Art! Am urtheilfähigsten sind einzelne Zeitgenossen, die alles m i t e r k ä m p f t und (sich über alles) m i t g e f r e u t haben, was der große Schöpfer gegeben hat. 7l>42] Plato hat den Erkenntnißtrieb als idealisirten aphrodisischen Trieb geschildert: immer dem Schönen nach! Das höchste Schöne offenbart sich dem Denker! Dies ist doch ein psychologisches Faktum: er muß beim Anblick und Denken seiner Allgemeinheiten einen sinnlichen Genuß gehabt haben, der ihn an den aphrodisischen erinnerte.
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Nachgelassene Fragmente
7l>43_] Die Worte bleiben und machen uns zu Narren, so daß wir Verschiedenes gleich benennen und hinterher meinen, es sei dasselbe (ζ. B. ridiculum) 7[244] Die Entstehung der A b g r e n z u n g moralischer Handlungen von allen übrigen Handlungen. Wichtig! Essen Gehen ist n i c h t moralisch. Wo hört die Indifferenz auf? 7[245] Die Verachtung und die Achtung hat Augen der Menschen geformt, bald so, bald erbleichen verkümmern, folglich den Hang und die Phantasie auf diesem Gebiete müde Die Andere umgekehrt.
die Dinge in den so. Die erste macht darnach absterben oder giftig werden.
7[M6] Diese Naivetät aller Moralisten jetzt! sie glauben, die Empfindungen für Andere, die sympathischen seien an sich moralisch! sie merken nichts, daß es nur eine Stufe der Cultur ist, welche d i e s e Empfindungen in der Schätzung voranstellt: andere haben andere, ja die entgegengesetzten vorangestellt! „An sich" moralisch! — Man lobt die Mitleidigen, man tadelt die Hartherzigen — just! Schon die Worte werden mit diesem Beigeschmack empfunden. Und doch hätten die Stoiker den unbeugsamen erbarmungslosen Menschen, auf den kein Anblick Eindruck macht, gelobt und den Mitleidigen getadelt! Und das war wohl auch eine Moral! die etwas Größeres geleistet hat als die unsere! 7l>47] In England meint man Wunder, wie freisinnig die höchste Nüchternheit in Sachen der Moral mache: Spencer, Stuart Mill.
Ende 1880
7[243—252]
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Aber schließlich thut man nichts als seine moralischen Empfindungen zu f o r m u l i r e n . Es erfordert etwas ganz anderes: wirklich a n d e r s einmal e m p f i n d e n zu können und Besonnenheit hinterher zu haben, um dies zu analysiren! Also neue innere Erlebnisse, meine werthen Moralisten! 7[*48] Ich sage zu oft „ihr"? Aber die Dinge reden zu mir und ich antworte ihnen, sie haben mich verwöhnt. 7l>45>] Der Mangel am E d e l m ü t h i g e n in den Voraussetzungen des Christenthums i) wozu mußte die Gerechtigkeit Gottes ein Opfer haben? Der Martertod Chr(isti) war nicht nöthig außer bei einem Gott der Rache (der sich überdieß den S t e l l v e r t r e t e r gefallen läßt: ohne Generosität!) ζ) wozu ist der Glaube an Chr(istus) nöthig, wenn es sein Wille ist, den Menschen zu helfen! 3) wozu der deus absconditus! 7l>5°] der servile Idealismus Geliert's, der schwärmerische Schillers, der lebens- und thatenlüsterne des jungen Deutschlands, der malerisch-mystische Wagners, der Idealismus der UnterweltsSchatten: der m e i n e ! 7[*51] Die Sünde erfinden und dann den erlösenden Zustand ist die unvergleichlichste Leistung der Menschheit. Diese Tragödie macht die anderen sehr blaß! 7l> 5*1 Euer Leben sei durch eine hohe Gartenmauer von der Landstraße getrennt: und wenn der Rosenduft aus euren Gärten hinüber weht, so mag Jemandem das Herz einmal sehnsüchtig werden.
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7[253] Seid ihr nie erröthet, wenn es euch durch den Kopf flog, jenes Ding, dem ihr euer Herz geschenkt habt, sei eures Herzens nicht würdig? Und schämtet ihr euch nicht gleich hinterher über euer Erröthen und batet dem geliebten Dinge euren unverschämten Stolz ab? 7l>H] Pascal hat keine n ü t z l i c h e Liebe vor Augen, sondern lauter vergeudete, es ist alles egoistische Privatsache. Daß aus dieser Summe von Thätigkeiten sich eine neue Generation erzeugt, mit ihren Leidenschaften Gewohnheiten und Mitteln (oder Nicht-Mitteln) sie zu befriedigen — das sieht er nicht. Immer nur den Einzelnen, nicht das Werdende. 7[255] Für viele Maler war s c h ö n der Ausdruck der Frömmigkeit. Und da eine gewisse Armut an Fleisch, eine peinliche H a l tung an den Frommen zu sehen war, übertrug(en) diese die Empfindungen des Schönen auch gerade auf diese Formen. Eine sehr lange und strenge Gewohnheit würde zuletzt sogar den Geschlechtssinn irre führen: der s e h r f e r n davon ist, unbewußte Zweckmäßigkeit zu Gunsten des zu Erzeugenden zu verfolgen. 7[2St]
Zum P l a n . Wodurch ist das Bedürfniß nach einem f e s t e n H a l t so groß geworden? Weil wir angelehrt worden sind, u η s zu mißtrauen: d. h. weil wir keine Leidenschaft mehr haben dürfen, ohne schlechtes Gewissen! Durch diese Verlästerung unseres Wesens ist der T r i e b n a c h G e w i ß h e i t außer uns so groß geworden: 1) religiöser Weg 2) wissenschaftlicher Weg 3) Hingebung an Geld Fürsten Parteien christliche Sekten usw.:
Ende 1880 7[253—259]
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welche wir fanatisch nehmen müssen, also falsch verstehen m ü s s e n , damit sie uns das Begehrte leisten. Die Juden hatten diese Verachtung von sich und vom Menschen überhaupt! Ziel: i ) die noch so sehr sichergestellte Welt ist zuletzt einer i n d i v i d u e l l e n M e s s u n g unterworfen: so lange wir forschen, können wir das I n d i v i d u u m ) oft ausschließen: zu dem was wir zuletzt finden, giebt es immer eine s u b j e k t i v e S t e l l u n g ! 2) wir müssen stolz genug von uns denken, um eine subjektive Stellung nur zu wirklichen Dingen einzunehmen, nicht zu Schemen! und lieber den Zweifel und die Meer fahrt ertragen als zu schnell Gewißheit wollen! 3) die Ehre der eigenen Seele wieder herstellen! 7l>S7] Sobald ihr den christlichen Glauben oder eine Metaphysik zu H ü l f e nehmt, dort wo eine Wissenschaft aufhört, so nehmt ihr euch die K r a f t des Heroismus: und eure Wissenschaftlichkeit ist t i e f e r n i e d r i g t ! Ihr höchster Accent steht nicht mehr euch zu! Ihr seid kalt und nicht mehr bewegt, ihr opfert nichts! Daher der abscheuliche Anblick des „Gelehrten" — er w a r ohne Großartigkeit der letzten Absichten, er gieng nicht ans Ende, sondern knickte dort um und warf sich der Kirche oder dem Regimente oder der öffentlichen Meinung in die Hände, oder der Dichtkunst und der Musik. Er b e d a r f jener Entsagung — 7l>$8] Man lernt zu sprechen, aber man verlernt zu schwätzen, wenn man ein J a h r lang schweigt. 7[259] Bist du denn r u h m b e g i e r i g ? Ich habe es nie geglaubt. Aber das fällt mir auf, daß ich es unerträglich finde, nicht mit dem beschäftigt und verwachsen zu sein, was mir das Wichtigste auf der Welt scheint. — Als ich dies von der Kunst n i c h t
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Nachgelassene Fragmente
mehr glaubte, trat ich sehr abgekühlt bei Seite, mit einer Art von Η a ß — sie schien mir eine Betrügerin, die mich dem Wichtigsten entziehen wollte. 7[*6o]
Pascal glaubte, daß die kleine Perier durch die wirkliche Stimme Christi geheilt worden sei cette voix sainte et terrible, qui etonne la nature et qui console l'eglise. 7
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„der Demosthenes der passionirten Logik"
Vergleich mit Pascal: haben w i r nicht auch unsere Stärke in der Selbstbezwingung, wie er? Er zu Gunsten Gottes, wir zu Gunsten der Redlichkeit? Freilich: ein Ideal, die Menschen der Welt und sich selber entreißen, macht die unerhörtesten Spannungen, ist ein f o r t g e s e t z t e s S i c h w i d e r s p r e c h e n i m T i e f s t e n , ein seliges Ausruhen ü b e r s i c h , in der Verachtung alles dessen, was „ich" heißt. Wir sind weniger erbittert und auch weniger gegen die Welt voller Rache, unsere Kraft auf einmal ist geringer, dafür brennen wir auch nicht gleich Kerzen zu schnell ab, sondern haben die Kraft der Dauer.
Ihr Stolz war durch ihre Schüchternheit v e r b i t t e r t . 7[264]
Die große Frage, ob es in der M