Singularität im Plural. Kolonialismus, Holocaust und der zweite Historikerstreit [1. ed.] 9783779973294, 9783779973300


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German Pages 240 [241] Year 2023

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Singularität im Plural. Kolonialismus, Holocaust und der zweite Historikerstreit [1. ed.]
 9783779973294, 9783779973300

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Meron Mendel (Hrsg.) Singularität im Plural

Meron Mendel (Hrsg.)

Singularität im Plural Kolonialismus, Holocaust und der zweite Historikerstreit Unter Mitarbeit von Marlena Kilinc und Davide Torrente

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.

Dieses Buch ist erhältlich als: ISBN 978-3-7799-7329-4 Print ISBN 978-3-7799-7330-0 E-Book (PDF) 1. Auflage 2023 © 2023 Beltz Juventa in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel Werderstraße 10, 69469 Weinheim Alle Rechte vorbehalten Herstellung und Satz: Ulrike Poppel Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Beltz Grafische Betriebe ist ein klimaneutrales Unternehmen (ID 15985-2104-100) Printed in Germany Weitere Informationen zu unseren Autor:innen und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

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Inhalt

Einleitung Meron Mendel

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1 Historikerstreit 2.0? Über Kontinuitäten und Besonderheiten einer aktuellen Debatte

Kolonialismus, Genozid und Holocaust: Zwischen der „Pflicht des Erinnerns“ und dem Verlangen zu vergessen Omer Bartov

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Streiten wofür? (Dis-)Kontinuitäten in erinnerungspolitischen Konstellationen Felix Axster

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Der Historikerstreit 2.0 und die zukünftige Holocausterinnerung: Ein postkolonialer Paradigmenwechsel? Steffen Klävers

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2 Postmigrantische Realitäten in Deutschland und Anforderungen an die Erinnerungskultur

Politik der Empathie: Holocaust-Gedenken und Zugehörigkeit von muslimischen Menschen im Nachkriegsdeutschland Esra Özyürek

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Say yes to the mess: Ideelle Gesamterinnerung und narzisstische Differenzkämpfe in der Gesellschaft der Vielheit Mark Terkessidis

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Historisch-politische Bildung zwischen Antisemitismus- und Rassismuskritik: Erziehungswissenschaftliche Perspektiven Wolfgang Meseth

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Erinnerungen an die Gegenwart: Postkoloniale Erinnerungskulturen zwischen Widerstand und Hegemonie Davide Torrente

100

3 Holocaustgedächtnis im internationalen Vergleich: Polen, Israel, USA

Von Madagaskar nach Sochy: Gibt es in Polen eine „multidirektionale Erinnerung“? Zofia Wóycicka

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Holocausterinnerung und das israelische Nationalnarrativ Meron Mendel

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Erinnerung im Transit: Deutschland und die USA Mirjam Zadoff

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4 Das „Wiedergutmachungsabkommen“ als Vorbild für Restitutionen?

„Vergangenheitsbewältigung“? Ein Rückblick auf die westdeutsche Entschädigungspolitik in den langen 1950er-Jahren Iris Nachum

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It’s the economy stupid (sunshine): Die Wirtschaft bestimmt das Geschehen Naita Hishoono

160

Auf dem Weg zu einer Aussöhnung mit Namibia Ruprecht Polenz

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5 Deutsche Staatsräson und Israels Sicherheit – Genese, Inhalt und Zukunft eines Postulats Ohne Leitidee: Zur Genese des deutsch-israelischen Beziehungsmusters Per Leo

6

178

Deutsche Staatsräson und Israels Sicherheit Claudia Baumgart-Ochse Israels Sicherheit und Existenz zwischen deutscher Staatsräson und Rechtsstaatsprinzip Ralf Michaels

186

194

6 Abschluss Carola Lentz und Meron Mendel im Gespräch

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Die Autor*innen

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Einleitung Meron Mendel

„Schwarze Gestalten hockten, lagen, saßen zwischen den Bäumen, lehnten sich gegen die Stämme, krümmten sich am Boden. In allen Stellungen des Schmerzes, der Verlassenheit und der Verzweiflung ... Diese dahinsterbenden Schatten waren frei wie die Luft – und beinahe so dünn. Dann, als ich nach unten blickte, sah ich ein Gesicht neben meiner Hand. Die schwarzen Knochen lagen längelang da, eine Schulter lehnte gegen den Baum, und langsam hoben sich die Augenlider, und die in tiefen Höhlen liegenden Augen sahen zu mir hoch, riesengroß und leer, eine Art blindes, weißes Flackern aus den Tiefen der Augäpfel, das langsam wieder erlosch ... und überall lagen welche, in allen erdenklichen Haltungen schmerzverkrümmter Erschöpfung wie auf jenen Bildern, die ein Massaker oder die Pest zeigen“ (Conrad 1992, S. 33). Diese Beschreibung aus der Erzählung „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad ist inzwischen 120 Jahre alt. Conrad stellt die kolonialistische Ausbeutung des Kongo durch Belgien dar. Damals hat im Kongo das stattgefunden, was gegenwärtig als Völkermord, als „Genozid“ bezeichnet wird. Die Bevölkerung dieses Gebiets wurde durch Mord, Hungersnöte und Krankheit um die Hälfte, um etwa zehn Millionen Menschen, dezimiert. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wann ich Conrads Buch zum ersten Mal las: Es gehörte 1999 zur Pflichtlektüre der Einführungsvorlesung zur Geschichte des Holocaust an der Universität in Haifa. Selbstverständlich ging es in der Vorlesung auch darum, dass in den Jahren 1904/05 die ersten Konzentrationslager durch das deutsche Kolonialregime im heutigen Namibia errichtet und das Konzept der „Vernichtung durch Arbeit“ beim Bau des Eisenbahnnetzes an den Herero exekutiert wurden. Alle diese Fakten waren schon vor mehr als 20 Jahren in der Geschichtsforschung so gut bekannt, dass sie im ersten Semester als gesicherte Wissensbestände in einer Vorlesung zur Geschichte des Holocaust behandelt wurden. Warum komme ich auf diese Erinnerung zurück? Weil im Zentrum der Debatte, die von vielen als zweiter Historikerstreit bezeichnet wird, die Frage der Vergleichbarkeit der Verbrechen des Kolonialismus und des Holocaust steht. Unter dem Titel „Enttabuisiert den Vergleich!“ forderten der Historiker Jürgen Zimmerer und der Literaturwissenschaftler Michael Rothberg im April 2020 in der Wochenzeitung Die Zeit, dass die deutsche Erinnerungslandschaft verändert werden müsste (vgl. Zimmerer/Rothberg 2021). Ist der Vergleich zwischen dem Kolonialismus und dem Holocaust, der in Israel schon im ersten Studiensemester 9

thematisiert wird, in Deutschland ein Tabu? Diese These, die immer wieder von Kritiker*innen der deutschen Erinnerungskultur aufgestellt wird, ist einfach zu widerlegen. In der deutschen Wissenschaft, Literatur und Politik werden solche Vergleiche häufig implizit oder explizit gemacht.1 Es stellt sich also die Frage, warum immer wieder über dieses vermeintliche deutsche Tabu geklagt und behauptet wird, dass man den Holocaust mit anderen Ereignissen nicht vergleichen dürfe. Diese Vorstellung beruht auf der – oft gewollten – Verwechslung von zwei Begriffen: Vergleich und Gleichsetzung. Auch und gerade Wissenschaftler*innen, die den Holocaust als einzigartiges oder präzedenzloses Verbrechen beschreiben, leiten diese Erkenntnis aus dem Vergleich mit anderen historischen Verbrechen her. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Verbrechen – insbesondere, aber nicht ausschließlich mit dem, was im Laufe der Zeit als Holocaust oder Shoah bezeichnet wird – begann bereits, als der Zweite Weltkrieg noch tobte. Schon früh – etwa bei Hannah Arendt oder W. E. B. Du Bois – wurden Kolonialverbrechen und Holocaust gemeinsam betrachtet. Dabei ging es nie primär um eine qualitative oder quantitative Bewertung, gar eine Art „Ranking“ der Völkermorde, sondern um ein Mittel zum Zweck der Erkenntnis. Sozial- und Geisteswissenschaften können gar nicht anders, als zu vergleichen. Dabei ist der Vergleich gerade keine Aussage über die Identität eines historischen Ereignisses, sondern die Betrachtung von Ähnlichkeiten und Unterschieden mit Blick auf bestimmte Kriterien, zugrunde gelegte Gemeinsamkeiten vorausgesetzt. So lassen sich Äpfel mit Birnen – entgegen dem Sprichwort – ganz wunderbar miteinander vergleichen, beispielsweise auf Vergleichskriterien wie Vitamingehalt oder Geschmack, vorausgesetzt, beide werden zunächst als essbares Obst kategorisiert. Wenn die Frage des Vergleiches so einfach zu beantworten ist, warum wird diese Debatte 35 Jahre nach dem ersten Historikerstreit erneut aufgerollt? Der Kontext der Debatte heute ist ein gänzlich anderer. Heute geht es den Streitenden vornehmlich darum, eine globale und „multidirektionale Erinne1

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„Die Erinnerung an den Holocaust steht der empathischen und bewussten Erinnerung an andere Ungerechtigkeit, anderes Leid nicht entgegen!“, sagte bspw. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Festakt zur Eröffnung der Ausstellungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin im Humboldt-Forum im September 2021 (Steinmeier 2021) – verstieß er damit gegen ein Tabu? 2011 hatte Jürgen Zimmerer mit seinem Buch „Von Windhoek nach Auschwitz. Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust“ eine intensive Debatte unter Historikern ausgelöst (vgl. Zimmerer 2011). Die Publizistin Charlotte Wiedemann diskutiert in „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“ ebenfalls vergleichend (vgl. Wiedemann 2022). Es finden sich problemlos zahllose weitere derartige Beispiele, die bereits in ihrer Quantität gegen ein „Tabu“ sprechen. Das heißt freilich nicht, dass diese immer historisch korrekt oder politisch/moralisch angemessen wären. Ganz abgesehen von gezielten rhetorischen Entgleisungen und Provokationen wie jener von Mahmud Abbas 2022 in Berlin.

rung“ (Rothberg 2021) zu schaffen, in der der Holocaust nicht als der einzige „Zivilisationsbruch“ gilt (Diner 1988). Diese Forderung ist Teil eines neuen Diskurses, in dem Gruppen Anerkennung für historisches Leid, die Kolonialverbrechen, verlangen, und dass Rassismus in Geschichte und Gegenwart stärker thematisiert wird. Das ist zweifelsohne eine positive Entwicklung und ein wichtiges, berechtigtes Anliegen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Relativierung des industriellen Massenmords an den europäischen Juden für eine angemessene Anerkennung von Kolonialverbrechen erforderlich ist? Diese Annahme scheint der eigentliche Grund dafür zu sein, warum aktuell über die These der Singularität bzw. Präzedenzlosigkeit der Shoah erneut gestritten wird. Und so befinden wir uns mittendrin in einer Debatte, in der Antisemitismus und (Kolonial-)Rassismus gegeneinandergestellt und konträr diskutiert werden. Eine Debatte, die in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgetragen wird: im Feuilleton, in der Wissenschaft wie im Aktivismus. Und sie zieht Kreise zu anderen, benachbarten Themenfeldern: von Reparationszahlungen für den deutschen Kolonialismus über museale Ausstellungspraxen zur Frage von Repräsentation und ganz besonders dem deutschen Verhältnis zu Israel und dem Nahostkonflikt.

Die These der Einzigartigkeit Was aber ist nun gemeint, wenn wir die Shoah als einzigartig oder beispiellos bezeichnen? Die Antwort darauf umfasst verschiedene Aspekte. Wenn es dabei um das quantitative Ausmaß des Massenmords, also die hohe Zahl der Opfer in nur wenigen Jahren gehen soll, dann wäre das Argument nicht stichhaltig. 1994 hat beispielsweise die Hutu-Mehrheit in Ruanda innerhalb von weniger als drei Monaten etwa 800 000 bis eine Million Angehörige der Tutsi-Minderheit ermordet. Das machte etwa 75 % dieser Bevölkerungsgruppe aus (vgl. Prunier 1999, S. 13–14). Ein gewichtiges Argument ist die Tatsache, dass die Vernichtung aller Juden und Jüdinnen in der Nazi-Ideologie ein dezidiertes Ziel war, aber nicht nur der Juden, sondern auch „des Juden“ als abstrakte Verkörperung des Bösen schlechthin. „Der Nazi-Antisemitismus zielte nicht nur darauf, sich der Juden als Individuen zu entledigen, sondern auch darauf, jede Spur ,des Juden‘ auszuradieren“, schreibt Saul Friedländer und spricht deswegen von „Erlösungsantisemitismus“ als Bestandteil der NS-Ideologie (vgl Friedländer 2021). Dieser systematisch geplante und durchgeführte Massenmord ist nicht Teil eines realen Konflikts zwischen Deutschen und Juden gewesen. Es geht aber eben auch darum, dass es dafür – anders als von Ernst Nolte 1986 behauptet – in dieser Art kein historisches Vorbild gegeben hat. Es gab eben keine „Blaupause“, an der sich etwa 1942 die Teilnehmer der Wannseekonferenz orientierten. Auch in Israel herrscht kein Konsens über die „Einzigartigkeit“ des Holocaust. Auf der hebräisch-sprachigen Webseite (aber nicht auf der deutschsprachigen) 11

von Yad Vashem wird zwar erklärt, dass die Shoa „einmalig“ war. Argumentiert wird dort mit der Naziideologie, die darauf abzielte, alle Juden auszulöschen.2 Yehuda Bauer, Historiker und Vorstandsmitglied von Yad Vashem, lehnt hingegen den Begriff der Einzigartigkeit ab. Er plädiert dafür, den Holocaust „präzedenzlos“ (also „beispiellos“) zu nennen. Damit möchte er betonen, dass es Besonderheiten gibt: „Präzedenzlos war der unbedingte Vernichtungswille der Nationalsozialisten. Ein Beispiel: Auch noch 1944, also zu einer Zeit, als die Kriegsniederlage schon längst feststand, wurden Juden nach Auschwitz deportiert und ermordet. Die Systematik dieser Organisation ist präzedenzlos“ (Lelle/Schulz/Steinbacher 2022).3 Mit Jürgen Habermas kann man ergänzen: „Das spezifische Merkmal, das den Holocaust von kolonialen Genoziden unterscheidet, ist diese Wendung gegen den ,inneren Feind‘, der getötet werden muss – und der nicht wie die fremde, kolonial unterworfene Bevölkerung zusammen mit deren Naturschätzen primär ausgebeutet werden soll“ (Habermas 2022). In seinem programmatischen Beitrag für diesen Sammelband fragt der Genozidforscher Omer Bartov, wie „Deutschlands koloniale und genozidale Vergangenheit mit der modernen Erinnerungspolitik und einer zunehmend diversen Gesellschaft in Verbindung“ steht (Bartov, S. 33) und hebt dabei hervor, dass der Holocaust für Deutsche und für Juden einzigartig sei. Damit bietet er einen Ausweg aus dieser fruchtlosen Debatte über die Frage, ob der Holocaust objektiv betrachtet in der Weltgeschichte singulär war. Vielmehr stellt der Massenmord an den europäischen Juden einen Fixpunkt für Juden und Deutsche (und in nochmals besonderer Weise für deutsche Juden) dar, wie Bartov nicht zuletzt anhand zahlreicher Biografien von Deutschen und Israelis eindrücklich darstellt. Denn für Juden und Deutsche ergibt sich aus dem Holocaust, was der Historiker Dan Diner als die „negative Symbiose“ beschreibt: „Für beide, für Deutsche wie für Juden, ist das Ergebnis der Massenvernichtung zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses geworden; eine Art gegensätzlicher Gemeinsamkeit, ob sie es wollen oder nicht. Denn Deutsche wie Juden sind durch dieses Ereignis neu aufeinander bezogen worden. Solch negative Symbiose, von den Nazis konstituiert, wird auf Generationen hinaus das Verhältnis beider zu sich selbst, vor allem zueinander, prägen“ (Diner 1987, S. 185).

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Die hebräische Homepage von Yad Vashem findet sich hier: www.yadvashem.org/he/holocaust/faqs.html (letzter Abruf: 30.09.2022). Zur Argumentation Yehuda Bauers siehe exemplarisch das Interview mit ihm in: Bankier (2006), S. 56–92.

Erinnerungspolitische Kämpfe Erinnerungspolitische Kämpfe gehören zur Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik – so wie zu jedem anderen modernen Staat auch. Der Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe und dem Holocaust, die Fragen nach dem „richtigen“ Erinnern und den zeitgemäßen Schlüssen für Gegenwart und Zukunft werden immer wieder zum Gegenstand öffentlicher, wissenschaftlicher und parlamentarischer Diskussionen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei im Folgenden an einige wichtige Debatten in der Bundesrepublik erinnert, deren Nachwirkungen auf die aktuelle Debatte noch zu spüren sind. Die ersten begannen sogar noch vor Gründung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten: die mediale Begleitung der ersten Strafprozesse gegen Nazi-Kriegsverbrecher ab 1945; die gescheiterte Idee einer „Entnazifizierung“ und die (erschreckend reibungslose) „Integration“ von Millionen Tätern in die Bundesrepublik; das „Wiedergutmachungsabkommen“ zwischen Israel und Westdeutschland 1952; der Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem und die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main ab 1963; die studentischen Proteste ab dem Jahr 1968 gegen die „ungesühnte Nazijustiz“ und den „Muff von 1000 Jahren“, aber auch innerfamiliäre Konflikte um Täterschaft und den Umgang damit in der noch immer jungen Bundesrepublik; dann der sogenannte „Historikerstreit“ 1986/1987; kurz darauf dann die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, die den Deutschen zu weiteren Selbstbetrachtungen Anlass gab. Solche Debatten gab es in der DDR kaum, da dort der staatlich verordnete Antifaschismus herrschte, der in seiner Gedenkkultur ohne die jüdischen Opfer auskam, und zudem die Bedingungen für kontroverse öffentliche Debatten im Vergleich zur Bundesrepublik eingeschränkt waren (vgl. Herf 1997). Relativ kurz zurück liegen die Diskussionen um die – ab Mitte der 1990er-Jahre – vom Hamburger Institut für Sozialforschung initiierte Wehrmachtsausstellung (vgl. Reemtsma 2022). Am rechten Rand und in konservativen Kreisen löste sie heftigen Protest aus. In all diesen „Historikerstreiten“ ging es immer um Auslegungen der Geschichte vor dem Hintergrund gegenwärtiger Fragen (vgl. Große Kracht 2011). Die Fragen, die der aktuelle Historikerstreit seit 2020/2021 aufwirft, sind ebenfalls nicht gänzlich neu. So wird über die Frage, ob der Holocaust ein singuläres bzw. präzedenzloses Ereignis war oder ob er als einer von vielen Genoziden zu betrachten ist, seit Jahrzehnten gestritten. Auch die Diskussion darüber, wie sich Deutschland angesichts der historischen Verantwortung für den Holocaust zu Israel verhalten soll, ist schon alt. Wenn wir nun die aktuelle Kontroverse um die Erinnerungskultur als zweiten Historikerstreit bezeichnen, stellen wir – fast 40 Jahre später – einen Bezug zum ersten Historikerstreit von 1986/1987 her. Damals waren Jürgen Habermas (geboren 1929) und Ernst Nolte (1923–2016) die

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zentralen Protagonisten.4 Ausgangspunkt waren Überlegungen des Historikers Nolte, wonach der Holocaust und die weiteren Verbrechen des Nationalsozialismus mehr oder weniger nachvollziehbare, ja sogar legitime Reaktionen gewesen seien auf vorangegangene Gräueltaten der Sowjetunion. Die Shoah, so Nolte, sei gar eine „,asiatische‘ Tat“ gewesen: ein Verbrechen, das die ,hochkultivierten‘, ,europäischen‘ Deutschen ohne dieses Vorbild nicht begangen hätten. Nolte insinuierte zudem, man solle auch die positiven Aspekte der deutschen Geschichte betrachten und nicht den Blick von Opfern und Siegern für die Geschichtswissenschaft übernehmen. Diese revisionistische Argumentation wurde vom Philosophen Jürgen Habermas und vielen anderen zurückgewiesen.

Der „zweite Historikerstreit“ Es fällt auf, dass in der aktuellen Diskussion die Einwände gegen die Singularitäts- bzw. Präzedenzlosigkeitsthese nicht auf neuen Erkenntnissen aus der Geschichtsforschung basieren. Insofern ist die Bezeichnung „Historikerstreit 2.0“ irrführend. Vielmehr wird über die Deutungshoheit gestritten, welche Gewichtung der Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur bekommen soll und was dies für das deutsche Verhältnis zum Staat Israel bedeutet. Die Kontinuitäten und Besonderheiten dieser aktuellen Debatte des zweiten Historikerstreits werden in zwei Beiträgen genauer beleuchtet (1). Felix Axster befragt kritisch die zahlreichen Analogiebildungen zwischen dem Historikerstreit von 1986/87 mit den aktuellen Debatten und befürchtet, dass durch die oft vorschnellen Analogien „Erkenntnis möglicherweise eher erschwert denn befördert wird“ (Axster, S. 41). Den ersten Historikerstreit bettet Axster in die geschichtspolitischen Debatten der Kohl-Jahre ein, nicht zuletzt die von ihm ausgerufene „geistig-moralische Wende“. Dahingehend fänden die aktuellen Debatten vor einer auch durch das reformierte Staatsbürgerrecht veränderten Gesellschaft statt, in der nun andere Stimmen artikuliert werden – und zugleich das etablierte „Holocaust-Gedenken bisweilen im Sinne eines Integrationsimperativs fungiert und folglich wie ein Ordnungsruf daherkommt“ (ebd.). Steffen Klävers überlegt, inwiefern wir derzeit einem postkolonialen Paradigmenwechsel beiwohnen. Ein zentraler Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Historikerstreit ist, so Klävers, dass derzeit das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus zentral sei und – zumal in den akademischen Welten – der Colonial Turn der letzten knapp zwei Jahrzehnte zahlreiche neue Fragen aufgeworfen hat, die zu

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Wer den Begriff „Historikerstreit“ zuerst verwendet hat, lässt sich nicht mehr herausfinden. Bereits der Sammelband von 1987, der die Beiträge versammelt, hieß „,Historikerstreit‘. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung“ (Piper Verlag).

beantworten richtig und wichtig ist, die mit Blick auf die Analyse und Bewertung des Holocaust aber zahlreiche Schwierigkeiten bereithalten, wie an Autoren wie Zimmerer, Rothberg oder Moses zu sehen sei. Zudem kippe die historische Analyse allzu leicht ins Politische, nicht zuletzt, wenn es um den Staat Israel gehe. Dass Deutschland in den 2020er Jahren ein in vielerlei Hinsicht anderes Deutschland ist, als es in den 1980er Jahren war, ist eine alle Texte dieses Sammelbands durchziehende Grundannahme – allen historischen Kontinuitäten zum Trotz. Was genau gemeint ist, wenn von einer postmigrantischen Gesellschaft gesprochen wird und wie sich dies auf die gegenwärtige und zukünftige Erinnerungskultur auswirkt (und auswirken soll), beleuchten vier Sammelbandbeiträge (2). Esra Özyürek beschreibt den wissenschaftlichen und politischen Diskurs über die Frage, wie muslimische Jugendliche (nicht) an den Holocaust gedenken und wie dieses (Nicht-)Gedenken „als unempathisch oder moralisch falsch verurteilt“ wurde und wird (Özyürek, S. 65). Die Mechanismen von sozialer Exklusion werden hier beschrieben, wobei dies hier über die Beurteilung von (fehlender oder falscher) Empathie funktioniert. Der Beitrag macht deutlich, wie eindimensional die deutsche nationale Gedenktradition noch immer ist. „Say yes to the mess“, fordert Mark Terkessidis in seinem Beitrag. An verschiedenen Punkten erkennt Terkessidis das Bedürfnis, die Dinge zu sortieren, Ordnung zu erzeugen. Das gilt für den medialen Diskurs, der die eigentlich vielstimmige und differenzierte Debatte in einfacher Binarität abbildet, wie für das Beharren auf eine festgefügte und einheitliche deutsche Erinnerungskultur. Nicht zuletzt für schulische Bildung und wissenschaftliche Forschung folge aus alledem die Herausforderung, die Perspektivenvielfalt anzuerkennen und selber anwenden zu lernen. Wolfgang Meseth behandelt im Anschluss aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive genau diese von Terkessidis adressierten Felder: Schule und Hochschule. Anhand zweier Fallbeispiele schildert Meseth „die sozialen Bedingungen […], unter denen die Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus“ stattfindet (Meseth, S 87). Besonders herausfordernd werden Situationen insbesondere dann, wenn die Kommunikation ins Moralische kippt. Zumindest ein Schritt aus dieser Situation heraus könnte die gründliche Beschäftigung mit den Ansätzen und Theorien selbst sein, die – wie bei der Rassismuskritik und Antisemitismuskritik – allzu oft und vorschnell moralisch in Opposition zueinander gestellt werden. Davide Torrente untersucht, „inwiefern das gesellschaftliche Erinnern an den Kolonialismus sowie ein Gedenken der durch koloniale Gewalt ermordeten, versklavten, verschleppten und verletzten Menschen und Gesellschaften in Deutschland selbst durch Kontinuitäten des Kolonialismus strukturiert sind und inwiefern auch Erinnerungen auf unterschiedlichen Ebenen als rassifiziert gelten können“ (Torrente, S. 100). Er versucht damit aus einer postkolonialen Perspektive, „den Gegenstand der Erinnerungskultur zu dezentrieren“ (Torrente, S. 102). Torrente untersucht die Realitäten des Erinnerns auf der Mikro- und Makroebene und zeigt dabei – zuvorderst mit Blick auf afrikanische und afrodia15

sporische Stimmen – zahlreiche Kontinuitäten der kolonialen Vergangenheiten. Das Ziel sollte eine plurale und gleichberechtigte Erinnerungskultur sein, wobei dabei ebenso postkoloniale wie intersektionale Ansätze besonders hilfreich sein können. Nach diesen Beiträgen zur gegenwärtigen Debattenlage in Deutschland, schauen drei Beiträge auf das Holocaustgedächtnis in Polen, Israel und den USA (3). Zofia Wóycicka blickt nach Polen und stellt die Frage, ob es dort eine „multidirektionale Erinnerung“ gibt. Die zwischen kosmopolitischen und antagonistischen Positionen polarisierten Geschichtsdebatten in Polen kreisen, so macht der Aufsatz deutlich, dabei um die Beurteilung historischer Tatsachen wie auch um das aktuelle Selbstverständnis und gesellschaftspolitische Interessen nicht zuletzt der Regierungspartei PiS. Zentral in diesen Debatten ist immer wieder, wie stark die polnische Bevölkerung und Administrationen am Holocaust beteiligt waren und zugleich, wie das Holocaustgedenken und das Gedenken an das Leiden der nicht-jüdischen Bevölkerung Polens im Verhältnis zueinanderstehen. Einen Blick nach Israel werfe ich in meinem eigenen Beitrag (Mendel, S. 131). Dabei wird deutlich, dass die Bedeutung des Holocaust für Israel gar nicht groß genug bewertet werden kann und in den letzten Jahrzehnten eher zu- als abgenommen hat. Der Staat Israel bindet sich und seine Bürger auf verschiedene Weise, insbesondere „pädagogisch“ durch den Besuch von Holocaustgedenkorten in Israel und Polen, emotional sehr eng an den Holocaust und zieht daraus starke Legitimation nach innen wie außen. Diese Engführung und auch die damit oft einhergehende Instrumentalisierung für andere politische Konflikte im gegenwärtigen Israel – nicht zuletzt Debatten über Rassismus und den Konflikt mit den Palästinensern – werden, wie im Beitrag deutlich wird, seit vielen Jahren in Israel kritisch kommentiert und von Versuchen flankiert, Alternativen zu etablieren. Wie sich deutsche und US-amerikanische Erinnerungskulturen gegenseitig beeinflussen, schildert Mirjam Zadoff in ihrem Beitrag. Dass es wechselseitige Beobachtungen bereits in den 1920er und 30er Jahren gab, die sich auch auf Fragen des Rassismus und Antisemitismus bezogen, schildert Zadoff etwa an W.E.B Du Bois‘ Berichten von einer Reise zu den Olympischen Spielen 1936. „[W]ie wenig amerikanische Studierende über Antisemitismus in den USA wussten“ (Zadoff, S. 139) ist dann auch das besonders Überraschende, was Zadoff bei einem längeren Aufenthalt in den USA feststellte – um dennoch zuversichtlich auf die Bedeutung von miteinander verschränktem Erinnern zu beharren: „Empathie schafft Empathie, Erinnerung schafft Erinnerung, und Erinnerung gedeiht niemals in isolierten Räumen“ (Zadoff, S. 141). In der Diskussion um Erinnerungskultur darf der Aspekt der Entschädigung und Restitutionen nicht fehlen. Drei Beiträge befassen sich damit, wie zwei Staaten nach begangenem bzw. erlittenem historischen Unrechtin einen gedeihlichen Austausch miteinander kommen können und wie Abkommen und Fragen der Restitution dabei helfen können (4). Zunächst betrachten zwei Bei16

träge die aktuellen Diskussionen zwischen Deutschland und Namibia, während der dritte Beitrag zurückblickt auf die Entschädigungspolitik der noch jungen Bundesrepublik. Naita Hishoono beschreibt den Genozid des Deutschen Reichs an den OvaHerero 1904 und die nachfolgende Geschichte Namibias bis zu gegenwärtigen Diskussionen mit Deutschland, das sich erst nach und nach dazu durchringen konnte, die begangenen Verbrechen als Völkermord zu benennen. Welche Form von (finanzieller) Entschädigung oder Wiedergutmachung daraus zu folgen hat, ist weiterhin Gegenstand politischer Kontroversen, wobei Hishoono klar macht, dass dies lediglich ein Bestandteil der deutsch-namibischen Beziehungen sein kann und es viel prinzipieller um Fragen der Reisefreiheit und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gehen müsste. Ruprecht Polenz, der Deutschland in den Gesprächen mit Namibia vertreten hat, beschreibt in seinem Beitrag die Aufgaben, vor denen beide Regierungen standen und weiterhin stehen. Polenz betont dabei, dass aus seiner Sicht ein Abkommen nicht das Ende des Prozesses, keine Form der Wiedergutmachung oder gar ein „Schlussstrich“ sein kann, sondern eine solche Vereinbarung „die Voraussetzungen für eine Versöhnung schaffen“ solle (Polenz, S. 170). Auf Konrad Adenauers lange Kanzlerschaft blickt Iris Nachum zurück. Wie diese anderthalb Jahrzehnte mit Blick auf Deutschlands „Vergangenheitsbewältigung“ zu beurteilen sind, ist Gegenstand kontroverser Urteile gerade auch unter Historiker*innen. Das gilt nicht zuletzt für „das Wiedergutmachungsgesetz für Geschädigte des NS-Regimes und das Lastenausgleichsgesetz für Personen, die infolge des Krieges und seiner Nachwirkungen Vermögensschäden erlitten hatten“ (Nachum, S. 149). Gerade das Verhältnis der Zahlungen an verschiedene Opfergruppen zueinander, steht dabei im Zentrum der Diskussionen, wobei Nachum in ihrem Beitrag für eine differenzierte Beurteilung wirbt, die auch die politischen Realitäten der frühen 1950er Jahre anerkennt, in denen eine Entschädigungszahlung an Opfer des Holocaust ohne die gleichzeitige Entschädigung von aus Osteuropa Vertriebenen politisch unmöglich gewesen wäre.

Streitpunkt Israel Viele der aktuellen Debatten und die Vehemenz, mit welcher diese geführt werden, sind nicht zu verstehen, ohne einen Blick auf die deutsch-israelischen Beziehungen. Was zunächst unplausibel erscheinen könnte, wird verständlich, wenn man sieht, dass einer der zentralen Streitpunkte in vielen dieser Debatten die Frage ist, was der Staat Israel eigentlich ist: Ist Israel ein koloniales Projekt von weißen Europäern? Oder das emanzipatorische Projekt einer seit Jahrhunderten verfolgten Minderheit? Oder anders gefragt: Steht die deutsche Verbundenheit zu Israel aufgrund der Shoah im unauflösbaren Widerspruch zu post-kolonialen Perspektiven? 17

Die These, die Erinnerungskultur, das Festhalten an der Singularitätsthese, sei daran schuld, dass die deutsche Politik Israel bedingungslos unterstützt, vertritt der australische Historiker A. Dirk Moses in seinem Artikel „Der Katechismus der Deutschen“ (2021). Der Text löste nach seinem Erscheinen in einem schweizerischen Blog im Mai 2021 eine Kontroverse aus. Vor allem wurde kritisiert, dass Moses religiöse Metaphern verwendet, um die deutsche Erinnerungskultur zu diskreditieren.5 Er spricht von „Katechismus“, „Hohepriester“, „erinnerungspolitische Orthodoxie“, „priesterliche Zensoren“ und einem „christologisch geprägten Erlösungsnarrativ“. Von der Kritik an der Erinnerungskultur, verpackt als Religionskritik, geht Moses zu einem Angriff auf das Verhältnis Deutschlands zu Israel über. Er beklagt, dass „Deutschland (…) für die Juden in Deutschland eine besondere Verantwortung (trägt) und Israel zu besonderer Loyalität verpflichtet“ sei – und deshalb hierzulande Antizionismus mit Antisemitismus gleichgesetzt werde. Die Fragen nach der Singularität des Holocaust und dem Verhältnis Deutschlands zum Staat Israel hängen nicht kausal zusammen, wie Moses behauptet. Der Unterschied zwischen diesen beiden Themen besteht auch darin, dass der Gegenstand der historischen Fragen (Präzedenzlosigkeit des Holocaust) in der Vergangenheit liegt und daher unveränderbar ist. Die politische Frage des deutschen Verhältnisses zum Staat Israel ist hingegen immer in Bewegung, da es auf politische Entwicklungen hierzulande und in Israel reagieren soll. Um diesen beiden Themen gerecht zu werden, behandelt der Sammelband auch die Frage der deutsch-israelischen Beziehungen, ohne die die Brisanz des Themas kaum nachvollziehbar ist. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung des Postulats, dass Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson gehöre. Dieses Postulat – „Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar“ (Angela Merkel) – wird in drei Beiträgen im sechsten Abschnitt des vorliegenden Bandes beleuchtet (5).6 Zunächst schildert Per Leo den Beginn der deutsch-israelischen Beziehungen, die er als „ebenso unwahrscheinlich wie zwangsläufig“ charakterisiert (Leo, S. 178). Ähnlich wie Iris Nachum im vorangegangenen Beitrag, schaut Leo auf die ersten vorsichtigen Annäherungen der israelischen und deutschen Regierungen und ihre Verhandlungen über das „Wiedergutmachungsabkommen“. Claudia BaumgartOchse betrachtet in ihrem Beitrag genauer, was Angela Merkel in ihrer Rede vor der Knesset genau gesagt hat, und fragt vor allem danach, von welchem Staat

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Nachzulesen ist diese Kritik exemplarisch im Band „Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust“ von Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher und Dan Diner (2022). Die drei Beiträge sind im Rahmen einer nicht-öffentlichen Diskussion zum Thema „Staatsräson“ im Frühjahr 2022 in Berlin entstanden.

Israel, mit und in welchen Grenzen, hier gesprochen wurde und was unter „Sicherheit“ konkret zu verstehen ist. Die Fragen nach der rechtlichen Bedeutung einer „Staatsräson“ betrachtet Ralf Michaels in seinem Beitrag. Das Verhältnis von Recht zu Staatsräson wird dabei als unklar beschrieben: meint Staatsräson eine „vorrechtliche Nützlichkeitserwägung“, ist sie eine „faktische Existenzvoraussetzung“, die „moralische Legitimationsvoraussetzung“ oder eine „bloße politische Setzung in der Außenpolitik“ – und was würde daraus folgen? Michaels verdeutlicht, dass im Konstrukt der Staatsräson für den liberalen Rechtsstaat beunruhigende Aspekte liegen – dass das Nachdenken darüber aber hilfreich und lehrreich sein kann. Den Abschluss dieses Sammelbandes bildet ein Gespräch, das Eva Berendsen mit Carola Lentz und mir über die Zukunft der globalen Erinnerungskulturen geführt hat (6). Lentz erläutert anhand eines biografischen Beispiels einer Jüdin aus Südafrika, wie komplex die Frage von Opferstatus und Täterschaft sich in einzelnen Biografien gestalten könne. Dieser Sammelband entstand aus der internationalen Konferenz „Beyond – Towards a Future Practice of Remembrance“, die im September 2022 in Frankfurt am Main stattgefunden hat. Mein Dank gilt den Kooperationspartner*innen: der Frankfurt University of Applied Sciences, der Bildungsstätte Anne Frank, dem Goethe Institut und dem Auswärtigen Amt.

Literatur Bankier, David (Hrsg.) (2006): Fragen zum Holocaust. Interviews mit prominenten Forschern und Denkern. Göttingen: Wallstein, S. 56–92. Diner, Dan (1987): Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz, in: Diner, Dan (Hrsg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 185–197. Diner, Dan (1988): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch. Friedländer, Saul (2021): Ein fundamentales Verbrechen. In: Die Zeit, 10.07.2021, www.zeit.de/2021/28/holocaust-gedenken-erinnerungskultur-genozid-kolonialverbrechen (letzter Abruf: 30.09.2022). Friedländer, Saul/Frei, Norbert/Steinbacher, Sybille/Diner Dan (2022): Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust. München: C. H. Beck. Große Kracht, Klaus (2011): Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945. 2. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Habermas, Jürgen (2022): Der neue Historikerstreit, in: Philosophie Magazin, 09.09.2022; www.philomag.de/artikel/der-neue-historikerstreit (letzter Abruf: 14.12.2022). Herf, Jeffrey (1997): Divided Memory. The Nazi Past in the Two Germanys, Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Lelle, Nikolas/Schulz, Hannah/Steinbacher, Sybille (2022): Der Holocaust ist präzedenzlos. Die Direktorin des Fritz Bauer Instituts, Sybille Steinbacher, im Interview über den „neuen Historikerstreit.“ Postkolonialismus und was das alles mit Israel zu tun hat. In: Belltower, 31.03.2022,

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www.belltower.news/historikerstreit-2-0-der-holocaust-ist-praezedenzlos-129787 (letzter Abruf: 30.09.2022). Moses, A. Dirk (2021): Der Katechismus der Deutschen, in: Geschichte der Gegenwart, 23.05.2021, geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen (letzter Abruf: 15.01.2023). Prunier, Gérard (1999): The Rwanda Crisis: History of a Genocide. London: Hurst. Reemtsma, Jan Philip (2022): Wehrmachtsausstellung. In: Neiman, Susann/Wildt, Michael (Hrsg.): Historiker streiten. Berlin: Propyläen, S. 75–99. Rothberg, Michael (2021): Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Berlin: Metropol-Verlag. Steinmeier, Frank-Walter (2021): Rede zum Festakt zur Eröffnung der Ausstellungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin im Humboldt-Forum, https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2021/09/210922-Humboldt-Forum.html;jsessionid=DC8179B7756746FA5DF4DFB26D8E3B5C.internet981?nn=9042544 (letzter Abruf: 31.03.2023). Wiedemann, Charlotte (2022): Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis. Berlin: Ullstein. Zimmerer, Jürgen (2011): Von Windhoek nach Auschwitz. Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust. Münster: LIT. Zimmerer, Jürgen/Rothberg, Michael (2021): Enttabuisiert den Vergleich! In: Die Zeit vom 04.04.2021, www.zeit.de/2021/14/erinnerungskultur-gedenken-pluralisieren-holocaustvergleich-globalisierung-geschichte (letzter Abruf: 11.03.2023).

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1 Historikerstreit 2.0? Über Kontinuitäten und Besonderheiten einer aktuellen Debatte

Kolonialismus, Genozid und Holocaust: Zwischen der „Pflicht des Erinnerns“ und dem Verlangen zu vergessen Omer Bartov

Anfang dieses Jahres startete ich ein Forschungsprojekt mit dem Titel „Israel, Palästina: eine persönliche politische Geschichte“. Mein Ziel ist es, jüdische und palästinensische Mitglieder der ersten Generation an Männern und Frauen zu befragen, die in den Anfangsjahren nach Gründung des Staates Israel und der Vertreibung des Großteils der palästinensischen Bevölkerung geboren wurden. Vor allem hat mich interessiert, wie sich diese Generation, zu der ich gehöre, mit dem Land ihrer Geburt verbunden fühlt. Im Rahmen dieses Projekts hat meine deutsch-amerikanische Forschungsassistentin an der Brown University, Amienne Spencer-Blume, im Sommer 2022 zusätzliche Interviews mit mehreren Deutschen durchgeführt, die sich angeboten haben, in Israel im Rahmen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste zu arbeiten. Gegründet 1958 von der Synode der evangelischen Kirche in Deutschland sendet die ASF Freiwillige in Länder, die unter der deutschen Besatzung gelitten haben, und in Länder, in denen sich viele Holocaust-Überlebende nach Kriegsende niederließen.1 Uns hat vor allem interessiert, wie sich die Zeit in Israel auf diese deutschen Freiwilligen ausgewirkt hat und welche Art von Verbindung sie mit dem Land geknüpft haben. Wenn es um die Beziehung zwischen Holocaust-Gedenken und Ansichten über Israel im modernen Deutschland geht, möchte ich gern damit beginnen, Ihnen einige dieser Interviews kurz vorzustellen. Nikolaus F., geboren 1953, verbrachte ein Jahr, von 1974 bis 1975, in Israel.2 In seinen Worten: „Es ist ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens. Keine Frage.“ Er erklärt: „Sagen wir mal, die Fakten des Hintergrundes sind, meine Großmutter ist in Auschwitz als Jüdin umgekommen. Deshalb war für mich Israel schon immer sozusagen

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Bitte besuchen Sie auch die leicht unterschiedlichen Websites der Organisation auf Deutsch und auf Englisch: www.asf-ev.de/ueber-uns/geschichte/; www.asf-ev.de/de/english/aboutus/history/. Transkript des Interviews vom 24. Juni 2022, Berlin, durchgeführt von Amienne Spencer-Blume. Der vollständige Name der Befragten ist auf Anfrage verfügbar. Hier finden Sie das deutsche Originaltranskript: acrobat.adobe.com/link/review?uri=urn:aaid:scds:US:f5639130-2d9032a9-a0e7-4897ff9d7a43.

ein wichtiges Thema. Mein Vater war eingesperrt am Ende des Krieges. Und es kennzeichnet, glaube ich, beide Seiten, Opfer und Täter, dass sie nicht darüber sprechen, was sie erlebt haben. So hat mein Vater eben nicht über seine Vergangenheit im Lager gesprochen. Und das ist die Schuld der Überlebenden, die ja in Israel ein großes Thema ist und auch in der nächsten, dritten Generation dann sozusagen – ich hab’s am eigenen Körper erlebt, wie das dann ist, wenn man dann in der Sprachlosigkeit lebt.“

Nikolaus hat sich ursprünglich für die Marine gemeldet. Dann bekam er den Einberufungsbefehl und da hat er verweigert. Zuerst wurde sein Widerspruch abgelehnt. Doch dann, sagte er: „[…] hat mein Vater noch einen Brief geschrieben an die Kommission, mit dem Hintergrund, er würde das nicht befürworten, denn er denkt, man muss mit der Waffe in der Hand, auch aus seiner Biografie – eingesperrt – sich verteidigen können. Aber er respektiert meine Entscheidung. Und vielleicht hat das dazu beigetragen, dass ich dann anerkannt wurde als Kriegsdienstverweigerer.“

Nikolaus spricht von dieser Entscheidung als „erste Verweigerung auf der ganzen Linie. Ich wollte irgendwas nicht, ich wollte einfach anders. Und dann war Israel, wie nennt man das, so das second coming out, sozusagen. Die Chance, ganz anders, weit weg, neu anzufangen, die Schule beenden. Das Gefühl, einfach irgendwie neu anzufangen, sich neu zu finden.“ Er führt diesen Wunsch auszubrechen auf seine Kindheit in einer zerrütteten Familie zurück: „Ich fühlte mich in meiner Haut nicht wohl … Ich möchte aus dem Elternhaus raus, wo ich mich nicht gut gefühlt habe … Viel Streit. Also seine Mutter [die Mutter des Vaters] ist .43 in Wiesbaden abgeholt worden. Ist Ende .44 in München eingesperrt, in das Lager bei Buchenwald. Meine Mutter war, sagen wir mal, aus einer deutschen Familie. Da war es ja noch so konfliktbeladen, dass er [Vater] dann manchmal zu Hause rum schimpfte: ,Ihr seid doch alle nur Nazis‘. Also der hatte diesen Verlust der eigenen Mutter wohl noch nicht so ganz bewältigt. Gut, und meine Großmutter mütterlicherseits wurde auch immer [von ihm] angegriffen. Also es war eine … spannungsreiche Geschichte. Und es drehte sich eigentlich immer um die nicht lebende Großmutter. Die war umgekommen, aber die lebte immer irgendwie mit [uns]. Als Fantasiegestalt.“

Auf die Frage nach seiner Identitätsauffassung, bevor er nach Israel ging, sagt Nikolaus: „Ja, ich wusste schon, ich bin Deutscher. Klar. Aber … vielleicht war ich auch auf der Suche nach dieser jüdischen Seite der Identität, die ja nicht gelebt wurde …. Ja, mein Vater hätte ja emigrieren können und Israeli werden können. Hat er nicht getan“. 23

Nikolaus hat in Israel mit behinderten Kindern gearbeitet und danach Psychologie in Deutschland studiert. Er hat jahrelang eine Psychoanalyse gemacht. Er sagt: „Ich habe Israel damit überfrachtet. Ich habe natürlich viel zu hohe Erwartungen gehabt und wurde natürlich danach enttäuscht, weil es nicht so war, wie ich es wollte …. Ich habe mich eigentlich mehr zu den Jugendlichen in Israel, den Kibbuzniks, hingezogen gefühlt … ich gehörte nicht dazu und wollte gern dazugehören, zu den Jugendlichen da, Sabre werden, irgendwie. Sagen wir mal, [es war] Überidentifikation.“ Auf die Frage, ob er sich irgendwo gefunden, zu Hause gefühlt hat, antwortet Nikolaus: „Inzwischen ja … Und ich denke, Israel hat auch in seiner Bedeutung für mich abgenommen. Wir waren vor kurzem mal da mit meiner Tochter … Aber es ist schon fremd, es ist schon irgendwie fremd. Und vielleicht – nach meinem Psychologiestudium und der Psychoanalyse habe ich aber auch viel über meinen Vater gesprochen und da habe ich vielleicht auch das, was mir fehlte, bekommen. Die emotionale … Das habe ich in Israel nie bekommen, weil es mir auch keiner geben konnte und weil ich auch nicht wusste, dass ich das brauche. Wir haben uns dann auch versöhnt. Und dann seine Firma übernommen. Also das war alles befriedet. Aber vielleicht war das einfach ein Umweg, um zu meinem Vater zu kommen.“

Jetzt, sagt Nikolaus, „Israel selber ist für mich einfach ein gegebener Staat. Die ganze Geschichte ist natürlich Teil meiner Geschichte. Wenn ich hebräisch höre, werde ich wach. Ich fahre wahrscheinlich schon irgendwann nochmal hin, aber es ist nicht mehr so der Ort, wo ich denke, ja, L’Shana Haba’ah B’Yerushalayim. [nächstes Jahr in Jerusalem]. Also, der Sehnsuchtsort ist nicht mehr.“ Auf Frage, was ihn bewegt, sagt er: „[…] wie schaffe ich es, nicht mehr zu arbeiten? Rentner-Status.“ Dann fügt er hinzu: „Aber mich bewegt natürlich, mein ganzes Leben lang, bewegt mich Antisemitismus.“ Auf die Zeit in Israel vor fünfzig Jahren zurückkehrend, sagt er: „Es sind immer noch starke Bilder, die ich erinnere … Erev Schabbat. Also Freitagabend. Im Kinderheim gab es Falafel für alle. Für mich auch. Mein Liebeskummer im Kibbuz. … Ja. Also ich habe da so Bilder, aber es ist nicht so, dass ich sagen könnte, das ist jetzt das Intensivste. Ulpan, der Unterricht.“ Nikolaus kann noch ganz gut Hebräisch. Am Ende des Interviews zeigt Nikolaus die Todesanzeige für seine Großmutter. „Ich habe hier noch, noch …“, sagt er, „… das Originaldokument, die Sterbeurkunde von Auschwitz … Also man bekam einen Brief, mein Großvater, bekam den Brief nach Hause. Sterbeurkunde, 20. Oktober 1943, 8:45 Uhr in Auschwitz, Kasernenstraße, verstorben …. Vater: Isidor Reis, Mutter: Fanny Reis. Das war einfach so. Hier steht nochmal genau. ,Ihre Ehefrau ist am 09.01. geboren, ist am 20.08. an den Folgen von allgemeiner Körperschwäche im hiesigen Krankenhaus verstorben. Die Leiche wurde am 24.10.43 im staatlichen Krematorium

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eingeäschert.‘ Also sehr, sehr deutsch. Alles sehr, sehr gut dokumentiert und total, total so, richtig! Alles richtig gemacht, alles richtig gemacht.“

Hans W., geboren 1954, war 1974 bis 1975 ebenfalls in Israel und arbeitete eine Weile im gleichen Kibbuz mit Nikolaus.3 Anschließend war Hans den Großteil seiner beruflichen Laufbahn als Radiokorrespondent angestellt, unter anderem längere Zeit in Israel und den besetzten Gebieten; er spricht fließend Hebräisch. Hans merkt an, dass er sich ursprünglich nur entschieden hat, nach Israel zu gehen, weil seine Freundin dorthin ging. Zur Vorbereitung wurde seine Gruppe zu Wartungsarbeiten in das Vernichtungslager Majdanek in Polen geschickt, wo er auch Vorlesungen zur Nazi-Politik hörte. „Und so kamen wir und kam ich dann natürlich auch immer tiefer in die Thematik rein“, kommentiert er. Davor, sagt er: „[habe] ich über den Holocaust [nur] das wusste, was ich in der Schule gelernt hatte. Auch zum Teil eine familiäre, aber für mich noch sehr unklare, Geschichte, weil mein Vater als Polizist zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Polen war und im Warschauer Ghetto als Wachsoldat eingesetzt wurde. Das wusste ich, und ich wusste auch, dass da natürlich entsprechende Verbrechen begangen wurden und habe natürlich auch immer überlegt, ob mein Vater dabei war. Ich hatte das aber noch nicht weiter verfolgt, das habe ich erst später getan.“

Schließlich fand Hans heraus, dass sein Vater, bevor er verletzt und 1942 nach Deutschland zurückgeschickt wurde, auch in Teilen der von der Wehrmacht besetzten Sowjetunion gedient hat, wo sein Polizeibataillon an der Tötung von Juden beteiligt war. „Mein Vater war sehr zurückhaltend“, sagt Hans, „meine Mutter hat etwas mehr in diese Richtung erzählt, dass sie so jung war und dass sie da die Möglichkeit hatte, ins Ausland zu kommen und dass sie mit Nazi Kram und so gar nichts am Hut hatte, sondern dass es für sie auch eine Chance war, rauszukommen aus ihrer kleinen Kleinstadt, in der sie aufgewachsen ist. Ansonsten wurde über diese Zeit nicht wirklich gesprochen und da unterscheidet sich meine Familie überhaupt nicht von 99 % der anderen in Deutschland in der Zeit … Es wurde verdrängt … Aber nachgefragt und wirklich intensiv nachgeforscht habe ich erst viel später, als mein Vater schon tot war.“

Tatsächlich hat sich Hans erst mit der Nazi-Vergangenheit seiner Familie beschäftigt, nachdem er in Rente gegangen war. Seitdem, sagt er, „das wurde dann im Prinzip mein Lebensthema.“ In einer Rede, die er kürzlich zu dem Thema hielt, 3

Transkript des Interviews vom 25. Juni 2022, Bad Belzig, geführt von Amienne Spencer-Bluhme. Der vollständige Name der Befragten ist auf Anfrage verfügbar. Hier finden Sie das deutsche Originaltranskript: acrobat.adobe.com/link/review?uri=urn:aaid:scds:US:f5639130-2d90-32a9a0e7-4897ff9d7a43.

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sagte Hans: „Ich muss mich mit dem Wissen abfinden, dass ich einen liebevollen Vater hatte. Er war wirklich ein sehr liebevoller Vater. Aber er hatte wohl auch Blut an den Händen.“ Als er über seine anderthalb Jahre in Israel spricht, sagt Hans: „wenn ich mich richtig entsinne, wurden wir auch nie von Israelis gefragt, ‘Was haben denn eigentlich deine Eltern im Krieg gemacht?‘… Wenn wir von uns aus mal das Thema ansprachen … haben sie immer gesagt, ‘ihr könnt doch nichts dafür, was eure Eltern getan haben. Ihr tragt da keine Schuld.‘ Die haben immer versucht, uns zu entlasten, weil wir natürlich schon mit einer gewissen Scheu an das Ganze rangegangen sind. Wir wussten ja, dass da ganz viele Menschen leben, die unsere Eltern verfolgt haben, die vor unseren Eltern geflohen sind und die mit Mühe und Not vielleicht ihr Leben gerettet haben, aber vielleicht den Großteil ihrer Familie verloren haben.“

Fünfzig Jahre später steht Hans der israelischen Politik sehr kritisch gegenüber. Das Israel, das er mit Anfang zwanzig kennenlernte, direkt nach dem Jom-Kippur-Krieg, gebe es nicht mehr, sagt er. Es sei ein anderes Land. Doch die Erfahrung, dort gelebt zu haben, hat ihn stark geprägt. „Für mich“, sagt er, „Israel spielt für mich in meinem Leben eine entscheidende Rolle … Wenn ich Leute kennenlerne, wenn man sich so erstmal zusammensetzt und sagt, ‘Was hast du denn so gemacht beruflich?‘ … es kommt immer das Gespräch … und es kommt auch immer eine Kontroverse. Weil viele Leute meinen, eine Meinung zu Israel formulieren zu müssen, ohne den Schimmer einer Ahnung zu haben. Das ist manchmal sehr mühselig, weil Israel ist halt sehr komplex. Der Nahostkonflikt ist sehr komplex, das geht nicht so einfach schwarz, weiß, positiv, negativ. Es ist ganz, ganz schwer. Es gibt da keine gute und keine böse Seite … Ja. Israel ist für mich ein ganz wichtiger Punkt … Zu dieser Frage, ob man ein Stück weit Israel in sich trägt, das tue ich ganz bestimmt. Ganz sicher.“

Weiter über dieses Thema nachdenkend, sagt Hans: „Ich bin zwar nicht mehr jetzt der absolute Experte … Aber das ist auch unwichtig. Wichtig ist, dass man so ein Gefühl für das Land hat, für das, was daraus werden kann, und auch die Angst, in gewisser Weise, was aus dem Land werden kann oder auch nicht werden kann … Und ansonsten ist das ein Thema, das ich auch immer noch, wenn ich solche Themen bearbeite, oder die von meinem Vater, diese Geschichten bearbeite, spielt es auch immer noch eine Rolle, weil es eben doch eine Linie vom Holocaust zu Israel und zu den persönlichen Geschichten gibt.“

Die deutsche Journalistin und Autorin Charlotte Wiedemann wurde ebenfalls 1954 geboren. Ihr Vater, schreibt sie, war „NSDAP-Mitglied, eines von achteinhalb Millionen.“ Später, fügt sie hinzu, „musste er an die Ostfront; wo er war, was er sah, 26

behielt er für sich.“ Auf einem Foto von 1939 ist ihre Mutter zu sehen, wie sie es beschreibt, „untergehakt zwischen Wehrmachtsoldaten, sie ist blond und hübsch … eine junge Frau, die das Leben genießt und gern flirtet … Auch sie sprach später nicht“, ergänzt Wiedemann. „Einmal nur, da machte sie aus heiterem Himmel eine Bemerkung über die Physiognomie von Juden, und als sie deswegen gerügt wurde, verließ sie wortlos das Zimmer, Tränen in den Augen“ (Wiedemann 2022, S. 269–270). In ihrem neuen Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen“, ruft Wiedemann zu einer empathischen Erinnerungskultur auf und spricht sich für die Notwendigkeit aus, den anhaltenden Opferwettstreit beizulegen und anzuerkennen, dass das Gedenken an Leid niemals ein Nullsummenspiel ist. Sich den Themen von Michael Rothberg in seiner Studie von 2009 „Multidirectional Memory“ anschließend, sucht Wiedemann Stätten des Genozids und anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf und präsentiert ihrer Leserschaft die so oft vergessenen marginalisierten Schicksale der Opfer extremer Gewalt (Rothberg 2009). Sie unterstreicht die unleugbare Tatsache, dass die Aufmerksamkeit und Empathie des Westens sich oft größtenteils auf das Leiden seiner eigenen Bevölkerung konzentrierte anstatt auf den Rest der Welt, schon gar nicht auf die Opfer der Kolonialpolitik. Im Gegensatz zu Rothberg beschäftigt sich Wiedemann nicht mit der Frage, auf die ich zurückkommen werde, ob der Genozid der Juden und Jüdinnen durch die Deutschen eine Fortsetzung und Folge vorheriger europäischer Völkermorde war. Ihre Perspektive ist sowohl enger, insofern sie sich primär auf Empathie konzentriert, als auch breiter, da sie Stätten und Veranstaltungen in der ganzen Welt besucht und viel über Deutschland zu sagen hat. Rothberg seinerseits beschäftigt sich vorwiegend mit Frankreich, seine Besetzung durch Deutschland und seinen bitteren Krieg in Algerien. Er bezieht sich zwar gelegentlich auch auf Amerika und eröffnet sein Buch mit einer Diskussion mehrerer bekannter Texte von Hannah Arendt, Aimé Césaire, Frantz Fanon und W. E. B. Du Bois. Doch die meisten seiner restlichen Materialien sind französische Literatur und Kinofilme. Besorgt um die Beziehung zwischen dem Gedenken an den Holocaust und der Dekolonialisierung hat das Buch praktisch nichts über Deutschland zu sagen, was die aktuelle Debatte über seine neuere deutsche Übersetzung etwas merkwürdig macht (Rothberg 2020).4 Es sollte darauf hingewiesen werden, dass Wiedemann zwar die europäische Gleichgültigkeit, Verweigerungshaltung und den Zynismus gegenüber Kolonialverbrechen verurteilt. Sie spricht jedoch nicht gegen die anhaltende deutsche Beschäftigung mit dem Gedenken an den Holocaust unter Betonung des schwierigen, jahrzehntelangen Kampfes, die jetzige Erinnerungspolitik zu etablieren. 4

Für die Debatte siehe zum Beispiel metropol-verlag.de/produkt/multidirektionale-erinnerung/und www.rosalux.de/news/id/45598/michael-rothberg-multidirektionale-erinnerungberlin-2020.

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Tatsächlich, so zeigt sie auf, richte sich die deutsche Empathie für die jüdischen Opfer auch heute noch vor allem an gut integrierte deutsche Juden und Jüdinnen, wie etwa die Debatte um die Wehrmachtsausstellung Ende der 1990er-Jahre gezeigt habe, wo die osteuropäischen jüdischen Opfer, mit fremdartig anmutenden Ostjuden assoziiert, ebenso undurchsichtig und exotisch wirkten wie koloniale Untertanen. Auch gedenkt niemand der endlosen Zahl an Opfern, die in anonymen Gräbern vor Hunderten von Städten in Osteuropa begraben sind, darunter Angehörige meiner eigenen Familie in der Heimatstadt meiner Mutter, weder dort noch in Deutschland. Sie erhalten kein Gedenken, schon gar keine Empathie, außer von anderen Überlebenden und ihren Nachkommen (Bartov 2018, 2021). An einer Stelle in ihrem Buch beschreibt Wiedemann ihren Besuch am Ort des Vernichtungslagers Treblinka. Auf dem Boden sitzend, allein mit der Asche von fast einer Million Opfern, schreibt sie: „Zurückgeworfen auf mich selbst, rufe ich noch einmal die Frage der Singularität auf. Die Antwort muss diesen Ort, muss Treblinka aushalten können. Wenn es eine empathische, rein persönliche Antwort geben darf, zögere ich mich nicht: Für mich selbst ist die Shoah einzigartig; in diesem Wort ist mein lebenslanges Erschrecken, mein Nichtfertigwerden aufgehoben.“

Dann fügt sie hinzu: „Aber ist dieses Gefühl nicht untrennbar damit verbunden, dass ich Deutsche bin und Generationell der Tätergeneration unbehaglich nahe? Sobald ich einen Schritt zurücktrete von mir selbst und meiner Prägung, sehe ich anderes. Würde ich als Tansanierin, Bosnierin oder Kambodschanerin den Holocaust einzigartig nennen wollen? Mir ist die Problematik einer Einordnung, die Totalität beansprucht, heute bewusster als früher, und es scheint mir deshalb ratsam, dass alle auf diese Frage nur eine persönliche Antwort geben. Damit vermeiden wir auch eine Hierarchisierung von Opfer, die mit dem Attribut Singularität zwangsläufig einhergeht, sobald es als Dogma in Erscheinung tritt. Manche Deutsche halten an der Einzigartigkeit fest als Ausdruck eines besonderen Gefühl der Verantwortung. Aber sie können anderen, die keine derartige Verantwortung tragen, ihre Sicht nicht auferlegen“ (Wiedemann 2022, S. 220–221).

Auch ich wurde 1954 geboren. Mein Vater, der 28 Jahre zuvor in Palästina geboren wurde, meldete sich 1943 freiwillig bei der jüdischen Brigade der britischen Armee, um gegen Deutschland zu kämpfen, und half später Holocaust-Überlebenden, an der britischen Blockade vorbei nach Palästina zu gelangen.5 Meine Mutter

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Für eine fiktionalisierten Darstellung jener Jahre siehe Hanoch Bartov (1969): The Brigade, Übers. David S. Segal. London: Macdonald.

ist in Polen geboren und kam kurz vor dem Krieg als Kind nach Palästina.6 Die Familien beider meiner Eltern wurden vollständig ausgelöscht – niemand, der dort blieb, überlebte. Ich war 1979 zum ersten Mal in Deutschland. Zu der Zeit hatte ich nicht das Gefühl, ebenfalls ein weißer Europäer zu sein. Ich fühlte mich eindeutig als Israeli aus dem Nahen Osten und irgendwie unangenehm auch als Jude. Und so wurde ich damals auch in Deutschland empfangen, im Guten wie im Schlechten. Für mich war Deutschland damals das Land der Täter und es bedurfte einer besonderen geistigen und emotionalen Anstrengung, überhaupt dort zu sein. Ich wollte dorthin, so sagte ich mir, um die Sprache zu lernen, in den Archiven zu arbeiten und über die Nazi-Vergangenheit zu recherchieren. Und es muss eingeräumt werden, dass damals noch verbreitet der Gestank des Nazismus in der Luft hing, stärker, als die Menschen dies zugeben wollten, und stärker, als die Menschen heute bereit sind, sich daran zu erinnern, ob in Form von Antisemitismus, Philosemitismus oder einfach Vorurteilen, Abwehrhaltung und Ablehnung von Außenseitern, nicht nur durch die ältere Generation, sondern auch durch Menschen meines Alters. Da ich in Israel geboren und aufgewachsen bin, nahm ich mich nicht als weiß und nur vage als jüdisch wahr. Mein erster Kontakt mit Antisemitismus war im Alter von zwölf Jahren in London, als eine Gruppe von Jungen mich anspuckte und mich „schmutziger Jude“ nannte, weil ich die Uniform einer jüdischen Schule trug. Ich sollte betonen, dass ich damals vor der Demütigung geschützt war, die solche Taten mit sich bringen, weil ich aus Israel gekommen war, wo ich diesen Satz nie zuvor gehört hatte, und weil ich wusste, dass ich ihn niemals wieder hören würde, wenn ich dorthin zurückkehrte. Das war eine proto-zionistische, defensive Haltung für mich, die sich daraus ableitete, dass ich in einem größtenteils jüdischen Staat aufgewachsen bin und nicht wusste, wie diese Mehrheit zustande gekommen war. Aber dieses Ereignis meiner Kindheit lehrte mich auch etwas über das Wesen von Vorurteilen und ihre potenziell katastrophalen Effekte, egal ob auf jüdische oder muslimische, arabische oder Schwarze Menschen. Es lehrte mich vor allem, dass die Tatsache, eine Heimat und Wurzeln zu haben, vor Vorurteilen ebenso schützt, wie sie sie auch ermöglicht.7 Hätte ich damals oder 1979 erfahren, dass Césaire den Holocaust als „Verbrechen gegen Weiße“ beschrieb oder Fanon die Auslöschung der Juden als nichts mehr als „kleine Familienstreitigkeiten“ bezeichnete, hätte ich einfach keine Ahnung gehabt, worüber sie sprachen. Das Gleiche hätte für meine Familienange-

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Für eine Darstellung zu ihrem Umzug von Galizien nach Palästina, siehe Omer Bartov (2022): Tales from the Borderlands: Making and Unmaking the Galician Past. New Have: Yale University Press, S. 243–328. Einen ausführlichen Text dazu siehe Omer Bartov (2023): Genocide, the Holocaust, and IsraelPalestine: First Person History in Times of Crisis. London: Bloomsbury Publishing (erscheint 2023), Teil V.

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hörigen gegolten, die in Polen und der Ukraine von den Deutschen und ihren eigenen Nachbarn umgebracht wurden.8 Aber heute sind die Dinge ganz anders. Heute bin ich ein weißer Mann in Deutschland und der Holocaust ist zu einem prägenden Merkmal der deutschen Erinnerungskultur geworden, ein fester Bestandteil der nationalen Identität, zumindest was die offiziellen Verlautbarungen betrifft. In diesem Sinne sind Menschen wie ich nicht nur weiß, sondern erhalten zudem die etwas unbehagliche Aufgabe, dieses Erinnerungsgebäude zu pflegen, zu bewahren und zu schützen. Da ich Deutschland kannte, bevor die heutige Erinnerungskultur existierte, weiß ich, wie prekär sie ist, und beäuge misstrauisch, was sie ersetzen könnte. Doch ich kenne auch ihre problematische Rolle in mindestens zwei offensichtlichen Aspekten. Erstens in dem Ausmaß, in dem die Erinnerung an den Holocaust einer größeren Solidarität und einem stärkeren Zusammenhalt in einer zunehmend diversen deutschen Gesellschaft entgegenwirken kann, in der immer mehr Bürger:innen oder Einwohner:innen keine Verbindung zu dieser Geschichte haben und die Erinnerungen anderer, oft viel jüngerer Traumata in sich tragen. Zweitens in dem Maße, in dem eine deutsche Sakralisierung des Holocaust-Gedenkens in die Interessen rechtsgerichteter israelischer Regierungen spielt und von diesen teils befeuert werden, weil sie sich selbst von gerechtfertigter und dringend benötigter Kritik ihrer Unterdrückungspolitik gegenüber den Palästinensern abschotten möchten. Wie Wiedemann, aber von der anderen Seite betrachtet, war und bleibt der Holocaust für mich und für große Teile der jüdischen Menschen überall auf der Welt ein einmaliges und einmalig traumatisches Ereignis in der jüdischen Geschichte. Natürlich ist kein geschichtliches Ereignis in dem Sinne einmalig oder singulär, als dass es nicht verglichen oder kontextualisiert werden könnte, da es sonst aus der Geschichte herausgelöst und Teil einer Legende oder Theologie würde. Aber alle geschichtlichen Ereignisse sind auf ihre Weise singulär. Ohne Anerkennung dieser Singularität würde Geschichte sämtliche Nuance und Bedeutung verlieren und einfach nur ein weiteres verschwommenes Ereignis in einer langen Reihe dessen werden, was als „ein verdammter Fakt nach dem anderen“ bezeichnet wurde. Traumatische Ereignisse haben eine weitere Eigenschaft. Sie können und sollten mit anderen traumatischen Ereignissen verglichen werden, wenn wir sie als solche und als Teil der Geschichte begreifen wollen. Doch für alle direkt Beteiligten bleiben sie ebenso einmalig als Bestandteil ihrer persönlichen, kollektiven und nationalen Erfahrung. Sie prägen Erinnerung, Identität und die Rekonstruktion des posttraumatischen Lebens. In diesem speziellen Sinne können sie nicht relativiert werden.

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Siehe Rothberg (2009), S. 70 u. 93, mit Anführung von Aimé Césaire, Discourse sur le colonialism (1950), und Frantz Fanon, Black Skin, White Masks (1952).

Aus dieser Perspektive ist der Holocaust einmalig sowohl für die Deutschen als auch für die Juden. Deutsche hatten zuvor noch keinen solchen Völkermord begangen, auch wenn sie sicherlich an Kolonialverbrechen beteiligt waren, nicht zuletzt in Ost- und Südwestafrika zu Beginn des letzten Jahrhunderts.9 Das Judentum hat nie zuvor einen solchen Völkermord erfahren, auch wenn es sicherlich bereits mit Massenmordereignissen in Berührung kam, nicht zuletzt bei den verbreiteten Pogromen von 1918 bis 1921 in der Ukraine (Veidlinger 2021). Deutschen oder Juden deshalb zu erzählen, dass der Holocaust nicht einmalig ist, ist daher sowohl wahr als auch falsch. Er ist nicht einmalig, weil er Teil einer breiten Matrix von Massenverbrechen ist, sowohl kolonial als auch nicht-kolonial, sowohl modern als auch vormodern. Somit erfordert das Verständnis des Holocaust als geschichtliches Ereignis unter anderem, dass es in Beziehung zu vorherigen sowie nachfolgenden Massakern, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genoziden betrachtet wird. Doch der Holocaust ist doch für Deutsche wie auch für Juden einzigartig und jeder Versuch, dies zu leugnen, zieht spezielle Konsequenzen nach sich. Für Deutsche kann die Leugnung der Besonderheit des Holocaust als Verbrechen, das vom deutschen Staat begangen wurde, zu Relativierung und Apologetik führen und seine nachhaltige Wirkung auf die nachfolgenden Generationen von Deutschen verschleiern. Für Juden und Jüdinnen kann die Leugnung der Singularität des Holocaust als tiefgreifende Krise in ihrer kollektiven historischen Erfahrung zu einer Normalisierung jüdischen Leidens als nur ein weiteres Ereignis in einer langen Kette führen, die durch den sogenannten „längsten Hass“ hervorgerufen wird, und unsere Anerkennung der generationsübergreifenden Auswirkungen des Völkermords auf Millionen von Juden und Jüdinnen bis heute schmälern. Nichtsdestotrotz scheint im modernen Deutschland das Beharren auf der Singularität des Holocaust die soziale Solidarität zunehmend zu unterminieren und Minderheiten zu marginalisieren. Und im modernen Israel berechtigt das Bestehen auf der Singularität des Holocaust zu einer Politik der Diskriminierung und Unterdrückung und dient als Abschirmung des Landes vor internationaler Gerechtigkeit. Schauen wir uns nun etwas genauer die Verbindungen zwischen Kolonialismus und dem Holocaust, die Auswirkungen der aktuellen Praktiken des Gedenkens in Deutschland sowie die Unterscheidung zwischen Rassismus und Antisemitismus an. In den letzten beiden Jahrzehnten wurde zunehmend über das Kolonialreich Deutschlands geforscht, insbesondere zum Genozid der Völker der Herero und Nama 1904. Die deutsche Wissenschaft beschäftigte sich spät mit der Kolonialgeschichte, vorwiegend weil ihr Hauptfokus auf seiner Imperialpolitik und der Expansionspolitik der Nazis auf dem europäischen Kontinent lag. Aktueller jedoch 9

Siehe aktuell dazu Matthias Häusler (2018): Krieg, Emotion und extreme Gewalt in DeutschSüdwestafrika. Weilerswist: Velbrueck.

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gewann der Genozid in Südwestafrika zunehmend Aufmerksamkeit als möglicher Vorläufer des Holocaust (Zimmerer 2011). Dies ist nicht der Ort, um diesen Aspekt ausführlich zu diskutieren. Problematischerweise waren es die Kolonialreiche Großbritannien und Frankreich, die gegen Nazi-Deutschland kämpften, neben Stalins mörderischem Regime und einem Amerika der Rassentrennung. Nicht weniger problematisch ist, was Arendt als den „Bumerang-Effekt“ beschreibt, bei dem die koloniale Gewalt zurückkehrt, um die Europäer heimzusuchen. Dieser Choc de retour, wie es Césaire nennt, scheint weniger zu überzeugen, wenn wir die endlose Gewalt betrachten, die Europäer gegeneinander in vorkolonialen Zeiten ausübten, einschließlich der Massaker an Juden und Jüdinnen während der Kreuzzüge und des Kosakenaufstands 1648.10 Aus dieser Perspektive können wir ebenso gut sagen, dass Europa seine Barbarei in andere Orte exportierte, in der Tat einen Großteil der Welt genau dank seiner Brutalität eroberte und sie dann wieder zurück nach Hause holte, während es bereits mit der Eroberung von Mittel- und Südamerika begann. Die Idee des Kolonialismus, der Europa infiziert, kann daher als Versuch angesehen werden, Europa vor seiner eigenen Geschichte der Gewalt zu schützen, zu der auch die innere Gewalt gegen Juden und Jüdinnen gehörte, die lange vor dem Imperialismus als Europas ständige Nichteuropäer:innen galten. Insbesondere, was die Verbindung zwischen dem Genozid im deutschen Südwestafrika und dem Holocaust betrifft, genügt der Hinweis, dass es nicht zuletzt wegen des 40-jährigen Abstands zwischen den beiden Ereignissen sowie dem großen Unterschied beim Ausmaß des Tötens schwierig ist, direkte Verbindungen zwischen den beiden zu finden.11 Wie ich bereits an anderer Stelle geschrieben habe, scheint wohl der Massenmord im Ersten Weltkrieg eine deutlich größere Rolle als die früheren kolonialen Massaker dabei gespielt zu haben, die Grundlage für den Massenmord im Zweiten Weltkrieg zu schaffen (Bartov 1996, 2000). Dies sollte natürlich nicht von dem Argument ablenken, dass Hitler auf einen kolonialen Expansionskrieg, vor allem unter dem Generalplan Ost, angetreten hat und dass er und viele andere in Deutschland sich andere Kolonialreiche zum Vorbild nahm. Auch könnte man argumentieren, dass die geplante Osterweiterung zahlreiche genozidale Elemente aufwies, wie zum Beispiel Massenverhungern, Unterdrückung und Vertreibung der slawischen Bevölkerung. Dieses Reich ist nie entstanden, auch wenn Millionen von Menschen bei dem Versuch, es zu 10 Für eine Diskussion zum „Bumerang-Effekt“ und „Choc de retour,” siehe Rothberg (2009), S. 33–107. Für eine große neue Studie zu den tiefgreifenden Auswirkungen von 1648 siehe Adam Teller (2020): Rescue the Surviving Souls: The Great Jewish Refugee Crisis of the Seventeenth Century. Princeton: Princeton University Press. 11 Für eine wichtige Studie zur deutschen „Militärkultur“ siehe Isabel V. Hull (2005): Absolute Destruction: Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany. Ithaca: Cornell University Press.

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errichten, gestorben sind. Doch die Beziehung des Generalplans Ost zur „Endlösung der Judenfrage“, die einzige Komponente der Nazi-Politik, die in der Tat erfolgreich war, ist problematischer. Zwar lebten die meisten europäischen Juden und Jüdinnen im Osten. Doch jene, die an anderen Orten im Nazi-Reich lebten, in Frankreich und in den Niederlanden, in Skandinavien, Italien und Griechenland und möglicherweise auch in Nordafrika und Palästina, waren ebenfalls Ziele. Auch wurden Juden und Jüdinnen nicht umgebracht, weil ihre Grundstücke besiedelt oder ihr Eigentum geraubt werden sollte, auch wenn dies sicherlich der Fall war. Während Juden und Jüdinnen zur Zwangsarbeit genutzt wurden, bestand das Hauptziel des Regimes darin, sie zu ermorden, egal wo sie waren und was sie getan hatten. Die Schaffung eines Deutschen Reichs war sicherlich eine Voraussetzung für den Genozid der Juden. Je größer das Reich, desto mehr Juden und Jüdinnen konnte Deutschland töten. Doch das waren zwei getrennte, wenn auch verwandte Unternehmungen, so ähnlich brutal und mörderisch sie waren, vor allem im Osten.12 Wie steht dann Deutschlands koloniale und genozidale Vergangenheit mit der modernen Erinnerungspolitik und einer zunehmend diversen Gesellschaft in Verbindung? Im Gegensatz zu ehemaligen Kolonialmächten wie Großbritannien und Frankreich stammten die meisten Einwanderer:innen und Flüchtlinge, die nach dem Krieg nach Deutschland kamen, nicht aus ehemaligen Kolonien (u. a. Chen 2007). Weder die türkischen Gastarbeiter:innen, die während des „Wirtschaftswunders“ angeworben wurden, noch die syrischen Flüchtlinge, die Kanzlerin Merkel im größerem Maßstab als andere westliche Staaten in Deutschland aufgenommen hat, hatten etwas mit dem deutschen Kolonialreich vor 1918 oder mit dem deutschen Drang nach Osten Anfang der 1940er zu tun. Im Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien oder Portugal und die Niederlande hatte Deutschland keine Erfahrung mit Dekolonisierung, mit Ausnahme der zahlreichen Deutschen, die in Frankreichs Fremdenlegion in Indochina und Algerien gedient haben (Wiedemann 2022). Das ist ein weiterer Grund, warum Deutschland vollkommen unterschiedliche multidirektionale Erinnerungen als die hat, die in Rothbergs Studie analysiert wurden. Tatsächlich hatte und hat Deutschlands Behandlung der nicht-deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit mit anderen Vermächtnissen zu tun. Zunächst einmal war da das Vermächtnis der deutschen Staatsangehörigkeit, die Deutsche eher nach Blut als nach Boden definierten (und das Staatsbürgerschaftsrecht von 1913 hatte etwas mit Ängsten vor der Rassenmischung mit Afrikanern sowie mit Juden zu tun). In der Zeit nach 1945 war das Gesetz für Volksdeutsche bestimmt, die sich außerhalb der deutlich geschrumpften Grenzen der Bundes12 Für eine aktuelle, umfangreiche Analyse, in der ein Großteil der relevanten Literatur zitiert wird, siehe Christian Gerlach (2016): The Extermination of the European Jews. Cambridge: Cambridge University Press.

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republik wiederfanden. Das bedeutete, dass ausländischen Arbeiter:innen, die nach Deutschland eingeladen wurden, um die Wirtschaft anzukurbeln, und die Familien, die ihnen folgten, jahrzehntelang die Staatsbürgerschaft verweigert wurde. Nach der Wiedervereinigung, die gleichzeitig mit der Schaffung einer immer ausgedehnteren Holocaust-Erinnerungskultur in Deutschland geschah, wurde das Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsrecht liberalisiert und das Gesicht der deutschen Gesellschaft veränderte sich (Falcke/Vink 2020; Farahat /Hailbronner 2020). Wenn wir überlegen, dass diese Veränderung zwischen dem Historikerstreit Mitte der 1980er und den aktuellen Debatten über deutsche Identität stattfand, können wir sehen, warum die erfolgreiche Einbindung einer Holocaust-Erinnerungskultur mit einer neuen Einwanderungsbevölkerung zusammentraf, die sich auf ganz andere geschichtliche Traumata bezieht, von denen einige definitiv mit der Kolonialzeit verbunden sind, wenn auch selten mit der von Deutschland. Wird Deutschlands Aufarbeitung seines marginalisierten, vernachlässigten, oft unterdrückten kolonialen Erbes bei der Integration der Einwandererbevölkerung helfen? Ich denke ja. Nicht weil es eine direkte Verbindung zwischen den beiden gibt, sondern weil es eine größere Sensibilisierung in der deutschen Gesellschaft für das Unrecht der Vergangenheit schafft: für eine Politik, die sich gegen nicht-europäische Bevölkerungen im Namen von Fortschritt und Zivilisation sowie Rasse und Raum richtete und die Zerstörung und Verwüstung hinterließ. Es wird, wie Wiedemann zu Recht argumentiert, eine größere Empathie für andere Kulturen, Religionen und Volksgruppen fördern. Es wird die deutsche Vorstellungskraft erschüttern, die sich auf eine bestimmte Sicht des Genozids der Juden und Jüdinnen gefestigt hat, bei der die Juden und Jüdinnen „genau wie wir“ waren und deshalb unsere Empathie verdienten. Wie ich bereits erwähnt habe, war der Holocaust in der Tat alles andere als ein „Familienstreit“, doch die Deutschen ziehen es vor, dies in ihrer Vorstellung so zu sehen. Die Erinnerung an die Verbrechen, die die Deutschen in Afrika begangen haben, wird vielleicht nicht den Holocaust erklären, aber sie wird die Deutschen daran erinnern, dass Empathie sich nicht auf diejenigen beschränken sollte, die angeblich wie wir aussehen. Darüber hinaus soll diese Empathie nicht kostenlos sein, sondern auch eine moralische und materielle Anerkennung der Verantwortung für vergangenes Unrecht nach sich ziehen. Diese Anerkennung, so glaube ich, wird auch eine Rolle dabei spielen, die deutsche Erinnerungspolitik gegenüber dem Holocaust neu zu überdenken. Ich bin zunehmend davon überzeugt, dass Deutschlands aktuelle Erinnerungspolitik eine Blockade darstellt, als Schutzschild dient oder sowohl die Vergangenheitsbewältigung als auch die Aufarbeitung anderer Verbrechen und aktuellen sozialen Themen behindert. Sie setzt der deutschen Politik zudem Grenzen bei der kri-

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tischen Meinungsäußerung zum Staate Israel.13 Das bedeutet in keiner Weise, dass der herausragende und hart erkämpfte Erfolg der deutschen Gesellschaft, ihre Verantwortung für den Genozid der Juden anzuerkennen, verringert oder geschmälert werden sollte. Ganz im Gegenteil: Ich glaube, dass es Beweise dafür gibt, dass andere verfolgte Gruppen, die nach Deutschland geflohen sind, und Gruppen, die sich in Deutschland verfolgt fühlten, den Holocaust als für sie relevant wahrgenommen haben, aber nur wenn die daraus gezogenen Erkenntnisse ebenso für sie galten. Eine Palästinenserin, die sich mit jüdischen HolocaustOpfern identifiziert und erwartet, dass die deutsche Gesellschaft, die vorgibt, Empathie für diese Opfer zu empfinden, sich auch in die Verfolgung und das Leid ihres Volkes einfühlt, sollte eher bejubelt als verunglimpft werden.14 Sinn und Zweck des Gedenkens an den Holocaust sind nicht einfach das Beklagen der Vergangenheit, sondern auch der Erkenntnisgewinn für die Gegenwart. Das war die Logik der endlosen Ermahnungen direkt nach dem Krieg, dass ein solches Grauen niemals wieder geschehen darf. Das Motto „Niemals wieder“ wurde von allen und jedem verwendet und missbraucht. Doch in seinem Kern ist es in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit gerichtet. Diese Zukunft der Vergangenheit ist jetzt und das Gedenken an den Holocaust muss sich der Gegenwart anpassen, um nicht im Abfalleimer der Geschichte entsorgt zu werden. Es darf auf keinen Fall als Lizenz für Ungerechtigkeit, für das Stummschalten der Stimmen der Unterdrückten und für die selbstgerechte Empörung jener dienen, die es als Schutzschirm für ihre Untaten verwenden. Vor diesem Hintergrund müssen Unterscheidungen gemacht werden. In den letzten Jahren gab es eine Tendenz, Rassismus und Antisemitismus gleichzusetzen. Sicherlich trifft es zu, dass moderner Antisemitismus, wie er im späten neunzehnten Jahrhundert aufkam, ein zunehmend rassistisches oder „rassenwissenschaftliches“ Antlitz erhielt. In einer Welt, in der alle Gruppen als Rassen definiert werden, wurden die Juden als Mitglied einer Rassengruppe betrachtet. Und im Rausch der Rassenkategorisierungen wurden jüdischen und Schwarzen Men-

13 Siehe aktuell dazu Susan Neiman und Michael Wildt (Hrsg.) (2022): Historikerstreiten: Gewalt und Holocaust – Die Debatte. Berlin: Propyläen, einschließlich meines eigenen Beitrags zu dem Band. Die Debatte begann mit einem polemischen Essay von A. Dirk Moses, „Der Katechismus der Deutschen“, in Geschichte der Gegenwart, (23. Mai 2021): geschichtedergegenwart.ch/derkatechismus-der-deutschen/. 14 Siehe den Fall der deutsch-palästinensischen Naima, die im Anne Frank Center in Berlin 2014 als staatsbürgerliche Aufklärerin/Reiseführerin gearbeitet hat, und in Sultan Doughan, „Holocaust Trouble: The Political Implications of Remembering Refuge“ beschrieben ist, einer unveröffentlichten Arbeit, die am 14. November 2019 an der Boston University präsentiert wurde. Siehe auch Sultan Doughan, „Minor Citizens? Holocaust Memory and the Un/Making of Citizenship in Germany,” RePLITO (4. Februar 2022): assets.pubpub.org/8vycaohr/d6dbedf357af-4587-a507-b622dd79d22 f.pdf; und Sultan Doughan und Hanan Toukan, „How Germany’s Memory Culture Censors Palestinians“, Jacobin (16. Juli 2022): jacobin.com/2022/07/germanyisrael-palestine-antisemitism-art-documenta.

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schen ihre eigene besondere Hölle zugeteilt, auch wenn sich die abwertenden Eigenschaften, die ihnen jeweils zugeordnet wurden, dramatisch unterschieden. Doch selbst im Fall des Holocaust sowie des Antisemitismus davor und danach, der heute wiederauflebt, reicht es nicht aus, Antisemitismus nur in Bezug auf Rassismus zu sehen. Denn das Bild der Juden hat eine viel längere und verwickelte christlich-westliche, und ehrlich gesagt auch islamische Geschichte, teils theologisch, teils sozioökonomisch, jedoch insgesamt tief in Kultur und Fantasie verwurzelt. Natürlich spiegelt es die Ablehnung und Angst der anderen wider. Es ist aber auch eine Komponente der kollektiven Vorstellungen, die auf viele Jahrhunderte zurückgehen und sowohl intim als auch vertraut und gleichzeitig abscheulich und furchterregend sind. Darum kann der Holocaust nicht einfach als eine deutsche Politik betrachtet, sondern muss auch als ein europäisches Projekt verstanden werden. Die deutsche Politik wurde von einem ideologischen Konstrukt der Juden getrieben, so verworren, unstimmig und widersprüchlich es auch war. Doch die verbreitete Mitwirkung der anderen europäischen Bevölkerungen an dem Projekt, den Kontinent von seinen Juden zu befreien, wurde von sehr tieferen Ängsten, Trieben und Hassgefühlen angetrieben, die sowohl dem Rassismus in seiner wissenschaftlichen und populistischen Form vorausgingen, als ihn auch überdauerten (u. a. Schäfer 2020). Aus genau diesem Grund finde ich es so abstoßend, die Menschen, die die israelische Unterdrückungspolitik gegen die Palästinenser kritisieren, als antisemitisch zu bezeichnen. Dies ist, wie Rothberg kürzlich schrieb, eine Umwandlung des Antisemitismus als Waffe, auch wenn der Antisemitismus natürlich bereits die Waffe ist. Und ich möchte klarstellen: Ich glaube wirklich, dass es Menschen gibt, die den Staat Israel vollkommen auflösen möchten, einschließlich einiger Mitglieder und Führungskräfte der BDS-Bewegung. Und ich lehne diese Idee vehement ab, wie ich ebenfalls die vom israelischen Regime ausgeübte Rassismusund Apartheidpolitik gegen die Palästinenser vehement ablehne. Doch selbst Menschen, die gegen die Existenz des Staates in seinem heutigen Zustand sind, oder diejenigen, die sich selbst als Anti-Zionisten bezeichnen, darunter nicht wenige Juden und Jüdinnen, sind nicht zwangsläufig antisemitisch. Der israelische Staat hat jedes Recht, seine Existenz zu verteidigen. Und seine Kritiker haben jedes Recht, gegen seine Politik zu protestieren, ja auch zu erklären, dass er aufgelöst werden sollte. Sie als Antisemiten zu bezeichnen, ist meiner Meinung nach genauso unsinnig und konterproduktiv, wie zu sagen, dass Zionismus Rassismus ist. Aus diesem Grund ist der Bundestagsbeschluss zur BDS konterproduktiv. Er verletzt die offene Diskussion und schadet in der Tat der deutschen Erinnerungspolitik. Er verleitet einen dazu, Wiedemanns Behauptung zuzustimmen, dass die deutsche Identifizierung mit Israel zu einem Mechanismus der Selbsterlösung geworden ist (Wiedemann 2022, S. 267). Darüber hinaus hat der Beschluss die deutschen Gesetzgeber auf die Seite einer zynischen israelischen Politik gestellt, 36

ihre Kritiker zum Schweigen zu bringen, indem man ihnen Antisemitismus vorwirft. Und es ermächtigt jene, die behaupten, dass Deutschland von Eliten in Israel und Amerika geführt wird, mit all den verschleierten Andeutungen, die diese Aussagen enthalten. Ein offenes, selbstbewusstes und diverses Deutschland kann es sich erlauben, seine Kritiker offen zu Wort kommen zu lassen. Es kann es sich erlauben, sein vergangenes Unrecht anzuerkennen, nicht nur gegen das Judentum, sondern auch in seinem längst vergessenen Kolonialreich und in der modernen Gesellschaft. Es kann es sich erlauben, sein bewundernswertes Netzwerk des Gedenkens auszuweiten, um neue Mitglieder seiner Bürgerschaft aufzunehmen und ihre eigenen Traumata zu respektieren und anzuerkennen. Gerade um Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus in seiner eigenen Bevölkerung zu bekämpfen, kann es sich nicht allein auf das Gedenken des Holocaust verlassen, sondern muss sich auch neuen Bürger:innen und Bewohner:innen öffnen und eine Kultur der Toleranz und Empathie aufbauen, mit dem Willen, seine Position in der Welt sowohl als Zuflucht für die Verfolgten als auch als Hüter von Menschenrechten über seine Grenzen hinaus anzunehmen. Am 1. September 2022 hat die israelische Autorin, Übersetzerin, Herausgeberin und linke Aktivistin Ilana Hammerman, die 1944 in Israel geboren wurde und deren Eltern aus Polen kamen, einen Artikel in der israelischen Tageszeitung Haaretz unter dem Titel „Ich, eine Holocaust-Leugnerin!“, veröffentlicht. Sie schreibt: „Ich und Angehörige meiner Generation in Israel – deren Großväter und Großmütter umgebracht wurden – die in Israel geboren wurden und Eltern haben, die im letzten Moment aus Europa geflohen sind und den deutschen Tätern und ihren Unterstützern entkommen konnten … mit großen körperlichen und seelischen Qualen – sind groß geworden … im Schatten des Holocaust, der zu unserem Mythos wurde. Weil dieser Mythos all seiner sozialen und politischen Komponenten beraubt wurde, schuf er in uns große Angst und Dunkelheit, vor etwas, das wir nur aus Horrorerzählungen und der vereinfachten Zahl der sechs Millionen kannten“ (Hammerman 2022).

Mit Verweis auf einen Artikel von 1988 mit dem Titel „Lob des Vergessens“, vom Historiker und Holocaust-Überlebenden Yehuda Elkana (Elkana 1988), in dem er die Brutalität der israelischen Truppen gegen Palästinenser bei der HolocaustZwangserziehung anklagt, stellt Hammerman ausdrücklich fest: „Ich persönlich werde nicht vergessen und möchte nicht vergessen, dass die Deutschen Millionen von Juden und Jüdinnen in Europa ermordet haben, auch die Familie meiner Mutter. Darum ist der Titel von Elkanas Artikel für mich nicht relevant … Aber der Artikel zeigt einige sichere Wahrheiten auf, die alle heute klarer sind. Sie sind so klar, dass ich mich selbst als „Holocaust-Leugnerin“ betrachte. Ich leugne den „Holocaust“, den der Staat Israel in seinen Besitz genommen hat und auf dessen wahre Lektionen er seit Jahrzehnten herumtrampelt, jeden einzelnen Tag. Ich leugne den

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„Holocaust“, den der Staat Israel – erfolgreich – manipuliert, um Unterstützung von der restlichen Welt zu erhalten. Wie verabscheuungswürdig ist es, dass in Deutschland … diese Manipulation erfolgreicher war als irgendwo sonst. Dort, an dem Ort, von dem das Böse stammte, gilt jeder Widerstand gegen die israelische Politik als antisemitisch. Und so finde ich mich heute nicht nur als Holocaust-Leugnerin wieder, sondern auch als Antisemitin“ (Hammerman 2022).

Ich bewundere schon seit langem Hammermans bemerkenswerte Übersetzungen aus dem Deutschen und Französischen und ihren mutigen politischen Aktivismus und kann ihr abschließend nur aus ganzem Herzen zustimmen. Und Deutschen, Gelehrten und Studierenden, Politiker:innen und Intellektuellen sage ich: Nehmt euch das zu Herzen. Ihr habt genau wie wir die Pflicht, euch zu erinnern, und das Verlangen zu vergessen. Denkt daran, was passiert ist, und vergesst nicht, warum es passierte: weil Männer und Frauen, gewissenhafte, gute und rechtschaffene Menschen, danebenstanden und nichts sagten. Im Namen der Erinnerung an die Vergangenheit: Sprecht euch gegen die Ungerechtigkeiten der Gegenwart aus.

Literatur Bartov, Omer (1996): Murder in Our Midst: The Holocaust, Industrial Killing, and Representation. New York: Oxford University Press. Bartov, Omer (2000): Mirrors of Destruction: War, Genocide, and Modern Identity. New York: Oxford University Press. Bartov, Omer (2018): Anatomy of a Genocide: The Life and Death of a Town Called Buczacz. New York: Simon and Schuster. Bartov, Omer (2021): Anatomie eines Genozids: Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz, Übers. Anselm Bühling. Berlin: Suhrkamp. Chen, Rita (2007): The Guest Worker Question in Postwar Germany. Cambridge: Cambridge University Press. Elkana, Yehuda (1988): „Lob des Vergessens.“ In: Haaretz, 3. März 1988 (auf Hebräisch): www.haaretz.co.il/opinions/2012-10-13/ty-article-opinion/0000017f-dbe8-df9c-a17f-fff8a4cc0000 (Abruf: 11.03.2023). Falcke, Swantje/Vink, Maarten (2020): „Closing a Backdoor to Dual Citizenship: The German Citizenship Law Reform of 2000 and the Abolishment of the ,Domestic Clause‘“, Frontiers in Sociology 5 (2020): www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8022491 (Abruf: 11.03.2023). Farahat, Anuscheh/Hailbronner, Kay (2020): „Report on Citizenship Law: Germany Country Report 2020/05“, Global Citizenship Observatory (GLOBALCIT), Robert Schuman Centre for Advanced Studies in Zusammenarbeit mit Edinburgh University Law School (März 2020): cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/66430/RSCAS_GLOBALCIT_CR_2020_5.pdf?sequence=1 (Abruf: 05.01.2023). Hammerman, Ilana (2022): „Ich, eine Holocaust-Leugnerin!“, Haaretz, 1. September 2022 (auf Hebräisch): www.haaretz.co.il/opinions/2022-09-01/ty-article-opinion/.premium/00000182f871-d310-ade7-fbfdfcac0000 (Abruf: 15.01.2023). Rothberg, Michael (2009): Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford: Stanford University Press.

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Streiten wofür? (Dis-)Kontinuitäten in erinnerungspolitischen Konstellationen Felix Axster

Gegenwärtige Debatten über das Verhältnis der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust einerseits und Kolonialismus und Sklaverei andererseits werden häufig mit dem Historiker*innenstreit der 1980er-Jahre analogisiert (vgl. Brumlik 2022, v. a. S. 7–13; Habermas 2022; Neiman 2022; Neiman/Wildt 2022; Rothberg 2021b; Schmid 2022; Wetterau 2020, v. a. S. 15–23). In der Tat zeichnen sich gewisse Gemeinsamkeiten ab, ging es damals und geht es heute um die Frage, ob und inwiefern sich der Holocaust zu anderen kollektiven Gewaltverbrechen in Beziehung setzen lässt. Dabei spielte und spielt auch der Status von Auschwitz hinsichtlich des Selbstverständnisses der Bonner wie der Berliner Republik eine wichtige Rolle. Gleichwohl hat die Analogisierung bisweilen problematische Effekte. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine nahezu ungebrochene Kontinuität unterstellt bzw. davon ausgegangen wird, dass sich das Streitschema von 1986/87 mitsamt der geschichts- oder erinnerungspolitischen Motivationslagen und Bedürfnisse quasi eins zu eins übertragen ließe. Zugespitzt formuliert wird dann die Vorstellung eines gewissermaßen doppelten Angriffs virulent: Während Mitte der 1980er-Jahre Rechte die These einer Singularität der nationalsozialistischen Judenvernichtung angegriffen hätten, würden es heute postkolonial sozialisierte Linke tun. Das Problem ist nicht nur, dass diese Einschätzung stark an die Extremismustheorie erinnert, die bekanntlich häufig dazu tendiert, Differenzen zwischen links und rechts einzuebnen und letztlich so etwas wie ,die Mitte‘ als vermeintlich unverdächtigen normativen Bezugspunkt zu kreieren (vgl. Dunkel /Gollasch/Padberg 2019). Vielmehr erweist sich auch als problematisch, dass von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer die jeweiligen erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen situiert werden müssen, mehr oder weniger gänzlich abstrahiert wird. Im Folgenden wird es mir weniger darum gehen, die jeweiligen Debattenverläufe detailliert nachzuvollziehen. Eher fokussiere ich die politische Dimension, d. h. die politischen Agenden, die jeweils zum Tragen kamen und kommen und die auf jeweils spezifische erinnerungspolitische und somit auch gesellschaftliche Konstellationen verweisen. Letztlich zielt mein Beitrag darauf ab, die Form der Analogisierung, die der Rede vom neuen Historiker*innenstreit oder vom Historiker*innenstreit 2.0 inhärent ist, dahingehend zu problematisieren, dass hier Erkenntnis möglicherweise eher erschwert denn befördert wird. In diesem Sin40

ne steht auch zur Diskussion, was man – in Anlehnung an Michael Rothberg, der von einer „Ethik des Vergleichens“ spricht – als Ethik der Analogisierung (oder allgemein des Ins-Verhältnis-Setzens) bezeichnen könnte (Rothberg 2021a, o. S.).

Rückblick: ,Geistig-moralische Wende‘ und Historiker*innenstreit Der Regierungsantritt der schwarz-gelben Koalition 1982 stand im Zeichen der sogenannten „geistig-moralischen Wende“ (vgl. Bierbricher 2018). Eine solche jedenfalls hatte Bundeskanzler Helmut Kohl seinen Anhänger*innen versprochen. Worin genau diese Wende bestehen sollte, war wahrscheinlich nicht ganz klar. In jedem Fall ging es darum, das Ende der zwölf Jahre andauernden sozialliberalen Ära zu markieren, die nicht zuletzt von der gerade in konservativen Kreisen hochgradig umstrittenen Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion, den östlichen Nachbarländern sowie der DDR geprägt war. Zudem hatte die Wende auch eine geschichtspolitische Dimension. Kohl, selbst promovierter Historiker und von konservativen Historikern wie Michael Stürmer politisch beraten, initiierte u. a. das Bonner Haus der Geschichte sowie das Deutsche Historische Museum in Berlin, wobei es auch darum ging, Geschichte und Geschichtsschreibung in den Dienst nationaler Sinnstiftung zu stellen bzw. sie in das Projekt der (Wieder-)Herstellung einer positiv konnotierten nationalen Identität einzubinden. Es würde zu weit führen, hier ausführlich auf Kohls geschichtspolitisches Programm einzugehen. Zudem ist umstritten, wie kohärent dieses Programm war und ob es überhaupt als solches zu verstehen sei (vgl. Hütter 2018). Wichtig scheint mir aber der Hinweis zu sein, dass die ,geistig-moralische Wende‘ durchaus mit einer revisionistischen Geschichtspolitik assoziierbar war. Zumindest stand Bitburg – Kohl hatte 1985 mit dem US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg besucht, auf dem nicht nur Wehrmachtsoldaten, sondern auch Angehörige der Waffen-SS begraben sind – in diametralem Gegensatz zum Kniefall des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt am Warschauer Ghetto-Ehrenmal 15 Jahre zuvor (vgl. Röger 2007). Eine Wende der erinnerungskulturellen Symbolpolitik, wenn man so will. Dies war – in aller Kürze – das gesellschaftspolitische Setting des Historiker*innenstreits, der 1986 ausbrach.1 Entsprechend kreiste die Debatte auch nicht einfach nur um die gewissermaßen historiografische Frage, wie das Verhältnis von Nationalsozialismus und Bolschewismus bzw. von Auschwitz und Archipel Gulag zu konzipieren sei und ob es sich – wie Ernst Nolte behauptete – bei Ersterem lediglich um eine Reaktion auf Letzteren handelte (vgl. Nolte 1986). Sondern 1

Allgemein zum Historiker*innenstreit von 1986, der streng genommen ein Historikerstreit war, vgl. Große Kracht (2010).

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es ging auch und vor allem um den Stellenwert der Massenverbrechen des Nationalsozialismus hinsichtlich des Selbstverständnisses der Bundesrepublik, um die Bedeutung von Auschwitz für das Selbstbild der Deutschen. So gesehen lässt sich der Historiker*innenstreit als ein – wie Dan Diner vor einigen Jahren resümierte – „Kampf um die Seele der BRD“ verstehen (Diner 2016, o. S.). Bereits Jürgen Habermas, dessen am 11. Juli 1986 in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ erschienener Beitrag „Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung“ bisweilen als Auslöser des Historiker*innenstreits gilt, warnte vor einem neuen Revisionismus und dem damit zusammenhängenden Versuch der „Wiederbelebung einer in Nationalbewusstsein naturwüchsig verankerten Identität“ (Habermas 1986, o. S.). Micha Brumlik diagnostizierte einen „Niedergang deutscher Geschichtswissenschaft auf das Niveau von Landserheftchen“, verwies auf die Bedeutung des Antikommunismus „in der politischen Kultur der Verdrängung“ und stellte die Frage in den Raum, ob „das Denken Heinrich Himmlers der neue Staatsmythos der Bundesrepublik werden“ solle (Brumlik 1991, S. 77, 82 und 83). Dan Diner wiederum resümierte, dass die Thesen von Nolte und anderen keineswegs neu gewesen seien, was den Schluss nahelegen würde, dass es „der Kontext, der politische Resonanzboden“ gewesen sein müsse, „der sich verändert hat.“ Weiter heißt es: „Tatsächlich häufen sich in den letzten Jahren Tendenzen in der Bundesrepublik, die eine stärkere Wendung hin zu nationalen Identitätsfragen nahelegen. Man könnte es als Versuch zur ,Renationalisierung‘ des Landes beschreiben“. Schließlich gibt Diner zu verstehen, dass zwischen Renationalisierungsversuch und Historiker*innenstreit zwar kein kausaler Zusammenhang bestehe, die Bedeutung von Letzterem für Ersteren aber darin liege, gewissermaßen geschichtspolitisch den Weg frei zu räumen. In Diners Worten: „Denn eine Renationalisierung Deutschlands, die Konstruktion einer positiven nationalen Identität, kollidiert auf jeden Fall mit dem negativen Kern deutschen Selbstverständnisses nach dem Kriege: mit Auschwitz. Nationale Geschichte über Auschwitz hinaus und durch Auschwitz hindurch gelten zu lassen, bedeutet, dieses Ereignis aktiv zu relativieren, es im Gesamtverlauf der Geschichte zwar als störend, aber letztlich doch als überwindbare Barriere zu begreifen“ (Diner 1987, S. 154 und 155). Der Historiker*innenstreit der 1980er-Jahre – so ließe sich zusammenfassen – kreiste im Wesentlichen um die Frage, ob und inwiefern sich Auschwitz bewältigen ließe, und zwar im Hinblick auf die Möglichkeitsbedingungen von nationaler Identitätsstiftung und Selbstvergewisserung. Die Normalisierungsbemühungen und Bewältigungsstrategien von Nolte und anderen korrespondierten mit dem regierungsoffiziellen Programm einer ,geistig-moralischen Wende‘, das zwar einigermaßen diffus blieb, aber durchaus eine geschichtspolitische Dimension hatte und als Renaissance von Nationalismus in Deutschland verstanden werden konnte. Die insbesondere von Diner formulierte Gegenposition ging von 42

der Notwendigkeit aus, Auschwitz als negativen Fluchtpunkt der deutschen Geschichte zu verstehen, der latent unbewältigbar sei und jeglichem Versuch von positiver Bezugnahme im Rahmen des Nationalen grundsätzlich entgegenstehe.

Erinnerung an Holocaust und Kolonialismus im 21.  Jahrhundert Es ist häufig gesagt worden, dass die Rechten den Historiker*innenstreit verloren hätten. In der Tat kann man feststellen, dass das Gedenken an Auschwitz in den letzten 20 bis 30 Jahren zum erinnerungspolitischen Kern der Berliner Republik avancierte. Zudem ist die Westbindung der Bundesrepublik, die Habermas durch Nolte und andere infrage gestellt sah, keineswegs aufgehoben. Schließlich kann man wahrscheinlich mit Fug und Recht behaupten, dass das Denken Himmlers nicht der neue Staatsmythos geworden ist. Doch wie verhält es sich mit dem Projekt der Renationalisierung, mit dem Versuch also, eine positiv konnotierte deutsche Identität trotz Auschwitz zu etablieren? Ich werde am Schluss auf diese Frage zurückkommen. Doch zuvor wende ich mich solchen Erklärungsansätzen zu, die die gesellschaftspolitische Dimension der gegenwärtigen erinnerungspolitischen Debatten über das Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus zu analysieren versuchen. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang der Hinweis zu sein, dass schon Anfang/Mitte der Nullerjahre eine – in den Worten von Jörg Später – „große Debatte um Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus“ im Gang war, weswegen die aktuellen Auseinandersetzungen und vor allem ihre polemische Zuspitzung bisweilen redundant wirken (Später 2008, o. S.). Gleichwohl ist es interessant zu sehen, wie die gegenwärtige Konfliktdynamik zu erklären versucht wird. Mark Terkessidis zum Beispiel bringt in seinem Buch „Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute“ den Begriff der Vielheit ins Spiel: „Der Erfahrungsraum der Gesellschaft hat sich inzwischen gewandelt, weil die Gesellschaft selbst sich verändert hat. Sie ist eine Vielheit geworden“ (Terkessidis 2019, S. 175). Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang nicht nur die Migrationsprozesse der letzten Jahrzehnte, sondern auch die im Jahr 2000 erfolgte Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts, die Terkessidis als „postimperiale Revolution“ bezeichnet, weil hier „zum ersten Mal die Vielheit der Bevölkerung anerkannt wurde“ (ebd., S. 202). In der Gesellschaft der Vielheit jedenfalls – so fährt Terkessidis fort – „stehen die Räume der Erfahrung oftmals im Konflikt“ (ebd., S. 178). In eine ähnliche Richtung zielt der Erklärungsansatz von Sebastian Conrad, der zwischen zwei Formen oder Ausrichtungen von Erinnerung – Erinnerung I und Erinnerung II – unterscheidet: „Das historische Narrativ der Nachkriegszeit (Erinnerung I) wird durch einen veränderten Erfahrungshaushalt in der globalisierten Gegenwart herausgefordert oder zumindest ergänzt (Erinnerung II)“ 43

(Conrad 2021, o. S.). Während die Erinnerung I im Holocaust „ihr unangefochtenes Zentrum“ findet, geht es bei der Erinnerung II um „die Erinnerung an koloniale Herrschaft, Ausbeutung und Gewalt“ (ebd., o. S.). Wir haben es folglich mit zwei unterschiedlichen erinnerungspolitischen Narrativen oder Perspektiven zu tun, die auf jeweils spezifische Erfahrungen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verweisen. Noch einmal Conrad: „Die europäische Integration brachte die Erinnerung I mit sich, die Globalisierung die Erinnerung II“ (ebd., o. S.). Interessant scheint mir übrigens eine Überlegung zu sein, die Conrad allerdings nur andeutet: Es geht um die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Erinnerungsform und der Form der kapitalistischen Vergesellschaftung. Lässt sich die Erinnerung II als eine deregulierte Form der Erinnerung verstehen, die wiederum mit der Deregulierung von Märkten korrespondiert? Wie gesagt, Conrad deutet diesen Gedanken nur an, aber vielleicht wäre es lohnend, weiter in diese Richtung zu denken, zumal sich Erinnerung bzw. Erinnerungsbereitschaft und -vermögen durchaus als symbolisches Kapital verstehen lassen, das auf den Märkten des Gedenkens und im Rahmen von Standort- oder Systemkonkurrenz akkumulierbar ist. Davon zeugt laut Conrad auch der Umstand, dass die Erinnerung I nach 1990, nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten also, nicht nur bestätigt wurde, sondern „geradezu als Teil der moralischen Überlegenheit der Bundesrepublik“ gegenüber der DDR galt (ebd., o. S.). Auf diesen Aspekt der – um einen Ausdruck von Mohamed Amjahid zu borgen – Erinnerungsüberlegenheit werde ich am Schluss dieses Beitrags zurückkommen (vgl. Amjahid 2021). Ähnlich wie Conrad unterscheidet auch Charlotte Wiedemann in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Den Schmerz der anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“ zwischen zwei Formen der Erinnerung, und zwar zwischen „weißer und schwarzer Erinnerung“ (Wiedemann 2022, S. 18). Die von Wiedemann diagnostizierte Kluft zwischen diesen beiden Formen der Erinnerung resultiert nicht zuletzt aus jeweils spezifischen Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg. Sinnbildlich für die ,Schwarze Erinnerung‘ sind zum Beispiel auf dem afrikanischen Kontinent befindliche Denkmäler, die an die gefallenen afrikanischen Soldaten erinnern, die auf alliierter Seite gegen Nazi-Deutschland gekämpft haben und in der ,weißen Erinnerung‘ kaum vorkommen.2 Zudem erweist sich der Sieg über den Nationalsozialismus im Kontext der ,Schwarzen Erinnerung‘ insofern als ambivalent, als die Welt auch nach dem 8. Mai 1945 noch kolonial geprägt war, die Befreiung von kolonialer Herrschaft also noch ausstand. Wiedemann spricht in diesem Zusammenhang von einem „Verrat an den Erwartungen des globalen Südens“ (Wiedemann 2022, S. 38).3

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Siehe in diesem Zusammenhang auch Recherche International e. V. (2005). Siehe auch Diner (2007).

Ein weiterer Gedanke von Wiedemann scheint mir interessant zu sein: Durch die gesteigerte Aufmerksamkeit für die Geschichte von Versklavung, Kolonialismus und Rassismus lässt sich so etwas wie eine Konjunktur der ,Schwarzen Erinnerung‘ verzeichnen. Dies hängt mit einem Prozess zusammen, den man vielleicht als Dezentrierung Europas oder ,des Westens‘ fassen könnte. In Wiedemanns Worten: „Das globale Kräfteverhältnis verschiebt sich politisch und moralisch zu Ungunsten der ehemaligen Kolonialmächte, der europäischen Staaten und Gesellschaften“ (ebd., S. 157). Zudem diagnostiziert sie ein „Ende weißer Immunität“, was auch damit zusammenhänge, dass die „psychische Struktur“ weißer Europäer*innen, „ihr Selbstbild […] nicht mehr ausreichend geimpft gegen Verunsicherung“ sei (ebd., S. 172). Wiedemann begreift dies als Chance; ihre Vision ist eine Art Weltgedächtnis, sie plädiert dafür, eine neue Art von Erinnerung für „eine neue Ethik der Beziehungen und einen Antifaschismus des 21. Jahrhunderts“ zu kreieren (ebd., S. 9). Bis hierhin habe ich gewissermaßen wohlwollende Erklärungsansätze referiert. Denn auch Terkessidis und Conrad gehen von der Notwendigkeit einer Neuverhandlung von Erinnerungspolitik aus, eben infolge von Globalisierung, Migration, Vielheit, unterschiedlichen Erfahrungswelten, veränderten globalen Kräfteverhältnissen. Und wie Wiedemann leugnen sie zwar keineswegs das diesem Prozess der Neuverhandlung inhärente Konfliktpotenzial, betonen aber auch und vor allem die Möglichkeit, eingeschliffene Machtasymmetrien und Ausschlüsse zu überwinden. Nun gibt es – ich hatte dies eingangs bereits angedeutet – auch andere, eher skeptische Lesarten. Symptomatisch hierfür scheinen mir Jan Gerbers Ausführungen zu sein. Interessanterweise geht Gerber von einem ähnlichen Befund wie Wiedemann aus. Allerdings sind seine Schlussfolgerungen – wie sich gleich zeigen wird – gänzlich anders gelagert. Er spricht von einem „zunehmenden ökonomischen Gewicht des globalen Südens“ sowie von dem zu erwartenden Niedergang Europas als „einstige[m] Zentrum der Weltwirtschaft“ (Gerber 2021, S. 29 und 30). Der Postkolonialismus wiederum, der als zentraler Adressat von Gerbers Polemik fungiert, sei „eines der ideologischen Begleitinstrumente des Konkurrenzkampfs auf dem Weltmarkt“ (ebd., S. 30). Bezeichnend ist, wie Gerber auf den Historiker*innenstreit Bezug nimmt. Dieser nämlich bildet eine Art Rahmen, der Gerbers Sortierungsversuche strukturiert und normativ grundiert. Zunächst wird einigermaßen wertneutral konstatiert, dass der „Historikerstreit der 1980er-Jahre ein unter den Vorzeichen von ,rechts‘ und ,links‘ geführter Streit um das Selbstverständnis der alten Bundesrepublik“ gewesen sei, während es in gegenwärtigen Debatten um die „vergangenheitspolitische Beschaffenheit Deutschlands im Zeitalter der Globalisierung“ gehen würde (ebd., S. 29). An anderer Stelle dann heißt es mit schon etwas klarerer Stoßrichtung, dass „die größten Herausforderungen für die Erinnerung an den Holocaust in Zukunft weniger von rechts als von links“ kommen würden (ebd., S. 24). 45

Hatte ich soeben davon gesprochen, dass der Postkolonialismus als zentraler Adressat von Gerbers Kritik fungiert, so müsste ich eigentlich differenzieren oder darauf hinweisen, dass Gerber differenziert. Denn es gibt noch einen weiteren und vielleicht noch wichtigeren Adressaten, und zwar „das westliche Bekenntnis zum Postkolonialismus“, das sich „als sozialpsychologisches Anschmiegen an die Macht von morgen“ verstehen lasse (ebd., S. 43). Kurz gesagt läuft Gerbers Text auf eine Abrechnung mit deutschen Linken hinaus, für die die postkoloniale Kritik eine wichtige Referenz war und ist. Genauer gesagt handelt es sich um eine hochgradig spekulative und gleichzeitig vernichtende Erörterung über Motivation und Psychostruktur postkolonial sozialisierter deutscher Linker. Und gerade anhand dieser Spekulation wird ersichtlich, dass und auf welche Weise der Historiker*innenstreit von 1986 als analytischer Fluchtpunkt von Gerbers Argumentation sowie als Schema der hier vorgenommenen politischen Ein- und Zuordnungen fungiert. Wichtig scheint mir an dieser Stelle der Hinweis zu sein, dass Gerber von einer quasi systematischen Holocaust-Relativierung seitens postkolonialer Intellektueller ausgeht. Er verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der „Hingabe“ (ebd., S. 40). Diesem wird der Begriff des „Eifer[s]“ zur Seite gestellt, der deutlich machen soll, auf welche Weise die (vermeintlichen oder tatsächlichen) Relativierungsbemühungen „von westlichen Linken bagatellisiert, gerechtfertigt oder sogar unterstützt werden“ (ebd.). Dieser Eifer – und dies ist die eigentliche Pointe von Gerbers Text – hat nun eine spezifische Funktion. Denn während Gerber für die unterstellte systematische Holocaustrelativierung durch postkoloniale Intellektuelle aus dem globalen Süden noch Faktoren wie Opferkonkurrenz geltend macht, gehe es im deutschen Kontext vor allem um „verborgene[] Schuldabwehr“ (ebd., S. 43). An anderer Stelle ist von dem „Drang“ die Rede, „die Tat doch noch loszuwerden“, zum Beispiel „durch das Verharmlosen der postkolonialen Holocaust-Relativierung“ (ebd., S. 46). In diesem Sinne zeichne sich der Versuch ab, „nationales Selbstbewusstsein aus der deutschen Vergangenheit zu ziehen“ (ebd.). Bei Gerber haben zwar die Akteur*innen die Seiten gewechselt – von rechts nach links. Aber der politische Deutungsrahmen des Historiker*innenstreits von 1986 wird mehr oder weniger eins zu eins übertragen: Relativierung im Dienst der Renationalisierung. Dass diese Deutung fragwürdig oder zumindest hochgradig vereinfachend ist, soll hier anhand einer bereits zitierten Textstelle aus Dan Diners Ausführungen zum Historiker*innenstreit veranschaulicht werden. Also noch einmal Diner: „Nationale Geschichte über Auschwitz hinaus und durch Auschwitz hindurch gelten zu lassen, bedeutet, dieses Ereignis aktiv zu relativieren, es im Gesamtverlauf der Geschichte zwar als störend, aber letztlich doch als überwindbare Barriere zu begreifen“ (Diner 1987, S. 155). Und noch der folgende Satz: „Historisieren bedeutet demnach nichts anderes als die wissenschaftliche Form relativierender, universalisierender und komparatistischer Integration des Ereignisses Auschwitz in den Fluss der Geschichte“ (ebd.). Aber was genau ist mit 46

Fluss der Geschichte gemeint? Und was mit nationaler Geschichte? In der Forderung nach erinnerungspolitischer Anerkennung der Verwerfungen des Kolonialismus geht es – wie hoffentlich deutlich geworden ist – gerade nicht darum, einen positiven Bezugspunkt in der deutschen Geschichte zu finden. Im Gegenteil handelt es sich um den Versuch, das Feld des möglicherweise latent Unbewältigbaren auszuweiten, Verantwortung auch für das Erbe anderer Verbrechen in der deutschen Geschichte zu übernehmen. In Abwandlung von Diner könnte man auch sagen, dass es postkolonialer Geschichtsschreibung nicht darum zu tun ist, die störende Barriere Auschwitz zu überwinden, sondern den Gesamtverlauf der (modernen) Geschichte als störend zu begreifen. So gesehen macht es einen Unterschied, welche Geschichte genau man ,über Auschwitz hinaus und durch Auschwitz hindurch‘ geltend zu machen, in welchen ,Fluss der Geschichte‘ man Auschwitz zu integrieren versucht. Gewiss, es besteht durchaus die Möglichkeit, dass das Geltend-Machen von Kolonialverbrechen in Deutschland zu Schuldentlastung beiträgt – zum Beispiel dann, wenn auf Frankreich oder Großbritannien als die ,eigentlichen‘ Kolonialmächte verwiesen und deren Verbrechensbilanz mit Auschwitz gewissermaßen verrechnet wird. Zudem kann sich auch eine Geschichte neuzeitlicher Verbrechen als Auschwitz integrierender ,Fluss der Geschichte‘ erweisen. Das war ja auch die Befürchtung von Jean Améry, der in den 1960er-Jahren prophezeite: „Alles wird untergehen in einem summarischen ,Jahrhundert der Barbarei‘“ (Améry 2019, S. 142). Aber erstens müsste man sehr genau überprüfen, wer sich wie und wann entlasten will – das wäre ein anderes Vorgehen als Gerbers pauschale Unterstellungen. Und zweitens müsste man in den Streit eintreten über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Integration von Auschwitz in den Fluss der geschichtlichen Gewalt – auch dies ein anderes Vorgehen als Gerbers pauschale Delegitimierung postkolonialer Anliegen. Die Forderung nach einer post- oder dekolonialen Erinnerungskultur jedenfalls ist ziemlich weit entfernt von dem, was Diner vor beinahe 40 Jahren mit nationaler Geschichte meinte. Und Gerbers Rekurs auf den Historiker*innenstreit und das mit diesem zusammenhängenden Projekt einer Renationalisierung ist ziemlich weit entfernt von dem, was Terkessidis mit Vielheit, Conrad mit der Unterscheidung zwischen Erinnerung I und II und Wiedemann mit einer neuen Erinnerung für einen neuen Antifaschismus meinte.

Schluss Das Holocaust-Gedenken wurde in Deutschland über Jahrzehnte erkämpft – und immer noch kämpfen einzelne Opfergruppen um Sichtbarkeit und angemessenes Gedenken. Im Unterschied zu 1986 gibt es inzwischen eine fest etablierte staatsoffizielle NS-Gedenkkultur. Wie immer, wenn etwas von unten erkämpft wurde und gewissermaßen oben angekommen ist, gibt es eine Kehrseite. So wur47

de vor einigen Jahren von einigen Holocaust-Forscher*innen ein Unbehagen an der Erinnerung artikuliert, das auch aus dem neuen Selbstbild Deutschlands als Erinnerungsweltmeister resultiere (vgl. Jureit/Schneider 2010; Jureit/Schneider /Frölich 2012). Charlotte Wiedemann formuliert in diesem Zusammenhang treffend: „Seit seiner Verstaatlichung hat das Erinnern eine Speckschicht der Selbstzufriedenheit angesetzt, ist zur bürgerlichen Sitz- und Besitzkultur geworden“ (Wiedemann 2022, S. 12). Gerade hier, im Kontext dieser Sitz- und Besitzkultur, so würde ich sagen, zeichnet sich das Potenzial für mögliche Projekte einer Renationalisierung ab. Zumindest macht sich zunehmend eine gewissermaßen aufgeklärt-geläuterte deutsche Identität bemerkbar, die ihre Selbstvergewisserung nicht über den ,trotz Auschwitz‘-Modus, sondern über den ,gerade wegen Auschwitz‘-Modus organisiert. Nationalstolz ist heute zumindest in Teilen der Stolz auf die geleistete Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust, hängt folglich mit dem Aspekt der Erinnerungsüberlegenheit zusammen. Ein seltsamer Effekt dieses Stolzes und dieses Überlegenheitsgefühls ist der Umstand, dass das Holocaust-Gedenken bisweilen im Sinne eines Integrationsimperativs fungiert und folglich wie ein Ordnungsruf daherkommt. Ein anderer, korrespondierender Effekt ist, dass weiße gojische Deutsche oftmals der Überzeugung sind, dass sie/wir eine besondere Fähigkeit zur Antisemitismuserkennung ausgebildet hätten, woraus die Berechtigung abgeleitet wird, der Welt vor allem des globalen Südens oder der Vielheit im eigenen Lande verkünden zu dürfen oder gar zu müssen, was ganz genau Antisemitismus sei. Hier wäre m. E. der auf Jean Améry zurückgehende Begriff des Selbstmisstrauens in Anschlag zu bringen, als kritische Perspektive auf die neu-deutsche Selbstzufriedenheit und die mit dieser zusammenhängenden Dynamik nationaler Identitätskonstruktion (vgl. Améry 2019, S. 138; Rothberg 2020).

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Rothberg, Michael (2021b): Der neue Historikerstreit bedarf einer anderen Richtung. In: Die Zeit. www.zeit.de/kultur/2021-07/umgang-mit-dem-holocaust-historikerstreit-kontroverse-voelkermord/komplettansicht (Abfrage: 15.12.2022). Schmid, Thomas (2022): Kolonialismus, Holocaust und der Historikerstreit 0.0. In: Schmid Welt. schmid.welt.de/2022/11/18/kolonialismus-holocaust-und-der-historikerstreit-0-0/(Abfrage: 15.12.2022). Später, Jörg (2008): Gegenläufige Erinnerungen – Historizität und politischer Kontext der Debatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus. In: freiburg-postkolonial.de. www.freiburg-postkolonial.de/Seiten/iz3w2008-KD-Spaeter.htm (Abfrage: 15.12.2022). Terkessidis, Mark (2019): Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute. Hamburg: Hoffmann und Campe. Wetterau, Karin (2020): Neuer Antisemitismus? Spurensuche in den Abgründen einer politischen Kampagne. Bielefeld: Aisthesis. Wiedemann, Charlotte (2022): Den Schmerz der anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis. Berlin: Propyläen.

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Der Historikerstreit 2.0 und die zukünftige Holocausterinnerung: Ein postkolonialer Paradigmenwechsel? Steffen Klävers

Seit knapp zweieinhalb Jahren wird im Rahmen des sogenannten „Historikerstreits 2.0“ um die Ausrichtung der bundesrepublikanischen Holocausterinnerung im Kontext zunehmender Aufarbeitung der deutschen und globalen imperialen Kolonialgeschichte und ihrer Implikationen für die Gegenwart debattiert. Bereits seit längerer Zeit wird von verschiedenen Seiten eine stärkere Auseinandersetzung mit der Geschichte des europäischen und speziell deutschen Kolonialismus eingefordert. Zu lange ist diese ignoriert, trivialisiert und relativiert, als legitime Praxis verteidigt und verklärt worden. Dafür werden verschiedene Gründe ausgemacht: Die Kontinuität kolonialrassistischer Denkweisen beispielsweise, die sich im Bewusstsein vieler Menschen bewusst oder unbewusst dahingehend verwirklichen, dass das historische Unrecht des Kolonialismus nicht als solches erkannt werde. Oder ein eurozentrisches Denken, das alles, was sich außerhalb des Raums Europa befindet oder geschieht, nicht als relevanten Teil der Weltgeschichte anerkenne. Der Historikerstreit 2.0 verhandelt diese Fragen vor dem Hintergrund der Erinnerungskultur an Nationalsozialismus und Holocaust und richtet sich teils entschieden gegen bestimmte Auslegungen einer historischen Beispiellosigkeit des Holocaust – oder, wie es sich im Allgemeinsprachlichen etabliert hat, einer Singularitätsthese des Holocaust. Diesem Verständnis wird die These gegenübergestellt, dass als beispiellos bewertete Elemente bei genauerer Betrachtung nicht beispiellos, sondern in der Geschichte weit verbreitet seien, weswegen auch die von Dan Diner geprägte Vokabel eines „Zivilisationsbruchs“ (Diner 1988, S. 71), nicht überzeuge. Das zu glauben sei Teil eines internalisierten „Katechismus“, wie es Dirk Moses prominent nannte (Moses 2021a), der nicht mehr zeitgemäß sei und überwunden werden müsse, weil er wissenschaftlich und politisch nicht tragbar sei. Mit dem Begriff „Historikerstreit 2.0“ wird suggeriert, dass es ein zweiter Teil des ersten Historikerstreits sei, oder, genauer gesagt, eine zweite Version. Und im direkten Vergleich wird deutlich, was das Gemeinsame, das tertium comparationis, der beiden Streits ausmacht: der Streitpunkt um die Singularität und Präzedenzlosigkeit des Holocaust und die Frage, ob sich der Holocaust vergleichen lässt.

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Der Vergleich macht auch Unterschiede deutlich: Die heutige Diskussion unterscheidet sich vom Historikerstreit Version 1.0 in mindestens drei Aspekten. Erstens geht es auch, aber nicht nur, um innerdeutsche Vergangenheitsbewältigung und deutsche NS-Apologetik, sondern es handelt sich um eine internationale Debatte um die Erweiterung des bundesrepublikanischen Erinnerns, nicht um ein Abschütteln einer „glücklich entmoralisierten Vergangenheit“, wie Jürgen Habermas die Intention Ernst Noltes beschrieb, dem er Relativierung der NS-Verbrechen und des Holocaust vorwarf (Habermas 1987, S. 73). In ihrem Kern steht die politische Ausgestaltung der Erinnerungskulturen von Kolonialismus und Nationalsozialismus sowie deren Verhältnis zueinander. Zweitens: Die politischen Vorzeichen sind andere: Wurde in den 80er-Jahren die Singularitätsthese von linksliberaler Seite verteidigt, wird sie heute von ihr problematisiert. Und drittens: Es geht heute um die Frage des Verhältnisses von Rassismus und Antisemitismus sowie das Thema der Existenz und Politik des Staates Israel – Themen, die in den 80er-Jahren überhaupt keine Rolle spielten. Dieser öffentlichen geschichtspolitischen Debatte geht eine wissenschaftliche voraus, die sich um Bezüge zwischen Kaiserreich-Kolonialismus und Nationalsozialismus dreht. Sie ist als „colonial turn“ in der Holocaustforschung beschrieben worden (vgl. Rothberg 2009, S. xi) und spielte sich hauptsächlich grob in den Jahren 2000 bis 2010 ab. Dort wurden und werden bis heute ähnliche Fragen verhandelt: In welchen Aspekten waren die Gewaltpraxis und die Ideologie des Kolonialismus ein wesentlicher Einflussfaktor oder gar eine Bedingung für die nationalsozialistische Politik und den Holocaust? Welche Spuren des Kolonialismus finden sich im Nationalsozialismus? Wie ähnlich sind sie sich, wie nahe kommen sie sich, wo unterscheiden sie sich? Überzeugt die sogenannte „Singularitätsthese“ des Holocaust auch im Vergleich zu kolonialen Genoziden? Und vor allem: Unterscheiden sich Rassismus und Antisemitismus voneinander, und wenn ja: wie? Diese wissenschaftliche Debatte wird auch heute noch bzw. wieder verstärkt geführt und arbeitet zurzeit hauptsächlich empirisch, was ihr sicherlich auch guttut.1 Um diese empirischen, wissenschaftlichen Ergebnisse geht es in der Debatte des Historikerstreits auch, aber nicht nur. Der Grund ist einfach: Es ist keine primär wissenschaftliche Debatte. Auch der erste Historikerstreit war keine interne Fachdiskussion, sondern eine öffentliche geschichtspolitische Auseinandersetzung. Doch das Potenzial einer breiten Auseinandersetzung haftete ihm schon

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Verwiesen sei hier beispielsweise auf den jüngst erschienenen Sammelband „Colonial Paradigms of Violence: Comparative Analysis of the Holocaust, Genocide, and Mass Killing“, herausgegeben von Michelle Gordon und Rachel O’Sullivan (2022), oder den Aufsatz „Holocaust, Kolonialismus und NS-Imperialismus – Wissenschaftliche Forschung im Schatten einer polemischen Debatte“ von O’Sullivan und Frank Bajohr in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte (2022).

damals an: Bereits im Jahr 2008 schrieb zum Beispiel der Historiker Matthew Fitzpatrick, die Diskussion um koloniale Bezüge zum NS erinnere an einen postkolonialen Historikerstreit und/oder eine koloniale Sonderwegsthese (vgl. Fitzpatrick 2008, S. 480). Die wissenschaftliche Debatte wurde maßgeblich durch die Arbeiten Jürgen Zimmerers initiiert, der mit seiner Publikation „Von Windhuk nach Auschwitz?“ (2011a) bereits im Titel treffend zusammenfasste, worüber im Zuge des colonial turns nachgedacht wurde: Gibt es Elemente, die von Windhuk nach Auschwitz geführt haben? Ist Auschwitz ohne Windhuk denkbar? Zimmerer schlug vor, strukturelle Ähnlichkeiten kolonialer und nationalsozialistischer Rasse- und Raumkonzepte auf ihre Ähnlichkeiten hin zu untersuchen, und plädierte dafür, den Nationalsozialismus zu „globalisieren“ und postkolonial zu deuten (vgl. Zimmerer 2011b). Dies nicht zu tun, wird mit Eurozentrismus oder Germanozentrismus assoziiert (vgl. bspw. ebd., S. 18), wobei die Vorstellung einer historischen Beispiellosigkeit hier eine besondere Rolle spiele, denn diese sei nicht analytisch, sondern bestenfalls theologisch und vor allem politisch falsch, weil sie notwendigerweise und gewissermaßen automatisch eine Hierarchie konstruiere. Das schrieb Dirk Moses bereits in einem Text im Jahr 2008, der beklagte, dass durch die Vorstellung einer historischen Beispiellosigkeit des Holocaust das Schicksal der Überlebenden indigener Genozide als moralisch weniger schlimm bewertet werde als das der Juden: “Underlying this asymmetry is the claim that the Holocaust is ‘unique’, ‘unprecedented’ or ‘singular’. Its implications for the study of indigenous genocide are as significant as they are dire: that such ‘lesser’ or ‘incomplete’ genocides —if indeed they are considered genocides at all —are marginal or even ‘primitive’, thereby reinforcing hegemonic Eurocentrism; and that the moral caché of the indigenous survivors of colonialism is less than that of Jews. Predictably, they are rejected by some scholars who counter that genocide lies at the core of western civilization […]” (Moses 2002, S. 9).

Die Thesen einer kolonialen Kontinuität wurden einerseits begrüßt, andererseits aber auch stark kritisiert, am prominentesten von Birthe Kundrus (Kundrus 2010) sowie Robert Gerwarth und Stephan Malinowski (Gerwarth/Malinowski 2007), die die postulierten strukturellen Ähnlichkeiten anders bewerteten, auf Unterschiede verwiesen und eher den neuartigen Charakter sowohl des nationalsozialistischen Staates als auch der völkisch-antisemitischen NS-Ideologie betonten. Die Frage nach wissenschaftlich stichhaltigen Parallelen findet in einer Zeit statt, in der postkoloniale Studien an Universitäten mehr oder weniger institutionalisiert sind, dort verbindet sich der colonial turn auch mit vielen weiteren kulturwissenschaftlichen „turns“ wie dem spatial turn, dem global turn oder dem 53

cultural turn (vgl. (Bachmann-Medick 2006). In den Geschichtswissenschaften werden transnationale Ansätze populärer, komparatistische Ansätze wie die der Transfergeschichte, der Verflechtungsgeschichte bzw. der histoire croisée untersuchen historische Prozesse im Vergleich über Nationengrenzen hinweg, hinterfragen etablierte Raumkonzeptionen wie Europa und realisieren die postkoloniale Forderung, die imperialkoloniale Geschichte und die komplexen Wechselwirkungen zwischen kolonialem Zentrum und Peripherie stärker als zuvor zu beachten. Den Nationalsozialismus mit Fragestellungen der postkolonialen Studien zu erforschen, ist so gesehen eine wissenschaftsökonomisch logische Konsequenz. Im Wesentlichen sind zentrale Annahmen der postkolonialen Analyse des Nationalsozialismus in ein Paradigma eingebettet, das durch Hannah Arendt geprägt wurde. In ihrer Beschreibung, die man heutzutage gerne als die Arendt’sche Bumerang-These bezeichnet, nennt sie den Imperialismus als zentrale ideologische und praktische Inspirationsquelle für den Nationalsozialismus, die außereuropäische Gewalt sei also nach Europa zurückgekehrt. Ihr Denken ist konstitutiv für postkoloniales Denken, und nicht umsonst haben Gerwarth und Malinowski einen ihrer Texte „Hannah Arendt’s Ghosts“ genannt, Hannah Arendts Geister, die sie in der Debatte entdeckten (Gerwarth/Malinowski 2009). Die Geschichte der Moderne wird bei Arendt als die einer imperialen Gewalt verstanden, einer totalen Herrschaft, die sich später in biopolitischen Theorien Michel Foucaults und Giorgio Agambens fortsetzt. In diesen Theorien werden Holocaust und Kolonialismus in denselben Entstehungskontext situiert. Auch in den Schriften Achille Mbembes, deren Diskussion den Historikerstreit 2.0 eröffnete, finden sich solche Ideen, werden doch verschiedene Gewaltmomente der Geschichte als Ausdruck einer „Politik der Feindschaft“ oder von „necropolitics“, um zwei seiner Schriften zu nennen, gedeutet ((vgl. Mbembe 2017, 2003). Nicht zufällig richtet sich Mbembes Kritik auch immer in besonderer Schärfe und Vehemenz gegen den Staat Israel. In so einem Paradigma erscheint es unsinnig, darauf zu beharren, dass es bestimmte beispiellose Spezifika eines Ereignisses gebe – immerhin seien sie alle Ausdruck einer bestimmten Art von Gewaltpraxis oder -ideologie – alle mit bestimmten Spezifika, aber doch alle auch Teil einer großen Meistererzählung, eines Paradigmas. Umso mehr werden also postkoloniale Ansätze und Vertreter:innen eines multidirektionalen Erinnerungsparadigmas aufmerksam, wenn eine Singularität betont wird, die sich gegen diese Ordnung verwahrt. Von Michael Rothberg, der sich sehr stark auf Hannah Arendt und die biopolitische Tradition beruft, stammt die These, heutige Erinnerungskulturen entsprächen einer Nullsummenlogik und sie stünden in einem Konkurrenzkampf zueinander (vgl. Rothberg 2009). Diese Konkurrenz ergebe sich aus einem bestimmten Verständnis von Erinnerungskultur, nämlich eines, welches die eigene Erinnerung als eine abgeschottete und vereinzelte Erinnerung beschreibt und damit nur in eine Richtung geht – eben monodirektional. Rothbergs Konzept der 54

Multidirektionalität soll diesem Umstand ein solidarischeres produktiveres Erinnerungskonzept entgegensetzen, um Konkurrenzverhältnissen zwischen Erinnerungskulturen entgegenzuwirken. Seine Grundthese ist auch, dass die bisherige Holocausterinnerung als eine Art Containerbegriff es anderen Erinnerungen ermögliche, sich überhaupt erst zu artikulieren. Diese Globalisierung des Holocaust ist bereits von Daniel Levy und Natan Sznaider in ihrem Buch „Erinnerung im globalen Zeitalter – der Holocaust“ thematisiert worden, und laut ihren Angaben geht hier auch immer eine „Entortung“ des Ereignisses einher (Levy/Sznaider 2007, S. 9). Man könnte hier nun kritisch einwenden, mit den Worten Dan Diners beispielsweise, dass dadurch ein Diskurs ermöglicht werde, der „an Stelle des verloren gegangenen historischen Urteilsvermögens“ einen „universell drapierten moralisierenden Diskurs über unterschiedslose Opferschaft“ etabliere, der „in letzter Konsequenz vor einer Dekonstruktion des Gedächtnisses an den Zweiten Weltkrieg ebenso wenig Halt machen [wird] wie vor der Geltung und Bedeutung des Holocaust“ (Diner 2007, S. 9 f.). Rothberg liefert hier selbst möglicherweise unfreiwillig ein Beispiel mit seinem Text namens „From Warsaw to Gaza: Mapping Multidirectional Memory“ (Rothberg 2011), der bereits im Titel das Problem illustriert, dass verschiedene historische und politische Schauplätze sich nicht einfach umstandslos in Bezug zueinander setzen lassen. In seinem Text nimmt Rothberg Bezug auf eine Fotomontage des israelisch-britischen Künstlers Alan Schechner, „The Legacy of Abused Children: From Poland to Palestine“. Die Montage besteht aus zwei Bildern, die gegenseitig Bezug aufeinander nehmen: Bild 1 zeigt das bekannte Bild des Jungen aus dem Warschauer Ghetto während der Niederschlagung des Aufstands im Ghetto, der von deutschen Soldaten zusammen mit anderen Jüdinnen*Juden aus einem Gebäude getrieben wird. Bild 2 zeigt einen palästinensischen Jungen, der von israelischen Soldaten der IDF festgehalten wird. In beiden dieser Bilder hat Schechner eine kleine Manipulation vorgenommen: Sie tragen in seiner Kunstinstallation jeweils ein Bild des anderen Jungen in der Hand. Schechner selbst schreibt über sein Werk: “In this project I am using the theory that abused children, unless treated, often become abusers themselves. By applying this to the current situation in Israel/Palestine where both Israelis and Palestinians are victims who replicate and repeat the abuse they have suffered[,] the possibility for constructing solutions to this terrible conflict become[s] more real “ (Schechner, zit. n. Rothberg 2011).2

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Rothberg gibt an, dieses Zitat der Homepage Schechners entnommen zu haben, diese ist allerdings unter der bei Rothberg angegebenen Adresse www.dottycommies.com nicht (mehr) zu erreichen.

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Aus Perspektive der Antisemitismuskritik könnte eine solche Aussage als antisemitische NS-Relativierung gedeutet werden, die nicht weit entfernt ist von Aussagen wie ,gestern Opfer, heute Täter‘. Dabei macht es keinen Unterschied, ob Schechner die irritierende These, dass die jüdischen Überlebenden oder Nachfahren Überlebender des Holocaust aufgrund unbehandelter Traumata zu Täter*innen würden, die in Israel an der palästinensischen Bevölkerung dieselben Verbrechen verüben, die ihnen im Nationalsozialismus widerfahren sind, empathisch zu einer gegenseitigen Solidarität modelliert. Es handelt sich um eine implizite Gleichsetzung dieser historischen Orte, da sie über die allgemeinen Kategorien von Leid und Gewalt miteinander empathisch in Bezug gesetzt werden sollen. Rothberg gesteht zwar zu, dass ein solches Vorgehen historische Heterogenität verwische (Rothberg 2011, S. 537). Dennoch sieht er in einem solchen Zugriff letztendlich vor allem positive Möglichkeiten: Schechners Darstellung ironisiere “realist accounts of causality”, was dazu führe, dass “analogy can become part of a depropriative, transformative work of memory in which the juxtaposition of different histories reorganizes understanding of both” (ebd., S. 538). Inwiefern mit einem solchen Zugriff allerdings tatsächlich ein besseres Verständnis historischer Gewalt erreicht werden kann, bleibt fraglich, und Rothberg gibt auch keine weiteren Hinweise darauf. Hier wird ein Kernproblem des Ansatzes multidirektionaler Erinnerung deutlich: Er möchte globale Vergemeinschaftung fördern – was begrüßenswert ist –, diese geht allerdings potenziell auf Kosten historischer Genauigkeit. Hier erscheint Theorie insgesamt vage oder brüchig. Das zeigt sich auch in Bezug auf das Singularitätsparadigma des Holocaust, welches bei ihm einerseits verteidigt und integriert, andererseits aber auch immer wieder angegriffen wird. Universalismus wird gefordert, manchmal aber auch partikulare Erinnerungen als wichtig beschrieben. Und es sei wichtig, Täter- und Opferdiskurse nicht zu verwechseln. Kriterien zur Unterscheidung liefert Rothberg aber kaum – vielmehr wird eine Art ambivalente, eben multidirektionale Kausalität begrüßt, in der Fragen nach Opfer- oder Täterschaft immer schwieriger verhandelbar sind. Auffällig ist auch, und das teilt er sich mit anderen postkolonialen Stimmen des Historikerstreits 2.0, dass er hier auf ein Verständnis von Singularität rekurriert, das den Holocaust als Ereignis enthistorisiert, also aus der Geschichte löst, mythologisiert und als gewissermaßen erkenntnisresistent bewertet. So ein Verständnis mag es vor 50 bis 60 Jahren gegeben haben. Aber seit den Arbeiten von Autor:innen wie Yehuda Bauer, Lucy Davidowicz und Steve Katz gibt es schlüssigere Definitionen, die den Holocaust historisieren und gerade nach einer komparativen Analyse auf Besonderheiten verweisen (Klävers 2019, S. 26–38). Paradoxerweise liefert Dirk Moses in seinem Katechismus-Essay eine eigentlich sehr treffende Definition von dem, wie sich dieser Singularitätsbegriff verstehen lässt:

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„Der Holocaust ist einzigartig, da er die uneingeschränkte Vernichtung von Juden um deren Vernichtung willen zum Ziel hatte, im Unterschied zu den pragmatischen und begrenzten Zielen, um derentwillen andere Genozide unternommen wurden, versuchte hier ein Staat zum ersten Mal in der Geschichte ein Volk ausschließlich aus ideologischen Gründen auszulöschen“ (Moses 2021a).

Die genauen ideologischen Gründe werden hier nicht thematisiert, aber man könnte sie als a) totale, globale Dimension der Vernichtungsintention und b) Bild eines übermächtigen, bösartigen Feindes beschreiben. Insgesamt erhält der Holocaust dadurch den Status, wie Dan Diner es beschrieb, eines Konfliktes „jenseits von Konflikt, Gegnerschaft und politischer Feindschaft“ (2007, S. 81). Laut Moses’ „Katechismus“-Text beruht diese Analyse allerdings auf einem „falschen Geschichtsverständnis“. In seinem nahezu gleichzeitig erschienenen Buch „The Problems of Genocide“ (2021b) unterstellt er, dass es sehr wohl einen konkreten Konflikt gegeben habe, auf den die Nazis imperial reagierten – wenngleich paranoid übersteigert und maßlos generalisierend. Denn zwar war nur eine Minderheit der Juden tatsächlich Bolschewisten, für “paranoid antisemites” (ebd., S. 321) hätte das aber ausgereicht, alle Juden als “Asiatic threat to Europe” (ebd., S. 298) zu sehen. Der Holocaust erhält somit den Status einer präventiven Gegenmaßnahme. Das schließlich sei, wie Moses im Katechismus-Text postuliert, „keineswegs einzigartig und in der Weltgeschichte ein verbreitetes Muster“ (Moses 2021a). Das drängt beunruhigende Assoziationen zu Ernst Noltes Behauptung der ,asiatischen Tat‘ auf, mit der er im ersten Historikerstreit die NS-Verbrechen als Reaktion auf den ,Klassenmord‘ in der Sowjetunion darstellte. Moses nennt seine Sichtweise die eines imperialen Paradigmas, die vorherige die eines Antisemitismus-Paradigmas, und er plädiert deutlich für einen Paradigmenwechsel zugunsten seiner Variante, die den Holocaust, also nicht nur den Nationalsozialismus, sondern auch den Holocaust, in die Geschichte des Imperialismus einordnet (Klävers 2022). Moses unterliegt hier in meiner Lesart allerdings einem Irrtum. Für die antisemitische Ideologie spielt es keine Rolle, ob manche Juden Bolschewisten waren oder nicht. Es gab genug andere Motive in der Geschichte der europäischen Judenfeindschaft, die für den NS-Antisemitismus wesentlich waren. Ein Vergleichstabu, wie es im Zuge der Debatte häufig problematisiert wurde, teils von Zimmerer und Rothberg selbst (vgl. Zimmerer/Rothberg 2021), wird weder durch so einen Begriff der Präzedenzlosigkeit aufgestellt noch existiert es überhaupt – das ist eigentlich ein wissenschaftlicher Konsens. Dennoch wurde dies eine der Grundüberzeugungen mancher postkolonialer Kritiker, die sich in Einzelaspekten unterscheiden mögen: Die Vorstellung einer Präzedenzlosigkeit des Holocaust steht einer inklusiveren globalen Erinnerungskultur im Weg, wirkt exkludierend für andere Perspektiven und erschwere es anderen Erinnerungskulturen, sich im öffentlichen Gedächtnis Gehör zu verschaffen. 57

All dies kann tatsächlich zutreffen. Die These einer Beispiellosigkeit des Holocaust kann in der konkreten politischen Ausgestaltung von Erinnerungskultur als eine Art Freifahrtschein der moralischen „Wiedergutwerdung“, wie Eike Geisel das nannte (1984), der postnazistischen Gesellschaft genutzt werden. Warum solle man da noch des Kolonialismus gedenken, wenn man doch bereits alles richtig gemacht hat und es nun schon wieder gut ist? Die Präzedenzlosigkeitsthese aufgrund solcher politischen Ausgestaltung anzugreifen, erscheint mir allerdings ein Fehlschluss zu sein und sprichwörtlich das Kind mit dem Bade auszuschütten. Es spricht theoretisch nichts dagegen, dass eine Erinnerungskultur wie die des Holocaust das Ereignis als historisch beispiellos einstuft und es dennoch Teil einer pluralen Erinnerungsgesellschaft sein kann, mit partikularen Sichtweisen, die universell verstanden werden können. Hier sind sich vermutlich auch die meisten Akteur*innen des Historikerstreits 2.0 im Grunde genommen einig. Einigkeit besteht nach wissenschaftlichem Konsens eigentlich auch darüber, dass es durchaus möglich und erkenntnisfördernd ist, auf koloniale Elemente des NS-Ostfeldzugs hinzuweisen, ohne dabei den Nationalsozialismus mit dem Kaiserreich-Kolonialismus gleichzusetzen. Bill Niven schrieb im Zuge der Debatte in einem lesenswerten Text des New Fascism Syllabus: “If colonialism has taken so long to establish itself in German memory, then not because of Holocaust memory, but because Europe generally has taken so long to face its whitesupremacist racist past and present” (Niven 2021). Dass „Millionen Deutsche während der vergangenen Jahrzehnte verinnerlicht hätten“, wie Moses im Katechismus-Essay schreibt, „dass für die sündige Vergangenheit ihrer Nation nur über den Katechismus Vergebung zu erlangen ist“, scheint daher grob übertrieben. Die wenigsten Deutschen haben vermutlich eine adäquate Vorstellung davon, was mit Singularität des Holocaust überhaupt gemeint ist (vgl. Schulze Wessel 2021). Was ist also noch das Problem? Es geht am Ende, und das hat nicht zuletzt Moses’ Katechismus-Essay auch nachdrücklich thematisiert, um den Staat Israel. Sybille Steinbacher schrieb hierzu treffend: „Israel wird in der postkolonialen Forschung nicht selten als koloniales Siedlerprojekt verstanden, seine jüdischen Bewohner als weiße Kolonialherren“ (Steinbacher 2022, 67 f.) Hier wird also eine direkte Linie zwischen europäischem Kolonialismus und Zionismus, den man streng genommen auch als postkoloniale Befreiungsbewegung verstehen kann, bzw. der zionistischen Errungenschaft des ersten und bisher einzigen jüdischen Staates der Welt gezogen. Dem Holocaust nun das Präzedenzlose abzusprechen, gibt sogenannten „israelkritischen Argumenten“ neue Ansätze: Wenn der Holocaust nichts „Besonderes“ gewesen sei, wieso bedarf es dann überhaupt eines solchen Staates (Steinbacher 2022, 68)? Außerdem sei, auch das schreibt Moses in seinem Essay, die Vorstellung einer Präzedenzlosigkeit des Holocaust so dermaßen emotionalisierter Bestandteil des deutschen Katechismus, dass dadurch automatisch jedwede Kritik an Israel oder seiner Politik automatisch und pauschal 58

als antisemitisch eingestuft werde – ein häufig gehörtes Argument im Historikerstreit 2.0, das aber keiner empirischen Basis entspricht. Hier zeigt sich, dass der gesamte Historikerstreit 2.0 von vornherein eine politische Debatte war – auch die Diskussion um Mbembes Thesen drehte sich ja nicht nur um die Möglichkeit des Vergleichs, sondern auch explizit um die zentrale Rolle, die Israel in seinen Analysen einnimmt. Moses und andere sehen die Kritik an Israel ähnlich tabuisiert wie die eines Vergleichs des Holocaust mit anderen Genoziden. Die Antwort auf diese Sichtweise ist strukturell die gleiche wie die, die man auf ein angebliches Vergleichstabu bringen kann: Es gibt kein gesellschaftliches Tabu zur Kritik israelischer Politik, niemand hat ein solches aufgestellt. Die Berichterstattung und öffentliche Meinung über die israelische Politik ist vielmehr immer wieder als besonders einseitig antiisraelisch beschrieben worden. Häufig finden sich, auch das zeigen empirische Analysen, in vermeintlich kritischen Aussagen über israelische Politik ideologische Versatzstücke des Antisemitismus, die teilweise so weit gehen, die Legitimität der Existenz des Staates Israel komplett abzulehnen und in ihm eine Wiederkehr nationalsozialistischer Politik zu erkennen. Edward Said, immerhin einer der wichtigsten Denker:innen des Postkolonialismus, schrieb beispielsweise im Jahr 2002: “I do not want to press the analogy too far, but it is true to say that Palestinians under Israeli occupation today are as powerless as Jews were in the 1940s” (Said 2002, S. 204). Analogien zum Apartheidsregime Südafrikas mit Israel, wie es in Deutschland vor kurzem verstärkt diskutiert wurde, verzerren die Realität des Staates in der Konsequenz und illustrieren sie nicht. Kaum thematisiert wird in postkolonialen Analysen ferner die Relevanz des sogenannten „israelbezogenen Antisemitismus“, der laut Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz die momentan dominierende Variante des Antisemitismus darstellt (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013, S. 195). Und die beiden betonen im Übrigen auch, das Kritik an israelischer Politik, auch scharfe, nicht sanktioniert ist. Zusammenfassend und gewissermaßen bereits rückblickend auf den Historikerstreit 2.0 lässt sich dieser als eine Debatte beschreiben, die insgesamt an vielen Stellen vehement und polemisch ausgetragen wurde, aber in der Konsequenz vielleicht in vielen Teilen für ein besseres Verständnis eines komplexen weltpolitischen Gefüges gesorgt hat. Wie er sich weiter entwickeln wird, ist noch nicht abzusehen. Abschließend möchte ich dafür plädieren, auf Kritik nicht mit analytischen Kurzschlüssen zu reagieren. Natürlich ist zum Beispiel nicht die gesamte postkoloniale Theorie antisemitisch, wie es manchmal vorschnell heißt. Es war gerade die postkoloniale Kritik, die die stärkere kritische Thematisierung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands im Zuge einer größeren gesellschaftlichen Debatte überhaupt erst ermöglicht hat. Sie führt vor Augen, dass Erinnerung auch immer bedeutet, gesellschaftliche Kämpfe auszutragen. Doch dabei sollte nicht vergessen werden, dass auch das Holocaustgedenken nicht ohne (zivil)gesellschaftliche Kämpfe ermöglicht wurde. Wie auch immer 59

man die deutsche Staatsräson des Gedenkens einschätzen möchte, ihr ritualhafter Charakter ist ja oft (meines Erachtens zu Recht) kritisiert worden, ist das ein Verdienst jahrzehntelanger Arbeit. Ja, es gibt hier eine Ungleichzeitigkeit. Jedoch sollte die berechtigte Kritik an einem gesellschaftlichen Ungleichgewicht nicht zuerst bei den Grundüberzeugungen Vieler der Überlebenden des Holocaust ansetzen, sondern zuerst bei denjenigen, die Erinnerung politisch ausgestalten.

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2 Postmigrantische Realitäten in Deutschland und Anforderungen an die Erinnerungskultur

Politik der Empathie: Holocaust-Gedenken und Zugehörigkeit von muslimischen Menschen im Nachkriegsdeutschland Esra Özyürek

Die Tatsache, dass eine deutsche muslimische Minderheit, vor allem Deutsche mit türkischen oder arabischen Wurzeln, nicht richtig mit dem Holocaust umgeht, machte Holocaust-Aufklärern in den 1990er-Jahren Sorgen (vgl. Fava 2015) und war kürzlich Thema öffentlicher politischer Debatten. Im Juni 2015 erklärte Kurt Steiner, Abgeordneter der Christlich-Sozialen Union (CSU) in Bayern, dass Schüler und Schülerinnen aus muslimischen, Flüchtlings- oder Asyl suchenden Familien während ihrer Schullaufbahn keine Konzentrationslager besuchen müssen. Herr Steiner erklärte: „Muslime und Flüchtlinge haben keine Verbindung zur Geschichte des deutschen Nationalsozialismus. Und das sollte so bleiben“ (Smale 2015). Er erklärte ferner: „Ein achtsamer Blick, vor allem auf Schülerinnen und Schüler mit kognitiven und emotionalen Einschränkungen, ist notwendig“ (Smale 2015). Die Antwort von linksgerichteten Politikern ließ nicht lange auf sich warten. Georg Rosenthal von der Sozialdemokratischen Partei (SPD) erwiderte, dass der Besuch von Stätten der Naziverbrechen „vor allem für junge Migranten wichtig ist, damit sie verstehen, warum sie für die deutsche Geschichte Verantwortung übernehmen müssen“ (Smale 2015). Obwohl es keinen Konsens darüber gibt, was genau „falsch“ daran ist, wie eine deutsche und europäische muslimische Minderheit mit dem Holocaust umgeht, sorgte dies kürzlich für allgemeines öffentliches Unbehagen (vgl. Allouche Benayoun/Jikeli 2013). Tageszeitungen veröffentlichten Berichte, dass sich muslimische Schüler und Schülerinnen weigerten, an Besuchen von Konzentrationslagern teilzunehmen und das Thema des Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht zu behandeln (vgl. Komparanis 2008, Schmidl 2003). Rosenthals Aussage zeigt, dass der Kern des wahrgenommenen Problems eine emotionale (und kognitive) Herausforderung ist, die speziell der muslimischen Minderheit zugeschrieben wird und die verhindert, dass Angehörige der muslimischen Minderheit Empathie für jüdische Opfer des Holocaust zeigen. Pädagogen und Pädagoginnen beschweren sich oft bei mir und bei anderen über die unangemessenen Gefühlsäußerungen der muslimischen Minderheit in Bezug auf den Holocaust. Dabei geht es vor allem um Ängste, dass so etwas wie der Holocaust auch ihnen passieren könnte, um den Neid auf den Status als jüdische Opfer und um den Stolz auf ihre Herkunft. 64

Einige deutsche Experten und Expertinnen ziehen eine veraltete nationale Charakteranalyse heran und versuchen, die Wurzel des Problems über einen essenzialisierten Ansatz für türkische und arabische Kulturen zu erklären (vgl. Özyürek 2016). Sie behaupten, dass Araber und Araberinnen zur Selbstviktimisierung neigen und Türken und Türkinnen von Natur aus stolz sind und sie aufgrund dieser Eigenschaften nicht mit jüdischen Opfern mitfühlen können (vgl. Mueller 2017). Andere glauben, dass sich Migranten und Migrantinnen mit türkischen und arabischen Wurzeln eher auf sich selbst statt auf die Opfer des Holocaust konzentrieren, weil das deutsche Bildungssystem ihre Identitäten nicht anerkenne (vgl. Gryglewsky 2010). Während Experten und Expertinnen zu erklären versuchen, was falsch daran sei, wie muslimische Menschen mit dem Holocaust umgehen, und warum dies falsch sei, finanzieren Nichtregierungsorganisationen in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Österreich und in der Schweiz Dutzende von außerschulischen Programmen, die speziell dazu dienen, Mitglieder der muslimischen Minderheit über den Nationalsozialismus aufzuklären und sie zu ermuntern, sich in jüdische Opfer hineinzufühlen. In diesen Programmen werden Mitgliedern der muslimischen Minderheit „Hilfe, Überleben, Zivilcourage und Widerstand gegen autoritäre Strukturen“ im Rahmen ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft als demokratische Bürger und Bürgerinnen vermittelt (vgl. Doughan 2014). In Orientierungsprogrammen, die für (muslimische wie auch nicht-muslimische) Migranten und Migrantinnen organisiert werden, lernen die Teilnehmenden „der Ereignisse, die Jahrzehnte vor ihrer Ankunft in Deutschland stattgefunden haben, zu gedenken, diese zu betrauern und sich sogar für sie zu schämen“ (Autumn Brown 2014, S. 439). Trotz der speziellen Programme für nicht-deutsche Bürger und Bürgerinnen, vor allem mit türkischen, arabischen und anderen muslimischen Wurzeln, wird diesen Menschen weiterhin vorgeworfen, falsch mit dem Holocaust-Gedenken umzugehen und keine Verantwortung für dieses unglaubliche Verbrechen zu übernehmen. Was steckt hinter diesem starken Bedürfnis, Holocaust-Aufklärungsprogramme speziell für die ethnisierten Minderheiten zu entwickeln, die zunehmend als Gegner und Gegnerinnen der europäischen Identität gesehen werden? Was offenbart die allgemeine Überzeugung, dass eine regelmäßige Holocaust-Aufklärung über ethnische und religiöse Grenzen hinweg keine richtige Empathie hervorrufen kann, über die Beziehung zwischen Holocaust-Aufklärung und nationaler Identität in Deutschland? Dieser Artikel beschäftigt sich mit den Fällen, in denen die Reaktionen einer deutschen muslimischen Minderheit gegenüber dem Holocaust als unempathisch oder moralisch falsch verurteilt wurden. Er untersucht, wie Holocaust-Aufklärung und das moderne Verständnis von Empathie, wenn sie über die schlimmsten Auswüchse von Rassismus in der Geschichte lehren, manchmal auch dazu dienen können, Minderheiten aus dem deutschen/europäischen moralischen Universum und der nationalen Gemeinschaft auszuschließen. 65

Ein Rückblick auf die deutschsprachigen Diskussionen über Empathie im 20. Jahrhundert, wie sie vor allem von Edmund Husserl entwickelt wurden, offenbart eine viel komplexere und differenziertere Erfahrung intersubjektiver Verbindung. Auf dieser Grundlage betrachte ich die Holocaust-Aufklärung in Deutschland und die zugrunde liegende Konzeptionalisierung der Empathie. Ich kehre die Perspektive um und stelle damit nicht die Unangemessenheit der emotionalen Reaktionen der deutschen muslimischen Minderheit auf den Holocaust auf den Prüfstand. Stattdessen kann ich Annahmen über die deutsche nationale Zugehörigkeit im Besonderen und allgemeiner über jede nationale Identität infrage stellen, die eine einzige historische Perspektive als moralischen Standard bietet. Aufbauend auf Husserls Konzept der Intersubjektivität der Empathie sehen wir, dass der empathische Prozess durch die vorherige Erfahrung und Position der Empathisierenden und nicht durch ihre moralischen Eigenschaften geprägt wird.

Von der Einfühlung zur Empathie und wieder zurück Empathie ist wohl zur berühmtesten politischen Emotion des 21. Jahrhunderts geworden. Dutzende Erfolgsbücher erklären, wie wir empathischer werden können, um einen zivilisierteren und gleichberechtigteren Umgang in der Gesellschaft zu pflegen, bessere Beziehungen aufzubauen und beruflich erfolgreich zu sein. Neuere Studien zeigen, wie Empathie in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich definiert wird und unerwartete Solidaritäten und Möglichkeiten aktiviert (vgl. Pedwell 2014). Als der Begriff der Empathie Einzug in die deutsche Sprache fand und weiterentwickelt wurde, galt sie nicht immer als wünschenswerte Eigenschaft, die für ein moralisches, soziales oder politisches Leben notwendig ist. Der erste deutsche Philosoph, der sich mit dem Konzept der Einfühlung befasste, war der Romantiker Johann Gottfried Herder aus dem 18. Jahrhundert, der über eine Verbindung zwischen Fühlen und Wissen sprach (vgl. Edwards 2013). Robert Viseher hat den Begriff 1873 in seiner Dissertation zur Ästhetik populär gemacht und erklärt, dass er wörtlich genommen bedeute, sich in ein Kunstobjekt „hineinzufühlen“ (Viseher, 1993, S. 89–123). Theodor Lipps (1903) führte das Konzept in die Psychologie als grundlegende Fähigkeit ein, andere als denkende Wesen zu verstehen. Das Wort „Empathie“ tauchte zum ersten Mal 1909 in der englischen Sprache auf, als der Psychologe Edward Titchner von der Cornell University das deutsche Wort ins Englische übersetzte und es wie Lipps definierte. In den USA stützte sich Franz Boas auf das Konzept der Einfühlung, wie es Herder entwickelt hat, um die Grundlagen der anthropologischen Methode der Ethnografie zu beschreiben (vgl. Edwards 2013; Bunzl 2004). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Empathie als messbare 66

Eigenschaft eines Menschen oder einer Gruppe verstanden (vgl. Dymond, 1949; Norman/Leidling, 1956) – eine Eigenschaft, die vielen nicht-jüdischen Deutschen während und kurz nach dem Dritten Reich abgesprochen wurde (vgl. Parkinson 2015). Im letzten Jahrzehnt haben Anthropologen und Anthropologinnen die Rolle von positiven Emotionen wie Sympathie und Mitgefühl in der humanitären Politik kritisch untersucht (vgl. Fassin 2005). Eine Politik, die auf das Hervorrufen positiver Emotionen abzielt, endet oft darin, allgemeine Rechte zu missachten. Stützende Daten zeigen, wie dieser Prozess in Bezug auf politisches Asyl (vgl. Kelly 2012; Ticktin 2011), Wohltätigkeit (vgl. Elisha 2008; Mettermaier 2012), Entwicklungshilfe (vgl. Paragi 2017) und verantwortungsbewusste Regierungsführung (vgl. MacManus 2017) funktioniert. Auch haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen festgestellt, dass Mitgefühl eine privilegierte Position voraussetzt (vgl. Berlant 2004). Als Instrument des Neoliberalismus (vgl. Mühlbach 2011) hat es seine Wurzeln im Kolonialismus (vgl. Balkenhol 2016). In Anlehnung an Hannah Arendt argumentiert Mühlbach, dass die Steuerung der Politik über Emotionen wie Sympathie und Mitgefühl „die Bürger eher durch die Besonderheiten des Mitleidens und der pflichtbewussten Reaktion und nicht durch die Universalität der Rechte eint, eher durch die Leidenschaften, die durch Ungleichheit entfacht werden, als durch Annahmen der Gleichheit und eher durch Emotionen als durch Politik“ (Mühlbach 2011, S. 62). Es gab keine entsprechende Diskussion zum politischen Kontext der Empathie. Um ein komplexeres Verständnis der Empathie in ihrem sozialen und politischen Rahmen zu fördern, ohne ihre moralischen Auswirkungen vollständig zu verwerfen, folge ich dem Beispiel moderner psychologischer Anthropologen, die sich früheren Diskussionen über Empathie in der deutschen Sprache zugewandt haben, vor allem Edmund Husserl (vgl. Duranti 2010; Holland/Throop 2011; Throop 2012). Empathie ist laut Husserl die Grundlage intersubjektiven Erlebens. Das setzt jedoch nicht zwangsläufig ein gegenseitiges Verständnis voraus. Empathie bedeutet demnach nicht, dass „wir gleichzeitig zum gleichen Verständnis einer bestimmten Situation kommen (auch wenn dies passieren kann), sondern dass wir zunächst die Möglichkeit haben, die Plätze zu tauschen und die Welt aus der Sicht eines anderen zu sehen“ (Duranti 2010, S. 21). Die Komplexität der Empathie liegt gerade darin, dass Menschen sich zwar vorstellen können, Plätze zu tauschen und nachzuvollziehen, was andere von ihren unterschiedlichen Standpunkten aus erleben. Ein vollständiger Zugang zu ihrer Erfahrung ist jedoch nie möglich. In Husserls Worten: „Jeder Mensch hat vom gleichen Platz im Raum und bei gleicher Beleuchtung den gleichen Blick auf beispielsweise eine Landschaft. Doch niemals kann der andere genau zum selben Zeitpunkt wie ich genau die gleichen Eindrücke haben wie ich. Meine Eindrücke gehören zu mir, seine zu ihm“ (in Duranti 2010, S. 21). Wir können die Gefühle anderer immer falsch interpretieren, wie wir auch die Worte anderer falsch in67

terpretieren können (vgl. Leavitt, 1996). Wie Menschen die Lücke zwischen den Erfahrungen anderer und ihrem Verständnis dieser Erfahrungen füllen, ist ebenso komplex wie die ursprüngliche intersubjektive Verbindung. Husserls Konzept der Paarung gibt Aufschluss darüber, wie dieser Prozess der Lückenfüllung funktioniert (vgl. Throop 2008, S. 403–404). Ob nach Husserl oder nicht: Die Phänomenologie im Allgemeinen wurde oft dafür kritisiert, dass sie sich auf unmittelbare und subjektive Erfahrungen konzentriert, die objektive politische, soziale oder wirtschaftliche Bedingungen nicht berücksichtigen (vgl. Throop/Murphy 2002). Im letzten Jahrzehnt haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen erkannt, dass Husserls Verständnis von Empathie auch Geschichte, Politik und Gesellschaft einbeziehen muss, um zu verstehen, wie die intersubjektive Erfahrung geprägt wird (vgl. Desjarlais/Throop 2010). An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass Husserl bereits anerkennt, dass „das, was ich in der Vergangenheit gelernt habe, mich nicht unberührt lässt. Es prägt mein Verständnis und meine Interpretation neuer Dinge, indem es mich daran erinnert, was ich zuvor erlebt habe“ (Zahavi 2014, S. 132). Gerade vergangene Erfahrungen, ob zufällig oder strukturell, beeinflussen, wie zwei unterschiedliche Menschen auch dann unterschiedliche Erfahrungen machen, wenn sie ihre Plätze tauschen oder sich momentan an einem dritten Ort vorstellen können: wie es bei Mitgliedern einer muslimischen Minderheit (oder Mitgliedern einer muslimischen Mehrheit) der Fall ist, die mit den jüdischen Opfern des Holocaust mitfühlen. Somit ist die empathische Erfahrung nicht nur körperlich, sondern auch sozial und historisch verortet. Diese Verortung der intersubjektiven Erfahrung ist einfacher zu verstehen, wenn wir Husserls Verständnis von Empathie mithilfe einer einfachen Analogie des Schuhtauschs erläutern. Die Empathisierende zieht nicht einfach irgendein Paar Schuhe aus, um in ein anderes Paar zu schlüpfen, sondern zieht ein bestimmtes Paar Schuhe aus. Das kann ihr Lieblingspaar sein oder eines, das ihr zu eng ist. Somit ist der Prozess der Paarung, der das Entstehen von Empathie ermöglicht, nicht abstrakt. Stattdessen werden besondere Schuhe gepaart, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort unter bestimmten Umständen von Menschen mit einem bestimmten gesellschaftlichen Status getragen wurden, die für bestimmte kulturelle Einflüsse empfänglich sind. Jeder hat die Fähigkeit, sich in die Schuhe eines anderen hineinzuversetzen. Nichtsdestotrotz werden die emotionalen Reaktionen, die der Schuhtausch in jedem Menschen auslöst, durch individuelle vergangene Erfahrungen und die gesellschaftliche Stellung geprägt. Dieses Konzept der Intersubjektivität verdeutlicht uns, dass Geschichte, Gesellschaft und Politik immer Teil des direkten Erlebens sind und damit auch niemals eine empathische Vorlage für eine bestimmte Situation sein können. Dies zeige ich am folgenden Beispiel einer deutschen Minderheit und ihrer Beziehung zu jüdischen Opfern des Holocaust.

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Geschichte der Empathie nach Auschwitz Nach ihrem Sieg 1945 haben die alliierten Truppen Deutschland mit dem erklärten Ziel besetzt, das physisch, politisch und moralisch zerstörte Land in eine friedliche und erfolgreiche Demokratie zu verwandeln. Sie betrachteten den Nationalsozialismus als eine Art deutscher Ausnahmeerscheinung und sahen die Ursachen des Faschismus in der Kultur und Psychologie der Deutschen. Für Amerikaner und Amerikanerinnen, die stärkste alliierte Macht, war Demokratie nicht nur eine Sache von Wahlen, Rechtsprechung und Parlament, sondern „auch eine Verhaltensweise, eine öffentliche Einstellung und eine affektive Beziehung zum Staat, unabhängig von jenen anderen politischen Institutionen“ (Fay 2008, S. xiv). Die Amerikaner trieben verstärkt die Idee voran, dass es für Deutschlands Umerziehung und Normalisierung entscheidend sei, bestimmte Emotionen für die Opfer des Nationalsozialismus zu wecken (vgl. Parkinson 2015). Die westlichen Alliierten versuchten, die Deutschen dazu zu bringen, sich ihrer Taten bewusst zu werden, indem sie sie durch Todeslager führten und ihnen Filme und Fotos von leidenden Opfern zeigten (vgl. Jarausch 2006). Bei diesen Aktionen haben sie die Gefühlsäußerungen der Deutschen ganz genau beobachtet. In ihrer Studie über das Nachkriegsdeutschland diskutiert Anne Parkinson, wie fehlende Emotionen und insbesondere fehlende Melancholie und Traurigkeit oft als Wurzel des deutschen Problems und als das Element angesehen wurden, das die Deutschen für die Demokratie untauglich machte. Ihrer Auffassung nach charakterisierten sowohl Amerikaner und Amerikanerinnen als auch Deutsche das Nachkriegsdeutschland als „an Gefühlskälte und Gefühlsstärke, erstarrtem Affekt und emotionalem Unvermögen leidend“ (Parkinson 2015, S. 5; Hervorhbg. i. Orig.). Soziologen, Psychologen und Anthropologen kamen in den USA im Rahmen neuer Finanzierungspläne zusammen, um herauszufinden, was mit der emotionalen Struktur der deutschen Kultur falsch war und wie sie repariert werden könnte (vgl. Fay 2008). Der deutsche Philosoph Theodor Adorno spielte eine wichtige Rolle dabei, einen Ansatz für die Aufarbeitung des Holocaust zu finden, wie wir ihn heute kennen. Als einer der Begründer der kritischen Theorie der Frankfurter Schule verbrachte Adorno den Zweiten Weltkrieg im Exil in den USA. Während dieser Zeit schrieb er über die deutsche autoritäre Persönlichkeit, Antisemitismus, Propaganda und die Entwicklung der deutschen Demokratie (vgl. Mariotti 2016). Bei seiner Rückkehr nach Deutschland wirkte er maßgeblich an der Gestaltung der politischen Kultur im Nachkriegsdeutschland mit. Er mahnte, dass „die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, die allererste an Erziehung ist“ (Adorno 2005, S. 191). Adorno glaubte, dass die richtige Erziehung reife, selbstkritische und selbstbewusste Bürger und Bürgerinnen hervorbrächte, die gegenüber autoritären Tendenzen resistent wären (vgl. French und Thomas, 1999). Er plädierte für

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einen konfrontativen sozialpsychologischen Umgang mit der NS-Vergangenheit (vgl. Messeth 2012) und eine kritische Selbstreflexion (vgl. Cho 2009). Die deutsche Erinnerungskultur und die Holocaust-Aufklärung haben sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehrfach gewandelt. Bei jeder Wandlung stießen die Tendenzen zu einer „Institutionalisierung einer rituellen Scham“ (Fullbrook, 1999) oder „ritualisierten Reue“ (Olick 2007) mit dem Wunsch zusammen, alle Deutschen als Opfer des Krieges anzuerkennen und die Verbrechen der Nationalsozialisten zu relativieren (vgl. Niven 2006). In den 1980er-Jahren argumentierten konservative deutsche Historiker, dass es an der Zeit sei, einen positiven Nationalismus anzunehmen und zu akzeptieren, dass die Nazi-Verbrechen grausam, aber vergleichbar mit anderen totalitären Gräueltaten seien, vor allem mit jenen der UdSSR (vgl. Kampe, 1987). Nach der deutschen Wiedervereinigung berief sich der Philosoph Jürgen Habermas in seinem entschiedenen Widerstand gegen diejenigen, die den Holocaust relativieren und verharmlosen wollten, auf Adornos Vermächtnis. Damit „übersetzte er Adornos Standpunkt zu den pädagogischen Zielen der Geschichtsaufarbeitung als Modell kritischen Gedenkens in ein Protokoll idealer Staatsbürgerschaft“ (Ball 2009, S. 47) in Deutschland und auch in Europa. Wichtige Projekte nach der Wiedervereinigung wie zum Beispiel das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das 2005 in Berlin eingeweiht wurde, und die Gründung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) im Jahr 2000 zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern sind Ausdruck von Habermas’ Einfluss, indem sie Juden als Opfer und Deutsche mit Wurzeln im Dritten Reich als Täter und Täterinnen der Verbrechen des Nationalsozialismus herausstellen (vgl. Wolfgram 2010). Im heutigen Deutschland gilt ein selbstbewusster, selbstkritischer und opferzentrierter Ansatz für den Holocaust als „Hauptgarant für die Stabilität von Deutschlands freiheitlich-demokratischer Ordnung“ (von Bieberstein 2016, S. 909). Ironischerweise beschränkt der Ansatz, der sich einer Relativierung des Holocaust widersetzt, die Verantwortung für und den Nutzen aus den Lehren vom Holocaust auf eine ethnisierte deutsche Nation und ihre europäischen Kollaborateure. Wie Michael Rothberg und Yasemin Yildiz es formulierten, besteht der Widerspruch der deutschen Erinnerungskultur darin, dass „es nach dem Völkermord durch die Nazis notwendig schien, eine ethnisch homogene Vorstellung von deutscher Identität zu bewahren, um die Verantwortung der Deutschen für die Verbrechen der jüngeren Vergangenheit sicherzustellen, obwohl gerade diese Vorstellung von Ethnizität eine der Ursachen dieser Verbrechen war“ (Yildiz 2011, S. 35). Im Jahre 1998 sprach sich beispielsweise der deutsch-jüdische Historiker Dan Diner gegen eine Änderung des Staatsbürgerrechts aus, das eine Einbürgerung von Migranten und Migrantinnen erleichtern sollte, da seiner Meinung nach die Zugehörigkeit zur deutschen Nation aus den Erinnerungen an den Holocaust und seiner Ablehnung entsteht. „Jene, deren Erinnerung bis in die Nazi-Vergangenheit zurückreicht, gehören durch ihre Ablehnung vor allem 70

dialektisch einem ethnifizierten deutschen Kollektiv an. Deutsche sind jene, [die] ihre Zugehörigkeit über die Ablehnung der Nazi-Vergangenheit definieren. Ein deutscher Bürger mit türkischen Wurzeln kann schlecht vollkommen zu einem solchen Kollektiv gehören. Er kann nicht das gemeinsame ,wir‘ in Bezug auf die kontaminierte Vergangenheit Deutschlands benutzen“ (Diner in Rothberg/Yildiz 2011, S. 35). Nach dieser Ansicht waren Nachzügler und Nachzüglerinnen, die nicht direkt am Holocaust beteiligt waren, aus der nationalen Erinnerungskultur Deutschlands ausgeschlossen (vgl. Konuk 2007; Rothberg/Yildiz 2011; Chin/Fehrenbach 2009; Partridge 2010; Baer 2013).

Falsche Empathie für den Holocaust Ich habe diese Fälle während meiner ethnografischen Untersuchung zu muslimischen Minderheiten und Holocaust-Aufklärung in Deutschland, die ich über einen Zeitraum von fünf Jahren von 2006 bis 2008, 2009 bis 2011 und 2013 bis 2014 durchführte, und bei mehreren Kurzbesuchen zwischen 2016 und 2019 beobachtet. Diese Untersuchung ist in meinem demnächst erscheinenden Buch Subcontractors of Guilt: Holocaust Memory and Muslim Belonging in Post-War Germany (vgl. Özyürek 2023) dokumentiert. In diesem Artikel gehe ich auf einen dieser ethnografischen Fälle ein. Nazmiye ist eine zierliche, wortgewandte Frau in den Vierzigern, die in der Türkei geboren wurde und im Alter von sieben Jahren nach Deutschland kam. Ich habe sie getroffen, weil ich gehört hatte, dass sie Migrantinnen über den Holocaust aufklärt. Sie war die Koordinatorin der „Stadtteilmütter“ in Neukölln, ein Projekt, in dem Migrantinnen anderen Migrantinnen effektive Erziehungsmethoden beigebracht haben. Als sie 2006 mit der Aufklärungsarbeit begann, gab es viele Diskussionen über die Pogrome gegen die Juden: „Weil ich im Alter von sieben Jahren nach Deutschland gekommen war, wusste ich von den Pogromen. Doch die Frauen, die in der Türkei aufgewachsen waren, wussten nichts darüber. Ungefähr zur gleichen Zeit reiste der Neffe meiner Freundin nach Österreich. Dort kaufte er ein Exemplar von Hitlers Mein Kampf und sprach darüber. Zu der Zeit gab es viele Angriffe gegen Ausländer in Ostdeutschland. Wir wollten herausfinden, was der Grund für diesen Ausbruch an Hass war.“

Ein Partner der Stadtteilmütter ist die „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“, die größte christliche Organisation in Deutschland, die sich der Sühne für den Holocaust verschrieben hat. Sie organisierte in kurzer Zeit ein Programm über die Nazi-Zeit für die Mütter aus Neukölln. Nazmiye hat mir erzählt, dass sie durch das Programm viel gelernt haben, dass es sie aber auch sehr verstört hat: „Wir waren alle schockiert. Wie konnte eine Gesellschaft so fanatisch werden? Wir be71

gannen uns zu fragen, ob sie uns das Gleiche antun konnten. Wir verbrachten viel Zeit mit Überlegungen, ob wir uns in der gleichen Lage wie die Juden wiederfinden würden.“ Juliana erzählte mir, dass das genau die Position ist, die deutsche Pädagogen und Pädagoginnen so verstörend finden, wenn sie Minderheiten über den Holocaust unterrichten. Andere Deutsche fanden es offenbar noch unerträglicher und reagierten barsch, als Nazmiye und ihre Freundinnen ihre Befürchtung äußerten: „Einen Monat später waren wir im Rahmen unseres Programms in einer Kirche in Nikolassee. Wir erzählten ihnen von unserem Projekt und dass wir befürchteten, auch Opfer zu werden. Die Menschen in der Kirche wurden richtig wütend auf uns. Sie sagten uns, wir sollten zurück in unser Land gehen, wenn wir so etwas dachten. Mich hat ihre Reaktion sehr überrascht. Ich konnte nicht verstehen, dass das keine berechtigte Frage war. Deutsche können diese Frage auch stellen. Im Neuköllner Stadtparlament ist die NPD [National-Demokratische Partei, eine neonazistische Kleinpartei] vertreten. Sie sind sehr stark in Ostdeutschland. Warum sollte ich mir keine Sorgen über die Nazis machen?“

Während der hitzigen Diskussion wiederholte Nazmiye die Aussage des Holocaust-Überlebenden Primo Levi, dass es einmal passiert sei und deshalb wieder passieren könne. Doch das brachte die Frauen in der Kirche nur noch mehr auf. Nazmiye und ihre Freunde und Freundinnen wurden gebeten, die Kirche zu verlassen. Nazmiyes Gesicht wurde rot, als sie mir diese Geschichte erzählte. Sie durchlebte erneut den Schock, den sie empfand, als sie auf diese ungeheure Wut stieß. Sie hatte eher erwartet, für ihr Interesse an der Geschichte des Landes, dessen Staatsbürgerin sie nun war, Anerkennung zu erhalten. Seit dem Abschluss meiner Untersuchung ist die Zahl islamfeindlicher Angriffe in Deutschland drastisch gestiegen. Im ersten offiziellen Bericht zu Hasskriminalität gegen Muslime in Deutschland hat das deutsche Innenministerium berichtet, dass im Jahre 2017 fast 1000 Hassverbrechen gegen Muslime und Moscheen verübt wurden. 33 Menschen wurden dabei verletzt (vgl. Deutsche Welle 2018). Diese Angriffe verstärken die Angst in der muslimischen Minderheit. Während meiner Interviews fand ich heraus, dass die Angst bei Einwanderern und Einwanderinnen der ersten Generation verbreiteter war als bei Angehörigen der zweiten und dritten Generation. Auf die Frage, ob sie glauben, dass etwas wie der Holocaust noch einmal in Deutschland passieren könnte, erklärten fast alle türkisch- und arabischstämmigen Deutschen der zweiten und dritten Generation, die in Deutschland aufgewachsen waren, überzeugt, dass dies unmöglich wäre, auch wenn Rassismus weiterhin in Teilen der deutschen Gesellschaft existiert. Eine häufigere Reaktion, die ich in Bezug auf das Holocaust-Gedenken bei muslimischen Deutschen der zweiten und dritten Generation beobachtete, war ein Gefühl der Ungerechtigkeit, weil die Diskriminierung gegen Muslime in Deutsch72

land und in der Welt nicht anerkannt werde. Diese emotionale Reaktion erinnert an die Rivalität oder den Neid unter Geschwistern und ist eine Reaktion, die Holocaust-Aufklärer und -Aufklärerinnen häufig als „Opferkonkurrenz“ abtun.

Schlussfolgerung Anders als in den meisten westlichen liberalen Demokratien fördert die Inanspruchnahme des Opferstatus (vgl. Fassin/Rechtman 2009) in Deutschland keine politische Legitimität (vgl. Niven 2006). Somit erschwert sie die Inanspruchnahme des Opferstatus durch andere Gruppen, die keine Holocaust-Opfer sind (vgl. von Bieberstein 2016). Gleichzeitig wandelt sich der Holocaust seit der Wiedervereinigung von einer Last lähmender Scham zu einem Beweis deutscher Verantwortung (vgl. Markovits 2006; Welch/Wittlinger 2011). Die Fähigkeit Deutschlands, sich seiner dunklen Vergangenheit zu stellen, wird zunehmend als Zeichen einer besonderen moralischen Eigenschaft gesehen, die das Land dazu berechtigt, auf der Weltbühne wieder eine Rolle einzunehmen (vgl. Frochtner 2014). Wenn eine muslimische junge Minderheit mit Juden um den Opferstatus zu konkurrieren scheint oder Befürchtungen äußert, dass etwas wie der Holocaust auch ihnen passieren könnte, verlieren sie ihre Chance, im Diskussionskreis in Auschwitz und außerhalb rechtmäßig gehört zu werden. Solche Äußerungen unterstreichen den Vorwurf, dass die muslimische Minderheit emotional und kognitiv unzulänglich und moralisch ungeeignet sei, legitime Mitglieder der deutschen Gesellschaft zu sein. Wenn muslimische Deutsche Angst äußern, wird ihnen ein Mangel an kognitiven Fähigkeiten unterstellt, die notwendig sind, um zu verstehen, wie sehr sich das heutige Deutschland von dem der 1930er-Jahre unterscheidet. Oder es wird ihnen die Reife abgesprochen, die sie für die volle Teilhabe an der deutschen Demokratie benötigen. Auf der anderen Seite liefert uns eine andere – verortete – Perspektive auf Empathie Hinweise darauf, wie solche unvorhergesehenen Emotionen zu verstehen sind, die eine tiefe Verbindung mit den jüdischen Opfern des Holocaust und neue, nicht-nationalistische Beiträge zur Tradition der deutschen Vergangenheitsbewältigung beinhalten. Edmund Husserl sagt uns, dass die Herstellung einer intersubjektiven Verbindung basierend auf unserer eigenen persönlichen Erfahrung der Ausgangspunkt dafür sei, einen Einblick in die Erfahrungen anderer Menschen in ihren eigenen Körpern zu gewinnen. Seiner Ansicht nach erfassen wir den Körper eines anderen als etwas, das unserem eigenen ähnelt (vgl. Luo 2017, S. 45). Unerwartete und unvorhergesehene emotionale Verbindungen, die eine deutsche Minderheit, die Diskriminierung erlebt hat, mit den jüdischen Holocaust-Opfern aufgebaut hat, zeigen, dass unsere gesellschaftlich verortete Erfahrung entscheidend dafür ist, uns in die Erfahrungen anderer hineinzudenken. Wenn wir ethnisierte, klassifizierte oder vergeschlechtlichte Menschen sehen, vor allem jene, die Diskrimi73

nierung erfahren haben, gewinnen wir Einblicke darin, wie sie sich möglicherweise fühlen, weil wir alle einen bestimmten Status in einer Gesellschaft haben, der Menschen in Bezug auf diese Kategorien einordnet. Diese Empathie erklärt, warum einige türkisch- und arabischstämmige Deutsche bei einer Konfrontation mit dem Gedenken an den Holocaust befürchten, dass sie Opfer werden könnten, wenn so etwas noch einmal passierte. Andere stellen Ähnlichkeiten zwischen ihrer eigenen Ethnisierung und jener der Juden und Jüdinnen her und verspüren Neid, dass der Antisemitismus anerkannt ist, die Islamfeindlichkeit aber nicht. Die unerwarteten Gefühle, die Deutsche mit muslimischen Wurzeln während meiner Studien vor Ort äußerten, laufen den Erwartungen der Holocaust-Aufklärungsprogramme zuwider, die darauf abzielen, Gefühle wie Reue und Verantwortung hervorzurufen. Muslimen, die davon abweichende Emotionen äußern, wird vorgeworfen, dass sie nicht über die moralischen Eigenschaften und die Fähigkeit verfügen, gute Staatsbürger zu sein. Das Verständnis der Empathie nach Husserl zeigt uns jedoch, dass Gefühle, die durch das Anziehen fremder Schuhe ausgelöst werden, mit den Schuhen beginnen und enden, die man bereits besitzt. Daher werden ein:e Deutschstämmige:r und ein:e ethnisierte:r Deutsche:r einer Minderheit, die unterschiedlich positionierte Schuhe tragen, nicht dasselbe empfinden, wenn sie sich in die Lage jüdischer Holocaust-Opfer versetzen, bevor sie am Ende wieder ihre eigenen Schuhe anziehen. Solange sie jedoch Schuhe tauschen, erleben sie eine starke empathische Verbindung mit den Opfern des Holocaust. Auch wenn die Holocaust-Aufklärungsprogramme in Deutschland mittlerweile anerkennen, dass nicht jeder in Deutschland deutschstämmig mit Wurzeln im Dritten Reich ist, erkennen viele nicht, dass eine vielfältige Gesellschaft unterschiedliche legitime Reaktionen selbst auf die größten Katastrophen und die schlimmsten Vergehen hervorrufen wird. Ironischerweise sind ansonsten bewundernswerte Bemühungen zur Aufarbeitung der rassistischen Vergangenheit Deutschlands auch zu einem Mechanismus geworden, um ethnisierte Minderheiten aus der moralischen Gemeinschaft der deutschen Nation auszuschließen. Zu einer Zeit, in der die Täter und Täterinnen und Überlebenden des Holocaust sterben und die deutsche Gesellschaft immer vielfältiger wird, basiert die deutsche nationale Eigendefinition weiterhin auf einem einzigen Modell der empathischen Verbindung zu den Opfern des Holocaust. Jene, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland gekommen sind, stellen dieses Konzept infrage und zeigen, dass es viele Wege gibt, um sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen, viele Wege, um zu erschließen, was seine Opfer durchgemacht haben müssen, und viele Wege, um daraus Lehren für die Gegenwart zu ziehen.

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Say yes to the mess: Ideelle Gesamterinnerung und narzisstische Differenzkämpfe in der Gesellschaft der Vielheit Mark Terkessidis

Autoritäres Harmoniebedürfnis Es mag seltsam erschienen, das Durcheinander als etwas Positives zu sehen. Aber die Akzeptanz des Durcheinanders ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, die hart erkämpfte Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland den doch reichlich veränderten Verhältnissen anzupassen. Seitdem die Erinnerung an den Holocaust eine selbstverständliche, erinnerungspolitische Konstante geworden ist, gibt es zunehmend Versuche, eine ideelle Gesamterinnerung zu deklarieren, zu definieren und mit klaren Vorgaben und Grenzen zu versehen. Die Erinnerung an die Opfer der Shoah wird dabei zunehmend zu „unserer“ Erinnerung. So betonte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, im Sommer 2022, der Präsident der palästinensischem Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, habe „jegliche Sensibilität gegenüber uns deutschen Gastgebern (!) vermissen lassen“, als dieser den Holocaust in Verbindung brachte mit der Situation der Palästinenser. Eine so verstandene Gesamterinnerung lässt auch autoritäre Maßnahmen gerechtfertigt erscheinen. Nach dem Eklat um die antisemitischen Darstellungen auf dem Bild des Kollektivs Taring Padi auf der documenta 15, das völlig zu Recht entfernt wurde, forderte Daniel Botmann (Geschäftsführer des Zentralrats der Juden) in einem Fachgespräch des Kulturausschusses des Bundestages im Juli 2022 ein „Zugriffsrecht des Staates“ auf die documenta und zugleich einen „Selbstreinigungsprozess“ der Kultureinrichtungen, durch den verdächtige Personen in Leitungspositionen ersetzt werden sollten (insbesondere beim Haus der Kulturen der Welt in Berlin). Erstaunlich hierbei ist ein neues, fast unbegrenztes Vertrauen auf die „Sensibilität“ des deutschen „Wir“ sowie auf den Staat selbst, das zumal historisch kaum gerechtfertigt erscheint. Diese Gesamterinnerung beinhaltet auch ein Vergessen. Aus der Erinnerung getilgt werden so nicht nur die Gründe für die Zurückhaltung des Staates bei „Zugriffen“, sondern auch die Kämpfe rund um Erinnerung, die in den 1960er-Jahren begannen („Muff von 1000 Jahren“) und sich noch weit bis in die frühen 2000er-Jahre hinzogen (zum Beispiel rund um die „Wehrmachtsausstellung“). Die Erinnerung an diese Kämpfe würde vielleicht auch dazu führen, dass manche Politiker*innen die Rolle ihrer eigenen Parteien in diesen Geschichtskämpfen noch einmal überdenken. Im Grunde handelt es sich bei der „Verstaat76

lichung der Erinnerung“ (Wiedemann 2022, S. 109) um den Wunsch, ähnlich wie bei „Integration“ zu einer prästabilisierten Harmonie zurückzukehren, die es eigentlich nie gab: Das Durcheinander der zunehmend vielheitlichen Gesellschaft sowie die neuen Ansprüche an eine Erweiterung der Erinnerung etwa in postkolonialer Hinsicht sollen abgewehrt oder einreguliert werden. Aus dieser Idee einer „Gesamterinnerung“ speist sich auch das Bedürfnis nach einem Rezeptwissen für die erinnerungspolitische Vermittlung, was wiederum für arg vereinfachte Fragestellungen sorgt. Anstatt sich angesichts des demografischen Wandels durch die Migration die Frage nach einer Neuverhandlung von Erinnerung zu stellen, lautet das Thema seit einigen Jahren: Wie gehen „sie“ mit „unseren“ Ansprüchen an Erinnerung um?

Folgenloses Unternehmer*innentum Nun ist die Neuverhandlung dennoch voll im Gange, so fordern etwa Schwarze Initiativen und andere zivilgesellschaftliche Organisationen seit geraumer Zeit eine „Dekolonisierung“ der Erinnerung. Tatsächlich sind die Rolle des transatlantischen Sklavenhandels und später der kolonialen Expansion als Grundlage und anderer Schauplatz der europäischen und teilweise auch deutschen Geschichte zumindest in Westdeutschland ziemlich vernachlässigt worden. Allerdings zeigt sich in diesem Feld auch ein erheblicher Narzissmus der Differenz oder anders gesagt: ein Unternehmer*innentum in Sachen Erinnerung. Im Gefolge der Bewegung „Black Lives Matter“ wurde das selbstverständlich völlig gerechtfertigte aktivistische Anliegen von allen möglichen Seiten kapitalisiert: durch den Verkauf von George-Floyd-Memorabilia, durch diverse Gesten wie das elektronische Verbreiten von Kacheln o. Ä., die eher dem eigenen Wohlbefinden dienten als der Sache selbst, oder durch die Besetzung von minoritären Positionen durch Forscher*innen, Journalist*innen oder Unternehmensberater*innen, die „Aktivismus“, „Dekolonisierung“ des Wissens oder „Rassismuskritik“ für sich in Anspruch nahmen, ohne zuvor im realen Aktivismus besonders aufgefallen zu sein. Tatsächlich gingen viele ganz einfach weiter ihren gewöhnlichen Tätigkeiten an Universitäten, in Medien oder bei Unternehmen nach. Diese Bemerkungen sollen keineswegs die Empörung um den Tod von George Floyd diskreditieren oder die Politisierung, die darauf teilweise folgte, aber schon damals verwunderte es sehr, dass ein Tod durch Polizeigewalt in den USA mehr Proteste auslöste als irgendein Fall von rassistischer Gewalt in Deutschland selbst. Und ganz offensichtlich ist die Welle der Empathie längst weitergezogen. Im August 2022 rückten in Dortmund zwölf Beamt*innen in einer Einrichtung der Dortmunder Jugendhilfe an, weil der aus dem Senegal geflüchtete 16-jährige Mouhamed Dramé suizidale Tendenzen zeigte und ein Messer besaß. Während des Einsatzes sprühten die Beamt*innen diesem psychisch kranken Jugend77

lichen Pfefferspray ins Gesicht, um ihn von einer Waffe zu trennen, die er primär auf sich selbst richtete. Am Ende wurde der junge Mann von fünf Schüssen quasi durchsiebt. Dieser rassistische Mord – zwölf Einsatzkräfte, ein brutal getöteter 16-Jähriger – wurde weder so benannt noch sorgte die Tat überhaupt für größere Aufregung über Dortmund hinaus (vgl. Süddeutsche Zeitung 2022). Ein Hinweis auf Unternehmer*innentum und Narzissmus in den erinnerungspolitischen Debatten scheint daher angebracht, zumal manche „Aktivist*innen“ auch sehr harsche und unversöhnliche Positionen beziehen, da sie sich für die Ergebnisse ihres Tuns weniger interessieren als für die Gewinne in Sachen Wohlbefinden und Aufmerksamkeit, die sich daraus ergeben.

Falsche Oppositionen versus Vielheit der Erinnerung Dennoch kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass die vorgebrachten Ansprüche auf allen Seiten zumeist gerechtfertigt sind: Nicht nur soll die Erinnerung an den Holocaust angesichts der Monstrosität des Verbrechens weiter eine herausgehobene Rolle spielen, sondern die kolonialen Verstrickungen müssen ebenfalls ihren Ort finden. Erinnerung aber, das hat Michael Rothberg betont, ist kein „Nullsummenspiel“ (Rothberg 2009). Die Debatte um die documenta 15 hat dann gezeigt, wie die notwendige Auseinandersetzung in den Medien auf eine geradezu vulgäre Binarität zusammenschrumpfte. Das ganze Feld möglicher Diskussionspunkte wurde auf eine einfache Opposition gebracht: Auf der einen Seite wurde eine Rassismuskritik platziert, die für den „globalen Süden“ spricht, auf der Unterscheidung „Schwarz-weiß“ basiert und die Geschichte des Kolonialismus aktualisiert; auf der anderen eine Antisemitismuskritik, die auf der Singularität oder „Präzendenzlosigkeit“ des Holocaust besteht. Die Rassismuskritik steht dabei unter Verdacht, den Staat Israel als Fortsetzung des Kolonialismus zu sehen und daher zu bekämpfen und gilt daher als antisemitisch. Die Antisemitismuskritik wird angeklagt, die weißen Privilegien ihrer Protagonist*innen nicht zu reflektieren und ihre Position durch Rassismus abzusichern. Nun gibt es mehr Personen, die differenziert argumentieren, als solche, die diese schlichten Positionen vertreten, aber im öffentlichen „Diskurs“ werden alle Äußerungen auf diese Opposition zugeschnitten und nur noch jene Stimmen tauchen auf, die innerhalb dieses Schemas funktionieren. In solchen „Debatten“ wird das erwähnte Durcheinander unkonstruktiv verengt. Nun gehört dieses Durcheinander zu einer Gesellschaft, die in einem starken, philosophischen Sinne eine Vielheit geworden ist. Bei den unter Sechsjährigen in den Städten der alten Bundesländer hat eine Mehrheit der Kinder mindestens ein selbst eingewandertes Elternteil. Das kann Erinnerung nicht unberührt lassen. Hier eine harmonisierte deutsche Geschichte als „unsere“ Geschichte zu erzählen, als Geschichte von Personen einer bestimmten Herkunft oder als Ge78

schichte aus „deutscher“ Perspektive, wird zur Makulatur. In dieser Gemengelage vervielfältigen sich die Sichtweisen der Vergangenheit und auch die Ansprüche an die Bearbeitung dieser Vergangenheit weit über einfache Oppositionen hinaus. In diesem Sinne scheint mir auch interessant, welche Nachfragen und Ansprüche in der aktuellen Debatte überhaupt nicht gehört oder rundweg abgewehrt werden. So haben syrische Geflüchtete, die im Rahmen eines Projektes das Museum für Islamische Kunst in Berlin besuchten, immer wieder die Frage gestellt, warum sich eigentlich all diese Gegenstände in diesem Museum befanden, Gegenstände, die sie eher im eigenen Kontext verorteten. Dieser Frage wurde allerdings in den Kultureinrichtungen überhaupt nicht nachgegangen. Kurze Zeit später dann eskalierte die Debatte um die Sammlungen des Humboldt Forums. Ein anderes Beispiel sind die ost- und südosteuropäischen Reparationsansprüche für die Verheerungen im Zweiten Weltkrieg, die zuletzt wieder aus Polen artikuliert wurden. Dass der deutsche Staat diese Ansprüche vehement zurückweist, ist ohnehin bekannt. Aber ein Blick etwa auf die Berichterstattung in der Presse zeigt, wie auch in der sogenannten „Öffentlichkeit“ die kürzlich erschienenen Berichte (vgl. The Report on the Losses Sustained by Poland as a Result of German Aggression and Occupation During the Second World War 1939–1945 2022) diskreditiert oder die Forderungen nachgerade abgebügelt werden. Dass die Berichte nicht immer ausgewogen sind oder die jeweiligen Akteur*innen auch innenpolitische Ziele verfolgen, macht die Ansprüche alles andere als illegitim. Deren Bearbeitung im Rahmen der „Vergangenheitsbewältigung“ wäre auch deswegen relevant, weil Personen polnischer Herkunft eine der größten Herkunftsgruppen darstellen und deren Perspektiven auf Geschichte zweifellos nicht vernachlässig werden können. Zudem gibt es in einer Gesellschaft der Vielheit auch Erinnerungen, die in Deutschland eine Rolle spielen, aber sozusagen ohne Deutschland auskommen. In den Kommunen moderieren die Bürgermeister*innen heute ganz selbstverständlich auch Konflikte, die über türkische Geschichte geführt werden, etwa über den Völkermord an der armenischen Minderheit oder die historische und aktuelle Politik gegenüber den Bürger*innen kurdischer Herkunft in der Türkei. Kürzlich hat der türkische Präsident zudem tief in die historische Kiste gegriffen, als er im Ägäis-Konflikt mit Griechenland der anderen Seite mit militärischer Intervention drohte und dabei meinte: „Wir haben Griechenland nur einen Rat zu geben: Vergesst Izmir nicht!“ Damit verwies er auf die Katastrophe in Smyrna 1922, bei der die türkischen Truppen die dort lebende griechische Bevölkerung (die mindestens die Hälfte der Einwohner*innen stellte) terrorisierte, ihren Besitz plünderte, Menschen mordete und Häuser brandschatzte. Es geht hier nicht darum, die damalige Kriegsschuldfrage zu klären oder auch im heutigen Konflikt moralisch zu entscheiden. Relevant ist nur, dass die Erinnerung an die „kleinasiatische Katastrophe“ bei vielen Personen griechischer Herkunft eine Rolle spielt, die wie ich 79

Verwandte hatten, die etwa aus dem ehemaligen Smyrna stammten. Auch diese Erinnerungen spielen eine Rolle, weil sie in Deutschland aktualisiert werden und sozusagen aktiv sind. Zugleich betreffen sie die deutsche Geschichte im engeren Sinne gar nicht.

Wissensmangel und Mangel an Wissensbildung Wo also anfangen? Als Julia Alfandari und Meron Mendel bei der documenta an einem eigens eingerichteten Infostand über die antisemitischen Motive auf dem Bild von Taring Padi diskutieren wollten, stießen sie schnell an viele Grenzen, zumal solche des Wissens über Antisemitismus: „Es war auch interessant zu sehen, wie wenig Wissen die Besucher über antisemitische Bildsprache und Stereotype mitbrachten“ (Alfandari/Mendel 2022). Dieses Phänomen ist nicht neu. Ich habe Mitte der 1990er-Jahre begonnen, über Rassismus zu forschen, und der Wissenstand hat sich bis heute nur sehr langsam verbessert. Aber woher soll dieses Wissen auch kommen? Für Antisemitismus gibt es immerhin ein Forschungszentrum, für Rassismus fehlt eine derartige Einrichtung bis heute. Im Maßnahmenkatalog des „Kabinettsausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ tauchte das Wort Forschung ständig auf. Aber wie Mittel vergeben werden, erscheint kaum transparent. Woher die Entscheidungsgremien ihre Expertise beziehen, bleibt ebenso unklar wie die Vergabekriterien. Das damals konservativ besetzte Innenministerium präferierte das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) mit einem Projekt über „Rassismus in staatlichen Institutionen“ (Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt o. J.). Der Projektleiter Professor Gert Pickel allerdings hat erstaunlich wenig fachliche Qualifikation auf diesem Feld: Unter den Publikationen des Religions- und Kirchensoziologen befindet sich nicht eine einzige, die den Begriff Rassismus überhaupt im Titel trägt. Auf der anderen Seite unterstützt die SPD den Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) des Deutschen Zentrums für Migrations- und Integrationsforschung (DeZIM). Die zuletzt veröffentlichten Ergebnisse unter dem Titel „Rassistische Realitäten“ (Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung DeZIM e. V. 2022) können aber zumal handwerklich nicht überzeugen. Im „Methodenbericht“ (Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung DeZIM e. V. 2021) wird zwar ausführlich die Frage der Stichprobe erörtert, aber es wird überhaupt nicht darauf eingegangen, wie eigentlich der zugrunde liegende Fragebogen und seine Items konzipiert wurden. Woher wissen wir, was diese Items eigentlich messen und ob sie auch nur auf irgendeine Weise repräsentativ und übertragbar sind? Was besagen also die Prozentzahlen, die in den Ergebnissen vorgestellt werden?

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Tatsächlich wird in Deutschland vor allem dann geforscht, wenn „etwas“ vorgefallen ist, und die Forschung wird häufig über politische Netzwerke vergeben. Das heißt keineswegs, dass alle Ergebnisse falsch oder unbrauchbar wären, aber die Erfahrung zeigt auch, dass das historisch erarbeitete oder auch erkämpfte Wissen über Rassismus in einer nächsten Forschungsphase nicht aktualisiert wird. Es wird immer wieder vergessen. Ich möchte an dieser Stelle für das erinnerungspolitische Feld einige Desiderate formulieren. Und das erste davon ist: Wir benötigen eine unabhängige Forschung zu Antisemitismus und Rassismus, die kontinuierlich und kollaborativ stattfindet und die historische Theoriebildung ebenso berücksichtigt wie das Wissen, das in den antirassistischen Kämpfen entwickelt wurde. Das zweite Desiderat leitet sich davon ab: Wir brauchen Plattformen für die Diskussion dieses Wissens mit unterschiedlichen Akteur*innen. Solche Plattformen sind weder der klösterliche Elfenbeinturm noch das polarisierende Feuilleton, sondern sie sollten moderierte und moderate Gespräche inmitten der Gesellschaft ermöglichen, die zugleich wieder auf die jeweilige Forschung zurückwirken. Diese Gespräche könnten zum Beispiel in den staatlich finanzierten Kultureinrichtungen stattfinden und zu deren notwendigem Öffnungs- und Vernetzungsprozess beitragen.

Die Rolle der Schule und die Struktur der Erinnerung Wenn sich festhalten lässt, dass der Wissensstand völlig unzureichend ist, dann stellt sich zugleich auch die Frage, wo dieses Wissen denn überhaupt vermittelt wird. Sicher wird zunehmend in Elternhäusern über das Thema gesprochen, aber diese Gespräche bleiben privater Natur. Insofern wäre der erste Ort, an dem Wissen organisiert weitergegeben werden müsste, die Schule. In der Schule sind Antisemitismus, Rassismus und zumal die damit zusammenhängenden erinnerungspolitische Kontroversen praktisch abwesend. Sie kommen nur marginal im Geschichtsunterricht vor, bei dem die Curricula weiter einem sehr eurozentrischen Modell folgen. Auch in Ethik spielen sie gewöhnlich keine Rolle. Ein Fach wie „citizenship education“ gibt es in Deutschland nicht, obwohl gerade nach der einschneidenden Reform von 2000 hier ein Feld wäre, um auch erinnerungspolitische Anliegen im Rahmen der Bürger*innenrechte zu verhandeln. Zudem trauen sich viele Lehrer*innen an diese Themen nicht heran, weil sie sich nicht gerüstet sehen angesichts der Konflikte, die zwischen den Schüler*innen über manche Themen entstehen können. Insofern werden die „heißen“ Themen im Namen des „Schulfriedens“ möglichst vermieden. Tatsächlich ist die Position der Lehrkräfte auch schwierig, weil sie sich selbst ja auch nicht als neutrale Instanz außerhalb der Konflikte präsentieren können. Der Hashtag „#metoo“ hat gezeigt, dass viele Personen mit Migrationshintergrund oder BPoC in der Schule rassistische Erfahrungen gemacht haben. Auch beim Thema Antisemitismus können sich Lehrer*in81

nen deutscher Herkunft nicht einfach außerhalb des Feldes platzieren. Hier wären also Kompetenzen gefragt, die zurzeit in der Ausbildung gar nicht vermittelt werden. An dieser Stelle scheint es geboten, auf den Begriff der Erinnerung selbst noch einmal einzugehen. In jüngster Zeit gab es Versuche, historische Traumata als quasi primordiale, epigenetische Programmierung zu erforschen, aber diese Ideen lassen sich bislang nicht überzeugend belegen. Psychologisch gesehen, ist Erinnerung keineswegs von Anfang an da. Kein Kind kommt auf die Welt und erinnert sich an ein vergangenes Unrecht, das Personen zugestoßen ist, die derselben – wie auch immer existierenden oder zugeschriebenen – Gruppe wie dieses Kind angehören. Oft genug liegt dieses Unrecht so lange zurück, dass nicht einmal die Eltern des Kindes es direkt erlebt haben. Kinder erwerben diese Erinnerungen ebenso wie ihre Ideen von Zugehörigkeiten durch die Praktiken und Narrative der Eltern und der restlichen Gesellschaft. Selbst Personen, die Unrecht selbst erlebten, haben die Erinnerung daran aktiv gestaltet. Erinnerung ist also immer konstruiert – von anderen vorformuliert, in kollektiven Zusammenhängen weiterverarbeitet, individuell zurechtgeschnitten. Erinnerungen werden auch je nach Kontext vernachlässigt oder unterdrückt, um dann wiederum neu entdeckt und aufgewertet zu werden. Daher greift der oft erhobene Vorwurf, Erinnerungen würden „instrumentalisiert“, auch zu kurz, weil Erinnerungen auf eine fundamentale Weise immer etwas Instrumentelles haben; sie können per se nicht objektiv sein. Der Psychologe Frederic Bartlett hat in seiner klassischen Untersuchung „Remembering“ von 1932 diese rekonstruktive Arbeit experimentell aufzeigen können, indem er britischen Studierenden eine Erzählung aus einem anderen kulturellen Kontext vorlesen ließ. Die Studierenden wurden danach mehrfach dazu aufgefordert, diese Erzählung wiederzugeben, und das so entstandene Material wurde wiederum mit der Ursprungsgeschichte verglichen. Nach Bartlett wurde die erzählte Geschichte in der Wiedergabe aktiv bearbeitet, wobei diese Bearbeitung sozusagen einen intellektuellen und einen affektiven Prozess umfasste (vgl. Bartlett 1995 [1932], S. 84 f.). Intellektuell folgte die „Rationalisierung“ einem Vorgang, den Bartlett als „effort after meaning“ bezeichnete: Die jeweiligen Personen versuchten, soviel Bedeutung wie möglich in die Geschichte zu packen, indem sie Versatzstücke ihrer Erinnerung zu einem Ganzen verarbeiteten und an den eigenen Kontext anpassten. Der affektive Prozess wiederum sorgte dafür, dass die „Rationalisierung“ ein Ende fand: “But here the effort stops when it produces an attitude best described as ‘the attitude in which no further questions are asked’. The end state is primarily affective” (Bartlett 1995 [1932], S. 85). Diese Analyse könnte ein interessanter Ausgangspunkt sein für den Umgang mit Erinnerung im schulischen Kontext. Das System der öffentlichen Bildung böte einen Raum, in dem Erinnerung sozusagen geübt werden könnte noch vor dem Moment, wo keine weiteren Fragen mehr gestellt werden. Selbst82

verständlich kann der Schulunterricht keine fundamentalen psychologischen Gegebenheiten ändern, aber ich meine das eher symbolisch: Hier ist ein Ort, wo die ganze zukünftige Gesellschaft noch zusammen ist und wo über Erinnerung – und ihre Beschränkungen – gesprochen werden kann. Hier wäre ein Ort, wo Erinnerungen nicht nur in Präsentationen einfließen müssten (die ja mittlerweile in Schulen das A und O sind), sondern auch die Verhandlung über Erinnerung gelernt werden kann. Hier würde mein drittes Desiderat anknüpfen: In den Lehrplänen „unserer“ Schule sollte eine eine weitere Kompetenz eingefügt werden, die „Verhandeln über Erinnerung“ heißt.

Behutsamer Umgang mit Identifikationen Allerdings besteht zum gegebenen Zeitpunkt die Gefahr, dass wohlmeinende Lehrkräfte glauben, sie könnten dabei einfach die Herkunft der Kinder und Jugendlichen als Ressource für Erinnerung nutzen. Und schnell gäbe es dann eine Situation, bei der ein*e scheinbar herkunftsfreie*r Lehrer*in die quasi genetisch gespeicherten Erinnerungen einer diversen Schüler*innenschaft orchestrieren würde – um ein unsichtbares Zentrum herum, das die „deutsche Geschichte“ darstellt. Tatsächlich aber sind die Kinder in der Schule, um etwas zu lernen, d. h., in keinem Bereich lässt sich irgendeine Art von Herkunftswissen einfach voraussetzen. Es geht also darum, behutsam mit den Perspektiven und Erinnerungen umzugehen. Ich kann zum Beispiel in einem diversen Klassenzimmer eine gemeinsame Aufgabe stellen, die lautet: Wo waren eure Vorfahren zu bestimmten Zeiten in der Geschichte, sagen wir 1890 – 1915 – 1950. Das gibt allen Schüler*innen (und auch der Lehrkraft) die gleiche Rechercheaufgabe, eine Aufgabe, die Vergangenheit etwa mithilfe von Verwandten rekonstruiert und zugleich viele Blickwinkel einführt, weil zweifellos ganz unterschiedliche Orte eine Rolle spielen. Dabei würden auch viele der Schüler*innen deutscher Herkunft überrascht feststellen, dass ihre Vorfahren z. B. aus dem Baltikum stammen. Zudem könnte eine Ort wie die Schule, der ja zum Lernen gedacht ist, dazu auffordern, Identifikationen zu fördern, die weder als ursprünglich angesehen werden noch auf andere Weise selbstverständlich erscheinen. Die Lernaufgabe sollte eben sein, Geschichte aus der Perspektive des/der jeweils anderen zu erzählen, wobei „andere“ auch nicht immer eine sozusagen auf der Hand liegende, diskriminierte Gruppe sein muss – siehe dazu auch die oben bereits genannten Beispiele. Während Täter*innen und ihre Motive historisch stets bevorzugt behandelt wurden, hat sich in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt, die Identifikation mit den Opfern zu stärken. Das war ein richtiger Schritt, doch mittlerweile kann die Opferposition auch auf geradezu absurde Weise besetzt werden, wenn etwa Impfgegner sich plötzlich als Holocaust-Opfer inszenieren. An dieser Stelle wäre al83

so auch darauf zu achten, dass die Frage der Täter*innenschaft ebenfalls erörtert wird. Wie war es möglich, dass ich, dass wir bestimmte Verbrechen begangen haben? Wie konnte es passieren, dass Personen sich moralisch so im Recht glauben, dass sie jede Empathie beseitigten? Wie ist dafür Legitimation hergestellt worden? Das „Empowerment“ in Sachen „nie wieder“ muss auch die Täter*innenposition umfassen – Personen sollten gestärkt werden zu erkennen, wann und aus welcher Rechtfertigung heraus sie Täter*innen werden können.

Die Einführung der Perspektive Die wichtigste Voraussetzung für all diese Schritte ist die Akzeptanz von Perspektivität – vor allem durch die Lehrkräfte. Mittlerweile ist jede kommerzielle US-amerikanische Serie dazu in der Lage, eine Geschichte sehr elegant aus unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen. Im deutschen Schulunterricht hingegen gilt oft noch die Vorstellung, Geschichte ließe sich „objektiv“ darstellen. In der neueren historischen Forschung wird nicht bezweifelt, dass die Fragestellungen der „Historik“ (Jörn Rüsen) immer von aktuellen politischen Subjekten, gesellschaftlichen Konflikten und sozialen Orientierungsbedürfnissen angetrieben werden. Auch die Forschung rekonstruiert jeweils einen Teil der Geschichte, der nur gesehen wird, weil er zuvor zum Bestandteil einer Auseinandersetzung wurde. Diese Auseinandersetzung – zum Beispiel über die Erinnerung an den Holocaust, den Vernichtungskrieg oder den Kolonialismus – gilt es im Bereich der Bildung nicht nur aufzugreifen, sondern aktiv zu führen – unter Einbeziehung von unterschiedlichen, aber auch der eigenen Perspektive. Die Diskussionen, die jetzt bereits in den Schulen und an den Gedenkstätten stattfinden, sollten dabei aufgegriffen und analysiert werden. Tatsächlich wird hier die Zukunft „unserer“ Gesellschaft bereits gestaltet; einer Gesellschaft, die die Selbstverständlichkeiten und die Selbstverständnisse der Vergangenheit nicht einfach übernehmen kann. In den aktuellen Curricula – es wurde schon erwähnt – ist in vielen Bundesländern davon die Rede, dass die Lebenswelt der Schüler*innen eine Rolle spielen müsse, eine Lebenswelt, die von zahlreichen Veränderungsprozessen geprägt sei, die wiederum eine lange Vorgeschichte aufweisen würden. Nichtsdestotrotz wird weiter eine eurozentrische Sicht der Geschichte vermittelt, welche die Gewalt an den anderen, überseeischen Schauplätzen der europäischen Geschichte ausblendet. So wird die Betonung der „Lebenswelt“ zum reinen Lippenbekenntnis. Erinnerungsarbeit war in der Bundesrepublik stets geprägt von einem zivilgesellschaftlichen Engagement, das von der „Lebenswelt“ ausging. Hier war die Geschichte der Arbeiter*innen verdrängt worden, dort wurden die Beiträge von Frauen nicht erwähnt; hier hing noch ein Nazi-Porträt, hier arbeitete noch ein „belasteter“ Professor; hier hieß eine Straße nach einem Kolonialhelden, dort lagen im Museum geraubte Gegenstände. Natalie Bayer und ich haben kürzlich ei84

nen Sammelband herausgegeben über die Geschichte des Kolonialismus im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg (vgl. Bayer/Terkessidis 2022). Die Arbeit daran hat uns auch klargemacht, wie wenig wir eigentlich über die Geschichte wissen. Das gilt für viele Bereiche, auch immer noch für das „Dritte Reich“. Insofern können Schulklassen auch zu kleinen Forschungsverbünden im lokalen Kontext werden, die ganz in der Tradition von etwa den Geschichtswerkstätten ihre Vergangenheit selbst entdecken. Die Verhandlung von Perspektiven, die Subjektivierung der Geschichte und eine Epistemologie des Standortes bedeuten keineswegs, dass wissenschaftliche Methoden über Bord geworfen werden. Es geht primär um den Ausgangspunkt der Forschung, um den Konflikt, welcher jeder Geschichte zugrunde liegt.

Die Ausbildung der Lehrkräfte Daraus leiten sich natürlich Konsequenzen ab auch für die Ausbildung des Lehrpersonals. Das wäre mein viertes Desiderat. In der Lehrer*innenausbildung darf es nicht am Rande um die Kompetenzen gehen, die bei der „Verhandlung über Erinnerung“ entscheidend sind (und auch zunehmend sonst in vielen schulischen Fragen in einer diversen Gesellschaft): Das Studium muss vermitteln, wie eine ständige Reflexion der eigenen Position bewerkstelligt werden kann und wie Multiperspektivität im Unterricht konkret ausgestaltet wird. Die Lehrer*innen müssen in der Fähigkeit zum Konflikt geschult werden, aber auch in der Fähigkeit, Kritik zu formulieren und auszuhalten. Sie benötigen ein Kontextwissen über die Hintergründe, Voraussetzungen und Referenzrahmen ihrer Schüler*innenschaft, das ihnen ein Verständnis von deren Lebenswelt erst ermöglicht. Schließlich muss auch gelernt werden, wie Diskussionen und Konflikte so moderiert werden können, dass sie produktiv werden und nicht zu bleibenden Verhärtungen führen. Die Entwicklung all dieser Fähigkeiten sollte auch nicht mit der Ausbildung enden, sondern in einer Schule, die eine lernende Institution darstellt, ständig begleitet und weiterentwickelt werden. Ein letztes Desiderat bleibt noch zu erwähnen: Ich wünsche mir, dass der derzeitige Raum der Erinnerung erweitert werden kann, ohne dass die Beteiligten lediglich ihre Positionen festigen, ohne dass die jeweiligen Vertreter*innen wie bei einer Talkshow ihre „gecasteten“ Rollen spielen. Ich wünschte mir, wir würden bei den anderen nicht immer nur problematische „Stellen“ hören und deren Ansprüche als schiere Konkurrenz betrachten. Wie gesagt, Erinnerung muss kein Nullsummenspiel sein, und im Gegenteil, eine Erweiterung der Erinnerung bietet Potenzial für neue Solidaritäten und – um ein Bonmot der alten BRD aufzugreifen – mehr erinnerungspolitischen Wohlstand für alle.

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Literatur Alfandari, Julia/Mendel, Meron (2022): Die bittere Bilanz eines Scheiterns. In: Süddeutsche Zeitung, 04.09.2022. Bartlett, Frederic C. (1995 [1932]): Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology, Cambridge: Cambridge University Press. Bayer, Natalie/Terkessidis, Mark (Hrsg.) (2022): Die postkoloniale Stadt lesen: Historische Erkundungen in Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin: Verbrecher. Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung DeZIM e. V. (2021): Repräsentative Telefonbefragung im Rahmen des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa–001–CATI) Methodenbericht; www.rassismusmonitor.de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/CATI_Studie_Rassistische_Realit%C3%A4ten/Methodenbericht_RassismusmonitorStudie_Rassistische-Realit%C3%A4ten.pdf (Abruf 05.01.2023). Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung DeZIM e. V. (2022): Rassistische Realitäten – Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander? Auftaktstudie zum Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa Berlin: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung DeZIM e. V.; www.rassismusmonitor.de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/CATI_Studie_Rassistische_Realit%C3%A4ten/DeZIMRassismusmonitor-Studie_Rassistische-Realit%C3%A4ten_Wie-setzt-sich-Deutschland-mitRassismus-auseinander.pdf (Abruf: 05.01.2023). Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (o. J.): Rassismus als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts im Kontext ausgewählter gesellschaftlich-institutioneller Bereiche; www.fgz-risc.de/forschung/inra-studie (Abruf: 08.01.2023). The Report on the Losses Sustained by Poland as a Result of German Aggression and Occupation During the Second World War 1939–1945 (2022): Warszawa: Instytut Strat Wojennych im. Jana Karskiego. Rothberg, Michael (2009): Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford: Stanford University Press. Süddeutsche Zeitung (2022): Polizei: Tödlicher Einsatz. In: Süddeutsche Zeitung vom 19.11.2022. Wiedemann, Charlotte (2022): Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis, Berlin: Propyläen.

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Historisch-politische Bildung zwischen Antisemitismus- und Rassismuskritik: Erziehungswissenschaftliche Perspektiven Wolfgang Meseth

Einleitung Die im Titel dieses Kapitels adressierte Frage nach den „Anforderungen an die Erinnerungskultur unter den Bedingungen postmigrantischer Realitäten“ werde ich erziehungswissenschaftlich bearbeiten und auf unterschiedliche Praxen der historisch-politischen Bildung beziehen. Es wird mir darum gehen, die sozialen Bedingungen auszuleuchten, unter denen die Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus im Schulunterricht und im Hochschulseminar stattfindet. Wenn ich von sozialen Bedingungen dieser beiden Praxisfelder spreche, dann meine ich erstens deren je spezifische institutionell-organisatorische Rahmung, zweitens die Interaktionsdynamik, die für Gespräche in Gruppen allgemein charakteristisch ist, und drittens die spezifische Einbettung solcher Gespräche in den erinnerungskulturellen Kontext der Gegenwart.1 Diese sozialen Bedingungen sind – so meine These – eine wichtige Voraussetzung, um die Anforderungen historisch-politischer Bildung in Schule und Hochschule kontextspezifisch bestimmen und erziehungswissenschaftlich unter dem Aspekt des Spannungsfeldes von Antisemitismuskritik und Rassismuskritik konkretisieren zu können. Meine Argumentation werde ich an zwei Fallbeispielen verdeutlichen. Ein Beispiel (Abschnitt 2) stammt aus einem abgeschlossenen Forschungsprojekt, in dem ich mit Kolleg:innen die Vermittlung der NS-Geschichte in der Schule und in außerschulischen Bildungseinrichtungen untersucht habe (vgl. Proske 2011; Hogrefe et al. 2012; Meseth 2015).2 Bei diesem Beispiel wird es mir darum gehen, die sozialen Bedingungen historisch-politischer Bildung in der Schule genauer zu bestimmen. Ich werde herausarbeiten, dass und wie schulischer Unterricht trotz

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Für die gegenstandstheoretischen und methodologischen Prämissen, die meinen Überlegungen zugrunde liegen, vgl. den Stand der rekonstruktiven empirischen Unterrichtsforschung (Idel/Meseth 2018; Proske 2018; Rabenstein; Proske/Meseth; 2021). Das empirische Material ist zwar bereits vor fünfzehn Jahren erhoben worden. Es eignet sich jedoch auch heute noch, die letztlich invarianten Strukturmerkmale der sozialen Form Unterricht zu verdeutlichen, die auch für die heutige Vermittlung der NS-Geschichte bestimmend sind. Zugleich lässt sich an der thematischen Fokussierung der beobachteten Unterrichtseinheit zeigen (es geht um die nationalsozialistische Expansionspolitik im Osten), welchen Einfluss erinnerungskulturelle Veränderungen auf die Deutung historischer Ereignisse haben kann.

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bester Unterrichtsplanung mit Dynamiken rechnen muss, die aus der besonderen Einbettung des Schulunterrichts in den öffentlichen erinnerungskulturellen Diskurs resultieren können. Mit der Unterscheidung von Moralkommunikation und Kommunikation über Moral nutze ich eine sozialwissenschaftliche Theorieperspektive, um die freigelegten Konflikte als Strukturprobleme schulischen Unterrichts einerseits (vgl. Schneider 2004; Proske 2010) und professionellen Lehrkräftehandelns andererseits beschreibbar zu machen. Das andere Beispiel (Abschnitt 3) bündelt Erfahrungen, die ich in jüngster Zeit in meinen Lehrveranstaltungen zu den Themen „Erinnerungskultur“ und „Erziehung nach Auschwitz“ gemacht habe. Auch hier wird es entlang der Unterscheidung von Moralkommunikation und Kommunikation über Moral darum gehen, die sozialen und organisatorischen Bedingungen, unter denen Hochschullehre zu diesen Themen realisiert werden muss, genauer in den Blick zu nehmen. Ein in dieser Weise sozialwissenschaftlich justierter Blick auf die Praxis der Hochschullehre verdeutlicht, dass der dort beobachtete Konflikt zwischen Antisemitismus- und Rassismuskritik an einem grundlegenden epistemischen Problem laboriert, das typisch ist für die jüngeren erinnerungspolitischen Debatten. Ich werde zu zeigen versuchen, dass in diesem Konflikt keine – wie es im wissenschaftlichen Kontext der Hochschullehre erwartbar wäre – ethischen Argumente ausgetauscht werden oder der Konflikt als Konflikt selbst zum Gegenstand diskursiver Verständigung gemacht würde, sondern er vielmehr darauf zuläuft, auf moralischen Positionen zu insistieren. Auf der Grundlage der Analyseergebnisse schlage ich vor, die Frage nach den Anforderungen im Umgang mit der erinnerungspolitischen Widerspruchslage kontextbezogen zu spezifizieren. Wenn sich empirisch zeigen lässt, dass sich erinnerungspolitische Konflikte in pädagogischen und wissenschaftlichen Kontexten unterschiedlich entfalten und es verschiedene Handlungsspielräume gibt, mit diesen Konflikten umzugehen, spricht viel dafür, den Blick für diese kontextspezifischen Besonderheiten erziehungswissenschaftlich zu schärfen. Mögliche Konsequenzen, die aus einer solchen Perspektivierung für die historisch-politische Bildung in Schule und Hochschullehre folgen könnten, werde ich abschließend ausloten (Abschnitt 4).

Fallbeispiel I: „Ich bin kein Nazi, ich wollt es nur sagen, o. k.?!“3 In einer zehnten Gymnasialklasse wird die nationalsozialistische Expansionspolitik im Osten behandelt. Auf der Grundlage von zwei historischen Quellen, in denen Hitler die Beweggründe für seinen Angriffskrieg darlegt, entwickelt sich ein Gespräch, in dem die Schüler:innen die Wortwahl der Quelle und damit die 3

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Eine detaillierte sequenzanalytische Interpretation des empirischen Materials findet sich in Hogrefe u. a. 2012.

Sprache Adolf Hitlers paraphrasieren. Die Rede ist von „Ressourcen“, die Hitler sich erschließen möchte, von „Raum“ und „Platz“ sowie von „Polen“, „der Ukraine“ und „Tschechien“. Auf die Frage der Lehrerin, ob in diesen Gebieten keine Menschen lebten, antwortet die Schülerin Uta unvermittelt mit der Formulierung „sauber gemacht“. Die Lehrerin macht Uta darauf aufmerksam, dass dies ein „brisantes Thema“ sei und sie sich überlegen müsse, wie sie sich sprachlich ausdrücke. „Sonst“, so die Lehrerin weiter, „wird das ein bisschen problematisch, da weiß man nicht so genau, vertrittst du jetzt auch die Position oder möchtest du dich davon distanzieren?“ In diesen Beitrag hinein unterbricht Uta die Lehrerin mit einem langgezogenen „Nein“, dem sie das Bekenntnis anschließt „Ich bin kein Nazi, ich wollt es nur sagen, o. k.?“ Uta deutet den bewertenden Eingriff der Lehrerin offenbar nicht als gut gemeinten Ratschlag für einen angemessenen Umgang mit NS-Quellen – z. B. durch die Verwendung des Konjunktives –, sondern als moralisches Urteil über sie als Person. Die Kritik an der fehlenden Distanzierung von den Quellen hat zur Folge, dass Uta sich nicht in ihrer Rolle als Schülerin adressiert sieht, die lediglich eine schlechte Leistung erbracht hat. Sie reagiert vielmehr so, als stünde ihre moralische Integrität als Person auf dem Spiel. Sie erlebt sich nicht als schlechte Schülerin, sondern als moralisch schlechten Menschen. Was lässt sich an diesem Beispiel über die Struktur der schulischen Vermittlung der NS-Geschichte sagen? Hierzu entwickle ich in der Folge drei Deutungsangebote.

• Bei genauerer Betrachtung wird deutlich: Uta rechtfertigt sich mit ihrer Formulierung „Ich bin kein Nazi, ich wollt es nur sagen“ gegenüber einem Vorwurf, den die Lehrerin so nicht erhoben hat. Sie positioniert sich vorauseilend als moralisch integre Person, ohne dass ihre Haltung von der Lehrerin offen infrage gestellt worden wäre. Offensichtlich verfügt Uta über implizites, intuitiv abrufbares Wissen über den deutschen Erinnerungsdiskurs und weiß um den schmalen Korridor des Sagbaren, der – wenn er verlassen wird – Vorwürfe, Unterstellungen und Konflikte nach sich ziehen kann. Uta zeigt sich in gewisser Weise als „Expertin“ für die Erwartungen, die den deutschen Erinnerungsdiskurs normieren. Das heißt nicht, dass sie differenziertes Wissen über die NS-Geschichte besitzt oder in ihrer Haltung moralisch gefestigt ist. Dennoch: Sie ist eine reflexive Mitspielerin auf dem Feld der Erinnerungskultur. Schüler:innen sind – so könnte man diese Beobachtung zusammenfassen – keine ,unbeschriebenen Blätter‘. Vielmehr bringen sie ihr zumeist medial, familial und im Freundeskreis erworbenes Vorwissen in die Gespräche ein. Selten tritt dieses Vorwissen als wohlgeformte abwägende Argumentation im Unterricht oder in außerschulischen settings der Geschichtsvermittlung auf. Es zeigt sich vielmehr unvermittelt in Seitenkommentaren, Satzfragmenten oder Rückfragen. An dieser Reflexivität im Umgang mit erinnerungskultu89

rellem Wissen, das von den Schüler:innen in den Unterricht hineingetragen wird, lässt sich nicht nur die gesellschaftliche Einbettung schulischen Unterrichts verdeutlichen. Sie ist auch eine wichtige, oft unterschätzte soziale Bedingung historisch-politischer Bildung. • Dies führt mich zu meiner zweiten Beobachtung. Soziale Situationen wie diese sind in hohem Maße dynamisch. Selten lassen sie sich planen, noch seltener lassen sich aufbrechende Debatten kohärent moderieren. Selten sind es wohlgeformte Gespräche, in denen alle Beteiligten unter Absehung eigener Gefühle und Befindlichkeiten um das bessere Argument ringen und am Ende in der Sache einen tragfähigen Konsens erzielen. Das Beispiel zeigt vielmehr: Ein solches Gespräch ist nah am Konflikt gebaut. Es neigt dazu, von einem Kommunikationsformat über Moral in moralische Kommunikation überzugehen. Während es sich bei „Kommunikation über Moral“ um ein Gesprächsformat handelt, in dem reflexiv über ethische Fragen gesprochen wird, werden im Format „Moralkommunikation“ die persönliche Integrität, politische Haltungen und moralische Einstellungen der Anwesenden direkt adressiert (vgl. Schneider 2004; Proske 2010; Hogrefe 2012). In Gesprächen, die von Moralkommunikation gekennzeichnet sind, geht es ums Ganze: um die Frage, wer auf der moralisch richtigen und wer auf der moralisch falschen Seite steht. Solche Formen der Vorwurfskommunikation können auch dann entstehen, wenn pädagogisch und didaktisch alles richtig gemacht wurde. Es ist geradezu ein Kennzeichen der Dynamik solcher Gespräche, dass diese sich auch dann moralisch aufladen können, wenn sich die Beteiligten wechselseitig nicht schaden wollen, wenn sie keine Vorwürfe erheben und sich nicht verletzen möchten. Lehrpersonen sind Teil dieser Dynamik. Sie stehen, auch wenn sie den Konflikt moderieren möchten, nicht außerhalb dieser sozialen Situation, sondern sind Teil jener Dynamik, auf die sie aufklärend einwirken möchten. Wenn die Lehrerin in dieser Szene die Schülerin Uta darauf hinweist, dass es klug sein könnte, im Umgang mit NS-Quellen durch den Konjunktiv die eigene Distanz zu den Aussagen dieser Quelle zu markieren, vermeidet sie eine direkte moralische Konfrontation zugunsten der Empfehlung einer ,Klugheitsregel‘, die zwar weiterhin belehrend ist, die aber taktvoll die Integrität Utas wahrt. Damit eröffnet die Lehrerin Spielraum für das Gedankenspiel, dass die fehlende Distanzierung von einer solchen Quelle in einem anderen, zum Beispiel öffentlichen Kontext des Politischen einen moralischen Vorwurf nach sich ziehen könnte. Es ist diese Konstruktion eines pädagogischen Schonraums, die typisch für pädagogische Kommunikation im Unterricht ist. Die Belehrung erfolgt durch die Anrufung eines noch nicht voll sozialisierten Subjektes, dem gleichwohl aber Entwicklungs- und Einsichtsfähigkeiten zugeschrieben werden. Es geht um die Ermöglichung von Selbstreflexion und Selbstkorrektur eines Subjekts, das noch nicht ist, was es werden soll: ein mündiges, urteilsfähiges und zu klugem, kontextbezogenem 90

Handeln fähiges Subjekt. Dass Uta sich selbst gegen einen Vorwurf wehrt, den die Lehrerin so nicht erhoben hat, macht einmal mehr auf die gesellschaftliche Einbettung schulischen Unterrichts aufmerksam. Zugleich zeigt die Reaktion der Lehrperson, dass die erinnerungskulturelle Normierung des Unterrichts, die in Utas Protest resoniert und einen Konflikt herbeiruft, entschärft wird und den Raum für Reflexion eröffnet. • Die Beobachtung, dass Schüler:innen erstens zu reflexiven Mitspieler:innen auf dem Feld der Erinnerungskultur werden und dieses „Mitspielen“ zweitens dazu führen kann, dass sich Gespräche moralisch aufladen, macht deutlich: Jede Vermittlungspraxis ist eine gesellschaftlich eingebettete Praxis, d. h. in sie treten jene erinnerungspolitischen Konfliktthemen und Erwartungen hinein, die auch und gerade öffentlich verhandelt werden. In den konkreten Positionierungen einzelner Sprecher:innen werden diese Kontexte in das Gespräch hineinvermittelt. Diese zu explizieren und zur Sprache zu bringen gehört zu den anspruchsvollsten Aufgaben professionellen Handelns. Hierfür bedarf es facettenreiches Wissen über die erinnerungskulturellen und historischen Kontexte, auf die sich die jeweiligen Positionierungen beziehen. Dass sich diese Kontexte unter den Bedingungen aktueller weltpolitischer Dynamiken schnell verändern, wird augenfällig, wenn man sich das Thema im eben geschilderten Fall genauer anschaut: die nationalsozialistische Expansionspolitik in Osteuropa. Vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges in der Ukraine wird man heute bei der Behandlung des Themas mit anderen Positionierungen rechnen müssen, zumal dann, wenn Menschen anwesend sind, die sich mit erinnerungskulturellen Narrativen osteuropäischer Länder identifizieren. Ähnliches gilt auch für den postkolonialen Diskurs, der für das Thema der nationalsozialistischen Expansionspolitik heute einen erweiterten normativen Rahmen darstellt. Wenn in Rechnung zu stellen ist, dass die imperiale und damit auch koloniale Dimension deutscher Ostpolitik nicht erst während des Nationalsozialismus, sondern bereits im Kaiserreich und der Weimarer Republik ihren Anfang nimmt (Terkessides 2019, S. 221 ff.), werden neue Bezugnahmen augenfällig – und in diesen Vermittlungskontexten auch erwartbar. Der Holocaust kann dann als Teil der kolonialen Vergangenheit Deutschlands und Europas gelesen werden. Es sind diese Verschränkung von kolonialer Unterdrückung und rassistischer Ausbeutung einerseits und antisemitische Ausgrenzung und Vernichtung jüdischen Lebens andererseits, die – wie wir wissen – Folgen für die geschichtspolitischen Koordinaten Deutschland haben. Die causa Mbembe und der von Michael Rothberg, Dirk Moses und Jürgen Zimmerer proklamierte ,Historikerstreit 2.0‘ (Rothberg 2020; Böckmann et al. 2022) zeigen dies deutlich. Diese Gleichzeitigkeit von Rassismusund Antisemitismuskritik stellt für die historisch-politische Bildung und ihre oben skizzierten sozialen Bedingungen eine besondere Herausforderung dar.

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Fallbeispiel II: Hochschullehre zwischen Antisemitismus- und Rassismuskritik Bei diesem zweiten Fallbeispiel handelt es sich um komprimierte Erfahrungen, die ich in meiner Lehre zum Thema „Erinnerungskultur“ und „Erziehung nach Auschwitz“ regelmäßig mache. Wenn in Seminaren das Thema „Migration, Postkolonialität und Erinnerungskultur“ diskutiert wird, zeigen sich immer wieder folgende Konfliktlinien: Ausgangspunkt sind zumeist wir/sie-Unterscheidungen. Anwesende reklamieren ihre Zugehörigkeit zum „deutschen Erinnerungskollektiv“. Meist geschieht dies implizit durch die bloße Verwendung des Pronomens „wir“, das die „anderen“, die meist nicht näher bestimmt werden, zu Nicht-Zugehörigen dieses Kollektivs macht. Dieser Unterscheidungsgebrauch, der typisch ist für den bundesdeutschen Migrationsdiskurs (Radtke 2017), spitzt sich zu, wenn diese „anderen“ näher bestimmt werden. Dann etwa, wenn gefragt wird, wie in pädagogischen Situationen mit muslimischem Antisemitismus umzugehen sei. Die stereotypisierende Formulierung vom „importierten Antisemitismus“ muss bei dieser Frage nicht ausdrücklich fallen, um bei anderen Studierenden offenen Widerspruch zu provozieren. Allein diese Frage, aber auch die Rede vom muslimischen Antisemitismus insgesamt, kann als unangemessene Kategorisierung kritisiert werden und in den Vorwurf eines antimuslimischen Rassismus münden. Was in solchen Gesprächen folgt, ist häufig genau das, was ich oben beim ersten Fallbeispiel beschrieben habe: Es kommt zu Moralkommunikation. Auf den Rassismusvorwurf folgt der Relativierungsvorwurf des Antisemitismus. Das Gespräch schaukelt sich hoch und mit jeder Rechtfertigung verfestigen sich die Vorwürfe. Für beide Parteien geht es dann ums Ganze. Um die Integrität der eigenen Person, aber auch um die moralisch scheinbar unverhandelbaren Positionen von Rassismuskritik auf der einen und Antisemitismuskritik auf der anderen Seite. Oft erscheinen mir meine Vermittlungsversuche in diesem Konflikt hilflos und selbst problematisch. Erstens, weil mir als weißer, privilegierter, nicht-jüdischer Sprecher jene Erfahrungen fehlen, die mich ethisch legitimieren würden, in diesen Konflikt moderierend einzugreifen. Zweitens, weil der Versuch, solche Konflikte diskursiv zu bearbeiten, selbst einem Prinzip folgt, das als Teil der europäischen Aufklärung strukturell dem Verdacht ausgesetzt ist, hegemoniale und koloniale Traditionen fortzuschreiben. Auch zu diesem Beispiel entwickele ich in der Folge Deutungsangebote. Sie betreffen zum einen die Struktur des Gesprächs in einem Hochschulseminar, zum anderen die besondere epistemologische Problemkonstellation, die dem geschilderten Konflikt zugrunde liegt.

• Zunächst wird auch an diesem Beispiel die gesellschaftliche Einbettung des Seminargesprächs in den Kontext aktueller erinnerungspolitischer Konfliktlagen deutlich. Der Unterschied zur schulischen Situation im ersten Fall ist 92

darin zu sehen, dass die Studierenden ihre erinnerungspolitischen Positionen durchaus elaboriert einnehmen. Anders als die Schülern Uta, die intuitiv reagiert und dabei auf implizites, jedenfalls im Gespräch nicht näher differenziertes Wissen über den deutschen Erinnerungsdiskurs Bezug nimmt, treten die Studierenden selbstbewusst als fachliche Expert:innen des Diskurses auf. Sie vertreten ihren Standpunkt öffentlich, ohne dass die Seminarleitung einen entsprechenden Impuls dazu gegeben hätte. Auf die den Konflikt moderierenden Versuche des Seminarleiters wird kaum, und wenn doch, dann in problematisierender Weise Bezug genommen. Die zu beobachtende Moralkommunikation unterscheidet sich daher in mindestens zweifacher Hinsicht von der oben geschilderten schulischen Szene. Erstens handelt es sich um offen formulierte Vorwürfe. Die Studierenden gehen sich direkt an und zeigen sich – anders als etwa die Lehrerin bei Uta – unnachsichtig mit ihren Kommiliton:innen. Zweitens dringt der Hochschullehrer mit seinem Versuch einer diskursiven Verständigung des Konflikts nicht durch, sondern läuft selbst Gefahr, zur Adresse moralischer Kommunikation zu werden. Im Unterschied zum Schulunterricht, der Schüler:innen qua Bildungs- und Erziehungsauftrag als Heranwachsende adressiert, stehen sich in der Hochschullehre Erwachsene gegenüber. Belehrungen wie die im oben skizzierten Schulunterricht laufen im Hochschulseminar immer auch Gefahr, paternalistisch gelesen zu werden. Zwar zeichnet sich ein Hochschulseminar – ähnlich wie Schulunterricht – durch eine asymmetrische Rollenordnung aus. Die Asymmetrie legitimiert sich hier aber nicht durch einen institutionell erteilten Erziehungs-, sondern bloß durch einen Bildungsauftrag, der sich im Idealfall im Medium des akademischen Streits und der methodischen Prüfung des Wahrheitsgehalts einer wissenschaftlichen Aussage realisiert, nicht aber dadurch, dass ausdrücklich – oder vermittelt durch pädagogisch taktvolle Interventionen – auf die Haltungen der Studierenden eingewirkt wird. Mit der erziehungswissenschaftlichen Unterscheidung von Erziehung und Bildung (vgl. Vogel 2019, S. 59–105) müsste man für den schulischen Unterricht daher eher von historisch-politischer Erziehung und beim Hochschulseminar von historisch-politischer Bildung sprechen. Während Bildung die Selbsttätigkeit des Subjekts betont, gilt Erziehung als eine Handlung, die ausdrücklich mit der Absicht verbunden wird, die psychischen Dispositionen anderer Menschen dauerhaft zu verbessern. Neben der Einheit von Forschung und Lehre gehört die „Vorstellung vom Bildungswert der Wissenschaft“ (Kieserling 2004, S. 249) jedenfalls zum normativen Selbstkonzept der Universität. Diese Idee setzt auf den „formal bildenden Charakter der Wissenschaft“ (ebd., S. 252, Herv. i. O.), darauf also, „daß der Bildungswert der Wissenschaft gerade in der Verpflichtung auf den Code der Wissenschaft selbst liege“ (ebd., Herv. i. O.). Am geschilderten Fall zeigt sich, dass der Hochschullehrer zwar keinen paternalistischen Erziehungsversuch unternimmt, er aber auch 93

mit seinem Angebot einer fachlich-diskursiven Klärung bei den Studierenden nicht durchdringt. Weder bewegt sich das Konfliktgespräch im Medium des Pädagogischen noch im Medium der Wissenschaft, sondern deutlich im Medium eines politisch-moralischen Streits, der um die Durchsetzung bestimmter erinnerungspolitischer Positionen ringt. • Klärungsbedürftig an diesem Streit ist nicht, dass der öffentlich ausgetragene Konflikt zwischen postkolonialer Rassismuskritik auf der einen und Antisemitismuskritik auf der anderen Seite in ein Hochschulseminar hineingetragen wird. Dies ist angesichts der Annahmen von dessen gesellschaftlicher Einbettung erwartbar. Klärungsbedürftig ist vielmehr, warum sich in dieser Situation jene Kriterien nicht durchsetzen, die für die Bildung von Sach- und Werturteilen im wissenschaftlichen (und auch pädagogischen) Kontext der historisch-politischen Bildung zentral sind. Die kognitive Erwartung an eine Geltungsbegründung und -prüfung von moralischen Haltungen im Lichte einer prinzipiell universalisierbaren postkonventionellen Moral werden vielmehr von einer politisch motivierten Moralisierung überlagert. Vorschnell könnte man diesen Fall als Politisierung der Hochschullehre problematisieren. Dies mag in gewissem Sinne auch zutreffen. Eine erziehungswissenschaftliche Aufklärung dieses Konflikts sollte hierbei jedoch nicht stehenbleiben, sondern theoretisch und empirisch nach Gründen für die politisch-moralische Konfliktdynamik suchen, in der die Geltungsansprüche wissenschaftlichen Räsonierens nicht nur nicht zum Tragen kommen, sondern selbst zum Gegenstand von Kritik werden. Der für den universitären Kontext typische Modus einer diskursiven Klärung verliert seine Legitimität offensichtlich auch deshalb, weil sich in einem solchen kognitiven Klärungsbemühen die Denkvoraussetzungen einer modernen Vernunftmoral reproduzieren, die aus postkolonialer Perspektive nicht als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems globaler Ungleichheitsordnungen identifiziert werden. Nicht nur wissenschaftliches Räsonieren, auch die Zielformel Mündigkeit als Königsweg der politischen Bildung in Deutschland kann sich einer solchen postkolonialen Kritik offensichtlich nicht entziehen. Damit steht hinter diesem Konflikt ein sehr grundsätzliches erkenntnistheoretisches Problem. Das epistemologische Problem ist darin zu sehen, dass der hermeneutische Grundsatz, Erkenntnis sei nur als eine jeweils standortgebundene Erkenntnis möglich (Gadamer 1960/1990, S. 305–312), in dieser Debatte längst nicht mehr als erkenntnistheoretisches, auch nicht als ethisches, sondern vorrangig als moralisches Problem verhandelt wird. In moralischen Positionierungen geht es nicht um die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis, auch nicht um die Verhandlung ethischer Gründe, sondern um die normative Festschreibung der eigenen und die Abwertung der anderen Position. Moralische Positionen, die i. d. R. an starke Affekte gebunden sind, nehmen „Wahrheit“ als eine bestimmte gruppen- und identitätsbezo94

gene Erfahrung in Anspruch, die den eigenen Standpunkt im Moment der Positionierung nicht bzw. erst zeitversetzt zum Gegenstand der eigenen Beobachtung machen kann. Jegliche erkenntnistheoretischen Reflexionen jedoch, zu der auch ethische Positionierungen zählen, ringen in der Moderne stets um Geltungsansprüche. Sie müssen mit ihrer eigenen Kontingenz leben. Die Moderne konstituiert sich, wie es Jürgen Habermas (1988, S. 14) im Anschluss an Reinhart Koselleck treffend formuliert, durch eine „reflexive Vergegenwärtigung des eigenen Standortes“. Zu den Formen moderner Selbstvergewisserung und Subjektivität gehört gleichursprünglich sowohl die Idee der normativen Selbstpositionierung ausweislich der Zuordnung zu partikularen Gemeinschaften als auch ihre Selbstbeobachtung, die sich als „Emergenz der Beobachtung zweiter Ordnung“ (Gumbrecht 2015, S. 13) in den „Habitus der Intellektuellen“ im 19. Jahrhundert einschreibt. „Das erklärt“, so Habermas (1988, S. 16), „die Irritierbarkeit ihres Selbstverständnisses, die Dynamik der ruhelos bis in unsere Zeit fortgesetzten Versuche, sich selbst ,festzustellen‘.“ Nicht zuletzt gehört zu diesen Selbstfeststellungsversuchen auch das Ringen der politischen Philosophie um einen nicht relativen Wahrheitsanspruch von Normen. Seinen Fluchtpunkt findet dieser Anspruch in der Metanorm einer allgemeinen Vernunft und ihrem Rekurs auf die Autonomie des Subjekts, auf dessen Würde und auf das Postulat gleicher Freiheit, die sich zu konstitutiven Wertpräferenzen liberaler Demokratien entwickelt haben (vgl. Nida-Rümelin/Özmen 2011). Historisch gewachsene gesellschaftliche Konstellationen können im Lichte dieser Wertpräferenzen als ungleiche, als hegemoniale, Leid und gesellschaftliche Exklusion erzeugende Ordnungen beobachtet und kritisiert werden, die von der Ausbeutung bis zur Vernichtung von Menschen reichen. Tragisch an dem Konflikt von Antisemitismus- und Rassismuskritik ist, dass beide Seiten diesen ethischen Universalismus für sich reklamieren, ihn jedoch an partikulare historische Leiderfahrung binden, von denen gerade nicht abstrahiert werden soll: die Anerkennung von Leid und Herstellung von Gerechtigkeit kolonialer Ausbeutung und Unterdrückung hier, antisemitische Verfolgung und Vernichtung dort. Der universalistische Anspruch wird – pointiert ausgedrückt – durch die Standortgebundenheit der jeweiligen gruppenbezogenen Leiderfahrung partikularistisch halbiert. Solche Halbierungen laufen dann wiederum Gefahr, die partikulare Leiderfahrung der anderen Seite nicht bloß zu relativieren, sondern tendenziell auch abzuwerten. Der Politikwissenschaftler Floris Biskamp (2020, S. 426) formuliert diese eigentümliche Differenz trotz der im Grundsatz gleichen ethischen Prämisse treffend: „Verbleibt man im Abstrakten sind sich fast alle darüber einig, dass sowohl Antisemitismus als auch Rassismus entschieden abzulehnen sind. Wenn es aber konkret wird,

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geraten Antisemitismuskritik und Rassismuskritik immer wieder in offenen Streit und wechselseitige Bezichtigung.“

Biskamp sieht die Gründe für diese Konfliktlage auch darin, dass beide Perspektiven zugleich eine aktivistische und wissenschaftliche Seite haben. Auf der aktivistischen Seite dominiert das Motiv der unbedingten Solidarität mit den Opfern der eigenen Gruppe, der Gehör und soziale Geltung verschafft werden soll. Der wissenschaftliche Diskurs liefert hierfür die Gründe, deren diskursive Entfaltung in den Arenen des Politischen und auch des Pädagogischen kaum zum Tragen kommen kann. Es gehört auch hier zur Tragik dieser Konstellation, dass beide aktivistischen Projekte auf sozialphilosophische Theorietraditionen – kritische Theorie auf der einen, poststrukturalistisch und postkolonial auf der anderen Seite – Bezug nehmen, die ungeachtet ihrer unterschiedlichen Ausgangsprämissen die Verletzung der universalistischen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit zum Bezugspunkt ihrer Arbeit machen (vgl. Biskamp 2020, S. 429 f.), hinter die die politische Moderne nicht zurückfallen kann, ohne sich selbst zu negieren (vgl. NidaRümelin/Özmen 2011). Dass diese epistemologischen Dimensionen des Konflikts im politischen Kampf um Herstellung und Behauptung der sozialen Geltung eigener Positionen nicht gehört werden, dass sie auch in pädagogischem Kontext angesichts der Differenziertheit der sozialphilosophischen Denkschulen kaum darstellbar sind, ist bei genauer Betrachtung der Strukturmerkmale der politischen und pädagogischen Sphäre erwartbar. Dass dies – zumindest nach meiner hier geschilderten Erfahrung – im wissenschaftlich-akademischen Kontext ebenfalls selten hinreichend gelingt, ist überraschend und bleibt ein empirisch und theoretisch aufzuklärendes Phänomen.

Resümee Was bleibt zu tun oder besser noch: zu hoffen? Pointiert formuliert: Dass sich in der vorsichtigen Annäherung an die Leiderfahrung der jeweils anderen Seite Anerkennungs- und Vertrauensräume eröffnen (vgl. Wiedemann 2022), in denen die moralischen Konflikte immer wieder neu auf das Feld der Ethik geführt und ins Oszillieren gebracht werden können. Für die Sphäre der Politik, zumal unter dem Druck machtstrategischer Entscheidungskonstellationen, wird man sich keine großen Hoffnungen machen dürfen, dass dieser Fall dort zur Regel wird. Wenn allerdings die NS-Geschichte im Schulunterricht oder in der Hochschullehre behandelt wird, wenn das Verhältnis von postkolonialen Verbrechen und Holocaust diskutiert, der Nahostkonflikt thematisch wird oder sich in Gesprächen die Positionen von Antisemitismus- und Rassismuskritik verhärten, sind Spielräume für eine diskursive Verständigung nicht nur möglich, sondern gemessen an den Kriterien im Umgang mit Wissen, von denen diese Sphären des Sozialen norma96

tiv gerahmt werden, gleichsam geboten. Monique Eckmann und Gottfried Kößler (2022, S. 125) haben überzeugend darauf hingewiesen, dass es für eine „gelingende Interaktion im pädagogischen Raum […] unerlässlich [sei], die pädagogische Auseinandersetzung mit Antisemitismus von der Sphäre des politischen Diskurses abzugrenzen.“ Unter dem Titel „Polarisierungen verweigern“ loten sie diesbezüglich pädagogische Möglichkeiten der Verständigung und fachlichen Aufklärung aus. Diese können zwar weder den Eintritt der politischen Dimensionen des Konfliktes zwischen Antisemitismus- und Rassismuskritik in den pädagogischen Raum vermeiden noch die daraus resultierende Dynamik moralischer Kommunikation aus dem Unterrichtsgespräch ausschließen. Dennoch eröffnen sie Handlungsspielräume, um solche Dynamiken reflexiv aufzugreifen und zum Gegenstand einer bildenden kognitiven wie affektiven Erfahrung mit diesem Weltsachverhalt zu machen. In der Wahrnehmung und Erschließung der politischen und historischen, der ethischen und epistemologischen Dimensionen dieses Konflikts läge die Chance, den Gegenstand bildungstheoretisch aufzuschließen (vgl. Dressler 2013). Es wäre dann die bewusste Ausschöpfung dieser Möglichkeiten im Umgang mit solchen Konflikten, an der die pädagogische Praxis zu beurteilen wäre. Auch in Hochschulseminaren wird man um eine pädagogisch-bildungstheoretische Dimensionierung solcher Konflikte nicht herumkommen, darf aber nicht bei ihnen stehenbleiben, sondern wird sich hier an Kriterien messen lassen müssen, die für den wissenschaftlichen Anspruch von Hochschullehre typisch sind. Dass politisch-moralische Dimensionen in die Hochschullehre hineinvermittelt werden, ist auch hier nicht vermeidbar, sondern ebenfalls erwartbar und wäre als Chance zu begreifen, solche Konflikte in einen differenzierten diskursiven wissenschaftlichen Austausch zu bringen. Dies könnte bedeuten, die theoretischen Implikationen der verschiedenen politischen Positionen zu erschließen. Auf welche Theorietraditionen sich Antisemitismus- und Rassismuskritik beziehen, welche normativen Bezüge sie teilen und worin sich diese Normative unterscheiden, könnte ein wichtiger Vergleichsgesichtspunkt in der Hochschullehre sein (vgl. Biskamp 2020). Auch könnte der bislang kaum gestellten Frage nachgegangen werden, ob es beiden Theorietraditionen möglicherweise an theoretisch-begrifflichen Mitteln fehlt, die Leid- und Unrechtserfahrung der anderen Seite angemessen zur Sprache zu bringen. Ähnliches gilt auch für den theoretischen Diskurs der historisch-politischen Bildung. Zumindest zeigt dies der Blick in zwei wichtige Veröffentlichungen, die in jüngerer Zeit erschienen sind: Die „Zeitschrift für Pädagogik“ widmet eine ihrer Ausgabe im Jahr 2022 dem Thema „Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft“. Der von Doron Kiesel und Thomas Eppenstein herausgegebene Band der Bundeszentrale für politische Bildung „,Du Jude‘. Antisemitismus-Studien und ihre pädagogischen Konsequenzen“, der vom Zentralrat der Juden in Deutschland (2021) inzwischen eigens noch einmal aufgelegt wurde, rückt den aktuellen Stand der politischen Bildung zur Antisemitismusprävention in den Fokus. Es gehört 97

zu den wichtigen Eindrücken bei der Lektüre beider Publikationen, dass beide Debatten ohne die systematische Hinwendung zu den theoretisch-begrifflichen Traditionen der jeweils anderen Seite auskommen und dabei entweder rassismuskritische oder antisemitismuskritische Perspektiven kaum thematisieren. In der Zusammenführung dieser Diskurse historisch-politischer Bildung, bei der auch das epistemologische Problem zu reflektieren und Spielräume zu schaffen wären, um moralische Konflikte in Theorie und Praxis ins Oszillieren und in einen Austausch zu bringen, sehe ich die größte Herausforderung für die Zukunft historisch-politischer Bildung in Deutschland, die auch und vor allem von erziehungswissenschaftlicher Forschung anzunehmen wäre.

Literatur Biskamp, Floris (2020): Ich sehe was, was Du nicht siehst: Antisemitismuskritik und Rassismuskritik im Streit um Israel. In: Peripherie 40, H. 3–4, S. 426–440. Eckmann, Monique/Kößler, Gottfried (2022): Polarisierungen verweigern. Spannungsfelder in der pädagogischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus. In: Böckmann, Matthias/Gockel, Matthias/Melber, Henning (Hrsg.): Jenseits von Mbembe. Geschichte, Erinnerung, Solidarität. Berlin: Metropol, S. 125–140. Dressler, Bernhard (2013): Fachdidaktik und die Lesbarkeit der Welt. Ein Vorschlag für ein bildungstheoretisches Rahmenkonzept der Fachdidaktiken. In: Müller-Roselius, Katharina/Hericks, Uwe (Hrsg.): Bildung. Empirischer Zugang und theoretischer Widerstreit. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich, S. 183–202. Gadamer, Hans-Georg (1960/1990). Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr. Gumbrecht, Hans-Ulrich (2015): Unsere breite Gegenwart. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1988): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hogrefe, Juliane/Hollstein, Oliver/Meseth, Wolfgang/Proske, Matthias (2012): Die Kommunikation von Urteilen im Unterricht. Zwischen der Bildung und der Beurteilung von Urteilen und deren Folgen. In: Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung 1/2012, S. 7–30. Idel, Till-Sebastian/Meseth, Wolfgang (2018): Wie Unterricht verstehen? Zur Methodologie qualitativer Unterrichtsforschung. In: Rabenstein, Kerstin/Proske, Matthias (Hrsg.): Kompendium Qualitative Unterrichtsforschung Unterricht beobachten – beschreiben – rekonstruieren. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 63–84. Kiesel, Doron/Eppenstein, Thomas (2021): „Du Jude“. Antisemitismus-Studien und ihre pädagogischen Konsequenzen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Kieserling, André (2004): Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Meseth, Wolfgang (2015): Erziehung nach Auschwitz 2.0. Erziehungswissenschaftliche Beobachtungen, empirische Befunde und bildungstheoretische Implikationen. In: Widmaier, Benedikt/Steffens, Gerd (Hrsg.): Politische Bildung nach Auschwitz. Erinnerungsarbeit und Erinnerungskultur heute (=Non-formale politische Bildung). Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 15–26. Nida-Rümelin, Julian/Özmen, Elif (2011): Zur Normativität des Politischen in der säkularen, liberalen und sozialen Demokratie. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 19, S. 51–63. www.jstor.org/stable/43593861. (Abruf 09.12.2022).

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Erinnerungen an die Gegenwart: Postkoloniale Erinnerungskulturen zwischen Widerstand und Hegemonie Davide Torrente

Gegenstand dieses Beitrages wird nicht der Kolonialismus an sich sein. Meine Auseinandersetzungen als weißer Bildungs- und Sozialwissenschaftler gelten der wechselseitigen Hervorbringung von Subjekt und Gesellschaft. Hierbei liegt mein Fokus auf den Konsequenzen intersektionaler Verschränkungen von Rassismen und weiteren Machtsystemen (vgl. Arndt 2020) sowie auf der daraus folgenden Diskriminierung markierter Subjekte und Gruppen mittels wirkmächtiger Praktiken der Herstellung sozialer Ungleichheit in der Migrationsgesellschaft (Mecheril 2019). Ausgehend von dieser Position möchte ich im Folgenden die Frage zum Gegenstand machen, inwiefern das gesellschaftliche Erinnern an den Kolonialismus sowie ein Gedenken der durch koloniale Gewalt ermordeten, versklavten, verschleppten und verletzten Menschen in Deutschland selbst durch Kontinuitäten des Kolonialismus strukturiert sind und inwiefern Erinnerungen auf unterschiedlichen Ebenen als rassifiziert gelten können. Grundlage hierfür ist ein Verständnis von Postkolonialität, welches davon ausgeht, dass sich koloniale Strukturen und Verhältnisse tiefgreifend in kolonialisierende und kolonisierte Gesellschaften eingeschrieben haben und auch bestehende Wissenssysteme nicht von diesem Umstand abgekoppelt betrachtet werden können (vgl. auch Mudimbe 1988; Dietrich/Strohschein 2015, S. 119; Messerschmidt 2007, S. 158 f.; Hall 2008; Falschebner 2020). Dies betrifft alsdann auch die Geschichtsschreibung: „Die Historiografie bzw. der ganze (deutsche) Wissenschafts- und Bildungsbetrieb ist im Wesentlichen im 19. Jh. entstanden […] [und] durch koloniale und nationalistische Strukturen und Wissen geprägt, auf denen wir heute aufbauen.“ (Richter 2014; S. 3). Der Blick auf die koloniale Vergangenheit ist demzufolge in Deutschland durch Eurozentrismus und weiße Hegemonien1 geprägt, deren narrative, epistemische und methodische Dimensionen bis heute wirkmächtige Bedeutung für die Hervorbringung und Strukturierung ge-

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Ich gehe von einem Hegemoniebegriff aus, der aus einer postkolonialtheoretischen Sicht die Hervorbringung rassifizierender Dichotomien und Zuordnungspraktiken spiegelt, innerhalb derer weiß positioniert oder gelesen zu sein bedeutet, unmarkiert und/oder bevorteilt positioniert zu werden, was vielfältig postkoloniale Verhältnisse und Rassismen strukturiert (vgl. Frankenberg 2001; Castro Varela/Dhawan 2015; Eggers 2005).

sellschaftlicher Systeme haben (vgl. auch Hall 2008). Eine der Annahmen, auf die ich im Folgenden näher eingehen möchte, liegt nun darin, dass unterschiedliche Situiertheiten in der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit in den hegemonialen Diskursen2 tendenziell unbenannt bleiben – vor allem dort, wo es um die Begrenztheit des Nachvollzugs postkolonialer Erfahrungsrealitäten aus weißer Sicht und die Problematisierung einer von weißen Perspektiven dominierten Retrospektive geht. Ausgehend von Sarah Ahmeds „Phenomenology of Whiteness“ (2007) erachte ich Weißsein hier als „an ongoing and un-finished history, which orientates bodies in specific directions, affecting how they ‘take up’ space“ (Ahmed 2007, S. 150) und gehe mit Blick auf Erinnerungskulturen davon aus, dass auch die Erinnerung an den Kolonialismus in Deutschland von einer Entnennung von Weißsein und einer Fortschreibung weißer Dominanzen geprägt war und ist, welche sich darauf auswirken können, welcher Raum veranderten (vgl. Reuter 2011, S. 19 ff.) Menschen in den Sozialräumen des Erinnerns und auch Gedenkens3 zukommt und somit auch darauf, wie diese gestaltet sind (vgl. Frankenberg 2001). Gleichzeitig – und dies steht meines Erachtens gerade nicht in Widerspruch dazu – wurde eine Aufarbeitung des kolonialen Erbes in Deutschland in den letzten Jahrzehnten maßgeblich seitens Menschen, die sich als Schwarz, afrodeutsch, afrikanisch, afrodiaosporisch, of Color oder auch gänzlich außerhalb dieser Verortungen selbst positionieren, initiiert, formuliert, gefordert und gegen Widerstände erarbeitet (vgl. z. B. Ayim/Oguntoye /Schultz 1986; AntiDiskriminierungsBüro et al. 2004; Ha/al-Samarai/Mysorekar 2007; Obulor 2021; Lutz/Gawarecki 2005). Meine Grundannahme ist hier, dass gerade die Aushandlung um das Erinnern an den Kolonialismus von postkolonialen und rassistischen Kontinuitäten durchzogen ist und als ein sozialräumlicher Kampf um Ressourcen wie Repräsentation, Sichtbarkeit und Gleichberechtigung zu erachten ist, „die grundsätzlich konfliktreich und vermachtet sind“ (de Wolff 2021, S. 416; Ofuatey-Alazard 2015). Postkolonialität bedeutet dabei auch, dass die gesellschaftliche Erinnerung und auch die Geschichtsschreibung zum Kolonialismus von Auslassungen, Verleugnungen und Vergessen geprägt war und ist.. Konzentrieren möchte ich mich ausgehend von diesen grundsätzlichen Perspektiven nachfolgend auf einige Aspekte von Postkolonialität als Bedingung, unter der eine kollektive und aktive Erinnerungskultur an den Kolonialismus ent-

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„Diskurse üben Macht aus, da sie Wissen transportieren, das kollektives und individuelles Bewusstsein speist. Dieses zustande kommende Wissen ist die Grundlage für individuelles und kollektives Handeln und die Gestaltung von Wirklichkeit“ (Jäger 2006: 89; vgl. außerdem Foucault 1978) Gedenken wird hier sowie an allen anderen Stellen des Textes entsprechend der im Eingang des Artikels beschriebenen Form des Gedenkens verwendet – also als Gedenken der gewaltvollen Effekte des Kolonialismus, insbesondere für kolonisierte Subjekte und Gesellschaften sowie deren Nachkommen.

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wickelt und auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft implementiert und organisiert werden kann sowie auf die Bedeutung dieser für einen Kampf um soziale Gerechtigkeit. Wichtigster Bezugspunkt stellen hierbei die Kolonialismen auf dem afrikanischen Kontinent dar; selbstverständlich sind aber auch andere Formen des europäischen wie außereuropäischen Kolonialismus und Imperialismus dringend mitzudenken. Im Folgenden versuche ich, den Gegenstand der Erinnerungskultur zu dezentrieren und als ein nicht eindeutig verortbares und sich auf allen Ebenen des sozialen Miteinanders stetig veränderndes Kontinuum zu begreifen, das aus multiplen Prozessen der gesellschaftlichen Herstellung hervorgeht. Selbstverständlich stellen die folgenden Perspektiven nur Fragmente des Diskurses dar.

Die Mikroebene des Erinnerns Die Möglichkeit reflexiven Erinnerns fußt meiner Annahme nach auf der Fähigkeit des Menschen, eine Retrospektive einzunehmen und mittels Dokumentationen sowie des eigenen Gedächtnisses a. ein virtuelles Abbild selbst erlebter Vergangenheiten in verschiedenen Erlebensdimensionen zu rekapitulieren sowie b. dieses oder ein virtuelles Abbild nicht selbst erlebter Vergangenheit vor dem Hintergrund gegenwärtiger Überzeugungen, Ideale, Bedingungen, Zielsetzungen, etc. zu reflektieren (vgl. z. B. Assmann 2018; Gudehus et al. 2010). Beide Aspekte der individuellen Erinnerungsarbeit sind als abhängig vom jeweiligen Körper zu begreifen, da dieser die kognitiven, motivationalen, emotionalen oder schlichtweg physischen Voraussetzungen dafür beheimatet – „[u]nser Gedächtnis hat eine zweifache Basis: eine neuronale und eine soziale. Ohne die neuronalen Voraussetzungen ist ein Gedächtnis unmöglich“ (Assmann 2000; S. 199), hielt Jan Assmann bereits im Jahr 2000 fest. Daran anknüpfend liegt ein Aspekt dieser Körpergebundenheit von Erinnerungen darin, dass Körper auf vielfältige Weise in gesellschaftliche Bedingungen eingelassen sind und in der Gesellschaft unterschiedlich gelesen, markiert, behandelt, hervorgebracht und positioniert werden, was jeweils unterschiedliche Erfahrungen der einzelnen Menschen in Sozialräumen hervorbringt, die sich dem Körper einschreiben. Zusätzlich hat Maurice Halbwachs „[…] gezeigt, dass Erinnerungen von Haus aus sozial sind und den kommunikativen und emotionalen Kitt einer Gruppe bilden. Seine radikale These war, dass Menschen überhaupt kein im strikten Sinne individuelles Gedächtnis ausbilden, sondern immer schon in Gedächtnisgemeinschaften eingeschlossen sind“ (Assmann 2008, o. S.). Die Art und Weise, wie Menschen Erfahrungen speichern und bearbeiten können, sind demzufolge als unmittelbar abhängig davon zu lesen, welche Anrufungen ihre Körper in der Gesellschaft erfahren und in welche Bedingungen die daraus folgenden Erfahrungen eingelassen sind – so auch in intersektionale, 102

rassistische Verhältnisse (vgl. Butler 1997; Butler 2012; Villa 2012). Meine Annahme ist, dass die Emotionalisierung und Diskrepanzen der diskursiven Debatten um Erinnerungskulturen auch Konsequenz dessen sind, dass wir im Umgang mit dem Wissen um die Verbrechen des Kolonialismus sehr unterschiedlich affiziert sind. Der Wissenssoziologe Karl Mannheim postulierte 1931 die sogenannte „Seinsgebundenheit jedes politischen Wissens“ (Mannheim 1929; S. 161) als epistemologische Grundlage von Wissenschaftlichkeit, die feministischen Standpunkttheorien von Sandra Harding und Donna Haraway verdeutlichten ebenso, dass die Vorstellung allgemeingültiger Objektivität zu verwerfen ist und Wissen auf machtsensible Weise als verortet und situiert in Machtstrukturen des sozialen Miteinanders sowie geprägt durch persönliche Erfahrungen und Wahrnehmungsressourcen aber auch -grenzen reflektiert werden kann (Harding 1991; Haraway 1988). Insbesondere die Postkolonialen Theorien verweisen zudem auf die Bedeutung jener location und der Frage danach, wer von wo aus über was spricht (hier v. a. Madhok 2020). Auch kollektive Erinnerungen und gesellschaftliches Gedenken entstehen an unterschiedlichen Standpunkten und stellen somit in dieser Lesart ein situiertes Wissen (Haraway 1988) dar. 2022 veranstaltete das Max Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle den Workshop „Colonialism and Transgenerational Memory in Europe“. Hierbei wurde reflektiert, dass der gesellschaftliche Rückblick auf den Kolonialismus maßgeblich auch durch Familiengeschichten und besonders Ausblendungen sowie Kolportagen aufseiten (weißer) Europäer*innen geprägt ist; Markus Wurzer kommentiert hierzu: „Vorstellungen über die koloniale Vergangenheit werden nicht nur durch Schulbücher vermittelt, sondern auch innerhalb der Familien weitergegeben. Dabei sind Familiengeschichten eine besonders wirksame Form des kollektiven Gedächtnisses, die das Geschichtsbewusstsein der Menschen über Generationen hinweg nachhaltig prägt. In einer Reihe von Beiträgen wurde untersucht, was in Familien erzählt – oder nicht erzählt – wird. Sie stellten fest, dass Familien oft ein Ort sind, an dem koloniale Mythen über die Geschichte bewahrt werden. So werden beispielsweise die eigenen Vorfahren oft als ,anständige‘ Kolonisten vorgestellt, die die Kolonialuntertanen wohlwollend behandelten, während Ausbeutung und Gewalt in diesem Bild nicht vorkommen“ (Wurzer 2022; Übers. d. d. Autoren).

Die „koloniale Amnesie“ (Zimmerer 2015; S. 1), zu der auch jenes Unvermögen, sich der „alltägliche[n] Gegenwart der kolonialen Vergangenheit“ (Aikins 2004, o. S.; Aikins 2008: o. S.) bewusst zu sein, gehört, spiegelt sich also bereits auf der Mikroebene der Gesellschaft, wobei sich zwischen den Zeilen einer familiären Verzerrung und Romantisierung des Kolonialismus ähnliche Formen der Abwehr zu zeigen scheinen, wie sie die Forschung in Bezug auf die Shoah bereits offengelegt hat (vgl. z. B. Hegener 2019). So ist davon auszugehen, dass auch im Zusammenhang mit dem Kolonialismus seitens der Mehrheit Emotionen 103

wie Scham, Schuld, Trauer, Schmerz, Verzweiflung oder Wut verdrängt werden können, was in eine machtvolle Praxis der Abwehr und Ausblendung der Erinnerung an Vergangenes, also letztlich eine „Entinnerung“ (Aikins 2008, o. S.), münden kann. Die Sozial- und Kulturanthropologin Gloria Wekker hat das Erfordernis einer Verzeichnung oder Verleugnung von kolonialer Gewalt und Postkolonialität seitens weißer Holländer*innen für die Aufrechterhaltung des eigenen Selbstbildes auf den Begriff der weißen Unschuld gebracht (Wekker 2016). In Deutschland werden die Konsequenzen dieser psychischemotionalen Ebene in Bezug auf den Kolonialismus meines Wissens bislang nicht oder kaum im mehrheitlichen Diskurs betrachtet. Eine nähere Untersuchung dieser Zusammenhänge böte sich umso mehr an, als wie dargelegt davon ausgegangen werden muss, dass in der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus tendenziell die weißen Familienhistorien und gewaltvollen Verstrickungen ausgeblendet werden. Unterschiedliche Schwarze Communities innerhalb und außerhalb Deutschlands thematisieren indes deutlich die Konsequenzen von mehrgenerationaler Marginalisierung, Diskriminierung und Gewalt für Körper und Psyche im Zusammenhang mit Postkolonialität und Rassismus. Im Fokus eines selbstorganisierten Empowerments steht häufig auch, eigene, geschützte(re) Räume (safer spaces) für kollektive und transgenerationale Prozesse des Heilens zu schaffen (vgl. z. B. für Deutschland besonders Yeboah 2017; Adamou 2021 und grundsätzlich Alvarez/Farinde-Wu 2022; Spencer 2022; Henderson et al. 2021). Wir wissen aus der Traumaforschung im Kontext des Holocaust, dass traumatisierende Erfahrungen von jüdischen Überlebenden der Shoah nicht allein bei den Menschen verbleiben, die sie selbst erlebt haben, sondern in Form spezifischer psychisch-sozialer Manifestationen durch transgenerationale Dynamiken bis in die vierte Generation übertragen werden können (vgl. z. B. Kogan 2000; Rauwald 2020). Besonders bemerkenswert ist dabei, dass die zurückliegenden Erfahrungen offenbar keiner aktiven Benennung oder Versprachlichung bedürfen, um weitergegeben zu werden – dies kann vielmehr auch und insbesondere durch das Schweigen darüber geschehen (vgl. auch Dunkel 2021). Das Konzept der Transgenerationalität von Traumatisierungen wurde seitdem auch auf andere Kontexte übertragen. So wurde dargelegt, dass auch Gewalterfahrungen im Zusammenhang mit Postkolonialität und Rassismus dem Körper eingeschrieben und noch über Generationen prägend sein können (vgl. z. B. Bouse 2021; Goosby/Heidbrink 2013). Bereits Frantz Fanon reflektierte die psychische Dimension der Kolonialisierung des Geistes – und verdeutlichte, dass diese sowohl die kolonisierenden als auch die kolonisierten Gesellschaften betreffen, was auch Homi Bhabhas späterem Konzept einer postkolonialen Hybridität entspricht (vgl. Fanon 1980; Castro Varela/Dhawan 2015). Die Auseinandersetzung mit kolonialen Verbrechen kann für Menschen mit postkolonialen Rassismuserfahrungen aber dennoch vor andere Herausforderungen gestellt sein. Dies allein, weil Postkolonialität rassistisch markierte Lebensrealitäten auf eine Weise prägt, die nicht 104

pausiert ist, wenn die Mehrheit der Gesellschaft öffentlich zum Kolonialismus schweigt, sodass die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus asynchron zu den dominierenden Diskursen verlaufen und ein Kontinuum darstellen kann. Hinzu kommt, dass marginalisierende Effekte von Postkolonialität – zum Beispiel in Form von multiplen Prekarisierungen durch unsichere Aufenthaltsstatus, Staatenlosigkeit, fehlende Arbeitserlaubnis, die Bewältigung familialer Transnationalität bei eingeschränkten Kapitalien, eine fehlende Repräsentation der eigenen intersektionalen Lebenssituation auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft, etc. – die Möglichkeiten zur Selbstrepräsentation in den Erinnerungsdiskursen deutlich einschränken können. Toni Morrison formulierte axiomatisch: “It’s important, therefore, to know […] the function, the very serious function of racism, which is distraction” (Morrison 1975, o. S.) – diese durch Rassismus entstehenden distractions, können auch die Teilhabe an der öffentlich wirksamen Erinnerungsarbeit prägen. Jegliche Erinnerungspraxis an den Kolonialismus seitens rassistisch diskriminierter Menschen stellt vor diesen Hintergründen einen performativen Akt der widerständigen Individuation und Irritation bestehender Machtverhältnisse dar, weil sie sich innerhalb gesellschaftlicher Strukturen formiert, die seit Jahrhunderten die Ausblendung kolonialer Gewaltverbrechen und ihrer Perspektiven hervorbringt. Andererseits kann die Situation entstehen, dass Menschen mit postkolonialen Rassismuserfahrungen auf markierende und als unsensibel und verletzend empfundene Weise als Schwarz gelesene Expert*innen für die Themen Postkolonialität und Rassismus adressiert werden und professionelles Wissen sowie persönliche Erfahrungen im Kontext eines dominanzgesellschaftlich verwertbaren Lernens über Rassismus einbringen sollen. So kann auch das Sich-nicht-Äußern, das Sich-dem-Verständnis-Entziehen, der Rückzug aus der öffentlich auferlegten Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit und rassistischen Kontinuität in mehrheitlich weißen Räumen, das, was Édouard Glissant mit dem von ihm formulierten „Recht auf Opazität“ (Glissant 1999, S. 24) beschreibt, für Menschen in dieser Situiertheit erschwert sein und der öffentliche Blick auf den Kolonialismus gerade durch die Perspektivierung zu einer Belastung werden.

Die Mesoebene des Erinnerns Die Bedingungen dafür, koloniale Gewaltverbrechen aus Sicht der hierdurch auf verschiedene Weise verletzten und in Kontinuität diskriminierten Menschen und Gesellschaften zu rekonstruieren, unterliegen vielfältigen Herausforderungen. Das Verdrängen dieser Perspektiven scheint dem Kolonialismus inhärent gewesen zu sein und eine Aufarbeitung über Jahrhunderte verunmöglicht. So stellte es eine wesentliche Praktik der kolonialen Unterwerfung Afrikas dar, Wissensbestände und Kanons kolonisierter Gesellschaften in Afrika im Zu105

ge epistemologischer Rassifizierungen als inferior zu markieren, nicht als elaborierte Kulturgüter anzuerkennen und zu zerstören oder zu plündern – ganz abgesehen davon, dass Millionen potenzieller Zeitzeug*innen im Zuge der kolonialen Gewalt ermordet wurden (vgl. zu den Epistemologien des Globalen Südens z. B. de Sousa-Santos 2018). Die gesellschaftliche Retrospektive auf den Kolonialismus ist folglich nicht durch die persönlichen Erfahrungen von kolonisierten Zeitzeug*innen geprägt. Auch die rekonstruktive Arbeit von Wissenschaftler*innen in afrikanischen Ländern ist von den Erschwernissen, diese Perspektiven zu berücksichtigen, nicht ausgenommen. Exemplarisch zeigen sich postkoloniale Konsequenzen in der Rahmung des Forschungsprojektes „Africa’s Collective Memory“ der Foundation AfricAvenir International in Douala, das der Aufbereitung und Aufarbeitung von Zeugnissen des deutschen Kolonialismus in Kamerun diente. So hatte der Leiter des Projektes, Prince Kum’a Ndumbe III., bereits von 1981 bis 1986 Interviews mit kamerunischen Zeitzeug*innen sowie deren Nachkommen geführt. Die daraus entstandenen Audiokassetten wurden erst 30 Jahre später durch eine Kooperation mit dem Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften digitalisiert (vgl. Gerda-HenkelStiftung 2019). Die in Deutschland ansässige Gerda-Henkel-Stiftung wiederum stellte Mittel für die Transkription und Übersetzung der Interviews zur Verfügung, wobei die Gespräche teils in Sprachen geführt worden waren, die zwischenzeitlich bereits fast nicht mehr gesprochen wurden (vgl. ebd.). In der Projektdokumentation ist festgehalten: „Die Geschichte Afrikas wird nach wie vor überwiegend von Nicht-Afrikanern auf Basis nicht-afrikanischer Quellen geschrieben. Sie ist so gesehen eine sehr lückenhafte wenn nicht sogar eine Nicht-Geschichte – soll heißen, eine Geschichtsschreibung ohne die afrikanische Perspektive. Die Gründe dafür reichen in die Kolonialzeit zurück, als die Europäer sich des Kontinents und seiner Bevölkerung bemächtigten und dort ihre europäischen Bürokratien nachbauten. Die schriftlichen Hinterlassenschaften dieser Kolonialherrschaft bilden bis heute den Hauptkorpus an Quellenmaterial, wenn es darum geht, die Geschichte in Afrika zu erforschen“ (ebd.: o. S.).

Auch auf europäischer Seite gibt es das Bestreben, diese Leerstellen nicht hinzunehmen und die Perspektive der ehemals Kolonisierten im Fokus der Arbeit einzubeziehen. 2010 wurde beispielsweise vom belgischen Historiker David van Reybrouck eine historische Rekonstruktion der kolonialen Vergangenheit und Kontinuität in der heutigen Demokratischen Republik Kongo vorgelegt (van Reybrouck 2010). Für diese bereist er das Land und machte Gespräche und Expertisen verschiedenster Kongoles*innen zur Grundlage seiner Reflexionen. Auch dieses Vorgehen verweist jedoch auf die postkolonialen Voraussetzungen einer solchen rekonstruktiven Arbeit – also jene machtvollen Privilegien der relativen Freizügigkeit und Sicherheit, akademischen Vernetzung und Reputation, kapi106

taler Ausstattung etc., über die er als weißer Europäer verfügte. Der Fokus auf weißen Perspektiven in der Betrachtung des Kolonialismus liegt dabei mitnichten nur an einer fehlenden Dokumentation, sondern auch in der Nicht-Anerkennung unterschiedlicher Praktiken des Erinnerns und einer normativen Setzung der Form des Gedenkens innerhalb einer weiß dominierten Academia; so hält Gesine Krüger fest: „Es ist in der akademischen Geschichtsschreibung schwierig, die mündlichen Überlieferungen über den Krieg und die Erfahrungen der Nachkriegszeit angemessen zu würdigen. Entgegen der in der Literatur verbreiteten Bilder des Schweigens und der Verdrängung des Krieges durch die Herero existiert im Gegenteil ein weit verbreitetes Geschichtsbewußtsein, das in den Auseinandersetzungen mit der Verwaltung immer wieder deutlich wurde in den Festen als Bestandteil der Erinnerungskultur seinen Ausdruck findet. Die Feste thematisieren den Krieg und die Flucht, die im kollektiven Gedächtnis und in den Familiengeschichten immer noch lebendig sind“ (Krüger 1999, S. 303 nach de Wolff 2021, S. 57).

Der sich aus diesen diversen Umständen ergebende geschichtswissenschaftliche Fokus auf koloniale Dokumente, die diese Zeit aus Sicht der weißen Kolonialist*innen wiedergeben, ist zudem allein aus methodologischer Perspektive fragwürdig (vgl. z. B. Edeagu 2017). Auf derlei Aspekte geht auch Kaya de Wolff in einer Analyse der post-/kolonialen Erinnerungsdiskurse in der Medienkultur Deutschlands mit Blick auf die Beiträge von Susanne Kuß ein: „Angesichts dieser Problematik stellt auch Susanne Kuß noch in jüngerer Zeit kritisch fest, dass sich die gegenwärtige Forschung ,meist nur auf Quellen der einstigen Kolonialherren‘ (Kuß 2018: 217 f.) stütze, da zum einen nur wenige schriftliche Quellen speziell aus ,afrikanischen‘ Archiven zur Verfügung stünden und zum anderen ,die Akzeptanz des afrikanischen mündlichen Archivs bestehend aus Erzählungen, Tänzen und Theaterstücken in Europa nach wie vor gering‘ (ebd.) sei. Daraus ergibt sich die kritische Feststellung, dass die europäischen Metropolen und Akademien noch immer ,über das Monopol [verfügen], die von ihnen in der Kolonialzeit selbst produzierten Quellen auszuwerten und ihre Version der Geschichte zu schreiben‘ (ebd.)“ (de Wolff 2021, S. 57).

Der Mangel an afrikanischen Stimmen in den europäischen Kolonialismusdiskursen sowie eines Anerkennens unterschiedlicher Praktiken des Erinnerns und auch Gedenkens kann nicht ohne Reflexion der postkolonialen Gesellschaftsstrukturen verstanden werden. So räumt Benedikt Stuchtey mit Blick auf die Debatten zum Umgang mit den kolonialen Vergangenheiten in Europa ein: „In jedem Fall hat für die Ausbildung eines historischen und politischen Bewusstseins für die Kolonialgeschichte seit jeher die Einwanderung von Menschen aus den

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ehemaligen Kolonien eine prägende Bedeutung gehabt. Erst dass ihre Stimmen sich mit denen der Nachkommen der Kolonisatoren mischen, garantiert jedenfalls ein ausbalancierteres Klangbild“ (Stuchtey 2020, S. 13).

Umgekehrt dürfte in einer von weißen Hegemonien geprägten Gesellschaft wie oben bereits dargelegt das daraus hervorgehende Potenzial einer inklusiven Aufarbeitung des Kolonialismus durch die Mechanismen einer Abwehr dominiert sein. Dies verfängt umso mehr, als Schwarzsein nach wie vor kulturindustriell kommerzialisiert und anzueignen versucht wird. Wenn Schwarzsein in der Dominanzgesellschaft hervorgehoben wird, gleichzeitig jedoch die Auseinandersetzung mit kolonialen und rassistischen Verbrechen und Kontinuitäten ausbleibt, findet eine rassistische Ausblendung statt. Dies verdeutlicht sich ebenso in Fällen, in denen die Auseinandersetzung von nicht-Schwarzen Personen und Kulturinstitutionen mit Postkolonialität und Rassismus als vorübergehende Inszenierung von Achtsamkeit eine wirkliche Betrachtung der Vergangenheit unberührt lässt. Die Kritik Schwarzer Organisationen und Personen an jener Praxis ist besonders präsent im Black History Month formuliert, wo flüchtige „Solidaritäten“, welche zuvorderst der Betonung der moralischen Integrität zu dienen scheinen, als rassistische Instrumentalisierung und tokenism kritisiert werden (vgl. z. B. Taka 2022, Bennett 2022, Stewart 2021 oder auch bereits Franklin et al. 1997). Wo zudem eine Verharmlosung und Romantisierung (post-)kolonial-rassistischer Gewalt in der Alltagssprache und alltäglichen Afrikabildern transportiert wird, verdeutlicht sich, dass nicht von einer gemeinsamen, gewaltfreien Sprache für das reflexive Aufgreifen der kolonialen Vergangenheiten im Rahmen einer gemeinsamen Erinnerungskultur ausgegangen werden kann (vgl. Marmer 2015). Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard haben derlei kolonialrassistische Manifestationen in der deutschen Sprache in dem von ihnen herausgegebenen und sicherlich maßgeblich gewordenen Band „Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache“ zum Thema gemacht (Arndt/Ofuatey-Alazard 2015). Der Kolonialismus in seiner historischen Form liegt nur Jahrzehnte zurück, postkoloniale Kontinuitäten sind in globalen Verhältnissen immer noch omnipräsent. Schwarze Menschen in unterschiedlichen Situationen beschreiben die perpetuierte Erfahrungsrealität von ihnen mittels Sprache entgegengebrachten rassistischen Markierungen – oftmals mit kolonialen Bezügen –, welche sich als Mikroaggressionen des Alltags dem körperlichen Empfinden einschreiben können und bedingen können, sich nicht sicher, nicht erwünscht, nicht zugehörig oder abgewertet zu fühlen oder in traumatischen Diskriminierungserfahrungen getriggert zu werden (vgl. z. B. Yeboah 2017). Die Besprechung und Entwicklung einer inklusiven Gedenkkultur setzt vor diesem Hintergrund auch einen antirassistischen Sprachgebrauch voraus, der zur Grundlage nimmt, dass in den Debatten um eine Multidirektio108

nalität des Erinnerns (Rothberg 2009) keine abstrakte Größe verhandelt wird, sondern Strukturen und Entitäten unserer Gesellschaft, welche die Erfahrungen echter Menschen prägen. Die Möglichkeit zu einer gesellschaftlich integrierten Erinnerungskultur an den Kolonialismus verläuft meines Erachtens direkt proportional zur performativen Dekonstruktion einer rassistischen Sprache als basaler Form der Anerkennung dieser Gewaltverhältnisse. Dies betrifft auch, wie wir in Deutschland die kolonialen Genozide und Gewaltverbrechen bezeichnen, die durch europäisch-weiße Kolonialist*innen auf dem Kontinent Afrika verübt wurden – die von der Anthropologin Marimba Ani aus dem Swahili übertragene Bezeichnung Maafa für die Versklavung der afrikanischen Bevölkerung dürfte beispielsweise bislang nicht allzu geläufig sein (vgl. v. a. Arndt 2012; Kelly 2022). Erinnerungskultur in Deutschland ausschließlich vom Standpunkt der hiesigen philosophischen, epistemologischen, organisationalen, symbolischen, moralischen, spirituellen, rituellen und ästhetischen Verortungen zu lesen, drohte, in eurozentrischer Provinzialität zu verbleiben und dabei empathische Sensibilität, welche auch ein Bewusstsein für die Grenzen des eigenen Nachempfindens umfasst, zu erschweren. Die gemeinsame Reflexion dessen, wie eine dezentrierte Form globaler Erinnerungskulturen geschaffen werden können und ob und wenn ja wie kollektive Erinnerungen und Gedenkpraxen von Menschen mit unterschiedlichen Positionen in der Gesellschaft überhaupt orchestriert werden können (oder sollten), scheint indes zielführender zu sein. Neue Formate wie die Podcast-Reihe „Telling our Stories – Erzählte Geschichte“ von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland4 verdeutlichen diesen Ansatz und transportieren in der vielfältigen Reflexion von Postkolonialität und Rassismus vor dem Hintergrund biografischer Perspektiven neue Retrospektiven auf den Kolonialismus und seine Konsequenzen. Die Auseinandersetzung mit den Gewaltverbrechen des Kolonialismus wurde grundlegend in den letzten Jahrzehnten durch die Arbeit von Schwarzen, afrodeutschen, afrodiasporischen und afrikanischen5 Forscher*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen sowie ihren Mitstreiter*innen bzw. allies initiiert und erarbeitet. Selbstorganisationen wie die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, ADEFRA oder Each One Teach One haben in Deutschland wesentliche Beiträge hierfür erkämpft und Diskurse überhaupt erst angestoßen. Davon auszugehen, dass es in Deutschland keine Kultur der Erinnerung an den Kolonialismus gäbe, würde die Leistungen dieser Menschen ausblenden. In Anschluss an diese Arbeit ist die gesamte Zivilgesellschaft heute besonders gefordert, solidarische Bildungsarbeit zu gestalten, aber auch Ressourcen und Privilegien zu bündeln, um die Entwicklung von geschützten Räumen und Bündnissen für eine sensible Auseinandersetzung mit 4 5

tellingourstories.podigee.io/. Sowie selbstverständlich Personen mit anderen Selbstpositionierungen und anderen hybriden Verortungen.

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dem Komplex von Postkolonialität und Rassismus zu ermöglichen (vgl. zum Verhältnis von Empowerment und Powersharing Jagusch/Chehata 2020). Die gesellschaftliche Arbeit an Erinnerungen benötigt Räume, die unter Achtung unterschiedlicher Erfahrungsrealitäten, Sensibilitäten, Vulnerabilitäten sowie Handlungsmacht strukturiert sind. Dies dürfte insofern eine Herausforderung darstellen, als dass eine Dethematisierung von Weißsein bedingen kann, dass eine Reflexion der eigenen Situiertheit und Begrenztheit der eigenen Perspektiven in der Kultur- und Bildungsarbeit ausbleibt. Hinzu kommt, dass ausgewiesene Gedenkstätten, Erinnerungsorte oder gar Stiftungen zur institutionalisierten Bearbeitung des kolonialen Erbes bislang weitestgehend in Deutschland fehlen beziehungsweise die Arbeit der bestehenden Kollektive (z. B. ,postkolonialer‘ Kollektive in unterschiedlichen Städten) allzu oft keine feste Verstetigung erfährt.

Die Makroebene des Erinnerns Betrachtet man den fortgeführten Raubbau an den Ländern und Gesellschaften des Globalen Südens (vgl. z. B. Zimmerer 2020), Diskrepanzen in der Verteilung globaler Ressourcen und Kapitalien im Vergleich zwischen ehemals kolonisierenden sowie ehemals kolonisierten Ländern und Regionen der Welt (vgl. z. B. Haag 2020; Young 2003), waste colonialism (vgl. z. B. Louw 2022), Abhängigkeitsgefüge in der transnationalen Herstellung und Bereitstellung von Waren, oftmals zugunsten der europäischen Nationen und Gesellschaften (vgl. z. B. Ziai 2020), eine fehlende Freizügigkeit für Menschen mit Pässen aus afrikanischen Ländern in Richtung eines Zugangs zu Europa (vgl. z. B. Hishoono in diesem Band) und die gewaltvolle Bekämpfung einer Zuwanderung von Menschen aus afrikanischen Ländern insbesondere der sogenannten „Subsahara“ (vgl. z. B. Lambert 2022), die einen Gipfel in der modernen Ausbeutung und Versklavung Schwarzer Menschen in den nordafrikanischen Staaten und auch Europa trägt (vgl. z. B. Baker 2019; Gross-Wyrtzen 2022) sowie die Spuren des Kolonialismus in unseren heutigen Gesellschaftsstrukturen und Wissenssystemen (vgl. z. B. Castro Varela/Dhawan 2015), verdeutlicht sich verschiedentlich die Kontinuität der durch den Kolonialismus erzeugten Strukturen und Verhältnisse. Die Erarbeitung einer postkolonialen Erinnerungskultur ist auch in diese gegenwärtigen globalen Machtverhältnisse eingelassen. Insbesondere auf der Ebene, in der individuelles oder auch kollektives Erinnern in politisch organisiertes Gedenken übergeht, in größere Erzählungen und Selbstverständnisse, in Leitlinien der staatlichen Grundfeste und narratologische Selbstkonstruktionen einer Nation – Prozesse, die von sehr widerstreitenden Positionen und der Herstellung eines zu exkludierenden Außen gerahmt sind (vgl. El-Tayeb 2016). Diese Kontinuitäten gehen mit weitreichenden Herausforderungen aber auch Reflexionsmöglichkeiten für die Hervorbringung eines machtreflexiven Kolonialgedenkens einher. Die Aufarbeitung des Ko110

lonialismus und seiner Konsequenzen sowie die Entwicklung einer aktiven Erinnerungskultur ist in den ehemals kolonisierenden Gesellschaften Europas noch immer auf unterschiedliche Weise im Entstehen begriffen. Auch wenn Bündnisse zur Aufarbeitung der Vergangenheit entstehen, ist an vielen Stellen noch unklar, welche Verantwortung die ehemals kolonisierenden Staaten für die begangenen kolonialen Verbrechen tragen werden und wie wirtschaftliche Disparitäten und Kontinuitäten rassifizierender Ungleichstellung diese Prozesse prägen werden (vgl. hierzu z. B. den in diesem Band enthaltenen Beitrag von Naita Hishoono sowie Hobuß/Lölke 2007). Die Erinnerung an den Kolonialismus dürfte auch dadurch unabgeschlossen bleiben, dass der Kolonialismus ein transnationales Gebilde ist, das aus einer Dynamik aller daran Beteiligten entwickelt wurde, was Diskussionen um die Eindeutigkeit von Verantwortungen begünstigen kann (vgl. z. B. Wagner 2022; Kendi 2016). Der deutsche Kolonialismus wurde im Vergleich zu England und Frankreich oft als geringfügig bemessen. Abgesehen davon, dass dies hinsichtlich seiner Relationen in Zweifel gezogen werden kann, scheint es über die Bedeutung der durch deutsche „Wissenschaftler*innen“ erarbeiteten Rassentheorien hinwegzutäuschen (z. B. Barbosa et al. 2018). Ebenso auch über transnationale Zusammenhänge und Kooperationen seitens europäischer Nationen in der Entwicklung kolonialer Macht – auch auf der Ebene der Zivilgesellschaft (vgl. z. B. Wagner 2013). Offen ist deshalb, inwieweit Deutschland auch eine Mitverantwortung für koloniale Verbrechen trägt, die offiziell als die der anderen Nationen gelten (z. B. der Verbrechen in der heutigen Demokratischen Republik Kongo oder der transatlantischen Versklavung afrikanischer Menschen) und ob in einer von Hybridität, Globalisierung und Transkulturalität geprägten Migrationsgesellschaft derlei isolierende Trennungen überhaupt vorgenommen werden können (vgl. ebd.). Der Untertitel der im September 2022 veranstalteten Konferenz Beyond lautete „Towards a Future Practice of Remembrance“ – der Blick auf die Vergangenheit des Kolonialismus bleibt in dieser Lesart verbunden mit dem weiten Blick auf die Zukunft des globalen Miteinanders und die Frage, welche gemeinsamen, transnationalen Synergien geschaffen werden, den Komplex aus postkolonialer globaler Ungleichheit und systemischen Rassismen anzugreifen sowie transnationale und hybride postkolonialkritische Erinnerungskulturen zu fördern, um die bisherige Perspektive auf die koloniale Vergangenheit gegen den Strich zu lesen und Leerstellen zu analysieren. Vanessa Thompson und Veronika Zablotsky halten fest: „Wiedergutmachung im Sinne des Luxemburger Abkommens von 1952 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel folgt jedoch einer Kreditlogik, welche unter ›ehrlicher Aufarbeitung‹ die Kalkulation und Tilgung vergangener ›Unrechtsschulden‹ versteht, um die Normalisierung der nationalen Gegenwart zu erwirken, ohne jedoch weiter zu thematisieren, inwiefern die epistemischen, institutionellen, kulturellen und diskursiven Voraussetzungen für vergangene Ver-

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brechen gegen die Menschlichkeit weiterhin operativ bleiben und zur Produktion der postkolonialen, post-genozidalen Gegenwart beitragen. Vergangenheitsbewältigung sollte jedoch nicht die Wiederherstellung einer normalisierten nationalen Gegenwart bezeichnen. Insofern sind materielle Entschädigungen zwar ein zentraler Teil von Prozessen der ›Wiedergutmachung‹ angesichts unsagbarer Verbrechen, jedoch nicht auf Grundlage unreflektierter kolonialer Kontinuitäten, welche weiterhin gewaltvolle Formen der Herrschaft hervorbringen, zu deren Trivialisierung symbolische Anerkennungs- und Gedenkpolitik beitragen. ›Wiedergutmachung‹ als ›Selbstverpflichtung‹ ohne rechtliche Veranlassung muss dabei aus postkolonialer Perspektive ebenso kritisch diskutiert werden wie symbolische Anerkennung. Wer definiert Opfergruppen, wer repräsentiert sie (und warum) und wer wird aus dem Raum des Repräsentierbaren und An-zuerkennenden ausgeschlossen? Wer kalkuliert die ›Unrechtsschulden‹, wer verwaltet und verteilt die Entschädigungszahlungen? Wer entscheidet, wann die Gegenwart ›rehabilitiert‹ ist? Diesen logistischen Fragen liegen epistemische Vorannahmen zugrunde, welche von Nachfahren der Opfer, Selbstorganisationen, und Opferverbänden kritisch diskutiert werden (sollten), um zu vermeiden, dass vorhersehbare Formen der Ungerechtigkeit reproduziert werden, während Täter_innengesellschaften sich weißwaschen können“ (Thompson/Zablotsky 2017, S. 172 f).

Intersektionale Erinnerungskulturen? Der Kolonialismus scheint aus weißer Perspektive fern und nah, vergangen und präsent. Die plurale, mehrdeutige, fluide, hybride und kontinuierlich neu zu justierende Erinnerung und Aufarbeitung der Vergangenheit kann nicht ohne die postkolonialen Kontinuitäten gedacht werden (vgl. Bechhaus-Gerst 2020; Hobuß/Lölke 2007). Dabei ist es entscheidend, von welchem und wessen Standpunkt aus reflektiert wird. Mark Terkessidis stellte mit seinem 2021 erschienen Buch zur Verflechtung von einem kollektiven Gedächtnis und einer Erinnerung an den Kolonialismus sowie heutigen Formen des Rassismus die Frage, die im impliziten Fokus der Debatten steht: „Wessen Erinnerung zählt?“ (Terkessidis 2021). Das von Kimberlé Crenshaw entwickelte Konzept zur Beschreibung von Intersektionalität kann in Anschluss daran als besonders geeignet für eine Analyse der unterschiedlichen Ausblendungen in Erinnerungskulturen gelten und in den Blick rücken, wessen Erinnerungen nicht zählen. Intersektionalität beschreibt Crenshaw zufolge, dass die Herstellung von sozialer Differenz und Diskriminierung nie ausschließlich in einer Kategorie verortet ist, sondern aus der dynamischen und historischen Verflechtung verschiedener unser soziales Miteinander strukturierenden Formen von Macht hervorgeht, welches dann auch subalterne und unsichtbare Positionen erzeugt (Crenshaw 1989; Mauer/Leinius 2021). Intersektionalität kann als Bedingung postkolonialer Erinnerungskulturen 112

in Deutschland gelten: Welche Perspektiven auf den Kolonialismus fehlen und welche Bedeutung hat das für die Analyse des Kolonialismus? Welche Bedeutung spielen andere Dimensionen der sozialen Differenz dafür, wie der Kolonialismus erinnert wird oder gar erlebt wurde? Welche Formen sozialer Diskriminierung strukturieren den Prozess der Herstellung und Bearbeitung von Erinnerungen? Welche werden in den dominanten Diskursen zum Kolonialismus ausgeblendet? Welche praxeologischen Reflexionen einer Begleitung des Erinnerns an den Kolonialismus mittels Bildungsangebote lässt sich aus einer intersektionalitätssensiblen Perspektive gewinnen? Aber auch: Worin bestehen intersektionale Unterschiede und damit Begrenzungen einer gemeinsamen Erinnerungskultur und eines kollektiven Aufarbeitens des Kolonialismus? Eine Sensibilität für die eingangs skizzierte Situiertheit verweist auf die Bedeutung dessen, dass Möglichkeiten dafür geschaffen und gestärkt werden, dass Menschen mit postkolonialen Rassismuserfahrungen maßgeblich an der Entwicklung von Strukturen der Erinnerung an den Kolonialismus und koloniale Gewalt mitwirken können, wenn sie dies für sich entscheiden, sowie dass diese Repräsentation als basale Grundlage unseres demokratischen Miteinanders erachtet wird – ohne dass daraus eine profilierende Aufwertung durch das Label Diversität erfolgt (vgl. für eine antirassistische Perspektive auf den Begriff Diversität innerhalb weißer, hegemonialer Kontexte sowie die Critical Diversity Studies in Deutschland v. a. Maisha Auma, z. B. Auma 2011). Gleichzeitig verweist sie aber auch auf die grundsätzliche Bedeutung der Reflexion der eigenen intersektionalen Situiertheit für ein machtkritisches Erinnern an den Kolonialismus. Wenn Postkolonialität bedeutet, dass der Kolonialismus bis heute wirkmächtige Verschränkungen verschiedener Machtsysteme – bzw. die Machtsysteme selbst – hervorgebracht hat, kann ein öffentliches Erinnern meines Erachtens nur dann als angemessen gelten, wenn es eine Reflexion über die Folgen der daraus hervorgehenden, unterschiedlichen Situiertheiten umfasst (vgl. auch Amoussou/Ahoumenou 2022 sowie zu einem machtkritischen Gedenken v. a. Attia et al. 2021). Die Frage danach, wessen Erinnerung zählt, verweist aber zugleich auf die komplexen Realitäten der Migrationsgesellschaft bzw. der Gesellschaft der Vielheit (vgl. Terkessidis 2018), welche von unterschiedlichen Formen der Diskriminierung ebenso durchzogen ist wie von unterschiedlichsten biografischen und transgenerationalen Erfahrungen in der Vergangenheit und Dichotomien durch Hybridität ersetzt. Eine intersektionale Analyseperspektive ist insofern fruchtbar, als sie einerseits diese einzigartigen Lebensrealitäten und die Differenziertheit der heterogenen Gesellschaft sichtbarer macht und andererseits gerade dadurch Solidarisierungsprozesse ermöglicht. Der Kampf gegen Rassismus ist in der Mehrheitsgesellschaft Deutschlands tendenziell als ein universaler formuliert – dennoch können gerade mit Blick auf die Vergangenheit und eine inklusive Kultur des Gedenkens die sich aus den unterschiedlichen Historizitäten ergebenden, differenten Funktionsweisen, Symboliken und Konsequenzen 113

verschiedener Rassismen Betrachtung finden. Andernfalls droht das Spezifische jeweils überdeckt zu sein. Die Kämpfe um die Präsenz und Form von Erinnerungen in der Öffentlichkeit sind auch Kämpfe um begrenzte, immaterielle wie materielle Ressourcen der Gesellschaft. Es sind auch Raumkämpfe. Sie entstehen meines Erachtens auch, weil Menschen aufgrund der Machtstrukturen darum kämpfen müssen, dass das Spezifische ihrer (transgenerationalen) Erfahrungen und historischen Eingebundenheit in den dominanten Diskursen nicht nivelliert wird und sie gesehen und mithin beteiligt werden. So verstanden unterstützt die Achtung der jeweiligen Individualität eine konsequente Solidarisierung angesichts von Überschneidungen der Lebensrealitäten und Gemeinsamkeiten der Erfahrungen – auch mit Blick auf die Vergangenheiten. Das Gewahrsein der pluralen Vergangenheiten und ein vielstimmiges Gedächtnis können maßgeblich gegen das Vergessen und Tabuisieren der gewaltvollen Effekte von fortbestehenden Machtverhältnissen wirken. Räume, Strukturen und sonstige Möglichkeiten zur gleichberechtigten Gestaltung pluraler Erinnerungskulturen in der Migrationsgesellschaft zu stärken, kann deshalb meines Erachtens als zentraler Beitrag und zugleich als Erfordernis für soziale Gerechtigkeit und einen Kampf gegen Rassismen erachtet werden und partizipative Prozesse auf verschiedene Weisen unterstützen (vgl. zum Zusammenhang von Rassismus und Vergessen Nobrega/Quent/Zipf 2021). Gedächtnisräume, welche intersektionale Sensibilität für Differenz wie Verwobenheit der Vergangenheiten zur Grundlage nehmen, können bestenfalls Sozialräume darstellen und demokratische Strukturen stärken, in denen keine Entscheidung zwischen einem Kampf gegen anti-Schwarzen Rassismus, Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus oder Gadje-Rassismus (vgl. zum Begriff sowie zur Ausblendung des Pharrajmos als Genozid in Europa unbedingt Fernandez 2020; Randjelović et al. 2022) sowie weitere Rassismen verlangt ist, sondern neue Perspektiven für Solidarisierungen aufgeschlossen werden, wo immer diese möglich sind.

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3 Holocaustgedächtnis im internationalen Vergleich: Polen, Israel, USA

Von Madagaskar nach Sochy: Gibt es in Polen eine „multidirektionale Erinnerung“? Zofia Wóycicka

Wie von Zofia Trębacz in ihrem Buch „Nie tylko Palestyna [Nicht nur Palästina]“ beschrieben, entsandte die Regierung der II. Polnischen Republik 1937 im Einvernehmen mit den französischen Kolonialbehörden eine Delegation nach Madagaskar, um die Möglichkeit jüdischer Siedlungen als Lösung für die „jüdische Frage“ in Polen zu prüfen. Wenngleich diese Pläne nie in die Tat umgesetzt wurden, macht die Geschichte deutlich, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen den polnischen Kolonialbestrebungen in der Zwischenkriegszeit und dem wachsenden Antisemitismus in den 1930er-Jahren gibt (vgl. Trębacz 2018, S. 194–272). Anders als in Deutschland wird Kolonialismus in Polen jedoch nur selten mit Antisemitismus oder dem Holocaust in Verbindung gebracht. Die polnische Gesellschaft ist stark polarisiert, und zwar nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch im Umgang mit historischen Themen. Wir erleben einen ständigen Kampf zwischen dem, was man als kosmopolitische (d. h. stärker selbstreflektierende und opferzentrierte) Sichtweise und als antagonistische (d. h. nationalheroische) Sichtweise auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust bezeichnen könnte (vgl. Levy/Sznaider 2001; Cento Bull/Hansen 2016; Cento Bull/Hansen/Colom-González 2021).1 Diese Auseinandersetzung dauert nunmehr schon seit über zwei Jahrzehnten an. Seine Ursprünge lassen sich auf die Veröffentlichung des Buches Nachbarn von Jan Tomasz Gross (2000) und die anschließende Debatte über die Verwicklung breiter Schichten der polnischen Gesellschaft in den Holocaust (von Passivität angesichts der Verbrechen über die Profitierung vom Völkermord bis hin zu Denunziation und einer direkten Beteiligung an den Morden) zurückführen (vgl. Gross 2001). Diese Diskussion findet auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Medien statt, so etwa unter Historikern oder in Museen und in Film, Kunst und Literatur. Seit der Machtübernahme durch die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) im Jahr 2015 erfährt die antagonistische Form der Erinnerung jedoch eine massive staatliche Unterstützung, während andere Stimmen gleichgeschaltet oder marginalisiert werden. Dies geschieht durch administrative, rechtliche und finanzielle Maßnahmen wie die Übernahme von Museen und 1

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Zu den kosmopolitischen und antagonistischen Formen des Gedenkens siehe unter anderem: Levy/Sznaider (2001); Cento Bull/Hansen (2016); Cento Bull/Hansen/Colom-González (2021).

anderen Forschungs- und Bildungseinrichtungen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die „feindliche“ Übernahme des Museums des Zweiten Weltkrieges in Danzig im Jahr 2017 (vgl. Machcewicz 2018). Wenn solche Maßnahmen nicht oder nur sehr schwer umzusetzen sind, gründet die PiS neue, konkurrierende Institutionen. Dies zeigt sich etwa am Fall des Warschauer Ghetto-Museums, das als Konkurrenz zu dem bereits bestehenden Museum der Geschichte der polnischen Juden Polin ins Leben gerufen wurde (vgl. Radonić 2020). Eine weitere Methode zur Einschränkung und Kontrolle der öffentlichen Diskussion über Geschichte besteht in der Kürzung von Mitteln und der Herabstufung abweichlerischer Institutionen und in der Weiterleitung des Geldes an Einrichtungen, die die offizielle historische Sichtweise unterstützen. Schließlich ergreift die PiS auch rechtliche Schritte, um Historiker, Journalisten, Künstler und andere, die nicht mit der vorgeschriebenen Geschichtsinterpretation in Einklang stehende Meinungen äußern, zu verfolgen oder zumindest einzuschüchtern. Im Jahre 2018 brachte die Partei eine Novelle zu dem Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) ein. Das neue Gesetz sah eine Strafe von bis zu drei Jahren Gefängnis für jeden vor, der „das polnische Volk oder den polnischen Staat öffentlich und faktisch für die nationalsozialistischen Verbrechen des Dritten Reiches verantwortlich oder mitverantwortlich macht“ (Ustawa z dnia 26 stycznia 2018 r.). Nach einem diplomatischen Eklat mit Israel wurde die Novelle teilweise wieder zurückgenommen. In Kraft blieb jedoch eine Klausel, die es Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ermöglicht, natürliche und juristische Personen wegen Schädigung „des guten Namens der Republik Polen und des polnischen Volkes“ zu verklagen (Obwieszczenie Marszałka Sejmu Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 3 października 2018 r). Ein weiteres Beispiel ist die Verleumdungsklage gegen Barbara Engelking und Jan Grabowski, zwei Historiker des Polnischen Zentrums für Holocaust-Forschung an der Polnischen Akademie der Wissenschaften und Herausgeber des Gemeinschaftswerkes „Dalej jest noc (Night without End)“ (vgl. Engelking/Grabowski 2018, 2022), das das Schicksal von Juden während des Holocaust in ausgewählten Landkreisen des von NS-Deutschland besetzten Polen detailliert beschreibt und gleichzeitig auch die Haltung der polnischen Bevölkerung gegenüber den verfolgten Juden beleuchtet. Eine Angehörige einer der in dem Buch erwähnten Personen warf den beiden vor, sie hätten ihn in Verruf gebracht, indem sie behaupteten, er trage eine Mitverantwortung für den Verrat von Juden, die sich in einem nahegelegenen Wald versteckt hielten (vgl. Klauziński 2021; Leszczyński 2021a; Leszczyński 2021b). Erst im Berufungsverfahren wurden die Historikerin und der Historiker von allen Anklagepunkten freigesprochen. Zudem finanzierte die Regierung die „Reduta Dobrego Imienia (Die Festung des guten Namens)“, eine an dem Rechtsstreit beteiligte „NGO“, die den Prozess de facto nicht nur ins Rollen brachte, sondern die Klägerin auch während des gesamten Verfahrens finanziell und logistisch unterstützte.

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Die PiS-Regierung ist also – um es mit den Worten von Jan Kubik und Michael Bernhard zu formulieren – ein perfektes Beispiel für einen „mnemonischen Krieger“ (mnemonic warrier). „Mnemonische Krieger“ im Sinne der Definition der beiden Politikwissenschaftler unterscheiden streng zwischen ,uns‘, „den Hütern der ,wahren‘ Version der Vergangenheit, und ,ihnen‘, den Tatsachenverdrehern oder Opportunisten, die die ,angemessene‘ Form der kollektiven Erinnerung nicht kennen oder sich nicht darum scheren“ (Bernhard/Kubik 2014, S. 17). Letztere sind somit von der öffentlichen Diskussion auszuschließen. Das bedeutet nicht, dass es sich bei dem, was wir derzeit in Polen beobachten, lediglich um ein Aufleben alter nationaler historischer Sichtweisen aus dem 20. Jahrhundert handelt. Europäisierungs- und Globalisierungsprozesse haben die in Polen geführte Diskussion über Geschichte, insbesondere über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust, nachhaltig beeinflusst. Dabei kam es jedoch nicht zu einer Annäherung oder Universalisierung verschiedener Narrative. Ganz im Gegenteil, die Konfrontation mit transnationalen Diskursen hat in Polen und einigen anderen, meist mittelosteuropäischen Ländern offenkundig eine Gegenreaktion hervorgerufen und führt zu einem Wiederaufleben oder besser gesagt zu einer Neuerfindung nationaler oder gar nationalistischer Vergangenheitsbilder. Die Entkolonialisierungsdebatte wird in Polen in einem anderen Kontext geführt, so etwa im Zusammenhang mit den polnisch-ukrainischen Beziehungen und der Situation der Bauern in Polen-Litauen und danach (vgl. u. a. Beauvois 2005; Huk 2013; Pobłocki 2021; Sowa 2015). Einige wenige, meist nicht polnische oder an ausländischen Universitäten tätige Wissenschaftler:innen haben zudem versucht, das postkoloniale Paradigma auf die deutsche Besatzung Polens während des Zweiten Weltkrieges und den Holocaust anzuwenden (vgl. u. a. Biskupska 2022; Conrad 2019; Głowacka 2022). Es zeigte sich dabei, dass der postkoloniale Ansatz einen Rahmen bietet, der es möglich macht, die Zusammenhänge zwischen dem Völkermord an den europäischen Juden und Jüdinnen und anderen von Nazi-Deutschland insbesondere in Ostmittel- und Südeuropa begangenen Massenverbrechen zu verdeutlichen, ohne dabei die Besonderheiten des Holocaust zu verwischen. Jadwiga Biskupska äußert sich hierzu wie folgt: „Im osteuropäischen Raum, der häufig in einem national(istisch)en Rahmen gesehen wird, schafft die Anerkennung eines Siedlerkolonialismus einen Ansatzpunkt, der nicht von den nationalen Loyalitäten und Verhaltensweisen der einheimischen Bevölkerung ausgeht. Dies stellt einen entscheidenden Vorteil dar“ (Biskupska 2022, S. 178).

Das Modell, so Biskupska weiter, „unterstreicht zudem den Zusammenhang zwischen Siedlerkolonialismus und Genozid.“ Allerdings findet ein solcher Ansatz unter polnischen Historiker:innen und vor allem in der breiten Öffentlichkeit (noch) keine allgemeine Anerkennung. 124

Wenn man in Polen von einer „multidirektionalen Erinnerung“ (Rothberg 2021) sprechen kann, geht es dabei somit nicht um die Suche nach Zusammenhängen oder Parallelen zwischen Rassismus und Antisemitismus oder Kolonialverbrechen und dem Völkermord an den europäischen Juden und Jüdinnen, sondern vielmehr um eine Bezugnahme auf den Holocaust und auf die Formen und die Sprache des Holocaust-Gedenkens im Zusammenhang mit dem Schicksal der nichtjüdischen Pol:innen während des Zweiten Weltkrieges. Ein solches Beispiel ist das Buch „Mała Zagłada (Die kleine Vernichtung)“ von Anna Janko (2015, 2020). Das erstmals im Jahr 2015 erschienene Werk erzählt die Geschichte des südostpolnischen Dorfes Sochy, das die Deutschen im Juni 1943 als Vergeltung für die mutmaßliche Unterstützung von Partisanen dem Erdboden gleich machten. Nahezu 200 Menschen, also fast die gesamte Dorfbevölkerung, wurden dabei ermordet. Das Massaker war Teil der sogenannten „Aktion Zamość“, einer groß angelegten Deportierungsaktion, die zwischen November 1942 und August 1943 im Rahmen des Generalplans Ost stattfand (vgl. Biskupska 2022; Jaczyńsk 2012; Sienkiewicz/Hryciuk 2009). Mehr als 100 000 „ethnische“ Polen und Ukrainer wurden aus der Region Zamość vertrieben und durch rund 10 000 deutsche Siedler aus Bessarabien und Bukowina ersetzt. Die Vertriebenen kamen in Durchgangslager, von wo aus man sie zur Zwangsarbeit schickte oder in die Konzentrationslager Majdanek und Auschwitz-Birkenau deportierte, wo viele von ihnen starben. Rund 30 000 Kinder, die als für die Germanisierung geeignet galten, wurden ihren Eltern entrissen. Das Buch hat die Form eines Gesprächs zwischen der Autorin und ihrer Mutter, die das Massaker als neunjähriges Mädchen überlebte. Im Verlauf der Unterhaltung, die eher einem Monolog gleicht, beleuchtet Janko zudem auch ihr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter und ihre eigene Traumatisierung als Überlebende der zweiten Generation. Dabei bedient sie sich einer stark an die Holocaust-Literatur angelehnten Sprache (vgl. Chmielewska 2017). 2018 wurde das Buch unter finanzieller Beteiligung des Polnischen Filminstituts und des Kulturministeriums in Form eines vom polnischen Fernsehen mitproduzierten Cartoon-Dokumentarfilms verfilmt (vgl. Korycka-Gruz 2018). Schon der Titel stellt einen unverkennbaren Verweis auf den Holocaust dar, denn im Polnischen bezeichnet der Begriff Zagłada (Vernichtung) großgeschrieben den Völkermord an den Juden. Somit definiert das Buch das Schicksal der Einwohner von Sochy als einen Genozid, der, wenn auch „kleiner“ als die „Wielka Zagłada” (Große Vernichtung), doch mit ihr vergleichbar ist. Auf deklarativer Ebene unterscheidet Janko zwischen der „Großen“ und der „Kleinen“ Vernichtung, wenn sie beispielsweise schreibt, „Ich bin froh, dass du kein jüdisches Mädchen warst … Denn jemand hat einmal ausgerechnet, dass jüdische Mädchen eine

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fünfzehn Mal geringere Überlebenschance hatten“ (Janko 2015, S. 135).2 Bisweilen scheint sie den Ausdruck „Kleine Vernichtung“ jedoch auch ironisch zu verwenden. So fragt sie sich beispielsweise, warum es analog zu dem Film über Oskar Schindler noch keinen Film über das Ehepaar Róża und Jan Zamoyski gibt, das mithalf, polnische Kinder aus der Region zu retten. „Das verstehe ich nicht“, so ihre Worte. „War die Vernichtung zu klein? War die Tat nicht heldenhaft genug?“ (Janko 2015, S. 339). Beachtenswerterweise verwenden Historiker:innen gerade die in Jankos Buch beschriebene sogenannte „Aktion Zamość“ und generell die deutschen Gewaltverbrechen im Bezirk Lublin als Schlüsselbeispiel für den kolonialen Charakter der Nazipolitik im besetzten Polen (vgl. Biskupska 2022). Ein solcher Rahmen könnte eine Möglichkeit bieten, die sowohl gegen Juden und Jüdinnen wie auch gegen Pol:innen begangenen Verbrechen miteinander in Verbindung zu bringen, ohne den Holocaust zu relativieren. Allerdings geht Janko an keiner Stelle auf die Kolonialismus-Debatte ein, die zugegebenermaßen zur Zeit der Erscheinung des Buches in Polen kaum Fuß gefasst hatte. Vielmehr stellt sie lockere Zusammenhänge zwischen Berichten über den Holocaust und den Berichten über das Schicksal der polnischen Einwohner:innen der Region Zamość her. In Ermangelung eines breiteren historischen Kontextes laufen diese Vergleiche zweifellos auf eine Gleichsetzung der jüdischen und polnischen Schicksale hinaus. In einem Kapitel bezieht sich die Autorin eindeutig auf das Pogrom von Jedwabne und die Scheune, in der die polnischen Einwohner:innen der Stadt im Juli 1941, wenige Tage nach dem deutschen Einmarsch ihre jüdischen Nachbar:innen bei lebendigem Leib verbrannten (vgl. Gross 2000; Machcewicz/Persak 2002). Allerdings wird die Scheune bei Janko zu einem Symbol für polnisches Märtyrertum. „Bei lebendigem Leib verbrennen. Darüber denkt man besser nicht nach. In Scheunen, in Häusern, in Kirchen – während der Besatzung Polens gab es dutzende, ja hunderte solcher Vorfälle. In den Dörfern um Zamość rieten ältere Frauen jüngeren, sich einfach auf den Boden fallen zu lassen, denn es sei besser, mit einem Knüppel erschlagen zu werden, als zu verbrennen …“ (Janko 2015).

Ähnliche Analogien finden sich auch im Film, wenn Janko etwa das unsägliche Bild der Frau mit einem Kind, die 1942 im ukrainischen Ivanhorod von einem deutschen Soldaten erschossen wird, kommentiert. „Dieses Bild berührt mich. Es ist eine Ukrainerin, die mit einem Kind in ihren Armen davonrennt. Hinter ihr ein Soldat, der mit einem Gewehr auf sie zielt – vermutlich unmittelbar, bevor er sie erschießt. Ich kann dieses Bild nicht ansehen und dabei ruhig bleiben. Ich nehme das sehr persönlich, denn die Szene gleicht der Situation

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Alle Übersetzungen aus der polnischen Buchfassung von Zofia Wóycicka.

meiner 30-jährigen Großmutter mit Pünktchen [Spitzname ihrer jüngsten Tochter] auf dem Arm“ (Korycka-Gruz 2018, 32:47–33:19).

Die Autorin und der Regisseur des Films scheinen also dem Publikum zuzuzwinkern, als wollten sie sagen: „Wir wissen, dass es politisch nicht korrekt ist, die Singularität des Holocaust infrage zu stellen. Aber ehrlich gesagt, worin besteht der Unterschied zwischen dem Schicksal der jüdischen und der polnischen Mutter und ihrem Kind?“ Gleichzeitig weist Janko jeden Vorwurf einer polnischen Mittäterschaft am Holocaust zurück. Sie schreibt hierzu: „Schließlich ist diese – diese schlimme Sache – nicht HIER passiert … Nicht in Polen. Das ist nichts weiter als eine geografische Illusion. Der Holocaust fand in Deutschland statt, das Blut tränkte deutschen Boden, der Rauch aus den Krematorien erhob sich in den deutschen Himmel. Deutschland war damals überall. Laden Sie die Opfer nicht vor unserer Tür ab …“ (Janko 2015, S. 155).

Pol:innen werden in Jankos Buch nahezu ausschließlich als passive Zuschauer:innen oder Helfer:innen beschrieben. Die Autorin gibt zu, dass es polnische Informant:innen und auch Pogrome gab. Fälschlicherweise behauptet sie jedoch: „Auf polnischem Gebiet überlebten prozentual gesehen in etwa genauso viele Juden wie in anderen Ländern, was in absoluten Zahlen die größte Anzahl an Überlebenden ausmacht. Doch nur in Polen wurde die gesamte Familie mit dem Tod bedroht, wenn sie Juden versteckte“ (Janko 2015, S. 308).

Wenngleich das Buch kein Bestseller wurde, gewann es einige polnische Literaturpreise. Was es jedoch so interessant macht, ist die Tatsache, dass es als beispielhaft für eine in der polnischen Gesellschaft nicht unübliche Art der Geschichtsbetrachtung angesehen werden kann. Es wurde noch vor der Machtübernahme durch die Partei Recht und Gerechtigkeit zum ersten Mal veröffentlicht und ist gespickt mit vielen Themen, die in der polnischen Öffentlichkeit schon lange vor 2015 eine Rolle spielten. Wie Katarzyna Chmielewska anmerkt, hat die „Gegenüberstellung des Holocaust mit dem Massaker und den massenhaften Zwangsaussiedlungen, die in Zamojszczyzna stattfanden“, in Polen eine lange Tradition, die bis zu der antisemitischen Kampagne der Jahre 1967/68 zurückreicht (vgl. Chmielewska 2017, S. 40). Und wenngleich Janko behauptet, eine in Vergessenheit geratene, verschwiegene Vergangenheit wieder aufzudecken, kann man sagen, dass sich ihr Buch tatsächlich „in diese alte und nur anscheinend längst vergessene Strömung einfügt“ (Chmielewska 2017, S. 41). Gleichzeitig knöpft die Autorin von „Mała Zagłada“ jedoch auch an den zeitgenössischen internationalen Holocaust-Diskurs an. 127

In der „Multidirektionalen Erinnerung“ behauptet Michael Rothberg, Erinnerung müsse kein kompetitiver Prozess sein und die Erinnerung und das Gedenken an den Holocaust stellten andere Völkermorde und sonstige Ereignisse extremer Gewalt nicht zwangsläufig in den Schatten. Vielmehr ist Rothberg der Ansicht, „dass die Entstehung eines globalen Holocaustgedenkens zur Artikulation anderer Geschichten beitragen und keineswegs die Sicht auf andere historische Erinnerungen versperrt hat, wie die Vorstellung eines von Konkurrenz geprägten Kampfes um Anerkennung unterstellt“ (Rothberg 2021, S. 30–31). Zu nennen sind diesbezüglich unter anderem die Geschichte der Sklaverei, der algerische Unabhängigkeitskrieg oder der Völkermord in Bosnien in den 1990er-Jahren. In Deutschland etwa, wo das öffentliche Bewusstsein für den mörderischen Charakter der deutschen Besetzung Polens und anderer mittelost- und südeuropäischer Länder über die Shoah hinaus nach wie vor sehr schwach ausgeprägt ist, könnte die Erläuterung der Zusammenhänge zwischen der deutschen Politik gegenüber der polnischen Bevölkerung und dem Holocaust helfen, die Erinnerung und Anerkennung anderer während des Zweiten Weltkrieges begangener Massenverbrechen zu fördern. Allerdings führt die Verwendung des Holocaust als „Metapher oder Analogie“ (Rothberg 2021, S. 36). für das Schicksal der ethnischen polnischen Bevölkerung in Polen nach wie vor nur allzu oft zu dem, was Rothberg als einen „hässlichen Wettstreit komparativer Viktimisierung“ bezeichnete (Rothberg 2021, S. 32).

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Holocausterinnerung und das israelische Nationalnarrativ Meron Mendel

Es gehört wohl zur Kindheitsfantasie vieler Jüdinnen* Juden, nachträglich Hitler zu töten. Mir ging es in meiner Kindheit in Israel nicht anders: Die Nazis waren die ultimativen Schulhof-Bullys, die ich in meiner Fantasie ebenso erbittert bekämpfte wie das jüdische Guerilla-Kommando in Tarantinos Kriegsfilm-Groteske „Inglourious Bastards“. Eine Variante beschreibt David Grossman in seinem autobiografisch geprägten Roman „Stichwort: Liebe“: Der achtjährige Momik hört aus den Gesprächen der Erwachsenen die Existenz eines „Nazi-Biests“ heraus, das im Land „Dort“ seine Angehörigen quälte und das Momik zu gern besiegen möchte, um die Wunden seiner Familie zu heilen. Die Bedeutung des Holocaust für das kollektive Bewusstsein und die politische Kultur in Israel ist auch heute zentral. Sogar zentraler denn je. Sie wird vom Kindergartenalter über die Schulzeit bis in die Zeit im Militärdienst als zentraler Aspekt der Erziehung vermittelt. Es verläuft kaum eine politische oder gesellschaftliche Debatte, in der die Schoah nicht vorkommt: das nukleare Programm des Iran sei „Auschwitz“, gemischte Ehen von jüdischen und nichtjüdischen Menschen seien der „stille Holocaust“, weil sie die Existenz des jüdischen Volks gefährdeten, die Bekämpfung der COVID-19-Pandemie wird mit dem Sieg gegen NaziDeutschland verglichen und die wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie als „wirtschaftliche Schoah“ bezeichnet. Es vergeht kein Tag, an dem die Schoah in den israelischen Medien unerwähnt bleibt: sei es in innerisraelischen Angelegenheiten, oder wenn im Ausland über den Holocaust gesprochen wird. Ein wichtiges Instrument zur Vermittlung der Geschichte sind Besuche der Holocaust-Gedenkstätten in Israel – von Schulklassen bis zu Soldat*innengruppen. Allen voran das nationale Holocaust-Museum Yad Vashem in Jerusalem, aber auch das Haus der Ghettokämpfer*innen in Westgaliläa sowie das Yad Mordechai Museum im Süden des Lan-des – und viele weitere. Neben den Besuchen der Gedenkorte innerhalb Israels hat die israelische Regierung Ende der 1980er-Jahre beschlossen, Reisen nach Polen in ehemalige Vernichtungslager zu fördern. Inzwischen nehmen mehr als die Hälfte der zehnten bis zwölften Schulklassen an solchen Reisen teil. Auch die Armee ist nachgerückt: alle Soldat*innen in der Offizierslaufbahn werden im Laufe ihrer Armeekarriere zu solchen Reisen geschickt. Die Funktion, die der Holocaust in der israelischen Gesellschaft zunehmend erfüllt, wird von Wissenschaftler*innen seit Jahrzehnten kritisch beobachtet. So be131

schreibt die Historikerin Yael Zerubavel den Stellenwert der Schoah in der Gesellschaft als eine „Zivilreligion“ (Zerubavel 1995). Eine Schlüsselrolle in der Vermittlung dieser „Religion“ nehmen laut dem Anthropologen Jackie Feldman die Reisen nach Polen ein. Er bezeichnet sie kritisch als „Pilgerfahrten“. Feldman begleitete mehrere Jugendgruppen auf der Reise und arbeitete die expliziten und impliziten Botschaften heraus: das oberste Ziel sei die Verankerung der „Heiligkeit des Staates Israel“ als Lehre aus der Geschichte. Dabei beobachtete er, wie die Teilnehmenden symbolisch drei Stadien während des Reiseprogramms durchlaufen: Zunächst werden sie vom Bewusstseinszustand der Kinder in den eines gefühlten Opfers versetzt. Vom Opfer werden sie zu Überlebenden und letztlich zu „Zeugen der Zeitzeugen“ – und seien damit nun verpflichtet, den Staat Israel zu verteidigen, weil dieser die „ultimative Antwort“ auf die Schoah sei (vgl. Feldman 2001). Aufgrund der Kritik an den bestehenden Reiseprogrammen sind in den letzten Jahren einige Alternativreisen entwickelt worden. Dabei sind beispielsweise gemeinsame israelisch-palästinensische Fahrten entstanden, um statt der Stärkung des partikularen Nationalbewusstseins nun eher universale humanistische Werte in den Vordergrund zu stellen. Andere Gruppen setzten in ihren Reisen den Schwerpunkt des Programms auf das gegenwärtige Leben von jungen Menschen in Polen. Dass der Holocaust den Stellenwert einer „Zivilreligion“ erlangen würde, war in den Gründungsjahren des Staates Israel nicht abzusehen. Die Historikerin Anita Shapira sieht in diesem Zusammenhang den Eichmann-Prozess im Jahr 1962 als Zäsur. Sie beschreibt die Empfindungen zur Schoah als ambivalent: „Man wusste es und wusste es zugleich nicht. Man spürte den Schmerz und spürte ihn zugleich nicht. Erst mit dem Eichmann-Prozess wurde die Schoah von einer privaten Sache der Überlebenden zu einer staatlichen Angelegenheit“ (Shapira 1997, S. 325). In der Vorstellung der Staatsgründer*innen passten die Holocaustüberlebenden nicht dazu. Das zionistische Projekt sollte ein „neuer Jude“ gestalten: stark, selbstbewusst und naturverbunden. Die Überlebenden passten nicht zu diesem Bild: Ihnen wurde vorgeworfen, widerstandslos wie ein „Lamm zur Schlachtbank“ gegangen zu sein. Staatsgründer David Ben-Gurion schrieb über sie: „Wir haben menschlichen Staub, den wir aus der ganzen Welt sammelten, in eine unabhängige, souveräne Nation verwandelt.“ So führte der Eichmann-Prozess zu einer neuen Sichtweise auf die Holocaustüberlebenden: Ihnen wurde plötzlich zugehört. Durch die Ausstrahlung im Fernsehen erreichten ihre Geschichten die gesamte Gesellschaft. Damit brach das Tabu, nicht über die eigenen Erfahrungen in der Schoah zu sprechen. Mit dem politischen Aufstieg der rechtskonservativen Likud-Partei im Jahre 1977 wurde die Holocausterinnerung eine zentrale Säule der israelischen Politik und Erziehung. Ein ausgeprägtes Opferbewusstsein sollte den Nationalismus stärken. Für den Staat, der ein Jahrzehnt zuvor zur Besatzungsmacht wurde, galt die Formel des ersten rechtsorientierten Ministerpräsidenten Menachem Begin: 132

„Opferbewusstsein mit militärischer Stärke“. Der Journalist Thomas Friedman beschrieb die Entwicklung des israelischen Selbstverständnisses als „Yad Vashem mit Luftwaffe“ (Friedman 1989). Einen symbolischen Ausdruck fand diese Haltung 2003, als israelische Kampfjets über die KZ-Gedenkstätte Auschwitz flogen. Das nannte der israelische Holocaustforscher Yehuda Bauer „kindisch, arrogant und völlig überflüssig“ (Bauer 2013). 2020 flogen israelische F-16-Kampfjets erneut, dieses Mal über das ehemalige Konzentrationslager Dachau und das Flugfeld Fürstenfeldbruck, wo palästinensische Terroristen 1972 elf israelische OlympiaSportler ermordeten. Die symbolische Flugroute zeigt auch, wie im kollektiven Gedächtnis Israels palästinensische Attentate umstandslos auf eine Stufe mit dem Holocaust gestellt werden. Ein scharfer Kritiker des politischen und gesellschaftlichen Umgangs mit der Erinnerung an die Schoah in Israel war der Philosoph und Auschwitz-Überlebende Yehuda Elkana. 1988 schrieb er in der Tageszeitung Haaretz einen viel beachteten Beitrag unter dem Titel „Lob des Vergessens“. Elkana sieht den Rassismus in der israelischen Gesellschaft als Folge der Art und Weise, wie über die Schoah in Israel gelernt und erinnert wird. „Der Konflikt mit den Palästinensern wird durch existenzielle Angst betrieben, die aus einer bestimmten historischen Interpretation der Schoah produziert und von dem Glauben begründet wird, Juden sind die ewigen Opfer. Das empfinde ich auf tragische Art und Weise als Hitlers Sieg.“ Sein Fazit ist, dass es keine größere Gefahr für Israels Existenz als die Erinnerung an die Schoah gebe: „Heute verstehe ich, welche verheerenden Ausmaße diese Erziehung hat, dass wir über Jahrzehnte jedes israelische Kind zu wiederholten Besuchen nach Yad Vashem schicken“ (Elkana 1988). Die Beobachtungen von Elkana über die gefährlichen Entwicklungen in der israelischen Erinnerungskultur haben sich in den Jahren seit der Veröffentlichung bestätigt. Allerdings ist seine provokante Forderung, die Schoah zu vergessen, nicht die richtige Antwort auf die Gefahr der Instrumentalisierung der Erinnerung für Nationalismus und Militarismus. Das Erstarken des Antisemitismus weltweit und die ständigen Versuche, den Holocaust zu leugnen, sprechen deutlich dagegen. Vielmehr scheint heute die Herausforderung für die israelische Gesellschaft – an allererster Stelle für das Erziehungssystem – darin zu bestehen, die dortige Gedenkkultur zu pluralisieren. Die in Israel dominante partikularistische Interpretation des Holocausts versucht zu beantworten, warum es „uns Juden passierte“. Die Mahnung „Nie wieder“ für alle Gesellschaften wird reduziert auf die Prämisse: Nie wieder sollen wir Jüdinnen* Juden Opfer sein. Demgegenüber wurden in den letzten Jahren Versuche unternommen, diese Sichtweise durch universalistische Interpretationen des Holocaust zu ergänzen, indem die grundsätzliche Frage gestellt wurde, warum die Schoah überhaupt passierte. Die Konsequenzen aus der universalistischen Tradition führen nicht zu von Nationalismus getriebener Angst, sondern fördern die Vermittlung humanistischer Werte. Im Lichte dieses Geistes wurde 1995 im Haus der 133

Ghettokämpfer das Zentrum für humanistische Erziehung gegründet. Am dortigen Zentrum diskutieren jüdische und arabische Menschen, was die Geschichte für das Zusammenleben bedeutet. Sie sind überzeugt, dass ein solcher Zugang zum Holocaust grundlegend für die demokratischen Werte ist. (Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Wiederabdruck des gleichnamigen Artikels aus dem Sammelband „Frenemies“ aus dem Jahr 2022.)

Literatur Bauer, Yehuda (2013): „Die Oberflächlichkeit des Flugs über Auschwitz“. In: Haaretz, 06.10.2013 (Hebräisch). Elkana, Yehuda (1988): „Lob des Vergessens“. In: Haaretz, 02.03.1988 (Hebräisch). Feldman, Jackie (2001): „In den Fußtapfen der israelischen Schoah-Überlebenden“. In: Theorie und Kritik 19, S. 167–190 (Hebräisch). Friedman, Thomas (1989): From Beirut to Jerusalem. New York: Farrar, Straus and Giroux. Shapira, Anita (1997): Die Schoah: Private Erinnerung – kollektives Gedächtnis, Tel Aviv (Hebräisch). Zerubavel, Yael (1995): Recovered Roots. Collective Memory and the Making of Israeli National Tradition. Chicago: University of Chicago Press.

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Erinnerung im Transit: Deutschland und die USA Mirjam Zadoff

In den vergangenen Jahren wurde die „deutsche Erinnerungskultur“ immer wieder als einzigartig beschrieben und Wissenschaftler:innen haben dazu angeregt, diese vorbildliche Praxis zu exportieren. Im Folgenden erörtere ich diese Aussage im Kontext des gegenseitigen Einflusses zwischen der deutschen und der US-amerikanischen Erinnerungskultur bis heute. Da die Weltgemeinschaft derzeit auf sozialer, politischer und wirtschaftlicher Ebene enorme Krisen zu bewältigen hat die zur Bildung neofaschistischer Gruppierungen führen, ließe sich die Frage formulieren: Inwiefern – wenn überhaupt – kann Erinnerung die globale Solidarität stärken und Unstimmigkeiten beseitigen? Während ich diese Sätze im September 2022 schreibe, taucht immer wieder der gleiche Clip in meinem Twitterfeed auf: Menschen begrüßen einen Redner und heben dabei ihren rechten Arm, während im Hintergrund dramatische Musik spielt. Diese Aufnahmen entstanden während einer Kundgebung von Donald Trump in Ohio. Innerhalb weniger Stunden stellen amerikanische Twitteruser:innen die verstörenden Fotoaufnahmen den Schwarzweißfotos von Menschenmengen beim Hitlergruß aus Nazi-Deutschland gegenüber. Und kurz darauf folgen weitere Images: Titelseiten von deutschen Zeitschriften, die zwischen 2017 und 2020 während der Trump-Jahre erschienen sind – sie alle stellten den amerikanischen Präsidenten als neuen Hitler dar, voll Spott und Hohn, aber auch voll Besorgnis. Dazu kommentieren User:innen: „The Germans knew it all along – die Deutschen haben es längst gewusst.“ War das wirklich so? Es gab Frühwarnzeichen, ohne Zweifel. Deutsche Intellektuelle in den USA und im Inland haben besorgt reagiert, als Trump seine Unterstützer:innen aufforderte, das Kapitol zu stürmen. Schließlich ist die deutsche Vergangenheit Beweis dafür, dass ein fehlgeschlagener Putsch oft nicht das Ende einer extremistischen Bewegung, sondern eher der Beginn einer neuen Phase ist (vgl. Brenner 2021; Zadoff 2021, S. N 3). Unter der Trump-Präsidentschaft haben von Anfang an sowohl rassistische als auch antisemitische Gewalt zugenommen und das Ausmaß der anhaltenden strukturellen Diskriminierung von People of Color offenbart (vgl. Zadoff/Schüler-Springorum/Zadoff/Paul 2020). Damals begann die in Berlin lebendende Philosophin Susan Neiman mit der Arbeit an ihrem Buch „Von den Deutschen lernen“. Sie legt darin nahe, dass die USA sich mit ihrer eigenen gewaltvollen Vergangenheit auseinandersetzen sollten (vgl. Neiman 135

2019). Natürlich waren bereits vor 2016 viele Studien zur Geschichte von Sklaverei und rassistischer Gewalt in den USA veröffentlicht worden. Doch ihre Leserschaft war klein geblieben. Jetzt erschienen immer mehr Publikationen – Romane, Sachbücher und sogar Kinderbücher zu Anti-Rassismus – die mit wichtigen Preisen ausgezeichnet wurden, wie etwa Ibram Kendis „Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika.“ 2018 eröffnete Bryan Stevenson, Gründer der Equal Justice Initiative, das erste Monument zur Erinnerung an die bis weit ins 20. Jahrhundert praktizierte Lynchjustiz. Das National Memorial for Peace and Justice in Alabama, inoffiziell auch „Lynching Memorial“ genannt, wurde als private Initiative begonnen und umgesetzt. Stevenson ließ sich dabei stark von den Erinnerungskulturen zweier anderer Nationen beeinflussen: Südafrika und Deutschland – und in der Tat ist der ästhetische und konzeptionelle Einfluss des Berliner Holocaust-Denkmals klar erkennbar (vgl. Robertson 2018). Ein Jahr später veröffentlichte die New York Times in Erinnerung an 400 Jahre Sklaverei in Amerika das „1619 Project“ mit Beiträgen von wichtigen afroamerikanischen Wissenschaftler:innen, Journalist:innen und Aktivist:innen (vgl. Hannah-Jones 2021). Das „1619 Project“, eine kontinuierlich weitergeführte Initiative mit dem Ziel, die „US-Geschichte neu zu erzählen“, wurde breit diskutiert und heftig kritisiert. Amerika war diese Art der Vergangenheitsbewältigung nicht gewohnt und das Weiße Haus reagierte umgehend mit einer Gegenerzählung. Präsident Trump ernannte die „1776 Commission“, einen Beratungsausschuss ohne Beteiligung von Historiker:innen, die auf US-amerikanische Geschichte spezialisiert sind. Das Ergebnis war eine Aufforderung zur patriotischen Erziehung, die „Progressivismus“ und „Rassismus/Identitätspolitik“ als „Herausforderung für Amerikas Grundsätze“ identifizierte und sie mit „Kommunismus“, „Sklaverei“ und „Faschismus“ gleichsetzte. Als Amerikas historische Feinde führt der Bericht jüdische Einwanderer:innen auf, darunter die Mitglieder der Frankfurter Schule als Begründer:innen eines linken, „woken“ Amerika. Präsident Biden ließ die Kommission noch an seinem ersten Amtstag auflösen, ihr Bericht war jedoch im Umlauf und hat seit seiner Veröffentlichung viel Schaden angerichtet (vgl. Presidentְ’s Advisory Commission 2021; Kelly 2021). Zu Beginn der Trump-Jahre unterrichtete ich an einer großen staatlichen Universität im mittleren Westen der USA. Ich erinnere mich an die hitzigen und emotionalen Diskussionen mit Studierenden, die sich bloßgestellt und verletzbar fühlten, weil sie Schwarz, queer, ausländisch, POC oder „illegal“ waren – während andere ihre Solidarität mit ihnen ausdrücken und bestärken wollten. Eine jüdische Studentin aus New York meldete sich zu Wort und sagte: „Es geht nicht um uns, aber wir sind für euch da, wir unterstützen euch.“ Bereits wenige Monate später sollte sich herausstellen, dass sie in ihrer Einschätzung falsch gelegen hatte – als im Sommer 2017 eine rechtsextreme, gewaltbereite Menschenmenge in Charlottesville skandierte: “Jews will not replace us [„Juden werden uns nicht ersetzen“]” (Sarna 2021). 136

Als europäische Einwanderin in den USA hatte es mich überrascht, festzustellen, wie wenig ich selbst anfangs über strukturellen Rassismus in Nordamerika wusste – aber auch wie wenig meine Studierenden wussten. Dieses Thema wird in den Schulen kaum behandelt, wie überhaupt die Geschichte der nicht-weißen Bevölkerung der USA. Was mich als Professorin für jüdische Studien überraschte, war, wie wenig amerikanische Studierende, jüdisch oder nicht, über die Geschichte des Antisemitismus – vor und nach 1945 – in Amerika wussten und darüber, wie eng diese Geschichte mit der Geschichte des Rassismus verbunden ist. Ein Beispiel sind etwa die Einwanderungsbeschränkungen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts gegen chinesische Staatsbürger:innen richteten und später – durch Einrichtung des Quotensystems – auch die Einwanderung von jüdischen und südeuropäischen Menschen erschwerten (beides Gruppen, die zu dem Zeitpunkt eher als Schwarze und nicht als Weiße galten). Dieses System blieb bis in die 1930er- und 1940er-Jahre unverändert bestehen, als die Zahl der Visumsanträge durch die europäisch-jüdischen Flüchtlinge dramatisch anstieg. Jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und bald aus ganz Europa brachten ihre Erfahrungen mit, die sie mit der brutalen Verfolgung unter den Nazis gemacht hatten, und ihr Wissen über den beginnenden Holocaust. Doch ihre Berichte blieben in der amerikanischen Öffentlichkeit meist ungehört, wie es Flüchtlingen häufig passiert. Gleichzeitig konnte die Leserschaft amerikanischer Zeitungen die Reiseberichte internationaler Reisender nach Nazi-Deutschland verfolgen – zum Beispiel von der Journalistin Martha Dodd, die 1941 schrieb, dass „Hitler stetig und sicher die Auslöschung des deutschen Judentums anstrebt“ (Lubrich 2010, S. 4). Einige Jahre später, während der Olympischen Spiele 1936 in Deutschland, schrieb ein anderer amerikanischer Besucher einen Reisebericht, der in mehreren Ausgaben von „The Pittsburgh Courier“ veröffentlicht wurde. Es war nicht das erste Mal, dass der afroamerikanische Historiker, Soziologe und Philosoph W. E. B. Du Bois nach Deutschland reiste. Du Bois beschrieb seine Irritation darüber, dass er als Afroamerikaner in Nazi-Deutschland mehr Rechte hatte als in großen Teilen seines eigenen Landes: Er durfte essen, wo er wollte, in jedem Hotel seiner Wahl übernachten und wurde, so berichtet er, mit Respekt behandelt (vgl. Du Bois 2022, S. 137–138). Du Bois, der bereits zuvor über Antisemitismus geschrieben hatte, beobachtete die Verfolgung des deutschen Judentums aufmerksam. Ein deutscher Gesprächspartner argumentierte ihm gegenüber, der Antisemitismus sei eine Gegenreaktion auf die ungewöhnliche Wirtschaftskraft der Juden. Du Bois hat diesem antisemitischen Stereotyp offensichtlich nicht widersprochen, doch beschreibt er ausführlich die Gräueltaten, die deutschen Jüdinnen und Juden bereits 1936 angetan wurden: „Offen, fortgesetzt und entschieden wird eine Kampagne des Rassenvorurteils gegen alle nichtnordischen Rassen geführt, vor allem aber gegen die Juden, die an rachsüchtiger Grausamkeit und öffentlicher Herabwürdigung alles übertrifft, was ich jemals erlebt habe; 137

und ich habe viel erlebt“ (Du Bois 2022, S. 137–138). Der Unterschied zu den USA lag ihm zufolge darin, dass es sich nicht um spontane Übergriffe handelte, sondern um eine gesetzmäßige, systematische Verfolgung. Dieser „Weltkrieg gegen die Juden“ war ein „Angriff auf die Zivilisation“ (Lubrich 2022, S. 140), so der afroamerikanische Denker. Nach dem Krieg, 1949, besuchte Du Bois die Ruinen des Warschauer Ghettos und beschrieb die Shoah als „ein so riesiges und grausames Gemetzel, das wir erst viele Jahre später erfassen können, was mit sechs Millionen Menschen in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs geschah“ (Du Bois 1952, S. 14–15). Er stand in den Ruinen des größten Nazi-Ghettos, dort wo einige Zeit zuvor die ersten Überreste des versteckten Archivs Oneg Shabbat entdeckt und ausgegraben worden waren. Mit der Unterstützung einer geheimen Gruppe hatte der Historiker Emanuel Ringelblum seit der Einrichtung des Ghettos 1940 begonnen, den Alltag der Menschen zu dokumentieren, den Hunger, das Sterben und schließlich die Vernichtung in Treblinka. Tausende Dokumente waren in Milchkannen und Blechkisten versteckt und unter den Ruinen des Ghettos vergraben worden. Einige dieser Kisten wurden bereits 1946 ausgegraben, andere erst 1950 und wiederum andere fehlen bis heute. Die meisten Mitglieder von Oneg Shabbat, denen es ein so großes Anliegen gewesen war, die Geschichte des osteuropäischen Judentums festzuhalten, wurden in Treblinka ermordet. In diesen Blechkisten befand sich ihr Erbe: ein allererster Versuch, „zu verstehen, was mit sechs Millionen Menschen geschah“, wie Du Bois es formulierte, ein Versuch, der gemacht wurde, noch während sich die Ereignisse abspielten (vgl. Du Bois 1952, S. 14–15; Jewish Historical Institute o. J.). Ein weiterer amerikanischer Reisender nach Europa gehörte zu den Ersten, die 1946 in Flüchtlingslagern Gespräche mit Überlebenden führten. David P. Boder, Professor für Psychologie aus Illinois, zeichnete 120 Stunden Interviews mit Überlebenden auf, die er als Grundlage für seine Forschung zu posttraumatischen Belastungsstörungen verwendete. 1949 veröffentlichte er, zurück in den USA eine Sammlung mit acht Interviews; das Buch verkaufte sich schlecht und wurde bald nicht mehr aufgelegt. Es bestand wenig Interesse an den Erzählungen der Überlebenden des Holocaust. Boder wandte sich anderen Gruppe von Überlebenden zu, etwa den Opfern der großen Überschwemmung von Kansas City. Seine Sammlung von Interviews und seine Aufzeichnungen aus Deutschland wurden erst Jahrzehnte später entdeckt. Das Amerika des Kalten Krieges zeigte wenig Interesse – weder an der Geschichte des Holocaust noch daran, sich mit dem vorhandenen Antisemitismus in der amerikanischen Gesellschaft auseinanderzusetzen (vgl. Schuch 2021). Nichtsdestotrotz hatten das Wissen um den Holocaust und die Kriegserfahrung einen maßgeblichen Einfluss auf das Amerika der ersten Nachkriegsjahre und die darauffolgenden Jahrzehnte. 900 000 afroamerikanische GIs kehrten 1945 aus Europa zurück, wo sie gegen Diktatur, Antisemitismus und Rassismus 138

gekämpft hatten. Sie kehrten nach Hause, um im Wesentlichen mit folgenden Worten in Empfang genommen zu werden: „Danke, aber nein danke, für euren Dienst“ (Greene 2021). Vor allem die Soldaten, die in den Südstaaten lebten, kehrten in eine Welt der Rassentrennung, Lynchmorde und Polizeigewalt zurück. Leon Litwack zufolge, einem frühen Historiker der Geschichte der Sklaverei und selbst Sohn russisch-jüdischer Einwanderer, markierte das Jahr 1946 einen Wendepunkt: einen Wendepunkt im Schwarzen Widerstand und den eigentlichen Beginn der Bürgerrechtsbewegung als einer Bewegung, die in den 1960er-Jahren afroamerikanische und jüdische Aktivist:innen für kurze Zeit in ihrem Kampf um soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus und Antisemitismus vereinen sollte (vgl. Greene 2021). Damit komme ich zurück zu meiner oben erwähnten Überraschung darüber, wie wenig amerikanische Studierende über Antisemitismus in den USA wussten, einem Phänomen, das bis in die 1960er-Jahre stark verbreitet war, als zum Beispiel Hotels und Urlaubsorte keine jüdischen Reisenden aufnahmen oder Wohnungen und Arbeitsplätze nicht an jüdische Menschen vergeben wurden. Elia Kazan hat dieses Problem 1947 in seinem Film „Tabu der Gerechten“ behandelt. Der Film mit Gregory Peck in der Hauptrolle war im Kino extrem erfolgreich gewesen und wurde mit mehreren Oscars ausgezeichnet. Er thematisiert nicht den Holocaust, sondern beschäftigte sich mit dem latenten Antisemitismus in der amerikanischen Elite. Aufgrund dessen, was als „Politikum des Films“ wahrgenommen wurde, mussten der Regisseur, Produzent und zwei Schauspieler vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe erscheinen, das damals sein Unwesen trieb. Im Amerika McCarthys galten kulturelle Äußerungen zum Thema Antisemitismus als unamerikanisch und riefen Argwohn hervor (vgl. Bial 2005, S. 31, 40). Raul Hilberg, der vor den Nazis aus Österreich geflohen und als amerikanischer GI nach Europa zurückgekehrt war, wo er auf Hitlers private Bibliothek stieß, wurde einer der ersten zentralen Holocaust-Historiker. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Europa hatte Hilberg begonnen, sein Werk „The Destruction of European Jewry“ zu schreiben, jedoch war kein Verlag in den 1950er-Jahren an der Veröffentlichung des Buchs interessiert. Akademische Autoritäten lehnten es entweder als antideutsch oder als antijüdisch ab; selbst die israelische HolocaustGedenkstätte Yad Vashem verweigerte Hilberg ein Unterstützungsschreiben. 1961 schließlich konnte Hilberg sein Buch, das nach wie vor ein Standardwerk ist, mithilfe eines privaten Förderers veröffentlichen. Während sich der schwierige Prozess der Veröffentlichung in den USA über mehrere Jahre hinzog, dauerte es in Deutschland zwei Jahrzehnte, wo es vom Institut für Zeitgeschichte abgelehnt und erst 1982 veröffentlicht wurde (vgl. Aly o. J.; Engel 2010, S. 135–137). Bleiben wir für einen Moment in Deutschland: Die Demokratie im Nachkriegsdeutschland hat von den amerikanischen „Re-education Programmen“ enorm profitiert. Doch jahrzehntelang gab es nur wenig oder gar keinen Raum für die Geschichten der Holocaust-Überlebenden. Die öffentliche Diskussi139

on zum Trauma des Krieges konzentrierte sich auf die deutschen Verluste im Luftkrieg, und die ersten „Schlussstrichforderungen“ ließen nicht lange auf sich warten. Ehemalige Nazis und Mitläufer:innen füllten wichtige Positionen, der während des Kriegs akkumulierte Wohlstand überging die Überlebenden oder ehemaligen Zwangsarbeiter:innen und blieb in den Familien der Profiteur:innen. Universitäten, kulturelle Einrichtungen – von der Documenta bis zu hochrangigen Preisjurys – beheimateten ehemalige Nazi-Kuratoren, Intellektuelle und Künstler:innen. Es war die Studierendenbewegung in den 1960er-Jahren – beeinflusst von den Entwicklungen in Amerika – die ein drastisches Umdenken forderte. Die beschädigte Elterngeneration wurde durch neue Köpfe und Theorien ersetzt, die der exilierten Frankfurter Schule ihren einstigen Ruhm zurückgaben. Während sich die 1968er-Bewegung vor allem auf die Entlarvung der Tätergeneration konzentrierte, dauerte es bis 1979, bis der Holocaust in ganz Deutschland zum Tischgespräch wurde. Wie von Omer Bartov oben erwähnt, führte die NBC-Serie „Holocaust“ zu einer dramatischen Veränderung und unterschiedlichen deutschen Reaktionen in Film und Fernsehen. Gedenkstätten, Dokumentationszentren, Buchveröffentlichungen und Buchserien, Aufklärungsarbeit und vieles mehr, was wir mit der deutschen Erinnerungskultur verbinden, geht im Großen und Ganzen auf die darauffolgende Entwicklung in den 1980er- und 1990er-Jahren zurück. Der Begriff „deutsche Erinnerungskultur“ taucht zum ersten Mal in den 1990er-Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung auf. Timothy Garton Ash bezeichnete die Geschichtskultur dieser Jahre – teils ironisch, teils bewundernd– als „DIN-Norm“ der Erinnerung. Eine Erinnerungskultur, die aus einem jahrzehntelangen transnationalen Austausch entstanden war, der mehrsprachig, divers und weithin universell war, wurde mit diesem Begriff „nationalisiert“ (vgl. Faulenbach 2009, S. 37–46). Diese deutsche Entwicklung geschah gleichzeitig mit einem Wandel des Holocaust-Gedenkens in den USA. Amerikanische Juden und Jüdinnen gelten je nachdem als größte oder zweitgrößte jüdische Gemeinde weltweit – sie zählt zwischen 7 und 15 Millionen. Das Holocaust Memorial Museum öffnete seine Türen 1993 als erstes Museum an der National Mall in Washington, das sich nicht mit amerikanischer Geschichte beschäftigt. Heute widmen sich in den USA insgesamt 31 Gedenkstätten und Museen dem Thema des Holocaust. Dies hängt einerseits mit der aktiven Erinnerungskultur der amerikanischen Juden und Jüdinnen zusammen. Andererseits ist die Geschichte der Befreiung Europas eng mit dem Narrativ des amerikanischen Heroismus und der Pax Americana als zentrale Erzählungen der US-Demokratie des 20. Jahrhunderts verbunden. Die andere Seite des Blicks auf die amerikanische Geschichte ist, dass von den 35 000 amerikanischen Museen, die es 2014 gab, kein einziges die Geschichte der Sklaverei behandelte; bis heute ist das Whitney Plantation Museum die einzige Ausnahme. Das Museum of African American History, das vor fünf Jahren an der 140

Washingtoner Mall eröffnet wurde, hat sich natürlich zu einem zentralen Ort entwickelt – doch die Annahme, dass Sklaverei sich nur auf die afroamerikanische Erinnerung beziehen sollte, ist ein Missverständnis. Seit dem Ende der Präsidentschaft Trumps erleben die USA einen Kulturkampf, der sich vor allem gegen die „critical race theory“ wendet. Dieser Begriff schließt nicht nur die Geschichte der Sklaverei und des strukturellen Rassismus ein, sondern die Erzählungen schwarzer und brauner Amerikaner:innen allgemein. In zahlreichen Schulbezirken im ganzen Land, an Universitäten und Hochschulen, werden Bücher mit der Begründung aussortiert und verboten, dass durch die Behandlung der afroamerikanischen Geschichte weiße Kinder stigmatisiert würden. Neben unzähligen anderen Fällen plant etwa The George Dawson-Mittelschule, die Biografie von George Dawson selbst, dem Sohn eines Sklaven, zu verbieten. Das Buchverbot hat auch Holocaust-Klassiker erreicht, wie zum Beispiel „Maus“, die preisgekrönte Graphic Novel von Art Spiegelman, einem Sohn Holocaust-Überlebender, die in einem Schulbezirk in Tennessee verboten wurde – oder Zitate von Eli Wiesel, die als Aufforderungen zu einem ungebührlichen Aktivismus gelesen werden (vgl. Chavez/Gamble 2022; Gross 2022; Lapin 2023). Der Kampf gegen die Erinnerung an Sklaverei und Rassismus in den USA gefährdet letztendlich die Erinnerung an den Holocaust als eine Art Kollateralschaden. Dabei wäre alles ganz einfach: Empathie schafft Empathie, Erinnerung schafft Erinnerung, und Erinnerung gedeiht niemals in isolierten Räumen. Nathan Sznaider vertritt die Ansicht, die Erinnerung an den Holocaust und die Erinnerung an koloniale Gewalt werden sich gegenseitig aufheben, sollten sie einander zu nahekommen – und die Erinnerung an den Holocaust werde zwangsläufig verblassen (vgl. Sznaider 2022). Meines Erachtens ist das Schlimmste, was Erinnerung passieren kann, wenn sie isoliert wird und nicht mehr Gegenstand des demokratischen Diskurses ist. Erinnerung kann – und die transnationale Geschichte des Holocaust-Gedenkens zeigt es – das Fundament für eine in Zeiten immenser globaler Krisen so dringend benötigte globale Solidarität sein.

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4 Das „Wiedergutmachungsabkommen“ als Vorbild für Restitutionen?

„Vergangenheitsbewältigung“? Ein Rückblick auf die westdeutsche Entschädigungspolitik in den langen 1950er-Jahren Iris Nachum

Die Zeit unter der Kanzlerschaft von Konrad Adenauer (1949–1963) – die „langen 1950er“ – hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit in der deutschen Geschichtsschreibung erfahren.1 Die meisten Historiker:innen beschreiben sie als ein Zeitalter des bemerkenswerten Wandels, in dem Deutschland sich von einem Land in Trümmern zu einem wohlhabenden Staat entwickelte. Sie stimmen darin überein, dass die Bundesrepublik Deutschland (BRD) während Adenauers Amtszeit soziale Stabilität erlangte, eine parlamentarische Demokratie entwickelte und wirtschaftliches Wachstum erfuhr. Darüber hinaus verweisen sie auf den ausgeprägten Antikommunismus der Adenauer-Regierung und das Knüpfen enger Beziehungen mit dem Westen, vor allem mit den USA und Frankreich (vgl. Kleuters 2012; Spicka 2007; Granieri 2003). Kurz gesagt besteht in der Geschichtsschreibung breiter Konsens zu vielen Aspekten von Adenauers Kanzlerschaft. Wenn es jedoch darum geht, wie Deutschland die nationalsozialistische Vergangenheit damals aufgearbeitet hat – ein Prozess, der allgemein als Vergangenheitsbewältigung bezeichnet wird – sind sich die Historiker:innen uneinig (vgl. Rosenfeld 2000, S. 2–4). Einige sind der Auffassung, dass sich die westdeutsche Gesellschaft bereits in den 1950ern der NS-Diktatur auf ehrliche und wirksame Weise gestellt und ihre Erkenntnisse daraus gezogen hat. Aus Sicht dieser Historiker:innen belegen die vielfältigen Maßnahmen, die die Adenauer-Regierung zur Wiedergutmachung für die Verfolgten des NS-Regimes ergriffen hatte, eindeutig ihre Position. So verweist Robert Moeller, der die Vergangenheitsbewältigung ansonsten kritisch sieht, auf diese vermeintlich starke Verbindung zwischen der Wiedergutmachungspolitik dieser Jahre und Westdeutschlands Aufarbeitung der NS-Vergangenheit: „Adenauers Politik der Reparationsleistungen für Israel und die Wiedergutmachungsprogramme für einige der vom NS-Staat Verfolgten bildeten einen wichtigen öffentlichen Raum, in dem die Westdeutschen 1

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Beim folgenden Beitrag handelt es sich um eine Übersetzung und Erweiterung von: Iris Nachum (2022): „Coming to Terms with the Nazi Past?: The West German Compensation Policy in the Long 1950s“. In: Studies in Jewish History and Culture, Bd. 70. Leiden: Brill, S. 11–24.

zumindest teilweise Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus übernahmen“ (Moeller 2001, S. 16). Andere Historiker:innen dagegen sprechen sich gegen diese Hypothese aus, nach der sich die BRD der Nachkriegszeit dem Nationalsozialismus ehrlich gestellt hat. Ihrer Ansicht nach vermieden es die Westdeutschen vielmehr, ihre Schuld für den Holocaust anzuerkennen. Darüber hinaus habe sich die westdeutsche Gesellschaft zu dieser Zeit vorwiegend nicht mit der Wiedergutmachung für die Verfolgten des NS-Regimes beschäftigt, sondern mit der Entschädigung für Deutsche, vor allem ethnische Deutsche, deren Leid nach Ende des Kriegs begann, als sie aus Mittel- und Osteuropa flohen oder vertrieben wurden. Letztendlich, so die Meinung dieser Historiker:innen, fühlten sich die Westdeutschen solidarischer mit den deutschen Opfern als mit den Opfern der Deutschen (vgl. Margalit 2010, S. 99; Hahn/Hahn 2010). Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, diesen dichotomen Diskurs über die Vergangenheitsbewältigung Westdeutschlands in den langen 1950ern zu hinterfragen. Hierfür werde ich im ersten Abschnitt dieser Arbeit einige Entschädigungsmaßnahmen der Adenauer-Ära behandeln, die erfolgt sind, um die mit der Vertreibung der ethnischen Deutschen verbundenen materiellen Schäden sowie das von NS-Deutschland begangene Unrecht zu kompensieren. In den anschließenden zwei Abschnitten werde ich zeigen, wie Historiker:innen das Thema der Wiedergutmachung nutzen, um ihre Positionen im Disput um die Vergangenheitsbewältigung in Westdeutschland der Nachkriegsjahre zu untermauern. Im letzten Abschnitt werde ich einen alternativen Ansatz für diese Debatte vorschlagen.

Westdeutsche Entschädigungsmaßnahmen in den 1950ern Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurden etwa zwölf bis vierzehn Millionen ethnische Deutsche aus ihrer Heimat in Mittel- und Osteuropa vertrieben oder sie flüchteten vor der heranrückenden Roten Armee. Aufgrund der Vertreibung mussten sie oft ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen und verloren somit alles, was sie besaßen (vgl. Schwartz 2016, S. 73–94). Für diese ethnische Säuberung gab es vor allem zwei Gründe. Erstens beabsichtigten die alliierten Truppen und die lokalen Regierungen in Mittel- und Osteuropa, homogene Nationalstaaten zu schaffen, um ethnische Konflikte in dieser Region ein für alle Mal zu lösen. Zweitens diente die Vertreibung dazu, die sogenannten „Volksdeutschen“ kollektiv für die Verbrechen, die Nazi-Deutschland im Osten begangen hatte, zu bestrafen (vgl. Frank 2008). Rund acht Millionen deutsche Vertriebene fanden in Westdeutschland Zuflucht. Um die vertreibungsbedingten materiellen Schäden zu kompensieren, verabschiedete der westdeutsche Gesetzgeber im August 1952 das sogenannte „Lastenausgleichsgesetz“ (vgl. Hughes 1999). Entschädigun147

gen wurden vor allem für verlorenen Hausrat, aber auch für den Verlust von Grundbesitz und Betriebsvermögen gezahlt (vgl. Wiegand 2004, S. 63–79). Das Lastenausgleichsgesetz wurde dabei über Sonderabgaben der westdeutschen Bürger:innen finanziert, deren Eigentum und Besitz den Krieg unbeschadet überstanden hatten. Das Gesetz war somit ein Zeichen gesellschaftlicher Solidarität mit der Absicht, einen finanziellen Ausgleich zwischen jenen Deutschen zu schaffen, die durch Kriegshandlungen oder Kriegsfolgen materielle Verluste erfahren hatten, und der restlichen deutschen Bevölkerung (vgl. Hughes 1999, S. 38–42). Insbesondere sollten die Ausgleichsleistungen den Vertriebenen dabei helfen, sich in die westdeutsche Gesellschaft zumindest materiell zu integrieren. Infolge dieser Leistungen haben viele vertriebene Deutsche tatsächlich die finanzielle Möglichkeit bekommen, sich eine neue Existenz in der BRD aufzubauen (vgl. Schwartz 2008, S. 101–151). Das Lastenausgleichsgesetz war sowohl zeitlich als auch inhaltlich mit dem Wiedergutmachungsabkommen zwischen Israel und der BRD verbunden, das am 10. September 1952 in Luxemburg unterzeichnet wurde.2 So wie das Lastenausgleichsgesetz vom 14. August 1952 die Integration deutscher Vertriebener in die westdeutsche Gesellschaft fördern sollte, trugen die Zahlungen und Warenlieferungen, die die Adenauer-Regierung im Rahmen des sogenannten „Luxemburger Abkommens“ an Israel leistete, dazu bei, eine halbe Million Holocaust-Überlebende in den jüdischen Staat einzugliedern (vgl. Nachum 2016, S. 62).3 Neben den Leistungen für Israel stimmte Westdeutschland darüber hinaus im Abkommen zu, Zahlungen an die Conference on Jewish Material Claims Against Germany (Claims Conference) für die Rehabilitation individueller Holocaust-Überlebender und für den Wiederaufbau jüdischer Gemeinden zu tätigen. Das Luxemburger Abkommen war dabei nicht das Ende, sondern der Beginn vieler Verhandlungsrunden zwischen Deutschland und der Claims Conference. So führen die beiden Parteien seit 1952 einen ständigen Dialog über die Verbesserung und Ausweitung der Wiedergutmachungsmaßnahmen für NS-Verfolgte (vgl. Zweig 2001). Während das Luxemburger Abkommen eine „externe Entschädigung“ für den Staat Israel und die Claims Conference festlegte, regelten ab 1953 westdeutsche Gesetze die „interne Entschädigung“ für Deutsche, die infolge der NS-Verfolgung Schäden an Leben, Gesundheit, Freiheit, Besitz oder Beruf erfahren hatten (vgl. Goschler 1992, S. 286–305). Die Adenauer-Regierung zeigte sich dabei haupt2

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Die Unterzeichner des Abkommens waren Vertreter des Staates Israel, der „Conference on Jewish Material Claims Against Germany“ (Claims Conference), die die Interessen der jüdischen Holocaust-Überlebenden außerhalb Israels vertrat, und der BRD als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs. Zum Luxemburger Abkommen vgl. Goschler 1992; De Vita 2020. Zu den Auswirkungen des Luxemburger Abkommens auf die israelische Wirtschaft siehe Yeshayahu A. Jelinek (1997): „Implementing the Luxembourg Agreement: The Purchasing Mission and the Israeli Economy“. In: Journal of Israeli History: Politics, Society, Culture 18, S. 191–209.

sächlich für ihre eigenen und ehemaligen deutschen Bürger:innen sowie für Personen deutscher Abstammung verantwortlich. Wie sich herausstellte, sollte die Wiedergutmachung in der Tat nicht gleichermaßen für alle Holocaust-Überlebenden gelten. So hingen die Entschädigungsleistungen nicht nur von der Art und Dauer der Verfolgungserfahrung ab, sondern auch von der Staatsangehörigkeit der NS-Verfolgten, ihrer Abstammung und ihrem Wohnort vor und nach dem Krieg (vgl. Henry 2007, S. 30). Letzteres Kriterium war insofern wichtig, als das westdeutsche Wiedergutmachungsgesetz auf dem Territorialprinzip fußte, nach dem nur Personen mit einer geografischen Verbindung zu Deutschland Anspruch auf Entschädigung hatten (vgl. Hockerts 2007, S. 19). Kurzum, Holocaust-Überlebende, die deutsche Zugehörigkeitsmerkmale vorweisen konnten, wurden in der Regel für mehr Verluste und Schäden entschädigt und erhielten höhere Entschädigungsleistungen als ausländische Opfer, die oft leer ausgingen. Um diesen Missstand abzumildern, trat die Adenauer-Regierung in multilaterale Verhandlungen mit mehreren westeuropäischen Staaten, die zwischen 1959 und 1964 zur Unterzeichnung von elf Globalabkommen führten. Im Rahmen dieser Abkommen stimmte die BRD der Zahlung von Entschädigungsleistungen an in Westeuropa lebende NS-Verfolgte zu, die nach dem westdeutschen Wiedergutmachungsgesetz keinen Anspruch hatten (vgl. Schrafstetter 2003, S. 459–479). Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Anfang der 1950erJahre die westdeutsche Regierung zwei Entschädigungsgesetze für zwei unterschiedliche Gruppen von Deutschen verabschiedete: das Wiedergutmachungsgesetz für Geschädigte des NS-Regimes und das Lastenausgleichsgesetz für Personen, die infolge des Krieges und seiner Nachwirkungen Vermögensschäden erlitten hatten. Wie ich in den nächsten Abschnitten zeigen werde, sind diese Entschädigungsgesetze der Maßstab, an dem Historiker:innen festmachen, wie erfolgreich bzw. erfolglos die westdeutsche Gesellschaft in den langen 1950ern die NS-Vergangenheit aufarbeitete.

Wiedergutmachung als Vergangenheitsbewältigung? Historiker:innen, die argumentieren, dass die westdeutsche Gesellschaft bereits in den langen 1950er-Jahren damit begonnen hat, die NS-Vergangenheit zu bewältigen, finden ihre Position in den Entschädigungsleistungen für HolocaustÜberlebende bestätigt (vgl. Rosenfeld 2003, S. 3). Aus ihrer optimistischen Perspektive stellen das Luxemburger Abkommen, die Globalabkommen mit westeuropäischen Staaten und nicht zuletzt die frühe Wiedergutmachungsgesetzgebung eine ehrliche Antwort auf das NS-Unrecht dar. Diese freiwilligen Maßnahmen der Adenauer-Regierung würden belegen, dass die Deutschen bereits damals ihre Schuld und Verantwortung für den Holocaust akzeptierten und so die Demokratisierung der westdeutschen Gesellschaft mittrugen (vgl. Kur149

then 1997, S. 43). Nicht weniger wichtig sei, dass die westdeutsche Bevölkerung im Zuge der Diskussionen um die Wiedergutmachungsleistungen über die Geschichte der NS-Verfolgung lernte, da nun öffentlich festgelegt werden musste, wer Anspruch auf Entschädigung und für welche Art von Schäden hatte.4 Viele Historiker:innen unterstreichen zudem, dass Deutschlands Wiedergutmachung für den Holocaust als Vorbild für Opfergruppen und Tätergesellschaften diene, die für andere Massenverbrechen Sühne fordern bzw. bereit sind, Sühne zu leisten, um somit Versöhnung zu ermöglichen (vgl. Goschler 2008, S. 490–492; Barkan 2002; Mair 2022, S. 92). In der Debatte um die Entschädigung für deutsche Kolonialverbrechen in Afrika wird beispielsweise oft auf das Luxemburger Abkommen verwiesen. So bemängeln etwa Kritiker:innen in Deutschland und in Namibia, dass die im Jahr 2021 verkündete „Gemeinsame Erklärung“ der beiden Länder eine „niedrige [Entschädigungs-]Summe im Vergleich zum Luxemburger Abkommen“ für den Genozid an den Herero, Nama und Damara vorsieht. Ebenso wird der Umstand kritisiert, dass im Gegensatz zu den deutsch-israelischen bzw. deutsch-jüdischen Wiedergutmachungsverhandlungen Vertreter:innen der Nachkommen der Opfer des Völkermordes im heutigen Namibia nicht „am Verhandlungstisch saßen“ (Hishoono 2022). Zu den Historiker:innen, die der Meinung sind, dass schon in der Nachkriegszeit die NS-Vergangenheit aufgearbeitet wurde, zählt Manfred Kittel, der in seinem Buch „Die Legende von der ,Zweiten Schuld‘: Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer“ (1993) zusammenfassend feststellt: „Die bundesdeutsche Geschichte [erweist sich] über weite Strecken als einziger Versuch, die NS-Vergangenheit ideell und materiell zu bewältigen. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in der Ära Adenauer sollte daher mit der Bemerkung beginnen: Im Anfang war die ,Vergangenheitsbewältigung‘“ (Kittel 1993, S. 387). Kittels Aussage mag übertrieben erscheinen. Doch wenn wir die Nachkriegssituation in Westdeutschland mit der in den beiden anderen Nachfolgestaaten des Dritten Reichs, der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und Österreich, vergleichen, gewinnt sie an Plausibilität. Denn im Gegensatz zur BRD lehnte es die DDR strikt ab, mit der Claims Conference in Wiedergutmachungsverhandlungen einzutreten. Sie sah sich selbst als Vorhut des Sozialismus und als grundlegend antifaschistisch. Ihre Führung habe gegen die Nazis gekämpft und stehe daher nicht in der moralischen Verpflichtung, Reparationszahlungen an Holocaust-Überlebende zu leisten. Nach dem Zusammenbruch der DDR im Herbst 1989 nahm die Claims Conference Verhandlungen mit dem wiedervereinigten Deutschland auf, das zu-

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Beispielsweise war laut Jutta Vergau die „materielle Wiedergutmachung“ eine „Handlungsebene“ bei der „Aufarbeitung der NS-Diktatur im geteilten Deutschland“ (Vergau 2000, S. 71). Vgl. auch Kittel 2004, S. 89; Sturman 2007, S. 224.

stimmte, Ostdeutschlands Anteil an der Wiedergutmachung zu zahlen.5 Auch Österreich lehnte anfangs die Wiedergutmachungsforderungen der Claims Conference ab. Bis Anfang der 1990er-Jahre argumentierte es, dass es das erste Opfer von Hitlers aggressiver Auslandspolitik gewesen sei und es daher in Deutschlands und nicht in Österreichs Verantwortung lag, die österreichischen NS-Überlebenden zu entschädigen. Auch wenn mehrere Schritte Richtung Wiedergutmachung und Restitution im Laufe der Jahrzehnte unternommen wurden, hat die österreichische Regierung erst im Jahre 1995 einen Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus eingerichtet.6 Aus diesem Grund honorieren Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Österreich Deutschland dafür, durch die frühe Umsetzung umfangreicher Wiedergutmachungsgesetze so viel mehr als Österreich für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit getan zu haben (vgl. Immler 2016, S. 125–126). Ein Vergleich der Einstellungen Westdeutschlands, Österreichs und Ostdeutschlands gegenüber der Wiedergutmachung für Holocaust-Überlebende in der Nachkriegszeit scheint also die Ansicht zu bestätigen, dass die AdenauerRegierung ehrlich versucht hat, die NS-Diktatur zu bewältigen.

„Vergangenheitspolitik“ Dagegen zweifeln mehrere Historiker:innen an, dass es in der westdeutschen Gesellschaft während der Adenauer-Ära wirklich ernsthafte Bestrebungen gab, die NS-Vergangenheit aufzuarbeiten. Nach Ansicht von Norbert Frei zum Beispiel waren diese Jahre nicht von einer kritischen Konfrontation mit der deutschen Schuld für den Krieg und den Holocaust gekennzeichnet. Vielmehr habe die politische Elite eine von einer breiten gesellschaftlichen Basis getragene „Vergangenheitspolitik“ verfolgt. Einerseits „ging es dabei um Strafaufhebungen und Integrationsleistungen zugunsten eines Millionenheeres ehemaliger Parteigenossen“ (Frei 1996, S. 13–14). Andererseits sei es um „Abgrenzung“, also „um die politische und justizielle Grenzziehung gegenüber den ideologischen Restgruppen des Nationalsozialismus“ (Frei 1996, S. 13–14) gegangen. Westdeutschland habe sich weniger mit den Bedürfnissen der Überlebenden der NS-Verfolgung auseinandergesetzt, sondern sich vielmehr mit jenen Mitbürger:innen befasst, deren Leid erst am Kriegsende oder danach begann, wie dies vor allem bei den deutschen Vertriebenen der Fall gewesen ist (vgl. Frei 2002, S. 4). Wenig überraschend lehnt Kittel Freis Analyse ab. Seiner Meinung nach hat Frei die Bemühungen Adenauers, Wiedergutmachungsmaßnahmen für Holocaust-Opfer durchzusetzen, nicht „angemessen“ beurteilt und kommt daher zu einem „arg einseitigen Urteil“ über 5 6

Zu einem Vergleich zur Wiedergutmachung und Vergangenheitsbewältigung zwischen der BRD und DDR siehe Goschler 1993, S. 295–304. Zur österreichischen Wiedergutmachungspolitik siehe Lessing/Azizi 2007, S. 226–238).

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die westdeutsche Vergangenheitsbewältigung in den langen 1950ern (vgl. Kittel 2004, S. 89, Fußnote 50). Im Gegenzug verweisen Historiker:innen, die Freis Ansicht teilen, oft auf die Konkurrenz zwischen den Opfern der Deutschen und den deutschen Opfern. Ihr Argument lautet im Wesentlichen: Mussten die NS-Opfer mit deutschen Vertriebenen um finanzielle Unterstützung und Entschädigung vom westdeutschen Staat konkurrieren, wurden Letztere in der Regel begünstigt (vgl. Kansteiner 2006; Ludi 2002, S. 101–104; Moeller 2001, S. 29–58). Dies sei umso bemerkenswerter, als „Volksdeutsche“ vor ihrer Vertreibung zu den Hauptprofiteuren des NS-Unrechts in Mittel- und Osteuropa gehörten (vgl. Bergen 2005, S. 267–286, insbesondere S. 271–272). Nichtsdestotrotz sei den Vertriebenen oft eine Vorzugsbehandlung in Westdeutschland zuteil geworden. Tatsächlich scheinen die Zahlen für sich zu sprechen: Bis 2000 hatte Westdeutschland 100 Milliarden Deutsche Mark für Holocaust-Reparationsleistungen und 140 Milliarden Deutsche Mark für den Lastenausgleich gezahlt (vgl. Ludi 2002, S. 104). Wenn es um die Ausgleichszahlungen im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes ging, haben sich die westdeutschen Entscheidungsträger „großzügig“ (Ludi 2002, S. 101) und enthusiastisch gezeigt (vgl. Kansteiner 2006, S. 200). Dagegen seien Holocaust-Anspruchsberechtigten beispielsweise Entschädigungen für Schäden an Freiheit verweigert worden, „einfach weil sie ihre Gefangenschaft in einem bestimmten Lager für einige Monate im Jahr 1943 oder 1944 nicht belegen konnten“ (Ludi 2002, S. 126). Hinter der Vorzugsbehandlung von Vertriebenen gegenüber Holocaust-Überlebenden habe politisches Kalkül gesteckt: Für die politische Elite seien die Wählerstimmen von Millionen Vertriebenen viel wichtiger gewesen als das Wohlwollen der Holocaust-Überlebenden, von denen die meisten sowieso im Ausland lebten (vgl. Frei 2002, S. 4). Mehrere Umfragen, die in den 1950er-Jahren durchgeführt wurden, untermauern die Behauptung, dass die Westdeutschen in der Adenauer-Ära gegenüber den materiellen Forderungen der Vertriebenen deutlich aufgeschlossener waren als gegenüber jenen der Holocaust-Überlebenden. In einer Umfrage von 1951 beispielsweise „stimmten 68 Prozent der Befragten zu, dass man Juden und anderen Gruppen helfen sollte, doch 17 Prozent von ihnen wiesen Juden den kleinsten Betrag zu und 49 Prozent glaubten, dass Juden der gleiche Betrag wie anderen Gruppen zustand. 21 Prozent lehnten jegliche Reparationszahlungen an die Juden komplett ab. Auf die Frage, welche Gruppe den größten Anspruch hatte, stuften die Befragten Juden auf den letzten Platz ein, hinter Kriegswitwen und -waisen, Ausgebombten und Vertriebenen. Insgesamt befürworteten nur 11 Prozent der Bevölkerung das dann abschließend verhandelte [Luxemburger] Abkommen über mehr als drei Milliarden Mark“ (Olick 2007, S. 95). Zudem ergab eine Umfrage vom Dezember 1952, dass „sich 54 Prozent der Westdeutschen für das, was den Juden und Jüdinnen im Dritten Reich angetan wurde, weder schuldig noch für die Wiedergutmachung dieses Unrechts verantwortlich fühlten“ (Olick 2007, S. 95). 152

Dabei ist anzumerken, dass die deutschen Vertriebenen anfangs von der westdeutschen Bevölkerung kaum akzeptiert und als unwillkommene Fremde wahrgenommen wurden. Das änderte sich jedoch während der 1950er-Jahre, als die Öffentlichkeit schließlich in ihnen Opfer und Mitbürger:innen in Not sah, die Solidarität und finanzielle Unterstützung benötigten. Dieser erstaunliche Sinneswandel war Ausdruck des Wunsches vieler Deutscher, ihr Selbstbild als Opfernation zu stärken und sich gleichzeitig von der Verantwortung für den Holocaust zu distanzieren (vgl. Nachum/Schaefer 2018, S. 42–58). Indem sie das Leiden, das die Vertriebenen erlitten hatten, mit dem Holocaust aufwogen, konnte sich die westdeutsche Gesellschaft einreden, dass Deutsche „genauso viel wie die Juden ertragen mussten, wenn nicht sogar mehr“ und dass es deshalb keinen Grund gab, sie für das NS-Unrecht verantwortlich zu machen (vgl. Margalit 2010, S. 54). Und so tauchte im „öffentlichen Gedächtnis der 1950er nur eine Handvoll Deutscher als Täter auf. Die überwältigende Mehrheit war Opfer und niemand war beides: Schuld und Unschuld schlossen sich gegenseitig aus“ (Moeller 2001, S. 13). Kurz gesagt argumentieren jene Historiker:innen, die an der Vergangenheitsbewältigung Westdeutschlands in den ersten Nachkriegsjahren zweifeln, dass Adenauers Wiedergutmachungspolitik gegen den Willen der deutschen Bevölkerung umgesetzt wurde und nur aufgrund der Hartnäckigkeit der jüdischen Interessenverbände und des gelegentlichen Drucks, den die Alliierten auf die BRD ausübten, zustande kam (vgl. Lillteicher 2003, S. 92–107).7 Laut diesen Historiker:innen verfolgte und bewarb Adenauer diese Politik, um die internationale Anerkennung der BRD und ihre Integration in den Westen zu fördern (vgl. Colonomos/Armstrong 2006, S. 395). Wie Jürgen Lillteicher aufzeigt, standen selbst jene westdeutschen Beamten, die mit der Wiedergutmachung von jüdischem Eigentum beauftragt waren, dem Wiedergutmachungsprogramm ablehnend gegenüber. Und nichts änderte sich daran, als sich in den 1960er-Jahren eine kritischere Position unter jungen Westdeutschen bezüglich der NS-Vergangenheit der Generation ihrer Eltern und Großeltern verbreitete (vgl. Lillteicher 2006, S. 79–95). Unterm Strich nehmen also Historiker:innen in ihrer Bewertung der westdeutschen Vergangenheitsbewältigung in den langen 1950er-Jahren eine schematische binäre Unterscheidung zwischen Erfolg und Misserfolg vor. In diesem dichotomen Diskurs dient die Wiedergutmachung als Maßstab: Diejenigen, die die Ansicht vertreten, dass sich die Westdeutschen erfolgreich – das heißt ehrlich und selbstkritisch – ihrer NS-Vergangenheit gestellt haben, führen für gewöhnlich die

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In Bezug auf die 1950er- und 1960er-Jahre in Westdeutschland bemerkt die Philosophin Susan Neiman: „Reparationszahlungen [für den Holocaust] wurden geleistet, aber sie gingen nicht mit einem Prozess der Vergangenheitsaufarbeitung einher. Ehemalige Nazis hatten mächtige Positionen in der Regierung, in der Justiz, im diplomatischen Dienst und in Schulen“ (Neiman 2019, S. 309–310).

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Wiedergutmachungszahlungen an die NS-Verfolgten an. Diejenigen jedoch, die überzeugt sind, dass Westdeutschland seine NS-Vergangenheit in der AdenauerÄra nicht aufgearbeitet hat, verweisen auf die Vorzugsbehandlung der deutschen Vertriebenen und auf die angeblich großzügigen Entschädigungszahlungen, die sie im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes erhalten haben. Dieser Diskurs setzt das Vorhandensein einer politischen Spannung zwischen Vertriebenen und Holocaust-Überlebenden voraus – eine Spannung, die sich in einem mutmaßlichen Antagonismus zwischen der Entschädigung für den Holocaust und der Entschädigung für die Vertreibung widerspiegelt.

Zwischen Wiedergutmachung und Lastenausgleich Wie eingangs erwähnt, möchte ich diesen dichotomen historiografischen Diskurs zur Vergangenheitsbewältigung Westdeutschlands hinterfragen. Bei der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit handelte es sich um ein mehrschichtiges Phänomen, bei dem zwei scheinbar unterschiedliche Entwicklungen aufeinandertrafen: Westdeutschland in der Adenauer-Ära ergriff außergewöhnliche Wiedergutmachungsmaßnahmen für NS-Verfolgte und erkannte damit seine Verantwortung für den Holocaust an. Gleichzeitig jedoch nutzte es das Schicksal der deutschen Vertriebenen, um zu bekräftigen, dass Deutsche durch den Krieg und seine Folgen nicht weniger als andere gelitten hatten, und relativierte damit die Schuld am Holocaust. Vor diesem Hintergrund ist der Ausgangspunkt meiner Argumentation nicht die wahrgenommene Spannung zwischen Holocaust-Überlebenden und Vertriebenen und ihre Konkurrenz um Entschädigungen, sondern die komplexe Verknüpfung der Wiedergutmachung für den Holocaust mit der Entschädigung für die Vertreibung. Diese Verknüpfung begann mit den Verhandlungen zwischen der BRD und den Claims Conference 1952. Die Claims Conference forderte, dass HolocaustÜberlebende aus Mittel- und Osteuropa, die im Westen lebten, für materielle Verluste im Rahmen des zukünftigen deutschen Gesetzes für NS-Opfer entschädigt würden (vgl. Nachum 2013, S. 53–67). Da dieses Gesetz auf dem Territorialprinzip beruhte und die meisten Holocaust-Überlebenden aus Mittel- und Osteuropa weder deutsche Bürger:innen noch deutscher Abstammung waren und keine territoriale Verbindung zu Deutschland hatten, lehnten die deutschen Unterhändler die Forderung der Claims Conference ab (vgl. The Central Archives for the History of the Jewish People [CAHJP] 1952, Claims Conference 8125). Daraufhin verwies die Claims Conference darauf, dass ein beträchtlicher Anteil der deutschen Vertriebenen vor dem Krieg keine deutschen Staatsbürger:innen war und viele von ihnen keine geografische Verbindung zu Deutschland hatten und trotzdem eine Entschädigung nach dem westdeutschen Gesetz, dem Lastenausgleichsgesetz, 154

geltend machen konnten. Die Claims Conference versuchte somit zu verhindern, dass Holocaust-Überlebenden aus Mittel- und Osteuropa, die in den Westen gezogen waren, eine geringere Entschädigung für materielle Verluste erhielten, als deutsche Vertriebene – ihre ehemaligen Nachbar:innen – nach dem Gesetz erwarten konnten (vgl. Henry 2007, S. 37). Nach harten Verhandlungen schlugen die deutschen Unterhändler „eine Art von Entschädigung“ für NS-Verfolgte im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes vor (vgl. CAHJP 1952, Claims Conference 7042). Obwohl das Gesetz für eine ganz andere Gruppe entworfen worden war, nämlich insbesondere Vertriebene, boten die deutschen Verhandler an, das Gesetz auf jene Holocaust-Überlebende aus Mittel- und Osteuropa anzuwenden, die im Westen lebten und deutsche Zugehörigkeitsmerkmale vorweisen konnten. Die Claims Conference nahm diesen Vorschlag an (vgl. Leo Baeck Institute Archives 1952). Schließlich waren Entschädigungszahlungen für materielle Verluste nach diesem Gesetz besser, als gar keine Wiedergutmachungsleistungen zu erhalten, und dies vor allem angesichts der Tatsache, dass Tausende von mittellosen Holocaust-Überlebenden aus Mittel- und Osteuropa dringend finanzielle Unterstützung benötigten, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Wie sich jedoch herausstellte, verfügten viele jüdische Antragsteller:innen aus Mittel- und Osteuropa über keine deutschen Identitätsmerkmale wie beispielsweise die deutsche Muttersprache. Sie konnten ihre Zugehörigkeit zum Deutschtum nicht nachweisen und gingen somit nach dem Lastenausgleichsgesetz leer aus (vgl. Nachum 2013). Das galt jedoch nicht für alle: Deutschsprachige Juden aus deutschsprachigen Gebieten in Polen und der Tschechoslowakei hatten die beste Chance, ihre Entschädigungsansprüche im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes erfolgreich geltend zu machen (vgl. Israel State Archives 1968). Somit bot das Gesetz am Ende eine Entschädigung für einige Holocaust-Überlebende, die andernfalls nur geringe oder gar keine Unterstützung erhalten hätten (vgl. CAHJP 1952, Claims Conference 8125). Zumindest in ihrem Fall hat sich das Lastenausgleichsgesetz als vorteilhaft erwiesen.

Schlussfolgerung Das Argument, dass deutsche Vertriebene eine Vorzugsbehandlung gegenüber den NS-Verfolgten in der Adenauer-Ära erhielten und die westdeutsche Bevölkerung sich eher mit den Vertriebenen als mit den Holocaust-Überlebenden solidarisch fühlten, ist zweifellos stichhaltig. Angesichts des Meinungsklimas während der langen 1950er-Jahre setzte jeder offizielle Schritt zur Anerkennung des Leids der Holocaust-Überlebenden einen noch größeren Schritt zugunsten der Vertriebenen voraus (vgl. Grossmann 2003, S. 95). Jedoch komme ich nicht zu dem Schluss, dass Holocaust-Überlebende durchwegs schlechter als die Vertriebenen behandelt wurden – im Gegenteil. Wie die Verhandlungen zwischen 155

der BRD und der Claims Conference zeigen, war es ausgerechnet das Lastenausgleichsgesetz für Vertriebene, das Entschädigungsleistungen für Tausende von jüdischen NS-Verfolgten möglich gemacht hat (vgl. Goschler 1992, S. 278). Somit stimme ich Nicholas Balabkins zu, dass die westdeutsche Entschädigung für Holocaust-Überlebende und Reparationen an Israel „ohne eine umfangreiche Entschädigung für Millionen von Deutschen, die ihren Besitz während des Zweiten Weltkriegs verloren hatten, politisch unmöglich gewesen wäre“ (Balabkins 1971, S. 194). Adenauers Entschädigungspolitik für deutsche Vertriebene war eine Voraussetzung für die Wiedergutmachung für Holocaust-Überlebende. Aus diesem Grund würde ich Westdeutschlands Vergangenheitsbewältigung in den langen 1950er-Jahren weder als Erfolg noch als Misserfolg ansehen. Eher bewegten sich die Westdeutschen „auf einem schmalen Grat“ zwischen der Wiedergutmachung für den Holocaust und der Entschädigung für die Vertreibung (vgl. Kurthen 1997, S. 40), zwischen der Anerkennung des Leids der Holocaust-Überlebenden und der Solidarität mit deutschen Vertriebenen, zwischen dem Wunsch, die NS-Vergangenheit zu verdrängen, und dem Ansinnen, das NS-Unrecht aufzuarbeiten.

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It’s the economy stupid (sunshine): Die Wirtschaft bestimmt das Geschehen Naita Hishoono

Deutschland und Namibia teilen sich ein ähnliches moralisches und wirtschaftliches sowie politisches Wertesystem. Hierzu gehören die Wahrung politischer Stabilität durch Frieden, die Achtung der Menschenrechte, Religionsfreiheit, wirtschaftliches Wachstum durch eine gemischte Ökonomie und Demokratie. In beiden Verfassungen sind die menschlichen Grundrechte garantiert. Artikel 1(1) des deutschen Grundgesetzes besagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Auch die Verfassung Namibias besagt nach Chapter 3, Article 8: “The dignity of all persons shall be inviolable.” Diese auf ähnlichen Grundsätzen beruhenden Wertesysteme kommen gegenwärtig ins Schwanken, wenn es um die Aushandlung der Versöhnung und wirtschaftlichen Reparationen seitens Deutschlands an Namibia geht. Völkermord bezeichnet „die vorsätzliche Ermordung, Ausrottung oder anderweitige Vernichtung von Volksgruppen aufgrund ihrer ethnischen oder sozialen Merkmale, ihrer Nationalität oder religiösen Überzeugungen. Aufgrund der Berichte über den Völkermord während des Nationalsozialismus (insbesondere des Holocaust an den Juden) verabschiedeten die Vereinten Nationen […] 1948 eine Konvention über die Verhütung und die Bestrafung des Völkermords“ (Schubert & Klein 2020). Diese 1951 in Kraft getretene Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords, definierte Völkermord als ein Verbrechen, das „von der zivilisierten Welt verurteilt wird“. Und doch zeigt der Blick auf die Vergangenheit, auf die Zeit vor und nach dieser Konvention, dass die gleiche „zivilisierte Welt“ mit der einen Hand gibt, z. B. „Entwicklungshilfen“, was sie sich mit der anderen Hand holt, z. B. Wirtschaftsverträge.1 Am 2. Oktober 1904 verkündete General Lothar von Trotha den Vernichtungsbefehl gegen die OvaHerero wie folgt: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Frauen und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen“ (Bundesarchiv 2023).

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Europa verteilt jährlich einen bestimmten Prozentsatz seines Bruttoinlandproduktes in Form von Entwicklungsgelder an afrikanische Staaten. Vergleicht man diese Hilfen jedoch mit den Gewinnen, die europäische Firmen und europäische Wirtschaftsverträge einnehmen, ist die Summe, welche in die Entwicklungshilfe fließt, minimal.

Mit dem Siegeszug der deutschen Siedler – nein mit dem Siegeszug des Deutschen Reiches –, stand dem Ziel „Wir wollen es deutsch und herrlich machen“ (Richard Wagner, in seiner Rede vor dem Dresdener Vaterlandsverein im Jahr 1848) (Namibiana Buchdepot o. J.) nichts mehr im Wege. Somit begann das Deutsche Reich Namibias Wirtschaft und das Leben der Afrikaner:innen zu bestimmen. Dies bedeutete, dass die Anzahl der weißen Bevölkerung zwischen 1903 und 1913 sprunghaft anstieg, wobei die neue deutsche Kolonie vor allem Abenteurer:innen, Befürworter:innen des Kolonialismus und radikale Nationalist:innen anzog (vgl. Heyl 2021). Diese wollten den Zwängen und der Enge der Industriegesellschaft entfliehen und strebten ein Leben als „Herrenmenschen“ in der Kolonie an. Unter Freiheit verstanden viele von ihnen, mit ihren afrikanischen Arbeitskräften nach Gutdünken und ohne Bindung an rechtliche Vorschriften verfahren zu können. Dies zeigte sich auf vielfältige Weise, auch strukturell. So wurde das Land der einheimischen Bevölkerung als sogenanntes „Kronland“ an deutsche Siedler:innen zu vergünstigten Darlehen verkauft (vgl. Heyl 2021). Deutsche Gesetze wurden eingeführt, welche die deutschen Siedler:innen bevorzugten und die einheimische Bevölkerung benachteiligten, wobei Apartheid schon nach dem darauffolgenden Völkermord begann und nicht erst 1948, als die Nationale Partei die Wahlen in Südafrika gewann und Apartheid mit Landesgesetzen institutionalisierte (vgl. Heyl 2021). Die deutschen Siedler:innen, Soldaten und Wirtschaftsleute erhielten dabei auch ökonomische Unterstützung aus Deutschland in Form verschiedenster Waren. Die prominenteste Verstetigung dieser Strukturen findet sich heute noch im Namen eines der größten Unternehmensverbunde im Einzelhandel – Edeka: Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin. Für Afrikaner:innen bestand in der Kolonie währenddessen Arbeitszwang und eine Passmarke um den Hals war der Beweis des Arbeitsverhältnisses und der Arbeitserlaubnis (vgl. Heyl 2021). Das Deutsche Reich verlor den Ersten Weltkrieg 1918 und als Folge seine Kolonien in Afrika und Asien. Das Volk der OvaHerero wandte sich noch im selben Jahr an Südafrika, um seinen enteigneten Besitz von Deutschland zurückzufordern. Die südafrikanische Mandatsregierung wies sie ab. Die OvaHerero wandten sich mithilfe von Reverend Michael Scott an den Völkerbund, die League of Nations. Da Namibia kein eigenständiger Staat war, wurde ihr Anliegen auch hier ignoriert. Deutschland entkam somit seiner Verantwortung für Jahrzehnte aufgrund der rechtlosen Lage Namibias und, weil das Land bis 1989 quasi eine Kolonie Südafrikas war. Ich habe im Vorfeld meines Vortrages im September 2022 in Frankfurt am Main gesagt, dass dieses Thema der deutsch-namibischen Versöhnung bisher noch nicht im deutschen Bundestag thematisiert worden sei. Bereits während meines Vortrages nahm ich diese Aussage zurück. Es wurde schon 1989 angesprochen, als absehbar war, dass Namibia ein unabhängiger Staat werden würde. Mit der 161

politischen Wende in Europa und Deutschland, mit Perestroika und Glasnost, war die Angst vor dem Kommunismus genommen. Apartheid-Südafrika plädierte indes bei der UNO dafür, Namibias Unabhängigkeit nicht zu unterstützen, um den kommunistischen Domino-Effekt aufhalten zu können. Deswegen verhandelte man dann im deutschen Bundestag darüber, ob jetzt Reparationen zu zahlen seien oder ein Versöhnungsabkommen geschlossen werden solle und wie mit der „Namibia-Frage“ umgegangen wird. Diese Aspekte wurden 2004 noch einmal verhandelt, aber beide Malle wurde stets vehement darauf geachtet, keine Grundlage zu schaffen, die vor Gericht haltbar wären und es wurde nicht von Reparationen gesprochen. Erst durch die Armenien-Resolution von 2015 musste Deutschland kleinlaut zugeben, dass das Verbrechen an den OvaHerero ein Kriegsverbrechen war, und erst Jahre danach gab Deutschland zu, dass das Kaiserreich einen Völkermord begangen hatte. Die namibische Regierung nahm Verhandlungen mit Deutschland auf, um einen Vertrag auszuhandeln, der die Themen Versöhnung, Entschuldigung und Wiedergutmachung aufgreifen sollte. Nach sieben Jahren der Verhandlungen wurde das sogenannte „Versöhnungsabkommen“ im namibischen Parlament vorgestellt. Die Aufgabe der Volksvertreter:innen eines jeden demokratischen Parlaments ist es, Verträge und Abkommen dieser Art zu diskutieren. Im namibischen Parlament stieß der Vertrag auf Ablehnung. Der Vorsitzende der Popular Democratic Movement (PDM), des offiziellen Bündnisses der Oppositionsparteien im Parlament, McHenry Venaani, sagte, „die angebotene Geldsumme ist fern von jeder Sympathiebekundung und zeigt Deutschlands Arroganz in diesem Prozess“. Ein weiterer Oppositionspolitiker, Bernadus Swaartbooi, ging so weit zu sagen: „das Abkommen ist rassistisch und verfassungswidrig“. Das Luxemburger Abkommen von 1952 verhalf dem israelischen Volk zu Wiedergutmachung und Reparationen.2 Das Geld half Israel dabei, die Infrastruktur des Landes aufzubauen, die Wirtschaft anzukurbeln und 45.000 Arbeitsplätze in einem Zeitraum von zwölf Jahren zu schaffen. Außerdem wurde eine Vielzahl jüdischer Familien und unmittelbar Betroffener der Shoah entschädigt (vgl. United

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Am 10. September 1952 unterzeichneten Bundeskanzler Konrad Adenauer und der israelische Außenminister Moshe Sharett in Luxemburg das deutsch-israelische Reparationsabkommen. Mit dem Luxemburger Abkommen verpflichtete sich die Bundesrepublik Deutschland, dem Staat Israel innerhalb eines Zeitraums von zwölf Jahren Güter im Wert von insgesamt 3 Milliarden Deutsche Mark zur Unterstützung, Integration und Ansiedlung jüdischer Verfolgter, die durch Einwanderung die israelische Staatsbürgerschaft erworben hatten, zu liefern. Des Weiteren trat mit dem Abkommen eine Vereinbarung mit der Claims Conference in Kraft. Darüber flossen 450 Millionen Deutsche Mark in die Unterstützung, Integration und Ansiedlung jüdischer Flüchtlinge außerhalb Israels. Zudem wurden in einem Sonderfonds für Betroffene der Nürnberger Gesetze weitere 50 Millionen Deutsche Mark bereitgestellt (Bundesministerium der Finanzen 2023).

Nations 1953, S. 298).3 Der Blick auf den Vertrag zeigt, dass der Vertragspartner, das Jewish Claims Conference und der Staat Israel, zehn verschiedene jüdische Organisationen vertrat. Der Deutsche Bundestag verabschiedete das Luxemburger Abkommen am 18. März 1953 mit großer Mehrheit (239 Ja-Stimmen gegen 35 Nein-Stimmen), obwohl nur 106 der 214 Abgeordneten der regierenden CDU/CSU den Antrag unterstützten. Das Abkommen war somit auf die Unterstützung der oppositionellen Sozialdemokrat:innen angewiesen. Die Arabische Liga lehnte den Antrag vehement ab und drohte, insofern er verabschiedet werden sollte, mit einem Boykott der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Boykott wurde jedoch aus wirtschaftlichen Erwägungen aufgegeben, da die Arabische Liga unter dem Verlust des Handels mit der Bundesrepublik weitaus stärker gelitten hätte als Deutschland (vgl. The New York Times 2002). Was an Israel ausgezahlt wurde, war keine Entwicklungshilfe. In Namibia sind wir weit entfernt von Reparationen. Europa und Deutschland scheuen sich, von Reparationen in Bezug auf Afrika im Allgemeinen oder mit Blick auf Namibia im Besonderen zu sprechen, da sie befürchten, die Büchse der Pandora zu öffnen – so ist zumindest mein Eindruck. Doch Pandoras Büchse ist spätestens seit der Globalisierung und der Vernetzung von Märkten und Banken geöffnet. Die Angst vor Reparationen löst nicht unsere Probleme, sondern hilft, gemeinsame Lösungswege zu suchen und finden. Europas zivilisiertes Wertesystem verurteilt Genozid. Europas Wirtschaft spricht jedoch eine andere Sprache. Und nicht nur Europas Wirtschaft, sondern auch Europas Monarchien. Unmittelbar vor der Konferenz, in dessen Rahmen dieser Artikel entstanden ist, wurde laut gefordert und darüber debattiert, was die Monarchie in Europa zurückgeben könne. Bezugspunkt war hier die Forderung, die nach dem Ableben der britischen Königin Elizabeth II. seitens Indiens und Pakistans formuliert wurde, die Koh-I-Noor-Diamanten, die als Teil der britischen Kronjuwelen verwendet wurden, zurückzugeben. Ich spare mir an dieser Stelle, näher auf die große Bedeutung des britischen Empires sowie des sich daraus ableitenden Commonwealth im Kontext von Kolonialismus und post-kolonialen Debatten einzugehen. Im Mai 2021 veröffentlichten Namibia und Deutschland die „Gemeinsame Erklärung“, die auch als Versöhnungsabkommen bezeichnet wird. Kritiker:innen in Namibia und Deutschland bemängeln, insbesondere unter Berücksichtigung der Inflation, die niedrige Summe im Vergleich zu derjenigen, die durch das

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Auf Druck Überlebender begannen infolge des Abkommens auch deutsche Firmen, die von der Kriegsmaschinerie profitiert hatten, Kompensationen an Zwangsarbeiter:innen und die überlebenden Familien auszuzahlen. Außerdem errichtete die deutsche Regierung noch im Jahre 1999 einen speziellen Fonds, der Banken, Firmen und Versicherungen zwang, Reparationen an Familien, Überlebende und jüdische Gemeinden auszuzahlen.

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Luxemburger Abkommen verhandelt werden konnte. Zudem kritisieren die Vertreter:innen der OvaHerero, Damara/Nama und Stimmen aus der namibischen Zivilgesellschaft, dass wir als in dem verhandelten Kontext besonders marginalisierte Gruppen nicht mit am Verhandlungstisch saßen. Am 31. August 2022 verkündete die deutsche Regierung, dass sie nicht länger mit sich verhandeln ließe: „Aus Sicht der Bundesregierung ist die gemeinsame Erklärung ausgehandelt, auch wenn noch Gespräche über einzelne Modalitäten der Umsetzung geführt werden“, sagte sie auf eine Kleine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen (vgl. Pelz 2022). „Es zeugt von Arroganz, dass die Ampelregierung die massive Kritik im namibischen Parlament und die Empörung bei den Nachfahren der Opfer deutscher Kolonialverbrechen einfach ignoriert und auf Namibia abwälzt“, so Dagdelen (Pelz 2022). Mit dieser Pistole auf der Brust lässt sich jedoch keine gemeinsame Erinnerungskultur schaffen, geschweige denn Versöhnung erreichen. Ein Vertrag muss von beiden Parteien akzeptiert werden. Versöhnung bedeutet in meinen Augen, einander auf Augenhöhe zu begegnen. Diese gemeinsame Augenhöhe war hier jedoch nicht gegeben, da vielmehr der wirtschaftliche Goliath mit David verhandelt. Auch leben die Nachfahren der ursprünglichen deutschen Siedler:innen – knapp 30 000 – im Vergleich zur autochthonen Bevölkerung in außerordentlich guten Lebensverhältnissen im heutigen Namibia. Bis heute ist das Kronland der afrikanischen Gemeinden in deutscher, englischer oder Burenhand.4 Auch einige namibischen Politiker:innen reihen sich hier ein, indem sie von den postkolonialen Kontinuitäten des Systems persönlich profitieren. Insofern sie eine Farm erhalten, verfahren sie diesbezüglich genauso wie die ehemaligen Kolonialist:innen. Denn aus finanziellen Gründen können sich eigentlich nur die Politiker:innen Land leisten. Sie erhalten die Farmen durch den Resettlement Process oder im Zuge staatlicher Landumverteilung. Ihre Angestellten bezahlen die Politiker:innen allerdings schlecht. Eine Reform-Strategie für die Wiederansiedlung ist, dass die namibische Regierung Farmen von kommerziellen Farmern kauft und an benachteiligte Menschen vergibt. Für die notwendigen Darlehen vergibt die AgriBank, eine staatliche Bank, Kredite mit Zinsen unter dem Marktniveau (vgl. Office of the Prime Minister 1995). Ein weiteres Beispiel für die Kontinuitäten des Kolonialismus: Um ihre Toten zu begraben, müssen die OvaHerero die weißen Farmer:innen als formale Besitzer:innen des Landes um Erlaubnis fragen. Hinzu kommt, dass die wirtschaftliche Lage der afrikanischen Gemeinden in Namibia bis heute prekär ist, dies nicht zuletzt auch, weil Südafrikas Apartheid-Regierung durch den Odendaal-Plan in den 1970er-Jahren noch mehr Land enteignet hat. Bis heute leben wir in Namibia in zwei wirtschaftlichen Welten, es existiert eine klare Spaltung der Gesell4

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Die Buren (Bauern/Boer auf Holländisch) sind Nachfahren der holländischen, deutschen oder französischen Siedler:innen, die das Kap in Südafrika ab 1652 kolonialisierten.

schaft entlang rassistischer Strukturen vor. Nun heißt es mit Blick auf das sogenannte „Versöhnungsabkommen“, Deutschland zahle Namibia proportional gesehen die meiste Entwicklungshilfe in ganz Afrika. Angesichts einer Bevölkerung von knapp 2,5 Millionen Einwohner:innen sowie meiner Ausführungen zu postkolonialen Kontinuitäten frage ich mich, ob diese sogenannte „Entwicklungshilfe“ Namibia tatsächlich helfen wird oder ob sie nicht vielmehr als Schokolade für Zuckerkranke zu betrachten ist – nicht mehr, als ein einfaches Zugeständnis von scheinbar unterstützenden Maßnahmen, deren Effekt unbemerkt bleibt oder sich sogar ins Gegenteil zu verkehren droht. Offen bleibt meines Erachtens außerdem, ob diese „deutsche“ Entwicklungshilfe auch in einem weiteren Sinne an den eigenen moralischen Maßstäben bemessen ist und auch den Symbolen des Kolonialismus, wie beispielsweise der Entmenschlichung Schwarzer Menschen, eine Absage erteil, oder vielmehr nur eine Umformung dieser Symbole stattfindet. In der Kolonialzeit wollte man die Wilden zivilisieren. Heute möchte man uns entwickeln. Big Business für ein Problem, das sich meines Erachtens so einfach nicht lösen lassen wird, wenn unter Zivilisierung vor allen Dingen wirtschaftliche Entwicklung verstanden wird, die in ihrer Form die hiesige deutsche und europäische Wirtschaft nutzt und somit die Frage aufwirft, ob die Einhaltung der eigenen Moral nicht zuletzt oder sogar zuvorderst diesen Interessen zu dienen vermag. Afrikas Staaten können kaum Handel betreiben, da die europäischen Staaten ihre Bauern und Bäuerinnen durch hohe Zölle schützt. Gleichzeitig werden westliche Überschüsse zu höchst subventionierten Preisen auf den afrikanischen Markt geschickt. Sie sind damit in Namibia teurer als in Europa. Verhandlungen zwischen Afrika und der EU münden aufgrund der wirtschaftlichen Notlage afrikanischer Staaten nicht selten in einen ökonomischen Knebel. Auch in Namibia zeigt sich das. An dieser Stelle möchte ich aus dem Buch von Medardus Brehl (2022) zitieren: „Die Rede von der ,besonderen Verantwortung‘ scheint nicht zuletzt dazu zu dienen, sich jeder einklagbaren Konsequenz dieser Verantwortung zu entziehen. Statt das Verbrechen des Völkermordes moralisch und materiell entschulden zu wollen, zielte man – wie das ausgehandelte Versöhnungsabkommen deutlich macht: erfolgreich – auf den Erhalt von Handlungsmacht und die selbstbestimmte Entscheidung, dieser Verantwortung über das Instrument der Entwicklungszusammenarbeit Rechnung zu tragen. Anstatt einer Entschädigungskonzeption, in der Opfer einen rechtlichen Status gewinnen würden, werden die Nachfolgegenerationen zu Empfängern humanitärer Hilfeleistungen. Die Erben der kolonialen Täter dagegen können zurückkehren in die Rolle eines White Saviors. Es sollte uns nicht wundern, dass eine solche Konstellation in Namibia nicht ungewollt auf Wohlwollen und Zustimmung trifft“.

Wird unsere gemeinsame Geschichte und wirtschaftliche Situation nicht in einer Form ausgenutzt, die die namibische Seite weiterhin eindeutig und einsei165

tig benachteiligt, während wir die Situation mit Begriffen wie Entwicklungshilfe, Zivilisation und menschlichen Grundrechten schmücken? Aufgrund der besonderen Rolle der wirtschaftlichen Verhältnisse für diese Situation sage ich immer wieder: It’s the economy sunshine. Namibia ist ein Land, das geprägt ist von deutscher und europäischer Kultur. Deutsche Erinnerungskultur ist namibischer Alltag. Sie haben während der Konferenz gehört: Ich spreche Deutsch. Deutsche Straßen, Schulen, Medien, Namen, Kleidung und Institutionen gehören zum namibischen Alltag. Die deutsch-namibischen Beziehungen reichen von der Kolonialzeit über den Kalten Krieg hinaus bis in die heutige Gegenwart der Globalisierungszeit. Durch die Energiewende ist Namibia wieder in aller Munde. In Deutschland spricht man von Green Hydrogen. Wissen Sie, wo sie sich dieses Green Hydrogen holen? Aus Tunesien, aus Namibia. Ich habe mal einen deutschen Experten gefragt: „Deutschland hat doch selber so viel Wasser. Warum könnt ihr nicht selber Green Hydrogen herstellen?“ Dann wurde mir erklärt: „Bei euch ist die Wüste, bei euch ist die Sonne. Bei euch lässt sich der Wasserstoff grüner herstellen.“ Ist dieser Profit legitim? 1952 sagte Israels Premierminister David Ben–Gurion: „Die Mörder können nicht ebenfalls Erben sein“. Durch das Fehlen eines fairen Wiedergutmachungsabkommen zwischen Namibia und Deutschland erben die Nachkommen der Kolonialmacht bis heute: das Land, die wirtschaftlichen Vorteile, Mobilität zwischen Europa und Afrika und weiterhin einen Platz an der Sonne. Inwiefern die namibische Seite von ähnlichen Privilegien profitiert, würde ich gerne anhand meiner eigenen Eindrücke aufgreifen, die ich bereits in einem vorherigen Artikel festgehalten habe.5 Während der deutschen Teilung von 1949 bis 1989 legte die Bundesrepublik Deutschland in der Verfassung fest, dass die Deutsche Demokratische Republik ein integraler Bestandteil Deutschlands ist. Im Zuge der Perestroika und deren Folgen für Europa flüchteten Menschen aus Ostdeutschland in Scharen nach Westdeutschland. Kanzler Helmut Kohl versprach allen Deutschen bei der Einreise einhundert Deutsche Mark. Familien fanden zusammen und die Menschen feierten Freudenfeste. Eine gemeinsame Nationalmannschaft gewann sogar die Fußballweltmeisterschaft 1990. Es war eine Zeit vieler Möglichkeiten. Ich wagte anzunehmen, dass ich wie viele Namibiadeutsche eine doppelte Staatsbürgerschaft haben könnte (viele unter diesen haben zusätzlich noch die südafrikanische Staatsbürgerschaft). Oder wenigstens die Aufenthaltsberechtigung in beiden Ländern, die meine Heimat sind. Das Urteil wurde über mich nach einer jahrelangen Antragsprozedur gefällt: ein klares Nein. Wie mir die Ausländerbehörde in Berlin erklärte, sei ich als Flüchtling nach Ostdeutschland gekommen. Dies gab mir keine Berechtigung, dauerhaft in Deutschland zu leben. Man stelle sich meine Enttäuschung und Frustration vor 5

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Der folgende Abschnitt ist in weiten Teilen meinem Artikel „Ein Platz unter der Sonne“ entnommen (vgl. Hishoono 2022).

bei dem Gedanken an die vielen Namibiadeutschen, die einen ungehinderten Zugang zu beiden Staaten haben. Man stelle sich die Frustration so vieler einst von Europäer:innen kolonisierter Menschen in Afrika und in anderen Teilen der Erde vor, denen jetzt gesagt wird, sie haben keinen Zugang zu den ehemaligen Kolonialstaaten, um das zu genießen, was mit deren – unseren! – Ressourcen aufgebaut wurde. Europa wollte unsere Reichtümer, unsere Geschichte, unsere Kunst und Kultur auch für sich haben. Aber es will nicht uns – im Gegenteil verdichten sich nicht wenige europäische Stimmen aus Politik und Gesellschaft gegenwärtig zu einem gewaltvollen Kanon: ,Bleibt, wo ihr seid oder ertrinkt im Mittelmeer.‘ Darum wissend, dass die Zeit Wunden heilt, lebte ich weiter mit der Gewissheit, dass sich auch das ändert. Menschen können sich ändern und erkennen, dass das, was sie trennt, sie auch verbindet. Heute legen wir Diskriminierungen offen auf den Tisch, über die früher kaum gesprochen wurde. Eine Errungenschaft. Das Internet, konkret: die sozialen Medien, haben die Welt näher zusammengebracht und weltweite Diskussionen befördert. So zum Beispiel Enthüllungen geschlechtsspezifischer Diskriminierung durch Me Too, Diskussionen um die Einbeziehung von Menschen mit verschiedenen Fähigkeiten, die Benachteiligung von Kindern und älteren Menschen, ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass Black Lives Matter, Demonstrationen, die für den Schutz der Umwelt vor drastischen Klimaveränderungen mobilisieren sowie die Debatten um Reparationen für Völkermord und die Restitution gestohlener Kulturgüter – all dies und mehr führte zu einer globalen Allianz. Und da, wo dies ohne Wirkung blieb, trug Corona zur Intensivierung der Diskussionen bei. Wer bin ich ohne meine Titel, Reisen, Verbindungen, ohne Arbeit und Geld? Die Covid-Zäsur half, mehr Fragen zu stellen und mehr Antworten zu suchen. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda fragte bei der Eröffnung des Humboldt Forums in Berlin: Wie will Europa die Menschen Afrikas und die ehemaligen Kolonien kennenlernen, wenn der Zugang zu solchem Austausch, zu Dialog und Diskussionen erschwert wird? „Denkt über die Visa- und Zugangspolitik nach“, forderte sie. „Wie lassen sich glaubhaft Werte von Freiheit predigen, wenn ein Zugang zu der proklamierten Wertegemeinschaft nur für einen selbst, nicht aber für andere ermöglicht ist? Und ich füge dem hinzu: Wann werdet ihr verstehen, dass wir alle Bürger:innen dieser Welt sind und das Recht haben, auf diesem Planeten zu leben. The pursuit of happiness – wo immer was verlaufen vermag – sollte keine Frage von Ökonomie, Politik oder Impfstatus sein, sondern eine Angelegenheit von Humanismus und Aufrichtigkeit. Schließlich: Seht doch, wie zufrieden meine deutschnamibischen Mitbürger:innen bei uns in Namibia sind. Zumindest sie haben ihren Platz unter der Sonne gefunden.“

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Literatur Brehl, Medardus (2022): Namibia im Deutschen Bundestag und in der Außenpolitik. In: Melber, Henning/Platt, Kristin (Hrsg.): Koloniale Vergangenheit – Postkoloniale Zukunft. Die deutschnamibischen Beziehungen neu denken. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel, S. 55–72. Bundesarchiv (2023): Der Krieg gegen die Herero 1904, www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/Der-Krieg-Gegen-Die-Herero-1904/der-krieg-gegen-die-herero-1904.html (Abfrage: 05.01.2023). Bundesministerium der Finanzen (2023): Fragen und Antworten zum Luxemburger Abkommen von 1952. www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/FAQ/luxemburger-abkommen.html (Abruf: 08.03.2023). Heyl, Bernd (2021): Namibische Gedenk- und Erinnerungsorte. Postkolonialer Reisebegleiter in die deutsche Kolonialgeschichte. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Hishoono, Naita (2022): Ein Platz unter der Sonne. In: Melber, Henning/Platt, Kristin (Hrsg.): Koloniale Vergangenheit – Postkoloniale Zukunft. Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel, S. 195–198. Joint Declaration by the Federal Republic of Germany and the Republic of Namibia (2021). www.parliament.na/wp-content/uploads/2021/09/Joint-Declaration-Document-Genocide-rt.pdf (Abfrage: 03.01.2023). Namibiana Buchdepot (o. J.): Da und dort ein junges Deutschland gründen. www.namibiana.de/de/da-und-dort-ein-junges-deutschland-gruenden.html (Abruf: 15.01.2023). New York Times (2002): Opinion. 1952: Germany to Pay Reparations: In Our Pages: 100, 75 and 50 Years ago. In: The New York Times 12. November 2002. www.nytimes.com/2002/11/12/opinion/12iht-edold_ed3__26.html (Abruf: 14.12.2022). Office of the Prime Minister (1995): Agricultural (Commercial) Land Reform Act 1995. In: Government Gazette 1040, 3. März 1995, S. 1–65; www.npc.gov.na/wp-content/uploads/2022/06/1995-Commercial-Land-Reform-Act.pdf (Abruf: 15.01.2023). Pelz, Daniel (2022): Genozid an Herero und Nama. DW-Exklusiv: Bundesregierung gegen neue Verhandlungen mit Namibia. In: Deutsche Welle vom 01.09.2022; www.dw.com/de/dw-exklusivbundesregierung-gegen-neue-verhandlungen-mit-namibia/a-62995989 (Abruf: 08.01.2023). Schubert, Klaus/Klein, Martina (2020): Das Politiklexikon. 7., aktual. u. erw. Aufl. Bonn: Dietz. United Nations (1953): Treaty Series. Nr. 2137. Agreement between the State of Israel and the Federal Republic of Germany. Signed at Luxembourg on 10 September 1952; S. 205–310. treaties.un.org/doc/Publication/UNTS/Volume%20162/volume-162-I-2137-English.pdf (Abruf: 15.01.2023).

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Auf dem Weg zu einer Aussöhnung mit Namibia Ruprecht Polenz

Der Umgang mit den dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit ist schwer, aber notwendig, wenn es eine gute Zukunft geben soll. Wegen der vielen Verbrechen, die Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begangen hatte, gab und gibt es besonders viel aufzuarbeiten. Wenn man bedenkt, dass Israel Deutschland heute als zweitbesten Verbündeten nach den USA betrachtet, dass das deutsch-französische Verhältnis von einer „Erbfeindschaft“ zu enger Freundschaft geworden ist, und wenn man sich das immer engere Verhältnis zu Polen ansieht, dann ist Deutschland auf diesem Weg ein gutes Stück vorangekommen. Nach über 5 ½-jährigen Verhandlungen, die ich für die deutsche Seite leiten durfte, liegt jetzt auch eine Joint Declaration zwischen Deutschland und Namibia vor: „United in remembrance of our colonial past, united in our will to reconcile, united in our vision of the future“. Dr. Zedekia Ngavirue, der als Herero von der namibischen Regierung mit der Verhandlungsführung beauftragt war, und ich haben den Text am 15. Mai 2021 in Berlin paraphiert und die Verhandlungen damit abgeschlossen.

Worüber haben wir verhandelt? Deutschland will um Entschuldigung bitten für den Völkermord und die schrecklichen Verbrechen, die das deutsche Kaiserreich von 1904 bis 1908 an den Herero und Nama begangen hat. Man kann sich nicht selbst entschuldigen, sondern nur darum bitten. Deshalb soll diese Bitte um Entschuldigung so erfolgen, dass sie angenommen wird. Namibia möchte wissen, ob es sich um ein bloßes Lippenbekenntnis handelt oder ob es Deutschland ernst damit ist, dass also aus der Bitte um Entschuldigung etwas folgt und sie nicht nur so dahergesagt wird. Deshalb haben wir darüber gesprochen, was heute geschehen kann, um die noch vorhandenen Wunden zu heilen. Jedes Menschenleben ist unbezahlbar und man kann nicht ungeschehen machen, was vor über 110 Jahren geschehen ist. Aber man kann etwas dafür tun, die Lebenschancen der heute lebenden Herero und Nama zu verbessern. 169

Wir haben also keine „Schlussstrich-Verhandlungen“ geführt. Die Joint Declaration ist nicht das Ergebnis von gesellschaftlichen Versöhnungsprozessen, sondern sie soll die Voraussetzungen für eine Versöhnung schaffen.

Wofür genau will Deutschland um Entschuldigung bitten? In dem gemeinsam mit der namibischen Seite verfassten Text heißt es dazu in der Joint Declaration: „Deutschland hat im Jahr 1904 einen Krieg geführt, der zur Auslöschung großer Teile indigener Bevölkerungsgruppen im Gebiet des heutigen Namibia geführt hat. Die deutschen Streitkräfte beschlossen und verfolgten Strategien zur Ausrottung klar definierter Bevölkerungsgruppen. Diese Maßnahmen hatten auch Folgen für andere Bevölkerungsgruppen im Gebiet des heutigen Namibia. In diesem Zusammenhang erließ Generalleutnant Lothar von Trotha am 2. Oktober 1904 einen Befehl, der zu Leid und Tod Tausender von Ovaherero führte, darunter Frauen und Kinder. Zwar wurde dieser Befehl von der Reichsregierung am 8. Dezember 1904 aufgehoben, aber zu diesem Zeitpunkt waren bereits viele Tausend Ovaherero getötet worden oder an den Folgen des Befehls gestorben. Trotz der Aufhebung des ersten Befehls durch das Deutsche Reich erließ Generalleutnant von Trotha am 22. April 1905 einen zweiten Befehl. Dieser richtete sich gegen die Nama und drohte ihnen, sollten sie sich nicht ergeben, ein ähnliches Schicksal wie den Ovaherero an. Diese Drohungen wurden später wahr gemacht, was zu einer weiteren substanziellen Auslöschung, nämlich von Nama-Gemeinschaften, führte. 1905 richteten die deutschen Behörden insbesondere in Swakopmund, Shark Island (Haifischinsel) und Windhoek (Alte Feste) Konzentrationslager ein, in denen die dort Internierten versklavt und gezwungen wurden, unter menschenunwürdigen Bedingungen zu arbeiten, was zum Tod Tausender Menschen durch Hunger, Krankheit und Zwangsarbeit führte. Einige der Nama-Krieger wurden mit ihren Familien nach Togo oder Kamerun verbannt. Wegen der schrecklichen Bedingungen und der hoffnungslosen Lage in diesen Lagern waren viele der dort Internierten dem Tod ausgeliefert. Als die Lager 1908 endlich geschlossen wurden, waren Tausende von Menschen durch Hunger, Krankheit und Erschöpfung aufgrund von Zwangsarbeit gestorben. Nach dem Krieg wurden umfangreiche Landstriche, die Stammesgebiet darstellten, das seit Langem von indigenen Bevölkerungsgruppen bewohnt wurde und diesen gehörte, vom deutschen Staat beschlagnahmt und besetzt. Im Zuge dieser Maßnahmen wurden indigene Bevölkerungsgruppen aus ihren Stammesgebieten ausgewiesen und vertrieben. In einigen Fällen wurden Bevölkerungsgruppen ganz aus dem Gebiet des heutigen Namibia vertrieben und sind heute noch immer entwurzelt.

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Zudem wurden sterbliche Überreste von Angehörigen indigener Bevölkerungsgruppen unter Missachtung der Menschenwürde sowie kultureller und religiöser Überzeugungen und Praktiken zu pseudowissenschaftlicher Rassen- und Eugenik„Forschung“ rechtswidrig nach Deutschland verbracht. In diesem Zusammenhang wurden auch kulturelle Artefakte dieser Bevölkerungsgruppen nach Deutschland verbracht. Insgesamt wurden Zehntausende von Männern, Frauen und Kindern Opfer der Befehle und der damit zusammenhängenden deutschen Vorgehensweisen. Sie wurden erschossen, erhängt, verbrannt, dem Hungertod oder Menschenversuchen ausgesetzt, versklavt, durch Arbeit getötet, missbraucht, vergewaltigt und nicht nur ihres Landes, Eigentums und Viehs beraubt, sondern auch ihrer Rechte und ihrer Würde. Somit wurde eine erhebliche Zahl von Ovaherero- und Nama-Gemeinschaften durch die Maßnahmen des deutschen Staates vernichtet. Auch eine große Zahl von Gemeinschaften der Damara und der San wurde vernichtet.“

Aus politischen und moralischen Gründen Verantwortung übernehmen Für diese Verbrechen will Deutschland aus moralischen und politischen Gründen die Verantwortung übernehmen. Auch wenn das brutale Vorgehen des Kaiserreichs bitteres Unrecht war, handelt es sich heute nach Auffassung der Bundesregierung nicht um eine Rechtsfrage, denn die 1948 von der UN-Vollversammlung beschlossene Völkermord-Kommission gilt nicht rückwirkend, obwohl es auch vor 1948 Völkermorde gegeben hatte. In der Joint Declaration heißt es dazu: „Beide Regierungen bekräftigen, dass die Präambel der Konvention der Vereinten Nationen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (1948) die Tatsache anerkennt,,dass der Völkermord der Menschheit in allen Zeiten der Geschichte große Verluste zugefügt hat.‘ Die Bundesregierung erkennt an, dass die in Phasen des Kolonialkrieges verübten abscheulichen Gräueltaten in Ereignissen gipfelten, die aus heutiger Perspektive als Völkermord bezeichnet würden.“

Der Begriff des „Völkermords“ ist erst in den 1940er-Jahren geprägt worden. Noch 1941 hatte Churchill über die Nazi-Verbrechen von einem „crime without a name“ gesprochen. 1943 sprach der polnische Jurist Raphael Lemkin erstmals von „Völkermord“ und verwandte diesen Begriff 1947 in dem Rohentwurf der VölkermordKonvention.

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Die Lebenschancen der heute lebenden Herero und Nama verbessern Was soll in Zukunft geschehen, um die noch vorhandenen Wunden zu heilen, die diese Verbrechen bei den Nachfahren der Opfer gerissen haben? „Von beiden Regierungen wird ein gesondertes und eigenständiges Unterstützungsprogramm für Wiederaufbau und Entwicklung aufgelegt, mit dem den Nachkommen der besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen im Einklang mit ihren ermittelten Bedürfnissen Hilfe bei der Entwicklung geleistet wird. Vertreter dieser Bevölkerungsgruppen werden an diesem Prozess in entscheidender Weise teilnehmen. In den folgenden Regionen werden im Rahmen dieses Programms Vorhaben durchgeführt: Erongo, Hardap,//Kharas, Khomas, Kunene, Omaheke, und Otjozondjupa. Die Vorhaben werden die folgenden Bereiche einschließen: Landreform, insbesondere Landerwerb im Einklang mit der namibischen Verfassung und Landerschließung, Landwirtschaft, ländliche Lebensgrundlagen und natürliche Ressourcen, ländliche Infrastruktur sowie Energie- und Wasserversorgung, fachliche und berufliche Bildung und Ausbildung.“

Damit sollen die Lebenschancen der ca 200 000 Herero und Nama in ihren Siedlungsgebieten verbessert werden. Insgesamt 1,05 Milliarden Euro werden dafür über einen Zeitraum von 30 Jahren zur Verfügung gestellt.

Eine gemeinsame Erinnerungskultur entwickeln Um Versöhnungsprozesse zwischen den Menschen anzustoßen und zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur zu kommen „[beschließen] beide Regierungen, die Versöhnung zwischen den Bevölkerungen Namibias und Deutschlands durch die Bewahrung der Erinnerung an die Kolonialzeit für künftige Generationen, insbesondere an die Zeit zwischen 1904 und 1908, zu fördern und zu unterstützen, indem unter anderem angemessene Wege für Erinnerung und Gedenken gefunden, Forschung und Bildung sowie kulturelle und sprachliche Angelegenheiten unterstützt und Treffen sowie der Austausch zwischen allen Generationen, insbesondere der Jugend, gefördert werden. Beide Regierungen beschließen ferner, gemeinsam eine gesonderte rechtliche Struktur, d. h. eine gemeinsame Stiftung oder einen Fonds, zu konzipieren und zu errichten, die Vorhaben zur Förderung der Versöhnung auswählt und finanziert.“

Für diese Stiftung sind 50 Millionen Euro vorgesehen. Damit lassen sich Schulbuchprojekte finanzieren, damit die Kolonialzeit angemessen und aus einer 172

gemeinsamen Perspektive dargestellt wird. Auch Impulse für das Gedenken im öffentlichen Raum sollten von der Stiftung ausgehen. Hier ist besonders in Deutschland noch viel zu tun. Das Abkommen hat Diskussionen ausgelöst. Im Folgenden möchte ich auf die am häufigsten gestellten Fragen eingehen.

Warum so spät? Der Völkermord und die Verbrechen an den Herero und Nama wurden zwischen 1904 und 1908 verübt. Warum hat es über hundert Jahre gedauert, bis sich Deutschland diesem Thema stellt? Namibia wurde 1989 unabhängig. Von 1916 bis 1989 war das Land eine Kolonie des südafrikanischen Apartheidstaates. Deutschland hat sich nach 1990 vor allem auf die Folgen der Wiedervereinigung konzentriert. Zwar entwickelten sich die deutsch-namibischen Beziehungen auch dank der deutschen Entwicklungshilfe gut. 2004 bat die damalige Entwicklungshilfeministerin Heidemarie WieczorekZeul in einer sehr persönlichen Rede in Namibia um Entschuldigung und förderte in einer Sonderinitiative in Höhe von 30 Milliarden Euro Projekte in den Siedlungsgebieten der Herero und Nama. Aber das war auch aus namibischer Sicht kein Ersatz. Leider haben die eigentlichen Verhandlungen erst 2015 begonnen. Sie hätten früher beginnen sollen.

Warum hat Deutschland nicht direkt mit den Herero und Nama verhandelt? Es gibt keine allgemein gewählte oder von allen Herero und Nama anerkannte Vertretung, sondern zahlreiche unterschiedliche Gruppierungen. Die Herero haben mehrere Königshäuser. Es gibt „rote“ und „grüne“ Herero, die sich nicht nur in ihrer Kleidung unterscheiden. Bei den Nama gibt es die Witboi-Familie und die Frederick-Familie. Es gibt zwei Völkermord-Komitees und Rivalitäten innerhalb dieser Communitys.

Waren die Herero und Nama von den Verhandlungen ausgeschlossen? Nein. Bei allen Verhandlungsrunden saßen Vertreter*innen der Herero und Nama mit am Tisch. Auch über die namibischen Vorbereitungsgremien – technical committee und political committee – waren Herero- und Namavertreter*innen

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in die Verhandlungen einbezogen. Dr. Ngavirue, der namibische Verhandlungsführer, ist ein Herero.

Wer hat verhandelt? Es waren Verhandlungen zwischen beiden Regierungen. Die namibische Regierung ist die legitime, aus demokratischen Wahlen hervorgegangene Vertreterin aller Namibier*innen. Seit der Unabhängigkeit verfolgt das Land die Politik „one people – one nation“ und will das Stammesdenken überwinden. Die namibische Regierung hat deshalb großen Wert darauf gelegt, die Verhandlungen selbst zu führen und ihre Delegation selbst zusammenzustellen.

Warum wird in der Joint Declaration nicht von Reparationen gesprochen? Beim heutigen Umgang mit den Verbrechen von 1904 bis 1908 geht es nicht um eine rechtliche, sondern um eine politisch-moralische Frage. Dieser politischmoralischen Verantwortung will Deutschland sich stellen. Deshalb blieben auch die drei Klageversuche von Herero- und Namavertreter*innen vor internationalen und amerikanischen Gerichten erfolglos. Sie wurden nicht zur Entscheidung angenommen.

Werden die Mittel tatsächlich bei Herero und Nama ankommen? Dazu hat sich die namibische Regierung verpflichtet. Die vereinbarten Projekte werden in sieben genau bezeichneten Regionen realisiert, die überwiegend von Herero und Nama besiedelt sind. Die örtlichen Gemeinschaften werden umfassend in die Planung und Durchführung einbezogen. Deutschland bleibt an der Umsetzung des Abkommens beteiligt.

Wie geht es weiter? Die Verhandlungen sind abgeschlossen. Das namibische Parlament wird sich mit dem Ergebnis beschäftigen. Gleiches gilt für den Deutschen Bundestag. Es ist vorgesehen, dass Außenminister Heiko Maas die Joint Declaration in Windhuk gemeinsam mit seiner namibischen Amtskollegin Netumbo Nandi-Ndaitwah unterzeichnet. In der zweiten Jahreshälfte könnte Bundespräsident Frank-Walter

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Steinmeier nach Namibia reisen, um dort in einem geeigneten Rahmen die Bitte um Entschuldigung vorzubringen. Danach kann die weitere Umsetzung der Joint Declaration beginnen. Das Verhandlungsergebnis soll die Grundlage für gesellschaftliche Versöhnungsprozesse sein, auf die wir hoffen. Einen Anspruch auf Versöhnung haben wir nicht. (Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen leicht ergänzten Wiederabdruck des gleichnamigen Artikels aus der digitalen Kolumne der Mission Lifeline1 aus dem Jahr 2021.)

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MISSION LIFELINE International e.V., setzt sich seit vielen Jahren für Geflüchtete weltweit ein. Im Zentrum stehen derzeit die Seenotrettung im zentralen Mittelmeer, die Ukrainehilfe und die Unterstützung afghanischer Ortskräfte: „Kriege, Klimakrisen und politische Entscheidungen bedrohen das Leben von Millionen Menschen. Historische Kontexte zu verstehen, ist essentiell. In unseren Kolumnen kommen dazu regelmäßig Autoren wie R. Polenz zu Wort. Alle Autor:innen teilen unsere Sicht: Hilfe im Heute zu leisten ist universelle, humanitäre Pflicht.“ (Mission Lifeline International e.V.)

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5 Deutsche Staatsräson und Israels Sicherheit – Genese, Inhalt und Zukunft eines Postulats

Ohne Leitidee: Zur Genese des deutsch-israelischen Beziehungsmusters Per Leo

Im Rückblick auf ihren Anfang erscheint die besondere Beziehung zwischen Israel und der Bundesrepublik ebenso unwahrscheinlich wie zwangsläufig. Unwahrscheinlich, weil die beiden jungen Staaten durch den Abgrund eines Menschheitsverbrechens voneinander getrennt waren. Zwangsläufig, weil es handfeste Aufgaben gab, die sie miteinander verbanden. Neben der existenziellen Dimension von Schuld, Sühne und Vergebung stand vor allem die sehr konkrete Frage im Raum, wie sich die von Nazi-Deutschland „arisierten“, geraubten oder zerstörten Vermögenswerte restituieren beziehungsweise kompensieren ließen. Ein jüdischer Globalanspruch auf materielle Entschädigung existierte bereits seit 1945. Zuerst von der Jewish Agency formuliert, gehörte dieser Anspruch ab 1948 zur außenpolitischen Agenda Israels, wurde aber auch von Organisationen der Diaspora vertreten, so dem Jewish World Congress, der Jewish Restitution Successor Organization und der Jewish Cultural Reconstruction, später gebündelt in der Conference on Jewish Material Claims against Germany, kurz: Jewish Claims Conference (JCC) (vgl. Sagi 1981, S. 36 ff.). Doch erst Anfang 1951 sprach die israelische Regierung ihn auch offiziell aus. Adressat waren aber zunächst nur die Besatzungsmächte, die den beiden deutschen Staaten, so die Idee, Reparationszahlungen in Höhe von 1,5 Mrd. US-Dollar auferlegen sollten. Als die vier Mächte dieser Erwartung – aus verschiedenen Gründen1 – nicht entsprachen und die DDR, wie erwartet, gar nicht reagierte, trat die Regierung Ben-Gurion im Sommer 1951 informell und unter strenger Geheimhaltung in Kontakt mit der Regierung Adenauer.2 Für den Zeitpunkt der israelischen Initiative gab es gute Gründe. Zum einen befand sich der junge Staat in einer dramatischen Lage. Im Zustand einer prekären Waffenruhe sowie von der Integration zahlreicher Immigranten und Flüchtlinge stark belastet, stand Israel Anfang der 1950er-Jahre am Rande der 1

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Die USA befürchteten u. a., dass Gelder aus der Marshall-Hilfe durch Umleitung nach Israel zweckentfremdet werden könnten. Die Beziehungen zwischen Israel und Großbritannien waren nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 noch angespannt; zudem unterhielt die britische Regierung enge Verbindungen zu Jordanien und den Golfstaaten. Die Sowjetunion stand im beginnenden Kalten Krieg ohnehin aufseiten der arabischen Staaten. Vgl. Wolffsohn 1988, S. 691–731. Zur Vorgeschichte vgl. Segev 1991, S. 187–209; v. Jena 1986, S. 457–480, 462 f.; Wolffsohn 1989, S. 161–190, 165.

Zahlungsunfähigkeit. Das Geld aus Deutschland wurde also dringend benötigt. Als sich mit der „kleinen Revision“ des Besatzungsstatuts am 6.3.1951 zudem die außenpolitische Souveränität der Bundesrepublik abzeichnete, befürchtete die israelische Regierung, ihren Anspruch bald allein, also ohne unmittelbare Unterstützung aus den USA, vertreten zu müssen (vgl. Böhm 1976, S. 443). Um aber Verhandlungen überhaupt denkbar zu machen, hatte die Bundesrepublik in den Sondierungsgesprächen zwei Forderungen der jüdisch-israelischen Seite zu akzeptieren: zum einen ein offizielles Schuldbekenntnis, zum anderen die Unverhandelbarkeit der durch Ben-Gurion fixierten Entschädigungssumme von 1 Mrd. US-Dollar (die Restforderung von 500.000 US-Dollar blieb an die DDR adressiert) (vgl. Segev 1991, S. 198 u. 228; von Jena 1986, S. 462). Beidem kam Bundeskanzler Adenauer nach, wenn auch auf bemerkenswert unterschiedliche Weise. Der Wortlaut der Erklärung, die Adenauer am 27.9.1951 im Deutschen Bundestag abgab, war mit allen Fraktionen und dem Bundespräsidenten abgestimmt (vgl. von Jena 1986, S. 483). Vor allem aber hatte die Bundesregierung über viele Formulierungen bis ins Detail mit Israel verhandelt (vgl. Segev 1991, S. 200 ff.). Die Erklärung enthielt ein allgemeines Eingeständnis der moralischen Schuld sowie die Bereitschaft zur Entschädigung für die „unsagbaren Verbrechen“, die „im Namen des deutschen Volkes“ an den Juden verübt worden waren. „Gemeinsam mit Vertretern des Judentums und des Staates Israel, der so viele heimatlose Flüchtlinge aufgenommen hat“, solle „eine Lösung des materiellen Wiedergutmachungsproblems“ (Deutscher Bundestag 1951) herbeigeführt werden. Fast jedes Wort der Erklärung war rhetorisch kondensierte Diplomatie. Die Formel „im Namen des deutschen Volkes“ stand für die Ablehnung einer Kollektivschuld, worauf die deutsche Seite bestanden hatte. Auch die Rede von „Wiedergutmachung“ war in ihrer Unbestimmtheit mit Bedacht gewählt worden, um den rechtsverbindlichen Begriff „Reparationen“ zu vermeiden. Der Verweis auf die „heimatlosen Flüchtlinge“ und die Betonung des „materiellen“ Aspekts wiederum waren Zugeständnisse an die jüdisch-israelische Seite, die zum einen gar nicht erst den Verdacht aufkommen lassen wollte, die deutschen Zahlungen könnten als Sühneleistung verstanden werden; zum anderen wurden die Leistungen nicht als pauschaler Ausgleich für die Gesamtheit aller zerstörten und geraubten Sachwerte angesehen, sondern mit dem konkreten und relativ leicht quantifizierbaren Aufwand begründet, den der Staat Israel zur Integration von Holocaustüberlebenden erbracht hatte. Individuelle Entschädigungsansprüche sowie Kollektivansprüche auf anderer Grundlage blieben weiterhin möglich. So transparent und konsensual Adenauer seine Schulderklärung im Bundestag orchestriert hatte, so verborgen erfüllte er die zweite Bedingung. Am 6.12.1951 gab er Nahum Goldmann, dem von Ben-Gurion autorisierten Vorsitzenden der JCC, in London die schriftliche Zusage, dass die Bundesrepublik die israelische Globalforderung von einer Mrd. US-Dollar als berechtigt anerkannte (vgl. Ade179

nauer 1966, S. 137 ff.; Goldmann 1976, S. 431 f.; Koehler 1994, S. 703; Schwarz 1986, S. 897). Das Treffen der beiden blieb geheim, Adenauers Vorstoß war keine Abstimmung im Kabinett vorausgegangen, und es spricht einiges dafür, dass die Selbstbindung an ein schriftliches Dokument eine spontane Entscheidung war. Damit waren aus Sicht der israelischen Regierung die Bedingungen erfüllt, um ein Mandat für das bis dahin Undenkbare zu erbitten, nämlich gut sechs Jahre nach der Shoah in direkte Verhandlungen mit Deutschland zu treten. Die Debatte, die am 06.01.1952 der Abstimmung in der von Demonstranten belagerten Knesset vorausging, wurde über alle Lagergrenzen hinweg mit erbitterter Schärfe geführt (vgl. Segev 1991, S. 200–225). Die Position der Regierung, die strikt zwischen materieller Entschädigung und moralischer Entlastung unterschied, stand die v. a. von Menachem Begin, dem Fraktionsführer des Cherut, vertretene Ablehnung jedweder Entschädigungszahlungen als „Blutgeld“ – verstanden bzw. absichtsvoll missverstanden als Vergeltung – entgegen. Die öffentliche Meinung des Landes war tief gespalten, die Mehrheit für den Regierungsantrag am Ende denkbar knapp. Dass die Verhandlungen, die im Februar 1952 im niederländischen Wassenaar aufgenommen wurden, erst im Sommer zu einem Ergebnis führten, hatte keine inhärenten Gründe, sondern mit einem anderen Ereignis zu tun: den Verhandlungen, die zeitgleich in London zwischen der Bundesrepublik und den Alliierten geführt wurden, um die Begleichung der deutschen Vorkriegsschulden zu regeln (vgl. Buchheim 1986, S. 219–230; Huhn 1989, S. 142 f.; von Jena 1986, S. 467). Aus Sicht der Bundesregierung erschien die Verbindung zwischen beiden Verhandlungen so zwingend, wie sie aus jüdischer Sicht inakzeptabel war. Nicht zufällig war es der deutsche Delegationsleiter in London, der Bankier Hermann Josef Abs, der beide Verhandlungen koordinierte und taktisch miteinander verzahnte. In Wassenaar ging es, bei prinzipieller Anerkennung des jüdischen Globalanspruchs, vor allem um technische Details der Auszahlung, was zum einen die Art, zum anderen den Zeitraum der deutschen Leistungen betraf. Abs’ Argument, dass erst ein Ergebnis der Schuldenkonferenz über die deutsche Zahlungsfähigkeit entscheiden könne bzw. umgekehrt schnelle Zusagen in Wassenaar die deutsche Verhandlungsposition in London schwächen würden, war kaum von der Hand zu weisen. Und tatsächlich schwenkte Adenauer zunächst auf dessen Linie ein – womit er allerdings Franz Böhm, den deutschen Delegationsleiter in Wassenaar, in die missliche Lage brachte, die Verhandlungen ohne ein konkretes Angebot beginnen zu müssen (vgl. Wolffsohn 1989, S. 163 ff.; Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 1952, S. ■). Da die jüdisch-israelische Seite sich konsequenterweise weigerte, ökonomische Argumente wie die deutsche Zahlungsfähigkeit zu akzeptieren und stattdessen auf der Bereitschaft zu einem materiellen „Opfer“ bestand, führte Adenauers Zeitspiel die Verhandlungen zwangsläufig in die Sackgasse. Am 18.5.1952 erklärte Böhm seinen Rücktritt, Nahum Goldmann verfasste einen erbitterten Brief an Adenauer, ein wütendes Presseecho setzte ein, 180

niederländische Zeitungen titelten mit „Deutsche Schande“ (vgl. von Jena 1986, S. 474). Erst kurz vor dem Scheitern lenkte Adenauer ein. Er entkoppelte die beiden Verhandlungen und ließ Goldmann durch Böhm in einem Privatgespräch großzügige Zahlungsmodalitäten anbieten (vgl. Böhm 1976, S. 460 f.). Als Goldmann sie für verhandelbar erklärte, wurde in einem weiteren Sondierungsgespräch, an dem auf deutscher Seite Adenauer, Böhm, Abs und Staatssekretär Hallstein, auf jüdischer Goldmann und der zweite israelische Delegationsleiter Felix Shinnar teilnahmen, eine schnelle Einigung erzielt. Der Abschluss in Wassenaar betraf nun nur noch technische Details. Die Lösung sah vor, dass die Bundesrepublik Deutschland knapp 3,5 Mrd. DM an Israel zahlt, von denen 500 Mio. an die JCC weitergeleitet werden sollten. Die Zahlungen waren in maximal 14 Jahresraten und überwiegend in Sachleistungen zu erbringen. Das Wiedergutmachungsabkommen wurde am 10.9.1952 vom israelischen Außenminister Moshe Sharett und Konrad Adenauer in Luxemburg unterzeichnet und am 18.3.1953 vom Bundestag ratifiziert. Die Zahlungen und Warenlieferungen, die Deutschland bis 1966 leistete, trugen erheblich zur Stabilisierung des prekären Staats Israel bei. Deren Abwicklung oblag der – in Köln ansässigen, von Felix Shinnar geleiteten – Israel-Mission, die bis 1965 auch viele diplomatische Funktionen erfüllte. Ausgehend von dieser empirischen Skizze erscheint es plausibel, dass sich schon in der ersten bilateralen Interaktion die Grundzüge eines Musters zeigten, das die deutsch-israelischen Beziehungen nachhaltig und zum beiderseitigen Nutzen geprägt hat, aber heute womöglich einer Revision bedarf. Dieses Muster lässt sich an vier Aspekten festmachen: 1. Der Klandestinität. Den Umstand, dass auch ein hohes Maß an Geheimhaltung das erste Gelingen der deutsch-israelischen Beziehungen ermöglichte, kann man gar nicht überschätzen. Es ging über das im diplomatischen Verkehr Übliche weit hinaus. Nicht zufällig jedenfalls ist das anekdotenumrankte erste Treffen zwischen Konrad Adenauer und Nahum Goldmann zu einer Ikone der deutsch-israelischen Beziehungen geworden (vgl. Segev 1991, S. 200–225). Genauso wie Shimon Peres’ winterliche Irrfahrt im unbeheizten Mietwagen, deren Ziel am Heiligabend 1957 das Privathaus von Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß war (vgl. Strauß 1989, S. 377 ff.; Peres 1970, S. 69 ff.). Oder Ben-Gurions Gang über die Feuertreppe des Waldorf Astoria in New York, der ihn im März 1960 zur ersten Begegnung mit Adenauer in dessen Hotelzimmer führte (vgl. Segev 1991, S. 308). Und für diese Unsichtbarkeit gab es gute Gründe: innenpolitische wie die Deutschlandskepsis in der israelischen Gesellschaft, vor allem aber außenpolitische. Den Druck der arabischen Staaten konnte die Bundesrepublik nicht ignorieren, aus ökonomischen, aber auch aus Gründen der Staatsräson, deren Hauptziel nach dem Ende des Besatzungsstatuts bekanntlich in der Durchsetzung des bundesre181

publikanischen Alleinvertretungsanspruchs lag. Dass sich die Gegenstände der deutsch-israelischen Zusammenarbeit zunehmend auf das Gebiet der Militärhilfe und den Austausch von Geheimdienstwissen verlagerte, tat ein Übriges (vgl. Serr 2015, S. 23–28; Marwecki 2020, S. 24 ff. u. 62 ff.; Hansen 1999, S. 229–264). Und so waren es schließlich auch Berichte über geheime Waffenlieferungen an Israel, die 1965 in einer Kettenreaktion zunächst zur Einladung Walter Ulbrichts nach Ägypten und dann zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der BRD und Israel führten. In der Logik der Hallstein-Doktrin war die Einrichtung einer deutschen Botschaft in Tel Aviv ein Akt der Vergeltung gegen Kairo. 2. Dem technischen, zunehmend spezialistischen Charakter der Beziehungen. Zur Umsetzung der klandestin auf den Weg gebrachten Grundsatzentscheidungen wurde in der Praxis handfestes Expertenwissen benötigt. Da die Wiedergutmachungszahlungen v. a. in Form von Investitionsgütern geleistet wurden, erforderten ihre Lieferung, Inbetriebnahme und Wartung, aber auch ihr dual use, also die potenzielle Umwidmung zu militärischen Zwecken, auf beiden Seiten hohe Sachkompetenz (vgl. Serr 2015, S. 24). Die schon erwähnte Verlagerung auf den sicherheitspolitischen Aspekt vertiefte diese Tendenz durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit militärischer und geheimdienstlicher Eliten. Dazu kamen Einmalzahlungen und Pensionen, die gemäß dem Bundesentschädigungsgesetz von 1956 Juden zustanden, die aus dem ehemaligen Reichsgebiet nach Palästina geflohen bzw. nach der Befreiung dorthin emigriert waren. Der hunderttausendfach durchgeführte Prozess von Antragstellung und Anspruchsprüfung, der sich oft über Jahre hinzog und den Überlebenden entwürdigende Nachweispflichten auferlegte, erforderte Fachleute, insbesondere Anwälte, von denen nicht wenige Kanzleien in Deutschland und Israel unterhielten (vgl. Segev 1991, S. 239–249). 3. Der konstitutiven Asymmetrie. Auch wenn es selten ausgesprochen wird, unterscheiden sich die deutsch-israelischen Beziehungen in einem zentralen Aspekt von allen anderen Schlüsselbeziehungen, die von der BRD im Schatten der Weltkriege aufgenommen wurden. Anders als bei der deutsch-französischen „Versöhnung“, der „Westintegration“ in die Pax Americana oder der „Annäherung“ an die Sowjetunion gab und gibt es im deutsch-israelischen Verhältnis keine Leitidee, auf die sich beide Seiten symmetrisch beziehen könnten. Im Gegenteil, die unbestreitbare „Schuld“ und die daraus abgeleitete „Verantwortung“ Deutschlands sind asymmetrische Konzepte, die von einer irreduziblen Ungleichheit der beiden Seiten ausgehen. Die Asymmetrie des Täter-Opfer-Verhältnisses wurde in Wassenaar und Luxemburg auf eine geradezu körperliche Weise spürbar. Der zeremonielle Ernst und die, wie Dan Diner es genannt hat, „rituelle Distanz“ waren aus jüdischer Sicht so unvermeidlich, wie sie von der deutschen Seite als angemessen akzeptiert wurden (vgl. Diner 2015, S. 7 ff.). Die symbolisch-rituelle Dimension dieser 182

Beziehungen mochte mit den Jahren einer gewissen Routine weichen, doch dass die 1952 entwickelten Umgangsformen und damit auch die Pflege eines deutschen Schuldbewusstseins auf beiden Seiten mentalitätsbildend waren, ist mehr als wahrscheinlich. 4. Der Gegenläufigkeit der Staatsräson. Israel stand 1952 am Anfang seiner Staatlichkeit. Dan Diner hat eindrücklich beschrieben, wie sich in der israelischen Debatte um die Wiedergutmachungsleistungen die zionistische Vernunft gegen Denkmuster durchsetzen musste, die noch aus der Diaspora stammten (vgl. Diner 2015, S. 38 ff.). Pointiert gesagt war es für eine wehrlose Minderheit ebenso rational gewesen, judenfeindliche Gewalttäter zu ächten oder auf rituelle Sühneleistungen zu verpflichten, wie es nun die Staatsräson gebot, das eigene Gemeinwesen mit Waffen zu verteidigen und zur Sicherung seiner Existenz notfalls mit dem Teufel zu paktieren.3 Die durch Ben-Gurion vermittelten Lektionen in Wehrhaftigkeit und Pragmatismus hat das Land mittlerweile so tief verinnerlicht, dass ein Staatstheoretiker wie der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde in Israel 2010 eine geradezu klassische Verkörperung des Politischen sehen konnte, was im Sinne seines Lehrers Carl Schmitt hieß: ein Staat, der sich seiner Feinde bewusst ist. Adenauer dagegen hatte noch in einer Tradition des Regierens gestanden, die genau wusste, was Staatsräson ist. Und 1952 besaß die außenpolitische Vernunft der Bundesrepublik zwei klare Ziele, nämlich die Rückkehr in die internationale Gemeinschaft und die Beendigung des Besatzungsstatus. Beiden Zielen war der ökonomische Ausgleich mit Israel und der JCC dienlich, sodass es in diesem Fall müßig erscheint, Moral und Interesse auseinanderzuhalten. Und auch nach 1955 besaß die bundesrepublikanische Außenpolitik klare Ziele, nämlich den diplomatischen Alleinvertretungsanspruch, die deutsche Sicherheit unter den Bedingungen der Blockkonfrontation sowie ultimativ die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Seit 1990 fehlt jedoch ein ähnliches Ziel. Es gibt eine Menge außenpolitischer Baustellen, aber abgesehen von der Stabilität der Außenhandelsbeziehungen keine klaren Orientierungspunkte. Sprache und Symbolik der Staatlichkeit sind in der Bundesrepublik ohnehin verkümmert. Wenn beispielsweise Bundeswehrsoldaten in Afghanistan getötet werden, sind sie nicht gefallen, sondern „verunglückt“; und wenn sie nach Hause kommen, empfängt sie entweder gar kein Politiker oder die Verteidigungsministerin nimmt sie ganz fest in die Arme. Es ist also nicht ohne Ironie, wenn Bundeskanzlerin Merkel in genau diesem Zustand der außenpolitischen Unbestimmtheit den Begriff der „Staatsräson“ in einem Sinn gebraucht hat, der rhetorisch einen Punkt setzte, aber inhaltlich keine Linie zog.

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Zu Israels Staatsräson vgl. auch Diner 2019, S. 488.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es ausgehend von den Verhandlungen in Wassenaar vor allem Angehörige der Funktionseliten waren, die das Gelingen der deutsch-israelischen Interaktionen ermöglichten. Die Gründe dafür lagen in der Natur der Sache. Das Anforderungsprofil aus diplomatischer Klandestinität, technischer, militärischer und juristischer Expertise, pragmatischem Augenmaß und zeremoniellem Takt war anspruchsvoll, es förderte Professionalität, aber es motivierte keinen Enthusiasmus. Die stabilen Beziehungen und die Vertrauensverhältnisse, die sich auf dieser Grundlage entwickelten, blieben ohne gesellschaftliche Basis. Anders als Frankreich, Großbritannien, die USA, ja sogar Russland ist Israel den meisten Deutschen innerlich fremd geblieben. Der offensichtliche Mangel an echtem Interesse für die verwickelte Geschichte des Zionismus und die komplexe Gegenwart Israels steht jedoch in scharfem Kontrast zur überschießenden Bereitschaft, das Symbol „Israel“ zur Projektionsfläche von Meinungen zu machen, sei es in kritischer oder affirmativer Absicht. So sehr ein sich selbst verleugnender Antisemitismus, der den Umweg über Israel sucht, Wachsamkeit verdient, so fehlgeleitet erscheint allerdings die Tendenz, dem Meinungskampf um Israel mit elitärem Paternalismus zu begegnen. Immer häufiger ist das Verantwortungsgefühl gegenüber dem jüdischen Staat, das große Teile der politischen Klasse und der politischen Öffentlichkeit verinnerlicht haben, in den letzten Jahren mit gesellschaftlichen Konflikten kollidiert, die einer ganz anderen Logik folgen als die Verbrechen der Vergangenheit. Etwa ist es üblich geworden, den Nahostkonflikt, in dem viele Immigranten aus dem arabisch-muslimischen Raum – um von post-zionistischen oder anderweitig israelkritischen Juden zu schweigen – sich mit den Palästinensern solidarisieren, ausschließlich im Zeichen der Antisemitismusbekämpfung zu interpretieren (vgl. .4 Die von allen Fraktionen mitgetragene BDS-Resolution des Deutschen Bundestages erwies sich in diesem Zusammenhang als ein folgenreicher Fehler, nicht weil die anti-israelische Boykottbewegung Unterstützung verdient hätte, sondern weil es den gesellschaftlichen Frieden gefährdet, wenn politisch motivierte Parteinahmen gegen Israel pauschal als Ausdruck von Judenfeindschaft bewertet und entsprechend geächtet werden. Man kann darüber streiten, ob und inwiefern die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson ist. Aber man sollte unter keinen Umständen zulassen, dass sich die Unschärfen der deutschen Erinnerungskultur in Gebote der deutschen Leitkultur verwandeln. Je stärker sich die unbedingte Solidarität mit Israel von der Sicherheitspolitik aber auf Fragen von Ideologie und Propaganda verlegt, desto mehr bedarf das deutsch-israelische Verhältnis der Revision.

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Für Beispiele vgl. Leo 2021, S. 186–189; Leo 2023, S. 357–373.

Literatur Adenauer, Konrad (1966): Erinnerungen 1953–1955. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt. Böhm, Franz (1976): Das deutsch-israelische Abkommen 1952. In: Blumenwitz, Dieter u. a. (Hrsg.): Konrad Adenauer und seine Zeit. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 437–465. Buchheim, Christoph (1986): Das Londoner Schuldenabkommen. In: Herbst, Ludolf (Hrsg.): Westdeutschland 1945–1955. München: Oldenbourg, S. 219–230. Deutscher Bundestag (1951): 165. Sitzung 27.9.1951, 6697D. Diner, Dan (2015): Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage. Berlin: DVA. Diner, Dan (2019): Der Sarkophag zeigt Risse. Über Israel, Palästina und die Frage eines „neuen Antisemitismus“. In: Heilbronn, Christian/Rabinovici, Doron/Sznaider, Natan (Hrsg.): Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte. Berlin: Suhrkamp, S. 459–488. Goldmann, Nahum (1976): Adenauer und das jüdische Volk. In: Blumenwitz, Dieter u. a. (Hrsg.): Konrad Adenauer und seine Zeit. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 427–436. Gosewinkel, Dieter/Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2011): Biographisches Interview. In: Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht. Berlin: Suhrkamp, S. 307–486. Hansen, Niels (1999): Geheimvorhaben „Frank/Kol“. Zur deutsch-israelischen Rüstungszusammenarbeit 1957–1965. In: Historisch-politische Mitteilungen 6, S. 229–264. Huhn, Rudolf (1989): Die Wiedergutmachungsverhandlungen in Wassenaar. In: Herbst, Ludolf/Goschler, Constantin (Hrsg.): Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland. München: Oldenbourg, S. 139–160. Jena, Kai v. (1986): Versöhnung mit Israel? Die deutsch-israelischen Verhandlungen 1952. In: VfZ 34, H. 4, S. 457–480. Kabinettsprotokolle der Bundesregierung (1989): 1952, Bd. 5. Boppard am Rhein: Harald Boldt. Koehler, Henning (1994): Adenauer. Eine politische Biographie. Berlin: Propyläen. Leo, Per (2021): Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur. Stuttgart: Klett-Cotta. Leo, Per (2023): Israelkritik für deutsche Patrioten. Brief an Behzad Karim Khani. In: Leo, Per: Vorletzte Lockerung. Texte zum Nachleben des Nationalsozialismus. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 357–373. Marwecki, Daniel (2020): Germany and Israel. Whitewashing and Statebuilding. London: Hurst. Peres, Shimon (1970): David’s Sling. The Arming of Israel. New York: Random House. Sagi, Nana (1981): Wiedergutmachung für Israel. Die deutschen Zahlungen und Leistungen. Stuttgart: Seewald. Schwarz, Hans-Peter (1986): Adenauer. Der Aufstieg 1876–1952. 2. Auflage. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt. Segev, Tom (1991): The Seventh Million. The Israelis and the Holocaust. New York: Hill and Wang. Serr, Marcel (2015), Zur Geschichte der deutsch-israelischen Rüstungskooperation. In: APuZ 6, S. 23–28. Strauß, Franz-Josef (1989): Die Erinnerungen. Berlin: Siedler. Wolffsohn, Michael (1988): Das deutsch-israelische Wiedergutmachungsabkommen von 1952 im internationalen Zusammenhang. In: Vf Z 36, H. 4, S. 691–731. Wolffsohn, Michael (1989): Globalentschädigung für Israel und die Juden? Adenauer und die Opposition in der Bundesregierung. In: Herbst, Ludolf/Goschler, Constantin; (Hrsg.): Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland. München: Oldenbourg, S. 161–190.

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Deutsche Staatsräson und Israels Sicherheit Claudia Baumgart-Ochse

Im März 2008 sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in Jerusalem jene Sätze, die bis heute oft zitiert werden, wenn es um das besondere Verhältnis zwischen dem Staat Israel und der Bundesrepublik Deutschland geht. An die Knesset, das israelische Parlament, gewandt, sprach Merkel von der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels: „Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar“ (Merkel 2008a, S. 7). Im Koalitionsvertrag des Regierungsbündnisses von SPD, Grünen und FDP von 2021 werden diese beiden Sätze dann auf einen einzigen Satz reduziert: „Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson“ (SPD et al. 2021, S. 155). Ganz offensichtlich herrscht über die Parteien hinweg Konsens, dass die Sicherheit Israels für Deutschland eine herausragende Bedeutung hat. Im Folgenden soll der zweite Satz Merkels näher beleuchtet werden, nämlich, dass „die Sicherheit Israels […] niemals verhandelbar“ sei (Merkel 2008a, S. 7). Der Blick richtet sich auf die beiden Hauptwörter in diesem Satz, deren Bestimmung weit voraussetzungsvoller ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn – so die erste Frage, die sich aufdrängt – was ist gemeint, wenn von Israel die Rede ist? Welche Gebiete umfasst der Begriff? Und mit Blick auf das zweite Wort: Was bedeutet Sicherheit? Und für wen?

Israel Die Antwort auf die Frage, welches Territorium gemeint ist, wenn von Israel gesprochen wird, fällt unterschiedlich aus, je nachdem, wen man fragt. Aus Sicht des Völkerrechts1 sind die letzten gültigen Grenzen die Waffenstillstandslinien von 1949 nach dem Ende des ersten israelisch-arabischen Kriegs, die sogenannte „Grüne Linie“. Die Besetzung von Ost-Jerusalem, Westjordanland, Gaza-Streifen und weiteren Gebieten im Krieg von 1967 ist hingegen nicht völkerrechtskonform; Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats von 1967 (vgl. United Nations Security Council 1967) fordert den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten. Diese Position spiegelt sich auch in vielen nachfolgenden Resolutionen und völkerrecht1

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Zumindest aus Sicht der Mehrheit der Völkerrechtler:innen, es gibt auch abweichende Meinungen. Siehe dazu McHugo 2002.

lichen Einschätzungen wider.2 Das vierte Genfer Abkommen von 1949 verbietet in Art. 49 zudem generell die Ansiedlung von Zivilbevölkerung in besetztem Gebiet (Diplomatic Conference of Geneva 1949). Dennoch hat sich infolge der militärischen Besatzung und vor allem infolge der zivilen Besiedlung seit 1967 eine de facto-Herrschaft über das gesamte Territorium entwickelt, die sowohl Kern-Israel innerhalb der Grünen Linie als auch die besetzten Gebiete einschließt. Die Palästinensische Autonomiebehörde, ein Produkt der Osloer Friedensabkommen aus den 1990er-Jahren, verwaltet zwar Teile des Territoriums, das Israel seit 1967 besetzt hält; doch von Souveränität lässt sich nicht sprechen, denn letztlich übt Israel die übergeordnete Kontrolle über diese Gebiete aus. Am wenigsten mag das noch für den Gaza-Streifen gelten, seit Israel 2005 sein Militär abzog und die jüdischen Siedlungen räumte. Doch auch dort kontrolliert Israel den See- und Luftraum sowie die Grenze zu Kern-Israel. Im Westjordanland, das seit den Osloer Abkommen in A-, B- und C-Gebiete aufgeteilt ist, bestehen verschiedene Grade von palästinensischer Verwaltungsautonomie. Doch vor allem die C-Gebiete, die etwas mehr als 60 Prozent der Fläche ausmachen, werden vom Staat Israel militärisch, ökonomisch und für jüdische Siedlungen intensiv genutzt. Nicht zuletzt schränkt dies die Möglichkeiten der Palästinenser:innen ein, das Westjordanland für die Entwicklung der eigenen Wirtschaft zu nutzen (vgl. Niksic et al. 2014). Der israelische politische Geograf Oren Yiftachel kritisierte schon in den späten 1990er-Jahren diejenigen Ansätze innerhalb der Fächer Geografie und Politologie, die das israelische Staatsterritorium auf das Gebiet innerhalb der „Grünen Linie“ begrenzen wollten. Nach Yiftachels Lesart sind die besetzten Gebiete vielmehr ein „integral part of the Israeli regime, simply because Israel governs these areas“ (Yiftachel 1999, S. 369). Wenn aber der Staat Israel über diese Gebiete herrscht, dann stelle dies den demokratischen Charakter des Regimes infrage, weil ein guter Teil derjenigen, die auf diesem Territorium leben, nicht an den Wahlen zur Regierung des Regimes teilnehmen kann. Entsprechend charakterisierte Yiftachel den israelischen Regimetyp in einer lebhaft geführten Debatte über den „jüdischen und demokratischen Staat“3 als „Ethnokratie“ – weil eine ethnische Gruppe die Herrschaft über Nicht-Zugehörige zu dieser Gruppe ausübt und selbst politische und ökonomische Privilegien genießt, auch wenn innerhalb der dominanten ethnischen Gruppe durchaus demokratische Spielregeln gelten. An diese Feststellung einer de facto-Kontrolle Israels über das gesamte Gebiet schließt heute die Beobachtung an, dass dieses Konstrukt, das in den vergangenen Jahrzehnten mit erheblichem politischen, finanziellen, zivilgesellschaft-

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Beispielsweise im Urteil des Internationalen Gerichtshofs zur israelischen Sperrmauer: International Court of Justice 2004. Aus der umfangreichen Debatte siehe bspw. Smooha 1997; Neuberger 2003; Gavison 1999; Hofnung 1996; Dowty 1999.

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lichen und militärischen Einsatz geschaffen wurde, kaum noch zurückgenommen werden kann. Die Besatzung ist so tief verankert, die Besiedlung so weit fortgeschritten, die besetzten Gebiete sind so stark in die israelische Wirtschaft eingebettet, dass das Projekt unumkehrbar erscheint – was bedeutet, dass die Idee einer Zwei-Staaten-Lösung schon längst nicht mehr realisierbar erscheint. 2021 lebten 451 700 jüdische Staatsbürger:innen Israels in Siedlungen im Westjordanland, etwa 14 Prozent der Gesamtbevölkerung im besetzten Gebiet. Zusätzlich lebten etwa 230 000 jüdische Siedler:innen im Osten Jerusalems (vgl. Office of the European Union Representative, West Bank and Gaza Strip UNWRA 2022). Ein Straßennetz eigens für Siedler:innen durchzieht das Gebiet, die Sperrmauer greift tief in palästinensisches Territorium ein und trennt palästinensische Landwirt:innen von ihren Flächen, unzählige Checkpoints erschweren die Mobilität, immer neue Flächen werden vom israelischen Staat konfisziert und den Palästinenser:innen entzogen, immer neue Wohnanlagen und Siedlungen werden geplant, genehmigt, gebaut. Oren Yiftachel beschrieb das israelische Gebiet innerhalb der Grünen Linie und die palästinensischen Gebiete deshalb schon vor mehr als 20 Jahren als integrale Bestandteile des israelischen Regimes. Er tat dies in kritischer Absicht: Er wollte damit die Kategorisierung Israels als liberale Demokratie infrage stellen und die inzwischen fast 60 Jahre währende Besatzung als schwere Hypothek für den jüdischen und demokratischen Staat markieren. Mit dieser Position gehörte Yiftachel schon in den 1990er-Jahren zu einer Minderheit; inzwischen ist diese Minderheit weiter geschrumpft. Für eine große Mehrheit der Israelis gehören die palästinensischen Gebiete heute fast selbstverständlich zu Israel, auch wenn sie selbst die Grüne Linie selten bis nie überschreiten – es sei denn, sie leben in jüdischen Siedlungen jenseits der Grenze. „In der politischen Rhetorik Israels und den Köpfen der meisten Menschen“, so schrieb der Historiker Omer Bartov jüngst in der FAZ, sei Judäa und Samaria inzwischen die normale Bezeichnung für die besetzten Gebiete westlich des Jordans, „sodass schon die Vorstellung, diese Gebiete als besetzt zu bezeichnen, auf vage Weise bedrohlich und potenziell antizionistisch, wenn nicht gar antisemitisch erscheint“ (Bartov 2023). Beigetragen zu diesem schleichenden Prozess der Normalisierung der Besatzung haben nicht zuletzt jene politischen Akteur:innen in Israel, die die Souveränität des jüdischen Staates über das gesamte Territorium nicht in kritischer Absicht als de facto gegeben beschreiben, sondern sie als Ziel ihrer politischen Ambitionen deklarieren. Von den Rändern der israelischen Gesellschaft haben sie sich Schritt für Schritt bis ins Zentrum der Macht vorgearbeitet. Nach dem Krieg von 1967 begannen Gruppen von Siedler:innen, sich in Orten wie Hebron oder Elon Moreh im Westjordanland niederzulassen – und häufig wurden diese ersten Siedlungen von der israelischen Armee wieder geräumt, bis der Staat schließlich nachgab. Erst unter der ersten Likud-geführten Regierung Israels wurde die 188

Besiedlung ab 1977 zur Regierungspolitik. Die Siedlerbewegung hat ihre Ziele auf verschiedenen Wegen äußerst erfolgreich verfolgt. Sie agierte als eine Art außerparlamentarische Opposition, die auch vor illegalen Praktiken und Gewalt nicht zurückschreckte und immer größere Teile der Bevölkerung mobilisierte. Sieder:innen gelang es zudem, sukzessive Positionen und Ämter in staatlichen und militärischen Institutionen zu übernehmen, die ihnen direkten Einfluss auf die Entwicklung in den besetzten Gebiete sicherten (vgl. Haklai 2007), Schließlich ist die Siedlerbewegung mit ihren unterschiedlichen Strömungen im israelischen Parteiensystem vertreten und war schon in der Vergangenheit häufig an Regierungskoalitionen beteiligt. Mit mit der vorigen Regierung unter Ministerpräsident Naftali Bennett von der Yamina-Partei (Juni 2021 bis Dezember 2022) ist sie in höchster politischer Verantwortung angekommen. Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich von der religiös-zionistischen Liste, Minister in Netanjahus aktueller Regierungskoalition, gehören einer noch radikaleren Richtung an, die von Meir Kahane und seiner 1988 verbotenen „Kach-Partei“ inspiriert ist. In einer Koalition, die nun nicht mehr im Korsett der Beteiligung säkularer zentristischer Parteien steckt, haben die Siedler:innen den bisherigen Zenit ihrer Macht erreicht. Beide Politiker sind in der Vergangenheit mit hetzerischen, rassistischen und menschenverachtenden Bemerkungen aufgefallen – und reden nun offen davon, die nationalen Hoffnungen der Palästinenser:innen zunichtemachen zu wollen und die Annexion der besetzten Gebiete anzustreben. Rabbi Zwi Yehuda Kook, Vordenker des religiösen Zionismus, der wenige Tage vor dem Krieg im Jahr 1967 in Wehklagen darüber ausbrach, dass die biblischen Ortschaften westlich des Jordans nicht zu Israel gehörten, hätte vermutlich seine Freude an dieser Politik (vgl. Aran 1997). Was ist also gemeint, wenn deutsche Politiker:innen heute von Israel sprechen? In der Regel wohl der Staat in den Grenzen von 1967 – also innerhalb der Grünen Linie. Merkel sagte 2008 in ihrer Rede: „Deutschland tritt entschieden für die Vision von zwei Staaten in sicheren Grenzen und in Frieden ein – für das jüdische Volk in Israel und das palästinensische in Palästina“ (Merkel 2008a). Und im Koalitionsvertrag von 2021 steht: „Wir werden uns weiter für eine verhandelte Zweistaatenlösung auf der Grundlage der Grenzen von 1967 einsetzen“ (SPD et al. 2021). Das ist einerseits richtig, denn dieses Verständnis davon, was Israel ist, welches Territorium es umfasst und umfassen sollte, steht im Einklang mit der vorherrschenden völkerrechtlichen Einschätzung der Lage. Zugleich ist es eine Realitätsverweigerung. Denn die Gegebenheiten vor Ort haben sich in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert. Die seit fast 60 Jahren währende Besatzung ist zum Dauerzustand geworden. Doch wie wäre der gordische Knoten zu lösen? Gelegentlich ist die Rede von einem binationalen, föderalen Staat für Israelis und Palästinenser:innen, mit gleichen Rechten und Pflichten. Auf beiden Seiten gibt es, wenn auch wenige, Sympathisant:innen dieser Idee. Doch angesichts der ungeheuren historischen, politischen und 189

religiösen Aufgeladenheit der territorialen Fragen auf beiden Seiten scheint es wenig wahrscheinlich, dass eine solche Lösung in absehbarer Zukunft auf breite Zustimmung stoßen könnte. Würde es doch für beide Seiten bedeuten, ihr exklusives nationales Projekt aufzugeben, das so eng mit ihrer Geschichte und Identität verwoben ist. Deutsche und europäische Politik muss diese Realitäten vor Ort ins Auge fassen, wenn sie nicht an der Sache vorbeireden möchte.

Sicherheit Sicherheit ist im israelischen Diskurs allgegenwärtig. Das liegt zum einen an der besonderen Geschichte des israelischen Staates vor dem Hintergrund der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden im Holocaust, zum anderen am regionalen Umfeld Israels, das seit jeher als bedrohlich wahrgenommen wird. Gegenwärtig ändert sich ja das Sicherheitsempfinden in Europa im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine drastisch, und die von Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ (Scholz 2022) ist prägnantester Ausdruck davon. Wo das Diktum von „Wandel durch Annäherung“ und „gemeinsamer Sicherheit“ über Jahrzehnte die Politik gegenüber Russland prägte, macht sich nun der Ruf nach Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit breit. Doch bis vor Kurzem konnten sich die meisten Europäer:innen nicht vorstellen, was es heißt, in einem Land zu leben, das seine Existenz und die Sicherheit seiner Bürger:innen tatsächlich gegen militärische Angriffe und Terrorattacken verteidigen muss – und noch dazu die Sorge hat, dass ein Staat in der Nachbarschaft womöglich nukleare Fähigkeiten erlangt, um es auszulöschen. Das ändert sich gerade nachhaltig (vgl. Bonn International Centre for Conversion [BICC], Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung [HSFK], Institut für Entwicklung und Frieden an der Universität Duisburg [INEF], Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg [IFSH] 2022). Die deutschen Regierungen der vergangenen Jahrzehnte haben sich die Sicherheit Israels nicht erst seit Angela Merkels Rede vor der Knesset auf die Fahnen geschrieben; im Sinne der besonderen Verantwortung, die aus der Shoah resultiert, hat Deutschland den jüdischen Staat über Jahrzehnte militärisch und diplomatisch unterstützt und in Rüstungsfragen kooperiert – durchaus auch im eigenen Interesse. Besonders prominent in der Debatte waren die sechs U-Boote, die Kanzler Helmut Kohl 1991 für Israel genehmigte; aber die Rüstungskooperation geht länger zurück – sie begann schon vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Jahr 1965 – und umfasst weit mehr als diese sechs Boote (vgl. Serr 2015). Diplomatisch hat sich die deutsche Außenpolitik als Junior-Partner der USA für die Zwei-Staaten-Lösung eingesetzt – in der Annahme, dass diese Lösung der nachhaltigste Weg zu Sicherheit und Frieden wäre. Und Deutschland unterstützt 190

als eines der wichtigsten Geberländer die Palästinensische Autonomiebehörde, letztlich auch, um aufgrund einer ausbleibenden politischen Konfliktlösung dennoch die Zustimmung der Palästinenser:innen zu einer Friedenslösung aufrechtzuerhalten. International hat Deutschland die Gespräche über das Atomabkommen mit Iran unterstützt, aber auch die Sanktionen gegen Iran, um diese Gefährdung Israels einzudämmen; und Deutschland setzt sich für Israel in internationalen Organisationen ein, sei es die EU oder die verschiedenen Organe der UN (vgl. Kaim 2015). Im Kern bleibt aber doch die Frage: Was dient eigentlich der Sicherheit Israels? Das theoretische Spektrum möglicher Antworten reicht von einer Position, die einfach alle Sicherheitsforderungen der jeweiligen israelischen Regierung als Position übernimmt, bis hin zum Vorwurf, Israel sei aufgrund der Besatzung eigentlich selbst schuld daran, dass es bedroht werde, und verdiene daher keinerlei Unterstützung. Die gegenwärtige Lage desavouiert die erstgenannte Position endgültig. Die israelische linksliberale Tageszeitung Haaretz hat Benjamin Netanjahus neue Koalition als „the most extreme right-wing, racist, homophobic and theocratic coalition in Israel’s history“ (Haaretz 2022) bezeichnet. Der Siegeszug der Siedlerbewegung, der sich in der neu gewonnenen Macht in der Regierungskoalition zeigt, hat in kürzester Zeit die Sicherheitslage in Israel und Palästina massiv verschärft. Auf einen Terroranschlag palästinensischer Täter:innen Ende Februar 2022, der zwei Todesopfer forderte, folgten massive Ausschreitungen jüdischer Siedler:innen in dem palästinensischen Dorf Hawara. Und die geplante Justizreform, die das Oberste Gericht entmachten und damit die Rechtstaatlichkeit gefährden würde, hat innerhalb Israels Hunderttausende Menschen auf die Straße gebracht – und die Sorge ist groß, dass die Sicherheitskräfte unter der Führung Ben-Gvirs auch vor repressiven Maßnahmen nicht zurückschrecken. Die zweite Position am anderen Ende des Spektrums ist gleichermaßen unhaltbar, denn sie blendet die reale Bedrohung durch Kriege, Terror und Gewalt schlicht aus und negiert die Notwendigkeit, sich gegen diese Gefahren zu schützen – notfalls auch mit militärischer Gewalt. Und sie zeigt sich geschichtsblind gegenüber der Verantwortung, die uns aus dem Holocaust erwächst. Zwischen diesen Positionen muss es für die europäische und die deutsche Politik jedoch darum gehen, sich heranzutasten an Möglichkeiten, die Sicherheit Israels zu gewährleisten – und zugleich die legitimen Ansprüche der Palästinenser:innen ernst zu nehmen. Zugleich bedeutet es aber auch ein Eingeständnis, dass eine Lösung letztlich nur von Israel und den Palästinenser:innen selbst gefunden werden kann – und externe Akteur:innen zwar Rahmenbedingungen schaffen, aber nichts erzwingen können. An diesen Rahmenbedingungen zu arbeiten, ist die Aufgabe für die westliche Politik.

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Israels Sicherheit und Existenz zwischen deutscher Staatsräson und Rechtsstaatsprinzip Ralf Michaels

Einführung In seiner Rede zur Eröffnung der documenta am 18. Juni 2022 bemerkte Bundespräsident Steinmeier apodiktisch: „Als deutscher Bundespräsident halte ich für mein Land fest: Die Anerkennung Israels ist bei uns Grundlage und Voraussetzung der Debatte!“ (Steinmeier 2022).

Starke Worte, aber was genau war damit impliziert? Die documenta wurde in Kassel eröffnet; inwiefern betraf das die Außenpolitik? Inwiefern wird Israel durch Debatten gefährdet; inwiefern müssen – oder auch nur dürfen – diese durch den Bundespräsidenten reguliert werden? Wird die Kunstfreiheit in Deutschland durch die deutsche Position gegenüber Israel bestimmt oder gar eingeschränkt? Offensichtlich bezog sich Steinmeier auf das, was seit einigen Jahren als deutsche Staatsräson verstanden wird: das deutsche Eintreten für die Existenz und Sicherheit Israels. Hessens Ministerpräsident Rhein, der Steinmeier beim Besuch der documenta begleitete, machte das klar (vgl. Hessische Staatskanzlei 2022). Der Begriff der Staatsräson ist indes zugleich provozierend und unklar. Was genau ist mit dem Begriff gemeint? Welche inhaltlichen Anforderungen, welche Handlungs- und Unterlassungspflichten sind mit ihm verbunden? Und wer wird durch die Staatsräson verpflichtet? Diese Fragen sind nicht nur von politischer und moralischer, sondern auch, vielleicht sogar zuvörderst, von rechtlicher Bedeutung. Denn damit verbunden ist die Frage nach den rechtlichen Implikationen der Staatsräson, die den Gegenstand dieser Abhandlung bilden sollen. Ist die Staatsräson in Form des Bekenntnisses zu Existenz und Sicherheit Israels eine Alternative zum Recht, macht sie diesem Konkurrenz, bedroht sie seine Geltung gar? Ist diese Staatsräson Voraussetzung von Recht und Staat, geht sie dem Recht also vor, und setzt sie sich daher im Ausnahmefall durch? Ist sie vielleicht gar selbst Recht, und wenn ja, wo in der Normenhierarchie? Oder geht die deutsche Verantwortung für Israels Existenz und Sicherheit dem Recht nach, existiert sie nur innerhalb seiner Grenzen? Und

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was bedeutet das konkret für den Einzelnen, für den Staat im Inneren, für die internationalen Beziehungen? Das sind die Fragen, denen sich dieser Text widmen soll. Nicht diskutiert wird, ob das Eintreten Deutschlands für Israels Existenz und Sicherheit normativ richtig ist. (Indes, wer wollte das, zumal für den deutschen Staat, ernsthaft bezweifeln?). Nicht beantwortet wird, was inhaltlich mit Existenz und Sicherheit Israels im Einzelnen gemeint ist – die staatliche Integrität Israels, die territoriale Ausdehnung, der jüdische Nationalcharakter, usw.

Staatsräson Israel – Eine kurze Begriffsgeschichte Der Begriff hat, so meint man häufig, seinen Ursprung in einem konkreten Ereignis: die Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18. März 2008 in der Knesset. Die stehenden Ovationen, mit denen viele ihre Rede bedachten – sie war das erste ausländische Nichtstaatsoberhaupt, dem die Ehre zuteilwurde – war wohl auch auf deren Inhalt zurückzuführen. Insbesondere sprach sich Merkel prominent dafür, die historische Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels sei Teil der Staatsräson ihres Landes; das heiße, die Sicherheit Israels sei „für sie als deutsche Bundeskanzlerin“ niemals verhandelbar (Merkel 2008a). Den konkreten Anlass bildeten 2008 Bedrohungen Israels durch den Iran. Formuliert war diese Staatsräson aber generell, von der „historischen Vergangenheit“ bis zur fernen Zukunft („niemals“). Und zugeordnet wurde sie einerseits dem Staat Deutschland als Ganzem und andererseits der Person Merkel und ihrem Amt („für mich als deutsche Bundeskanzlerin“). Ihre Bedeutung war dadurch offen. Anders als vielfach behauptet, war das aber nicht das erste Mal, dass sie den Begriff verwandte. Schon 2007 hatte Merkel vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen fast wörtlich das Gleiche gesagt, ohne dass es zu großer Aufregung geführt hätte.1 Auch hier bot, wie ein Jahr später in der Knesset, die Bedrohung durch den Iran den konkreten Anlass. Und noch ein Jahr zuvor zählte Merkel das Existenzrecht Israels in einem ausführlichen Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ zur deutschen Staatsräson; es ging um den Bundeswehreinsatz zur seeseitigen Sicherung der libanesischen Küste zur Durchsetzung von UN-Resolution 1701 (vgl. Heckel/Schuster/Keese 2006).2 Der damalige israelische Botschafter Stein nahm das auf und sprach über die Implikationen: „wenn das Exis1

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„Jeder deutsche Bundeskanzler vor mir war der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Existenz Israels verpflichtet. Zu dieser besonderen historischen Verantwortung bekenne auch ich mich ausdrücklich. Sie ist Teil der Staatsraison meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar“ (Merkel 2007). „Wir als Regierung wissen: Wir können uns nicht heraushalten, weil wir eine historische Verantwortung gegenüber Israel haben. Das Existenzrecht Israels gehört zur deutschen Staatsräson.

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tenzrecht Israels zur Staatsräson der Bundesrepublik gehört, dann kann Deutschland im Nahen Osten nicht neutral sein“ (Stein 2006; vgl. auch Stein/Lewy 2015, S. 3–8). Das Bekenntnis Deutschlands zu Israels Existenz und Sicherheit ist selbstverständlich schon älter; es prägt seit Adenauer die bundesrepublikanische Nachkriegszeit.3 Auch die Verbindung des Begriffs Staatsräson mit Israels Existenz und Sicherheit ist älter; Jacques Schuster etwa schrieb schon 2001 davon und verband Staatsräson mit Realismus und Solidarität zwischen Demokratien (vgl. Schuster 2001, S. 8).4 Prominent erwähnt wird er, soweit ersichtlich, zum ersten Mal in einem Essay, das der damalige deutsche Botschafter in Israel, Rudolf Dressler, im Jahre 2005 in der Zeitschrift aus Politik und Zeitgeschehen veröffentlichte – allerdings erscheint der Begriff außer in der Überschrift erst wieder im Schlusssatz (vgl. Dreßler 2005, S. 8).5 Trotzdem bedeutete Merkels Aussage 2008, vielleicht gerade wegen der breiten Diskussion, die sie auslöste, eine Zäsur: Ab jetzt stand die Frage, ob Existenz und Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson gehörten und was das impliziere würde, im Raum und bedurfte der Antwort. Bundespräsident Gauck etwa vermied es bei seinem Israelbesuch 2012 bewusst, die These von der Staatsräson zu wiederholen; er sprach lediglich davon, Israels Existenz und Sicherheit seien für die deutsche Politik „bestimmend“ (vgl. Sturm 2012). Der Verzicht hatte einen Grund: Gauck äußerte die Sorge, mit der Staatsräson seien Verpflichtungen verbunden, die der Staat nicht erfüllen könne oder wolle. Gerade weil er diese Verpflichtungen nicht übernehmen wollte, gab es auch Kritik (vgl. Posener 2012). Solcher Kritik wollte sich im Gaza-Konflikt im Frühjahr des Wahlkampfjahres 2021 offenbar niemand aussetzen: Die Staatsräson ist nicht nur Konsens geworden, das Bekenntnis zu ihr wird notwendig. Vertreter*innen aller Parteien waren damit zu hören:6 Vizekanzler und Kanzlerkandidat Scholz (vgl. SPD 2021), Kanzlerkandidat*innen Laschet (vgl. Reuters 2021b) und Baerbock (vgl Reuters 2021a), FDP-Bundesvorsitzender Lindner (vgl. Lindner 2021). In die Koalitionsvereinba-

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Und deshalb leisten wir einen konkreten Beitrag zur Umsetzung der Resolution 1701“ (Angela Merkel im Interview mit Heckel/Schuster/Keese 2006). Zu den Ursprüngen etwa Hansen (2002); zur israelischen Perspektive etwa Jelinek (2003); Diner (2015; neuerdings Marwecki (2020). Umfassend für die Zeit bis 1998 Weingardt (2002); zur Entwicklung 1998–2009 Asseburg/Busse (2011). Die Position der DDR wird hier nicht behandelt. „Ein Mindestmaß an Realismus, ein Sinn für die Staatsräson der Bundesrepublik und ein Gespür für die Solidarität zwischen Demokratien sollte schon dabei sein. Wer Israel in dieser halbstarken Weise kritisiert, verletzt den Grundkonsens deutscher Außenpolitik“ (Schuster 2001, S. 8). „Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson“ (Dreßler 2005, S. 8). Überblick bei Universität Erfurt (2021).

rung wurde sie auch aufgenommen (vgl. SPD/Grüne/FDP 2021).7 Nur die Linke sieht es traditionell anders (vgl. Fischer 2016) – Gregor Gysis Aufforderung an seine Partei 2008, das Bekenntnis zu Israels Sicherheit als Staatsräson zu übernehmen (vgl. Gysi 2008), konnte sich nicht durchsetzen. Für einige soll wie schon für Gauck diese Staatsräson auch konkrete Folgen haben. So meinte etwa der FDP-Politiker Maximilian Mordhorst, „wer von Staatsräson spricht, muss auch entsprechend handeln. Daraus muss konkrete Politik erwachsen – zum Beispiel, dass Deutschland dorthin Waffen liefert“ (Thaidingsmann/Mordhorst 2021). Und der Bezug ist nicht auf die Außenpolitik beschränkt. Selbst der AfD-Politiker Alexander Gauland, der noch 2017 nach der Bundestagswahl das Bekenntnis zur Staatsräson infrage gestellt hatte (vgl. Peters 2017),8 erkannte bald, wie attraktiv ein solches Bekenntnis sein kann. Im Bundestag 2018 bezeichnete er es nicht nur als „wahr und richtig“, das Existenzrecht Israels zur deutschen Staatsräson zu erklären. Er zog indes auch gleich Folgerungen, und zwar nicht nur außenpolitische – Deutschland müsse im Ernstfall bereit sein, an Israels Seite zu kämpfen und zu sterben –, sondern auch innenpolitische, insbesondere auch migrationspolitische: Die Existenzsicherung Israels beginne am Brandenburger Tor, Antisemitismus dürfe nicht zum Kollateralschaden einer falschen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik werden (vgl. Bundestags-Plenarprotokoll 19/29, S. 2623). Ein solches Bekenntnis ist nicht auf die Exekutive beschränkt. Im Jahre 2019 verabschiedete der Bundestag seine BDS-Resolution – wohl auch, um eine von der AfD beantragte Resolution zu vermeiden (vgl. Bundestags-Drucksache 19/10191, 15.5.2019). Darin bekennt er sich ausdrücklich: „Durch eine besondere historische Verantwortung ist Deutschland der Sicherheit Israels verpflichtet. Die Sicherheit Israels ist Teil der Staatsräson unseres Landes“ (BundestagsDrucksache 19/10191, 15.5.2019). Und er zieht daraus Folgerungen: keine Räume und kein Geld für Organisationen, die diese infrage stellen oder sich für einen Boykott Israels aussprechen. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt dahin, das Bekenntnis zu Israels Sicherheit und Existenz auch für den Einzelnen verpflichtend zu machen, wie es in der Tat Armin Laschet forderte.

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„Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson. Wir werden uns weiter für eine verhandelte Zweistaatenlösung auf der Grundlage der Grenzen von 1967 einsetzen. Die anhaltende Bedrohung des Staates Israel und den Terror gegen seine Bevölkerung verurteilen wir. Wir begrüßen die begonnene Normalisierung von Beziehungen zwischen weiteren arabischen Staaten und Israel. Wir machen uns stark gegen Versuche antisemitisch motivierter Verurteilungen Israels, auch in den VN“ (SPD/Grüne/FDP 2021, S. 155. „Zur Staatsräson müsste dann gehören, dass wir auch wirklich bereit sind, unser Leben für den Staat Israel einzusetzen und das spüre ich nicht“ (Peters 2017).

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Staatsräson und Recht Staatsräson als vorrechtliche Nützlichkeitserwägung? Was genau soll mit dieser Staatsräson gemeint sein? Das vielleicht intuitivste, freilich auch provokativste Verständnis ist dasjenige der raison d’état als einer Nützlichkeitserwägung, die das Recht gewissermaßen ersetzt. In dieser Form gelangte der Begriff der Staatsräson bekanntlich in die europäische politische Theorie seit der norditalienischen Spätrenaissance seit Machiavelli (der selbst den Begriff allerdings nicht verwendete). Insofern ist Meineckes große Abhandlung diskussionsleitend, wenn auch inhaltlich und methodisch wohl überholt – insbesondere, weil Meinecke keine scharfe Begriffsdefinition liefert (vgl. Meinecke 1960; zur Kritik: Stolleis 1990). Henry Kissingers Postulat für eine der nationalen Staatsräson statt dem Schutz Menschenrechten gewidmete Außenpolitik bietet eine einflussreiche (und umstrittene) modernere Version (vgl. Kissinger 1996; Hildebrand 1995). Und in dieser Form hat der Begriff auch sein provokantes Potenzial. Staatsräson als Ersatz für Recht, als Handlung nach Nützlichkeitserwägungen anstelle rechtlicher Vorgaben, als Unterordnung des Rechts unter die Macht – das ist so nicht mehr vertretbar.9 Helmut Rumpf sagt es so: „In der liberalen und naturrechtlichen Denktradition steht die Idee der Staatsräson im Gegensatz zur Idee des Rechts und des Rechtsstaats, sind Staatsräson und Rechtsstaat feindliche politische Leitbegriffe“ (Rumpf 1980, S. 273).10 Für die Innenpolitik müsste das fast uneingeschränkt gelten, für die Außenpolitik in wachsendem Maße, insoweit das Völkerrecht auch diesen Bereich juridifiziert. Wollte man dem nicht folgen, würde die übergeordnete Verpflichtung, für Israels Existenz und Sicherheit einzutreten, das Recht ersetzten, oder anders gesagt, das Recht und der Rechtsstaat hätten sich dieser Staatsräson unterzuordnen. Das ist nicht vertretbar, denn damit wäre eine zweifache Provokation verbunden. Zum Ersten stünde ein solches Konzept der Idee von Menschenund Bürgerrechten entgegen, die der Nützlichkeit geopfert werden könnten (vgl. Burger 2007). Zum Zweiten widerspräche eine solche Idee dem demokratischen Gedanken, dass auch politische Entscheidungen nicht Mehrheitsentscheidungen unterlaufen dürfen, die der Erzeugung von Recht zugrunde liegen. Insofern ist Merkel ausdrückliche Formulierung, sich „als Bundeskanzlerin“ zu Israels Exis-

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Meinecke sah die Staatsräson als Brücke „zwischen dem Handeln nach Machttrieb und dem Handeln nach sittlicher Verantwortung“ (Meinecke 1960, S. 5, Fn. 23). 10 Rumpf meint, dass „es spätestens seit Treitschke keine Lehre von der Staatsräson in Europa mehr gibt – sie ist von der Rechtsstaatlichkeitsdoktrin abgelöst worden“ (Rumpf 1980, S. 280).

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tenz und Sicherheit auszusprechen, auch als Anerkennung der Gewaltenteilung zu verstehen. In der Tat: Niemand in Deutschland vertritt, soweit ich sehen kann, dass das Recht durch die Staatsräson ersetzt werden sollte, dass der deutsche Rechtsstaat dem Schutz und der Existenz Israels unterzuordnen wäre. In dieser Allgemeinheit ist der Begriff jedenfalls missverständlich.

Staatsräson als faktische Existenzvoraussetzung? Auch Rumpf freilich gesteht der Staatsräson eine Bedeutung für den Rechtsstaat zu: Sie sei „als Existenzprinzip ein Urprinzip des Staates“ (Rumpf 1980, S. 285, Fn. 26). In der offiziellen englischen Übersetzung von Merkels Rede, die auf der Website der Knesset immer noch erhältlich ist, ist der Begriff tatsächlich als raison d’être übersetzt (vgl. Merkel 2008b), im Grunde also Daseins- oder Existenzvoraussetzung oder -legitimation. Historisch ist ein solches Verständnis plausibel. Denn die Entstehung beider Staaten – der Bundesrepublik und Israels – ist, wenn auch in unterschiedlicher Weise, Konsequenzen der Shoah, des deutschen Genozids an den Juden. Diese parallele Herkunft knüpfte zugleich auch Deutschland und Israel aneinander, und zwar sowohl faktisch als auch moralisch. Faktisch deshalb, weil die Aufnahme der Bundesrepublik als Staat in die Gemeinschaft der Staaten wesentlich an eine Form der Aussöhnung geknüpft war – und für Israel eben diese Aussöhnung eine Voraussetzung für die (schwierige) Anerkennung darstellte. Moralisch deshalb, weil die Legitimation einer postnazistischen Bundesrepublik ohne Anerkennung des Staats Israel als eines für jüdische Holocaustüberlebende sicheren Orts nicht vertretbar war. Freilich ergibt sich aus dieser historischen Situation noch keine unmittelbare Folge für die Gegenwart. Insofern lädt die Rede von Existenz und Sicherheit Israels als raison d’être zu einem Missverständnis ein. Das Missverständnis entsteht gerade, weil Existenz und Sicherheit so unmittelbar mit dem Recht verbunden sind: Damit es Recht überhaupt geben kann, muss der Staat existieren und sicher sein. Daraus lässt sich folgern, dass das Recht zurücktreten müsse, wo es um die Existenz selbst geht. “The constitution is not a ,sucide‘ pact”, sagt man gern im US-amerikanischen Verfassungsrecht – die Auslegung und Anwendung des Rechts kann also nicht richtig sein, wenn sie zum Untergang des Staates führt (vgl. Posner 2006). Ideen zur wehrhaften Demokratie basieren manchmal auf einem solchen Begriff der Staatsräson: um den Staat zu retten, müsse das Recht manchmal zurückstehen.11 Unproblematisch sind sie, zumal in der Innenpolitik 11

Vgl. etwa die Diskussion bei Hans-Gerd Jaschke, Streitbare Demokratie und Innere Sicherheit, Opladen 1991.

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nicht: Die Gefahr, dass Existenz- und Sicherheitsargumente missbraucht werden, ist sehr real, und als Begründung zur ad hoc-Einschränkung von Grundrechten ist das Konzept zweifelhaft, wie Erfahrungen mit dem Radikalenerlass oder auch mit der Terroristenbekämpfung nahelegen. Letztlich ist das irrelevant, denn solche Gedanken sind hier aus anderen Gründen unanwendbar. Sicherlich sind Sicherheit und Existenz des Staates Grundlagen des Rechts. Aber dabei geht es doch nie um die Sicherheit und Existenz eines anderen Staates. Israel ist nicht Deutschland; die Existenz und Sicherheit Israels sind nicht faktische Voraussetzungen für die Existenz und Sicherheit Deutschlands.

Staatsräson als moralische Legitimationsvoraussetzung? Wie verhält es sich nun mit der Idee der raison d’être als nicht faktischer, sondern moralischer Voraussetzung des deutschen Staates und seines Rechts?12 Es war ja das Deutsche Reich, das mit der Shoah millionenfach Juden nicht nur ihrer Sicherheit beraubte, sondern die physische Existenz von Juden und Jüdinnen in Europa in weitem Maße vernichtete. Aus der Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für dieses ungeheure Verbrechen – zumal als Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs – lässt sich durchaus argumentieren, dass Deutschland nur dann überhaupt ein legitimes Existenzrecht hat, wenn es sich seinerseits nicht nur rückblickend zur Verantwortung bekennt, sondern sich auch vorwärtsschauend für die Existenz und Sicherheit von Juden und Jüdinnen einsetzt. Eine solche moralische Verpflichtung formuliert etwa die BDS-Resolution des Bundestags: „Das entschiedene, unbedingte Nein zum Hass auf Jüdinnen und Juden gleich welcher Staatsangehörigkeit ist Teil der deutschen Staatsräson“ (Deutscher Bundestag 2019). In abstrakterer Form sind solche Gedanken in das deutsche Verfassungsrecht eingegangen (etwa in den Schutz der Menschenwürde in Artikel 1 GG) und begründen auch besondere Vorschriften gegen den Antisemitismus, wie etwa die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Bezug auf die Holocaustleugnung in § 130 StGB (vgl. Müller 2021, S. 8). Die offene Frage ist aber, inwieweit diese Verpflichtung für Sicherheit und Existenz von Jüdinnen und Juden auf den jüdischen Staat Israel übertragen werden kann. Denn die Existenz und Sicherheit Israels ist gleichzeitig enger und weiter als die Existenz und Sicherheit von Juden und Jüdinnen. Sie ist enger, weil sie nicht Juden und Jüdinnen in Deutschland bezeichnet, deren Schutz, so könnte man meinen, vorrangig die Aufgabe des deutschen Staates wäre. Und sie ist wei-

12 Es ist eine Definitionsfrage, ob man insofern raison d’etre und Staatsräson gleichsetzen kann; anders etwa Isensee in Handbuch des Staatsrechts, München § 71 Rn 44.

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ter, weil sie den Schutz von Juden und Jüdinnen an eine konkrete Form knüpft, nämlich die Form eines konkreten Staates. Das Verhältnis zwischen dem Schutz von Juden und Jüdinnen und dem Schutz Israels, zwischen dem Kampf gegen Antisemitismus und dem Kampf gegen bestimmte Formen der Kritik Israels, ist bekanntlich hochkomplex, es soll hier auch nicht einmal angerissen werden. Richtig ist sicher dieses: Insoweit der jüdische Staat Israel die einzige Form ist, in der Juden und Jüdinnen sicher existieren können, ist das Eintreten für seine Existenz und Sicherheit durch die Verpflichtung gegenüber Juden und Jüdinnen impliziert, muss der Schutz von Juden und Jüdinnen also notwendig als Schutz Israels erfolgen. Selbst dann sind aber Existenz und Sicherheit des Staats Israel lediglich Mittel zu einem Zweck – dem Schutz von Juden nämlich – und insoweit die Verpflichtung gegenüber Israel sich nicht in diesem Zweck erschöpft und über diesen Zweck hinausgeht, bedürfte sie einer anderen Begründung.

Staatsräson als außenpolitische Verpflichtung? Wenn also die Staatsräson mit dem Rechtsstaat in Konflikt zu geraten droht, so ist ein solcher Konflikt weniger dort zu befürchten, wo das Recht von jeher eine geringere Rolle spielt, also insbesondere im zwischenstaatlichen Bereich. Während im innerstaatlichen Bereich aufgrund der Juridifizierung und der Geltung von Grundrechten und Rechtsstaatsprinzip eine das Recht einschränkende Staatsräson suspekt ist oder doch sein sollte, ist der außenpolitische Bereich insofern flexibler. In der Tat sind die äußeren Beziehungen der Hauptanwendungsbereich der Idee der Staatsräson. Die Diskussion um die Rolle von Westbindung und NATOMitgliedschaft in den 1980er-Jahren wurde nicht zufällig auch mit dem Begriff der Staatsräson geführt: Der frisch ernannte Bundeskanzler Helmut Kohl bezeichnete das Bündnis als „Kernpunkt deutscher Staatsräson“ (Deutscher Bundestag 1982); die Bundesregierung folgte dem in ihrem Weißbuch 2016 (vgl. Bundesregierung 2016, S. 49). Unumstritten war das schon damals nicht: Bernhard Vogel setzte gegen Kohl als einen solchen Kernpunkt „die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die Bewahrung des Friedens“ (Deutscher Bundestag 1983, S. 81). Auf das Verhältnis zu Israel lässt sich das nun aus wenigstens zwei Gründen nur schlecht übertragen. Erstens: Die Mitgliedschaft in einem Militärbündnis – allen voran der NATO – ist völkerrechtlich bindend; die daraus folgenden Pflichten sind (völker-)rechtlicher Natur. Eine solche – rechtlich bindende – Beistandsverpflichtung gegenüber Israel besteht aufgrund einer bloßen Staatsräson nicht. Zweitens: Das Militärbündnis ist ein Bündnis auf Gegenseitigkeit – der Beistandsverpflichtung beim Angriff auf andere entspricht umgekehrt ein

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Anspruch auf Beistand gegen andere. Diese Gegenseitigkeit besteht nicht im Verhältnis zu Israel. Damit ist nicht gesagt, dass nicht eine moralische Verpflichtung oder ein strategisches Interesse besteht. Die deutschen Waffenlieferungen an Israel, eine Zurückhaltung bei der Verurteilung Israels für seine Politik – all das lässt sich durchaus auch als Ausdruck beider Erwägungen ansehen, und man mag das auf eine aus der Staatsräson folgende Verpflichtung stützen. Aber sie beruhen dann eben nicht auf rechtlicher Verpflichtung, und Staatsräson ist eher die Beschreibung solchen Verhaltens als seine Grundlage.

Staatsräson als bloße politische Setzung in der Außenpolitik Wenn demnach die Existenz und Sicherheit Israels weder Voraussetzung des Rechts ist noch dieses ersetzt, so kann Staatsräson auch einfach das bedeuten, was sonst manchmal als „Grundkonstante der deutschen Außenpolitik“ bezeichnet wurde, also eine besonders wichtige, zeit- und parteiübergreifende grundlegende politische Ausrichtung. Hier bleibt nur ihre Einordnung als Ausrichtung der Politik – innerhalb des Rahmens des Rechts, diesem insofern untergeordnet. So war sie wohl tatsächlich von Merkel auch gemeint, jedenfalls ausweislich der späteren Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des SPD-Abgeordneten Mützenich: „Es handelt sich dabei um eine politische Aussage, die aus der Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin entspringt. Die Rechte des Deutschen Bundestages sind hiervon unberührt. Auch bei Entscheidungen, die sich aus dieser Aussage ergeben, bleiben die Rechte des Deutschen Bundestages gewahrt (Bundestags-Drucksache 2012).

In Bezug genommen wird damit Artikel 65 Absatz 1 GG, wo es heißt „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.“ Gebunden sind damit insbesondere die Mitglieder des Regierungskabinetts; in Verstoß gegen die von Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin vorgegebenen Richtlinien kann Grund zur Entlassung sein (die freilich nach Artikel 64 GG keiner eigenständigen rechtlichen Begründung bedarf). Andere als die Bundesminister und -ministerinnen sind von den Richtlinien selbst nicht gebunden, sondern lediglich durch auf deren Grundlage erlassene Rechtsakte. Besonders wichtig: Beschränkt wird die Richtlinienkompetenz wegen des Rechtsstaatsprinzips (Artikel 20 Absatz 3 GG) durch Recht und Gesetz. Eine so verstandene Staatsräson hat also keine wesentliche rechtliche Bindungswirkung, und sie unterminiert das geltende Recht nicht. Das bedeutet nicht, dass ihr nicht faktisch eine Bindungswirkung zuerkannt werden könnte. 202

So ist etwa die BDS-Resolution des Bundestages von 2019 formalrechtlich eine bloße Positionierung ohne rechtliche Bindung, wie sowohl der wissenschaftliche Dienst des Bundestages als auch die Gerichte festgestellt haben (vgl. Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages 2020, S. 4 f.; VG Köln 2019; VG Berlin 2021). Gleichwohl wird sie immer wieder zur normativen Begründung einschränkender Maßnahmen herangezogen, als handelte es sich um eine rechtliche Ermächtigung.

Rechtliche Implikationen Die Rede von Israels Existenz und Sicherheit als deutscher Staatsräson drückt also nicht mehr (aber auch nicht weniger) aus als eine politische Positionierung, die sich im Rahmen des geltenden Rechts bewegt und dieses weder einschränkt noch gar außer Kraft legt. Ihre Bedeutung liegt daher primär in der Außenpolitik, die weniger stark rechtlich durchgeformt ist und daher mehr Spielraum lässt, als in der Innenpolitik. Auf dieser Grundlage lassen sich rechtliche Implikationen bestimmen.

Für Einzelne Was folgt zunächst aus einem solchen Verständnis der Staatsräson als Richtlinie der Politik für Einzelne? Teilweise wird vertreten, auch Einzelne seien an die Staatsräson gebunden. So meinte etwa Armin Laschet im Bundestagswahlkampf: „Diese Staatsräson Deutschlands gilt für jeden deutschen Staatsbürger, ob er eingewandert ist, ob er eingebürgert wurde oder hier geboren wurde“ (Lindner 2021, Fn. 15). Ähnlich lässt sich wohl auch Bundespräsident Steinmeier verstehen, wenn er bei der Eröffnung der documenta erklärte, die Anerkennung Israels [sei] „bei uns Grundlage und Voraussetzung der Debatte“ (Steinmeier 2022, Fn. 1). So umfassend ist das nicht haltbar: Die Staatsräson etabliert keine rechtliche Bindung für Individuen. Staatsräson betrifft begrifflich den Staat und nicht die Bevölkerung. Individuen dürfen sich im liberalen Staat auch abweichend von einer Staatsräson verhalten, und sie dürfen auch darauf dringen, dass der Inhalt der Staatsräson geändert wird. Dieser Unterschied zwischen der Bindung des Staates und der Bindung von Individuen zeigt sich deutlich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser war 2020 in der Baldassi-Entscheidung mit der Frage der Zulässigkeit von Boykottaufrufen gegen Israel befasst (vgl. Baldassi u. a. 2020). Die französischen Beschwerdeführer waren für einen solchen Boykottaufruf von einem französischen Gericht verurteilt worden. Der Gerichtshof sah in dieser Verurteilung eine rechtswidrige Einschränkung der 203

Meinungsfreiheit.13 Dabei grenzte der Gerichtshof seine Entscheidung von seiner eigenen früheren Entscheidung im Jahre 2008 ab, in der eine Verurteilung für einen solchen Boykottaufruf gebilligt worden war (vgl. Willem 2009). Der entscheidende Unterschied lag darin, dass es im früheren Fall um den Aufruf eines Bürgermeisters ging, den aufgrund seines Mandats besondere Pflichten und Verantwortlichkeiten treffen und dessen Einfluss auf Konsumenten zudem nicht vergleichbar sei. Der rechtliche Handlungsspielraum Einzelner ist insofern weiter als derjenige des Staates und seiner Organe. Den Staat und seine Organe treffen besondere Verpflichtungen, die die Gesellschaft nicht treffen.14 Ähnlich sieht es auch der Juge des référés des französischen Conseil d’Etat (vgl. Conseil d’Etat 29.4.2022). Das gilt nicht anders, wenn man aus dem Holocaust eine moralische Verantwortlichkeit auch Einzelner herausliest. Denn eine solche moralische Bindung wäre im liberalen Staat nicht justiziabel; das Recht ist nicht dazu da, eine allgemeine Moral durchzusetzen. Wenn zum Beispiel § 14 des Berliner Versammlungsgesetzes ein Versammlungsverbot unter bestimmten Voraussetzungen sogar ohne konkrete Gefährdungslage dann zulässt, wenn die Versammlung „in erheblicher Weise gegen das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger und grundlegende soziale oder ethische Anschauungen verstößt,“ ist das daher gerade angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hochproblematisch (vgl. Lagmöller/Armbrust 2022; Baudewin 2020). Denn die Durchsetzung sozialer ethischer Anschauungen ist nicht Sache der Gerichte. Hinzu kommt meines Erachtens ein weiterer wichtiger Gedanke. Die besondere moralische Verpflichtung aus der Geschichte gegenüber Israel trifft Deutsche als Nachkommen der Nazitäter oder zumindest als Angehörige des Nachfolgerstaates des Dritten Reichs. Sie ist, wie man im Kollisionsrecht sagen würde, persönlich und nicht territorial angeknüpft. Insoweit sie nun Deutsche aufgrund dieser besonderen Verpflichtung trifft, gilt sie nicht im selben Maße für Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund wie den kamerunischen Intellektuellen Achille Mbembe oder palästinensische Demonstranten gegen die israelische Besatzung, oder auch israelkritische Juden.15 Das betrifft insbesondere die Grundrechte der Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Viele fordern ja, diese aufgrund der Staatsräson einzuschränken. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble etwa sprach sogar für eine Kontakt-

13 Ähnlich zur Rechtswidrigkeit des Verbots einer propalästinensischen Gruppe, die Boykotte befürwortet, Conseil d’Etat 29. 4. 2022, nos 462982 und 462736, tinyurl.com/ytvdpbvj [15.7.2022]. 14 Zwingend ist das nicht: der englische Supreme Court hält es auch für unrechtmäßig, Gemeinden den Boykott zu verbieten: R (on the application of Palestine Solidarity Campaign Ltd and another) v Secretary of State for Housing, Communities and Local Government, [2020] UKSC 16, 29.4.2020. 15 Was das für Fragen der Einbürgerung bedeutet, soll hier nicht vertieft werden.

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schuld: „Wer sich in seinem Protest nicht eindeutig davon abgrenzt, wenn das Existenzrecht Israels angegriffen wird, macht sich mitschuldig“ (Schäuble 2021). Die Rechtsprechung ist hier relativ klar, dass das nicht geht, spätestens seit der bereits genannten Baldassi-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Ähnlich entschied im Ergebnis auch das Berliner Verwaltungsgericht im Falle des palästinensisch-kanadischen Aktivisten Khaled Barakat (vgl. VG Berlin 2022). Ihm wurde aufgrund von § 47 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AuslG die Teilnahme an einer politischen Veranstaltung zum Thema „Palästina und Araber – Deal des amerikanischen Jahrhunderts von der Ansiedlung bis zur Liquidation“ versagt, sowie die Teilnahme an allen Veranstaltungen innerhalb einer bestimmten Frist, die mit der Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP) zusammenhingen. Die Begründung verband individualisierte und generalisierte Aspekte: Die Öffentlichkeit sei vor seinen zu erwartenden antisemitischen und antiisraelischen Äußerungen zu schützen, es bestehe ein hohes Interesse an der Eindämmung der PFLP, und es sei nicht hinzunehmen, dass er sich auf öffentlichen Veranstaltungen gegen den Staat Israel äußere, insbesondere da die Bundesrepublik dem israelischen Staat gegenüber aufgrund ihrer Geschichte in besonderem Maße verpflichtet sei. Im Verfahren führte die Stadt Berlin aus, „dass zwar eine mögliche Kollision der Meinungsäußerung eines Ausländers mit den außenpolitischen Interessen und völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland für sich genommen noch kein Verbot rechtfertige. Jedoch stelle der Schutz des Existenzrechts Israels und die Verhinderung von Äußerungen Drittstaatsangehöriger, die sich hierzu in Widerspruch setzen, als deutsche Staatsräson ein klar definiertes und zu schützendes außenpolitisches Interesse der Bundesrepublik Deutschland dar.“

Das VG Berlin erklärte die Entscheidung der Stadt für rechtmäßig, insoweit sie sich auf Veranstaltungen mit Bezug zur PFLP bezog, denn diese sei eine terroristische Vereinigung, und ihre Unterstützung sei ein Unterfall der Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Für ermessenfehlerhaft erachtete das Gericht aber das Verbot der Teilnahme an der Veranstaltung zu den Abraham Accords, weil eben eine bloße Staatsräson den Einzelnen nicht einschränkt: „Soweit in den Ermessenserwägungen wiederholt ausgeführt wird, es sei nicht hinzunehmen, dass sich der Kläger auf öffentlichen Veranstaltungen „gegen den Staat Israel“ (so wörtlich) äußert, schränkt dies die Meinungsfreiheit des Klägers unverhältnismäßig ein. Denn eine insgesamt erfolgte Untersagung des Auftritts des Klägers bei einer Veranstaltung zu dem Thema eines Friedensplans bezüglich des Nahen Ostens schränkte seine Meinungsfreiheit unverhältnismäßig ein. Denn damit wurde dem Kläger insgesamt die Möglichkeit genommen, sich zu dem Thema zu äußern.“

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Ähnlich ist es – jedenfalls im Ergebnis16 – bei der Versammlungsfreiheit. Der Gesetzgeber, so das Bundesverfassungsgericht in seiner Brokdorf-Entscheidung, „darf die Ausübung der Versammlungsfreiheit nur zum Schutz gleichwertiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begrenzen“ (BVerfG 1985, S. 348 f.). Was den Inhalt einer solchen Demonstration angeht, bedeutet das: Prüfungsmaßstab der Beschränkung ist das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG; eine danach erlaubte Meinung kann auch keine Grundlage für das Verbot einer Versammlung sein. Einschlägig sind insofern insbesondere die Strafnormen der Beleidigungstatbestände (§ 185 StGB), der Volksverhetzung (§ 130 StGB) und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (§ 86a StGB). Weiter noch – selbst wenn einzelne Teilnehmer an einer Demonstration gegen Gesetze verstoßen, kommt eine Auflösung oder gar ein Verbot der Demonstration als ultima ratio nur dann in Betracht, wenn mildere Mittel nicht zur Verfügung stehen und zudem die Auflösung im engeren Sinne verhältnismäßig ist. Damit lassen sich Einschränkungen dann begründen, wenn der Inhalt der Demonstration selbst den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt – so jedenfalls im Fall des vom Bundesverfassungsgericht aufrechterhaltenen Verbots einer Gedenkveranstaltung für Rudolf Heß (vgl. Bundesverfassungsgericht 2009). Dagegen wird die Demonstrationsfreiheit nicht durch eine allgemeine Staatsräson begrenzt, und Demonstranten haben keine grundsätzliche Pflicht, die deutsche Staatsräson auf ihren Demonstrationen zu akzeptieren. Inwieweit sie Israels Existenz und Sicherheit infrage stellen dürfen, beantwortet sich nicht über die Staatsräson, sondern über die Strafgesetze und die Verhältnismäßigkeit. So gesehen erscheint fraglich, ob etwa die Berliner Polizei sämtliche propalästinensischen Demonstrationen zum Naqba-Tag 2022 verbieten durfte (vgl. Michaels 2022). Ein solches Verbot lässt sich nicht allein darauf stützen, dass antisemitische und antiisraelische Äußerungen zu erwarten seien, weil eine Versammlung unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit nicht schon wegen der Ansichten verboten werden, die bei ihr geäußert werden. Wann Kritik an Israel in die Volksverhetzung umschlägt, ist eine (umstrittene) juristische Frage, die aber mit der Staatsräson nichts zu tun hat.

16 Für Ausländer gilt die Versammlungsfreiheit nicht als Grundrecht, sondern nur aufgrund der Gesetzgebung von Bund und Ländern, für EU-Bürger zudem aus EU-Recht. Vgl. Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages (2018). Insofern sind gewisse Einschränkungen möglich.

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Für den Staat Auf Einzelne hat es also keine rechtlichen Auswirkungen, dass Existenz und Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson gehören. Was sind Auswirkungen auf den Staat? Erweitert die Staatsräson seine Kompetenzen, beschränkt sie diese, oder lässt sie sie unbeeinflusst? Diese Frage stellt sich vornehmlich hinsichtlich der sogenannten „BDS-Resolution“ des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 2019 (vgl. Deutscher Bundestag 2019). In diesem Beschluss bekannte sich der Bundestag zur IHRA-Arbeitsdefinition des Antisemitismus (die er allerdings stillschweigend abänderte) (vgl. Croitoru 2020) und wandte sich insbesondere gegen die sogenannte „BDS-Bewegung“, die Boykotte, Divestment und Sanktionen gegen Israel befürwortet. Der Beschluss oszilliert zwischen allgemeinen Aussagen zum Antisemitismus und konkreten Aussagen zum Staat Israel: Zur Staatsräson soll einerseits gehören „das entschiedene, unbedingte Nein zum Hass auf Jüdinnen und Juden gleich welcher Staatsangehörigkeit“, zum anderen „die Sicherheit Israels“. Die BDSBewegung wird in der Resolution nicht nur verurteilt; vielmehr wird die Verurteilung auch als Grundlage für Maßnahmen herangezogen, die der Bundestag auch anderen öffentlichen Organen empfiehlt: Räumlichkeiten und Einrichtungen sollen nicht zur Verfügung gestellt werden, Organisationen sollen nicht gefördert werden, wenn sie das Existenzrecht infrage stellen, Projekte sollen nicht gefördert werden, die zum Boykott Israels aufrufen oder die die BDS-Bewegung aktiv unterstützen. Die Resolution ist zweimal auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft worden – einmal durch den wissenschaftlichen Dienst des Bundestags (vgl. Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages 2020), ein anderes Mal in einem Verfahren auf Nichtigerklärung vor dem VG Berlin (vgl. VG Berlin 2021). Der wissenschaftliche Dienst hielt die Resolution (nur) deshalb für rechtens, weil sie keine eigentliche rechtliche Wirkung habe – wäre sie als Gesetz erlassen worden, wäre sie seiner Ansicht nach verfassungswidrig. Auch das VG Berlin wies zwar die Klage ab, allerdings im hier entscheidenden Teil auch aus formalen Gründen: Die Kläger seien nicht durch die Resolution betroffen, sondern nur gegen die darauf gegründeten konkreten Einzelmaßnahmen und müssten gegen diese vorgehen. Zusammengefasst heißt das: Der Bundestag ist (wie auch die Bundeskanzlerin) kompetent, eine politische Meinung zu formulieren; diese Formulierung allein hat aber keine rechtliche Bindungswirkung für Einzelne.17

17 Noch weitergehend Uwe Schulz, Die Anti-BDS-Beschlüsse im Lichte des kommunalrechtlichen Anspruchs auf Nutzung öffentlicher Einrichtungen der Gemeinde, Kommunaljurist 2020, S. 245, 248: „Den Anti-BDS-Beschlüssen kommt in dieser Hinsicht keinerlei rechtliche Relevanz zu. Sie sind lediglich Ausdruck einer populistischen Symbolpolitik.“

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Wie ist es anderseits mit Einzelmaßnahmen, die auf die Resolution gestützt werden? Können Behörden aus der Staatsräson oder aus der BDS-Resolution und ähnlichen Beschlüssen Kompetenzen erlangen, die sie ohne diese nicht hätten? Die Antwort ist: nein. Das zeigt sich etwa in der (ständigen) Rechtsprechung zur Pflicht von Kommunen, Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, und zwar unabhängig von der Ideologie der Antragssteller wie das Bundesverwaltungsgericht im Januar 2022 speziell für die Verweigerung der Raumvergabe an Mitglieder der BDS-Bewegung bestätigt hat: „Die Beschränkung des Widmungsumfangs einer kommunalen öffentlichen Einrichtung, die deren Nutzung allein aufgrund der Befassung mit einem bestimmten Thema ausschließt, verletzt das Grundrecht der Meinungsfreiheit“ (Bundesverwaltungsgericht 2022). Es zeigt sich ebenso in der vom VG Stuttgart ausgesprochenen Verpflichtung an eine Gemeinde, auch einen BDS-befürwortenden Verein auf einer Website zu listen, die verschiedene lokale Vereine liste: „Die durch die Beklagte vorgenommene Begrenzung des Widmungszwecks, wonach unter anderem Adressen von Organisationen, Vereinen und Gruppierungen, die nach Sicht der Beklagten antisemitische oder antiisraelische Meinungen oder Geisteshaltungen vertreten, generell die Aufnahme in die Adressdatenbank der Internetpräsenz www …..de verwehrt wird, ist nicht zulässig, weil sie gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit verstößt“ (Verwaltungsgericht Stuttgart 2022). Auch die Teilnahme an einem öffentlichen kommunalen „Kultur- und Begegnungsfest“ kann nicht mit der Begründung der BDS-Nähe versagt werden (vgl. Verwaltungsgericht Köln 2019). Dass der Staat so mittelbar auch israelkritische oder gar antisemitische Gruppen unterstützen muss, mag erstaunen. Oft liest man, die Meinungsfreiheit werde nicht dadurch beschränkt, wenn der Staat seine Förderung oder seine Räumlichkeiten verweigere: Es stehe den Betroffenen ja weiterhin frei, ohne solche Förderung oder in anderen Räumen ihre Meinung zu äußern. Das ist aber nicht richtig, wie das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betont: „Die Meinungsfreiheit ist nicht erst dann berührt, wenn das grundrechtlich geschützte Verhalten selbst eingeschränkt oder untersagt wird. Es genügt, dass nachteilige Rechtsfolgen daran geknüpft werden“ (Bundesverfassungsgericht 1992; Bundesverfassungsgericht 2019). Der Rechtsstaat, anders als der absolutistische Staat, kann sich nur in Grenzen aussuchen, wem er Räume und Förderung zur Verfügung stellt. Er darf insbesondere nicht nach dem Inhalt von Meinungen differenzieren. Politische Ziele können allenfalls im Rahmen der Ermessensausübung berücksichtigt werden, können diese aber auch nicht ersetzen. Insoweit die BDSResolution von den Gemeinden anderes verlangt, stellt sie sich, so ein Kommentator, als „Aufforderung zum Rechtsbruch“ (Scheerer 2021) dar.

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Für die Außenpolitik Was bedeutet die Staatsräson schließlich in ihrem Kernbereich, der Außenpolitik? Im Grunde gilt noch immer, was Werner Sonne 2013 feststellte: „Quer durch die Politik unternimmt man den Spagat, sich einerseits zu dieser Staatsräson zu bekennen, andererseits nur keine Festlegung zu treffen, was man zu tun gedenke, sollte Israel einmal in existenzielle Not geraten“ (Sonne 2013, S. 226). Konkrete Implikationen hat die Staatsräson wohl nicht, allenfalls macht sie einige politische Positionen plausibler als andere. Markus Kaim hat sich bemüht, den Inhalt der Staatsräson zu präzisieren und vier mögliche Inhalte genannt: die bilaterale Verpflichtung zur militärischen Unterstützung, das regionale Bemühen um eine Friedensregelung mit den Palästinensern und den Nachbarstaaten, die Konfrontation des iranischen Nuklearprogramms, sowie die internationale Unterstützung in multilateralen Organisationen (vgl. Kaim 2015, S. 8). Rechtliche Pflichten wären das wohl kaum. Selbst wenn Israels Sicherheit Staatsräson ist, impliziert das nicht eine rechtliche Beistandsverpflichtung, weil es an einer Vorschrift wie Artikel 5 des NATO-Vertrags fehlt. Insofern ist die Situation ähnlich wie diejenige gegenüber der Ukraine, zu der Reinhard Müller in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt: „So versichert Deutschland, Seit’ an Seit’ mit der Ukraine zu stehen, ja gleichsam selbst angegriffen zu werden; es will aber auf keinen Fall Kriegspartei sein – aus noch höherem Interesse. Das gibt eine Vorahnung dessen, was sogar das deutsche Versprechen ,Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson‘ im Ernstfall bedeuten kann“ (Müller 2021, S. 8). Allerdings zeigt der Vergleich mit der Ukraine auch etwas anderes: Auf Deutschland kommt es hier kaum an; für Israel dürfte das Unterstützungsversprechen der USA ungleich wichtiger sein (vgl. auch Kaim 2015, S. 9, Fn. 65). Ähnlich verhält es sich mit den anderen Inhalten. Eine konkrete rechtliche Verpflichtung zu einem bestimmten Vorgehen gegenüber den Palästinensern oder dem Iran lässt sich der Staatsräson nicht entnehmen. Dass etwa die Bundesrepublik im Rahmen der Verhandlungen mit dem Iran über ein Nuklearabkommen nicht den Präferenzen Israels folgt, mag man politisch kritisieren – rechtlich ist es möglich, und zwar sowohl nach internationalem wie nach nationalem Recht. Zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten kann die Staatsräson den Staat rechtlich auch nicht binden. Das Versprechen ist ein moralisches, auch ein politisches, aber kein rechtlich bindendes.

Staatsräson als politische Konstante Das Ergebnis mag auf den ersten Blick ernüchternd erscheinen. Das Bekenntnis zu Israels Existenz und Sicherheit als deutsche Staatsräson ist politische Maß209

regel und nicht Recht. Als solches ist es dem Recht unterworfen und besteht nur innerhalb von dessen Grenzen. Einzelne bindet es nicht; zur Unterbindung antiisraelischer Maßnahmen kann es nur sehr eingeschränkt herangezogen werden. Dem Staat gibt es keine Kompetenzen, die er nicht auch ohne sie schon hätte. Und der Staat Israel kann sich jedenfalls nicht aus rechtlichen Gründen darauf verlassen, dass Deutschland sein Versprechen für Israels Existenz und Sicherheit auch in Zukunft erfüllen wird, denn eine rechtlich bindende Verpflichtung ergibt sich daraus nicht. Ernüchternd ist das aber nur auf den ersten Blick. Wenn die Staatsräson politische Konstante und nicht rechtliche Norm ist, ist sie in vielerlei Hinsicht wirksamer, jedenfalls auch flexibler. In der Außenpolitik, insbesondere im Verhältnis zu Israel, ermöglicht sie weit mehr, als es ein starres juristisches Korsett vermöchte. In der Innenpolitik andererseits ermöglicht sie, dass Meinungsstreitigkeiten auch in Bezug auf Israel politisch und nur im Ausnahmefall juristisch geführt werden können, wie es einem liberalen Staatsverständnis entspricht.

Außenpolitik Zunächst zur Außenpolitik. Häufig wird im Rahmen der Staatsräson von der Existenz und Sicherheit Israels gewissermaßen in Isolation gesprochen, auch in diesem Beitrag war das bis hierher so. Tatsächlich ist aber auffällig, wie regelmäßig die Rede von der Staatsräson verbunden wird mit einer Positionierung zu konkreten israelischen Politiken, und insbesondere mit einem Eintreten für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts und eine Zweistaatenlösung. Das gilt für die Rede der Bundeskanzlerin vor der Knesset 2008, die sich nur kurz vor der Staatsräson „für die Vision von zwei Staaten in sicheren Grenzen und in Frieden“ aussprach und die „Kraft zu schmerzhaften Zugeständnissen“ beider Seiten als nötig erachtete. In der Presse wurde damals durchaus auch diese Forderung an Israel erkannt (vgl. Handelsblatt 2008). Es gilt für die Erklärung des Bundestages zum 70. Jahrestag der Staatsgründung Israels 2018 (vgl. Deutscher Bundestag 2018 S. 1 f.),18 die unmittelbar nach der Erklärung, die Sicherheit Israels sei „nicht verhandelbar“, ausdrückt, „dass die nachhaltige Sicherheit Israels langfristig nur im Rahmen einer Zweistaatenlösung garantiert sein kann.“ Und es gilt für die Er-

18 Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP, 70 Jahre Gründung des Staates Israel. In historischer Verantwortung unsere zukunftsgerichtete Freundschaft festigen, 24.4.2018, BT-Drs. 19/1823, dserver.bundestag.de/btd/19/018/1901823.pdf [15. 7. 2022], S. 1 f. unter Berufung auf die Rede des damaligen Außenministers Walter Steinmeier zum 50. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, 7.5.2015, www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/150507-bm-bt-d-isr/271490 (letzter Abruf 15.7.2022). Steinmeier sprach freilich nicht von Staatsräson.

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klärungen von Außenministerin Baerbock bei ihrer Pressekonferenz angesichts ihres Staatsbesuchs in Israel dieses Jahr: Ihre Betonung, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei und bleibe, verband sie nicht nur mit dem Wunsch nach einer Zweistaatenlösung, sondern zudem mit Kritik an der Siedlungspolitik im Westjordanland, die sie als völkerrechtswidrig bezeichnete (vgl. Zeit 2022). Beide Gedanken stehen nicht in völligem Widerspruch. Häufig wird das Eintreten für die Rechte der Palästinenser mit der Sicherheit Israels begründet: Die Zweistaatenlösung sei notwendig, damit Israel sicher sein könne. Freilich machte schon Angela Merkel 2008 ihr Bewusstsein dafür deutlich, dass das als Bevormundung gesehen werden könnte. Was, wenn Israel es anders sieht? Deckungsgleich sind beide Positionen sicher nicht; ein Spannungsverhältnis bleibt. Dieses Spannungsverhältnis ist freilich produktiv, und man muss davon ausgehen, dass diese Verbindungen zwischen Existenz und Sicherheit Israels einerseits, Zweistaatenlösung und Siedlungspolitik andererseits, bewusst gezogen werden. Sie dienen dazu, widerstreitende Grundsätze zu plausibilisieren, die isoliert weniger unproblematisch wären. Einerseits macht erst das feste Bekenntnis zu Israels Existenz und Sicherheit es deutschen Politiker*innen möglich, die israelische Politik zu kritisieren. Denn das Bekenntnis macht klar, dass sich solche Kritik niemals auf die Existenz Israels richtet und auch nicht so verstanden werden darf, dass das Eintreten für einen Friedensprozess auch im Interesse von Israels Sicherheit stehen soll. Und umgekehrt verleiht das Bestehen auf dem Friedensprozess und dem Völkerrecht dem Eintreten für Israels Existenz und Sicherheit größere Legitimität gegenüber anderen beteiligten Akteuren, weil eben kommuniziert wird, dass dieses Eintreten nicht zulasten von Frieden und Völkerrecht erfolgen soll. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Grundsätze nicht auf gleicher Ebene stehen. Staatsräson ist nur die Sicherheit und Existenz Israels, das Eintreten für eine Zweistaatenlösung ist lediglich eine einfach formulierte politische Position. Eine solch subtile Verbindung verschiedener Positionen ließe sich in juristischer Form kaum so subtil formulieren. Eine unbedingte Einstehenspflicht gegenüber Israel könnte Deutschland in die missliche Lage bringen, militärisch auch in einer Situation helfen zu müssen, in der der Friedensprozess gefährdet wäre. Die Fähigkeit, besänftigend auf die israelische Regierung einzuwirken, wäre stark geschwächt; zudem wäre Deutschland als ernsthafter Vermittler für andere Staaten und die Palästinenser weniger glaubhaft. Machte man umgekehrt den Fortbestand des Friedensprozesses und gar die Unterlassung völkerrechtlicher Siedlungspolitik zur echten rechtlichen Bedingung der Staatsräson, so würde man diese über die Maßen schwächen; sie erlaubte keine verlässliche Politik mehr. Die subtile Verbindung beider Positionen wäre in beiden Formen geschwächt. Gleiches gilt für den Inhalt der Staatsräson als solcher. Sähe man darin eine rechtliche Verpflichtung, so bedürfte sie der Auslegung und der Konkretisierung. 211

Ergäbe sich eine rechtliche Pflicht zur Lieferung von Waffen? Gar zur Entsendung von Soldaten in Krisengebiete? Zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten in internationalen Organisationen? Der politische Spielraum wäre durch eine juristisch bindende Verpflichtung entscheidend beschränkt, ohne dass man erkennen könnte, wie entweder Deutschland oder Israel davon profitieren würden. Für die Außenpolitik gilt also: Die mangelnde rechtliche Bindungswirkung erzeugt erst das politische Potenzial.

Innenpolitik Ist das in der Innenpolitik anders? Hier fällt auf, dass der Staatsräson durchaus bisweilen eine rechtliche Wirkung zuerkannt wird, wie oben detaillierter dargestellt wurde. Die Staatsräson wurde herangezogen zur Beschränkung von Meinungs- und Demonstrationsfreiheit sowie zur Versagung des Zugangs zu Räumlichkeiten; sie wird auch als Kriterium bei der Beschränkung von Künstlern und Kunstwerken bei Ausstellungen genutzt, und ähnliches. Damit zeigt sich eine frappierende Verschiebung: Eine politische Konstante, die ganz wesentlich auf die Außenpolitik bezogen ist, entfaltet ihre wesentlichen konkreten Auswirkungen im Inland. Was dem Schutz Israels dienen soll, wird zum Instrument der Grundrechtseinschränkung. Es ist gut, dass die Gerichte dem im wesentlichen Einhalt gebieten und eine Berufung auf die Staatsräson im Recht für weitgehend unerheblich erachten; es wäre erfreulich, wenn die Gefahr einer rechtlich verstandenen Staatsräson auch in der Bevölkerung besser verstanden und in der Politik stärker befolgt würde. Warum ist das von Vorteil, wenn doch die Existenz und Sicherheit Israels offenbar wichtig und schützenswert sind? Einerseits werden bei diesem Verständnis Rechtsstaat und Grundrechte gestärkt. Einschränkungen des Rechtsstaats erfolgen nämlich fast immer im Namen von zunächst unstreitig ehrenwerten Zielen; wer sich gegen solche Einschränkungen ausspricht, wird häufig als Sympathisant oder gar Befürworter der eingeschränkten Positionen angesehen und verfemt. Das war zur Zeit der Notstandsgesetze nicht anders als heute in Hinblick auf rechtsradikale Demonstrationen und Gegner der Corona-Maßnahmen, es ist auch so bei Maßnahmen gegen die BDS-Bewegung. Dass der Rechtsstaat sich gerade im Umgang mit solchen Positionen bewährt, ist auch eine Erfahrung aus dem Dritten Reich, die nicht alle sich klar machen – dass ein Staat, der einmal Rechte beschränkt, das als Präzedenzfall sehen wird, mehr zu tun, und die Einschränkungen ausdehnt. Wenn Gerichte dem Einhalt gebieten, dient das primär nicht dem Schutz der geäußerten Positionen, sondern dem Schutz des Rechtsstaats und der für die Demokratie notwendigen Meinungsvielfalt sowie den offenen Debattenräumen.

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Denn diese offenen Debattenräume – und das ist der zweite Vorteil eines politischen Verständnisses der Staatsräson – sind das eigentliche Forum, auf dem ein gefährliche und abzulehnende Ansichten überwunden werden müssen. Wenn ein Einstehen für Israels Existenz und Sicherheit nur durch staatliche Repressionen erreichen ließe, wäre das ein Eingeständnis der Schwäche inhaltlicher Argumente oder jedenfalls ihrer Überzeugungskraft. Schlimmer noch: Wenn Kritiker Israels im Namen einer Staatsräson zensiert und beschränkt werden, besteht die Gefahr, dass sich in ihrer Sicht das Zerrbild einer allmächtigen israelischen Verschwörung verstärkt – auch wenn diese Beschränkung gar nicht von Israel, sondern von Deutschland ausgeht. Was angeblich dem Schutze Israels dienen sollte, erhöht dann unter Umständen erst die Feindschaft gegenüber diesem Staat. Hier sind Argumentation und Information gefragt, nicht Repression. Wenn das Recht sich zurückhält, kann das nur von Vorteil sein.

Ergebnis Zu einem nicht geringen Teil ist die Diskussion um die Staatsräson Folge einer vielleicht unglücklichen Wortwahl. Im begriffsbildenden Artikel von Dreßler aus dem Jahr 2005 schien der Begriff noch lediglich die Wichtigkeit der Position auszudrücken ohne besondere weitere Bedeutung – so wurde auch der HolocaustGedenktag in Yad Vashem als „Teil der israelischen Staatsräson“ (Dreßler 2005, S. 8, Fn. 9) bezeichnet. Was Angela Merkel ausdrücken wollte, als sie 2008 die Sicherheit Israels als Teil deutscher Staatsräson bezeichnete, was inhaltlich den allermeisten Politikerinnen und Politikern vorschweben dürfte, die Ähnliches erklären, ist nicht mehr (aber auch nicht weniger) als eine konstante politische und moralische Position. Als solche bewirkt sie eine politische und moralische, nicht aber eine rechtliche Bindung. Wer mehr darin sieht, lässt sich vielleicht von der Begrifflichkeit blenden, zu seinem Nachteil. Und hätte sie sich anders ausgedrückt, wäre die nachfolgende Debatte vielleicht nicht geführt worden. Allerdings muss man auch konstatieren, dass die vielleicht durch eine bloße Wortwahl zustande gekommene Diskussion durchaus erhellend war und ist. Sich nicht nur klar zu machen, was der deutsche Staat Israel schuldet, sondern auch, inwiefern eine solche Schuld rechtlicher Art ist oder rechtliche Konsequenzen hat, ist nützlich. Nicht nur lässt sich dadurch das Verhältnis Deutschlands zu Israel präzisieren. Es lässt sich auch erkennen, in welcher Form dieses auf einen bestimmten Begriff gebrachte Verhältnis konkret wird – im Äußeren wie im Inneren. Dass ein eigentlich auf die Außenpolitik bezogener Begriff bevorzugt für die Einschränkung von Grundrechten im Inland verwendet wird, dass die Existenz und Sicherheit Israels so behandelt wird, als ginge es um die Existenz und Sicherheit Deutschlands, das ist eine nützliche, wenn auch beunruhigende Erkenntnis. Vielleicht hilft sie ja beim Umdenken zum Schutz des liberalen Rechtsstaats. 213

(Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Wiederabdruck des gleichnamigen Artikels aus dem Jahrbuch für Antisemitismusforschung aus dem Jahr 2022.)

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6 Abschluss

Carola Lentz und Meron Mendel im Gespräch1

Eva Berendsen: Ich darf Sie und euch alle begrüßen zu unserem Abschluss-Panel zu unterschiedlichen Perspektiven auf die Zukunft einer globalen Erinnerungskultur. Wir wollen das Panel nutzen, um die Perspektiven von Meron Mendel als Veranstalter und Carola Lentz als Präsidentin des mitveranstaltenden Goethe-Instituts zu bitten, eine erste Bilanz der Tagung ziehen, mit Blick auf unsere Frage nach den Möglichkeiten einer globalen Erinnerungskultur. Liebe Frau Lentz, Sie haben das Wort. Carola Lentz: Vielen Dank für die Einladung zu diesen zwei sehr intensiven Tagen mit produktiven Diskussionen, die wir hier erleben durften. Vielleicht eine Vorbemerkung, Frau Berendsen, weil Sie mich als Präsidentin des Goethe-Instituts vorgestellt haben. Tatsächlich habe ich zwei Hüte auf. Ursprünglich wurde ich zu dieser Tagung auch eingeladen, weil ich als Ethnologin viel zur Erinnerungskultur in Afrika geforscht habe und mich dieses Thema auch als Wissenschaftlerin, nicht nur als Präsidentin des Goethe-Instituts, interessiert. Ich glaube, dass der Rollenwechsel hier nicht dramatisch ist, denn das Goethe-Institut arbeitet sehr viel zu Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur. Aber manches, was ich hier sage, speist sich eben doch aus meiner eigenen Forschung. Ich möchte anfangen mit einem Konzept, das Tali Nates – eine der diesjährigen Preisträgerinnen der Goethe-Medaille – verwendet hat, als sie ihre Arbeit in einer Podiumsdiskussion in Weimar vorstellte: das Konzept der connectivity, der Verbindungen. Tali Nates ist 1961 in Israel geboren als Kind von HolocaustÜberlebenden, die von Oskar Schindler gerettet worden waren, und ist vor vielen Jahren der Liebe wegen, wie sie sagte, nach Südafrika gezogen. Inzwischen hat sie dort das sogenannte „Holocaust & Genocide Centre Johannesburg“ aufgebaut, und wie der Name dieses Dokumentationszentrums und Gedenkorts schon sagt: Es stellt Verbindungen her zwischen dem Holocaust und anderen Genoziden. Das Zentrum dokumentiert jüdische Lebensgeschichten und befragt überlebende Zeitzeugen bzw. forscht zur älteren Generation, vor allem von Juden, die in Südafrika gelebt haben oder noch leben. Doch das Interesse reicht geografisch auch über Südafrika hinaus.

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Der folgende Text ist die überarbeitete Mitschrift der Abschlussdiskussion der Konferenz „Beyond – Towards a Future Practice of Remembrance“, die am 22.–23.09.2022 in Frankfurt am Main stattfand.

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Tali Nates betonte in der Podiumsdiskussion, dass es nicht um problematische Vergleiche gehe, sondern darum, Verbindungen zwischen verschiedenen Lebenswegen und Thematiken auszuloten. In Südafrika war das zum Beispiel – so erläuterte sie – das Thema „Apartheid“. Manche Juden, die in Südafrika Zuflucht gefunden hatten, seien etwa zu Unterstützern des Apartheidregimes geworden, von dem sie als Weiße profitiert hätten. Daran würde deutlich, so Tali Nates, wie komplex die Frage von Opferstatus und Täterschaft sich in einzelnen Biografien gestalten könne. In den Augen vieler junger schwarzer Südafrikaner dagegen ist Israel ganz klar ein Apartheidstaat; sie würden von ihren eigenen Erfahrungen – oder denen ihrer Eltern – mit der Apartheidpolitik Südafrikas ausgehen und das mit Israel vergleichen, das in ihren Augen gegenüber Palästinensern Exklusionspolitik betreibe. Hier müsse die Bildungsarbeit zum Holocaust, so Tali Nates, Verbindungen zwischen den Erfahrungen der jungen Südafrikaner und Südafrikanerinnen und der Geschichte der Juden und Israels herstellen. Dabei ginge es auch immer darum, historisches Wissen zu vermitteln. Ein weiteres zentrales Thema im Holocaust & Genocide Centre Johannesburg ist der Genozid in Ruanda. Genau im Mai 1994, als Südafrika sich über die neu gewonnene Unabhängigkeit freute und Nelson Mandela der erste Schwarze Präsident des Landes wurde, fand keine 4.000 Kilometer von Pretoria entfernt in Ruanda ein brutaler Völkermord statt. Von April bis Juli 1994 wurde über eine Million Tutsi ermordet. Doch in dem Begeisterungstaumel über die Unabhängigkeit, so berichtete Tali Nates, habe sich kaum jemand in Südafrika für diesen Genozid in einem afrikanischen Nachbarstaat interessiert. Auch das sei für sie ein Motiv gewesen, in ihrem Dokumentations- und Bildungszentrum verschiedene Völkermorde und insbesondere solche auf dem afrikanischen Kontinent zu thematisieren wie eben den Genozid in Ruanda. Dabei geht es Nates in der Bildungsarbeit sowohl um die Vermittlung von Wissen als auch um eine Sensibilisierung gegenüber allen Formen des Rassismus, der auch in der südafrikanischen Gesellschaft noch stark sei. Zwei Themen sehe ich in diesen Überlegungen von Tali Nates, die viel mit dem zu tun haben, was wir hier in den letzten zwei Tagen diskutiert haben. Übrigens möchte ich den Organisator:innen der Tagung gratulieren zu den spannenden Panels, in denen auf eine sehr zivile Art miteinander diskutiert wurde; ich nehme viele Anregungen mit! Das erste Thema ist die Frage, die wir uns ja auch für das Abschlusspanel gestellt haben: Wie sähe eine globale Erinnerungskultur aus? Wenn ich Tali Nates’ Beispiel folge, dann würde eine solche Erinnerungskultur zum Schauen auf Verbindungen einladen. Erinnern ist immer präsentisch; es findet in der Gegenwart statt, in einem bestimmten politischen Kontext, aber auch an einem bestimmten Punkt der eigenen Lebensgeschichte. So gehöre ich zum Beispiel demselben Jahrgang an wie Omer Bartov; wir sind beide 1954 geboren. Zu vielem, worüber er gesprochen hat, habe ich eigene biografische Verbindungen – etwa zur linken Politik in den verschiedenen Studentenszenen der 1970er221

und 1980er-Jahre oder zur Erfahrung, dass sich der Horizont für Erinnerungsarbeit mit der Wiedervereinigung in Deutschland verändert hat. Anderes dagegen, vor allem, was die Familiengeschichten und die Fragen von Opfer- und Täterperspektiven in Bezug auf den Holocaust angeht, trennt uns. Trotzdem können wir Verbindungen herstellen, die unsere Geschichten und Biografien miteinander verknüpfen. Erinnern ist immer persönlich, präsentisch, selektiv. Und es ist auch immer zukunftsgerichtet. Die Frage, in welcher Gesellschaft wir zukünftig leben wollen, spielt eine zentrale Rolle dabei, wie wir Erinnerungspraktiken organisieren. Auf Verbindungen zu schauen, wie Tali Nates vorschlägt, erlaubt, die Thematik des Holocaust mit der eigenen Lebensgeschichte, aber auch anderen geschichtlichen Erfahrungen von Genozid und Völkermord zu verbinden. Dabei geht es dann weniger um eine Frage der Singularität als um eine Frage der Spezifität, der Besonderheit (versus vermeintlicher Gleichsetzung durch Vergleich). In der Globalisierungsdebatte haben Ethnologen, Soziologen und andere das Konzept des „Glokalen“ entwickelt. Dieses Konzept antwortet auf die Frage, wie eigentlich globale Trends in spezifischen Orten ankommen und aufgenommen werden. Die Welt wird ja durch die globale, kapitalistische Ordnung nicht komplett homogenisiert; regionale und lokale Unterschiede bleiben bestehen. Und um diesen widersprüchlichen Prozess zu erfassen, wurde der Begriff des „Glokalen“ oder der „Glokalisierung“ geprägt, also einer Globalisierung, die zugleich lokale Besonderheiten annimmt. Vielleicht könnte man diesen Begriff auch bei der Suche nach Verbindungen zwischen verschiedenen Erinnerungssträngen und Leidenserfahrungen fruchtbar machen. Wie lässt sich die Erinnerung (oder genauer: das Gedenken) an den Holocaust so organisieren, dass eigene Erfahrungen, eigene Familiengeschichten, Erfahrungen der eigenen Gruppe oder des eigenen Ortes damit in Beziehung gesetzt werden können? Hier könnte man auch an Per Leos Überlegungen anknüpfen, der in seinem Buch Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur (2021) das Konzept einer „produktiven Heimatkritik“ entwickelt hat. Leo propagiert eine Erinnerungsarbeit, die die Bereitschaft zu einer produktiven Selbstkritik und kritischen Betrachtung der eigenen Herkunftsgruppe oder des eigenen Lebensumfelds impliziert. Es lohnt sich jedenfalls, glaube ich, über diesen ganzen Komplex von Verbindungen zwischen globalen Erinnerungssträngen und Gedenkkulturen und biografischen, familiären und gruppenspezifischen Erinnerungspraktiken weiter nachzudenken. Das zweite Thema, das ich bei Tali Nates angesprochen sehe und über das ich gern weiter diskutieren würde, resultiert aus meiner eigenen Forschung zu afrikanischen Erinnerungskulturen. Als Ethnologin benutze ich übrigens den Kulturbegriff für ein meist recht heterogenes Bündel von Erinnerungs- und Gedenkpraktiken nur ungern, aber er hat sich nun einmal eingebürgert. Das Problem ist, dass das Konzept „Erinnerungskultur“ homogenisiert, wo man eigentlich genauer hinschauen müsste: Welche Erinnerungsakteure gibt es? Wie mobilisieren sie? 222

Mit welchen Medien machen sie welche Erinnerungsinhalte, die ja immer selektiv konstruiert werden, gültig und für wen? In einem großen vergleichenden Forschungsprojekt gemeinsam mit Studierenden und Doktoranden habe ich in zwölf afrikanischen Ländern die Feiern zu den fünfzigjährigen Unabhängigkeitsjubiläen im Jahr 2010 untersucht. Außerdem haben wir in drei Ländern – Ghana, Burkina Faso und Côte d’Ivoire – nicht nur die Jubiläen, sondern auch die regulären Nationalfeiern und deren Geschichte sowie den breiteren Kontext nationaler staatlicher Erinnerungspraktiken angeschaut. Was sehr deutlich wurde: wie stark veränderbar, weil immer wieder anders zeitlich und politisch spezifisch situiert, Erinnerungspraktiken und Gedenkformen sind. Nur ein Beispiel: Kwame Nkrumah, der erste Präsident Ghanas, des ersten Lands in Subsahara-Afrika, das unabhängig wurde, sollte eigentlich ein unumstrittener Nationalheld sein – würde man jedenfalls vermuten. Das ist er aber nicht. Er ist im Ausland, vor allen Dingen in anderen afrikanischen Ländern, viel weniger umstritten als in seinem Heimatland. Ich kann hier nicht alle Einzelheiten aufführen, aber man kann am Beispiel der Denkmäler für Nkrumah sehen, dass sie im Lauf der Zeit mehrfach gestürzt oder beschädigt und dann unter einer neuen Regierung wiedererrichtet wurden. Dabei gab es dann Debatten, ob man etwa den bei einem Denkmalssturz abgeschlagenen Kopf wieder auf den Torso aufsetzt oder nicht, also die Kontroverse um das Denkmal sichtbar macht oder verbirgt. Und an der Debatte zu dieser Frage zeigte sich die tiefe politische Kluft, die Ghana seit den späten 1940er-Jahren prägt, zwischen zwei entgegengesetzten politischen Traditionen und Parteien. Im Verlauf der ghanaischen Geschichte mit ihren verschiedenen politischen Konjunkturen wurde vor diesem Hintergrund dieser Parteienkonkurrenz immer wieder diskutiert: Ist Nkrumah der wichtigste Nationalheld? Müssen wir nicht das Pantheon der Unabhängigkeitshelden erweitern, gehören da nicht auch die ehemaligen Oppositionspolitiker mit hinein? Und so weiter und so fort. Die Erinnerungspraktiken und Denkmäler wurden und werden also je nach den politischen Gegebenheiten immer wieder umstrukturiert. Solche und ähnliche Kontroversen konnten wir für jedes unserer Untersuchungsländer feststellen. Es gab Länder, wo bestimmte Politiker etwa betonten: „1960 sind wir überhaupt noch nicht unabhängig geworden, sondern erst mit meiner Machtübernahme wurden wir wirklich unabhängig und haben uns von Frankreich gelöst …“ Das soll als Beispiel genügen. Für unsere Diskussion hier scheint mir wichtig, im Blick zu behalten, dass Erinnerungspraktiken zeitlich situiert sind und sich auch verändern können. Und was für die vergangenen Erinnerungspraktiken erforschbar ist, gilt natürlich auch mit Blick in die Zukunft: Die Erinnerung wird sich auch weiterhin verändern. Das ist doch ein Gedanke, der Hoffnung macht: dass wir auch durch eine Tagung wie diese, durch unsere eigene Arbeit, zu veränderten Erinnerungs- und Gedenkpraktiken beitragen können. 223

Was mir wichtig ist mit Blick auf das aktuelle Minenfeld der deutschen Diskussion über die Beziehung zwischen dem Gedenken an den Holocaust und der Aufarbeitung der Kolonialverbrechen und damit verbundener Themen: Wir dürfen nicht den Kontext und die Geschichtlichkeit der Erinnerungskultur vergessen. Omer Bartov hat das gestern überzeugend dargelegt: Das Holocaust-Mahnmal in Berlin war ja nicht schon immer da, und das Holocaust-Gedenken galt keineswegs schon immer als „Staatsraison“ und identitätsstiftend für die deutsche Gesellschaft. Ich gehöre selbst zu denen, die sich Anfang der 1980er-Jahre in den lokalen Geschichtswerkstätten engagiert und dafür gekämpft haben, dass in den westdeutschen Städten so etwas wie eine produktive Heimatkritik unternommen werden sollte, im Sinne von: dieses Gebäude gehört eigentlich umbenannt; jenes Gebäude war eine Folterstätte und so weiter. Das fing damals wirklich erst an und hat sich dann verdichtet und wurde zur offiziellen Gedenkpraxis. Wenn wir mehr über die Kontextabhängigkeit von Erinnerungspraktiken nachdenken und auch ihre Politisierung oder politische Instrumentalisierung diskutieren, dann ist, glaube ich, viel gewonnen. Dann ist auch die gegenwärtige polarisierte Debatte vielleicht etwas weniger bedrohlich. Etwas plakativ zusammengefasst würde ich sagen: Wir brauchen weniger Erinnerungskultur, wir brauchen mehr Geschichtskultur, wir brauchen mehr Wissen über die Geschichte und über die Geschichte von Erinnerung. Auch in der pädagogischen Arbeit, glaube ich, ist es ganz wichtig, erst einmal Wissen zu vermitteln. Es gibt dabei keinen zwingenden Gegensatz zwischen Aktivismus und Wissenschaft, meines Erachtens. Kluger Aktivismus wird an Forschungsbestände und an Wissen anknüpfen. Und noch eine letzte Bemerkung, die wir vielleicht noch vertiefen können: Wenn wir über den Kontext von Erinnerungskulturen nachdenken, gehört dazu immer auch die Frage, wer erinnert. Nicht nur was und welche Inhalte, sondern wer. Denn es gibt keine „Kultur“, die erinnert: Das sind vielmehr einzelne Menschen, Gruppen und Akteure mit bestimmten Strategien, Lebenshintergründen, Erfahrungshintergründen, die etwas damit auch aktiv tun und erreichen wollen. Zur Frage nach dem „wer“ gehört dann auch eine kritische Reflexion über die eigenen Perspektiven, ein Mitdenken des eigenen geschichtlichen Hintergrunds, und insofern ist ein Stück Identitätspolitik vielleicht unvermeidbar. Zugleich möchte ich diese Überlegung aber nicht verstanden wissen als Forderung nach einer Begrenzung auf die eigene Positionalität. Auch hier geht es mir zunächst einmal um das Wissen über die geschichtlichen Umstände des Erinnerns. Ja, es ist notwendig, sich da selbst auch kritisch zu hinterfragen. Aber zugleich nehme ich mir auch das Recht, über den größeren Kontext jenseits meiner eigenen Erfahrungen nachzudenken und mir entsprechendes Wissen anzueignen, den aktuellen Forschungsstand zur Kenntnis zu nehmen und eventuell zu erweitern. Ein Beispiel dafür – um hier nochmals einen Hinweis von Omer Bartov und Per Leo aufzunehmen – ist etwa die Erkenntnis, dass mit der Ausstrahlung der Holocaust-Se224

rie in Deutschland 1979 eben auch ein bestimmter opferzentrierter Erinnerungsdiskurs, der in den USA dominant war, nach Deutschland importiert wurde und dass dieser Import von Opfernarrativen in einer Tätergesellschaft bestimmte Probleme birgt. Wenn man dies begreift, kann man vielleicht auch besser einige der Ambivalenzen der Holocaust-Debatte verstehen – die es zu erklären, aber vor allem auch auszuhalten gilt. Dabei würde ich es erst einmal belassen wollen und für unsere Diskussion vielleicht das Stichwort „Ambivalenzen aushalten“ betonen, zusammen mit dem Stichwort „Verbindungen suchen“. Eva Berendsen: Vielen Dank. Sie haben ein weites Panorama aufgerissen. „Glokal“ ist ein Stichwort, über das wir nochmal nachdenken sollten; der historische Kontext, aber auch die Kämpfe um Erinnerung wären ein zweites Stichwort. Meron, magst du entgegnen und vielleicht auch gleich noch eine Bilanz der letzten anderthalb Tage ziehen? Meron Mendel: Ja, ich kann wunderbar anknüpfen an die Ausführungen von Carola Lentz. Ihr letzter Satz war: Ambivalenzen aushalten. Und ich denke, da sind wir schon an einem ganz wesentlichen Punkt, der mich auch die gesamten zwei Tage beschäftigt hat, nämlich: das Spannungsfeld zwischen eindeutiger Vergangenheit und uneindeutiger Gegenwart. Darin steckt viel Zündstoff für die Debatte um Erinnerungskultur. Wir beziehen uns auf eine Vergangenheit, die sehr eindeutig ist. Wenn wir über den Holocaust oder über die Kolonialzeit reden, ist klar, wer die Guten und wer die Bösen sind. Die Erinnerungskultur hat aber den Anspruch, nicht nur ein moralischer Kompass für die Vergangenheit, sondern auch – und vielleicht vor allem – für die Gegenwart zu sein. Wir kennen alle die Forderung, aus der Geschichte zu lernen. Nun ist die Gegenwart nicht immer so eindeutig: Wer sind heute die Guten in unserer Gesellschaft? Wer sind die Bösen? Wer sind heute die Antisemiten? Wer sind die Rassisten? Wir wollen unbedingt auf der richtigen Seite stehen. Aber die Gegenwart ist voller Ambiguitäten. Und darum dreht sich im Grunde genommen, auf der tieferen Ebene, ein Großteil der Debatte, die wir momentan auch erleben. Es ist interessant zu beobachten, dass Forderungen in der Gegenwart, die sich auf die Vergangenheit beziehen, ein besonderes moralisches Gewicht für sich proklamieren. Sie wollen die Ambiguität der Gegenwart mit der Eindeutigkeit der Vergangenheit bewältigen. Vorher war die Rede vom Holocaust-Mahnmal in Berlin. Die Initiatorinnen und Initiatoren des Mahnmals sind damals mit dem Selbstbewusstsein aufgetreten, dass ein Mahnmal für die ermordeten Juden mitten in Berlin errichtet werden muss. Die Herausforderung besteht aber darin, dass die Anerkennung des Unrechts in der Vergangenheit uns nicht unbedingt dabei hilft, die Entscheidung über die Form der Erinnerung in der Gegenwart zu treffen. So wäre es auch denkbar gewesen, das Mahnmal nicht nur den jüdischen, sondern 225

allen NS-Opfern zu widmen. Und überhaupt darf man die Vorstellung hinterfragen, dass mehr Erinnerungsorte oder insgesamt mehr Erinnerungsrituale immer richtig und moralisch sind. Gegen das Holocaust-Mahnmal zu sein, bedeutet nicht zwangsläufig, dass jemand auf der unmoralischen Seite steht. Und dafür zu sein, ist nicht unbedingt ein Zeichen, dass man auf der richtigen Seite steht. Die Initiatorin Lea Rosh, die eigentlich mit Vornamen anders hieß und sich diesen jüdisch klingenden Namen ausgesucht hat, wollte damals einen Backenzahn eines Opfers im Mahnmal begraben. Aus jüdischer Sicht ist aber ein solcher Akt eine Schändung des Toten. Diese Haltung von Lea Rosh ist insofern exemplarisch: Ihre moralische Anspruchshaltung für die Gegenwart leitet sie aus der Vergangenheit ab. Und vielleicht noch ein aktuelleres Beispiel: Vor einigen Monaten habe ich den Soziologen Harald Welzer − übrigens auch ein bekannter Erinnerungsforscher − in einer Talkshow erlebt, wo er mit dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk saß. In der hitzigen Debatte hatte Welzer dem ukrainischen Botschafter so etwas gesagt wie: Hör mal zu, wir, die Deutschen, sind traumatisiert. Und deswegen müsst ihr Rücksicht auf uns nehmen. Welzer spricht für die „Sprecherposition“ der Deutschen und reklamierte für sie ein „Wir“ einer Gesellschaft mit generationenlanger „Kriegserfahrung“, wie er sagt. Den Begriff „Kriegserfahrung“ für Deutsche im Zweiten Weltkrieg zu verwenden, ist bereits eigenartig, wenn diese Gruppe nicht nur Menschen impliziert, die etwa alliierte Bombardierungen in deutschen Städten durchleiden mussten – sondern auch solche, die eindeutig Täter waren, in der Ukraine etwa, in Russland, in Polen. Welzer rückt sie in die Nähe von Opfern und Traumatisierten. Diese ganze Geschichtsrelativierung wird mit der moralischen Haltung begründet, dass die Deutschen aus der Geschichte gelernt haben: Weil wir die Enkelkinder der Täter sind − so interpretiere ich das Narrativ von Welzer – sind wir besonders labil, und man muss auch Rücksicht auf uns nehmen. Laut Welzers Darstellung hat der Krieg, den die Deutschen einst begonnen haben, sie nachhaltig traumatisiert. Trotz oder gerade wegen dieses an sich selbst verursachten Traumas hätten sie es jedoch geschafft, ihre Niederlage letztlich als etwas Positives zu verstehen und daraus moralische Größe zu gewinnen. Implizit wird der Zivilisationsbruch von Auschwitz zu einer Tugend, zu einer Qualifikation der Deutschen umgedeutet, die durch ihre „präsente Kriegserfahrung“ nun die Ukrainer belehren können. Der Holocaust wird inzwischen nicht mehr als Makel im nationalen Selbstbild empfunden, sondern ist gerade die tragende Säule eines neuen deutschen Nationalismus geworden: weil man ja aus ihm gelernt habe. Solches Selbstbewusstsein hatte auch der ehemalige Waffen-SS Mann Günter Grass, als er im Jahr 2012 ein Gedicht publizierte, das Israel Völkermordabsichten gegenüber dem Iran unterstellte. Also wir sehen, dass gerade der Erfolg der Erinnerungskultur, ihre vermeintlich eindeutige Positionierung auf der Seite der Opfer, auch problematisch ist.

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Weil die Gegenwart uneindeutig ist. Die Erinnerung an die Opfer hilft uns nicht weiter, wenn wir über Konflikte in der Gegenwart debattieren. Zuletzt zeigte sich der Versuch, die Eindeutigkeit der Vergangenheit auf die Gegenwart zu projizieren, in der Documenta-Debatte. Die Suche nach Eindeutigkeit zeigt sich, wenn ein Lager in der Documenta nur Antisemitismus gesehen hat. Der Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo sprach sogar von „Antisemita“. Das andere Lager hat jede Kritik an der Documenta pauschal zum Rassismus erklärt. Der Antisemitismusvorwurf gegen das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa habe nur dazu gedient, den Rassismus des weißen Kulturbetriebs zu verdecken. Farid Rakun von Ruangrupa sagte im Interview: „Wenn es nicht der Antisemitismus wäre, dann wäre es etwas anderes.“ Der Versuch, Eindeutigkeit zu finden, wo es sie nicht gibt, ist verständlich, aber falsch. Denn wo der Anspruch aufgegeben wird, differenziert und sachlich miteinander zu debattieren, haben die Populisten ein leichtes Spiel. Und damit komme ich zu meiner letzten Überlegung, die ich aus der Konferenz mitgenommen habe. Wenn wir nochmal auf den ersten Historikerstreit zurückschauen, da kam am Ende von Jürgen Habermas die Überlegung: Wir brauchen einen Verfassungspatriotismus. Ich denke nicht, dass wir heute unbedingt Verfassungspatriotismus brauchen, aber ich habe mich gefragt, warum dieser Begriff im ersten Historikerstreit entstand. Warum kommt man – aus so einem Historikerstreit – auf so eine Lösung? Ich verstehe den Vorschlag von Habermas damals als den Versuch, eine neue Grundlage für die Diskussion zu schaffen. Ich denke, dass wir in der heutigen Diskussion genauso ein Konzept brauchen, das genau das schafft: ein Konzept, das jenseits von der jeweiligen Positionierung und insofern auch zum Teil als Gegenkonzept zu bestimmten identitätspolitischen oder aktivistischen Ansätzen steht. Ein Konzept, das doch – basierend auf Empathie − eine Grundlage anbietet, dass man für das Richtige zusammen kämpfen kann, ohne dass man immer auf eine bestimmte Positionierung zurückgeworfen und fixiert wird. Eva Berendsen: Ich möchte kurz auf den Punkt Empathie zu sprechen kommen. Empathie war tatsächlich ein Buzzword der letzten zwei Tage, quasi als Wunderwaffe in diesem komplizierten Feld, das die Opferkonkurrenzen vermeintlich auflösen könnte. Ich habe jetzt bei dir noch nicht ganz genau verstanden, warum du auf Empathie so viel Hoffnung setzt, und würde gerne von Ihnen, Frau Lentz, hören, was Sie eigentlich dazu denken. Fangen wir doch mit Ihnen an. Carola Lentz: Ich würde hier gar nicht widersprechen wollen, sondern auch unterstreichen: Empathie ist wichtig. Aber nur, wenn wir sie mit Wissen kombinieren. Ich glaube, da würden Sie, Herr Mendel, auch gar keinen Widerspruch sehen. Empathie bedeutet ja, dass ich andere Gruppenperspektiven, andere Biografien, zu mir selbst in Bezug setzen kann. Das ist auch das, was Tali Nates mit „Verbin227

dungen stiften“ meint, wobei mir persönlich das Konzept des Verbindungen-Stiftens sympathischer ist als das der Empathie, weil es noch nicht voraussetzt, wie diese Verbindungen emotional besetzt sind. Die könnten ja auch Abscheu, Horror, Kritik involvieren. Und es könnte sein, dass ein und dieselben Menschen in bestimmten Lebensphasen Opfer sind, aber in anderen Lebensphasen oder Kontexten Täter werden, auf eine Art und Weise, die ich selbst ablehne – mit wem bin ich dann empathisch? Wenn man Empathie weniger emotional positiv auflädt, sondern eher darunter versteht: Verbindungen herstellen, die eine Dimension von Wissen und von Gefühlen haben, dann kann ich mich dem anschließen. Ich würde übrigens nach wie vor eine Lanze für Jürgen Habermas’ Konzept des Verfassungspatriotismus brechen. Ich glaube, die Vorstellung, dass sich in einer Einwanderungsgesellschaft wie Deutschland alle Menschen auf bestimmte Formen von Erinnerungspraktiken einigen und dieselbe Empathie entwickeln, ist utopisch. Da bietet unsere Verfassung doch erst einmal einen moderaten, grundlegenden Rahmen, auf den sich wirklich alle einigen können und auch müssen. Und die Verfassungsgrundsätze ziehen die Grenze zu dem, was auch in künstlerischen Kontexten nicht mehr zulässig ist. Ich würde Sie, Herr Mendel, auch so verstehen wollen, dass Sie betonen, dass eben noch etwas dazukommen muss, wie das ja auch einst Ernst-Wolfgang Böckenförde betont hatte in seinem Diktum, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Anders gesagt: Nur mit einer abstrakten Verfassung kann man kein Gemeinwesen zusammenhalten, sondern da braucht es noch etwas mehr. Ob wir dieses Mehr jetzt hier finden, weiß ich nicht, und ich bin auch skeptisch, ob das eine gemeinsame Erinnerungskultur sein kann. Ein gemeinsamer Bildungskanon schon eher, das ist ja herstellbar. Wir haben allerdings auf dieser Tagung auch mit spannenden Beispielen von den Herausforderungen der Bildungsarbeit zum Holocaust mit muslimischen Jugendlichen gehört. Da scheint mir ein Fazit schon auch, dass man vorsichtig sein muss und solche pädagogischen Ansätze nicht überfrachten sollte. Meron Mendel: Vielleicht noch als Ergänzung zu dem Verfassungspatriotismus: Allein ein Dokument wie die Verfassung hält die Menschen nicht zusammen. Es hat bisher auch begrenzt funktioniert, besonders in Krisenzeiten braucht man mehr. Zum Thema „Empathie“ möchte ich noch ergänzen, dass sie als Ressource immer selektiv zur Geltung kommt. Man kann auch argumentieren: Das ist doch ganz normal, dass unsere begrenzten Empathie-Ressourcen immer situativ und immer selektiv eingesetzt werden. Wenn wir für die eine notleidende Person mehr Empathie als für eine andere aufbringen, ist das vielleicht ungerecht, aber ganz normal. So verhält sich auch unsere Empathie zu Gruppen und ihrem Leid in der Vergangenheit. Es lohnt sich trotzdem, die Frage zu reflektieren, wel228

che Kriterien hier eine Rolle spielen. Warum ist bei einem Teil der Gesellschaft die Empathie mit der jüdischen Minderheit besonders ausgeprägt und in einem anderen Teil der Gesellschaft steht die Empathie mit BPOC-Menschen im Vordergrund? Eva Berendsen: Ich hatte den Eindruck, dass das Konzept der „multidirektionalen Erinnerung“ auf der Tagung starke Sympathien gefunden hat, bei aller Kritik am Rande, die es auch gab. Das Konzept läuft auf die Vorstellung hinaus, dass verschiedene Erinnerungen zu thematisieren Erinnerung eher in Schwung bringt, als dass sich die verschiedenen Erinnerungen gegenseitig kannibalisieren würden. Das war, glaube ich, ein Bekenntnis in den letzten anderthalb Tagen. Doch gleichzeitig bleibt es in meinen Augen eine Frage von Ressourcen, also Geld, Räumen und so weiter. Ist denn wirklich genug Erinnerung für alle da? Ich bin da eher skeptisch. Zumindest stellt sich die Frage, wie organisieren wir den Prozess? Meron, was meinst du, was ist das Konzept, und wie machen wir weiter? Meron Mendel: Das war kein Zufall, dass wir die Konferenz mit einem „langweiligen“ Thema wie Reparationen beendet haben. Wir wollten nicht nur auf der symbolischen Ebene bleiben, sondern konkret auch über Ressourcen sprechen. Was heißt das, eine Milliarde Euro als „Reparationen“ an Namibia zu zahlen, und wie steht das im Verhältnis zum sogenannten „Wiedergutmachungsabkommen“ mit Israel und der jüdischen Claims Conference in den 1950er-Jahren? Und Geld ist natürlich, gerade in dieser Zeit, nicht überall zu finden und der eine bekommt immer etwas auf Kosten des anderen. Generell zum Konzept der multidirektionalen Erinnerung: Ich war, ehrlich gesagt, überrascht, dass die deutsche Übersetzung des Buches von Rothberg, elf Jahre nach der englischsprachigen Veröffentlichung, so weite Kreise gezogen hat. Omer Bartov hat es auch im Eingangsvortrag gesagt: Es ist eigentlich ein Buch, das so gut wie nichts über deutsche Zustände zu sagen hat. Und für meinen Geschmack ist das Buch nicht besonders gut geschrieben, aber das nur als Randbemerkung. Der Punkt ist, dass wir in Teilen der Gesellschaft genau das, so eine Art von Multidirektionalität oder „sowohl als auch“ in der Erinnerung, schon längst praktizieren. In der Bildungsstätte Anne Frank hatten wir schon 2012 ein Projekt zur Postkolonialität, und wir haben ein Projekt zur Erinnerung von Jugendlichen, die aus dem Iran kommen und deren Eltern dort politisch von dem Regime hingerichtet wurden. Oder zu 100 Jahren Völkermord an Armenierinnen und Armeniern. Diese Ansätze sind schon längst ein Teil der deutschen Erinnerungskultur. Nicht nur in der Bildungsstäte Anne Frank, sondern auch bei vielen anderen Institutionen. Die Frage ist aber, warum das dann immer noch zu wenig im Mainstream-Diskurs rezipiert wird, und das hat, denke ich, weniger mit der Bildungspraxis, sondern viel mehr mit medialen Dynamiken zu tun.

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Eva Berendsen: Frau Lentz, wollen Sie da auch noch ansetzen? Multidirektionale Erinnerung, wie können wir das organisieren? Carola Lentz: Das Konzept finde ich hilfreich, und es beschreibt eigentlich ein zentrales Arbeitsprinzip, das das Goethe-Institut in verschiedenen Projekten umzusetzen versucht hat. Ich nenne kurz drei Beispiele, die alle mit dem Thema „Kolonialismus“ zu tun haben. Das erste Beispiel: ein Projekt zur Erinnerung an die deutsche Kolonialzeit in Afrika. Es begann 2017 und 2018 mit Surveys in allen ehemaligen deutschen Kolonien, durchgeführt von afrikanischen Künstler:innen und Intellektuellen, zur Frage, wie in ihren Ländern bisher mit dem Thema der deutschen Kolonialvergangenheit umgegangen wurde. Dann gab es 2019, nach der Veröffentlichung dieser Berichte, ein Treffen in Kamerun in Yaoundé, wo sich Künstler:innen und zivilgesellschaftliche Akteure aus den ehemaligen deutschen Kolonien ausgetauscht haben. Gesprochen haben vor allem Afrikaner:innen; die anwesenden Deutschen hörten zu. Und das war sehr spannend. Denn die Togolesen haben dabei etwa festgestellt, dass die deutsche Kolonialvergangenheit in Togo ganz anders erinnert wird als in Namibia. Oder die Teilnehmer haben Unterschiede in den Erinnerungspraktiken zwischen Namibia und Tansania konstatiert. Dazu muss man wissen: In Tansania war der Blutzoll der Kolonialverbrechen viel höher als in Namibia; trotzdem ist das Thema bisher in Tansania längst nicht so präsent wie in Namibia. Das Goethe-Institut hat hier also seine internationalen Netzwerke genutzt, um verschiedene Erinnerungspraktiken miteinander ins Gespräch zu bringen. Auch kuratiert wurde das Projekt übrigens von Afrikaner:innen, nicht von Mitarbeitern des Goethe-Instituts. Ein zweites Beispiel, das europäische Erinnerungspraktiken miteinander ins Gespräch brachte, war das Projekt „Nichts vergeht außer der Vergangenheit“ mit Belgien, Portugal, Frankreich und Italien und noch ein paar anderen Ländern. Vor allem Museumskurator:innen fragten hier, wie denn in ihren jeweiligen Ländern eigentlich über die verschiedenen, kolonialen Vergangenheiten nachgedacht wird – also ein innereuropäischer Erfahrungsaustausch. Und das dritte Projekt war ein bilateraler Austausch zwischen Togo und Deutschland mit den Kammerspielen München. In einer großartigen gemeinsamen Theaterproduktion haben hier Schauspieler:innen und Regisseur aus den Kammerspielen gemeinsam mit togolesischen Schauspieler:innen und mit der Beratung durch einen togolesischen Historiker während der Pandemie ein Videoprojekt entwickelt, das inzwischen auch live aufgeführt wurde: „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten.“ Der Titel spielt auf einen Spruch von Franz Josef Strauß an – Schwarz steht auf der deutschen Seite für die CSU; er soll das gegenüber dem Diktator Eyadéma in Togo einmal gesagt haben. Das Stück thematisiert auf kluge Weise aus togolesischer und deutscher Perspektive die Kolonialgeschichte und die aktuellen neokolonialen Verbindungen.

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Das sind drei Beispiele, wie sich Multidirektionalität und Verbindungen praktisch organisieren lassen. Die Frage der Ressourcen, die Eva Berendsen aufwirft, finde ich aber sehr berechtigt. Ich glaube, die genannten Beispiele waren vielleicht nicht so aufwendig, aber natürlich auch punktuelle Formate. Jedenfalls haben sie den Teilnehmern erlaubt, einen Blick darauf zu werfen, wie andere mit einer ähnlichen kolonialen Vergangenheit umgehen. Oder wie einige feststellten: Die Vergangenheit war weniger ähnlich als zunächst vermutet. Ein solcher Blick auf andere Geschichten und Erinnerungspraktiken kann helfen, eigene Erinnerungspraktiken oder auch Dogmen kritisch zu beleuchten und zu fragen: Können wir die öffnen? Können wir die verbreitern? Können wir da noch mehr mit hineinnehmen? Eva Berendsen: Danke. Ich würde gerne dem Publikum die Möglichkeit für Fragen geben. Beitrag aus dem Publikum: Ich möchte dem Ertrag dieser Tagung zustimmen, aber auch noch mal Punkte benennen, die noch offen sind, zumindest einen Punkt. Bei aller Würdigung der Arbeit von Michael Rothberg hat gerade die Diskussion gestern Abend zur documenta fifteen gezeigt, dass es empirisch mit dem Solidaritätswunsch an manchen Stellen einfach nicht weitergeht und die Situation mehr als verfahren ist. Ich schließe hier das an, was ich von Nathan Sznaider gelesen habe und möchte das als Frage ans Podium geben. Zum einen insistiert Sznaider, dass hier unterschiedliche Narrative aufeinanderstoßen: das postkoloniale Narrativ und das, was wir hier verhandelt haben unter dem Stichwort Differenz und Übereinstimmung von Antisemitismus und Rassismus. Im Mainstream einer Mastererzählung [über den Holocaust] wird dann Dialog oder distanzierte Abwägung natürlich erschwert. Die zweite Aussage, die Sznaider in einem Interview getroffen hat, war: Man kann Antisemitismus nicht wegpädagogisieren. Das bringt für alle, die im erziehungswissenschaftlich-pädagogischen Kontext arbeiten, natürlich die Frage mit sich: wo ist die Grenze pädagogischer Interventionen in Hinblick auf die hier diskutierte Problematik? Beitrag aus dem Publikum: Erstmal vielen Dank für diese Tagung. Es war sehr schön, so geballt von vielen Seiten auf das Thema „Erinnerung“ schauen zu können. Ich habe einen Aspekt allerdings vermisst, nämlich die Frage, ob wir nicht alle eine Art von memory literacy entwickeln müssten. Wenn wir das einmal in eine Bildsprache übersetzen: Erinnerung ist ja nicht Dokumentarfotografie, sondern vielleicht Historienmalerei, und wenn wir historische Bilder interpretieren, ziehen wir ja auch nicht immer Historiker hinzu. Wir haben ja Memory Studies als einen Studienschwerpunkt hier in Frankfurt, und mich beschäftigt, ob wir nicht auch Erinnerungen als „mediale Artefakte“ betrachten sollten.

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Eva Berendsen: Frau Lentz, Sie hatten sich zum Stichwort memory literacy gemeldet. Carola Lentz: Vielen Dank. Das ist mir auch als Gedächtnis- und Erinnerungsforscherin durch den Kopf gegangen: Die Akteure, die Erinnerungspolitik machen, bedienen sich immer bestimmter Medien, die ihre je spezifische Eigendynamik haben. Zur Erinnerung, was für unterschiedliche Erinnerungsmedien es gibt, ein paar Beispiele. Wir haben Gedenktage, die eine bestimmte Sorte von Erinnerung wachrufen, weil sie jedes Jahr wieder auftauchen und jedes Jahr neu erklärt werden müssen. Wir haben Denkmäler, die herumstehen und die möglicherweise gar nicht beachtet oder einem ganz anderen Gebrauch unterworfen werden als der, für den sie vielleicht mal ursprünglich gedacht waren – ein Beispiel wäre das Berliner Holocaust-Mahnmal als Fotokulisse und so weiter. Und wir haben natürlich Schriftzeugnisse und Filme und vieles mehr. Ich halte es in der Tat für sehr wichtig, diese Medialität mit zu bedenken, auch wenn wir uns engagieren. Nicht umsonst begann das erwähnte Projekt des Goethe-Instituts mit einem Survey über die verschiedenen künstlerischen Formen und intellektuellen Erzeugnisse, die die Auseinandersetzung mit der Kolonialvergangenheit in den verschiedenen Ländern gefunden hatte. Denn die Medien machen ja etwas mit den Inhalten: Sie sind nicht nur einfach eine Verpackung oder Verschönerung, sondern formatieren die Inhalte; ich kann mit bestimmten Medien nur bestimmte Inhalte und Praktiken anspielen oder auch Empathie erzeugen, mit anderen aber nicht. Zur Frage nach den Grenzen der Pädagogik und der Aussage: „Antisemitismus lässt sich nicht wegpädagogisieren“: Ja, in der Tat, und darum brauchen wir auch eine Verfassung und eine gute Polizei und rote Linien, die bestimmte Fragen sozusagen handfester regeln. Zugleich steht das aber, wie Sie ja auch selbst gesagt haben, nicht im Widerspruch dazu, dass wir trotzdem auch auf allen Feldern pädagogisch aktiv arbeiten müssen. Und was die erste Bemerkung von Sznaider zu den konträren Narrativen angeht: wir können hier wohl nicht ganz tief in die Diskussion einsteigen. Aber vielleicht doch so viel an dieser Stelle: Für mich gibt es nicht das eine postkoloniale Narrativ, sondern vielfältige Argumentationen. Bei der Diskussion über die documenta fifteen gestern Abend hat René Aguigah an einer Stelle sehr treffend gefragt: „The postcolonial space, what the hell do you mean by that?“ In was für einem Raum ist man da? Ich würde dasselbe fragen und jedenfalls für eine Pluralisierung von Perspektiven optieren. Da wird derzeit mit politischer Absicht ein Bild von dem postkolonialen Diskurs und Narrativ entworfen, das meines Erachtens der Vielfalt der Stimmen in diesem Feld – das ja auch stark universitär geprägt ist – in keiner Weise gerecht wird. Wie gesagt: wir können das jetzt hier nicht vertiefen, aber ich würde ich doch meinen Dissens einreichen. Für mich gibt es nicht den Kampf der zwei Großnarrative.

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Beitrag aus dem Publikum: Ich möchte gerne eine Frage stellen, die auch an die Diskussion gestern anschließt und an Omer Bartovs Aussage „Der Holocaust ist singulär für Juden und für Deutsche“. Das impliziert: Für alle anderen nicht. Und Steffen Klävers hat gesagt, so habe ich ihn verstanden, dass es zwar eine Kritik am Begriff der Singularität gibt, aber er hat doch sehr auf die Präzedenzlosigkeit insistiert und dass das auch objektivierbar sei. Und mich hat erschreckt, dass diese wissenschaftliche Erkenntnis der Präzedenzlosigkeit jetzt auch eine Frage der Positionierung wird. Aber vielleicht habe ich das auch nicht richtig verstanden. Daher würde mich interessieren, wie Sie das wahrgenommen haben. Meron Mendel: Ja, ich kann dazu etwas sagen. Es ist eine erstaunliche Beobachtung, dass der Begriff „Präzedenzlosigkeit“ in Bezug auf den Holocaust auf einmal in die Kritik geraten ist. Schauen wir auf ein anderes Ereignis aus dem Zweiten Weltkrieg. Es wäre hier kein Problem, einen Konsens zu finden, dass die Verwendung von Atomwaffen in Hiroshima und Nagasaki in der menschlichen Geschichte präzedenzlos war. Wir können als Historiker oder auch Nicht-Historiker zurückschauen und an bestimmten Punkten sagen: Das war das erste Mal, dass Atomwaffen verwendet wurden. Und wir können auf den Holocaust schauen und sagen: Das war das erste Mal, dass in dieser Form Menschen industriell massenhaft vernichtet wurden. Eine planvolle Vernichtung eines Volkes, das aus der Welt verschwinden sollte, gab es bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Genauso wie die Verwendung von Atomwaffen. Was sind daraus die Implikationen? Was das bedeutet, darüber können wir noch ewig diskutieren. Kann man daraus irgendeinen Anspruch ableiten? Ist das eine Begründung, warum der Staat Israel oder Juden entschädigt werden sollen und die Opfer von Kolonialismus keinen Anspruch auf Entschädigung haben? Die Antwort ist klar: natürlich nicht. Also liegt das Problem nicht in der Feststellung, dass etwas zum ersten Mal stattgefunden hat, sondern das Problem beginnt, wenn man damit einen bestimmten moralischen Anspruch verknüpft. Wir müssen in Erinnerung behalten, dass es immer die faktische Ebene gibt und immer die moralische Ebene, die daraufgelegt wird, und dass jede Generation die Freiheit hat, diese moralischen Ansprüche oder diesen Interpretationsraum wieder neu zu verhandeln. Carola Lentz: Ich würde gern noch einen Aspekt ergänzen, bezogen auf die Frage, warum der Holocaust singulär für Juden und für Deutsche ist. Ich glaube, das hat vielleicht etwas damit zu tun, dass sich bei vielen Deutschen in der erweiterten Herkunftsverwandtschaft in irgendeiner Weise ein Bezug zu Tätern herstellen lässt; es sind also wenige Familien, die nicht in dieser Weise vom Holocaust „betroffen“ sind. Und ich nehme an, das gilt für Israel und viele Juden in Israel auch, jedenfalls für eine starke Mehrheit, die einen biografischen Bezug zu Opfergeschichten hat. Doron Kiesel hat in seinem Vortrag die Herausforderung benannt: Wie sieht das eigentlich für Juden aus, die aus Regionen eingewandert 233

sind, die nicht vom Holocaust betroffen waren; wie verändert sich dadurch die Erinnerungskultur oder wie müsste sie sich verändern? Und auch in Deutschland haben wir Einwanderer ohne direkten Bezug auf den Holocaust. Aber lange Jahrzehnte vor der massiven Einwanderung hätten fast alle Deutschen irgendeine familienbiografische Beziehung zur Tätergeneration herstellen können. Nicht zuletzt dieser Bezug prägt die Erinnerung an dieses singuläre Verbrechen. Dazu kommt, dass die Verbindung zum Holocaust direkter und mit geringerem zeitlichen Abstand zu sein scheint als die zu Kolonialverbrechen, jedenfalls in Deutschland. Dazu kann es auch biografische Bezüge geben, aber ich würde doch denken, dass die Gruppe derer, deren Großväter oder Urgroßväter Teil der deutschen Schutztruppen in den Kolonien waren, kleiner ist. Zur Frage der Besonderheit des Holocaust für die deutsche Erinnerungskultur finde ich auch den Beitrag auf dieser Tagung über Erinnerung in Polen sehr interessant, der auf eine Externalisierungsstrategie verwiesen hat im Sinne von: „Der Holocaust ist nicht Angelegenheit der Polen, sondern das waren die Deutschen.“ Diese Externalisierungschance haben wir Deutschen nicht: Wir können nicht sagen, dass die anderen die Täter waren. Klar, man könnte den Holocaust einer radikalisierten Minderheit zuschreiben und die Mehrheit zu Mitläufern erklären. Trotzdem: Diese Argumentation hat längst an Gewicht verloren, der Holocaust wird wegen der vielen Verbindungen in die Familiengeschichten hinein das deutsche Selbstverständnis und die Erinnerungspolitik immer stark tangieren, auch in ihrer schwierigen Verschränkung mit Israel. Eva Berendsen: Danke. Hier sind noch Wortmeldungen. Beitrag aus dem Publikum: Ich bin aus Amsterdam und bin mit dieser Erklärung zur Singularität nicht einverstanden. Denn auch wir in den Niederlanden waren eingebunden, die niederländische Polizei hat mitgeholfen, die Lokführer, die Züge, die die Juden nach Westerburg und später nach Auschwitz gebracht haben. Es ist also vielschichtiger, als dass es nur eine israelisch-deutsche Geschichte wäre. Carola Lentz: Darf ich da kurz darauf reagieren? Ich meinte Singularität nicht exklusiv. Ich meinte nur, dass sich der Bezug der Deutschen auf den Holocaust doch unterscheidet von unserem Bezug auf, sagen wir zum Beispiel, japanische Kolonialverbrechen in Korea. Da sehe ich dann schon einen Unterschied in der Art der biografischen, familienhistorischen Verwicklung. Die Verwicklungen hören aber nicht bei Deutschland auf, und das war ja auch gerade Gegenstand der Debatten in Polen gewesen: die Frage nach der Mittäterschaft. Insofern stimme ich Ihnen zu. Ich glaube eben nur, dass der Holocaust nicht nur ganz allgemein ein Menschheitsverbrechen von singulärem Ausmaß und spezifischer Dynamik war, sondern dass sich der deutsche Bezug darauf unterscheidet von dem Bezug der Deutschen 234

auf andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit in anderen Weltregionen. Sie könnten auch sagen: der Bezug der Europäer, aber da würden sich andere Europäer sicher dagegen verwahren, dass sie in gleicher Weise impliziert wären. Letztlich ist das eine Debatte, die in jedem Land geführt wird. Eva Berendsen: Danke. Hier ist noch eine Wortmeldung. Beitrag aus dem Publikum: Noch einmal zu memory literacy: ich habe mich gefragt, inwiefern gerade der Anspruch an kulturelle Bildung und Wissensproduktion eine Hürde für einen echten Dialog darstellen könnte. Wo könnte Platz geschaffen werden für Trauerprozesse? Also etwa eine Art von Klageliedern, die dann auch nicht immer politisch korrekt sein müssten. Wie könnte ein Prozess stattfinden, sich mit den Themen und Gedanken auseinanderzusetzen, die vielleicht nicht gerade auf der „richtigen Seite“ stehen, aber erstmal einen Ausdruck finden müssen, damit sie dann hinterfragt werden könnten? Meron Mendel: Also ich muss sagen, ich kann mir vorstellen, was Sie vielleicht meinen, aber ich sehe gerade nicht, wie das sozusagen gesamtgesellschaftlich passieren soll. Trauerprozesse sind immer für diejenigen, die direkt betroffen sind. 1967 haben die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich ihr Werk über die Unfähigkeit zu trauern veröffentlicht. Sie zeigen, dass die Trauer immer unmittelbar ist, also, wenn man direkt betroffen ist. Das können wir schwer als gesamtgesellschaftlichen Prozess verspüren. Carola Lentz: Zum Thema „Trauerprozesse und Rituale“: Für die englische Queen gab es ja gerade ein riesiges Begräbniszeremoniell. Das ist ein interessantes Beispiel, glaube ich, wie eine Zeremonie, die in hohem Maße durch Traditionen – oder genauer: erfundene Traditionen – präformiert ist, extrem wirkmächtig sein kann. Hier hat ein ritualisiertes Gedenken temporär eine Gemeinschaft hergestellt; es hat die verschiedensten Gruppierungen vereint, obwohl sie jeweils andere Assoziationen mit der Queen und ihrem Begräbnis verbinden. Wie in der Medienberichterstattung deutlich wurde, war das, was die Einzelnen oder einzelne Gruppen mit der Queen verbinden, keineswegs identisch. Und dann gab es natürlich auch Stimmen aus den ehemaligen Kolonien, die betont haben, dass es nun endlich, wo die Queen nicht mehr da sei, an der Zeit sei, sich aus dem britischen Commonwealth zu lösen. Ich glaube, das ist gutes Beispiel, wenn man über die Rolle der Medialität für Erinnerungen nachdenkt. Bestimmte Teile des Zeremoniells appellieren wirklich an Gefühle, und Gefühle können durch bestimmte körperliche Rituale hervorgerufen werden. Wichtig sind aber auch die Reden, die bestimmte Erinnerungen evozieren. Und so weiter und so fort. Gerade die Vielschichtigkeit eines solchen Zeremoniells erlaubt verschiedensten Leuten anzudocken und Verbindungen zu 235

ihren eigenen biografischen Erinnerungen herzustellen. Also etwa: „Diese Beerdigung fand damals statt, als ich gerade geheiratet hatte“. Mir stellt sich hier die Frage, ob wir solche komplexen Rituale, die Verbindungen zur eigenen Lebensgeschichte oder Familiengeschichte herzustellen erlauben, auch in Bezug auf vergangene Verbrechen entwickeln können. Das macht vermutlich schon einen gravierenden Unterschied. Bei der Queen ging es ja eher um eine Heldenerinnerung, die positive Identität stiften kann. Aber wie wäre das mit einem negativen Bezug? Das kann mit Märtyrern funktionieren, weil die ja letztlich auch Helden sind. Es kann auch mit Opfern funktionieren, wenn auch anders. Aber wie ist es mit Tätern? Das sind Fragen, zu denen mir weiteres Nachdenken erforderlich scheint. Auch die Frage der Ausdehnung der Betroffenheit als Täter (oder Opfer) müsste man vielleicht noch weiterdenken. Und dann scheint mir eine Frage noch wichtig, die auf dieser Tagung vielleicht zu wenig präsent war: die Frage nach dem kolonialen Erbe und wie sich das in die Erinnerungskultur einschreiben lässt. Der Verweis auf die Medialität der Erinnerung scheint mir aber in jedem Fall wichtig. Es ist wichtig, daran zu denken, dass manches über Wissensvermittlung läuft, aber anderes eben auch nicht. Manchmal stellt sich eine Wissensfrage auch erst, nachdem eine emotionale Anregung geschehen ist. Und nicht zuletzt deswegen sind ja auch künstlerische Formen so wichtig in diesem ganzen Prozess des Erinnerns, weil sie Wissen und Emotionen in besonderer Weise zusammenbringen können. Eva Berendsen: Ich glaube, weiteres Nachdenken, weitere Auseinandersetzung, das sind die richtigen Stichworte jetzt zum Ende. Und lassen Sie mich Ihnen noch ein etwas aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat von Hito Steyrl mitgeben, das bei mir hängengeblieben ist und noch nachschwingt: „Keine Erinnerungskultur ist auch keine Lösung!“

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Die Autor*innen

Felix Axster, Dr. , geboren 1971 in Düsseldorf. Der Historiker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin sowie am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Zuletzt von ihm erschienen: Licht und Schatten? Zur Debatte um Holocaust und koloniale Gewaltverbrechen. In: Matthias Böckmann/Matthias Gockel/Reinhart Kößler/Henning Melber (2022) (Hrsg.): Jenseits von Mbembe – Geschichte, Erinnerung, Solidarität. Berlin, S. 175–189. Omer Bartov, Prof. Dr. phil., born in Israel in 1954, is the Samuel Pisar Professor of Holocaust and Genocide Studies at Brown University. His most recent publications include “Tales from the Borderlands: Making and Unmaking the Galician Past” (Yale University Press, 2022) and “Genocide, The Holocaust, and Israel-Palestine: First-Person History in Times of Crisis” (Bloomsbury Academic, forthcoming in August 2023). Claudia Baumgart-Ochse, Dr. , geboren 1974. Die Projektleiterin des LeibnizInstituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung forscht zum Zusammenhang von Religion, Konflikt und Frieden und ist seit 2018 Redaktionsleiterin des jährlich erscheinenden „Friedensgutachtens“ der vier größten deutschen Friedens- und Konfliktforschungsinstitute. Zuletzt von ihr erschien: „Religion and the United Nations“ in „Handbook on Religion and International Relations“ (Elgar 2021). Eva Berendsen, geb. 1983 in Deutschland. Die Politikwissenschaftlerin leitet die Kommunikationsabteilung der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. Sie ist Mitherausgeberin der Sammelbände „Trigger Warnung. Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen“ sowie „Extrem Unbrauchbar. Über die Gleichsetzungen von links und rechts“ (beide 2019 im Verbrecher Verlag erschienen). Naita Hishoono ist Demokratie-Aktivistin und Politiksoziologien. Seit 2015 ist sie Direktorin des Namibia Institute for Democracy (NID) in Windhoek, Namibia. Schwerpunkt des NID ist die politische Bildungsarbeit in Namibia und Deutschland an Schulen und staatlichen Institutionen. Das NID befasst sich außerdem mit der Aufarbeitung der namibisch-deutschen Vergangenheit und betreibt in beiden Ländern Bildungsarbeit mit politischen Entscheidungsträger*innen. Naita Hishoono ist zudem im Vorstand des African Peer Review Mechanism (APRM). 237

Der APRM ist eine seit 20 Jahren bestehende African Union Initiative, die Regierungsführungen in Afrika vergleicht und auswertet. Steffen Klävers, Dr. phil., geboren 1983 in Deutschland. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft (Komparatistik) und Promotion in der Antisemitismusforschung. Aktuell tätig in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit für das JFDA e.V. Zuletzt von ihm erschienen: „Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung“ (De Gruyter Oldenbourg 2019). Carola Lentz, Prof. Dr. , geboren 1954 in Deutschland. Die Ethnologin ist Seniorforschungsprofessorin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Präsidentin des Goethe-Instituts. Sie ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Seit den 1980er-Jahren forscht sie in Westafrika zu Ethnizität, Nationalismus, Kolonialismus, Erinnerungspolitik und Mittelklassen im globalen Süden. Zuletzt von ihr erschienen: „Remembering Independence” (Routledge 2018) und „Imagining Futures: Memory and Belonging in an African Family” (Indiana University Press 2022). Per Leo, Dr. , geb. 1972 in Deutschland, studierte Neuere und Neueste Geschichte, Philosophie und Slawistik. Er lebt als freier Autor und Schatullenproduzent in Berlin. Nach dem mehrfach ausgezeichneten Romandebüt „Flut und Boden“ (Klett-Cotta 2014) und dem vieldiskutierten Leitfaden „Mit Rechten reden“ (KlettCotta 2017, mit M. Steinbeis u. D.-P. Zorn) erschienen von ihm zuletzt „Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur“ (Klett-Cotta 2021) und „Vorletzte Lockerung. Texte zum Nachleben des Nationalsozialismus“ (Klett-Cotta 2023). Meron Mendel, Prof. Dr. phil., geboren 1976 in Israel. Der Historiker und Pädagoge ist Professor für transnationale Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. Zusammen mit seiner Ehefrau Saba-Nur Cheema schreibt er die Kolumne „muslimisch-jüdisches Abendbrot“ in der FAZ. Zuletzt von ihm erschien: „Über Israel reden. Eine deutsche Debatte“ (Kiepenheuer & Witsch 2023). Wolfgang Meseth, Prof. Dr. phil., geboren 1970 in Deutschland. Der Erziehungswissenschaftler ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Erziehung, Politik und Gesellschaft und Leiter des Lehr- und Forschungsforums „Erziehung nach Auschwitz“ an der Goethe-Universität Frankfurt. Zu seinen Lehr und Forschungsschwerpunkten zählen Unterrichts- und Inklusionsforschung, Erziehung nach Auschwitz, erziehungswissenschaftliche Wissenschaftsfor-

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schung. Zuletzt von ihm erschienen: „Vergessen. Erziehungswissenschaftliche Figurationen“ (Beltz Juventa 2022). Ralf Michaels, Prof. Dr. jur., geboren 1969 in Hamburg, ist Direktor am MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, Inhaber eines Chair in Global Law an der Queen Mary University London sowie Professor an der Universität Hamburg. Zuletzt von ihm erschien: „Die Frühehe im Recht“ (mit Nadjma Yassari, Mohr Siebeck 2021) und „The Private Side of Transforming Our World“ (mit Verónica Ruiz Abou-Nigm und Hans van Loon, Intersentia 2021). Iris Nachum, PhD, geboren 1975 in Österreich. Die Historikerin ist Assistenzprofessorin für Moderne Mitteleuropäische Geschichte und Stellvertretende Direktorin des Jacob Robinson Institute for the History of Individual and Collective Rights an der Hebräischen Universität in Jerusalem. 2023/24 wird sie dem Israel Institute for Advanced Studies angehören. Zuletzt von ihr erschien: „Nationalbesitzstand und „Wiedergutmachung“. Zur historischen Semantik sudetendeutscher Kampfbegriffe“ )Vandenhoeck & Ruprecht 2021). Esra Ozyurek, Prof Dr, born in 1971 in Turkey. She is the Sultan Qaboos Professor in Abrahamic Religions and Shared Values at the Faculty of Divinity, University of Cambridge. She is the author of “Being German, Becoming Muslim: Race, Religion and Conversion in the New Europe” (Princeton University Press 2015) and “Subcontractors of Guilt: Holocaust Memory and Muslim Belonging in Post-War Germany” (Stanford University Press 2023). Ruprecht Polenz, geboren 1946 in Deutschland. Der Jurist war Bundestagsabgeordneter von 1994 bis 2013 und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses von 2005 bis 2013. Seit 2015 ist er Sondergesandter des Auswärtigen Amtes für die Verhandlungen mit Namibia. Mark Terkessidis, Diplompsychologe, Dr. phil, geboren 1966, ist freier Autor. Er forscht zu den Themen Migration, Rassismus und Kolonialismus. Seine letzten Veröffentlichungen: „Wessen Erinnerung zählt. Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute“ (2019, Hoffmann & Campe), „Das postkoloniale Klassenzimmer“ (2021, Aktion Courage); Hrsg. mit Natalie Bayer: „Die postkoloniale Stadt lesen. Historische Erkundungen in Friedrichshain-Kreuzberg“ (2022, Verbrecher). Davide Torrente hat Pädagogik, Politik- und Sozialwissenschaften sowie Interdisziplinäre Migrationswissenschaften studiert. Er arbeitete in unterschiedlichen Forschungskontexten zu Bildungsprozessen in intersektionalen Ungleich239

heitsverhältnissen mit einem Fokus auf Fluchtmigrationserfahrungen sowie die Überschneidung von Rassismus und Männlich*keiten. Er war als Koordinator der Fachkonferenz „Beyond – Towards a Future Practice of Remembrance“ tätig und arbeitet seit 2023 als Mitglied des Promotionskollegs „Intersektionalitätsstudien“ an der Universität Bayreuth an seiner Promotion. Zofia Wóycicka, Dr. , geboren 1976 in Polen. Die Historikerin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Research on Social Memory an der Universität Warschau und Leiterin des Forschungsprojekts “Help Delivered to Jews during World War II and the Transnational Memory in Making”. Sie ist u. a. Autorin von “Arrested Mourning. Memory of the Nazi Camps in Poland, 1944–1950” (Peter Lang 2014). Zusammen mit Magdalena Saryusz-Wolska und Jonna Wawrzyniak ist sie Mitherausgeberin des Sonderheftes von “Memory Studies” Mnemonic Wars (New Constallations 2022). Mirjam Zadoff, Dr. , geboren 1974 in Österreich. Die Historikerin und Kuratorin ist Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München und lehrt am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu ihren aktuellen Publikationen zählen der Katalog „TO BE SEEN. Queer Lives 1900–1950“ (mit Karolina Kühn, Hirmer, 2023) und der Band „,Aus der Erinnerung für die Gegenwart leben‘: Geschichte und Wirkung des Shoah-Überlebenden Ernst Grube“ (mit Matthias Bahr und Peter Poth, Wallstein 2022).

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