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German Pages 388 [425] Year 2022
Gerhard Zenaty Sigmund Freud lesen
Psychoanalyse
Gerhard Zenaty (Dr. phil.) ist Psychoanalytiker und war von 1992 bis 2017 Professor für Geschichte, Politische Bildung und Ethik an der Pädagogischen Hochschule in Linz. Neben der Mitherausgeberschaft der Zeitschrift »texte. psychoanalyse, ästhetik, kulturkritik« publiziert er zur freudschen und lacanschen Psychoanalyse, zur Kulturtheorie und zur Philosophie.
Gerhard Zenaty
Sigmund Freud lesen Eine zeitgemäße Re-Lektüre
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Rudolf E. Mitter Lektorat: Monika Zenaty Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6122-4 PDF-ISBN 978-3-8394-6122-8 https://doi.org/10.14361/9783839461228 Buchreihen-ISSN: 2703-1330 Buchreihen-eISSN: 2703-1349 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Einführung: Sigmund Freud lesen ............................................................. 9 Studien über Hysterie – wie Freud auf die Hysterie kam ....................................... 15 Vorgeschichte ................................................................................. 15 Die Schule des Physikalismus .................................................................. 15 Charcot und die Hysterie ....................................................................... 17 Freud und Breuer .............................................................................. 18 Von Anna O. zu Bertha Pappenheim ............................................................ 20 Der Text ...................................................................................... 20 Zusammenfassung ............................................................................ 37 Der Entwurf: Das Scheitern einer naturwissenschaftlichen Psychologie als Basis für die Erfindung der Psychoanalyse................................................ 39 Aufbau und Funktionieren des »Apparats«...................................................... 41 Die Einführung des »Ich«, das »Befriedigungserlebnis« und seine Folgen ...................... 43 Das »hysterische proton pseudos«, die Selbsttäuschung des Ich ............................... 45 Die Entdeckung des Sprachwesens ............................................................ 47 Zusammenfassung ............................................................................ 48 Mit der Selbstanalyse zur Traumdeutung und zur Geburt der Psychoanalyse................... 51 Der Vorbericht: Freuds Selbstanalyse, seine Beziehung zu Fließ und seine theoretische Entwicklung in den Jahren 1895 bis 1899 ..................................... 51 Die Aufgabe der Verführungstheorie und die Entdeckung des Ödipuskomplexes ......................................................................... 53 Wie Freud zum Traum kommt.................................................................. 57 Das »Jahrhundert«-Werk: der Text der Traumdeutung ......................................... 58 Wie weiter? Zur Resonanz der Traumdeutung und Freuds nächsten Plänen...................... 80 Der Stellenwert der Traumdeutung im Rückblick: Freuds Revision der Traumlehre von 1932 ...................................................... 83 Zusammenfassung ............................................................................ 84
Das Paradigma der Psychosexualität – das Zentrum der freudschen Psychoanalyse ......... 87 Freuds Jahre zwischen der Veröffentlichung der »Traumdeutung« und der Fertigstellung der »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«: Ausklang eines Wunder-Jahrzehnts............................................................ 87 Eine kurze Vorgeschichte: Freuds Sexualtheorie als Manifest der ersten sexuellen Revolution................................................................ 90 Die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie – ein Text mit mehreren Überarbeitungen und multiplen Deutungsmöglichkeiten ......................................................... 92 Zusammenfassung ............................................................................ 114 Zur Einführung des Narzißmus: Ein Wendepunkt in Freuds Denken und Auslöser für eine kontroverse Debatte bis heute ....................................................... 121 Die Ausgangslage: Freuds Entwicklung zwischen 1905 und 1914 – die Kontroversen mit Alfred Adler und Carl Gustav Jung ............................................................. 121 Freud auf dem Weg zu seinem Narzissmus-Konzept: ein Spiegel seiner diesbezüglichen Schriften vor 1914...........................................126 Zur Einführung des Narzißmus (1914) ........................................................... 131 Weiterführung des Narzissmus-Konzepts in Freuds Schriften nach 1914 ........................ 143 Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte von Freuds Narzissmustheorie ..........................150 Zusammenfassung ........................................................................... 153 Technik oder Ethik? Freuds Schriften zur Behandlungspraxis ................................155 Einleitung.....................................................................................155 Freuds frühe technische Beiträge (1890 – 1905)................................................. 157 Der große Wurf? Die behandlungstechnischen Schriften zwischen 1911 und 1915 ................ 163 Freuds spätere Bemerkungen und Schriften zur »Technik«..................................... 177 Zusammenfassung ........................................................................... 188 Die Fallgeschichten, die wie Novellen zu lesen sind .......................................... 191 Einleitung..................................................................................... 191 Dora: ein exemplarisches Scheitern? Jedenfalls eine verstörende Fallgeschichte ............... 192 Der »kleine Hans« – die erste erfolgreiche Kinderanalyse ..................................... 205 Der »Rattenmann« – Freud er-findet die Zwangsneurose ....................................... 216 Der Fall Schreber – Freuds Zugang zur Psychose .............................................. 230 Der Wolfsmann und die Frage der Urszene .................................................... 244 Ein Resümee: Wie lesen wir »Fallgeschichten«?............................................... 255 Jenseits des Lustprinzips – ein Gründertext und seine Folgen................................ 259 Zur Vorgeschichte: Der Erste Weltkrieg, das verworfene Projekt einer Metapsychologie, das Thema des Todes und andere Vorahnungen........................ 259 Jenseits des Lustprinzips – ein Text mit großen Folgen........................................ 265 Eine neue Strukturtheorie und die Weiterführung der neuen Trieblehre ........................ 288 Resonanzen, Kommentare und Weiterentwicklungen .......................................... 301 Zusammenfassung ........................................................................... 306
Freuds Projekt einer Kulturtheorie .......................................................... 309 Freuds Schriften zur Kultur – Addendum oder immanenter Teil der Psychoanalyse? ............ 309 Freuds wichtigste Texte zur Kultur und deren Diskussion und Rezeption ........................ 312 Resümee..................................................................................... 355 Literaturverzeichnis..........................................................................361 Freuds Schriften ..............................................................................361 Freud-Biographien, Gesamtdarstellungen ..................................................... 365 Literatur zu den einzelnen Kapiteln ........................................................... 366
Einführung: Sigmund Freud lesen Retour à Freud (Jacques Lacan) Zurück zu Freuds Texten (Ilse Grubrich-Simitis)
Wozu ein weiteres Freud-Buch? Ist nicht schon alles geschrieben mit den klassisch gewordenen Gesamtdarstellungen von Ernest Jones und Peter Gay, dem Lehrbuch Freud lesen von Jean-Michel Quinodoz von 2011, dem Freud-Handbuch von Hans-Martin Lohmann und Joachim Pfeiffer sowie der kürzlich (2016) erschienenen Freud-Biographie von Peter-André Alt? Meine Erfahrungen in über zwanzig Jahren Ausbildungsseminaren mit angehenden Analytikerinnen und Analytikern1 haben mich etwas anderes gelehrt: Die »Sprachverwirrung« im »Turm zu Babel« (Heim 2020) ist groß. Zwar berufen sich die meisten psychoanalytischen Richtungen von Ichpsychologen über Kleinianern, Lacanianern, Bionianern, Relationalisten, Intersubjektivisten etc. auf Freud; sie tun dies aber aus ihrer je eigenen Perspektive, lesen Freud also durch die eigene Brille. So stellt sich immer wieder die Frage: Wer, welche Schule liest Freud »richtig«? Wo wird Freud mehr ent-stellt als re-konstruiert? Und überhaupt: Ist dies nicht eine Eigenheit der freudschen Psychoanalyse von Anfang an – also beginnend bei Freud selbst – dass jedes »Lesen« zu einer neuen oder anderen Perspektive auf Freud bzw. »die« Psychoanalyse führt? Schon Michel Foucault zählte Freud zu jenen Denkern wie Marx und Nietzsche, die nicht nur Autoren ihrer Werke, ihrer Bücher sind, sondern die noch mehr geschaffen haben, nämlich die Möglichkeit und die Regeln zur Bildung »neuer« Texte. Mit Foucault können wir Freud also als einen der »Diskursivitätsbegründer« der Moderne verstehen, der dazu beitrug, eine letztlich unbegrenzte Öffnung eines Diskurses geschaffen zu haben (vgl. Foucault 1988, 24). Die »Wahrheit« über Freud und die Geburt der Psychoanalyse zu vermitteln ist folglich nicht einfach nur eine Angelegenheit historischer Rekonstruktion, sondern unausweichlich auch eine der nachträglichen Konstruktion und sinngebenden Deutung. Auch wenn wir versuchen, die Texte Freuds historisch-chronologisch zu lesen, sie mit seiner 1
Um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen, werden wir im Folgenden das generische Maskulinum verwenden und wollen damit ausdrücken, dass alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen und gemeint sind.
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Biographie, seinen jeweiligen »Vätern«2 , Lehrern, Gegnern und Freunden zu verknüpfen, sie also im jeweiligen symbolischen Feld zu verorten, werden wir doch nie die »authentische« Psychoanalyse finden. Denn für die Psychoanalyse gilt: Es existiert immer die Kluft zwischen Fakt und Ereignis, zwischen Buchstäblichkeit und Sinn, zwischen Ereignis und Erlebnis. Und: Letzteres ist stets von einer Aura von unterschiedlichen Bedeutungen umkreist, die niemals so etwas wie Eindeutigkeit erlauben. Dies gilt seit Freuds Unterscheidung von bewusst und unbewusst als den zwei psychischen Registern unseres Erlebens. Wie Freud in seinem Brief an Wilhelm Fließ vom 6.12.1896 bekannte, arbeitete er »mit der Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt« (Freud 1985, 217). Um eine solche weitere »Umschrift« handelt es sich demnach unausweichlich bei jeder Freud-Lektüre – so auch bei der folgenden. Wir könnten aber auch noch anders fragen: Welche Art von Lektüre bringt den »echten« Freudianer hervor?! Dazu John Forrester: »Das Rückgrat der Psychoanalyse sind die Leser Freuds, nicht die von der Institution anerkannten Psychoanalytiker. Keine institutionell verankerte Diskurspolizei kann die ›wilde Analyse‹ stoppen, die den Effekt von Freuds Schreiben bildet, und die Konstitution des Lesers ist eine der wichtigsten Leistungen dieser Diskursform…. Ein Freudianer wird man zuallererst, indem man liest. Dieser Umstand unterscheidet die Psychoanalyse von anderen wissenschaftlichen, kulturellen oder politischen Bewegungen« (Forrester 2000, 35). – Vertiefen wir diesen Gedanken: Das Besondere an Freuds Werk ist, dass es kein geschlossenes System darstellt. Es ist keineswegs linear, sondern enthält aufgelöste und unaufgelöste Widersprüche; immer wieder werden wir mit dem Auftauchen neuer Bedeutungen, neuer Perspektiven konfrontiert. Und wichtig erscheint uns: Die später formulierten Thesen widerlegen nicht unbedingt die früheren Auffassungen, sie »heben« diese nicht »auf« (wie das die Hegelsche Methode intendiert). Jede neue Perspektive gibt Anlass zu einer weiteren Konzeptualisierung, die den allgemeinen Diskurs damit erweitert. Wir finden in Freuds Werk nicht zwei Theorien – wie man sich in Anspielung auf die erste und zweite »Topik« zu sagen angewöhnt hat –, sondern eher vielfältige und aufeinanderfolgende Öffnungen: 1900 für die Problematik des Traums, etwas später für die der Triebe, für das Konzept der Psychosexualität, dann für die Übertragung, die Trauer, den Wiederholungszwang, den Todestrieb etc. Und diese vordergründig »klinischen« Befunde und Theorien werden über die Jahrzehnte von Reflexionen, die Kultur, die Religion, die Künste und die Philosophie betreffend, ergänzt und konterkariert. Reflexionen über das Subjekt und die Kultur werden als einander dialektisch bedingend einem gemeinsamen und übergreifenden psychoanalytischen Diskurs zugeordnet. Wie kann man also heute Freud lesen? Soll Freud überhaupt noch gelesen werden? Und wenn ja, dann wie? Am besten, indem man mit ihm in einen Dialog tritt. Dazu ist es notwendig, seine Texte genau, an manchen Stellen Wort für Wort zu lesen. Dann tritt uns die ganze Dynamik seines Denkens entgegen. Wir bemerken, wie bei Freud 2
Sowohl der reale Vater Jakob Freud als auch die übertragenen Väter wie Samuel Hammerschlag, Ernst Brücke, Jean-Martin Charcot oder Josef Breuer als auch die symbolischen Vatergestalten wie Ödipus und Moses sind in Freuds Werk wie bewusste/unbewusste Begleiter abwesend/anwesend.
Einführung: Sigmund Freud lesen
durch die Beantwortung einer Frage neue auftauchen – und wie redlich er in seiner Erörterung und Darstellung ist: Er lässt uns ganz unmittelbar an seinen Zweifeln, seinen Triumphen, seinen neuen Erkenntnissen, aber auch an seinen pessimistischen und zuweilen tragischen Einschätzungen teilnehmen. Dies tut er, indem er auch seine klinische Erfahrung – nicht nur mit seinen Analysanten, sondern auch seine Selbstanalyse – mit zuweilen entwaffnender Offenheit preisgibt. Freud hat einen ganz speziellen Anspruch an seinen Leser. So schreibt er in der Traumdeutung: »Nun muß ich aber den Leser bitten, für eine ganze Weile meine Interessen zu den seinigen zu machen und sich mit mir in die kleinsten Einzelheiten meines Lebens zu versenken, denn solche Übertragung fordert gebieterisch das Interesse für die versteckte Bedeutung der Träume« (Freud 1900, 110). Was für einen Anspruch formuliert Freud hier an uns als Leser? Zunächst: Wir sollen unsere eigenen Interessen zurückstellen, gerade so, wie er dies später vom Analytiker mit der Haltung der »frei schwebenden Aufmerksamkeit« und vom Analysanten mit der »Grundregel« der »freien Assoziation« verlangen wird. Zudem: Wir sollen uns in Freuds Leben »versenken«. Bedeutet dies, dass wir eine grundsätzlich »biographische« Leseperspektive einnehmen sollen? Ja und nein. Zum einen ist es für die Psychoanalyse grundlegend, dass sie die letztlich fiktive Trennung von Subjekt und Objekt der Erkenntnis in Frage stellt. Es darf und muss also nach den subjektiven (und unbewussten) Motiven und Voraussetzungen eines Gedankens gefragt werden. Zum anderen greift eine ausschließlich biographische Lesart zu kurz: Der Nachweis einer persönlichen, möglicherweise unbewussten Identifizierung Freuds mit der Person des Moses erübrigt nicht eine intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit den zentralen theoretischen Annahmen seiner Kulturund Religionstheorie. Sie wird uns jedoch öfters eine Hilfe sein, Freuds Motivierungen besser (aus den Zeitumständen, seiner persönlichen Situation) zu verstehen. Mit unserer Lektüremethode wollen wir aber letztlich noch mehr: Es geht uns vor allem um eine Annäherung an die grundlegenden Botschaften der freudschen »Erzählung«. – Und drittens – und das ist wohl der Kern dieses Appells an den Leser – fordert Freud in obigem Zitat uns auf, in eine »Übertragungsbeziehung« (mit ihm, mit dem Text, mit seinen Aussagen) einzutreten. Im Grunde stellt sich ja bei jedem Lesevorgang, sei er noch so »oberflächlich«, eine Übertragung her. Wir identifizieren uns positiv oder negativ mit dem Autor, bestimmten Sichtweisen und Überzeugungen, verfangen uns unausweichlich im Netz von Abwehr, Widerstand, Identifizierung und Verdrängung. Wir ver- und ent-stellen den Text unweigerlich – und sind als Leser damit in einen psychoanalytischen Prozess eingetreten, was für die Lektüre Freuds ganz speziell gilt. Freud forderte von den Lesern der Traumdeutung also eine spezielle Art des Lesens – eine Lektürepraxis, die später in der Literaturwissenschaft als »close reading« Eingang gefunden hat – und der »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« des Analytikers, dem »close listening«, wie man sagen könnte, entspricht. Immanuel Kant hatte diese Art der Aufmerksamkeit als »interesseloses Wohlgefallen« bezeichnet, mit dem wir Kunstwerken begegnen sollten. Theodor W. Adorno hat dazu ergänzt: »Dem Interesselosen muß der Schatten des wildesten Interesses gesellt sein, wenn es mehr sein soll als nur gleichgültig« (Adorno 1973, 24). Und Freud hatte in seinen Vorlesungen seinen Hörern die Psychoanalyse empfohlen, und zwar »nicht als Therapie …, sondern wegen ihres Wahr-
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heitsgehalts, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen« (Freud 1933a, 169). Freuds Texte zu lesen und zu studieren ist ein einzigartiger Weg, die Psychoanalyse kennenzulernen – neben der Erfahrung einer eigenen Analyse – und beides zusammen wohl das Erkenntnisreichste und persönlich Bereicherndste. Wenn die Lektüre und Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Buch zu einer solchen Selbsterfahrung führt, dann hat der Autor eine seiner »Botschaften« an den Leser gebracht. Der »erste« Leser des freudschen Oevres war übrigens Freud selbst. Und er macht dies auf eine sehr spezielle Weise. Immer wieder, etwa in seinen Vorlesungen, besonders aber in Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, erzählt er uns die Genese »seiner« Psychoanalyse wie einen »Familienroman«, also wie eine konstruierte Genealogie, die das Ziel hat, die manifesten und latenten Konflikte, die Freuds Thesen hervorbrachten bzw. bewirkten, dadurch zu »lösen«, indem er eine Geschichte, eine Erzählung über ihre Anlässe und Ursprünge erfindet. Zentral ist die Erzählung, mit der Freud sein Werk in die Reihe der großen »kopernikanischen« Revolutionen der europäischen Geistesgeschichte einordnet – die Erzählung von den »drei Kränkungen«: die kosmologische durch Kopernikus, die anthropologische durch Darwin – und zuletzt die durch Freud selbst – die tiefe Kränkung des »Ichs«, das nicht einmal »Herr im eigenen Haus« sein soll: »Es ist nichts Fremdes in Dich gefahren; ein Teil von Deinem eigenen Seelenleben hat sich Deiner Kenntnis und der Herrschaft Deines Willens entzogen. Darum bist Du auch so schwach in Deiner Abwehr; Du kämpfst mit einem Teil Deiner Kraft gegen den anderen Teil … Das Seelische in Dir fällt nicht mit dem Dir Bewußten zusammen« (Freud 1917, 10f). Die Verlässlichkeit der Wahrnehmung, die schon bei Kopernikus entscheidend erschüttert worden war, wird von Freud noch einem weiteren Zweifel unterzogen; diesmal gilt der Angriff dem »Ich«, der cartesianischen Gewissheit, auf der das neuzeitliche wissenschaftliche Denken beruhte, der Annahme, dass das Denken immer einem »Ich« oder Selbstbewusstsein zugeschrieben werden kann. Dieses Denken, das eine Identität mit mir selbst garantieren sollte, ist nach Freud mehr und auch anders, als es mein Ich weiß. Die freudsche Kränkung gilt also diesem Ich, das anerkennen soll, dass es auch »gedacht« wird, dass sein Denken Vorstellungen produziert, die als »rätselhafte Botschaften« eines Anderen in mir (vgl. Laplanche 2004), einem unbewussten Denken zugeschrieben werden müssen. Dieses bewusste Ich (sagen wir lieber: dieses Subjekt) ist von unbewussten »Absichten« subvertiert, es wird als prinzipiell gespalten, ambivalent und in seinen Impulsen überdeterminiert konzipiert. Unsere vermeintlichen Gewissheiten sind in Freuds Perspektive häufig das Ergebnis eines Prozesses der »sekundären Bearbeitung« – ein »Wissen«, das vom Nicht-Wissen und vom Nicht-wissen-Wollen unterspült ist. Was bedeutet dies nun für unsere Freud-Lektüre? Wenn wir die zentrale Annahme von der Spaltung des Subjekts (in bewusst und unbewusst) ernst nehmen, dann ist auch unser »Lesen« dieser Dynamik ausgesetzt. Wir »lesen aus«, wir selektieren, in uns wirkt die Zensur, der Widerstand als Ausdruck unserer lieb gewordenen Überzeugungen. Freud zu lesen bedeutet also immer, sich mit diesen eigenen Widerständen auseinandersetzen zu müssen. Das macht die Lektüre anspruchsvoll, aber auch produktiv im eigentlichen Sinne von »Erkenntnis«; freudianisch gesprochen: Bewusstmachen von bislang Unbewusstem. So gesehen ist eine Freud-Lektüre stets »problematisch«: Sie
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führt nicht nur zu »Lösungen«, sondern auch zu »Problemen«. – Oder anders, wiederum mit Freud gesagt: Es gibt neben der »endlichen« die »unendliche« Analyse, auf die der Leser eingeladen wird, sich einzulassen. Es bleibt das Vermächtnis Freuds, für diesen Diskurs eine »Grundsprache« entwickelt zu haben. Und diese soll hier vorgestellt werden. Dementsprechend folgt unsere Freud-Lektüre einer Dreizeitigkeit3 : Der »Anfang« sei gesetzt mit dem Jahr 1896, welches das Todesjahr von Freuds Vater Jakob war, um den sich ein wesentliches Stück von Freuds Selbstanalyse der Folgejahre drehte; genau diese Selbstanalyse war, wie wir noch lesen werden, die Initialerfahrung für Freuds Erfindung der Psychoanalyse, welche in sein erstes großes bahnbrechende Werk Die Traumdeutung4 mündete. – Es sind zwei Texte Freuds aus den späten Dreißiger Jahren – die behandlungstechnische Schrift Konstruktionen in der Analyse von 1937 und das letzte von Freud vollendete Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion von 1939 – die wir als Freuds »Vermächtnis« und damit als zweite »Zeit« situieren wollen. – Die dritte Zeit ist die unsere; die Zeit der nach-freudschen Psychoanalyse mit ihren heterogenen Schulen und Richtungen, der konflikthaften Auseinandersetzung zwischen ihren Denkströmungen und ihren Institutionen, in welcher der meist latente, manchmal explizite Streit darum kreist, wer das Vermächtnis des Begründers der Psychoanalyse, des »toten Vaters«, legitim verkörpert und vertreten darf. – Wir versuchen also in diesem Buch den freudschen Text in diese Perspektive einer Dreizeitigkeit zu bringen und ihn zeitlich einmal von vorne, dann wieder »von hinten« her zu lesen. Durch diese Lektüre im Geiste der Nachträglichkeit wollen wir die permanenten »Umschriften« sichtbarer machen, die schon Freuds Texte selbst kennzeichnen. Kurz zum Aufbau des Buches: Grundsätzlich verfolgen wir eine chronologische Perspektive. Wir beginnen mit den von Freud gemeinsam mit Josef Breuer verfassten Studien zur Hysterie, die Freuds Entwicklung von der Physiologie zur Psychopathologie markieren. Die in diesem Text vorgestellten Falldarstellungen dokumentieren eindrücklich Freuds »technische« Wende von der Hypnose über die Suggestion zur Methode der »freien Assoziation«. – Wir setzen mit Freuds Entwurf einer Psychologie fort; 1895 geschrieben und von Freud »verworfen«, wurde dieser Text erst spät entdeckt und lange kaum rezipiert. Der üblichen Lesart, wonach Freud hier das Projekt einer naturwissenschaftlich-neurologisch fundierten Psychologie verfolgte und daran »scheiterte«, stellen wir eine andere Perspektive entgegen: Freud stößt bei der Analyse des psychischen »Apparats« auf die »Wunschmaschine« und auf die grundsätzliche Bedeutung der Sprache. Zudem finden sich in diesem Text wesentliche Vorwegnahmen seiner späteren Metapsychologie. – Freuds Selbstanalyse wird als Initialereignis für die Entdeckung der Psychoanalyse gelesen und ist die Basis und der Hintergrund für sein wichtigstes Frühwerks Die Traumdeutung. – In den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie von
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Wir übernehmen dieses Konzept der Dreizeitigkeit aus Robert Heims lesenswertem Aufsatz Der symbolische Vater als Revenant. Die Geburt der Psychoanalyse aus dem Geiste des Vaters von 1997. So schrieb Freud anlässlich der 2. Auflage der Traumdeutung aus seiner nachträglichen Perspektive: »Das Material dieses Buches erwies sich mir als ein Stück meiner Selbstanalyse, als meine Reaktion auf den Tod meines Vaters, also auf das bedeutsamste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes« (Freud 1900, X).
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1905 entwickelt Freud sein Konzept der »Psychosexualität«, welches fortan ein Gravitationszentrum seiner theoretischen Ausrichtung darstellt. – Das Folgekapitel widmet sich der Genese, Entwicklung und Weiterentwicklung eines weiteren Basiskonzeptes der freudschen Lehre, der Theorie des Narzissmus. Hier wird auch auf die so genannten »metapsychologischen Schriften« der Jahre 1913 bis 1917 näher eingegangen. – Dann brechen wir mit der chronologischen Perspektive und kommen auf die freudsche »Praxis« zu sprechen. Im ersten diesbezüglichen Kapitel stellen wir die Entwicklung von Freuds Behandlungstechnik vor, von den frühen Konzepten bis zu den letzten diesbezüglichen Überlegungen aus den Jahren 1937 und 1938. Ein Fokus dabei liegt auf der Frage, inwiefern die freudsche Technik nicht ursächlich eine »Ethik« intendiert. – Das Folgekapitel versucht die klassisch gewordenen Falldarstellungen Freuds in der Konfrontation mit wichtigen Positionen der seither dazu verfassten Sekundärliteratur zu diskutieren. – Dann kehren wir zur Chronologie zurück und stellen Freuds »Gründertext« Jenseits des Lustprinzips in seiner Genese und seinen grundstürzenden Folgen für seine Metapsychologie und seine Klinik vor. – Den Abschluss bilden die wichtigsten Texte Freuds zu Fragen der Kultur, der Religion, der Gesellschaft und Politik. Ein wesentlicher Diskussionspunkt dabei ist Freuds Überzeugung, dass eine Psychoanalyse ohne Kulturtheorie »unmöglich« ist. – In allen Kapiteln haben wir den Versuch gemacht, das oben kurz explizierte Konzept der »Dreizeitigkeit« umzusetzen, d.h. Freuds Auffassungen mit konträren Auffassungen aus seinen früheren oder späteren Texten bzw. mit theoretischen Alternativen und Gegenpositionen anderer Analytiker ins Gespräch zu bringen. Vielleicht kann damit ein Beitrag zur Erhellung der »babylonischen Sprachverwirrung« innerhalb der zeitgenössischen Psychoanalyse geleistet werden. – Jedes Kapitel beschließt eine kurze Zusammenfassung.
Studien über Hysterie – wie Freud auf die Hysterie kam Der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen. (S. Freud) Die Hysterie hat dazu beigetragen, Zeit zu gewinnen, den Prozeß der Rationalisierung aufzuhalten, Unzulänglichkeiten zu schaffen – und wenn es sie nicht gegeben hätte, so wäre das Leben auf diesem Planeten vielleicht schon versiegt. (C. v.Braun, Nichtich)
Vorgeschichte Eine kurze Fassung dieser Vorgeschichte könnte in den Worten Lucien Israels so lauten: »Schon 1882 hatte sich Freud für den ›Fall Anna O.‹ interessiert, eine Hysterikerin, von der ihm sein Freund Breuer erzählt hatte. Bei Charcot wird er erneut mit Hysterikerinnen konfrontiert. Dann wieder in seiner eigenen Praxis. Schließlich erscheinen 1895 die ›Studien über Hysterie‹ von Josef Breuer und Freud. Damit ist die Psychoanalyse geboren und mit ihr die psychoanalytische Revolution« (Israel 1983, 17).
Die Schule des Physikalismus Aber beginnen wir langsam: Die erste – und wie wir noch sehen werden – nachhaltige Beeinflussung erfuhr Freud während seines Medizinstudiums und während seiner sechs Jahre am Physiologischen Institut Brückes. Ernst Brücke war einer der führenden Repräsentanten der Helmholtz-Schule: »In den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts galt die Physiologie der Helmholtz-Schule als der überhaupt interessanteste, umfassendste und modernste Zweig der gesamten deutschen Universitätslehre. Als Freud 1873 in Wien mit dem Medizinstudium begann, übte die Physiologie noch immer diese Faszination aus…. galt Brückes Physiologisches Institut nach wie vor als eine sehr aktive, berühmte, ja glanzvolle Ausbildungs- und Forschungsstätte« (Bernfeld 1988, 62).
Studien über Hysterie – wie Freud auf die Hysterie kam Der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen. (S. Freud) Die Hysterie hat dazu beigetragen, Zeit zu gewinnen, den Prozeß der Rationalisierung aufzuhalten, Unzulänglichkeiten zu schaffen – und wenn es sie nicht gegeben hätte, so wäre das Leben auf diesem Planeten vielleicht schon versiegt. (C. v.Braun, Nichtich)
Vorgeschichte Eine kurze Fassung dieser Vorgeschichte könnte in den Worten Lucien Israels so lauten: »Schon 1882 hatte sich Freud für den ›Fall Anna O.‹ interessiert, eine Hysterikerin, von der ihm sein Freund Breuer erzählt hatte. Bei Charcot wird er erneut mit Hysterikerinnen konfrontiert. Dann wieder in seiner eigenen Praxis. Schließlich erscheinen 1895 die ›Studien über Hysterie‹ von Josef Breuer und Freud. Damit ist die Psychoanalyse geboren und mit ihr die psychoanalytische Revolution« (Israel 1983, 17).
Die Schule des Physikalismus Aber beginnen wir langsam: Die erste – und wie wir noch sehen werden – nachhaltige Beeinflussung erfuhr Freud während seines Medizinstudiums und während seiner sechs Jahre am Physiologischen Institut Brückes. Ernst Brücke war einer der führenden Repräsentanten der Helmholtz-Schule: »In den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts galt die Physiologie der Helmholtz-Schule als der überhaupt interessanteste, umfassendste und modernste Zweig der gesamten deutschen Universitätslehre. Als Freud 1873 in Wien mit dem Medizinstudium begann, übte die Physiologie noch immer diese Faszination aus…. galt Brückes Physiologisches Institut nach wie vor als eine sehr aktive, berühmte, ja glanzvolle Ausbildungs- und Forschungsstätte« (Bernfeld 1988, 62).
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Die Grundphilosophie dieser Schule lässt sich mit einem Zitat von Emil Du Bois, einem anderen renommierten Vertreter dieser Richtung, charakterisieren: »Brücke und ich, wir haben uns geschworen, die Wahrheit geltend zu machen, daß im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind, als die gemeinen physikalisch-chemischen« (Du Bois-Reymond 1918, 108). Diese Männer der Helmholtz-Schule vereinte der Entschluss, dem Vitalismus, der Grundüberzeugung ihrer Vorgänger, den Garaus zu machen. Es war dieser Geist, der im Physiologischen Institut herrschte, dem Freud von 1876 bis 1882 angehörte. In Freud hinterließ diese Ausbildung, wie Siegfried Bernfeld schreibt, »einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck« (Bernfeld1988, 65). Noch in seiner Selbstdarstellung von 1925 spricht Freud vom »verehrten Brücke« und vom »glänzenden Fleischl«, von Männern, »die ich respektieren und zu Vorbildern nehmen konnte« (Freud 1925d, 35, 41). – Wie es Brücke in seinem ganzen naturwissenschaftlichen Forschen um das Auffinden eines einheitlichen Ursprungs des Organischen ging, so bemühte sich Freud in seinem ganzen späteren Werk um eine Erklärung der psychischen Phänomene aus einem einheitlichen Prinzip. Im Juli 1882 gab Freud seine Stelle bei Brücke auf und begann seine Tätigkeit am Wiener Allgemeinen Krankenhaus, zunächst in der chirurgischen, dann in der internen Abteilung, schließlich in der psychiatrischen Klinik Gustav Theodor Meynerts. Zu seinen Patienten gehörten nach der damaligen Nomenklatur als unheilbar geltende Geistesgestörte, vornehmlich Demente und Paranoide, auch Epileptiker und Gelähmte. Behandelt wurde wie damals allgemein üblich mit Zwangsjacken und Elektroschock-Therapie. Bis zum Abend war der Assistenzarzt mit seinen Patienten beschäftigt, dann begab er sich ins Labor Meynerts, um hirnanatomische Studien zu treiben. Bernfeld betont, dass Freud mit dieser Veränderung seines Arbeitsfeldes die bei Brücke erworbenen Haltungen aber beibehielt: »In den folgenden zehn Jahren wechselte er weder den Forschungsgegenstand noch die Methode. In gewisser Weise hat er beides nie preisgegeben« (ebd., 71). – Zu Beginn des Jahres 1884 kam Freud in die neurologische Abteilung, wo »Nervenleiden« wie Wahrnehmungsstörungen, Kopfschmerz und Lähmungen behandelt wurden. Hier fühlte sich Freud zum ersten Mal in seiner klinischen Tätigkeit einigermaßen am richtigen Platz. Wenn wir einen Blick auf Freuds Publikationen des Zeitraums von 1877 und 1894 werfen, so sehen wir, dass er mehrere hundert Arbeiten über zoologische, neurohistologische und neuropathologische Fragestellungen verfasst hat. Diese »voranalytischen« Schriften sind, wie Riepe in seiner Analyse dieser Periode in Freuds Schaffen zeigt, ein eindrücklicher Beleg, »dass das in diesen Arbeiten dokumentierte Wissen eine methodische Voraussetzung zur Entwicklung der späteren klinisch-therapeutischen Methode darstellt« (Manfred Riepe 2016, 705f). Am 21.1.1885 stellte Freud sein Habilitationsgesuch – er war also immer noch entschlossen, den Weg einer akademischen Karriere zu beschreiten – sein Habilitationsvortrag Über die Zeit des Weißwerdens der Markfasern am 27. Juni im Hörsaal des Instituts Brückes brachte ihm die gewünschte Anerkennung: Am 9.9.1885 erhielt er die Nachricht, dass er als »Privatdocent für Nervenpathologie an der medicinischen Facultät der Wiener Universität« bestätigt worden sei. Um seine Lehrbefugnis abzusichern, musste Freud fortan in jedem Semester ein Kolleg anbieten, was er bis zum Jahr 1918 über 26 Se-
Studien über Hysterie – wie Freud auf die Hysterie kam
mester hinweg tat. Anfangs ging es um Fragen der Neuroanatomie, dann um Nervenerkrankungen beim Kind, um Neuropathologie, schließlich um Neurosen – ab 1900 dann um die zentralen Themen der Psychoanalyse wie Traum, Sexualität, Metapsychologie. – Erst 1902 bekam Freud den Rang eines außerordentlichen Professors zuerkannt.
Charcot und die Hysterie Dann bot sich eine unerwartete Option – das Angebot eines Reisestipendiums für Nachwuchsmediziner. Dank der Unterstützung Brückes erhielt Freud ein sechsmonatiges Stipendium – und im damaligen Europa gab es nur einen Ort, an dem die neurologische Forschung nach modernsten Methoden stattfand: die Klinik Jean Martin Charcots an der Pariser Salpetrière. So verließ Freud im Oktober 1885 Wien, um an dieser Klinik die Neuropathologie in ihrer avanciertesten Form kennenzulernen. Georges Didi-Huberman charakterisiert diese Klinik so: »Im letzten Drittel des 19. Jahrhundert war die Salpetrière das, was sie immer schon gewesen war: eine Art weiblicher Hölle, eine città dolorosa, viertausend Frauen, unheilbare oder verrückte, waren in sie eingeschlossen. Ein Alptraum in Paris, in nächster Nähe zu seiner ›Belle Époche‹« (Didi-Huberman 1997, 8). Damals pilgerten Mediziner aus aller Welt dorthin. Charcot befand sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Seinen wissenschaftlichen Ruf verdankte er allerdings weniger seiner Arbeit an der Hysterie als für bahnbrechende Entdeckungen auf anderen Feldern wie Multiple Sklerose und Morbus Parkinson. – Die Methoden, die Charcot anwandte, um bei Hysterikerinnen Anfälle zu simulieren, waren von außerordentlicher Rücksichtslosigkeit: Pressen der Eierstöcke, elektrische Schockbehandlung und Suggestion gehörten dazu, auch das morgendliche Vorführen nackter Patientinnen und deren voyeuristische Präsentation im Hörsaal. Die »großen Delirien« mit »schweren Krämpfen« wurden fotografisch dokumentiert. Dies alles gehörte zu einer Behandlungspraxis, die – wie Didi-Huberman rekonstruiert hat – auf männlicher Macht beruhte und weibliche Ohnmacht bestärkte. »Freud war der verwirrte Zeuge dieser immensen geschlossenen Gesellschaft der Hysterie, dieser Fabrikation von Bildern. Seine Verwirrung in den Anfängen der Psychoanalyse soll nicht umsonst gewesen sein« (ebd., 9). – Schauen wir, was Freud aus dieser Charcot’schen Welt für seine weitere Arbeit mitnehmen wird. Charcot gilt in der Wissenschaftsgeschichte als derjenige, der die Hysterie wiederentdeckt hat. Oder sollen wir sagen: wieder-erfunden? Jedenfalls können wir mit DidiHuberman festhalten: »Er hat die Hysterie namhaft gemacht. Er hat sie separiert … kurz, er hat sie als reines nosologisches Objekt isoliert« (ebd., 28). Und dies mit den Mitteln der »experimentellen Methode«, wie sie Claude Bernard definiert hat: »Die experimentale Methode«, schreibt er, »ist nicht Beobachtung, sondern ›provozierte‹ Beobachtung: Das heißt zum einen, die Kunst, Tatsachen zu erheben, zum andern, die Kunst, sie ins Werk zu setzen« (Bernard 1865, 24, zit.n. Didi-Huberman, 29). Wobei im Zentrum der Beobachtungstechnik Charcots nicht so sehr die »Psyche«, also die intime Erzählung des subjektiven Traumas stand, sondern eine präzise und um genaue Klassifikation bemühte
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Studien über Hysterie – wie Freud auf die Hysterie kam
mester hinweg tat. Anfangs ging es um Fragen der Neuroanatomie, dann um Nervenerkrankungen beim Kind, um Neuropathologie, schließlich um Neurosen – ab 1900 dann um die zentralen Themen der Psychoanalyse wie Traum, Sexualität, Metapsychologie. – Erst 1902 bekam Freud den Rang eines außerordentlichen Professors zuerkannt.
Charcot und die Hysterie Dann bot sich eine unerwartete Option – das Angebot eines Reisestipendiums für Nachwuchsmediziner. Dank der Unterstützung Brückes erhielt Freud ein sechsmonatiges Stipendium – und im damaligen Europa gab es nur einen Ort, an dem die neurologische Forschung nach modernsten Methoden stattfand: die Klinik Jean Martin Charcots an der Pariser Salpetrière. So verließ Freud im Oktober 1885 Wien, um an dieser Klinik die Neuropathologie in ihrer avanciertesten Form kennenzulernen. Georges Didi-Huberman charakterisiert diese Klinik so: »Im letzten Drittel des 19. Jahrhundert war die Salpetrière das, was sie immer schon gewesen war: eine Art weiblicher Hölle, eine città dolorosa, viertausend Frauen, unheilbare oder verrückte, waren in sie eingeschlossen. Ein Alptraum in Paris, in nächster Nähe zu seiner ›Belle Époche‹« (Didi-Huberman 1997, 8). Damals pilgerten Mediziner aus aller Welt dorthin. Charcot befand sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Seinen wissenschaftlichen Ruf verdankte er allerdings weniger seiner Arbeit an der Hysterie als für bahnbrechende Entdeckungen auf anderen Feldern wie Multiple Sklerose und Morbus Parkinson. – Die Methoden, die Charcot anwandte, um bei Hysterikerinnen Anfälle zu simulieren, waren von außerordentlicher Rücksichtslosigkeit: Pressen der Eierstöcke, elektrische Schockbehandlung und Suggestion gehörten dazu, auch das morgendliche Vorführen nackter Patientinnen und deren voyeuristische Präsentation im Hörsaal. Die »großen Delirien« mit »schweren Krämpfen« wurden fotografisch dokumentiert. Dies alles gehörte zu einer Behandlungspraxis, die – wie Didi-Huberman rekonstruiert hat – auf männlicher Macht beruhte und weibliche Ohnmacht bestärkte. »Freud war der verwirrte Zeuge dieser immensen geschlossenen Gesellschaft der Hysterie, dieser Fabrikation von Bildern. Seine Verwirrung in den Anfängen der Psychoanalyse soll nicht umsonst gewesen sein« (ebd., 9). – Schauen wir, was Freud aus dieser Charcot’schen Welt für seine weitere Arbeit mitnehmen wird. Charcot gilt in der Wissenschaftsgeschichte als derjenige, der die Hysterie wiederentdeckt hat. Oder sollen wir sagen: wieder-erfunden? Jedenfalls können wir mit DidiHuberman festhalten: »Er hat die Hysterie namhaft gemacht. Er hat sie separiert … kurz, er hat sie als reines nosologisches Objekt isoliert« (ebd., 28). Und dies mit den Mitteln der »experimentellen Methode«, wie sie Claude Bernard definiert hat: »Die experimentale Methode«, schreibt er, »ist nicht Beobachtung, sondern ›provozierte‹ Beobachtung: Das heißt zum einen, die Kunst, Tatsachen zu erheben, zum andern, die Kunst, sie ins Werk zu setzen« (Bernard 1865, 24, zit.n. Didi-Huberman, 29). Wobei im Zentrum der Beobachtungstechnik Charcots nicht so sehr die »Psyche«, also die intime Erzählung des subjektiven Traumas stand, sondern eine präzise und um genaue Klassifikation bemühte
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Sigmund Freud lesen
Beschreibung der Körperzustände, unterlegt durch die zahllosen mit den Mitteln der kurz zuvor erfundenen Technik der Fotographie festgehaltenen Bilder. Freud kannte die hypnotische Technik schon von Josef Breuer – selbst hatte er damit noch nicht praktiziert. Das Verfahren, wie es Charcot anwandte, hatte zwei Ziele: Unter Hypnose sollten die Kranken ihr Leiden »gestehen«, indem sie Einblick in dessen Verursachungen gaben – und durch gezielte Intervention sollte sich die ganz individuelle Art des Anfalls offenbaren. – Auch wenn Freud nach seiner Rückkehr von Paris die Technik der Hypnose nur halb überzeugt und mit mäßigem Erfolg, wie er eingestand, praktizierte, so war auch in seiner modifizierten Technik der »Druckprozedur« das Erbe der Charcot’schen Methode unverkennbar. So schrieb er im Technik-Kapitel der Studien, dass er »es heute nicht mehr entbehren kann«; und das »Bequemste« und »Suggestivste« fand er darin, »daß sich unter dem Drucke meiner Hand jedesmal das einstellt, was ich suche« (Freud 1895a, 287). Für Freud war Charcot der erste, der sich um die Ätiologie der Hysterie kümmerte. Zwar standen auch für Charcot die erblichen Veranlagungen im Vordergrund, aber er war der erste, der die Folgen traumatischer Erfahrungen – durch Missbrauch, Vergewaltigung etc. – anerkannte. Charcot behauptete ja nicht weniger als dass es ihm unter dem Einfluss der Hypnose möglich sei, die »Wiederholung des ersten Mals«, »ein genaues Wiederzeigen des lokalen Shoks«, eben den Ursprung des Traumas aufzudecken (Charcot 1887/88, zit.n. Didi-Huberman, 258). – Dies war eine Spur, die Freud später weiter verfolgen sollte. Wenn die Hypnose als »Erinnerungstechnik« taugt, dann sollte es künftig möglich sein, mit ihrer Hilfe oder von ihr abgeleiteter Techniken diese Erinnerungen systematisch an die Oberfläche zu bringen. So schreibt Freud in Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten: »Entspricht doch das ideale Erinnern des Vergessenen in der Hypnose einem Zustande, in welchem der Widerstand völlig beiseite geschoben wird« (Freud 1914b, 130). Andererseits war es notwendig, dass sich Freud nicht nur von der Technik der Hypnose, sondern auch von der Charcot’schen Fixierung auf das »Bild« lösen würde, um schließlich mittels der Technik der freien Assoziation dem »Wort« die unbedingte Priorität einzuräumen. Freud war jedenfalls von Charcots Arbeit so fasziniert, dass er seine ursprüngliche Intention, seine hirnanatomischen Forschungen in Paris fortzusetzen, aufgab. Im Gespräch mit Charcot erhielt er die Erlaubnis, zwei Texte des Meisters (eine Fallstudie über männliche Hysterie sowie zwei Vorlesungen über Hysterie im Allgemeinen) zu übersetzen. Von deren Aufnahme in Wien wird noch die Rede sein. – Als Charcot 1893 starb, bekundete Freud in seinem Nachruf nach wie vor großen Respekt für dessen Bemühungen um ein tieferes Verständnis der Hysterie.
Freud und Breuer Nach Freuds Rückkehr aus Paris eröffnete er seine eigene Praxis. Am Ostersonntag, dem 25.4.1886, empfing er seine ersten Patienten. Da er zunächst nur wenige Patienten hatte, hatte er Zeit für die noch in Paris begonnene Übersetzung von Charcots Vorlesungen, die er im Juli 1886 fertig stellte. Im Sommer übernimmt er zudem die Leitung der neu eingerichteten Nervenabteilung am Öffentlichen Kinder-Krankeninstitut. – Im
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Beschreibung der Körperzustände, unterlegt durch die zahllosen mit den Mitteln der kurz zuvor erfundenen Technik der Fotographie festgehaltenen Bilder. Freud kannte die hypnotische Technik schon von Josef Breuer – selbst hatte er damit noch nicht praktiziert. Das Verfahren, wie es Charcot anwandte, hatte zwei Ziele: Unter Hypnose sollten die Kranken ihr Leiden »gestehen«, indem sie Einblick in dessen Verursachungen gaben – und durch gezielte Intervention sollte sich die ganz individuelle Art des Anfalls offenbaren. – Auch wenn Freud nach seiner Rückkehr von Paris die Technik der Hypnose nur halb überzeugt und mit mäßigem Erfolg, wie er eingestand, praktizierte, so war auch in seiner modifizierten Technik der »Druckprozedur« das Erbe der Charcot’schen Methode unverkennbar. So schrieb er im Technik-Kapitel der Studien, dass er »es heute nicht mehr entbehren kann«; und das »Bequemste« und »Suggestivste« fand er darin, »daß sich unter dem Drucke meiner Hand jedesmal das einstellt, was ich suche« (Freud 1895a, 287). Für Freud war Charcot der erste, der sich um die Ätiologie der Hysterie kümmerte. Zwar standen auch für Charcot die erblichen Veranlagungen im Vordergrund, aber er war der erste, der die Folgen traumatischer Erfahrungen – durch Missbrauch, Vergewaltigung etc. – anerkannte. Charcot behauptete ja nicht weniger als dass es ihm unter dem Einfluss der Hypnose möglich sei, die »Wiederholung des ersten Mals«, »ein genaues Wiederzeigen des lokalen Shoks«, eben den Ursprung des Traumas aufzudecken (Charcot 1887/88, zit.n. Didi-Huberman, 258). – Dies war eine Spur, die Freud später weiter verfolgen sollte. Wenn die Hypnose als »Erinnerungstechnik« taugt, dann sollte es künftig möglich sein, mit ihrer Hilfe oder von ihr abgeleiteter Techniken diese Erinnerungen systematisch an die Oberfläche zu bringen. So schreibt Freud in Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten: »Entspricht doch das ideale Erinnern des Vergessenen in der Hypnose einem Zustande, in welchem der Widerstand völlig beiseite geschoben wird« (Freud 1914b, 130). Andererseits war es notwendig, dass sich Freud nicht nur von der Technik der Hypnose, sondern auch von der Charcot’schen Fixierung auf das »Bild« lösen würde, um schließlich mittels der Technik der freien Assoziation dem »Wort« die unbedingte Priorität einzuräumen. Freud war jedenfalls von Charcots Arbeit so fasziniert, dass er seine ursprüngliche Intention, seine hirnanatomischen Forschungen in Paris fortzusetzen, aufgab. Im Gespräch mit Charcot erhielt er die Erlaubnis, zwei Texte des Meisters (eine Fallstudie über männliche Hysterie sowie zwei Vorlesungen über Hysterie im Allgemeinen) zu übersetzen. Von deren Aufnahme in Wien wird noch die Rede sein. – Als Charcot 1893 starb, bekundete Freud in seinem Nachruf nach wie vor großen Respekt für dessen Bemühungen um ein tieferes Verständnis der Hysterie.
Freud und Breuer Nach Freuds Rückkehr aus Paris eröffnete er seine eigene Praxis. Am Ostersonntag, dem 25.4.1886, empfing er seine ersten Patienten. Da er zunächst nur wenige Patienten hatte, hatte er Zeit für die noch in Paris begonnene Übersetzung von Charcots Vorlesungen, die er im Juli 1886 fertig stellte. Im Sommer übernimmt er zudem die Leitung der neu eingerichteten Nervenabteilung am Öffentlichen Kinder-Krankeninstitut. – Im
Studien über Hysterie – wie Freud auf die Hysterie kam
September reist er nach Hamburg, um seine künftige Frau zu holen – geheiratet wird am 14.9. im Rathaussaal. Am 15.10.1886 hält Freud vor der Wiener Gesellschaft der Ärzte einen Vortrag – seinen Paris-Bericht. – Er spricht über die männliche Hysterie, über die großen Verdienste Charcots bzgl. der Hysterie und ihrer Symptome. Die Diskussion ist großteils sehr ablehnend. – Warum? Bernfeld kommt hier zu einer nachvollziehbaren Einschätzung: »Und doch galt an jenem 15. Oktober die einmütige Ablehnung nicht so sehr Freud persönlich – dem jungen Privatdozenten, der sich erdreistet hatte, die Großen zu belehren – sondern einem Verräter der Wiener Medizinischen Schule … Von der Universität war er mit einem Stipendium zu Charcot geschickt worden, aber anstatt die beruhigende und von allen erwartete Nachricht mit nach Hause zu bringen, Paris habe Wien in puncto Neurologie nichts zu bieten, war er als glühender Anhänger des Ausländers Charcot zurückgekehrt« (Bernfeld 1988, 189). – Diese Kränkung wirkte auf Freud jedenfalls auch als mächtiger Ansporn, seine in Paris und Nancy gewonnenen Einsichten systematisch weiter zu verfolgen. Die Entwicklung Freuds in den nächsten Jahren lässt sich nur mit Blick auf seine wichtige Freundschaft mit dem Wiener Arzt Josef Breuer verstehen. Auch dieser verkörperte den Typus von Medizinern, wie sie Freud an der Wiener Universität kennen gelernt hatte. Freud war ihm am Brücke-Institut begegnet. – In den meisten Darstellungen der Geschichte der Psychoanalyse wird Breuer als »Wiener Hausarzt« bezeichnet. Er war jedoch viel mehr: »Im Brückeschen Institut ausgebildet, entwickelte er sich zu einem Wissenschaftler und Denker von Rang, einem gläubigen Anhänger der ›physikalistischen Physiologie‹« (ebd., 67). 1889 reiste Freud für einige Wochen nach Nancy, um dort die Möglichkeiten der Technik der »Suggestion«, die er schon bei einem Kurzaufenthalt nach seiner Parisreise dort kennengelernt hatte, zu vertiefen. Die Schule von Nancy (ihr Gründer war Auguste Ambroise Lièbault) stand damals im Ruf, Heilungen von verschiedensten psychosomatischen und psychischen Leiden durch ihre Methode herstellen zu können. »Lièbault hypnotisierte, indem er dem Patienten befahl, ihm in die Augen zu schauen und indem er ihm suggerierte, er werde immer schläfriger; wenn der Patient ein wenig hypnotisiert war, versicherte ihm Lièbeault, er sei von seinen Symptomen befreit« (Ellenberger 1970, 139). 1886 veröffentlichte Hippolyte Bernheim sein Lehrbuch über diese Technik. Es war ein großer Erfolg und machte ihn zum führenden Arzt der Schule von Nancy. Im Widerspruch zu Charcot erklärte er, Hypnose sei kein pathologischer Zustand, der nur bei Hysterikern vorkomme, sondern sie beruhe auf der Wirkung von »Suggestion«. Er definierte Suggestibilität als »die Eignung, einen Gedanken in eine Handlung umzuwandeln, eine Eigenschaft, die alle Menschen in verschiedenem Grad besäßen.« Hypnose, sagte er, »ist ein Zustand erzwungener Suggestibilität, herbeigeführt durch Suggestion« (Bernheim 1886, zit.n. Ellenberger 1970, 140). Freud bewertete diesen Besuch sehr positiv und übersetzte das Buch von Bernheim, das auf deutsch unter dem Titel Die Suggestion und ihre Heilwirkung 1888 erschien.
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Von Anna O. zu Bertha Pappenheim 1895 kommt es dann endlich zur Veröffentlichung der Studien: Zunächst wurde die Vorläufige Mitteilung abgedruckt (1893). Dann folgten: eine Rekonstruktion des Falles Anna O. von Breuer, der als Prototyp einer kathartischen Heilung dargestellt wurde, und vier Fallgeschichten von Freud; die erste davon war der Fall der Emmy von N. (Freuds erste kathartische Behandlung von 1889), gefolgt von den Geschichten der Lucie R., Katharina und Elisabeth von R. (alle drei in der zweiten Hälfte des Jahres 1892 behandelt). Das Buch wurde abgeschlossen durch ein Kapitel über Hysterie-Theorie von Breuer und ein weiteres von Freud über die Psychotherapie der Hysterie. Hier sprach Freud nun offen aus, worin er von Breuer abwich; er sah nur einen möglichen Ursprung der Hysterie: in der Abwehr. In der Geschichte der Elisabeth von R. beschrieb er die neue Methode der ›freien Assoziation‹, die ihm die Patientin nahegelegt hatte« (Ellenberger 1970, 671f.). Von dieser ursprünglichen Ausgabe wurden nur die Beiträge Freuds in die aktuelle Ausgabe des 1. Bandes der Gesammelten Werke aufgenommen, die zwei Beiträge Breuers finden sich im Nachtragsband der Gesammelten Werke. Wir wollen die Fassung der ursprünglichen Ausgabe von 1895 besprechen.
Der Text Die Vorläufige Mitteilung Gehen wir die Sache der Reihenfolge nach an: Im Jänner 1893 erschien die Vorläufige Mitteilung von Breuer und Freud im »Neurologischen Zentralblatt«, welche die beiden Autoren dann nochmals unverändert an den Anfang ihrer Studien über Hysterie von 1895 stellten. Der vollständige Titel war Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Die beiden Autoren erklären zunächst, dass ihre Forschung sich schon »seit einer Reihe von Jahren bei den verschiedensten Formen und Symptomen der Hysterie nach der Veranlassung, dem Vorgange, welcher das betreffende Phänomen zum ersten Male, oft vor vielen Jahren, hervorgerufen hat« (Freud 1895a, 81), beschäftigt. Und sie schließen sich der Ansicht von Charcot an, dass es für die Hysterie ein »veranlassendes Trauma« geben muss. Diese Traumen können »häufig Ereignisse aus der Kinderzeit« (ebd., 82) sein. Aber die Beziehung zwischen »Veranlassung« und Symptomatik ist häufig komplexer: »[...] es besteht nur eine sozusagen symbolische Beziehung zwischen der Veranlassung und dem pathologischen Phänomen, wie der Gesunde sie wohl auch im Traume bildet« (ebd., 83).1 Auch hier wieder eine Bemerkung, die für die spätere Psychoanalyse grundlegend sein wird, nämlich die Auffassung, dass die Grenze zwischen
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Diese Beziehung zwischen »Veranlassung« und »Symptomatik« wird Freud noch intensiv beschäftigen. Im Rahmen seiner »Selbstanalyse« kam Freud auf die Spur einer »psychischen Realität«, die nur bedingt mit den Ereignissen in der äußeren Realität zu tun hat. Diese Spur brachte ihn letztendlich zur Geburt dessen, was wir seitdem »die Psychoanalyse« nennen. – Auf diese Entwicklungen wird im Kapitel über Die Traumdeutung noch näher einzugehen sein.
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Von Anna O. zu Bertha Pappenheim 1895 kommt es dann endlich zur Veröffentlichung der Studien: Zunächst wurde die Vorläufige Mitteilung abgedruckt (1893). Dann folgten: eine Rekonstruktion des Falles Anna O. von Breuer, der als Prototyp einer kathartischen Heilung dargestellt wurde, und vier Fallgeschichten von Freud; die erste davon war der Fall der Emmy von N. (Freuds erste kathartische Behandlung von 1889), gefolgt von den Geschichten der Lucie R., Katharina und Elisabeth von R. (alle drei in der zweiten Hälfte des Jahres 1892 behandelt). Das Buch wurde abgeschlossen durch ein Kapitel über Hysterie-Theorie von Breuer und ein weiteres von Freud über die Psychotherapie der Hysterie. Hier sprach Freud nun offen aus, worin er von Breuer abwich; er sah nur einen möglichen Ursprung der Hysterie: in der Abwehr. In der Geschichte der Elisabeth von R. beschrieb er die neue Methode der ›freien Assoziation‹, die ihm die Patientin nahegelegt hatte« (Ellenberger 1970, 671f.). Von dieser ursprünglichen Ausgabe wurden nur die Beiträge Freuds in die aktuelle Ausgabe des 1. Bandes der Gesammelten Werke aufgenommen, die zwei Beiträge Breuers finden sich im Nachtragsband der Gesammelten Werke. Wir wollen die Fassung der ursprünglichen Ausgabe von 1895 besprechen.
Der Text Die Vorläufige Mitteilung Gehen wir die Sache der Reihenfolge nach an: Im Jänner 1893 erschien die Vorläufige Mitteilung von Breuer und Freud im »Neurologischen Zentralblatt«, welche die beiden Autoren dann nochmals unverändert an den Anfang ihrer Studien über Hysterie von 1895 stellten. Der vollständige Titel war Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Die beiden Autoren erklären zunächst, dass ihre Forschung sich schon »seit einer Reihe von Jahren bei den verschiedensten Formen und Symptomen der Hysterie nach der Veranlassung, dem Vorgange, welcher das betreffende Phänomen zum ersten Male, oft vor vielen Jahren, hervorgerufen hat« (Freud 1895a, 81), beschäftigt. Und sie schließen sich der Ansicht von Charcot an, dass es für die Hysterie ein »veranlassendes Trauma« geben muss. Diese Traumen können »häufig Ereignisse aus der Kinderzeit« (ebd., 82) sein. Aber die Beziehung zwischen »Veranlassung« und Symptomatik ist häufig komplexer: »[...] es besteht nur eine sozusagen symbolische Beziehung zwischen der Veranlassung und dem pathologischen Phänomen, wie der Gesunde sie wohl auch im Traume bildet« (ebd., 83).1 Auch hier wieder eine Bemerkung, die für die spätere Psychoanalyse grundlegend sein wird, nämlich die Auffassung, dass die Grenze zwischen
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Diese Beziehung zwischen »Veranlassung« und »Symptomatik« wird Freud noch intensiv beschäftigen. Im Rahmen seiner »Selbstanalyse« kam Freud auf die Spur einer »psychischen Realität«, die nur bedingt mit den Ereignissen in der äußeren Realität zu tun hat. Diese Spur brachte ihn letztendlich zur Geburt dessen, was wir seitdem »die Psychoanalyse« nennen. – Auf diese Entwicklungen wird im Kapitel über Die Traumdeutung noch näher einzugehen sein.
Studien über Hysterie – wie Freud auf die Hysterie kam
»normal« und »pathologisch« fließend ist, sich viele Phänomene und Mechanismen von Neurose und Psychose auch beim »Gesunden« finden. Die beiden Autoren sprechen in der Folge vom »psychischen Trauma«: »Als solches kann jedes Erlebnis wirken, welches die peinlichen Affekte des Schreckens, der Angst, der Scham, des psychischen Schmerzes hervorruft« (ebd., 84). – Und dann die entscheidende Beobachtung, was die Behandlung dieser Traumen betrifft: »Wir fanden nämlich zu unserer größten Überraschung, daß die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab« (ebd., 85). Hier werden tatsächlich einige der für die spätere psychoanalytische Kur maßgeblichen Prinzipien genannt: Erinnerung (des Verdrängten), und zwar der Vorstellung und der zugehörigen Affekte; Abfuhr des bislang im Unbewussten »Aufgestauten«; durch Worte! Die Spur hin zur Psychoanalyse als »Redekur« scheint gelegt! – Und daher auch die gegenüber Charcot und den bisherigen Theoretisierungen der Hysterie innovative Definition der Hysterie: »der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen« (ebd., 86). Im Folgenden erörtern Freud und Breuer die Wichtigkeit des »Abreagierens«. Hier findet sich dann auch ein zukunftsträchtiger Hinweis auf eine andere Möglichkeit (des »Gesunden«), ein »psychisches Trauma« zu bewältigen, nämlich: »[...] so gelingt es dem normalen Menschen, durch Leistungen der Assoziation den begleitenden Affekt zum Verschwinden zu bringen« (ebd., 88). Bei der Hysterie gelingt diese Art der Abfuhr (Freud wird dies später »Sublimierung« nennen) nicht, es kommt zu einer »Spaltung« des Bewusstseins: »[...] die Neigung zu dieser Dissoziation …, die wir als ›hypnoide‹ zusammenfassen wollen, sei das Grundphänomen dieser Neurose« (ebd., 91). »Grundlage« und »Bedingung« jeder Hysterie sei die »Existenz von hypnoiden Zuständen«, über deren Herkunft die beiden Autoren sich noch uneinig werden sollten. Und schließlich nochmals der Rekurs auf jene Entdeckung, die den beiden Autoren damals offenkundig zentral erschien: Sie sprechen schon ganz modern von einer »Methode der Psychotherapie«, die durch folgendes Prinzip »heilend« wirkt: »Sie hebt die Wirksamkeit der ursprünglich nicht abreagierten Vorstellung dadurch auf, daß sie dem eingeklemmten Affekte derselben den Ablauf durch die Rede gestattet, und bringt sie zur assoziativen Korrektur, indem sie dieselbe ins normale Bewußtsein zieht (in leichter Hypnose) oder durch ärztliche Suggestion aufhebt« (ebd., 97). Den Streitpunkt zwischen Charcot und Bernheim (Hypnose oder Suggestion) lassen die Autoren also offen (beide könnten Recht haben), als das Wesentliche scheint ihnen jedenfalls die »Abfuhr durch die Rede«! Diese Methode werden die beiden in den folgenden Kapiteln der Studien die »kathartische Methode« nennen – und es ist nicht unwahrscheinlich, dass das Bestreben, jetzt, eigentlich 13 Jahre nach dem Ende der Arbeit Breuers mit Anna O., diese Fallgeschichte und mit ihr auch die »Theorie« und »Technik« der Hysterie bzw. Hysteriebehandlung zu publizieren, dadurch motiviert war, dass Breuer als der erste, der die Methode der »Katharsis« angewandt hatte (und nicht Pierre Janet, dessen »Automatisme psychologique 1889 erschienen war), in die Medizingeschichte eingehen sollte (so jedenfalls die These von Ellenberger und Hirschmüller).
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Beobachtung I. Frl. Anna O. Und jetzt die Darstellung der »1. Fallgeschichte der Psychoanalyse« (jedenfalls laut der gängigen Legende, wie sie Ernest Jones in die Welt setzte – unterstützt durch Freud – und perpetuiert über viele Jahrzehnte) – die Behandlung der Berta Pappenheim durch Josef Breuer. Ellenberger diagnostiziert bei seiner Besprechung dieses »Falls« zwei Paradoxa: »Zwischen der Beschreibung der jüdischen Philanthropin und Vorkämpferin der Sozialarbeit Bertha Pappenheim und der Beschreibung von Breuers hysterischer Patientin Anna O. klafft eine tiefe Kluft.« Und: »Von der Geschichte der Anna O. gibt es zwei Versionen, eine, die Breuer 1895 veröffentlicht hat, und die andere von Jones 1953 bekanntgegebene« (Ellenberger 1970, 660). Aber es gibt noch eine Kluft – nämlich jene zwischen dem Bericht, den Breuer nach Abschluss seiner Behandlung 1882 an das Sanatorium in Kreuzlingen schickte (in dem Frau Pappenheim einige Wochen im Sommer dieses Jahres verbrachte), und der Darstellung, die Breuer für die Studien verfasst hat. – Breuers Behandlung der Anna O. fand zwischen 1880 und 1882 statt. Seine »Beobachtung I« ist also eine Rekonstruktion nach dem Gedächtnis, die er vierzehn Jahre später nach, wie er schreibt, »unvollständigen Notizen« vorgenommen hat; wie Ellenberger meint, »noch dazu halb-widerstrebend publiziert, um Freud einen Gefallen zu tun« (ebd., 663). Wie kam es also überhaupt zu diesem Projekt der damaligen engen Freunde Breuer und Freud? Breuer hatte Freud schon vor dessen Parisreise von diesem Fall erzählt – und Freud war offenbar so beeindruckt, dass er in Paris Charcot davon berichtete: »Aber der Meister zeigte für meine ersten Andeutungen kein Interesse, so daß ich nicht mehr auf die Sache zurückkam und sie auch bei mir fallenließ« (Freud 1925d, 44). Als Freud von Paris nach Wien zurückkehrte, bildeten Hysteriker einen wesentlichen Teil seiner Klientel. Und ein guter Teil seiner ersten Patientinnen wurde ihm von Breuer überwiesen. Und Freud begann neben den herkömmlichen Methoden, die er wenig erfolgreich fand, auch mit der Hypnose und Breuers »kathartischer Methode« zu arbeiten. – Der unmittelbare Anlass für dieses Buchprojekt war laut Freud seine Analyse mit Cäcilie M. Freud nennt sie seinen »schwersten und lehrreichsten Fall von Hysterie« (Freud 1895a, 245), den er mit Breuer intensiv diskutierte, welchen er jedoch »durch persönliche Umstände verhindert« nicht ausführlich mitteilen konnte (ebd., 123); trotzdem »war die Beobachtung dieses merkwürdigen Falles in Gemeinschaft mit Breuer der nächste Anlaß zur Veröffentlichung unserer ›vorläufigen Mitteilung‹« (ebd., 247). Der Schreibprozess der beiden ist am besten nachvollziehbar über Freuds Briefe an Wilhelm Fließ. Im Brief vom 28.6.1892 kündigt Freud an, »daß Breuer sich bereit erklärt hat, die Theorie vom Abreagieren und unsere sonstigen gemeinsamen Witze über Hysterie auch gemeinsam zum öffentlichen ausführlichen Ausdruck zu bringen« (Freud 1950, 59). Am 12.7.1892 berichtet er: »Wir schreiben das Ding zusammen, jeder für sich mehrere Abschnitte, die er signiert, aber doch in vollstem Einvernehmen. Man kann noch gar nicht sagen, was dabei herauskommen wird« (ebd., 60). Und pünktlich im Mai 1895 sind die Studien dann erschienen. – Aber jetzt zu Breuers Bericht.2 2
N steht im Folgenden für den Nachtragsband, in dem die zwei Texte Breuers abgedruckt sind.
Studien über Hysterie – wie Freud auf die Hysterie kam
Anna O. wurde 1859 in Wien als drittes Kind geboren. Obwohl sie aus einem Haus mit jüdischer Tradition kam, wurde sie auf eine katholische Schule geschickt. Über ihre Kindheit und Jugend weiß man praktisch nichts, außer dass sie erzogen wurde, wie es damals für Mädchen aus gutbürgerlichem Hause üblich war. Breuer schildert Annas Charakter (er lernte sie 1880 kennen) als intelligent, gütig und mitleidend. Ihre ganze Fürsorge habe sie Armen und Kranken geschenkt, »da sie dadurch einen starken Trieb befriedigen konnte« (Breuer 1895, N 221). Die Eltern werden als »nervös gesund« bezeichnet. Anna selbst litt in diesen Jahren an starken Stimmungsschwankungen, als Ausgleich begab sie sich in ihr »Privattheater«, ein intensives Tagträumen. Breuer betont auch, dass das »sexuale Element« bei ihr »erstaunlich unentwickelt« war. Im Juli 1880 erkrankte Annas Vater, vermutlich an einem Lungenabszess. Anna pflegte ihn mit Hingabe, doch begann sie bald anorektisch zu werden. Sie magerte so stark ab, dass man ihr schließlich die Pflege des Vaters verbot. Sie reagierte auf dieses Verbot mit Hustenanfällen, für deren Heilung Breuer gerufen wurde. (»[...] allmählich aber wurde ihr Zustand von Schwäche, Anämie, Ekel vor Nahrung so schlimm, daß sie zu ihrem größten Schmerze von der Pflege des Kranken entfernt wurde. Den unmittelbaren Anlaß bot ein höchst intensiver Husten, wegen dessen ich sie zum ersten Male untersuchte. Es war eine typische Tussis nervosa« (ebd., 222f.). Breuer diagnostizierte also offenbar ohne zu zögern einen nervösen Husten, den wir heute als hysterisches Konversionssymptom bezeichnen könnten; war doch dieser Husten nicht ohne Bezug zur Lungenkrankheit des Vaters. Von nun an entwickelte Anna eine vielfältige hysterische Symptomatik, mit Lähmungen des Halses, Kopfschmerzen, Kontrakturen der rechten Körperhälfte und diverse Störungen ihres Sehsinnes. Betont hat Breuer in seiner Beschreibung ihre Sprachstörungen, die am Höhepunkt in ein völliges »Vergessen« der Muttersprache mündete. Dazu kamen angstbesetzte Halluzinationen; z.B. sah sie Schlangen: »Dann verlor ihr Sprechen alle Grammatik, jede Syntax … In weiterer Entwicklung fehlten ihr auch die Worte fast ganz, sie suchte dieselben mühsam aus vier oder fünf Sprachen zusammen« (ebd., 224). Aber Breuer hatte in diesen Wochen auch eine bahnbrechende Entdeckung gemacht: »Hier wurde nun zuerst der psychische Mechanismus der Störung klar. Sie hatte sich, wie ich wußte, über etwas sehr gekränkt und beschlossen, nichts zu sagen. Als ich das erriet und sie zwang, davon zu reden, fiel die Hemmung weg, die vorher auch jede andere Äußerung unmöglich gemacht hatte« (ebd.). Am 5.4.1881 stirbt »der von ihr vergötterte Vater… Es war das schwerste psychische Trauma, das sie treffen konnte« (ebd., 225). Nach zwei Tagen in tiefer Depression treten die oben genannten Symptome verschärft auf – vor allem ihre Anorexie. Breuer kommt jetzt mehrmals täglich – und füttert sie eigenhändig. Anna spricht nur mehr Englisch. In diesen Wochen »erfindet« Breuer – oder sollten wir nicht gerechterweise sagen: Anna – die »talking cure«: Nachdem Breuer seine Patientin in Hypnose versetzt, erzählt sie ihm ihre Phantasien. Das bringt ihr spürbare Erleichterung. »[...] die Erleichterung und Behebung des Reizzustandes durch die Aussprache in der Hypnose … wie vollständig die Befreiung ihrer Psyche war, nachdem sie, von Angst und Grauen geschüttelt, alle diese Schreckbilder reproduziert und ausgesprochen hatte… für welche Prozedur sie den guten, ernsthaften Namen ›talking cure‹ (Redekur) und den humoristischen
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›chimney sweeping‹ (Kaminfegen) erfunden hatte« (ebd., 228f.). Wenn es gelang, das »Ende« einer solchen »Rekonstruktion« eines Symptoms zu erreichen, verschwand das betreffende Symptom. – Das wird Breuer dann seine »kathartische Methode« nennen. Breuer beschreibt diese bahnbrechende Erfahrung so: »Als das erstemal durch ein zufälliges, provoziertes Aussprechen in der Abendhypnose eine Störung verschwand, die schon länger bestanden hatte, war ich sehr überrascht… Aus diesen Erfahrungen … entwickelte sich eine therapeutisch-technische Prozedur, die an logischer Konsequenz und systematischer Durchführung nichts zu wünschen ließ. Jedes einzelne Symptom dieses verwickelten Krankheitsbildes wurde für sich genommen; die sämtlichen Anlässe, bei denen es aufgetreten war, in umgekehrter Reihenfolge erzählt … nach rückwärts bis zu der Veranlassung des erstmaligen Auftretens. War dieses erzählt, so war das Symptom damit für immer behoben. So wurden die Kontrakturparesen und Anästhesien, die verschiedensten Seh- und Hörstörungen, Neuralgien, Husten, Zittern u. dgl. und schließlich auch die Sprachstörungen ›wegerzählt‹« (ebd., 233). Und noch eine interessante Beobachtung berichtet uns Breuer: »Es geschah auch hier, was regelmäßig zu beobachten war, während ein Symptom ›abgesprochen‹ wurde: dieses trat mit erhöhter Intensität auf, während es erzählt wurde« (ebd., 235). Dieses Phänomen wird von Freud an späterer Stelle in den Studien (Freud 1895a, 301) ausführlich erörtert und als »Mitsprechen des Symptoms« bezeichnet. So arbeiten sich Anna O. und Breuer durch ihre Geschichte, von der Gegenwart rückwärts: »[...] und jedes Symptom war, wie geschildert, nach der Erzählung des ersten Anlasses verschwunden. Auf diese Weise schloß auch die ganze Hysterie ab« (Breuer 1895, 238). – Breuer ging also davon aus, dass diese Erkrankung oder jedenfalls jene Teile davon, die er als »hysterisch« ansah, durch diese Arbeit »abreagiert« war. So kam die »letzte Stunde«, wie sie von Anna schon länger anvisiert worden war: »Die Kranke hatte sich selbst den festen Vorsatz gebildet, am Jahrestag ihrer Transferierung auf das Land (7. Juni) müsse sie mit allem fertig sein. Am letzten Tage reproduzierte sie mit der Nachhilfe, daß sie das Zimmer so arrangierte, wie das Krankenzimmer ihres Vaters gewesen war, die oben erzählte Angsthalluzination, welche die Wurzel der ganzen Erkrankung gewesen war … sprach unmittelbar darauf Deutsch und war nun frei von all den unzähligen einzelnen Störungen, die sie früher geboten hatte. Dann verließ sie Wien für eine Reise, brauchte aber noch längere Zeit, bis sie ganz ihr psychisches Gleichgewicht gefunden hatte. Seitdem erfreut sie sich vollständiger Gesundheit« (ebd.). Abschließend kommt Breuer zur »Erklärung« des ganzen: »Als disponierend zur hysterischen Erkrankung finden wir bei dem noch völlig gesunden Mädchen zwei psychische Eigentümlichkeiten: 1. den in monotonem Familienleben und ohne entsprechende geistige Arbeit unverwendeten Überschuß von psychischer Regsamkeit und Energie, der sich in fortwährendem Arbeiten der Phantasie entladet und 2. das habituelle Wachträumen (›Privattheater‹) erzeugt, womit der Grund gelegt wird zur Dissoziation der geistigen Persönlichkeit« (ebd., 239). Die Behandlung endet also im Juni 1882. Breuer erklärt uns in den Studien, dass Anna geheilt war. – Beides ist so sicher nicht richtig. – Und auch die Erzählung, die uns Ernest Jones für dieses »Ende« anbietet, hält dem aktuellen Wissenstand nicht stand.
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Jones schildert dieses Ende – unter Berufung auf Aussagen Freuds – so: Breuer wäre in immer intensivere Gegenübertragungsgefühle gekommen, die »hysterische Geburt« Annas in ihrer letzten gemeinsamen Stunde hätte ihn in Verbindung mit den wachsenden Eifersuchtsszenen seiner Frau in die Flucht getrieben (vgl. Jones 1953, 267f) – genauer: in eine »zweite Hochzeitsreise« mit letzterer nach Venedig. Auf dieser Reise sei ein kleines Fräulein Breuer gezeugt worden. – Dazu erfahren wir von Albrecht Hirschmüller, der Quellen studieren konnte, die Jones so nicht zur Verfügung standen, Folgendes: »Auch war er im Sommer 1882 nicht in Venedig, sondern mit seiner Familie in Gmunden am Traunsee. Außerdem paßt das Geburtsdatum von Dora Breuer (11.3.1882) nicht zu der Geschichte« (Hirschmüller 1978, 173). Hirschmüller hat aus verschiedenen Quellen, u.a. den Aufzeichnungen der Kreuzlinger Klinik, herausgefunden, dass Anna O. vom 12.7. bis 29.10. dieses Jahres in der dortigen Klinik stationär war und »gebessert« entlassen wurde. Dann begann sie eine Ausbildung als Krankenpflegerin in Karlsruhe. Im Jänner 1883 kehrte sie nach Wien zurück. Über die folgenden 5 Jahre weiß man nur, dass sie drei Mal jeweils für mehrere Monate im Sanatorium in Inzersdorf verbracht hat. Als Diagnose war immer »Hysterie« angegeben. »Mit alle dem ist jetzt bewiesen, daß Bertha in der Tat noch Jahre nach Breuers Behandlung um ihre Gesundheit gerungen hat… Außerdem ist nunmehr klar – und das scheint mir wichtig – daß Breuer über die weitere Entwicklung der Patientin orientiert war ... Er hat also in voller Klarheit der wenig befriedigenden Entwicklung nach dem Abschluß seiner Behandlung die Darstellung in den Studien geschrieben, die den Eindruck einer vollständigen Genesung seiner Patientin erweckt…. Will man Breuer nicht unlautere Motive unterstellen, so bleibt meines Erachtens als einzig mögliche Erklärung hierfür, daß Breuer keinen Zusammenhang zwischen der schweren Neuralgie und den übrigen Symptomen gesehen hat und deshalb davon ausging, daß die einer Psychotherapie zugänglichen Teile der Hysterie durch seine Behandlung weitgehend beseitigt wurden« (Hirschmüller 1978, 157). So bleibt also zu dieser Breuerschen Konstruktion des Endes der Behandlung die Sicht, die Hirschmüller so zusammenfasst: »Die Freud-Jones-Version vom Ende der Behandlung der Anna O. ist als eine Legende zu betrachten, die sich unter dem Eindruck der Fortschritte der psychoanalytischen Lehre über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten gebildet und verfestigt hat, und die wie die meisten Legenden neben Irrtümern und Halbwahrheiten einen richtigen Kern enthält« (ebd., 176).3 Werfen wir noch ein Blick auf Anna O’s beeindruckendes weiteres Leben: Sie geht 1888 nach Frankfurt, beginnt zunächst eine rege literarische Tätigkeit (z.B. verfasst sie ein Schauspiel »Frauenrecht«, eine Übersetzung der »Verteidigung der Rechte der Frau« aus dem Englischen, zahlreiche Zeitschriftenartikel, eine ganze Reihe von Märchen). In der Folge engagiert sie sich in der jüdischen Sozialarbeit, 1897 wird sie die Leiterin des dortigen jüdischen Waisenhauses. Sie kümmert sich um die Berufsausbildungsmöglichkeiten jüdischer Mädchen, um »gefährdete Mädchen« und uneheliche Mütter 3
Auch Henri Ellenberger kommt zu einer ähnlichen Einschätzung dieses Entstehungsmythos der Psychoanalyse: »Es ist wahrhaft paradox, dass die nicht erfolgreiche Behandlung der Anna O. für die Nachwelt zum Prototypen einer kathartischen Heilung geworden ist« (Ellenberger 1970, 667).
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und deren Kinder, um die Bekämpfung des Mädchenhandels, um Frauenrechtsfragen, Organisatorisches, um religiöse Belange und vieles mehr. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie sich in der deutschen jüdischen Frauenbewegung eine führende Stellung erworben. 1904 rief sie erstmals eine überregionale Organisation ins Leben, den ›jüdischen Frauenbund‹, dessen langjährige Vorsitzende sie war. »Bertha hatte sich zur Feministin entwickelt – ein Weg, den viele von Freuds ›hysterischen‹ Patientinnen gingen« (Appignanesi, Forrester 1992, 112). Sie starb 1936. Wie Lucien Israel im Rückblick feststellt, ist das »Helfen« ihre entscheidende Bestimmung geworden: »Ein besonders auffallendes Element ist die Hingabe. Bertha ergreift Partei für die Schwachen und Unterdrückten. Sie ist Ritter, Gerichtsherr und Weltverbesserer. Absichtlich verwende ich für diese Begriffe die männliche Form, denn es gibt bei ihr ganz sicher eine Rivalität mit dem Mann ... Was sie bekämpft, ist die Ausbeutung der Frau durch den Mann« (Israel 1983, 217). – Bedenkenswert auch die Überlegung, die Appignanesi und Forrester anstellen: »Es lässt sich nicht feststellen, ob ihre Behandlung bei Breuer die Grundlage für ihr späteres Leben schuf oder ein Hindernis war. Anna O. und Bertha Pappenheim sind so verschieden wie die Raupe und der Schmetterling« (ebd., 114). – Wenn wir die Rolle, die Freud und Jones Breuer und Anna O. zuwiesen, in Frage stellen, dann bleibt freilich immer noch die Frage, welche Funktion wir heute dieser Frau und ihrem Arzt zuschreiben können. Vielleicht können wir sagen, dass es ohne diese Frau, ohne Patientinnen wie sie, die ihre »Behandlung« ein Stück weit selbst in die Hand nahmen, aber auch nicht ohne ihren Arzt, der die Hypnose nicht nur zur plumpen Suggestion benutzte wie Charcot, sondern als einen Weg zu den pathogenen traumatischen Erlebnissen suchte, die Psychoanalyse nicht gegeben hätte. Lassen wir Freud (in einem Brief an Sandor Ferenczi) in dieser Angelegenheit vorläufig das letzte Wort: »Die kathartische Therapie der Hysterie, die Vorläuferin der Psychoanalyse, war die gemeinsame Entdeckung einer genialen Kranken und eines verständnisvollen Arztes« (Freud an Ferenczi, 11.März 1914. Freud, S., Ferenczi, S. 1993, 291).
Freuds erste Fallgeschichte: »Frau Emmy v. N., vierzig Jahre, aus Livland« Wir wollen diesmal mit dem Ende von Freuds Darstellung beginnen. In einer Fußnote, die Freud 1924 diesem Text anfügte, schreibt er: »Ich weiß, daß kein Analytiker heute diese Krankengeschichte ohne ein mitleidiges Lächeln lesen kann. Aber man möge bedenken, daß es der erste Fall war, in dem ich die kathartische Methode in ausgiebigem Maße anwendete« (Freud 1895a, 162). Das klingt, als würde sich eine Lektüre dieser Fallgeschichte gar nicht mehr lohnen. Aber eine aufmerksame Re-Lektüre zeigt, dass hier eine ganze Reihe von folgenreichen Einsichten erstmalig festgehalten wurden. Zunächst: Wer war diese Frau, die Freud, um ihre Anonymität zu schützen, Emmy v. N. nennt? Auf dem IPA-Kongress 1965 in Amsterdam stellte die schwedische Historikerin Ola Andersson die Identität dieser Frau vor. Es handelt sich um Fanny Moser, die 1848 geboren, eines von dreizehn Kindern aus einem alten deutsch-schweizerischen Adelsgeschlecht war. In dieser Familie gab es viele Krankheiten und Todesfälle. So waren vier ihrer Geschwister gestorben, bevor Fanny geboren war. Zwischen ihrem zweiten und sechsten Lebensjahr starben zwei weitere Geschwister, als Freud sie behandelte,
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lebten nur mehr drei Geschwister. Mit dreiundzwanzig heiratete sie einen sehr wohlhabenden Fabrikanten, der etwa vierzig Jahre älter war als sie. Dessen Kinder aus erster Ehe behandelten sie offenbar als Eindringling. Dennoch schien diese Ehe glücklich. Fanny gebar 1872 und 1874 zwei Töchter. Wenige Tage nach der zweiten Geburt starb Fannys Ehemann an Herzversagen. Dessen Söhne beschuldigten Fanny, ihn vergiftet zu haben. Hintergrund dieser Unterstellung war die Tatsache, dass Fanny und ihre Töchter einen großen Teil des riesigen Vermögens geerbt hatten. Fanny zählte jetzt zu den reichsten Frauen Europas, aber ihr Ruf blieb skandalumwittert. Sie wurde zu einer Exzentrikerin und Kunstmäzenin. »1887 übersiedelte sie in ein Schloß an einem Schweizer See und lebte dort bis an ihr Lebensende in feudalem Stil mit einem ganzen Hofstaat von Gästen und Mitbewohnern« (Appignanesi, Forrester 1992, 131). Elisabeth Roudinesco und Michel Plon bezeichnen das Leben dieser Frau als »eine Mischung aus einer Kriminalgeschichte und einem Roman von Balzac« (Roudinesco, Plon 1997, 695). 1889 reist diese Frau nach Wien, um sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Seit dem Tod ihres Gatten war sie ständig krank, sie litt an Depressionen und Schlaflosigkeit, wurde von Schmerzen, Tics und Halluzinationen gequält. Zu Freud kam sie über Empfehlung Breuers, den wir auch als »Supervisor« Freuds bei dieser Behandlung betrachten können, die insgesamt sieben Wochen dauerte. Freud beginnt seine Darstellung so: »Am 1. Mai 1889 wurde ich der Arzt einer etwa vierzigjährigen Dame, deren Leiden wie deren Persönlichkeit mir so viel Interesse einflößten, daß ich ihr einen großen Teil meiner Zeit widmete. Sie war Hysterika, mit größter Leichtigkeit in Somnambulismus zu versetzen, und als ich dies bemerkte, entschloß ich mich, das Breuersche Verfahren der Ausforschung in der Hypnose bei ihr anzuwenden. Es war mein erster Versuch in der Handhabung dieser therapeutischen Methode« (Freud 1895a, 99). Und schon auf der zweiten Seite kommt Freud auf jene Szene zu sprechen, die zum Mythos, Freud sei während dieser Behandlung zum »Psychoanalytiker« geworden, wesentlich beigetragen hat. »Um so befremdender ist es, daß sie alle paar Minuten plötzlich abbricht, das Gesicht zum Ausdrucke des Grausens und Ekels verzieht, die Hand mit gespreizten Fingern gegen mich ausstreckt und dabei mit veränderter angsterfüllter Stimme die Worte ruft: ›Seien Sie still – reden Sie nichts – rühren Sie mich nicht an‹« (ebd., 100)! Im Gegensatz dazu, was Freuds Interpreten häufig aus dieser Szene gemacht haben (Freud sei durch diese Aufforderung von seiner aktiven, invasiven Art des »Behandelns« und Fragens abgekommen und hätte künftig seine Patienten zum freien Assoziieren« eingeladen), deutet Freud diese Szene so: »Sie steht wahrscheinlich unter dem Eindrucke einer wiederkehrenden grauenvollen Halluzination und wehrt die Einmengung des Fremden mit dieser Formel ab« (ebd., 100). – Freud ahnt also schon etwas vom Phänomen, das er bald »Übertragung« nennen wird. Jedenfalls kommt die »Analyse« in Gang und Freud erfährt nach und nach (er arbeitet täglich mit Emmy) ihre »Traumen«. Eines davon ist die Szene, in welcher Emmy als Fünfzehnjährige ihre Mutter nach einem Schlaganfall auf dem Boden liegend vorfand. Die Mutter lebte dann noch vier Jahre; als Emmy eines Tages nach Hause kommt, findet sie diese tot. Und es gelingt Freud offenkundig, auch die »traumatischen« Erlebnisse, welche hinter der oben genannten Formel stehen, ins Sprechen zu bringen. »[...] die Mahnung: ›Rühren Sie mich nicht an‹ komme von folgenden Erlebnissen: Wie ihr Bru-
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der vom vielen Morphin so krank war und so gräßliche Anfälle hatte, habe er sie so oft plötzlich angepackt; dann sei einmal ein Bekannter in ihrem Hause plötzlich wahnsinnig geworden und habe sie am Arme gefaßt; (ein dritter ähnlicher Fall, an den sie sich nicht genauer besinnt) und endlich, wie ihre Kleine so krank gewesen (mit achtundzwanzig Jahren), habe sie sie im Delirium so heftig gepackt, daß sie fast erstickt wäre« (ebd., 109). Als nachhaltigste Wirkung rekonstruiert Freud den Tod ihres Mannes in Verbindung mit der Geburt der zweiten Tochter: »Wie dann kurze Zeit darauf, als sie im Wochenbette mit der Kleinen lag, der Mann, der an einem kleinen Tische vor ihrem Bette frühstückte und die Zeitung las, plötzlich aufstand, sie so eigentümlich ansah, einige Schritte machte und dann tot zu Boden fiel… Und wie das Kind, das damals einige Wochen alt war, so krank geworden und durch sechs Monate krank geblieben sei, während welcher Zeit sie selbst mit heftigem Fieber bettlägerig war; – und nun folgen chronologisch geordnet ihre Beschwerden gegen dieses Kind« (ebd., 113). Emmy v.N. und Freud sind mit dem Fortschritt der Behandlung nach nur sieben Wochen so zufrieden, dass er sie entlässt. Ein Jahr später ist sie wieder bei ihm. »Ihre Hauptklage war die über häufige Verworrenheit, ›Sturm im Kopfe‹, wie sie es nannte, außerdem war sie schlaflos, mußte oft durch Stunden weinen und wurde zu einer bestimmten Zeit des Tages (5 Uhr) traurig… Sie stotterte und schnalzte sehr viel, rieb sich häufig die Hände aneinander, und als ich sie fragte, ob sie viele Tiere sehe, antwortete sie nur: ›O, seien Sie still‹« (ebd., 132)! In der »psychischen Analyse«, meist mittels Hypnose, geht es jetzt um Emmys Wut auf die Ärzte, um ihre Gefühle ihrer Tochter gegenüber, um ihren Ekel vor Essen. »Die therapeutische Wirkung dieser hypnotischen Erforschung war eine sofortige und nachhaltige« (ebd., 138). Nach dieser zweiten Behandlungsepisode sieht Freud Emmy noch einmal. Er ist auf Besuch »auf ihrem Gute bei D«, Emmy will offenbar einen Rat von Freud, wie sie mit den zunehmend eskalierenden Konflikten mit ihrer Tochter, die auch gewalttätig gegen die Mutter wurde, umgehen soll. Wie Freud sich dazu stellte, erfahren wir aus seiner Darstellung nicht – außer in einer indirekten Äußerung dazu: »Seit diesem Besuche im Mai 1890 wurden meine Nachrichten über Frau v.N… allmählich spärlicher. Ich erfuhr auf Umwegen, daß der unerquickliche Zustand ihrer Tochter, der die mannigfaltigsten peinlichen Erregungen für sie mit sich brachte, ihr Wohlbefinden endlich doch untergraben hatte« (ebd., 140; Kursivierung von mir). In der anschließenden zusammenfassenden Bewertung erörtert Freud ganz unterschiedliche Aspekte. Zunächst betont er, dass diese Hysterie »ausreichend determiniert durch traumatische Erlebnisse« (ebd., 144) war; er stellt sich damit also gegen Charcots Überzeugung eines hereditären Anteils. Eine andere Überlegung Freuds dreht sich um den Zusammenhang von sexueller Abstinenz und Angstbereitschaft, eine Verbindung, die er wenige Jahre später zum Fundament seiner Angsttheorie machen wird. – Und dann gibt es hier die Überzeugung (die Freud ja mit Breuer teilt), dass die Nicht-Abfuhr von »peinlichen Affekten« und »traumatischen Erlebnissen« krankheitsverursachend ist; und dass die »Abfuhr« im Zuge der Analyse den eigentlich therapeutischen Effekt bewirkt. Allerdings schwankt Freud dann doch, inwiefern er dem Mittel der Suggestion oder aber der Abfuhr von Affekten den Vorzug geben soll: »Wieviel von dem jedesmaligen therapeutischen Erfolge auf dies Wegsuggerieren in statu nascendi, wieviel auf die
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Lösung des Affektes durch Abreagieren kam, kann ich nicht angeben, denn ich habe beide therapeutischen Momente zusammenwirken lassen« (ebd., 158). Und schließlich irritiert Freud, »daß in all den intimen Mitteilungen, die mir die Patientin machte, das sexuelle Element, das doch wie kein anderes Anlaß zu Traumen gibt, völlig fehlte« (ebd., 160). Dieser Zweifel wird aber zugunsten einer Einschätzung, die Freud später als erfolgreiche Sublimierung bezeichnen wird, relativiert: »[...] diese heftige, so starker Empfindungen fähige Frau habe den Sieg über ihre sexuellen Bedürfnisse nicht ohne schwere Kämpfe gewonnen« (ebd., 160). Vielleicht hat Freud durch diese Behandlung einen Teil seines therapeutischen »Ehrgeizes« zügeln gelernt, einmal mehr die Erfahrung gemacht, dass der Arzt sein Nichtwissen ertragen lernen muss. »Ich merke, daß ich dadurch nichts erreiche, daß ich mir’s doch nicht ersparen kann, sie in jedem Punkte bis zum Ende anzuhören… ich solle nicht immer fragen, woher das und jenes komme, sondern sie erzählen lassen, was sie mir zu sagen habe« (ebd., 114, 116). – So können wir tatsächlich in diesen Jahren eine schrittweise Veränderung in Freuds Haltung seinen Patientinnen gegenüber erkennen: »In der frühesten Behandlung der Emmy v.N. wird der Körper der Patientin in zupackender Totaltherapie noch einbezogen, etwa in Gestalt faradischer Pinselung des anästhetischen Beins, von eigenhändig durchgeführten Ganzmassagen oder von Eßund Trinkvorschriften. Solche Rückfälle in autoritäres Arztgehabe fehlen in dem rund vier Jahre später, während der Ferien im Gebirge geführten Gespräch mit Katharina, in welchem Freud auf … die Hypnose verzichtet und … allenfalls durch manch behutsames Fragen zur Mitarbeit ermuntert« (Grubrich-Simitis 1995, 1135).
Zwei Erfolgsgeschichten: Miß Lucy R., dreißig Jahre – und Katharina Ende 1892 überweist Breuer eine »junge Dame«, die uns Freud so vorstellt: »Die junge Dame, die als Gouvernante im Hause eines Fabrikdirektors im erweiterten Wien lebte, besuchte mich von Zeit zu Zeit in meiner Ordinationsstunde. Sie war Engländerin, von zarter Konstitution, pigmentarm, bis auf die Affektion der Nase gesund. Sie litt an Verstimmung und Müdigkeit, wurde von subjektiven Geruchsempfindungen gequält, zeigte von hysterischen Symptomen eine ziemlich deutliche allgemeine Analgesie. Ich beschloß also, den Geruch nach ›verbrannter Mehlspeise zum Ausgangspunkte der Analyse zu machen« (Freud 1895a, 163f.). Freud erklärt sich dann über seine Modifikationen der Behandlungstechnik. Seine Versuche, Lucy zu hypnotisieren, scheitern, auch die Suggestion, wie er diese in Nancy erlernt hatte, erwies sich bei diesem »Fall« als wenig produktiv. So bleibt ihm die »kathartische Methode«, die er in einer interessanten Weise modifizierte: »[...] da ließ ich die Hypnose scheinbar fallen, verlangte nur ›Konzentration‹ und ordnete die Rückenlage und willkürlichen Verschluß der Augen als Mittel zur Erreichung dieser ›Konzentration‹ an« (ebd., 166). Als zusätzlichen Kunstgriff legt ihr Freud manchmal seine Hand auf die Stirn und fordert sie gleichzeitig auf, sich zu erinnern: »Es wird Ihnen jetzt einfallen unter dem Drucke meiner Hand« (ebd.168). Die Analyse der veränderten Geruchsempfindung bringt die beiden auf die Spur dreier Szenen: zunächst jene, wo Lucy den beiden Kindern des Direktors einen Kuchen gebacken hatte, als sie einen Brief ihrer Mutter erhielt, den ihr die Kinder zum Spaß aus der Hand rissen. Sie interpretierte dies als Ausdruck von Zuneigung: Die Kinder woll-
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ten verhindern, dass sie zu ihrer Mutter zurückkehrte, wie es ihre Absicht gewesen war. In diesem Trubel verbrannte die Mehlspeise; – zudem das Versprechen, das sie einer entfernten Verwandten an deren Totenbett gegeben hatte, deren Kindern die Mutter zu ersetzen; – und schließlich ihre heimliche Liebe zum Direktor. Letzteres unterstellte ihr Freud: »Ich sagte ihr: ›Ich glaube nicht, daß dies alle Gründe für Ihre Empfindung gegen die beiden Kinder sind, ich vermute vielmehr, daß Sie in Ihren Herrn, den Direktor verliebt sind, vielleicht, ohne es selbst zu wissen, daß Sie die Hoffnung in sich nähren, tatsächlich die Stelle der Mutter einzunehmen.‹ Ihre Antwort war in ihrer wortkargen Weise: Ja, ich glaube, es ist so, ich bin nicht unverständig prüde, für Empfindungen ist man ja überhaupt nicht verantwortlich.« (ebd., 175). Nach dieser Deutung verschwand der halluzinierte Geruch, um von Zigarrenrauch abgelöst zu werden. Auch hier war die Analyse erfolgreich: Es ging um zwei Szenen mit dem Direktor, in denen ihre Liebeserwartung enttäuscht worden war. Auch hier löste sich der halluzinierte Geruch auf und Freud fragte sie: »Und lieben Sie den Direktor noch? – Gewiß, ich liebe ihn, aber das macht mir weiter nichts aus. Man kann ja bei sich denken und empfinden, was man will« (ebd. 180). – Diese Behandlung erstreckte sich über neun Wochen, Freud trifft Frau Lucy »zufällig« vier Monate später in seiner Sommerfrische – sie war »heiter« und wohlauf. Die Wirtstochter Katharina, in ihrem bürgerlichen Namen Aurelia Kronich, war eine ganz andere Patientin als die reichen Salondamen, die sonst Freuds Praxis bevölkerten. Kein Wunder also, dass Freud begeistert war, als sich seine Theorien bei ihr als so fruchtbar erwiesen. Freuds virtuoser, ja literarischer Stil macht sich gerade in dieser Fallgeschichte bemerkbar. Diese »Analyse« findet auf zweitausend Metern auf einer Berghütte statt. Die Hauptakteure des Dramas sind neben Katharina die Familie ihres Onkels und ihrer Tante. In Wirklichkeit wurde Katharina aber nicht von ihrem Onkel, sondern von ihrem Vater sexuell belästigt. Als Folge davon zerbrach die Ehe der Eltern und sie entwickelte ihre Neurose. »›An was leiden Sie denn?‹ ›Ich hab‹ so eine Atemnot, nicht immer, aber manchmal packt’s mich so, daß ich glaube, ich erstick‹. ›Setzen Sie sich her. Beschreiben Sie mir’s, wie ist denn so ein Zustand der ›Atemnot‹« (ebd., 185)? So beginnt das Gespräch, das Freud erstmals über weite Strecken im original Gesprochenen wiedergibt. – Und rasch sind sie bei den zentralen Szenen. Katharina scheint auch die entsprechende positive Übertragung zu produzieren: »Einem Doktor darf man ja alles sagen… ich bin schuld daran, daß sie geschieden sind, weil’s durch mich aufgekommen ist, daß er’s mit der Franziska hält« (ebd., 187). Aber die Szene mit Franziska, ihrer Cousine, ist nur die Deckerinnerung – dahinter steht das, was Freud ihr schließlich so deutet: »Jetzt weiß ich schon, was Sie sich damals gedacht haben, als Sie ins Zimmer hineingeschaut haben. Sie haben sich gedacht: jetzt tut er mit ihr, was er damals bei Nacht und die anderen Male mit mir hat tun wollen. Davor haben Sie sich geekelt« (ebd., 192). In der abschließenden Bewertung macht Freud eine zukunftsweisende Feststellung: »In dieser Hinsicht ist der Fall Katharina ein typischer; man findet bei der Analyse jeder auf sexuelle Traumen begründeten Hysterie, daß Eindrücke aus der vorsexuellen Zeit, die auf das Kind wirkungslos geblieben sind, später als Erinnerung traumatische Gewalt erhalten« (ebd., 194). Später wird er dieses Phänomen »Nachträglichkeit« nennen –
Studien über Hysterie – wie Freud auf die Hysterie kam
und offenkundig taucht da auch eine Ahnung davon auf, was Freud bald als infantile Sexualität erkennen wird.
Freuds erste vollständige Analyse: Fräulein Elisabeth v.R. Im Herbst 1892 überwies ein »befreundeter Kollege«, vermutlich wieder Breuer, an Freud eine »junge Dame«, die seit längerem an Schmerzen in den Beinen litt. »Zuerst sei der Vater der Patientin gestorben, dann habe die Mutter sich einer ernsten Operation an den Augen unterziehen müssen und bald darauf sei eine verheiratete Schwester der Kranken nach einer Entbindung einem alten Herzleiden erlegen« (ebd., 196). Freud wollte organische Ursachen ausschließen, begann eine vierwöchige Behandlung mit Massage und Faradisierung. Schon hier erkannte Freud eine erotische Dimension ihrer Schmerzen: Unter Schmerz »nahm ihr Gesicht einen eigentümlichen Ausdruck an, eher den der Lust als des Schmerzes, sie schrie auf – ich mußte denken, etwa wie bei einem wollüstigen Kitzel« (ebd., 198). Dies bestärkte Freud in der Annahme, dass hier ein hysterischer Schmerz vorliege und er machte sich daran die entsprechenden traumatisierenden Erlebnisse aufzudecken. Er verzichtete dabei auf Hypnose und wandte die »Konzentrations- und Drucktechnik« an – mit Erfolg. »So gelangte ich bei dieser ersten vollständigen Analyse einer Hysterie, die ich unternahm, zu einem Verfahren, das ich später zu einer Methode erhob und zielbewußt einleitete, zu einem Verfahren der schichtweisen Ausräumung des pathogenen psychischen Materials. Ich ließ mir zunächst erzählen, was der Kranken bekannt war … und drang dann später in tiefere Schichten der Erinnerung ein. ich ließ sie aber liegen und hielt ihre Augen geschlossen« (ebd., 201). Im Laufe der Behandlung wurden mehrere dieser »Schichten« freigelegt: Da war der tragische Tod des Vaters, den Elisabeth aufopferungsvoll gepflegt hatte. Zu dieser Zeit trat der spätere Mann einer ihrer Schwestern in ihr Leben, er erschien ihr als der ideale Mann. Sie fühlte sich für diese Phantasien und die Liebesgefühle ihrem Vater gegenüber schuldig. Einige Jahre später starb diese Schwester. In diesem Moment kam ihr der verpönte Gedanke: »Jetzt ist er wieder frei, und ich kann seine Frau werden« (ebd., 222). – Bei dieser Analyse machte Freud eine neue Entdeckung: Immer bei relevanten Erinnerungen begannen die Schmerzen »mitzusprechen« – und Freud begann diese wechselnde Symptomatik als »Kompass« zu nutzen. Noch eine andere Entdeckung erwies sich als produktiv: Freud erkannte, dass die körperlichen Konversionssymptome in ganz direkter Weise einen Satz, einen Ausruf, einen Gedanken zum Ausdruck bringen, so etwa ihr »Alleinstehen … ich komme nicht von der Stelle. daß sie direkt einen symbolischen Ausdruck für ihre schmerzlich betonten Gedanken gesucht« (ebd. 217). Und Freud beginnt zu erkennen, dass Analyse immer »Analyse des Widerstandes« sein muss: »Ich fing während dieser schweren Arbeit an, dem Widerstande, den die Kranke bei der Reproduktion ihrer Erinnerungen zeigte, eine tiefere Bedeutung beizulegen… Das Motiv war das der Abwehr, das Sträuben des ganzen Ich, sich mit dieser Vorstellungsgruppe zu vertragen. es wurde so eine Umwandlung eingeleitet, bei der sich als Gewinn herausstellte, daß die Kranke sich einem unerträglichen psychischen Zustand entzogen hatte, allerdings auf Kosten einer psychischen Anomalie, der zugelassenen Bewußtseinsspaltung, und eines körperlichen Leidens, der Schmerzen« (ebd.,
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219, 233, Hervorhebung von mir). Da sind bahnbrechende Einsichten – in die Phänomene von Widerstand und Abwehr – und das, was Freud später »Krankheitsgewinn« nennen wird. Das Symptom begreift er als Kompromissbildung, als Heilungsversuch, teilweise gelungen, aber auch um einen hohen Preis – das alles ist hier schon angedeutet. Freud beendet diese Therapie nach ca. neun Monaten. Nach einigen Wochen erhält er einen verzweifelten Brief der Mutter, den er unbeantwortet lässt. Zwei Monate später erhält er die Nachricht, »Elisabeth befinde sich vollkommen wohl«, und im Frühjahr 1894 erfährt er, dass sie einen Hausball besuchen wird, »und ich ließ mir die Gelegenheit nicht entgehen, meine einstige Kranke im raschen Tanze dahinfliegen zu sehen. Sie hat sich seither aus freier Neigung mit einem Fremden verheiratet« (ebd. 226). Soweit die zufriedene Bilanz Freuds. Die nachfolgende »Epikrise« beginnt Freud mit einem Geständnis, das bis heute immer wieder in psychoanalytischen Fallgeschichten zitiert wird: »[...] und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren« (ebd., 227). Das noch ungewohnte und neuartige Zuhören rückte die Sprache in den Mittelpunkt. Wenn Freud also über die Hysterika schreibt, »indem sie den sprachlichen Ausdruck wörtlich nimmt, den ›Stich ins Herz‹ oder den ›Schlag ins Gesicht‹, so übt sie keinen witzigen Mißbrauch, sondern belebt nur die Empfindung von neuem, denen der sprachliche Ausdruck seine Berechtigung verdankt… Ja, vielleicht ist es unrecht zu sagen, sie schaffe sich solche Sensationen durch Symbolisierung; sie hat vielleicht den Sprachgebrauch gar nicht zum Vorbilde genommen, sondern schöpft mit ihm aus gemeinsamer Quelle« (ebd., 250, 251). So erscheint Freud das Zuhören immer weniger als Umweg, sondern als notwendiger und substantieller Teil der Kur – und die Darstellung des Verlaufs einer Kur wird zum Protokoll von Rede und Gegenrede.
Breuers Verständnis der Hysterie: Theoretisches Breuer beginnt mit einer für unsere heutigen Ohren interessanten Rechtfertigung: »In diesen Erörterungen wird wenig vom Gehirne und gar nicht von den Molekülen die Rede sein. Psychische Vorgänge sollen in der Sprache der Psychologie behandelt werden« (Breuer 1895, N, 244). Die Ausgangsfrage ist dann: »Sind alle hysterischen Phänomene ideogen?« (ebd., 245). Seine Einschätzung dazu ist die folgende: »Wir glauben nicht, daß alle Erscheinungen der Hysterie auf die von uns dargelegte Weise zustande kommen, und auch nicht, daß alle ideogen, d.h. durch Vorstellungen bedingt seien« (ebd., 245). Wir merken also, dass dem Helmholtz-Schüler die Annahme einer ausschließlich psychisch bedingten Neurose nicht wirklich geheuer ist – er wird auf diese Frage in diesem Text noch mehrfach zurückkommen. Noch eine wichtige Annahme, das Konzept des »Abreagierens«, wird hier angekündigt: »Wir haben in unserer Darlegung den Begriff ›der Erregung, welche abströmt und abreagiert werden muß‹, ohne weiteres eingeführt und benutzt« (ebd., 251). – Breuer verspricht, später dazu noch Klärendes zu sagen. Dann kommt die Breuer offenkundig sehr wichtige physiologische (!) Theorie der »interzerebralen tonischen Erregung« und im Zusammenhang damit eine Erklärung
Studien über Hysterie – wie Freud auf die Hysterie kam
für das Entstehen und die Funktion der Affekte. Breuer beginnt mit der Feststellung, dass es zwei »extreme Zustände des Zentralnervensystems« gibt, »traumlosen Schlaf und helles Wachen«; und dazwischen alle Abstufungen. – Worauf will er hier hinaus? Auf das Phänomen, das er die »tonische Erregung« nennt, die »Spannung«. Und er kommt zur grundlegenden Bestimmung, »daß im Organismus die ›Tendenz zur Konstanterhaltung der intrazerebralen Erregung‹ (Freud) besteht« (ebd., 256). Hier spricht Breuer erstmals das später von Freud formulierte »Konstanzprinzip« an (und er schreibt es auch diesem zu). (Freud wird dieses noch im selben Jahr zu einem seiner grundlegenden Axiome im Entwurf machen.) Und diese Stelle geht interessant weiter: »Ein Überschuß davon belastet und belästigt, und es entsteht der Trieb, ihn zu verbrauchen. Ist ein Verbrauch durch Sinnesoder Vorstellungstätigkeit nicht möglich, so strömt der Überschuß in zweckloser motorischer Aktion ab« (ebd., 256, Hervorhebung von mir). Hier wird so ganz nebenbei der für Freud später grundlegende Begriff des Triebes benützt, freilich noch nicht in seiner späteren das Subjekt konstituierenden Weise. Breuer beschäftigt sich dann mit der Frage, was im Fall der Nicht-Abfuhr mit dieser Spannung passiert – und er rekurriert hierbei – auf die Sprache! Wenn also diese Erregung zu groß wird, so »nennen wir das im gewöhnlichen Leben ›nervös sein‹ … ›Aufregung‹ … Unsere Sprache ... unterscheidet mit wundernswerter Feinheit jene Formen und Grade der Erregungssteigerung … sucht sich die Aufregung in mehr oder weniger heftigen, ans Pathologische streifenden oder wirklich pathologischen Vorgängen zu entladen. Sie macht die psychisch-physische Grundlage der Affekte aus… Solche sind zunächst die großen physiologischen Bedürfnisse und Triebe« (ebd., 257, 258). Und hier spiele das »Sexuale« eine entscheidende Rolle: »Den Übergang von diesen endogenen Erregungssteigerungen zu den psychischen Affekten bildet die sexuale Erregung und der sexuale Affekt… Der Sexualtrieb ist gewiß die mächtigste Quelle von lange anhaltenden Erregungszuwächsen (und als solche, von Neurosen)« (ebd., 258, 259). Diese und andere Textstellen in diesem Kapitel belegen, dass Breuer dem »Sexuellen« zu diesem Zeitpunkt dieselbe Bedeutung für die Entstehung von Hysterie und Neurose gibt wie Freud. Und jetzt folgt die Anwendung dieser Überlegungen auf die Pathologien: »Den ›asthenischen‹ Affekten des Schrecks und der Angst fehlt diese reaktive Entladung« (ebd., 260). Indem hier also die »Tendenz zur Konstanterhaltung der Erregung« versagt, kommt es zu nicht mehr »normal« zu bezeichnenden Reaktionen. Eine solche ist dann auch die jetzt besprochene »hysterische Konversion«. Während »normale« Menschen offenbar verschiedene Möglichkeiten haben, solche Erregungssteigerungen abzuführen – »So geht im normalen wachen Menschen die Erregung des Vorstellungsorganes nicht auf die Perzeptionsorgane über, wir halluzinieren nicht« (ebd., 262) – eine Überlegung, die Freud im Entwurf dann zu grundsätzlichen Überlegungen führen wird – zeigt sich dies bei Hysterikern anders: »Als hysterisch darf man solche Phänomene erst dann bezeichnen, wenn sie nicht als Folgen eines hochgradigen, aber objektiv begründeten Affektes, sondern scheinbar spontan als Krankheitserscheinung auftreten« (ebd., 263). – Und dies erklärt uns Breuer so, dass es sich um die »Erneuerung« eines schon gespeicherten Affekts handelt, dass also durch einen »Aus-
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löser« (später wird er von Assoziation sprechen) ein entsprechender Affekt »erinnert« wird. Und noch eine wichtige Folgerung: »Hat sich der ursprüngliche Affekt nicht in dem normalen, sondern in einem ›abnormen Reflexe‹ entladen, so wird auch dieser durch die Erinnerung wieder ausgelöst; die von der affektiven Vorstellung ausgehende Erregung wird in ein körperliches Phänomen ›konvertiert‹ (Freud)« (ebd., 264). – Erneut gesteht Breuer diese Entdeckung Freud zu – und dies lässt sich auch nachvollziehen; hat doch Freud den Terminus »Konversion« bereits ein Jahr zuvor in seiner Arbeit Die Abwehr-Neuropsychosen (vgl. Freud 1894) eingeführt. Und nun folgt ein nächster logischer Schritt: »Wenn nun mit dem ursprünglichen Affekte gleichzeitig ein lebhafter Sinneseindruck bestanden hatte, so wird dieser vom erneuten Affekte wieder hervorgerufen, und zwar … nicht als Erinnerung, sondern als Halluzination … Dies ist die Bahnung abnormer Reflexe nach den allgemeinen Gesetzen der Assoziation« (ebd., 267). – Warum aber werden im einen Fall diese Erregungssummen »normal«, also primär über motorische Abfuhr erledigt, im Fall der Hysterie aber nicht? Breuer spricht hier – so wie Charcot und andere vor ihm – von »psychischen Traumen«. – Nur: Warum werden von manchen Menschen auch schlimme Erfahrungen offenbar »normal« erledigt, von anderen aber nicht? Breuer gebraucht hier die Zusatzhypothese der »Verdrängung«: »Vorstellungen nun, von denen sich das Bewußtsein abwendet, über die nicht gedacht wird, bleiben auch der Usur entzogen und behalten ihren Affektbetrag unvermindert… nicht weil man sie nicht erinnern will, sondern weil man es nicht kann; weil sie in Zuständen ursprünglich aufgetaucht sind und mit Affekt belehnt wurden, für die im wachen Bewußtsein Amnesie besteht« (ebd., 273, 274). Und dann schreibt Breuer von den »hypnoiden Zuständen«. Warum ist ihm die Annahme von solchen »Zuständen« für die Erklärung der Hysterie so wichtig? Offenbar reicht Breuer die Erklärung der »Verdrängung« nicht. Er will für diese »Bereitschaft« zur Verdrängung noch einen anderen Mechanismus ausmachen: »Für uns liegt die Wichtigkeit von hypnoseähnlichen, ›hypnoiden‹ Zuständen außerdem und vor allem in der Amnesie und ihrer Fähigkeit, jene später zu besprechende Spaltung der Psyche zu bedingen, welche für die ›große Hysterie‹ von fundamentaler Bedeutung ist« (ebd., 275). Diese Neigung zum »Hypnoid« – ist sie schon vor der »Krankheit« da? Breuer neigt zu dieser Annahme. Er verweist auf Anna O.: »Bei dieser Kranken scheint es sicher, daß die Autohypnose vorbereitet war durch habituelle Träumerei« (ebd., 277). Er fragt sich, warum der normale Mechanismus, dass unbewusste Vorstellungen ab einer bestimmten Intensität ins Bewusstsein treten, bei den Neurosen nicht zu gelten scheint. Das muss »mitbedingt sein von dem Lust- oder Unlustgefühle, welches sie erwecken, von ihrem Affektwerte…Beim Gesunden treten alle Vorstellungen, welche überhaupt aktuell werden können, bei genügender Intensität auch ins Bewußtsein.« – Bei »unseren Kranken« verhält sich das offenkundig anders: »Die psychische vorstellende Tätigkeit zerfällt hier in eine bewußte und unbewußte ... Wir können also nicht von einer Spaltung des Bewußtseins sprechen, wohl aber von einer Spaltung der Psyche« (ebd., 283, 284). Diese »Spaltung« (die Freud bald als »Dissoziation« bezeichnen wird) wird von Breuer als grundlegend für die Hysterie erachtet. – Woher kommt diese Neigung oder »Fähigkeit«? – Er kommt auf Freuds Konzept der »Abwehr« zu sprechen: »Die
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Beobachtungen und Analysen Freuds beweisen, daß die Spaltung der Psyche auch durch die ›Abwehr‹, durch die willkürliche Abwendung des Bewußtseins von peinlichen Vorstellungen bedingt sein kann.« Aber er fügt einschränkend hinzu: »Aber doch nur bei manchen Menschen, denen wir deshalb eine psychische Eigenart zuschreiben müssen« (ebd., 294). – Also: Breuer kommt von seiner Idee des »Hypnoids« doch nicht ganz los: »Ich wage nur die Vermutung, es sei die Hilfe des Hypnoids notwendig, wenn durch die Abwehr nicht bloß einzelne konvertierte Vorstellungen zu unbewußten gemacht werden, sondern eine wirkliche Spaltung der Psyche vollzogen werden soll« (ebd., 295). Die abschließende Frage Breuers gilt der damals in der Psychiatrie gängigen Auffassung von der »Heredität«. Interessanterweise kommt er hier auf Beobachtungen zu sprechen, die er und Freud immer wieder an Adoleszenten gemacht haben: »[...]die Geschlechtsreifung greift im ganzen Nervensysteme an, überall die Erregbarkeit steigernd und die Widerstände herabsetzend.« – Und aus dieser Beobachtung leitet er ab: »Damit anerkennen wir bereits die Sexualität als einen der großen Komponenten der Hysterie. Wir werden sehen, daß ihr Anteil daran ein noch viel größerer ist« (ebd., 303). Nicht nur die Pubertät bringe dieses erhöhte Risiko, auch »die Ehe bringt neue sexuale Traumen«, was Breuer zur Aussage bringt, »die große Mehrzahl der schweren Neurosen bei Frauen entstamme dem Ehebett« (ebd., 305). Aber irgendwie traut Breuer dieser Abwehr-Hypothese nicht so ganz – und so kommt er doch wieder auf das »Hypnoid« zurück: »Wie entstehen diese akuten Hysterien? In dem bestbekannten Falle (Beobachtung I, Anna O.) entwickelte sie sich aus der Häufung der Hypnoidattacken … Die abgespaltene Psyche ist jener Dämon, von dem die naive Beobachtung alter, abergläubischer Zeiten die Kranken besessen glaubte« (ebd., 308).
Freuds Überlegungen zur »Technik«: Zur Psychotherapie der Hysterie Nach einer kurzen Einleitung, in der Freud betont, dass die grundsätzliche Einschätzung der gemeinsam mit Breuer verfassten Vorläufigen Mitteilung, was die Wirkungsweise der »kathartischen Methode« anbelangt, nach wie vor für ihn Gültigkeit hat, kommt das neugierig machende Geständnis, dass sich ihm seither doch »neue Gesichtspunkte aufgedrängt haben« (Freud 1895a, 253). Es dauert aber eine gute Weile, bis Freud auf diese zu sprechen kommt. Zuerst kommt das Eingeständnis, dass die »Breuersche Methode der Heilung« auch neue »Schwierigkeiten« offenbarte; sodann Überlegungen, was denn »wesentlich« die Hysterie charakterisiere. Und endlich, im Konjunktiv formuliert, kommt das ja nun in seiner Radikalität Neue: »[...] daß, insofern man von einer Verursachung sprechen könne, durch welche Neurosen erworben würden, die Ätiologie in sexuellen Momenten zu suchen sei« (ebd., 254f.). Diese These bleibt erst einmal unkommentiert stehen. – Freud geht zur Unterscheidung von Neurasthenie, Zwangsneurose und Hysterie über, um schließlich zur Frage nach dem »therapeutischen Wert der kathartischen Methode« zu kommen. Sie sei wirksam bei der Hysterie, aber »völlig machtlos« bei der Neurasthenie, nur selten erfolgreich bei der Angstneurose (vgl. ebd., 259). Sodann formuliert Freud den skeptischen Befund, dass mittels dieser Methode zwar bei der
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Hysterie Symptome verschwänden, aber »an der Stelle der beseitigten Symptome neue entstehen« (ebd., 260). Seine Folgerung: »Die kathartische Methode wird darum nicht wertlos, weil sie eine symptomatische und keine kausale ist« (ebd.). Dann kommt Freud auf einige Faktoren zu sprechen, die nach seinen damaligen Einsichten Einfluss auf den Erfolg des therapeutischen Prozesses haben: Es braucht auf Seiten des Arztes »großes Interesse für psychologische Vorkommnisse«, auch »persönliche Teilnahme« und »Sympathie«; auf Seiten des »Kranken« »ein gewisses Niveau von Intelligenz«, »vor allem aber ihr Zutrauen« (ebd., 264). – Dieses »Zutrauen« (Freud wird es noch in diesem Artikel »Übertragung« nennen) beschäftigt ihn länger. So stellt er fest, »daß es kaum zu vermeiden ist, daß nicht die persönliche Beziehung zum Arzte sich wenigstens eine Zeitlang ungebührlich in den Vordergrund drängt; ja, es scheint, als ob eine solche Einwirkung des Arztes die Bedingung sei« (ebd., 265). Freud plädiert dann für die »Liegekur« und die Technik der »Konzentration«, um schließlich auf den »Widerstand« sprechen zu kommen: »daß ich durch meine psychische Arbeit eine psychische Kraft bei dem Patienten zu überwinden habe, die sich dem Bewußtwerden (erinnern) der pathogenen Vorstellungen widersetze« (ebd., 268). Und jetzt wird es spannend. Freud scheint eine neue Spur zu verfolgen, »als mir einfiel, dies dürfte wohl dieselbe psychische Kraft sein, die bei der Entstehung des hysterischen Symptoms mitgewirkt und damals das Bewußtwerden der pathogenen Vorstellung verhindert haben« (ebd.). Wie schon bei Breuer erwähnt, erkennt Freud hier die Dynamik der »Abwehr«: »An das Ich des Kranken war eine Vorstellung herangetreten, die sich als unverträglich erwies, die eine Kraft der Abstoßung von seiten des Ich wachrief, deren Zweck die Abwehr dieser unverträglichen Vorstellung war … Wenn ich mich bemühte, die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, bekam ich dieselbe Kraft als Widerstand zu spüren, die sich bei der Genese des Symptoms als Abstoßung gezeigt hatte« (ebd., 269). Diesem Widerstand, den Freud dann als »Assoziationswiderstand« präzisiert, begegnet Freud mit dem »Drängen«, dem »Kunstgriff« des »Drucks auf die Stirne« und der Suggestion; damit werde dem Kranken das »Gesuchte«, das »Richtige« einfallen. Freud bringt dann eine Reihe von Beispielen, an denen er zeigen will, dass es oft ganzer Reihen von Assoziationen braucht, um schließlich auf die »ursprüngliche« Vorstellung zu kommen. Bei dieser Arbeit am Widerstand beobachtet er, dass das Wesentliche am »Abtragen« offenbar darin besteht, »indem er es in Worte umsetzt« (ebd., 283). Der Arzt wirkt hierbei »so gut man kann, als Aufklärer, wo die Ignoranz eine Scheu erzeugt hat, als Lehrer, als Vertreter einer freieren oder überlegenen Weltauffassung, als Beichthörer« (ebd., 285; Kursivierung von mir). Unvermeidlich denken wir als Kundige des freudschen Oeuvres an dessen spätere Bemerkung über die drei unmöglichen Berufe, Erziehen, Regieren, Analysieren (vgl. Freud 1937b, 94), bei all denen das Sprechen eine ganz prominente Rolle spielt. Und dann ist Freud schon wieder beim Phänomen der Übertragung: »Neben den intellektuellen Motiven, die man zur Überwindung des Widerstandes heranzieht, wird man ein affektives Moment, die persönliche Geltung des Arztes, selten entbehren können« (Freud 1895a, 286). – Freud hängt also einerseits noch am »Aufklären«, das wir als Rest seiner Anhängerschaft an Hypnose und Suggestion werten können; andererseits geht er schon deutlich in Richtung eines psychoanalytischen Vorgehens mit dem Fokus auf »Widerstand« und »Übertragung«. – Und er kommt gegen Ende dieses Kapitels auf
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ein spezielles Phänomen des Widerstandes zu sprechen: »Dieser Fall tritt ein, wenn das Verhältnis des Kranken zum Arzte gestört ist, und bedeutet das ärgste Hindernis ... das durch irgendwelches Surrogat von Liebe vergolten werden muß« (ebd., 307). Die Rede ist also von dem, was später als »negative Übertragung« bezeichnet werden wird – und Freud beschreibt »drei Hauptfälle« davon: »I) Bei persönlicher Entfremdung, wenn die Kranke sich zurückgesetzt, geringgeschätzt, beleidigt glaubt…. II) Wenn die Kranke von der Furcht ergriffen wird, sie gewöhne sich zu sehr an die Person des Arztes, verliere ihre Selbständigkeit ihm gegenüber, könne gar in sexuelle Abhängigkeit von ihm geraten…III) Wenn die Kranke sich davor erschreckt, daß sie aus dem Inhalte der Analyse auftauchende peinliche Vorstellungen auf die Person des Arztes überträgt« (ebd., 308). Und an dieser Stelle trifft Freud eine Formulierung, die schon sehr zukunftsweisend für seine späteren Überlegungen zur Übertragungsliebe klingt: »Die Übertragung auf den Arzt geschieht durch falsche Verknüpfung« (ebd., 308f). – Freud ist zu diesem Zeitpunkt also schon klar, dass er mit seinen therapeutischen Bemühungen keinen Erfolg haben wird, wenn er diesem Widerstand nicht beikommt. – Auch in diesem Fall sieht er es als seine Aufgabe, durch Bewusstmachung dieses »Hindernis« zu beseitigen. Und seine Einschätzung klingt noch optimistisch: »Die Kranken lernten auch allmählich einsehen, daß es sich bei solchen Übertragungen auf die Person des Arztes um einen Zwang und um eine Täuschung handle, die mit Beendigung der Analyse zerfließe« (ebd., 310). Dass dieses »Zerfließen«, sprich die Auflösung der Übertragung nicht ganz so einfach ist, musste Freud noch an einer ganzen Reihe seiner Analysanten erfahren (wir werden das am »Fall Dora« genauer verhandeln). Aber die Einsicht, die ihm hier auftaucht, ist jene in die Notwendigkeit, dass die »Neurose« sich im Zuge der Analyse in eine »Übertragungsneurose« wandeln muss, dass »Übertragungen« also unvermeidlich sind – und wie er später schreiben wird, »das größte Hindernis«, aber auch »das mächtigste Hilfsmittel« darstellen (vgl. Freud 1905d, 281). Am Ende dieses Textes finden wir jenes Diktum, das sich in vielen künftigen Fallgeschichten der Psychoanalyse wiederfinden wird: »Ich zweifle ja nicht, daß es dem Schicksale leichter fallen müßte als mir, Ihr Leiden zu beheben; aber Sie werden sich überzeugen, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, Ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Gegen das letztere werden Sie sich mit einem wiedergenesenen Seelenleben besser zur Wehre setzen können« (Freud 1895a, 312). – Da steckt vieles drin: die Macht des »Schicksals«, das »gemeine Unglück«, das Freud offenbar unaufhebbar erscheint; aber auch der vorsichtige Optimismus, dass eine einigermaßen gelungene Analyse den Betreffenden auch »stärker« macht.
Zusammenfassung Inwiefern macht es Sinn, bei den Studien über Hysterie von Breuer und Freud von einem »Urbuch der Psychoanalyse«4 zu sprechen? 4
Dies ist der Titel eines lesenswerten Aufsatzes, den die Herausgeberin der deutschen Ausgabe des Nachtragsbandes, Ilse Grubrich-Simitis, 1995 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Erstausgabe der Studien in der Psyche publiziert hat.
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ein spezielles Phänomen des Widerstandes zu sprechen: »Dieser Fall tritt ein, wenn das Verhältnis des Kranken zum Arzte gestört ist, und bedeutet das ärgste Hindernis ... das durch irgendwelches Surrogat von Liebe vergolten werden muß« (ebd., 307). Die Rede ist also von dem, was später als »negative Übertragung« bezeichnet werden wird – und Freud beschreibt »drei Hauptfälle« davon: »I) Bei persönlicher Entfremdung, wenn die Kranke sich zurückgesetzt, geringgeschätzt, beleidigt glaubt…. II) Wenn die Kranke von der Furcht ergriffen wird, sie gewöhne sich zu sehr an die Person des Arztes, verliere ihre Selbständigkeit ihm gegenüber, könne gar in sexuelle Abhängigkeit von ihm geraten…III) Wenn die Kranke sich davor erschreckt, daß sie aus dem Inhalte der Analyse auftauchende peinliche Vorstellungen auf die Person des Arztes überträgt« (ebd., 308). Und an dieser Stelle trifft Freud eine Formulierung, die schon sehr zukunftsweisend für seine späteren Überlegungen zur Übertragungsliebe klingt: »Die Übertragung auf den Arzt geschieht durch falsche Verknüpfung« (ebd., 308f). – Freud ist zu diesem Zeitpunkt also schon klar, dass er mit seinen therapeutischen Bemühungen keinen Erfolg haben wird, wenn er diesem Widerstand nicht beikommt. – Auch in diesem Fall sieht er es als seine Aufgabe, durch Bewusstmachung dieses »Hindernis« zu beseitigen. Und seine Einschätzung klingt noch optimistisch: »Die Kranken lernten auch allmählich einsehen, daß es sich bei solchen Übertragungen auf die Person des Arztes um einen Zwang und um eine Täuschung handle, die mit Beendigung der Analyse zerfließe« (ebd., 310). Dass dieses »Zerfließen«, sprich die Auflösung der Übertragung nicht ganz so einfach ist, musste Freud noch an einer ganzen Reihe seiner Analysanten erfahren (wir werden das am »Fall Dora« genauer verhandeln). Aber die Einsicht, die ihm hier auftaucht, ist jene in die Notwendigkeit, dass die »Neurose« sich im Zuge der Analyse in eine »Übertragungsneurose« wandeln muss, dass »Übertragungen« also unvermeidlich sind – und wie er später schreiben wird, »das größte Hindernis«, aber auch »das mächtigste Hilfsmittel« darstellen (vgl. Freud 1905d, 281). Am Ende dieses Textes finden wir jenes Diktum, das sich in vielen künftigen Fallgeschichten der Psychoanalyse wiederfinden wird: »Ich zweifle ja nicht, daß es dem Schicksale leichter fallen müßte als mir, Ihr Leiden zu beheben; aber Sie werden sich überzeugen, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, Ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Gegen das letztere werden Sie sich mit einem wiedergenesenen Seelenleben besser zur Wehre setzen können« (Freud 1895a, 312). – Da steckt vieles drin: die Macht des »Schicksals«, das »gemeine Unglück«, das Freud offenbar unaufhebbar erscheint; aber auch der vorsichtige Optimismus, dass eine einigermaßen gelungene Analyse den Betreffenden auch »stärker« macht.
Zusammenfassung Inwiefern macht es Sinn, bei den Studien über Hysterie von Breuer und Freud von einem »Urbuch der Psychoanalyse«4 zu sprechen? 4
Dies ist der Titel eines lesenswerten Aufsatzes, den die Herausgeberin der deutschen Ausgabe des Nachtragsbandes, Ilse Grubrich-Simitis, 1995 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Erstausgabe der Studien in der Psyche publiziert hat.
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Tatsächlich finden wir in diesen Texten eine ganze Reihe von Konzepten und Begriffen, die wir später als »psychoanalytische« bezeichnen: die Unterscheidung von bewusst und unbewusst; eine wachsende Einsicht in deren dynamisches Wirken; die erstmalige Beschreibung der Mechanismen von Verdrängung, Widerstand und Abwehr; die Begriffe des Triebes und des Sexualtriebes; damit in Verbindung die Erkenntnis von der grundlegenden Bedeutung der Sexualität für die Genese von Pathologien; die Beschreibung des Mechanismus der Symptombildung, insbesondere bei der Hysterie – der Konversion; die Einsichten in die symbolische Beziehung zwischen dem grundlegenden Trauma, der die Symptomatik auslösenden Situation und der Ausgestaltung der Symptomatik; dazu eine ganze Reihe von Begriffen, die für die spätere Metapsychologie grundlegend werden – so das Prinzip der Energie (der ökonomische Aspekt -das »Konstanzprinzip«); die Besetzung; die Stauung und die Abfuhr; die Überdeterminierung; das somatische Entgegenkommen; Primär- und Sekundärprozess; die Zensur; die falsche Verknüpfung, die Nachträglichkeit. Und sodann die Fortschritte in der »Behandlungstechnik«: der allmähliche Übergang von der Hypnose zur kathartischen Methode, von dieser zur Druck- und Konzentrationstechnik; das Liegen auf der Couch; die tendenzielle Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Sehen zum Hören, auf die Sprache; das »geduldige Zuhören« als Vorform der gleichschwebenden Aufmerksamkeit und in Verbindung damit die Aufforderung zum freieren Assoziieren; die Einsicht in die Bedeutung des Widerstandes und der Übertragung für die Arbeit. Zentral scheint mir aber Freuds Erkenntnis, wonach das Konversionssymptom als Sprachphänomen dekodiert wird. Lassen wir nochmals Freud in einer diesbezüglich relevanten Textstelle aus seiner Arbeit mit Elisabeth v.R. zu Wort kommen: »Ich habe die Behauptung vertreten, daß die Kranke die Funktionsstörung durch Symbolisierung geschaffen oder gesteigert, daß sie für ihre Unselbständigkeit, ihre Ohnmacht, etwas an den Verhältnissen zu ändern, einen somatischen Ausdruck fand … und daß die Redensarten: Nicht von der Stelle kommen, keinen Anhalt haben u.dgl. die Brücke für diesen neuen Akt der Konversion bildeten« (Freud 1895a, 244, Kursivierung von mir). Es gibt also ganz unmittelbare Brücken zwischen einem organischen Schmerz und einer Redewendung. Der Vorgang der Konversion ist als Indienstnahme eines somatischen Ausdruck für ein sprachlich strukturiertes Symptom gebildet. Und weil dies so ist, ist auch eine Übersetzung möglich! Ein Grund mehr, vom »Urbuch der Psychoanalyse« zu sprechen! Lassen wir zum Abschluss den Diskurstheoretiker Michel Foucault sprechen, der der freudschen Revolution eine spezielle Funktion in der Geschichte der Psychiatrie an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert gibt: »In diesem Ausmaß konvergiert die Psychiatrie des neunzehnten Jahrhunderts erst wirklich auf Freud zu, der als erster die Realität des aus Arzt und Krankem bestehenden Paars akzeptiert hat und sich dazu entschloß, von ihnen seinen Blick und seine Untersuchung nicht abzulenken; … Als erster hat er die Konsequenzen, die sich aus der Realität dieses Paares ergaben, mit aller Strenge verfolgt. Freud hat alle anderen Strukturen des Asyls entmystifiziert, er hat das Schweigen und den Blick beseitigt, er hat das Wiedererkennen des Wahnsinns durch sich selbst im Spiel des eigenen Schauspiels aufgehoben und läßt die Instanzen der Verurteilung zum Schweigen kommen« (Foucault 1978, 535).
Der Entwurf: Das Scheitern einer naturwissenschaftlichen Psychologie als Basis für die Erfindung der Psychoanalyse
Dieser Text Freuds hat eine spezielle Geschichte. Er wurde 1895 innerhalb von 3 Wochen verfasst und an seinen damaligen engsten Freund Wilhelm Fließ, der zu dieser Zeit auch sein »Übertragungs-Anderer« war, geschickt.1 Beschäftigt haben Freud die in diesem Text aufgeworfenen Fragen viel länger, wie zahlreiche Bemerkungen und Kommentare in diesen Briefen zeigen. In den folgenden Jahren hat Freud von einer Publikation dieses Textes Abstand genommen und ihn auch nie von Fließ zurück gefordert. So verblieb er bei diesem und kam schließlich nach dessen Tod in den Nachlass. So war also der damaligen psychoanalytischen community die Existenz dieses Textes unbekannt, bis er, wie Ernest Jones in seiner Freud-Biographie dramatisierend berichtet, von Marie Bonaparte »gerettet« wurde (vgl. Jones 1960, 337-339). 1950 erscheint eine erste Ausgabe davon unter dem Titel »Aus den Anfängen der Psychoanalyse«, herausgegeben von M. Bonaparte, A. Freud und E. Kris in London. Das Originalmanuskript trägt keinen Titel. Freud benennt in seinen Briefen an Fließ seinen Text unterschiedlich, einmal als »Psychologie für den Neurologen« (Brief vom 27.4.1895; Freud 1985, 129). Der mittlerweile etablierte Titel Entwurf einer Psychologie stammt von den Herausgebern der Anfänge (vgl. Freud 1950). Die aktuelle deutsche Ausgabe des Textes, die in den Nachtragsband der Gesammelten Werke aufgenommen wurde, basiert auf einer völlig neuen Transkription. Und dieser Text hat eine einzigartige Stellung innerhalb des ganzen Oevres von Freuds Schriften. Es ist nämlich ein Brief. Und er kann nur richtig verstanden werden, wenn wir uns von seiner Sprache, die von den sich damals gerade formierenden Wissenschaften der Neurologie und Physiologie geprägt ist, nicht blenden lassen. Seit ihrer ersten Begegnung in Wien 1887 entwickelt sich zwischen dem Berliner Arzt Wilhelm
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Ich verwende hier einen Ausdruck, der sich in einem Brief Freuds an Fließ vom 18.5.1898 in einer sehr interessanten Formulierung findet – und der m.E. die Hypothese, dass Fließ in diesen Jahren Freuds »Übertragungsträger« war, stützt: »Ich bin so unendlich froh, daß Du mir einen Anderen schenkst, einen Kritiker und Leser, noch dazu von deiner Qualität« (Freud 1985, 342).
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Fließ und Freud eine intensive Freundschaft, die Briefe, die sie über 10 Jahre austauschen, werden, wie man weiß, Freuds eigene Analyse gewesen sein. Freud diskutiert mit seinem Freund alle klinischen und theoretischen Überlegungen aus diesen Jahren, er tauscht mit ihm seine Gedanken und Vermutungen aus – darunter die Deutung seiner Träume. Es handelt sich also um eine enge Verbindung zwischen der Erfindung der Psychoanalyse einerseits und Freuds Analyse andererseits. Als einen Beleg für diese These wollen wir schon einmal darauf verweisen, dass der berühmte »Traum von Irmas Injektion«, den Freud zum 24. Juli 1895 träumt, im Entwurf erstmals analysiert wird, lange bevor er dann in der Traumdeutung an zentraler Stelle platziert die neue und bahnbrechende Theorie des Traums als exemplarische Bildung des Unbewussten belegen wird. Für unsere Lesart des Entwurfs hat diese postulierte Verschränkung von psychoanalytischer Theorieentwicklung und Freuds Analyse eine wichtige Konsequenz: Die neurologische Sprache des »Apparats« muss zugleich gelesen werden wie die später ausgeführte Traumsprache, als »intime Schrift« (Haas 1994, 61). Versuchen wir uns also an diesem Text, der in mehrerer Hinsicht eine Herausforderung darstellt. Freud kündigt seine »Psychologie« in einem weiteren Brief an Fließ vom 25.5.1895 folgendermaßen an: »Es ist die Psychologie, von jeher mein fern winkendes Ziel, jetzt seitdem ich auf die Neurosen gestoßen bin, um so viel näher gerückt. Mich quälen zwei Absichten, nachzusehen, wie sich die Funktionslehre des Psychischen gestaltet, wenn man die quantitative Betrachtung, eine Art Ökonomik der Nervenkraft, einführt, und zweitens aus der Psychopathologie den Gewinn für die normale Psychologie herauszuschälen…. Solcher Arbeit habe ich in den letzten Wochen jede freie Minute gewidmet, die Nachtstunden von elf bis zwei mit solchem Phantasieren, Übersetzen und Erraten verbracht … Nach Resultaten wirst du mich noch lange nicht fragen können« (Freud 1985, 130). Aus diesem wie aus mehreren der Briefe der folgenden Wochen und Monate lesen wir, dass Freud diese Arbeit äußerst fordert. Es ist ein Auf und Ab in seinen Stimmungen, einmal glaubt er sich am Ziel, dann schreibt er wieder: »Mit der Psychologie ist es wirklich ein Kreuz. Kegelscheiben und Schwämmesuchen ist jedenfalls viel gesünder« (ebd., 139). Wir lesen also: Es ist für Freud eine schwere Geburt, er ist mit großem Enthusiasmus dabei, dann verlässt ihn wieder der Mut. Aber nach einem Besuch bei Fließ am 4.9.1895 schreibt er noch während der Zugfahrt nach Hause den 1. Teil dieses Manuskripts, wie wir von Jones erfahren (vgl. Jones 1960, 440). Freuds Ziel mit dieser Arbeit ist es, das Modell eines »psychischen Apparats« zu entwickeln, mit dem es möglich ist, die wichtigsten psychischen Leistungen wie Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen, aber auch die wesentlichen psychopathologischen Phänomene zu erklären. Freud beginnt diese Abhandlung mit folgender Absichtserklärung: »Es ist die Absicht, eine naturwissenschaftliche Psychologie zu liefern, d.h. psychische Vorgänge darzustellen als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile und sie damit anschaulich und widerspruchsfrei zu machen« (Freud 1895c, 387). Die »quantitativ bestimmten Zustände« lassen uns an die in Freuds Schriften später verwendete Gleichsetzung von »quantitativ« und »ökonomisch« denken. Den Begriff »ökonomisch« führte er in seiner Abhandlung über Das Unbewußte von 1915 ein. So gesehen haben die Editoren des Nachtragsbandes recht, wenn sie schreiben: »Wir haben also recht, wenn wir
Das Scheitern einer naturwissenschaftlichen Psychologie als Basis der Psychoanalyse
unser rätselhaftes Q, was immer seine eigentliche Natur sein mag, als Vorläufer eines der drei grundlegenden Elemente der Metapsychologie betrachten« (N, 486).2 Eine erste Durchsicht dieses Textes offenbart, wie viele der grundlegenden Begriffe der Psychoanalyse bereits auftauchen: Trägheits-, Konstanz-, und Lust/Unlustprinzip; Primär- und Sekundärprozess; Bewusstes, Vor- und Unbewusstes; Besetzung, Abfuhr und Hemmung; Widerstand und Abwehr; Verdrängung; Übertragung; der Begriff des Ich; Halluzination und Realitätsprüfung; Entbindung; die wunscherfüllende Tendenz des Traumes; Symbolbildung; Verschiebung; die Bedeutung der Sprache. Der Entwurf enthält also in nuce einen ersten Entwurf einer Metapsychologie, worauf auch Cordelia Schmidt-Hellerau hingewiesen hat (vgl. Schmidt-Hellerau 2003, 63).3
Aufbau und Funktionieren des »Apparats« Der Entwurf beruht, das macht Freud gleich zu Beginn explizit, auf zwei »Hauptsätzen«: dem »Prinzip der Trägheit« und der »Neuronentheorie«. Das Trägheitsprinzip besagt, dass »das Nervensystem« die Tendenz hat, in einem möglichst stabilen Zustand zu verharren und, sofern es durch äußere oder innere Kräfte aus diesem Zustand zu geraten droht, alle Anstrengungen unternimmt, in den ursprünglichen relativen Ruhezustand zurückzukehren (vgl. Freud 1895c, 388). – Was Freud hier als »Trägheitsprinzip« erörtert, ist in heutiger Sprache das Prinzip der Homöostase. – Auch die in der Folge besprochenen anderen Prinzipien (Konstanz, Lust-, Unlust- und Nirwanaprinzip) dienen letztlich derselben Funktion: Als Regulationsorgane im Dienste der Homöostase versuchen sie eine dynamische Stabilität des Systems zu garantieren. Der »erste Hauptsatz« begründet also die »quantitative Auffassung«: Die psychischen Erregungsvorgänge werden als fließende Quantität verstanden, die den allgemeinen Bewegungsgesetzen gehorchen, insbesondere dem Trägheitsprinzip. – Allein dieses Prinzip »wird von Anfang an durchbrochen« (ebd., 389) – und damit beginnt eine »Geschichte« mit großen Folgen. Freud erörtert hier ein zentrales, ihn über viele Jahre intensiv beschäftigendes Problem, das ihn letztlich zur Konzeption der Triebe führt: Er unterscheidet exogene und endogene Reize, die diesen »Apparat« aus der Ruhe zu bringen drohen. Die äußeren Reize werden im wesentlichen durch motorische Aktivität »abgeführt«. Der Apparat reagiert also mit »Reizflucht«, was bei den endogenen Reizen keine dauerhafte Lösung darstellt, da ja die Reizursache (z.B. der Hunger) dadurch nicht beseitigt wird. Diese »großen Bedürfnisse« wie »Hunger, Atem, Sexualität« (ebd., 389) bewirken einen Drang nach Reizabfuhr und d.h. nach »Bedürfnisbefriedigung«. Und diese kann nur durch die Mithilfe der Außenwelt, durch eine »spezifische Aktion« des »Nebenmenschen« erfolgen. »Hiermit ist das Neuronensystem gezwungen, die ursprüngliche Tendenz zur Trägheit, d.h. zum Niveau=0 aufzugeben« (ebd., 390). Die »Not des Lebens« erzwingt
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Q ist das Kürzel, das Freud in diesem Manuskript für »Quantität« benutzt. Wie sehr die späteren theoretischen Texte Freuds auf diesem Entwurf fußen, soll im Abschnitt über Die Traumdeutung vor allem an dessen 7. Kapitel aufgewiesen werden.
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unser rätselhaftes Q, was immer seine eigentliche Natur sein mag, als Vorläufer eines der drei grundlegenden Elemente der Metapsychologie betrachten« (N, 486).2 Eine erste Durchsicht dieses Textes offenbart, wie viele der grundlegenden Begriffe der Psychoanalyse bereits auftauchen: Trägheits-, Konstanz-, und Lust/Unlustprinzip; Primär- und Sekundärprozess; Bewusstes, Vor- und Unbewusstes; Besetzung, Abfuhr und Hemmung; Widerstand und Abwehr; Verdrängung; Übertragung; der Begriff des Ich; Halluzination und Realitätsprüfung; Entbindung; die wunscherfüllende Tendenz des Traumes; Symbolbildung; Verschiebung; die Bedeutung der Sprache. Der Entwurf enthält also in nuce einen ersten Entwurf einer Metapsychologie, worauf auch Cordelia Schmidt-Hellerau hingewiesen hat (vgl. Schmidt-Hellerau 2003, 63).3
Aufbau und Funktionieren des »Apparats« Der Entwurf beruht, das macht Freud gleich zu Beginn explizit, auf zwei »Hauptsätzen«: dem »Prinzip der Trägheit« und der »Neuronentheorie«. Das Trägheitsprinzip besagt, dass »das Nervensystem« die Tendenz hat, in einem möglichst stabilen Zustand zu verharren und, sofern es durch äußere oder innere Kräfte aus diesem Zustand zu geraten droht, alle Anstrengungen unternimmt, in den ursprünglichen relativen Ruhezustand zurückzukehren (vgl. Freud 1895c, 388). – Was Freud hier als »Trägheitsprinzip« erörtert, ist in heutiger Sprache das Prinzip der Homöostase. – Auch die in der Folge besprochenen anderen Prinzipien (Konstanz, Lust-, Unlust- und Nirwanaprinzip) dienen letztlich derselben Funktion: Als Regulationsorgane im Dienste der Homöostase versuchen sie eine dynamische Stabilität des Systems zu garantieren. Der »erste Hauptsatz« begründet also die »quantitative Auffassung«: Die psychischen Erregungsvorgänge werden als fließende Quantität verstanden, die den allgemeinen Bewegungsgesetzen gehorchen, insbesondere dem Trägheitsprinzip. – Allein dieses Prinzip »wird von Anfang an durchbrochen« (ebd., 389) – und damit beginnt eine »Geschichte« mit großen Folgen. Freud erörtert hier ein zentrales, ihn über viele Jahre intensiv beschäftigendes Problem, das ihn letztlich zur Konzeption der Triebe führt: Er unterscheidet exogene und endogene Reize, die diesen »Apparat« aus der Ruhe zu bringen drohen. Die äußeren Reize werden im wesentlichen durch motorische Aktivität »abgeführt«. Der Apparat reagiert also mit »Reizflucht«, was bei den endogenen Reizen keine dauerhafte Lösung darstellt, da ja die Reizursache (z.B. der Hunger) dadurch nicht beseitigt wird. Diese »großen Bedürfnisse« wie »Hunger, Atem, Sexualität« (ebd., 389) bewirken einen Drang nach Reizabfuhr und d.h. nach »Bedürfnisbefriedigung«. Und diese kann nur durch die Mithilfe der Außenwelt, durch eine »spezifische Aktion« des »Nebenmenschen« erfolgen. »Hiermit ist das Neuronensystem gezwungen, die ursprüngliche Tendenz zur Trägheit, d.h. zum Niveau=0 aufzugeben« (ebd., 390). Die »Not des Lebens« erzwingt
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Q ist das Kürzel, das Freud in diesem Manuskript für »Quantität« benutzt. Wie sehr die späteren theoretischen Texte Freuds auf diesem Entwurf fußen, soll im Abschnitt über Die Traumdeutung vor allem an dessen 7. Kapitel aufgewiesen werden.
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eine Modifikation des Trägheitsprinzips zum Konstanzprinzip: wenn schon nicht gar keine Spannung, dann wenigstens möglichst wenig davon. So ist es nur konsequent, dass Freud in seinem zweiten Hauptsatz betreffend die »Neuronentheorie« jetzt zwei Arten von Neuronensystemen unterscheidet, wobei es wichtig erscheint, dass diese nicht morphologisch, sondern allein ihrer Funktion nach unterschieden werden: • •
die an der Außenperipherie liegenden leeren Neuronen, die Außenreize durchlassen und andererseits besetzte Neuronen, die mit Widerständen, die er Kontaktschranken nennt, ausgestattet sind, die die Fähigkeit haben, endogene Reize zu speichern.
Schließlich gibt es dann noch ein drittes System der Wahrnehmungsneuronen, mit dessen Hilfe der psychische Apparat dann spezifische Leistungen durchführen kann wie Wahrnehmen, Erkennen, Denken, Urteilen, Wünschen, Träumen etc. Die »leeren« bzw. »durchlässigen« Neuronen stellen jenen Teil des Apparates dar, der an der »Außenperipherie« liegen soll. Hier strömen ständig neue Quantitäten ein, deren Zufluss allerdings durch Filter und Schirme gemildert wird. Dieser Teil des Apparats kann nämlich nur eine bestimmte Reizmenge ertragen, sonst reagiert er mit Schmerz. – Die Tendenz zur Reizminderung ist also im Aufbau des Apparats zu erkennen. Während durch den ersten Teil des Apparats alles hindurch geht und nichts zurückbleibt, hinterlassen diese Eindrücke Spuren im dahinter liegenden Neuronensystem, dem »eigentlich Psychischen«, so Freud. Er nennt diese Spuren »Bahnungen«. Zwischen den Neuronen sollen »Kontaktschranken« liegen – so eine Art Verbindungswiderstände – die bei zu viel Quantität ihren Widerstand verlieren und die Energie ans nächste Neuron »übertragen«. Die dauerhafte Wirkungsfolge davon ist eben die »Bahnung«. Diese Bahnungen repräsentieren die »Spuren der Realität« (ebd., 430) – die ersten Bausteine von »Gedächtnis«. Unter dem Zwischentitel Das Qualitätsproblem kommt Freud sodann auf eine für ihn ganz zentrale Frage zu sprechen: »Es ist bisher gar nicht zur Sprache gekommen, daß jede psychologische Theorie außer den Leistungen von naturwissenschaftlicher Seite her noch eine große Anforderung erfüllen muß. Sie soll uns erklären, was wir auf die rätselhafteste Weise durch unser ›Bewußtsein‹ kennen« (ebd., 400). Dieses weiß nämlich nichts von Neuronen und Quantitäten, es arbeitet mit Qualitäten: »Das Bewusstsein gibt uns, was man Qualitäten heißt, Empfindungen, die in großer Mannigfaltigkeit anders sind und deren Anders nach Beziehungen zur Außenwelt unterschieden wird« (ebd., 401). Um dieses »Bewusstsein« als Teil des Apparats zu platzieren, sieht sich Freud genötigt, noch ein drittes System von Neuronen zu postulieren, die ω Neuronen, in welchem diese Qualitäten zustande kommen sollen. Wir dürfen dieses dritte System wohl mit den Sinnesorganen und der Verarbeitung der von ihnen kommenden Reize in Verbindung bringen. – Und jetzt kommt ein interessantes statement: »Eine Erklärung, wieso Erregungsvorgänge in den ω Neuronen Bewußtsein mit sich bringen, ist natürlich nicht zu versuchen« (ebd., 403). Nachdem sich Freud sodann vom Konzept des Physikalismus, der zu dieser Zeit die bestimmende Auffassung zu diesem Fragekomplex war, abgrenzt (wonach »das Bewußtsein eine bloße Zutat zu den physiologisch-psychischen Vorgän-
Das Scheitern einer naturwissenschaftlichen Psychologie als Basis der Psychoanalyse
gen« sei), positioniert er sich so: »Bewußtsein ist hier die subjektive Seite eines Teiles der physischen Vorgänge im Nervensystem, nämlich der ω Vorgänge, und Wegfall des Bewusstseins läßt das psychische Geschehen nicht ungeändert, sondern schließt den Wegfall des Beitrags aus ω in sich ein« (ebd., 404). Freud positioniert sich also in dieser auch damals strittigen Frage eher beim Konzept des psychophysischen Parallelismus und bleibt in der Folge konsequent bei seinem Interesse, »Bewusstsein« als Funktionssystem möglichst genau zu erfassen.4 Da er annimmt, dass auch dieses System der generellen Tendenz des psychischen Lebens, Unlust zu vermeiden, unterliegt, hat dies einschneidende Folgen für die Fähigkeit, Realität zu erkennen.
Die Einführung des »Ich«, das »Befriedigungserlebnis« und seine Folgen Freud stellt sich das Ich als eine Organisation innerhalb des Apparats vor, welche die Erregungen in bestimmter Weise steuert: »daß die regelmäßig wiederholte Aufnahme endogener Q in bestimmte Neurone (des Kernes) und die bahnende Wirkung, die von dort ausgeht, eine Gruppe von Neuronen ergeben wird, die konstant besetzt ist, also dem durch die sekundäre Funktion erforderten Vorratsträger entspricht. Das Ich ist also zu definieren als die Gesamtheit der jeweiligen ψ-Besetzungen, in denen sich ein bleibender von einem wechselnden Bestandteil sondert« (ebd., 416). Was bedeutet das? Das Ich muss folgende grundlegende Fähigkeit haben: Es muss imstande sein, endogene von exogenen Reizen zu unterscheiden und beim Auftreten von drängenden inneren Reizen eine spezifische Aktion in Gang setzen, die letztlich zum Befriedigungserlebnis führt. Das ist komplizierter als es scheint. Zunächst wird die innere Reizung der »Kern-Neurone« ein Abfuhrstreben, einen Drang zur Folge haben, der sich motorisch entlädt – z.B. Schreien. Aber diese Abfuhr hat noch keinen entlastenden Charakter. Die tatsächliche Reizaufhebung benötigt einen Eingriff von außen: »Sie erfolgt durch fremde Hilfe, indem durch die Abfuhr auf dem Wege der inneren Veränderung ein erfahrenes Individuum auf den Zustand des Kindes aufmerksam gemacht wird. Diese Abfuhrbahn gewinnt so die höchst wichtige Sekundärfunktion der Verständigung« (ebd., 410). Durch dieses Befriedigungserlebnis, »welches die eingreifendsten Folgen für die Funktionsentwicklung des Individuums hat« (ebd., 411), entstehen nach Freud »Bahnungen« mit weitreichenden strukturellen Folgen: Diejenigen Neuronen, die von diesem inneren Drang erfasst werden, verknüpfen sich mit den Wahrnehmungen, die sich auf das hilfreiche Objekt beziehen – und als Folge mehrerer solcher Erfahrungen entsteht eine »Bahnung«. Diese bewirkt, dass jede weitere ähnliche innere Reizung nach dem »Grundgesetz der Assoziation« mit entsprechenden »Bewegungsbildern« verknüpft wird. »Es entsteht also durch das Befriedigungserlebnis eine Bahnung 4
Hier ergibt sich nochmals die Frage, wie im Entwurf die Rede von den »Neuronen« überhaupt gelesen werden soll. Wie hält es Freud in diesem ganzen Text mit dem Verhältnis von Physischem und Psychischen? Zentral scheint uns seine Zusammenziehung von »Neuronen« und »Vorstellungen«. »In den Zeichnungen des Entwurfs zeigt sich das Gleiten zwischen beiden Kategorien noch deutlicher: Es verläuft von den Skizzen am Beginn des Textes, die Neuronenstrukturen zeigen, zu den späteren – strukturgleichen! – Graphiken, die jetzt Relationen von Vorstellungselementen vorführen« (Wegener 2004, 168, Anm. 64).
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gen« sei), positioniert er sich so: »Bewußtsein ist hier die subjektive Seite eines Teiles der physischen Vorgänge im Nervensystem, nämlich der ω Vorgänge, und Wegfall des Bewusstseins läßt das psychische Geschehen nicht ungeändert, sondern schließt den Wegfall des Beitrags aus ω in sich ein« (ebd., 404). Freud positioniert sich also in dieser auch damals strittigen Frage eher beim Konzept des psychophysischen Parallelismus und bleibt in der Folge konsequent bei seinem Interesse, »Bewusstsein« als Funktionssystem möglichst genau zu erfassen.4 Da er annimmt, dass auch dieses System der generellen Tendenz des psychischen Lebens, Unlust zu vermeiden, unterliegt, hat dies einschneidende Folgen für die Fähigkeit, Realität zu erkennen.
Die Einführung des »Ich«, das »Befriedigungserlebnis« und seine Folgen Freud stellt sich das Ich als eine Organisation innerhalb des Apparats vor, welche die Erregungen in bestimmter Weise steuert: »daß die regelmäßig wiederholte Aufnahme endogener Q in bestimmte Neurone (des Kernes) und die bahnende Wirkung, die von dort ausgeht, eine Gruppe von Neuronen ergeben wird, die konstant besetzt ist, also dem durch die sekundäre Funktion erforderten Vorratsträger entspricht. Das Ich ist also zu definieren als die Gesamtheit der jeweiligen ψ-Besetzungen, in denen sich ein bleibender von einem wechselnden Bestandteil sondert« (ebd., 416). Was bedeutet das? Das Ich muss folgende grundlegende Fähigkeit haben: Es muss imstande sein, endogene von exogenen Reizen zu unterscheiden und beim Auftreten von drängenden inneren Reizen eine spezifische Aktion in Gang setzen, die letztlich zum Befriedigungserlebnis führt. Das ist komplizierter als es scheint. Zunächst wird die innere Reizung der »Kern-Neurone« ein Abfuhrstreben, einen Drang zur Folge haben, der sich motorisch entlädt – z.B. Schreien. Aber diese Abfuhr hat noch keinen entlastenden Charakter. Die tatsächliche Reizaufhebung benötigt einen Eingriff von außen: »Sie erfolgt durch fremde Hilfe, indem durch die Abfuhr auf dem Wege der inneren Veränderung ein erfahrenes Individuum auf den Zustand des Kindes aufmerksam gemacht wird. Diese Abfuhrbahn gewinnt so die höchst wichtige Sekundärfunktion der Verständigung« (ebd., 410). Durch dieses Befriedigungserlebnis, »welches die eingreifendsten Folgen für die Funktionsentwicklung des Individuums hat« (ebd., 411), entstehen nach Freud »Bahnungen« mit weitreichenden strukturellen Folgen: Diejenigen Neuronen, die von diesem inneren Drang erfasst werden, verknüpfen sich mit den Wahrnehmungen, die sich auf das hilfreiche Objekt beziehen – und als Folge mehrerer solcher Erfahrungen entsteht eine »Bahnung«. Diese bewirkt, dass jede weitere ähnliche innere Reizung nach dem »Grundgesetz der Assoziation« mit entsprechenden »Bewegungsbildern« verknüpft wird. »Es entsteht also durch das Befriedigungserlebnis eine Bahnung 4
Hier ergibt sich nochmals die Frage, wie im Entwurf die Rede von den »Neuronen« überhaupt gelesen werden soll. Wie hält es Freud in diesem ganzen Text mit dem Verhältnis von Physischem und Psychischen? Zentral scheint uns seine Zusammenziehung von »Neuronen« und »Vorstellungen«. »In den Zeichnungen des Entwurfs zeigt sich das Gleiten zwischen beiden Kategorien noch deutlicher: Es verläuft von den Skizzen am Beginn des Textes, die Neuronenstrukturen zeigen, zu den späteren – strukturgleichen! – Graphiken, die jetzt Relationen von Vorstellungselementen vorführen« (Wegener 2004, 168, Anm. 64).
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zwischen zwei Erinnerungsbildern und den Kern-Neuronen, die im Zustande des Drängens besetzt werden … Mit Wiederauftreten des Drang- oder Wunschzustandes geht nun die Besetzung auch auf die beiden Erinnerungen über und belebt sie« (ebd., 412). Das Resultat ist, dass endo-senso-motorische Assoziationen zwischen Drang, Objekt und spezifischer Aktion gebahnt werden, mit deren Hilfe es dem Apparat durch Wiederholungen immer besser gelingt, eine »spezifische Aktion« durchzuführen und so gezielt zum »Befriedigungserlebnis« zu kommen. Soweit so gut. Da gibt es allerdings noch ein gravierendes Problem: Wenn wie angenommen bei jedem gleichen oder ähnlichen endogenen Reiz die einmal assoziierten und damit besetzten Objekt- und Bewegungsbilder aktiviert, sprich »erinnert« werden, wie soll dann der »Apparat« entscheiden, ob das bei einem solchen Reiz aktivierte Objektbild eine Halluzination oder eine Realitätswahrnehmung ist?! Freud positioniert sich an dieser entscheidenden Stelle unmissverständlich und klar: »Ich zweifle nicht, daß diese Wunschbelebung zunächst dasselbe ergibt wie die Wahrnehmung, nämlich eine Halluzination. Wird daraufhin die reflektorische Aktion eingeleitet, so bleibt die Enttäuschung nicht aus« (ebd., 412). Halten wir also fest: Am Anfang ist das Menschenwesen in einer sehr prekären und ausgesetzten Situation. Zunächst ganz fremden und unbekannten Erfahrungen von außen und von innen ausgeliefert, erliegt es im Grunde einem tendenziell psychotischen Erleben. Wenn, wie von Freud angenommen, im günstigsten Fall die »spezifische Aktion« zur Spannungsabfuhr eingeleitet wird, der »Nebenmensch« tatsächlich richtig reagiert und sich das »Befriedigungserlebnis« einstellt, so wird diese »erste« Erfahrung alle nachfolgenden Spannungs- und Bedürfniszustände nachhaltig prägen: Eine Erinnerungsspur ist gebahnt, die von jedem nachfolgenden ähnlichen Drang aktiviert werden wird. – Die von Freud oben angesprochene »Enttäuschung«, die nicht ausbleibt, führt ihn zu Überlegungen, die von seinem Verständnis des Lust/Unlustprinzips motiviert sind: Die Enttäuschung macht Unlust, bei Steigerung »Schmerz«. Während das Befriedigungserlebnis eine Attraktion, einen »Wunsch« bewirkt, führt das Schmerzerlebnis zu einer Abneigung gegen die neuerliche Besetzung dieser »Erinnerungsbilder« – die »primäre Abwehr«, Vorläufer der späteren »Verdrängung«, ist erfasst. Da also die »Enttäuschung« Unlust macht, der primitive psychische Apparat also Wahrnehmung und Wunsch nicht zur Deckung bringen kann, wird der Weg zum Halluzinieren frei. Wie kann diese problematische Bahnung vermieden oder zumindest gebremst werden? Dazu bedarf es einer guten Besetzung des Ich – oder in der Sprache des Entwurfs: Es bedarf einer in ω (den Wahrnehmungsneuronen) erfolgten Abfuhrnachricht, die an die ψ-Neuronen weitergegeben und dort von einem Ich, welches in der Lage ist, psychische Primärvorgänge zu hemmen, aufgegriffen wird. Dies wird es ermöglichen, dass zwischen »Erinnerungsbild« (= Halluzination) und Wahrnehmung unterschieden werden kann. Welche Funktion schreibt Freud also diesem »Ich« zu? Und wie kann es zu einem »funktionierenden« Ich kommen? Nach Freuds energetischer Erklärung kommt dieses Ich durch den Umstand zustande, dass gemäß dem Lustprinzip zweierlei Besetzungen gespeichert werden: die Befriedigungsbesetzungen und die wegen der unvermeidlichen Unlust- und Schmerzerfahrungen resultierenden Hemmungen. Diese
Das Scheitern einer naturwissenschaftlichen Psychologie als Basis der Psychoanalyse
Hemmungsfunktion ist – so Freud – von essentiellem Nutzen. Sie sorgt nämlich dafür, dass die Unlustentbindung reduziert werden kann und – noch wichtiger – sie mildert die ursprüngliche Tendenz zur »primären Abfuhr« und erzeugt schließlich ein durch mehr oder weniger konstante Besetzungen stabil gewordenes Ich. »Wird das Wunschobjekt ausgiebig besetzt, so daß es halluzinatorisch belebt wird, so erfolgt auch dasselbe Abfuhr- oder Realitätszeichen wie bei äußerer Wahrnehmung. Für diesen Fall versagt das Kriterium. Findet aber die Wunschbesetzung unter Hemmung statt, wie es bei besetztem Ich möglich wird, so ist ein quantitativer Fall denkbar, daß die Wunschbesetzung, als nicht intensiv genug, kein Qualitätszeichen ergibt, während die äußere Wahrnehmung es ergeben würde …. Es ist demnach die Ichhemmung, welche ein Kriterium zur Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Erinnerung ermöglicht« (ebd., 421). Freud geht also davon aus, dass der Zustand der psychischen Aufmerksamkeit »hat sein Vorbild in dem für die ganze Entwicklung so wichtigen Befriedigungserlebnis und dessen Wiederholungen, den Begierdezuständen, die sich zu Wunschzuständen und Erwartungszuständen entwickelt haben« (ebd., 452). Hier ist also die Genese der »Wunschmaschine« zu verorten. Und diese hat eine Tendenz, nämlich die Wiederbesetzung von Erinnerungsbildern, die mit dem Befriedigungserlebnis assoziiert sind. Was bedeutet das aber in der Konsequenz? »Ich zweifle nicht, daß diese Wunschbelebung zunächst dasselbe ergibt wie die Wahrnehmung, nämlich eine Halluzination« (ebd., 420). – Die korrekte Wahrnehmung der Realität muss also einer zunächst gegenläufigen Tendenz abgerungen werden, der Tendenz zum Halluzinieren, dieses verstanden als Nichtunterscheidbarkeit von Wahrnehmung und Vorstellung. Es gibt also, so die Annahme Freuds, kein sicheres Realitätserkennungszeichen im Apparat. Der Zweifel, ob etwas von außen oder von innen kommt, ist angelegt. Die Erfahrung der »überstarken Vorstellungen« hat diese Neigung angelegt. Und diese »Neigung« macht Freud in der Folge zum Funktionsprinzip des »Primärprozesses«, der sich völlig unabhängig von äußeren Gegebenheiten nach den inneren Gesetzen der »Bahnungen« verhält: »Die Wunschbesetzung bis zur Halluzination, die volle Unlustentwicklung, die vollen Abwehrvorgang mit sich bringt, bezeichnen wir als psychische Primärvorgänge« (ebd., 422). Folglich bleibt auch dieses Ich im Verhältnis zu äußeren und inneren Reizen stets gefährdet, weil eben die Geschichte seiner Entstehung auch in ihm Spuren hinterlassen hat. Und dies bedeutet, dass die Neigung zum »Halluzinieren« nie gänzlich gebannt sein wird.5
Das »hysterische proton pseudos«, die Selbsttäuschung des Ich6 Die oben beschriebene Gefährdung des Ich wird von Freud anhand eines Falls von Hysterie, am Fall »Emma« erläutert. Ihr »Symptom« ist, dass sie als Erwachsene nicht allein
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Lacan wird später diese zwei Seiten des Ich auch begrifflich unterscheiden – in das dem Imaginären gehorchende, illusionäre moi-Ich und das dem Symbolischen zugewandte je-Ich (vgl. Lacan, Seminar Buch II, Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse). Freud übernimmt den Begriff »proton pseudos« offenbar aus der Ersten Analytik von Aristoteles; dort geht es um falsche Prämissen und daraus resultierenden falschen Schlussfolgerungen.
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Hemmungsfunktion ist – so Freud – von essentiellem Nutzen. Sie sorgt nämlich dafür, dass die Unlustentbindung reduziert werden kann und – noch wichtiger – sie mildert die ursprüngliche Tendenz zur »primären Abfuhr« und erzeugt schließlich ein durch mehr oder weniger konstante Besetzungen stabil gewordenes Ich. »Wird das Wunschobjekt ausgiebig besetzt, so daß es halluzinatorisch belebt wird, so erfolgt auch dasselbe Abfuhr- oder Realitätszeichen wie bei äußerer Wahrnehmung. Für diesen Fall versagt das Kriterium. Findet aber die Wunschbesetzung unter Hemmung statt, wie es bei besetztem Ich möglich wird, so ist ein quantitativer Fall denkbar, daß die Wunschbesetzung, als nicht intensiv genug, kein Qualitätszeichen ergibt, während die äußere Wahrnehmung es ergeben würde …. Es ist demnach die Ichhemmung, welche ein Kriterium zur Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Erinnerung ermöglicht« (ebd., 421). Freud geht also davon aus, dass der Zustand der psychischen Aufmerksamkeit »hat sein Vorbild in dem für die ganze Entwicklung so wichtigen Befriedigungserlebnis und dessen Wiederholungen, den Begierdezuständen, die sich zu Wunschzuständen und Erwartungszuständen entwickelt haben« (ebd., 452). Hier ist also die Genese der »Wunschmaschine« zu verorten. Und diese hat eine Tendenz, nämlich die Wiederbesetzung von Erinnerungsbildern, die mit dem Befriedigungserlebnis assoziiert sind. Was bedeutet das aber in der Konsequenz? »Ich zweifle nicht, daß diese Wunschbelebung zunächst dasselbe ergibt wie die Wahrnehmung, nämlich eine Halluzination« (ebd., 420). – Die korrekte Wahrnehmung der Realität muss also einer zunächst gegenläufigen Tendenz abgerungen werden, der Tendenz zum Halluzinieren, dieses verstanden als Nichtunterscheidbarkeit von Wahrnehmung und Vorstellung. Es gibt also, so die Annahme Freuds, kein sicheres Realitätserkennungszeichen im Apparat. Der Zweifel, ob etwas von außen oder von innen kommt, ist angelegt. Die Erfahrung der »überstarken Vorstellungen« hat diese Neigung angelegt. Und diese »Neigung« macht Freud in der Folge zum Funktionsprinzip des »Primärprozesses«, der sich völlig unabhängig von äußeren Gegebenheiten nach den inneren Gesetzen der »Bahnungen« verhält: »Die Wunschbesetzung bis zur Halluzination, die volle Unlustentwicklung, die vollen Abwehrvorgang mit sich bringt, bezeichnen wir als psychische Primärvorgänge« (ebd., 422). Folglich bleibt auch dieses Ich im Verhältnis zu äußeren und inneren Reizen stets gefährdet, weil eben die Geschichte seiner Entstehung auch in ihm Spuren hinterlassen hat. Und dies bedeutet, dass die Neigung zum »Halluzinieren« nie gänzlich gebannt sein wird.5
Das »hysterische proton pseudos«, die Selbsttäuschung des Ich6 Die oben beschriebene Gefährdung des Ich wird von Freud anhand eines Falls von Hysterie, am Fall »Emma« erläutert. Ihr »Symptom« ist, dass sie als Erwachsene nicht allein
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Lacan wird später diese zwei Seiten des Ich auch begrifflich unterscheiden – in das dem Imaginären gehorchende, illusionäre moi-Ich und das dem Symbolischen zugewandte je-Ich (vgl. Lacan, Seminar Buch II, Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse). Freud übernimmt den Begriff »proton pseudos« offenbar aus der Ersten Analytik von Aristoteles; dort geht es um falsche Prämissen und daraus resultierenden falschen Schlussfolgerungen.
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in den Kaufladen gehen kann. Sie erinnert, dass sie als 12-jährige in einem solchen Laden, in dem zwei Verkäufer waren, von diesen ausgelacht worden ist. Sie vermutet, wegen ihrem Kleid. Zudem erzählt sie, dass ihr einer der beiden sexuell gefallen habe. Freud vermutet einen »Schreckeffekt«. Unter dem Einfluss der Hypnose auf der Couch erinnert sie eine zweite, weiter zurück liegende Szene: »Als Kind von acht Jahren ging sie zweimal in den Laden eines Greifers allein, um Näschereien einzukaufen. Der Edle kniff sie dabei durch die Kleider in die Genitalien. Trotz der ersten Erfahrung ging sie ein zweites Mal hin. Nach dem zweiten blieb sie aus. Sie macht sich nun Vorwürfe, daß sie zum zweiten Mal hingegangen« (ebd., 445). Wie deutet nun Freud diesen Fall? Noch ganz unter dem Einfluss seiner »Verführungstheorie« und seiner Annahme einer »Vorzeitigkeit in der Sexualentbindung« entwickelt er das Konzept der »Nachträglichkeit«: Emmas hysterischer Schreckaffekt in der späteren Szene wird als nachträgliche Wirkung eines »vorzeitigen« Erlebnisses verstanden, das zum Zeitpunkt des tatsächlichen Erlebens bedeutungs- und wirkungslos geblieben war. Erst die Erinnerung hat einen Affekt produziert, »den sie als Erlebnis nicht erweckt hatte« (ebd., 477). Das spätere Erleben hat die erste Spur wiedererweckt und zu einer Affektentbindung geführt, die beim ursprünglichen Erleben nicht möglich war. »Emmas Symptom besteht also genau genommen darin, daß die erste Erlebnisspur über keine Darstellungsmöglichkeiten verfügte, weder Bilder noch Vorstellungen hinterließ, weder Richtung noch Adressaten besaß und als psychische Niederschrift unleserlich blieb« (Seifert 2008, 155). Freud spricht hier von zwei »falschen Verknüpfungen«, nämlich, »daß sie wegen ihrer Kleider ausgelacht worden und daß der eine Kommis ihr sexuelles Gefallen erregt hat« (Freud 1895c, 447).7 Emmas Ich ist also »gefährdet«, Selbsttäuschungen ausgesetzt, weil es unter der Wirkung der Nachträglichkeit steht. Zum Zeitpunkt der ersten Szene gibt es noch kein Ich, das die sexuellen Implikationen verarbeiten kann, denn Freud hat die frühkindliche Sexualität noch nicht entdeckt und geht hier noch davon aus, dass der psychische Apparat erst durch den »zweiten Sexualitätsschub« dies bearbeiten kann. – Die Konsequenzen für das Ich sind tatsächlich grundlegend: Das spätere Ich, das dieses unlustvolle erste Erleben »erinnert«, stellt eine falsche Verknüpfung her, eine falsche Behauptung auf. Es täuscht sich über seinen ersten Zustand. »Emma leidet an der als Gewalt erfahrenen Nichtdarstellbarkeit des Anfangs des Seelenlebens, sie krankt an der Wiederholung des Vergessens der ersten Unlust. Erst durch die Darstellung dieser nichtssagenden Erregung wird sie aus ihrem Schrecken herausfinden« (Seifert 2008, 156). Und Freud verallgemeinert diesen Befund: Er soll nicht nur für die Hysterie, sondern grundsätzlich für die Psychogenese Gültigkeit haben: »Dieser Fall ist nun typisch für die Verdrängung bei der Hysterie. Überall findet sich, daß eine Erinnerung verdrängt wird, die nur nachträglich zum Trauma geworden ist. Ursache dieses Sachverhaltes ist die Verspätung der Pubertät gegen die sonstige Entwicklung des Individuums« (Freud 1895c, 448).
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Das Konzept der »falschen Verknüpfung« hat Freud schon in den Studien über Hysterie an der Falldarstellung der Emmy von N. erläutert (vgl. Freud 1895a, 121f).
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Die Entdeckung des Sprachwesens Im III. Teil des Entwurfs versucht Freud die allgemeinen Annahmen zum »System« aus dem I. Teil mit seinen Beobachtungen aus der Psychopathologie (Teil II) zu verknüpfen, um damit ein Verständnis für die »normalen Vorgänge« zu gewinnen. Er bezieht sich eingangs auf seine Überlegungen zur Entstehung des Ichs. Dass dieses Ich einer Erregung durch äußere Reize eine »psychische Aufmerksamkeit« zuwendet, hat seine Voraussetzung (»sein Vorbild«) im »so wichtigen Befriedigungserlebnis und in dessen Wiederholungen, den Begierdezuständen, die sich zu Wunschzuständen und Erwartungszuständen entwickelt haben«. Und weiter: »Im Ich herrscht die Begierdespannung, in deren Folge die Vorstellung des geliebten Objekts (die Wunschvorstellung) besetzt wird« (ebd., 452). Unversehens aber logisch konsequent ist Freud also von einem Modell des psychischen Apparats, der so funktionieren soll wie ein Reflexsystem im Dienste des Konstanzprinzips, zu einem Konzept und einer Beschreibung des Psychischen vorgestoßen, das von »Vorstellungen« gelenkt wird – und diese sind sprachlich kodiert. Freud schreibt es einige Passagen später ganz deutlich: »Diesen Zweck erfüllt die Sprachassoziation. Sie besteht in der Verknüpfung der ψ Neurone mit Neuronen, welche den Klangvorstellungen dienen und selbst die engste Assoziation mit motorischen Sprachbildern haben« (ebd., 455). Freud hält zwar einerseits an seiner Rede von den »Neuronen« fest, andererseits entdeckt er hier die essentielle Bedeutung der Sprache für den Aufbau und das Funktionieren des »psychischen Apparats«. Diese Entdeckung ist freilich nicht ganz neu: Schon in seiner 4 Jahre früher verfassten Arbeit Zur Auffassung der Aphasien war er auf die Bedeutung und das Funktionieren der Sprache gestoßen; eine »kritische Studie«, so der Untertitel, in welcher Freud die damals herrschende Auffassung der neuropathologischen Literatur zu diesen Phänomenen in grundsätzlicher Weise in Frage stellt. Schon dort beschäftigt ihn die im obigen Zitat beschriebene Zusammensetzung einer Wortvorstellung aus dem »Klangbild«, dem »visuellen Buchstabenbild«, dem »Sprachbewegungsbild« und dem »Schreibbewegungsbild«. Er kommt dabei zu folgendem Ergebnis: »Das Wort ist also eine komplexe, aus den angeführten Bildern bestehende Vorstellung oder, anders ausgedrückt, dem Wort entspricht ein verwickelter Assoziationsvorgang, den die aufgeführten Elemente visueller, akustischer und kinästhetischer Herkunft miteinander eingehen« (Freud 1891, 79). Eigentlich findet also schon dort ein Umbruch im Denken Freuds statt, worauf besonders Johannes Fehr hingewiesen hat: »Die Bedeutung der Aphasiearbeit ist darin zu sehen, dass Freud hier zwar mit naturwissenschaftlichen Methoden und Konzepten arbeitet, dass ihn aber die besonderen Fragen, die sich mit den Sprachstörungen stellen, ins Gebiet der Sprache führen« (Fehr 1987, 17). Und weiter: »Der Weg, den Freud in der Aphasiearbeit zurücklegt, lässt sich als Verschiebung einer Frage beschreiben. Anstelle der Frage ›Wo sind die einzelnen Sprachstörungen und damit die ihnen entsprechenden Sprachleistungen lokalisiert?‹ drängt sich in der ›kritischen Studie‹ eine andere auf: ›Welcher Art sind die Beziehungen, welche Sprache ausmachen‹« (ebd., 56)? »Der »Sprachapparat« wird so zum Vorläufer jenes ›seelischen Apparates‹«, von dem Freud dann in der Traumdeutung schreiben wird: »Wir wollen ganz beiseite lassen, dass der seelische Apparat, um den es sich hier handelt, uns auch als anatomisches Präparat
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bekannt ist, und wollen der Versuchung sorgfältig aus dem Wege gehen, die psychische Lokalität etwa anatomisch zu bestimmen« (Freud 1900, 541).8
Zusammenfassung Freuds erklärtes Ziel mit diesem Text war es, eine allgemeine Psychologie für Naturwissenschaftler zu verfassen. Dazu konstruierte er einen psychischen Apparat, der die wesentlichen Leistungen wie Wahrnehmen, Denken, Erinnern, Träumen etc. verständlich machen und zudem die ihm damals zur Verfügung stehenden Erfahrungen aus der Psychopathologie integrieren sollte. Viele Interpreten dieses Textes haben erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Freuds grundsätzlichen Annahmen und aktuellen neurowissenschaftlichen Theorien festgestellt und daraus den Schluss gezogen, bei Freuds Entwurf handle es sich um ein frühes neurologisches Modell psychischer Phänomene.9 Tatsächlich bestätigt eine erste Lektüre diesen Eindruck: Freud benutzt eine Sprache mit vielen Metaphern der damaligen Biologie und Physiologie. Er versucht das »Ich« als ein neuronales Besetzungsprodukt zu konzipieren und psychisches Funktionieren auf Quantitäten und Reizmengen zurückzuführen. Es ist durchaus möglich, dass Freud ein solches Ziel im Auge hatte. Aber er betrachtete es bald als gescheitert und sein primäres Interesse an neurologischen Modellen ging verloren. Aber – so unsere Deutung – dieses »Scheitern« hatte zunächst vermutlich unbeabsichtigte Folgen, die nicht weniger bewirkten als die Erfindung der Psychoanalyse. In diesem Sinne schreibt auch Mai Wegener: »Bisher ist die Tatsache, daß Freud den Entwurf aufgegeben hat, fast durchgängig mit der Annahme verknüpft worden, daß er an dem Versuch der Einbettung in die ›Zielsprache ... der Neurologie‹ gescheitert sei. Das Gegenteil ist der Fall. Denn worauf Freud zugeht im Entwurf, ist gerade nicht die Neurologie (aus der er kommt), sondern – mit der Teilblindheit, die diesem Prozeß eigen war – das Feld der Psychoanalyse, die Erfindung des Platzes des Analytikers« (Wegener 2004, 195). Denn Freud ist bei der Analyse seines »Apparats« auf die »Wunschmaschine« gestoßen, die das Sprechwesen Mensch in grundsätzlicher Weise das Reflexwesen, das Streben nach Ruhe, Stabilität und Homöostase unterlaufen macht. Durch seine Arbeit mit seinen Neurotikern war ihm klar geworden, dass das »Menschentier« durch zwei grundlegende Eigenschaften sich vom »Reflexwesen« unterscheidet: durch die Übertragung und die Verdrängung. Die chronische »Übererregung« durch »endogene Reize« führt nicht nur im pathologischen, sondern auch im »normalen« Fall zur Neigung zum
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In Das Unbewußte wird Freud diese Thematik wieder aufgreifen und zu seiner endgültigen Formulierung bringen: »Das System Ubw enthält die Sachbesetzungen der Objekte, die ersten und eigentlichen Objektbesetzungen, das System VBW entsteht, indem diese Sachvorstellung mit den ihr entsprechenden Wortvorstellungen überbesetzt wird« (Freud 1915a, 300). Vgl. etwa die Einordnung des Entwurfs im Artikel von A. Metraux: Metamorphosen der Hirnwissenschaft. Warum Sigmund Freuds ›Entwurf einer Psychologie‹ aufgegeben wurde. In: Hagner, M. (Hg.) 1999, 75-109.
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bekannt ist, und wollen der Versuchung sorgfältig aus dem Wege gehen, die psychische Lokalität etwa anatomisch zu bestimmen« (Freud 1900, 541).8
Zusammenfassung Freuds erklärtes Ziel mit diesem Text war es, eine allgemeine Psychologie für Naturwissenschaftler zu verfassen. Dazu konstruierte er einen psychischen Apparat, der die wesentlichen Leistungen wie Wahrnehmen, Denken, Erinnern, Träumen etc. verständlich machen und zudem die ihm damals zur Verfügung stehenden Erfahrungen aus der Psychopathologie integrieren sollte. Viele Interpreten dieses Textes haben erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Freuds grundsätzlichen Annahmen und aktuellen neurowissenschaftlichen Theorien festgestellt und daraus den Schluss gezogen, bei Freuds Entwurf handle es sich um ein frühes neurologisches Modell psychischer Phänomene.9 Tatsächlich bestätigt eine erste Lektüre diesen Eindruck: Freud benutzt eine Sprache mit vielen Metaphern der damaligen Biologie und Physiologie. Er versucht das »Ich« als ein neuronales Besetzungsprodukt zu konzipieren und psychisches Funktionieren auf Quantitäten und Reizmengen zurückzuführen. Es ist durchaus möglich, dass Freud ein solches Ziel im Auge hatte. Aber er betrachtete es bald als gescheitert und sein primäres Interesse an neurologischen Modellen ging verloren. Aber – so unsere Deutung – dieses »Scheitern« hatte zunächst vermutlich unbeabsichtigte Folgen, die nicht weniger bewirkten als die Erfindung der Psychoanalyse. In diesem Sinne schreibt auch Mai Wegener: »Bisher ist die Tatsache, daß Freud den Entwurf aufgegeben hat, fast durchgängig mit der Annahme verknüpft worden, daß er an dem Versuch der Einbettung in die ›Zielsprache ... der Neurologie‹ gescheitert sei. Das Gegenteil ist der Fall. Denn worauf Freud zugeht im Entwurf, ist gerade nicht die Neurologie (aus der er kommt), sondern – mit der Teilblindheit, die diesem Prozeß eigen war – das Feld der Psychoanalyse, die Erfindung des Platzes des Analytikers« (Wegener 2004, 195). Denn Freud ist bei der Analyse seines »Apparats« auf die »Wunschmaschine« gestoßen, die das Sprechwesen Mensch in grundsätzlicher Weise das Reflexwesen, das Streben nach Ruhe, Stabilität und Homöostase unterlaufen macht. Durch seine Arbeit mit seinen Neurotikern war ihm klar geworden, dass das »Menschentier« durch zwei grundlegende Eigenschaften sich vom »Reflexwesen« unterscheidet: durch die Übertragung und die Verdrängung. Die chronische »Übererregung« durch »endogene Reize« führt nicht nur im pathologischen, sondern auch im »normalen« Fall zur Neigung zum
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In Das Unbewußte wird Freud diese Thematik wieder aufgreifen und zu seiner endgültigen Formulierung bringen: »Das System Ubw enthält die Sachbesetzungen der Objekte, die ersten und eigentlichen Objektbesetzungen, das System VBW entsteht, indem diese Sachvorstellung mit den ihr entsprechenden Wortvorstellungen überbesetzt wird« (Freud 1915a, 300). Vgl. etwa die Einordnung des Entwurfs im Artikel von A. Metraux: Metamorphosen der Hirnwissenschaft. Warum Sigmund Freuds ›Entwurf einer Psychologie‹ aufgegeben wurde. In: Hagner, M. (Hg.) 1999, 75-109.
Das Scheitern einer naturwissenschaftlichen Psychologie als Basis der Psychoanalyse
Halluzinieren und zum Delir. So gesehen hat Freud in seinem Entwurf die Besonderheit der menschlichen Subjektivität entdeckt, sind doch die »falschen Verknüpfungen« zwar strukturell angelegt, führen aber zu je singulären Ausprägungen.
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Mit der Selbstanalyse zur Traumdeutung und zur Geburt der Psychoanalyse Der Traum ist die (verkleidete) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches. (S. Freud) Darin liegt die große Lehre von Freuds Traumdeutung: Die Wirklichkeit ist etwas für diejenigen, die den Traum nicht aushalten können. (S. Zizek)
Der Vorbericht1 : Freuds Selbstanalyse, seine Beziehung zu Fließ und seine theoretische Entwicklung in den Jahren 1895 bis 1899 Die Erfindung der Psychoanalyse in diesen Jahren vor 1900 fällt mit einem singulären, revolutionären und in dieser Form unwiederholbaren Ereignis zusammen: der »SelbstAnalyse« Freuds. Freud befindet sich in den Jahren nach 1895 in einer Krise: Er ist jetzt 39 Jahre alt; er hat Einiges publiziert, aber ein »Werk« gibt es bislang noch nicht. Seine wissenschaftliche Anerkennung lässt immer noch auf sich warten. Auch seine ökonomische Situation ist immer wieder prekär – er hat zeitweise kaum Patienten; und auch die therapeutischen Erfolge sind nicht wirklich durchschlagend. Zu Freuds Sorge, wie er die große Familie mit den mittlerweile fünf Kindern ernähren kann, kommt die überraschende neuerliche Schwangerschaft seiner Frau. Das Ehepaar trifft eine Entscheidung: Es wird ihr letztes Kind gewesen sein. Und da wäre noch die wachsende Entfremdung zwischen ihm und seinem langjährigen Freund und Mentor Josef Breuer. So richten sich viele Hoffnungen auf seinen Berliner Freund Wilhelm Fließ; nicht zuletzt die Aussicht, dass dieser mit seinen Forschungen über die sexuellen Zyklen das Problem der Empfängnis lösen könnte.
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Ich verwende hier Freuds Ausdruck und Vorgehensweise, wie er sie in seiner Traumdeutung bei vielen der dort besprochenen Träume verwendet, wenn er zunächst die »Vorgeschichte« des Traums erzählt. (Vgl. etwa Freud 1900, 110)
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Freuds Krise ist also eine mehrfache – und er leidet an wechselnden körperlichen Symptomen, insbesondere seine Herzbeschwerden setzen ihm zu. Aber auch seine seelische Befindlichkeit ist in diesen Jahren äußerst krisenanfällig. Immer wieder kämpft er gegen seine Niedergeschlagenheit, die sich auch in Blockaden seiner wissenschaftlichen Produktivität äußert. Im Sommer 1895, kurz nach Fertigstellung der Studien, erfüllt sich Freud einen alten Wunsch: Er fährt mit seinem Bruder Alexander nach Italien; diesmal ist das Ziel Venedig. Im September besucht er Fließ in Berlin, lässt sich von diesem an der Nase operieren. Am Rückweg nach Wien verfasst er die ersten Bögen seines Entwurfs, den er bald danach fertigstellt. Das Schreiben versetzt ihn kurzfristig in eine euphorische Stimmung, von der ab Oktober nichts bleibt. Der Text verschwindet in der Schublade, Freud wird ihn nie publizieren. In dieser Krisenzeit wird Freuds Übertragung auf Fließ eine ganz intensive. Seine Briefe an ihn werden häufiger und länger, er schreibt ihm über seine körperlichen und seelischen Beschwerden, wichtige familiäre Begebenheiten, seine Träume – und seine theoretischen Eingebungen und Überlegungen. Zudem treffen sie sich häufig in Wien oder Berlin, manchmal auch an dritten Orten zu von Freud so genannten »Kongressen«. Diese Treffen erstrecken sich über 10 Jahre von 1890 bis 1900. Das letzte fand am Achensee in Tirol statt. Danach trafen sie sich nie wieder, der Briefverkehr ging noch bis 1902. – Es sind dies die Jahre, in denen in Freud seine »Psychoanalyse« gärt und er besonders zwischen 1897 und 1899 eine systematische Selbstanalyse betreibt – nicht zuletzt dazu braucht er einen Anderen.2 Aber da ist noch sein – im Grunde schon altes – Interesse für den Traum. Ein Blick in seinen Briefwechsel mit seiner Braut Martha zeigt, dass er ein guter Träumer ist, den Träumen auch Beachtung schenkt und sie notiert. – Und dann – seit er in der Behandlung seiner Patienten auf Hypnose und suggestive Methoden zugunsten der freien Assoziation verzichtet, berichten ihm diese regelmäßig aus ihrer Traumwelt. Freud begann, diese systematisch aufzuschreiben. Schon im Frühjahr 1894 äußerte er gegenüber Breuer, dass er gelernt habe, diese zu deuten. – Aber er sucht nach einer Verifizierung der Beobachtungen, die er an den Träumen seiner Neurotiker macht. Und diese wird er bei sich selbst suchen – mit einer systematischen Traumanalyse beginnt er ein Abenteuer, das – mit der Begleitung durch seinen »Anderen«, Fließ, zu seiner intensiven Selbst-Analyse führt – und ihn darüber zu grundsätzlich neuen Einsichten in den »psychischen Apparat« bringen wird.3
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Wie stark in diesen Jahren Freuds Übertragung auf Fließ war, soll hier mit einer Briefstelle vom 1.1.1896 belegt werden: »Die Art wie Du sollte nicht aussterben, mein lieber Freund; wir Anderen bedürfen Deinesgleichen zu sehr. Was danke ich Dir alles an Trost, Verständnis, Anregung in meiner Einsamkeit, an Lebensinhalt, den ich auf Dich zurückführe, und zuletzt noch an Gesundheit, die mir kein Anderer hätte wiederbringen können« (Freud 1986, 164). Allein die Korrespondenz mit Fließ bot Freud die Möglichkeit des »Durcharbeitens« seiner analytischen Selbsterfahrung. Zwischen März 1895 und November 1899 verfasste Freud 165 Briefe an seinen Anderen. Auch wenn wir die Antwortbriefe von Fließ nicht kennen, so ist trotzdem klar, dass dieser ihm in diesen Jahren ein guter Zuhörer war. Inwiefern Fließ auch zu Deutungen, die Freuds Unbewusstes betrafen, überging, ist offen.
Mit der Selbstanalyse zur Traumdeutung und zur Geburt der Psychoanalyse
1895 ist für Freud durchaus ein Jahr des Fortschritts. Im Frühjahr ist die Arbeit an den Studien abgeschlossen; im Herbst verfasst er den Entwurf, immerhin ein weitreichendes Modell des psychischen Apparats – wesentliche Teile davon wird er für sein VII. Kapitel der Traumdeutung nutzen. Im ersten Halbjahr 1896 schreibt Freud ungewöhnlich lange Briefe an Fließ, in denen er sein Modell des psychischen Apparats weiterentwickelt. Parallel zu diesen Bemühungen macht Freud Fortschritte in Bezug auf die sexuelle Ätiologie der Neurose. Neben der Hysterie glaubt er auch das Geheimnis der Zwangsneurose gelüftet zu haben (»Infantiler Mißbrauch« als »Sexualschreck« und »Lust«). Zudem geht Freud dazu über, den Begriff der Abwehr durch den der Verdrängung zu ersetzen. Der Bruch mit Breuer ermöglicht es Freud schließlich, gegenüber Fließ seine Theorie der sexuellen Ätiologie der Neurose in aller Freiheit darzulegen, sieht Freud in Fließ zu dieser Zeit doch einen wissenschaftlichen Mitstreiter an derselben Front. Auch Fließ betrachtet die Sexualität als Zentrum aller Phänomene, die ihn beschäftigen. Und Freud erhofft ein gemeinsames Werk.4 Im Juni 1896 zeigten sich bei Freuds Vater ernsthafte Krankheitssymptome. Die klinische Diagnose ergab ein fortgeschrittenes Darmkarzinom. Freud reagierte relativ kühl, überließ die Pflege des Vaters seiner Schwester Adolphine, konstatierte im Juli beim Vater Zeichen von geistiger Euphorie, was nach Fließ’ Auffassung ein Vorzeichen des Todes war. Trotzdem verschob er seine Sommerreisen nicht. Jakob Freud starb am 23. Oktober 1896. Freud schrieb ungerührt an Fließ, es sei »ein eigentlich leichter Tod gewesen« (Freud 1986, 212) – angesichts der monatelangen Qualen des Vaters eine problematische Aussage, die darauf verweist, dass er sich in einer unbewussten Rivalität zu ihm befand. Erst im Jahre 1908 konnte er den berühmt gewordenen Satz in das zweite Vorwort der Traumdeutung schreiben, wo er den Vatertod als »das bedeutendste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes« bezeichnete (Freud 1900, X).
Die Aufgabe der Verführungstheorie und die Entdeckung des Ödipuskomplexes Anfang 1897 begann sich Freud mit einer anderen Quelle neurotischer Symptome zu beschäftigen: »Der Witz in der Hysterieauflösung, der mir gefehlt hat, besteht in der Entdeckung einer neuen Quelle, aus der ein neues Element der unbewußten Produktion herrührt. Ich meine die hysterischen Phantasien, die regelmäßig, wie ich sehe, auf die Dinge zurückgehen, welche die Kinder früh gehört und erst nachträglich verstanden haben« (Freud 1986, 248). Und kurze Zeit später schreibt er: Diese Phantasien
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Über längere Zeit versuchte Freud eine Annäherung seiner Theorie der Neurosen an die Periodentheorie von Fließ. So schreibt er am 17. Dezember 1896 an diesen: »Meine innere Freude beim Einfall bezog sich offenbar nicht auf latente Beweise, sondern auf den Fund eines gemeinsamen Bodens der Arbeit zwischen uns. Tatsachen sammeln kann ich ja nur auf psychischem Gebiet wie du auf organologischem, das Zwischengebiet wird mit einer Hypothese besetzt werden müssen« (Freud 1986, 226).
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Mit der Selbstanalyse zur Traumdeutung und zur Geburt der Psychoanalyse
1895 ist für Freud durchaus ein Jahr des Fortschritts. Im Frühjahr ist die Arbeit an den Studien abgeschlossen; im Herbst verfasst er den Entwurf, immerhin ein weitreichendes Modell des psychischen Apparats – wesentliche Teile davon wird er für sein VII. Kapitel der Traumdeutung nutzen. Im ersten Halbjahr 1896 schreibt Freud ungewöhnlich lange Briefe an Fließ, in denen er sein Modell des psychischen Apparats weiterentwickelt. Parallel zu diesen Bemühungen macht Freud Fortschritte in Bezug auf die sexuelle Ätiologie der Neurose. Neben der Hysterie glaubt er auch das Geheimnis der Zwangsneurose gelüftet zu haben (»Infantiler Mißbrauch« als »Sexualschreck« und »Lust«). Zudem geht Freud dazu über, den Begriff der Abwehr durch den der Verdrängung zu ersetzen. Der Bruch mit Breuer ermöglicht es Freud schließlich, gegenüber Fließ seine Theorie der sexuellen Ätiologie der Neurose in aller Freiheit darzulegen, sieht Freud in Fließ zu dieser Zeit doch einen wissenschaftlichen Mitstreiter an derselben Front. Auch Fließ betrachtet die Sexualität als Zentrum aller Phänomene, die ihn beschäftigen. Und Freud erhofft ein gemeinsames Werk.4 Im Juni 1896 zeigten sich bei Freuds Vater ernsthafte Krankheitssymptome. Die klinische Diagnose ergab ein fortgeschrittenes Darmkarzinom. Freud reagierte relativ kühl, überließ die Pflege des Vaters seiner Schwester Adolphine, konstatierte im Juli beim Vater Zeichen von geistiger Euphorie, was nach Fließ’ Auffassung ein Vorzeichen des Todes war. Trotzdem verschob er seine Sommerreisen nicht. Jakob Freud starb am 23. Oktober 1896. Freud schrieb ungerührt an Fließ, es sei »ein eigentlich leichter Tod gewesen« (Freud 1986, 212) – angesichts der monatelangen Qualen des Vaters eine problematische Aussage, die darauf verweist, dass er sich in einer unbewussten Rivalität zu ihm befand. Erst im Jahre 1908 konnte er den berühmt gewordenen Satz in das zweite Vorwort der Traumdeutung schreiben, wo er den Vatertod als »das bedeutendste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes« bezeichnete (Freud 1900, X).
Die Aufgabe der Verführungstheorie und die Entdeckung des Ödipuskomplexes Anfang 1897 begann sich Freud mit einer anderen Quelle neurotischer Symptome zu beschäftigen: »Der Witz in der Hysterieauflösung, der mir gefehlt hat, besteht in der Entdeckung einer neuen Quelle, aus der ein neues Element der unbewußten Produktion herrührt. Ich meine die hysterischen Phantasien, die regelmäßig, wie ich sehe, auf die Dinge zurückgehen, welche die Kinder früh gehört und erst nachträglich verstanden haben« (Freud 1986, 248). Und kurze Zeit später schreibt er: Diese Phantasien
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Über längere Zeit versuchte Freud eine Annäherung seiner Theorie der Neurosen an die Periodentheorie von Fließ. So schreibt er am 17. Dezember 1896 an diesen: »Meine innere Freude beim Einfall bezog sich offenbar nicht auf latente Beweise, sondern auf den Fund eines gemeinsamen Bodens der Arbeit zwischen uns. Tatsachen sammeln kann ich ja nur auf psychischem Gebiet wie du auf organologischem, das Zwischengebiet wird mit einer Hypothese besetzt werden müssen« (Freud 1986, 226).
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»stammen aus nachträglich verstandenem Gehörten, sind natürlich in all ihrem Material echt. Sie sind Schutzbauten, Sublimierungen der Fakten, Verschönerungen derselben, dienen gleichzeitig der Selbstentlastung. Ihre akzidentelle Herkunft vielleicht von den Onaniephantasien« (ebd., 253). Freud beginnt also zu differenzieren: Da sind einmal die »Fakten«, also tatsächlich realiter vollzogener Missbrauch; zum anderen »Phantasien«, die sich »nachträglich« bilden, möglicherweise auch auf andere Ursachen zurückzuführen sind. Am 8. Feber 1897 bestätigt Freud nochmals die für ihn selbst schmerzhafte Erkenntnis – aber da ist auch ein Zweifel: »Leider ist mein Vater einer von den Perversen gewesen und hat die Hysterie meines Bruders (dessen Zustände sämtlich Identifizierungen sind) und einiger jüngerer Schwestern verschuldet. Die Häufigkeit dieses Verhältnisses macht mich oft bedenklich« (ebd., 245). Noch kann Freud die Konsequenzen aus dieser neuen Einsicht nicht ziehen: »Denk‹ nicht, daß ich dabei meiner ätiologischen Lehre selbst widersprechen will« (ebd., 250). Aber schon drei Wochen später schickt Freud das Manuskript L an Fließ, in dem einige neue Ideen formuliert werden: Die »Urszenen werden nachträglich zu Phantasien verarbeitet, wenn sie gehört wurden, und zu Träumen, wenn sie gesehen wurden.« – Und im Begleitbrief wird der Bruch mit der lange aufrechterhaltenen Theorie deutlich: »Eine zweite wichtige Erkenntnis sagt mir, daß das psychische Gebilde, welches bei Hysterie von der Verdrängung betroffen wird, nicht eigentlich die Erinnerungen sind, sondern Impulse, die sich von den Urszenen ableiten« (ebd., 253). Am 16. Mai ist Freud dann ganz enthusiastisch. Er kündigt Fließ an, dass er sowohl an der Frage der Neurosen als auch am Traum arbeitet und sich jetzt auch über die Publikationen seiner Vorgänger informieren will.5 Noch in diesem Monat schickt er Fließ drei Manuskripte zum Traum. Schon lange war Freud nicht so produktiv gewesen. Neue Begriffe tauchen auf wie die Fixierung, der Familienroman, das Konzept der Umwandlung der Libido in Angst, die Parallelität von Traum- und Symptombildung, beide sind Wunscherfüllungen. Die Erinnerung an reale traumatisierende Erfahrungen verliert an Bedeutung zugunsten der Bilder und Phantasien, die der Wunsch erzeugt. – Und er hat schon ein übernächstes Projekt: Er will »nächstens die Quelle der Moral aufdecken…. ›Heilig‹ ist, was darauf beruht, daß die Menschen zugunsten der größeren Gemeinschaft ein Stück ihrer sexuellen und Perversionsfreiheit geopfert haben. Er (der Inzest) ist also antisozial – Kultur besteht in diesem fortschreitenden Verzicht« (ebd., 269).6 Zugleich befindet sich Freud in einer intensiven Phase seiner Selbstanalyse. So schreibt er am 22. Juni 1897: »Ich glaube, ich bin in einer Puppenhülle, weiß Gott, was für ein Vieh da herauskriecht« (ebd., 272). – Was da an die Oberfläche kommt, wird als Ergebnis seiner letzten vier Träume im Manuskript N (3. Mai 1897) angesprochen: »Die feindseligen Impulse gegen die Eltern (Wunsch, daß sie sterben mögen) sind gleichfalls ein integrierender Bestandteil der Neurose. Als Zwangsvorstellung kommen
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Hier wird also zum ersten Mal der Plan eines Buches über den Traum formuliert. Dies ist nicht weniger als eine Vorwegnahme von Freuds künftiger Theorie über den Zusammenhang von Sexualverzicht und Kultur. 1908 wird er in Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität diese Überlegungen dann erstmals systematisieren.
Mit der Selbstanalyse zur Traumdeutung und zur Geburt der Psychoanalyse
sie bewußt zu Tage… Es scheint, als ob dieser Todeswunsch bei den Söhnen sich gegen den Vater, bei den Töchtern gegen die Mutter kehren würde« (ebd., 267).7 Zwischen Juni und August 1897 beschließt Freud, seine gelegentliche Selbstanalyse jetzt systematisch zu betreiben. Für eine Zeit tritt diese Initiative an die Stelle des Plans eines Buches über den Traum; sie ist aber in Wirklichkeit die unerlässliche Vorbedingung für dieses Projekt. Die Sommermonate durchlebt Freud mit heftigen Zuständen: Es geht um Zwangsvorstellungen, depressive und Ohnmachtsgefühle, Gefühle des Scheiterns und der Schuld – und um »Schreibunlust« und Arbeitshemmung (vgl. ebd., 270). Es ist die einzige Zeit in seinem Leben, wo Freud sich explizit als Neurotiker bezeichnet.8 Die Sommerurlaubswochen in Aussee nutzt er für seine intensive Analyse (»Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst« (ebd., 281), und dann macht er mit Martha eine lange Reise durch zahlreiche Städte Norditaliens. – Und einen Tag nach seiner Rückkehr nach Wien, am 21. September, schreibt Freud seinem »Anderen« seine neuen, revolutionären Einsichten: »Und nun will ich Dir sofort das große Geheimnis anvertrauen, das mir in den letzten Monaten langsam gedämmert hat. Ich glaube an meine Neurotica nicht mehr« (ebd., 283). Freud trennt sich jetzt also von seiner Verführungstheorie, die er seit 1893 vertreten hat. Und er nennt in diesem Brief vier wesentliche Gründe, die ihn zu dieser neuen Sicht auf die Arbeitsweise der Verdrängung und des Unbewussten brachten: Einmal die enttäuschende Erfahrung, dass selbst wenn die vermeintlichen kindlichen Verführungsszenen aufgedeckt waren, es trotzdem zu keiner nachhaltigen Symptombesserung kam; ferner die Freud unhaltbar erscheinende Tatsache, dass praktisch immer der Vater der Beschuldigte war; aber so viele perverse Väter erschienen ihm doch höchst unwahrscheinlich; drittens die Einsicht, dass es im Unbewussten kein »Realitätszeichen« gab; dass also zwischen Phantasie und der Erinnerung an ein faktisches Erlebnis kein Unterschied gemacht werde; und letztlich die Einsichten, die er über seine Selbstanalyse gewann, die gerade in diesen Monaten des Sommers und Herbst 1897 einen ersten Höhepunkt erreichte. So schrieb er am 3. Oktober 1897 an Fließ, dass er mit seiner eigenen Analyse, »die ich für unentbehrlich halte zur Aufklärung des ganzen Problems«, sich eine andere Art von Gewissheit holen wolle als von seinen Neurotikern. »Ich kann nur andeuten, daß bei mir der Alte keine aktive Rolle spielt, daß ich aber wohl einen Analogieschluß auf ihn gerichtet habe, daß meine ›Urheberin‹ ein häßliches, älteres, aber kluges Weib war« (ebd., 288). Der Brief vom 15. Oktober 1897 liest sich dann schon wie nach vollbrachter Geburt – der Entdeckung des »Ödipuskomplexes«: »Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Zeugnis früher Kindheit … Wenn das so ist, dann versteht man die packende Macht des Königs Ödipus … Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus, und vor der hier in die Realität gezogenen Traumerfüllung
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Also ein erster, aber deutlicher Hinweis auf den Ödipuskomplex. So in einem Brief vom 7. Juli 1897: ».irgendetwas aus den tiefsten Tiefen meiner eigenen Neurose hat sich einem Fortschritt im Verständnis der Neurosen entgegengestellt, und Du warst irgendwie mit einbezogen« (ebd., 272).
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schaudert jeder zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, der seinen infantilen Zustand von seinem heutigen trennt« (ebd., 293). – Erst dreizehn Jahre später hat Freud den Terminus »Ödipuskomplex« eingeführt. Aber hier in diesen Wochen ergab sich ihm der endgültige Bruch mit seiner Verführungstheorie. Freuds persönliche Konsequenz lautet also: Seine »Neurose« rührt nicht von einem erlittenen sexuellen Trauma her, sondern von ihm selbst produzierten inzestuösen Phantasien. – Die theoretischen Folgerungen, die Freud aus diesen Beobachtungen zog, hatten grundlegende und bahnbrechende Konsequenzen für die weitere Ausgestaltung der psychoanalytischen Theorie: »Wenn ›Wunschphantasien‹ und nicht ›wirkliche Erlebnisse‹ im Mittelpunkt der Krankengeschichte standen, dann besaß die ›psychische Realität‹ für die Neurosen eine größere Bedeutung als die ›materielle‹« (Alt 2016, 208).9 Die These von Jeffrey Masson, Freud sei aus rein taktischen Motiven von der Verführungstheorie abgewichen (um den öffentlichen Anfeindungen aus dem Weg zu gehen), überzeugt, wenn wir die Briefe Freuds an Fließ ernst nehmen, nicht.10 Die Ablehnung seitens seiner Wiener Fachkollegen kränkte Freud zwar, aber verstärkte letztlich seinen Widerstand. Was aber noch wesentlicher ist: Masson verfehlt den methodischen Kern von Freuds Diagnose, wenn er die Verlagerung von der materiellen auf die imaginäre Bezugsebene der frühkindlichen Sexualität rückgängig machen will. Er verkennt damit die Funktion, die dem Phantasma ab jetzt in der freudschen Theorie zukam. Die Überzeugung, dass weniger die reale, vielmehr die vorgestellte Erfahrung das Subjekt bestimmt, gehörte ab nun zur grundlegenden Erkenntnis der freudschen Psychoanalyse. Dass Freud die tatsächliche Verführung Minderjähriger durchaus für möglich hielt, belegt seine 1907 begonnene Korrespondenz mit Karl Abraham.11 Was Freud also an der Stelle der vermeintlich realen Verführung findet, ist die frühkindliche Sexualität. Diese Entdeckung mündet in eine Neukonzeption seiner Metapsychologie, wie er sie im VII. Kapitel der Traumdeutung ausführen wird.
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Diese Einsicht hat weitreichende, nicht zuletzt auch erkenntnistheoretische Konsequenzen: »Freud muß mit dem Realismus aller Traumdeutungen bisher brechen; nicht nur mit dem Realismus der Traumdeutungen, sondern aller Theorien der Seele. Dennoch hat er diesen Realismus zunächst wiederholt in der Suche nach der verlorenen Zeit; wenn auch nur im Kontext der Krankengeschichte: in der Suche nach der Verführungsszene… Die Regression ... bringt keine vergangene Realität zurück, sie läßt sich darum auch nicht mehr in einer Theorie der Repräsentation fassen, sondern nur noch als Grenze der Repräsentation, d.h. nach dem Ausdruck Freuds als Repräsentanz: nicht als Zeichen einer Vergangenheit, die in ihrer verborgenen Wahrheit vergegenwärtigt werden müßte, sondern als Rede, die noch nie zuvor gehalten wurde« (Heise 1989, 229f). Vgl. Masson, J.M. (1984): Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie. Reinbek bei Hamburg. Es ging zwischen den beiden immer wieder um infantile Traumen und um das Verdrängen von Erinnerungen an Übergriffe Erwachsener. Wenn Kinder solche Erfahrungen verdrängen, so geschieht das, so Freud, weil sie diese mit verbotener Lust bzw. mit Ekel besetzen (vgl. Freud – Abraham 2009, 57). Auch in seinen Vorlesungen von 1917 sagte er: »Glauben Sie übrigens nicht, daß sexueller Mißbrauch des Kindes durch die nächsten männlichen Verwandten durchaus dem Reich der Phantasie angehört. Die meisten Analytiker werden Fälle behandelt haben, in denen solche Beziehungen real waren und einwandfrei festgestellt werden konnten« (Freud 1916/1917, 385).
Mit der Selbstanalyse zur Traumdeutung und zur Geburt der Psychoanalyse
Wie Freud zum Traum kommt Freud ist nicht der einzige und auch nicht der erste Wissenschaftler, der sich am Phänomen der Träume versucht. Aber es scheint, als habe Freud vor 1895 diese Werke noch nicht gelesen. Er befasst sich damit systematisch erst 1898 und 1899, um daraus das erste, historisch-kritische Kapitel der Traumdeutung zu verfassen. – Wissenschaftsgeschichtlich lässt sich freilich festhalten, dass ab 1850 – mittels eines Bruchs mit der literarischen und teilweise mystischen Ausdeutung der Träume durch die Romantik – die wissenschaftliche Erforschung des Traums beginnt. Im Zentrum dieser Untersuchungen steht die Beziehung zwischen Traum und Körper – kein Zufall, sind doch der Großteil dieser Traumforscher überzeugte Anhänger eines wissenschaftlichen Materialismus. – Freuds Originalität in Bezug auf den Traum besteht nun von Anfang an darin, dass er den Traum nicht mehr primär mit äußeren, sondern mit inneren Reizen in Verbindung bringen will. Und er entwickelt dazu eine Methode, die im Gegensatz zur objektivierenden Analyse dem Subjekt des Träumers den ersten Rang einräumt. Aber wie kommt Freud zum Traum? Ernest Jones sieht eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Tod von Freuds Vater, der bald darauf begonnenen Selbstanalyse und dem Buchprojekt: »Der Tod des Vaters war der Anstoß für die Selbstanalyse wie für das Buch« (Jones 1960, 379). Freud selbst erwähnt zwei Ausgangspunkte für sein wachsendes Interesse am Traum (wachsend, weil er ja schon im Entwurf eine ganze Reihe von Aussagen zum Traum macht): zunächst seine Beobachtungen in der Arbeit mit seinen Patienten, die ihm, seitdem er sie freier assoziieren lässt, regelmäßig Träume bringen; zum anderen seine klinischen Erfahrungen mit halluzinatorischen Zuständen bei psychotisch Kranken, bei denen der Aspekt der Wunscherfüllung überdeutlich war. Seine anfänglichen Fragen sind also: Unterscheiden sich die Träume normaler Menschen von denen der Neurotiker? Und sind auch bei diesen oder nur bei den Letzteren Träume Wunscherfüllungen? Am 24. Juli 1895 gelang Freud, wie er an Fließ schreibt, die erste »vollständige Analyse« eines eigenen Traums – der unter dem Namen »Traum von Irmas Injektion« wahrhaft einen historischen Augenblick festhält.12 Die Analyse eigener Träume stellt jedenfalls in den nächsten Jahren einen wesentlichen Motor für Freuds theoretisches Interesse dar. Ab dem Herbst 1897 arbeitet er konsequent an seinen eigenen Träumen und an seinem Traumbuch.13 Im Feber 1898 hatte er sein zweites Kapitel, die exemplarische Darstellung seiner Methode der Traumdeutung anhand des Irma-Traums, abgeschlossen. Und er war damit sehr zufrieden. Das dritte Kapitel, im Mai vollendet, stellte ihn weniger zufrieden. In den folgenden zwölf Monaten hält er sein hohes Arbeitstempo neben der Praxis und den Alltagsbelastungen weiter aufrecht. Mit dem Verleger Deuticke 12 13
Auf diesen Traum gehen wir im Abschnitt über das Kapitel II, Die Methode der Traumdeutung, näher ein, auch auf dessen unmittelbare Vorgeschichte. Und viele dieser Träume tragen deutliche Zeichen seiner intensiven und zunehmend ambivalenten Übertragung auf Fließ. Die Spuren dieser Übertragungsbeziehung sind in der Traumdeutung nachzulesen. Das deutlichste Zeichen für diese Beziehung ist das Konzept und die Funktion des Zensors: »So wie Fließ der erste Leser Freuds war, agierte er auch als sein erster Zensor: Zugleich wurde der für die Traumtheorie zentrale Begriff der ›Zensur‹ Hand in Hand mit den Interventionen Fließ’ bei der Abfassung des Traumbuchs entwickelt« (Forrester 2000, 14).
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Sigmund Freud lesen
verabredete Freud im Frühjahr 1899 die Veröffentlichung der Studie. Im Sommer 1899 war sein Manuskript bis auf das finale Kapitel abgeschlossen. Während seines achtwöchigen Urlaubs in Berchtesgaden überarbeitete er das Buch, im September verfasste er das letzte Kapitel. Zwar war er mit seinem Stil unzufrieden, schrieb an Fließ über seinen »Formmangel«, den er als Indiz »fehlender Stoffbeherrschung« sah. Am 11. September meldete er Fließ »alles Manuskript ist abgesendet.« – Die Euphorie der letzten Monate wich »der normalen Depression nach dem Aufschwung« (Freud 1986, 406).
Das »Jahrhundert«-Werk: der Text der Traumdeutung Lesen wir zur Einstimmung ein paar Einschätzungen: Zunächst Jacques Le Rider, ein Kulturwissenschaftler, der Freuds Werk in die politisch-gesellschaftlichen Umstände Wiens stellt: »Als der christlichsoziale Karl Lueger zum Bürgermeister von Wien ernannt wird, beendet Freud gerade sein Werk Die Traumdeutung… In einer Gesellschaft, die von antiliberalen Strömungen beherrscht wird, deckt Freud eine Kraft auf, die stärker ist als jede politische Bewegung: das Unterbewusstsein. Die Entwicklung seiner neuen Methode der kritischen Kulturanalyse ermöglicht es dem Theoretiker Freud, als Arzt der krisengeschüttelten zeitgenössischen Kultur sämtliche unterbewusste Bereiche des sozialen und politischen Zusammenhalts in seine psychoanalytischen Kriterien einzuteilen, um eine rationale Erklärung für jene Dinge zu finden, die in der Politik am irrationalsten erscheinen« (Le Rider 2017, 14). Der Literaturwissenschaftler Peter-André Alt: »Der Autor führt seine Leser mit rhetorischen Fragen, souveränem Duktus und auktorialer Erzählhaltung – geradezu inflationär die ›Wir‹-Form – sicher durch seine Argumentation. Seine Terminologie ist stimmig, seine Sprache stets klar, seine Syntax elastisch und geschmeidig, sein Wortschatz enorm variantenreich« (Alt 2016, 265). Und als kleine Vorwarnung, was die Lektüre der Traumdeutung dem Leser zumutet, eine Einschätzung von Didier Anzieu, dem französischen Analytiker, der die ausgezeichnete Standardarbeit über Freuds Selbstanalyse verfasst hat: »Die Traumdeutung ist ein hervorragendes Buch, schwungvoll und kühn, aber zugleich schwierig aufgrund der Originalität der darin enthaltenen Ideen, der Komplexität seines Aufbaus, der Strenge und Vielfältigkeit seiner theoretischen Betrachtungen, der Neuartigkeit seiner Begriffe, der Überfülle der Beispiele, der äußersten Dichte ihrer Deutung oder umgekehrt ihrer Verstreuung über mehrere Kapitel hinweg, der Verflechtung von Freuds Selbstbeobachtungen mit den Beobachtungen zum Traumleben anderer« (Anzieu 1988,10). Zum Aufbau des Buches: Das Buch gliedert sich in einen Forschungsbericht, einen Hauptteil mit einer fallgestützten Erzählung und einen Schluss, der die theoretischen Konsequenzen im Hinblick auf die neue Leitkategorie des Unbewussten vornimmt. Zu diesem Aufbau schreibt Freud an Fließ: »Nun ist das Ganze so auf eine Spaziergangsphantasie angelegt. Anfangs der dunkle Wald der Autoren (die die Bäume nicht sehen), aussichtslos, irrwegereich. Dann ein verdeckter Hohlweg, durch den ich den Leser führe – mein Traummuster mit seinen Sonderbarkeiten, Details, Indiskretionen, schlechten Witzen – und dann plötzlich die Höhe und die Aussicht und die Anfrage: Bitte, wohin wünschen Sie jetzt zu gehen« (Freud 1986, 400)?
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verabredete Freud im Frühjahr 1899 die Veröffentlichung der Studie. Im Sommer 1899 war sein Manuskript bis auf das finale Kapitel abgeschlossen. Während seines achtwöchigen Urlaubs in Berchtesgaden überarbeitete er das Buch, im September verfasste er das letzte Kapitel. Zwar war er mit seinem Stil unzufrieden, schrieb an Fließ über seinen »Formmangel«, den er als Indiz »fehlender Stoffbeherrschung« sah. Am 11. September meldete er Fließ »alles Manuskript ist abgesendet.« – Die Euphorie der letzten Monate wich »der normalen Depression nach dem Aufschwung« (Freud 1986, 406).
Das »Jahrhundert«-Werk: der Text der Traumdeutung Lesen wir zur Einstimmung ein paar Einschätzungen: Zunächst Jacques Le Rider, ein Kulturwissenschaftler, der Freuds Werk in die politisch-gesellschaftlichen Umstände Wiens stellt: »Als der christlichsoziale Karl Lueger zum Bürgermeister von Wien ernannt wird, beendet Freud gerade sein Werk Die Traumdeutung… In einer Gesellschaft, die von antiliberalen Strömungen beherrscht wird, deckt Freud eine Kraft auf, die stärker ist als jede politische Bewegung: das Unterbewusstsein. Die Entwicklung seiner neuen Methode der kritischen Kulturanalyse ermöglicht es dem Theoretiker Freud, als Arzt der krisengeschüttelten zeitgenössischen Kultur sämtliche unterbewusste Bereiche des sozialen und politischen Zusammenhalts in seine psychoanalytischen Kriterien einzuteilen, um eine rationale Erklärung für jene Dinge zu finden, die in der Politik am irrationalsten erscheinen« (Le Rider 2017, 14). Der Literaturwissenschaftler Peter-André Alt: »Der Autor führt seine Leser mit rhetorischen Fragen, souveränem Duktus und auktorialer Erzählhaltung – geradezu inflationär die ›Wir‹-Form – sicher durch seine Argumentation. Seine Terminologie ist stimmig, seine Sprache stets klar, seine Syntax elastisch und geschmeidig, sein Wortschatz enorm variantenreich« (Alt 2016, 265). Und als kleine Vorwarnung, was die Lektüre der Traumdeutung dem Leser zumutet, eine Einschätzung von Didier Anzieu, dem französischen Analytiker, der die ausgezeichnete Standardarbeit über Freuds Selbstanalyse verfasst hat: »Die Traumdeutung ist ein hervorragendes Buch, schwungvoll und kühn, aber zugleich schwierig aufgrund der Originalität der darin enthaltenen Ideen, der Komplexität seines Aufbaus, der Strenge und Vielfältigkeit seiner theoretischen Betrachtungen, der Neuartigkeit seiner Begriffe, der Überfülle der Beispiele, der äußersten Dichte ihrer Deutung oder umgekehrt ihrer Verstreuung über mehrere Kapitel hinweg, der Verflechtung von Freuds Selbstbeobachtungen mit den Beobachtungen zum Traumleben anderer« (Anzieu 1988,10). Zum Aufbau des Buches: Das Buch gliedert sich in einen Forschungsbericht, einen Hauptteil mit einer fallgestützten Erzählung und einen Schluss, der die theoretischen Konsequenzen im Hinblick auf die neue Leitkategorie des Unbewussten vornimmt. Zu diesem Aufbau schreibt Freud an Fließ: »Nun ist das Ganze so auf eine Spaziergangsphantasie angelegt. Anfangs der dunkle Wald der Autoren (die die Bäume nicht sehen), aussichtslos, irrwegereich. Dann ein verdeckter Hohlweg, durch den ich den Leser führe – mein Traummuster mit seinen Sonderbarkeiten, Details, Indiskretionen, schlechten Witzen – und dann plötzlich die Höhe und die Aussicht und die Anfrage: Bitte, wohin wünschen Sie jetzt zu gehen« (Freud 1986, 400)?
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Der Vorbemerkung stellt Freud ein Zitat aus Vergils Äneis als Motto voran: »Flectere si nequeo superos, acheronta movebo.« (Wenn ich die himmlischen Götter nicht erweichen kann, so werde ich die Hölle in Bewegung setzen.) – Stellen wir kurz den Kontext her: Aeneas, der Held Vergils, ist trojanischer Herkunft, Sohn eines Besiegten, dem er glühende Rache verspricht, ein Herumirrender wie die Juden. Von der Sibylle verführt, war er so mutig gewesen, in die Unterwelt hinabzusteigen, und vorsichtig genug, auch wieder zurückzukommen. Schließlich war er ein Gründerheros, der Vorfahre der Gründer Roms. Wie Aeneas hatte Freud seinen Vater verloren und die Trauerarbeit hatte ihn wohl daran erinnert, dass Aeneas in die Unterwelt ging, um seinen Vater Anchises um Rat zu fragen (so wie er als Vorbedingung seiner Arbeit an der Traumdeutung in seiner eigenen Analyse sich mit seinen Vaterübertragungen auseinandersetzen musste). Die gängige Deutung von Freuds Motto sieht ihn mit Aeneas identifiziert, indem er sich von den bewussten Ideen und Werten abwendet, um deren unbewussten Unterbau zu erforschen. Aber da gibt es noch eine andere Spur: Juno, die Schutzgöttin der Griechen und Feindin der Trojaner, versucht Aeneas’ Auftrag zu unterminieren. Sie lässt die Furie Allekto, Symbol der Zerstörung, auf ihn los. »Die Lektion ist klar: keiner kann in die inneren Abgründe hinabsteigen, ohne finstere Kräfte ›in Bewegung zu setzen‹. Freud beginnt seine Selbstanalyse auf eigene Gefahr« (Anzieu 1988, 88).14
Die Vorbemerkung Freud stellt seine weiteren Ausführungen in den Kontext seiner bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten: »Indem ich hier die Darstellung der Traumdeutung versuche, glaube ich den Umkreis neuropathologischer Interessen nicht überschritten zu haben« (Freud 1900, VII). Das klingt bescheiden, aber Freud ist sich bewusst, dass er Neuland betritt. Er eröffnet mit diesem Werk ein neues Paradigma, das sich zwischen Neuropathologie und Psychologie platziert, verwendet er doch seine ganzen Ausführungen zum Traum dazu, ihn in die Reihe der abnormen psychischen Gebilde wie Hysterie, Zwang und Wahn zu stellen und letztlich eine Psychologie des Unbewussten zu etablieren. So schreibt er gleich im Anschluss: »Denn der Traum erweist sich bei der psychologischen Prüfung als das erste Glied in der Reihe abnormer psychischer Gebilde, von deren weiteren Gliedern die hysterische Phobie, die Zwangs- und die Wahnvorstellung den Arzt aus praktischen Gründen beschäftigen müssen. Auf eine ähnliche praktische Bedeutung kann der Traum – wie sich zeigen wird – Anspruch nicht erheben; um so größer ist aber sein theoretischer Wert als Paradigma« (ebd., VII).
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Gegenüber Ferenczi erinnerte sich Freud später an seine Stimmung zu Ende des Jahres 1896, als er zum ersten mal an dieses Motto dachte: »Niemand kümmerte sich um mich, und mich hielt nur ein Stück Trotz und der Anfang der Traumdeutung aufrecht« (Freud-Ferenczi 1993, 234). »Genau diesen Trotz spiegelte das Vergil-Motto wider, das dem Buch wie eine stolze Ankündigung voranging. Daß es auch noch andere Aspekte beleuchtete, wird dem Leser erst am Schluß klar, wenn Freud es in kunstvoller Variation erneut auftreten läßt« (Alt 2016, 263).
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Träume sind sinnvoll und deutbar – Zu Kapitel I: Die wissenschaftliche Literatur der Traumprobleme Der erst im Juni 1899 nach dem Abschluss der Hauptkapitel geschriebene »Forschungsbericht« liest sich spröde; auch Freud selbst klagt über diesen Teil der Arbeit, den er »nur wenige Stunden am Tag« aushalte. Im Grunde schreibt er diesen Teil nur, um den Stillstand der diesbezüglichen Forschung zu dokumentieren und zu zeigen, wie dringend ein Neuanfang ist. – Wie geht er in diesem 1. Kapitel vor? Anhand von acht Gesichtspunkten erörtert er die Forschungsgeschichte zum Traum. Einer kurzen Einleitung folgen auf bestimmte Fragen fokussierte Zusammenfassungen zu »Traumgedächtnis«, »Traumquellen«, »Traumvergessen«, »Psychologische Besonderheiten«, »Ethische Gefühle im Traum«, »Traumtheorien« und »Beziehungen zu den Geisteskrankheiten«. So gelingt Freud eine kompakte Einführung auf jene Fragen hin, die ihm wesentlich sind: die Frage der Entstehung der Träume, deren Bestimmtheit durch körperliche bzw. lebensgeschichtliche Einflüsse, die psychischen Eigenheiten des Denkens im Traum. Schon in diesem Kapitel stellt Freud klar, dass es ihm um den Nachweis der grundsätzlichen Deutbarkeit von Träumen geht. Sein Herangehen ist insofern revolutionär und zutiefst innovativ, als er ein jahrhundertelanges Verdikt aufbricht, nämlich die seit Descartes vorherrschende Auffassung im philosophischen und wissenschaftlichen Denken, wonach der Traum ein Produkt der Unvernunft und insofern als unerklärbar zu betrachten ist. Seit Descartes und verstärkt seit der Aufklärung galt der Traum als Ausgeburt eines Phantasmas, dessen intensivere Aufklärung sich nicht lohne. – So muss Freud auf die Antike und ihr ganz anderes Verständnis des Traums zurückgreifen – allerdings setzt er dieses Erbe mit gänzlich neuen Mitteln fort.15 Freud startet sofort mit seiner ersten These: »[...] werde ich den Nachweis erbringen, daß es eine psychologische Technik gibt, welche gestattet, Träume zu deuten, und daß bei Anwendung dieses Verfahrens jeder Traum sich als ein sinnvolles psychisches Gebilde herausstellt« – und kündigt schon die weiteren Ziele seiner Arbeit an: »Ich werde ferner versuchen, die Vorgänge klarzulegen, von denen die Fremdartigkeit und Unkenntlichkeit des Traumes herrührt, und aus ihnen einen Rückschluß auf die Natur der psychischen Kräfte ziehen, aus deren Zusammen- und Gegeneinanderwirken der Traum hervorgeht« (Freud 1900, 1). Freud referiert u.a. die Reiztraumversuche von Maury, um zu zeigen, dass äußere Sinnesreize und innere (»Leibreize«) als Traumquellen fungieren können. – Aber doch bleibt eine bedeutsame Frage: »[...] warum derselbe Reiz so verschiedene, und warum er gerade diese Traumerfolge hervorrief« (ebd., 29), was ihn zur Vermutung bringt, dass die äußere Sinnesreizung »als Traumquelle nur eine bescheidene Rolle spielt, und daß andere Momente die Auswahl der wachzurufenden Erinnerungsbilder determinieren« (ebd., 31). Freud kommt dann auf die »psychischen Reizquellen« zu sprechen und bemerkt einleitend, »es sei die Ansicht der ältesten wie der neuesten Traumforscher, daß die 15
Aber er bekennt sich zu dieser Tradition, so etwa in den Vorlesungen: »Bekennen wir uns nur zum Vorurteil der Alten und des Volkes und treten wir in die Fußstapfen der antiken Traumdeuter« (Freud 1916/1917, 83).
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Menschen von dem träumen, was sie bei Tag treiben und was sie im Wachen interessiert« (ebd., 42). Freud bemerkt allerdings kritisch, dass die Mehrzahl der zeitgenössischen Traumforscher dazu neigten, den psychischen Anteil an der Traumerregung möglichst zu verkleinern. Beispielgebend wird hier Wilhelm Wundt zitiert, der die meisten Traumvorstellungen als »Illusionen« betrachtet, die von »leisen Sinneseindrücken« ausgelöst sein sollen; für Freud ist dies Ausdruck der zu seiner Zeit dominierenden Wissenschaftsauffassung, die sich auch in der Psychiatrie entsprechend darstelle: »Die Herrschaft des Gehirns über den Organismus wird zwar nachdrücklichst betont, aber alles, was eine Unabhängigkeit des Seelenlebens von nachweisbaren organischen Veränderungen oder eine Spontaneität in dessen Äußerungen erweisen könnte, schreckt den Psychiater heute so, als ob dessen Anerkennung die Zeiten der Naturphilosophie und des metaphysischen Seelenwesens wiederbringen müßte« (ebd., 45). Er stellt sich dieser Tendenz ausdrücklich entgegen – und bringt eine neue Perspektive und Lösung in Aussicht: »Wir werden später erfahren, daß das Rätsel der Traumbildung durch die Aufdeckung einer unvermuteten psychischen Reizquelle gelöst werden kann« (ebd., 44). Im Abschnitt über die psychologischen Besonderheiten des Traumes greift Freud eine Metapher des von ihm geschätzten Gustav Theodor Fechner aus dessen »Elemente der Psychophysik« auf, der vermutet, »daß auch der Schauplatz der Träume ein anderer ist als der des wachen Vorstellungslebens« (ebd., 51; Kursivierung von mir). Das ist für Freud offenbar ein weiterführender Gesichtspunkt, will er doch mit seinem Buch zeigen, dass der Traum aus einem anderen System, dem Unbewussten gespeist wird. Ein weiteres Indiz für diesen anderen Schauplatz ist auch die Tatsache, dass im Traum die Bilder die Herrschaft übernehmen. Damit geht eine Abschwächung der Denkfähigkeit einher. An die Stelle von logischen Schlüssen und klaren Urteilen entsprechend dem Kausalitätsprinzip setzen sich die »Assoziationsgesetze« deutlicher durch. Und dann kommt eine für Freuds Traumtheorie nicht unwesentliche Vorwegnahme durch Havelock Ellis: »Now our dreams are a means of conserving these successive personalities. When asleep we go back to the old ways of looking at things and of feeling about them, to impulses and activities which long ago dominated us« (ebd.,63f.). Ellis beschreibt also das, was Freud im Fortgang des Buches als Regression theoretisch fassen wird. Im Abschnitt über die Traumtheorien und Funktion des Traumes findet sich wieder eine erste Andeutung eigener Positionierung: »Die tagsüber durch Hemmung und Unterdrückung aufgespeicherte psychische Energie wird nachts die Triebfeder des Traums. Im Traum kommt das psychisch Unterdrückte zum Vorschein« (ebd., 85). Es ist schon spürbar: Freud will den Leser sensibilisieren für die Tatsache, dass der Traum das Ergebnis eines Konflikts ist, dass unterschiedliche Kräfte an seiner Produktion beteiligt sind – und auf die Tatsache, dass der Traum mit der Dynamik von Trieb, Widerstand und Verdrängung zu tun hat. Und jetzt die wohl wichtigste Bezugnahme Freuds auf diese ganze lange Liste von Büchern, Aufsätzen und Autoren: Bei Wilhelm Griesinger findet er die Aussage, »die mit aller Klarheit die Wunscherfüllung als einen dem Traum und der Psychose gemeinsamen Charakter des Vorstellens enthüllt.« Und er setzt hier so fort: »Meine eigenen Untersuchungen haben mich gelehrt, daß hier der Schlüssel zu einer psychologischen
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Theorie des Traumes und der Psychosen zu finden ist« (ebd., 95). Damit hat Freud schon seine nächste zentrale These angekündigt.
Freuds historischer Traum – Zu Kapitel II: Die Methode der Traumdeutung Freud will jetzt zeigen, »daß Träume einer Deutung fähig sind«, und dass »einen Traum deuten heißt, seinen ›Sinn‹ angeben« (ebd., 100). Er stellt fest, dass dieser Anspruch keineswegs neu ist. Schon längst hat sich die »Laienwelt« darum bemüht, Träume zu deuten mittels einer Methode, die Freud die »symbolische Traumdeutung« nennt. Die dabei benutzte Methode bezeichnet Freud als »Chiffriermethode«, bei welcher es darum geht, dass »jedes Zeichen nach einem feststehenden Schlüssel in ein anderes Zeichen von bekannter Bedeutung übersetzt wird« (ebd., 102). Auch wenn Freud in der Folge einräumt, dass für eine wissenschaftliche Behandlung des Themas diese Methoden »unbrauchbar« seien, macht er rasch eine Kehrtwendung, indem er feststellt: »Allein ich bin eines Bessern belehrt worden. Ich habe einsehen müssen, daß hier wiederum einer jener nicht seltenen Fälle vorliegt, in denen ein uralter, hartnäckig festgehaltener Volksglaube der Wahrheit der Dinge näher gekommen zu sein scheint als das Urteil der heute geltenden Wissenschaft« (ebd., 104). Und er verweist auf seine Erfahrung mit hysterischen Phobien und Zwangsneurosen und referiert eine Ansicht, wie er sie schon in den gemeinsam mit Breuer verfassten Studien zur Hysterie formuliert hat, um diese jetzt auf den Traum auszuweiten: »Im Verlaufe dieser psychoanalytischen Studien geriet ich auf die Traumdeutung. Die Patienten, die ich verpflichtet hatte, mir alle Einfälle und Gedanken mitzuteilen, … erzählten mir ihre Träume … Es lag nun nahe, den Traum selbst wie ein Symptom zu behandeln« (ebd., 105). Wenn es nämlich gelingt, den Träumer davon zu überzeugen, dass er im Anschluss an die Traumerzählung seinen Assoziationen möglichst freien Lauf lässt, seine Einwände und Kritikneigung zurückstellt (hier spricht Freud vom »heftigsten Widerstande«), so ließe sich mit diesem neu gewonnenen Material »die Deutung der pathologischen Ideen sowie der Traumgebilde vollziehen« (ebd., 106). Er will aber dem Leser den Einwand zugestehen, dass dies »ja die Träume von Neuropathen« seien, die »keinen Rückschluß auf die Träume gesunder Menschen« gestatten. – So verbleibe ihm nur die Option, die eigenen Träume in der Folge als Material der weiteren Analyse anzubieten. So bringt Freud den ersten seiner vielen Träume einschließlich einer umfangreichen Analyse desselben, den Traum, der hier schlicht heißt »Traum vom 23./24.Juli 1895«, der künftig als »Traum von Irmas Injektion« zu einem Meilenstein für die Geschichte der Psychoanalyse werden sollte. Freud beginnt mit einem »Vorbericht«: »Im Sommer 1895 hatte ich eine junge Dame psychoanalytisch behandelt, die mir und den Meinigen freundschaftlich sehr nahe stand…. die Kur endete mit einem teilweisen Erfolg, die Patientin verlor ihre hysterische Angst, aber nicht alle ihre somatischen Symptome« (ebd., 110). Eines Tages bekommt Freud Besuch von einem jüngeren Kollegen, der die Patientin kürzlich traf. Auf Freuds Frage, wie es ihr denn gehe, antwortete dieser: »Es geht ihr besser, aber nicht ganz gut.« Freud erinnert, dass ihn diese Aussage und auch der Tonfall derselben ärgerte. Er glaubte, einen Vorwurf herauszuhören.
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In der Folgenacht träumt Freud: »Eine große Halle – viele Gäste, die wir empfangen. – Unter ihnen I r m a, die ich sofort beiseite nehme, um gleichsam ihren Brief zu beantworten, ihr Vorwürfe zu machen, daß sie die ›Lösung‹ noch nicht akzeptiert. Ich sage ihr: Wenn du noch Schmerzen hast, so ist es wirklich nur deine Schuld. – Sie antwortet: Wenn du wüßtest, was ich für Schmerzen habe im Hals, Magen und Leib, es schnürt mich zusammen. – Ich erschrecke und sehe sie an. Sie sieht bleich und gedunsen aus; ich denke, am Ende übersehe ich da doch etwas Organisches. Ich nehme sie zum Fenster und schaue ihr in den Hals. Dabei zeigt sie etwas Sträuben wie Frauen, die ein künstliches Gebiß tragen. Ich denke mir, sie hat es doch nicht nötig. – Der Mund geht dann auch gut auf, und ich finde rechts einen großen Fleck, und anderwärts sehe ich an merkwürdigen krausen Gebilden, die offenbar den Nasenmuscheln nachgebildet sind, ausgedehnte weißgraue Schorfe. – Ich rufe schnell Dr. M. hinzu, der die Untersuchung wiederholt und bestätigt. … Dr. M. sieht ganz anders aus als sonst, er ist sehr bleich, hinkt, ist am Kinn bartlos. Mein Freund O t t o steht jetzt auch neben ihr, und Freund L e o p o l d perkutiert sie über dem Leibchen und sagt: Sie hat eine Dämpfung links unten, weist auch auf eine infiltrierte Hautpartie an der linken Schulter hin (was ich trotz des Kleides wie er spüre) … M. sagt: Kein Zweifel, es ist eine Infektion, aber es macht nichts; es wird doch Dysenterie hinzukommen und das Gift sich ausscheiden. Wir wissen auch unmittelbar, woher die Infektion rührt. Freund O t t o hat ihr unlängst, als sie sich unwohl fühlte, eine Injektion gegeben mit einem Propylpräparat, Propylen ... Propionsäure … T r i m e t h y l a m i n (dessen Formel ich fettgedruckt vor mir sehe) ... Man macht solche Injektionen nicht so leichtfertig … Wahrscheinlich war auch die Spritze nicht rein« (ebd., 111, 112). Die nächsten vierzehn Seiten dieses Kapitels widmet Freud seiner Traumanalyse. Er geht dabei so vor, wie er es schon angekündigt hat: Zu jedem Element des Traums sammelt er seine Assoziationen, um dann jeweils eine Schlussfolgerung zu ziehen. Er begibt sich dazu in einen nicht alltäglichen mentalen Zustand – den der Kritiklosigkeit gegenüber allen seinen Einfällen. Auch seine Patienten müssten diese Methode erlernen – und er fordert dies auch vom Leser! »Nun muß ich aber den Leser bitten, für eine ganze Weile meine Interessen zu den seinigen zu machen und sich mit mir in die kleinsten Einzelheiten meines Lebens zu versenken, denn solche Übertragung fordert gebieterisch das Interesse für die versteckte Bedeutung der Träume« (ebd., 110, Kursivierung von mir). Die an diesem Traum beteiligten Tagesreste sind, wie die Assoziationen zeigen, äußert vielfältig. Freuds Kommentare heben insbesondere seine medizinischen Sorgen hervor. Eine Kranke, der er auf Empfehlung von Fließ eine Kokainbehandlung ihrer Nasenschleimhaut angedeihen ließ, reagierte mit einer Neurose. Am Vortag erhielt er Besuch von seinem Freund und Hausarzt Dr. Oscar Rie (Otto im Traum), der ein für Freud ärgerliches Geschenk mitbrachte: einen Ananaslikör, der nach Fusel stank (AmylGeruch). Und der ihn mit einer Bemerkung reizte, die sich auf eine von Freuds Hysterikerinnen bezog – er gibt ihr dann den Namen Irma. Freud hatte deren Behandlung vor der Sommerpause beendet, nachdem diese einen Ratschlag von ihm abgelehnt hatte. Otto hatte eine Begegnung mit ihr und befand, dass ihre Heilung zu wünschen übrig ließ. Am selben Abend hatte er dann seine Beobachtungen in Bezug auf diesen Fall für Breuer (Dr. M im Traum) zu Papier gebracht, in der Absicht, sich von jeder Schuld freizusprechen. – Zu allem Überfluss ist Irma mit Freuds Familie gut befreundet und zu einem Empfang anlässlich von Marthas Geburtstag drei Tage später eingeladen.
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Auf eine andere Vorgeschichte hatte erstmals Max Schur16 hingewiesen: Es dreht sich um eine weitere hysterische Patientin Freuds, Emma Eckstein, die ihn seit Monaten vor ein schwieriges Problem stellt: Was sind organische, was psychologische Ursachen ihrer Symptome? Freud ließ Emma von Fließ untersuchen, der schließlich an ihr eine Operation durchführte, die er vorher noch nie praktiziert hatte – mit unglücklichen Folgen: Nasenblutungen, die fast tödlich verlaufen, schließlich ein entstelltes Gesicht. – Diese Episode hat wohl zum ersten Mal Freuds Vertrauen in Fließ erschüttert, auch wenn er die in seinem Traum getarnten Vorwürfe an Fließ in seinen Assoziationen gegen sich selbst wendet. Und da sind noch Freuds Hoffnungen auf Fließ’ Entdeckungen bzgl. des weiblichen Zyklus. So hat ihm dieser seine Überzeugung mitgeteilt, dass eine Substanz namens Trimethyamin eine entscheidende Rolle dabei spielen soll. Außerdem macht sich Freud Gedanken über den Vornamen seines nächsten Kindes. Am 20. Oktober 1895 bittet er Fließ, dieses, falls es ein Sohn wird, Wilhelm heißen zu dürfen. Wenn es ein Mädchen wird, so werde es eine Anna. Die Wahl dieses Namens ist eine Huldigung an Anna, die Tochter seines Hebräischlehrers und Freundes Samuel Hammerschlag. Auch diese ist eine enge Freundin der Familie – und auch sie leidet an hysterischen Symptomen.
Identifizierung der Personen Der tote Freund, der übermäßig Kokain konsumiert hat, ist Ernst Fleischl. Der andere Freund, der vom Trimethylamin sprach, ist Fließ. Otto und Leopold sind die zwei Kinderärzte Oscar Rie und Ludwig Rosenberg. Die Identifizierung Irmas hat zu einer jahrzehntelangen Debatte geführt. Während die älteren Besprechungen hinter Irma Emma Eckstein vermuteten, brachten andere wie Schur und Anzieu Anna-Hammerschlag-Lichtheim ins Spiel. Wie Irma war sie Witwe, eine Freundin der Familie Freud, eine Frau, die Breuer gut kannte. Und Jones schreibt, dass sie eine Lieblingspatientin Freuds war. – Aber wir müssen hier keine entweder-oder-Entscheidung treffen. Gibt doch Freud selbst in der Traumdeutung eine Lösung vor, indem er dafür votiert, dass es sich um eine »Sammelperson«, eine Verdichtung mehrerer realer Personen handelt (ebd., 298). Irma steht also vermutlich für Emma und Anna und noch einige andere Frauen.
Freuds Kommentare und Deutungen Wie schon gesagt: Freud verfasst nicht weniger als vierzehn Seiten im Anschluss an seinen Traum – und an weiteren zehn Stellen in der Traumdeutung kommt er auf einzelne Aspekte zurück. Wenn wir die Kommentare Freud zusammenzufassen versuchen, lassen sich vier »Akte« dieses Bühnenstücks ausmachen.17 – Zuerst betreten die weiblichen Personen die Bühne – die »widerspenstigen« Kranken: Irma, deren Freundin (Sophie) und Martha. – Im zweiten Akt treten die Männer auf: Fleischl, Breuer und Emanuel (Freuds 16 17
Schur bezieht sich dabei auf insgesamt elf Briefe Freuds an Fließ zwischen Jänner und Mai 1895, in denen Freud sich zum Teil ausführlich zu dieser Behandlung äußert. (Vgl. Schur 1972, 169f) Diese Metapher vom Bühnenstück in mehreren Akten übernehme ich von Anzieu 1988, 36-39.
Mit der Selbstanalyse zur Traumdeutung und zur Geburt der Psychoanalyse
älterer Halbbruder). Sie sind beunruhigend, älter als er und ein ständiger Vorwurf. Dieser Akt endet mit dem Auftritt des zweiten weiblichen Trios: die durch die Behandlung mit Kokain geschädigte Kranke; eine weitere Patientin namens Mathilde und noch eine Frau namens Mathilde (Freuds älteste Tochter – oder Mathilde, die Frau Breuers, zu der Freud eine spezielle Beziehung hat). – Im dritten Akt kommt ein weiteres männliches Trio auf die Bühne, Otto, Leopold und Fließ. Diese sind »Freuds alter ego, gleichaltrige und hoffnungsvolle Mediziner« (Anzieu 1988, 37). Der erste Akt beginnt mit Freuds Beteuerung: »Es ist nicht meine, es ist Irmas Schuld.« Er endet mit Angst. – Im zweiten Akt wird Freud aufgrund schlimmer Beweise beschuldigt. – Im dritten Akt analysieren Zeugen/Advokaten diese Beweise. – Der abschließende Akt bringt die Lösung: Alles erklärt sich durch eine Injektion – mit Trimethylamin. Spritzen sind gefährlich. Fleischl hat sich damit zu Tode gebracht, Otto treibt damit Missbrauch.- »Aber die entscheidende Erklärung ist im Trimethylamin enthalten. Ihr unbefriedigendes Sexualleben ist Ursache von Irmas Beschwerden. Es ist Freud, der gegen seine Verleumder recht hat, wenn er die sexuelle Ätiologie der Neurosen verficht…. Freud hat die Formel gefunden, die er suchte« (Anzieu 1988, 38). Für Freud ist also der Traumwunsch klar: Es geht darum, dass er an Irmas schlechtem Zustand keine Schuld trägt. Freilich deutet Freud auch andere Spuren an – zu Marthas Schwangerschaft, zu seiner Todesangst, seiner Gegenübertragung. Aber er lässt diese – wohl auch um einen Rest an Diskretion aufrechtzuerhalten – beiseite zugunsten der Schlussfolgerung, die ihm im Augenblick die wesentliche ist: »Ich begnüge mich für den Moment mit der neu gewonnenen Erkenntnis: Wenn man die hier angezeigte Methode der Traumdeutung befolgt, findet man, daß der Traum wirklich einen Sinn hat. Nach vollendeter Deutungsarbeit läßt sich der Traum als eine Wunscherfüllung erkennen« (Freud 1900, 126). Noch ein Nachtrag: An der Stelle, wo Freud darauf zu sprechen kommt, dass Irma für insgesamt drei Frauen steht, unter anderem auch für seine eigene Frau, macht er eine Interpunktion. In der Fußnote lässt er uns wissen: »Ich ahne, daß die Deutung dieses Stücks nicht weit genug geführt ist, um allem verborgenen Sinn zu folgen. Wollte ich die Vergleichung der drei Frauen fortsetzen, so käme ich weit ab. – Jeder Traum hat mindestens eine Stelle, an welcher er unergründlich ist, gleichsam ein Nabel, durch den er mit dem Unerkannten zusammenhängt« (ebd., 116, Anm. 1). – Was hier auffällt: Zum einen will Freud hier in seiner Analyse nicht weitergehen. Vielleicht ist er für sich selbst auch ein Stück weiter gegangen (»weit ab«), aber er will den Leser hier nicht teilnehmen lassen; es ist ihm vielleicht zu intim. – Zum anderen schließt Freud diesen Gedanken mit einer grundsätzlichen Aussage zur Grenze des Deutungsprozesses: Die Metapher des Nabels steht für die Anerkennung einer Grenze – die zum »Unerkannten« – und Freud meint wohl auch zum »Unerkennbaren«.18 18
Im VII. Kapitel wird Freud nochmals diese Metapher des Nabels aufgreifen: »In den bestgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will… Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt. Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus seinem Mycelium« (ebd., 530). Eine
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Stellen wir uns abschließend noch die Frage: Warum wählte Freud ausgerechnet diesen Traum als Initial? Alles scheint doch so klar und einsichtig. Die triumphale These von der Wunscherfüllung erscheint logisch und zwingend – allein es gibt bei einer genaueren Lektüre sehr wohl Sprünge, Lücken, Unstimmigkeiten. Und Freud macht auch explizit darauf aufmerksam: »Irmas Schmerzen fallen nicht mir zur Last, denn sie ist selbst schuld an ihnen, indem sie meine Lösung anzunehmen verweigert. Irmas Schmerzen gehen mich nichts an, denn sie sind organischer Natur, durch eine psychische Kur gar nicht heilbar. Irmas Leiden erklären sich befriedigend durch ihre Witwenschaft (Trimethylamin), woran ich ja nichts ändern kann. Irmas Leiden ist durch eine unvorsichtige Injektion von seiten Ottos hervorgerufen worden mit einem dazu nicht geeigneten Stoff, wie ich sie nie gemacht hätte. … Ich merke zwar, diese Erklärungen für Irmas Leiden, die darin zusammentreffen, mich zu entlasten, stimmen untereinander nicht zusammen, ja sie schließen einander aus. Das ganze Plaidoyer – nichts anderes ist dieser Traum – erinnert lebhaft an die Verteidigung eines Mannes, der von seinem Nachbarn angeklagt wird, ihm einen Kessel in schadhaftem Zustand zurückgegeben zu haben. Erstens habe ich ihn unversehrt zurückgebracht, zweitens war der Kessel schon durchlöchert, als er ihn entlehnte, drittens hat er nie einen Kessel vom Nachbarn entlehnt« (ebd., 124f). Was passiert hier? Die einzelnen Begründungen sind in sich logisch, aber durch die Aneinanderreihung entsteht eine inflationäre Tendenz bzw. Widersprüchlichkeit. Freud erkennt in dieser Struktur des »Unsinns« eine Logik, die er als die Logik des Unbewussten behauptet, die sich im Traum wie im Witz niederschlägt. »Durch diese Anordnung von Witz und Traum erscheint die von Freud immer wieder aufgeführte Wunscherfüllung selbst wie ein Witz: ein geborgter und durchlöcherter Kessel, der, indem er nie wieder an seinen Ursprungsort und nie wieder zur Ganzheit zurückkehren kann, die Vorstellung eines vorausliegenden Ursprungs wie einer gegebenen, erst nachträglich zerstörten Ganzheit selbst in Frage stellt… Während das Ich weiß, daß es an Irmas Schmerzen nicht Schuld ist, weiß der Traum, daß dieses Wissen unzureichend und bezogen auf den unbewußten Wunsch verfehlt ist. Paradoxer Weise erfüllt sich die Aussage ›Der Traum ist eine Wunscherfüllung‹ darin, daß sie sich verfehlt und dadurch zum Ausgangspunkt von Fragen wird. Im Falle Freuds: Was will ich wirklich? Als Arzt, als Mann, als Ehemann, als zukünftiger Vater und als Schöpfer und Stifter der Psychoanalyse« (Schuller 2006, 42)? Noch ein Nachtrag: Fünf Jahre nach diesem Traum, ein halbes Jahr nach Erscheinen der Traumdeutung, hat Freud einen weiteren einschlägigen Traum – oder müssen wir nicht genauer sagen, einen Tagtraum in Form einer Wunscherfüllung. Sie betrifft sein Buch. Er befindet sich mit seiner Familie auf Sommerfrische in den Weinbergen oberhalb Wiens in einem Haus namens Bellevue. Und was sieht er dort? Er träumt von einer Gedenktafel, auf der dieses singuläre Ereignis festgehalten wird; dieses Ereignis der Enthüllung der Geheimnisse des Traums. So schreibt er am 12. Juni 1900 an Fließ: »Glaubst Du eigentlich, daß an dem Haus dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein theoretische Folgerung daraus wird später die nach der »unendlichen Analyse« sein, eine andere die Überzeugung von der unabschließbaren Sinnbildung des Traums. Es gibt keine »vollständige Deutung«.
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wird?: Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigm. Freud das Geheimnis des Traums.« Und weiter: »Die Aussichten sind bis jetzt hiefür gering. Wenn ich aber die neuesten psychologischen Bücher … lese, was sie über den Traum zu sagen wissen, so freue ich mich doch wie der Zwerg im Märchen, ›daß die Prinzessin es nicht weiß‹« (Freud 1986, 458). – Freud imaginiert sich also als Rumpelstilz, dessen Freude über sein geheimes Wissen doch von Ärger und Enttäuschung konterkariert ist.19 – Es hat doch einige Zeit gedauert, bis die wissenschaftliche und öffentliche Anerkennung sich eingestellt hat – und noch einmal bis 1977, bis eine Gedenktafel dort, wo früher dieses Haus stand, angebracht wurde. Aber die mit dem Traum von Irmas Injektion aufgebrachten Fragen nach dem Status des Unbewussten, inwiefern es vom Wunsch bestimmt ist, sind auch heute keinesfalls erledigt.
Zu Kapitel III: Der Traum ist eine Wunscherfüllung Dieses Kapitel ist mit seinen zwölf Seiten das kürzeste. Und es liest sich anfangs wie eine einzige Wiederholung, eine Bekräftigung. Freud spricht von der »Klarheit einer plötzlichen Erkenntnis«, die sich über diese erste exemplarische Traumanalyse eingestellt hat. Hier dürfe man »einen Moment lang verweilen und überlegen, wohin man zunächst sich wenden soll.« Und so hält Freud die wesentliche Erkenntnis dieses »Moments« nochmals fest: »Er ist ein vollgültiges psychisches Phänomen, und zwar eine Wunscherfüllung« (ebd., 127). Aber »eine Fülle von Fragen bestürmt uns im gleichen Moment.« Z.B. »[...]woher rührt die auffällige und befremdende Form, in welcher diese Wunscherfüllung ausgedrückt ist? …Kann der Traum uns etwas Neues über unsere inneren psychischen Vorgänge lehren« (ebd., 128)? Das sind in der Tat weiterführende Fragen, die erst in den Folgekapiteln behandelt werden. – Hier geht Freud erst einmal zur einfachsten Form von Träumen, dem Kindertraum, der den Charakter der Wunscherfüllung »unverhüllt« erkennen lässt. Da die Wunscherfüllung »seine einzige Absicht ist, darf er vollkommen egoistisch sein« (ebd., 129). Und er bringt einige einschlägige Beispiele, meist von seinen eigenen Kindern. Und dann kommt eine überraschende Überleitung: Freud fragt rhetorisch: »Wovon die Tiere träumen, weiß ich nicht«, um dann ein passendes Sprichwort zu bringen, das die Frage stellt: »Wovon träumt die Gans? und beantwortet sie: Vom Kukuruz (Mais).« Und er fährt so fort: »Die ganze Theorie, daß der Traum eine Wunscherfüllung sei, ist in diesen zwei Sätzen enthalten« (ebd., 137). Es stellt sich die Frage: Was will Freud damit? Nur eine erneute Wiederholung seiner These? Freud bemerkt, dass – hätten wir den »Sprachgebrauch« ernster genommen, hätten wir über die darin enthaltene »Sprach-
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Schon in einem Brief an Fließ vom 16. Mai 1897 bezog sich Freud auf das »keltische Zaubermännchen: ›Ach wie bin ich froh, daß es niemand, niemand weiß.‹. Niemand hat eine Ahnung davon, daß der Traum kein Unsinn ist, sondern eine Wunscherfüllung« (Freud 1986, 259).
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weisheit« auf »kürzerem Wege« zu dieser Einsicht (in den Charakter der Wunscherfüllung) kommen können.20
Wie arbeitet der Traum? Zu den Kapiteln IV – VI Und jetzt nimmt Freud sich vor, die Mechanismen zu untersuchen, die dafür verantwortlich sind, dass sich aus den Traumgedanken der manifeste Traum gestaltet. Erst einmal nimmt er eine Präzisierung seiner künftigen Begrifflichkeit vor – er unterscheidet manifesten und latenten Trauminhalt. Dies ist notwendig, denn – mit Ausnahme der Kinderträume zeigt der Traum »nicht direkt, was er bedeutet… Heißen wir dieses der Erklärung bedürftige Verhalten des Traumes: die Tatsache der Traumentstellung, so erhebt sich also die zweite Frage: Wovon rührt diese Traumentstellung her« (ebd., 141)? Diesem Rätsel der Traumentstellung will er also jetzt auf den Grund gehen – und wir bekommen einen nächsten Traum vorgestellt. Den Beginn macht wieder ein »Vorbericht« (was im Vorfeld des Traumes geschehen ist – was er bald die Tagesreste nennen wird). Es geht darum, dass er am Vortag des Traums Besuch von einem befreundeten Kollegen erhielt. In ihrem Gespräch geht es um die Hoffnung beider, endlich die kaiserliche Ernennung zum Professor zu erhalten. Der Kollege erzählt Freud von seinem neuerlichen Besuch im Ministerium und seiner Anfrage, ob die Verzögerung mit »konfessionellen Rücksichten« zu tun habe, was bejaht wurde. Freud weiß also, dass es auch diesmal mit seiner Ernennung nichts werden wird. Am Morgen danach erwacht Freud mit folgendem Traum: »I. … Freund R. ist mein Onkel. – Ich empfinde große Zärtlichkeit für ihn. II. Ich sehe sein Gesicht etwas verändert vor mir. Es ist wie in die Länge gezogen, ein gelber Bart, der es umrahmt, ist besonders deutlich hervorgehoben« (ebd.,143). Die Wunscherfüllung in diesem Traum lautet nach Freuds Analyse: Die anderen (R. und mein Onkel Josef) sind Schwachköpfe – ich dagegen darf mich auf meine Ernennung zum Professor freuen. – Die Analyse dieses Traums benutzt Freud dazu, auf die Tatsache der Verdrängung hinzuweisen, die im Traum als Zensur wirksam wird – und zur Folge hat, dass bestimmte Momente entstellt/verstellt zur Darstellung kommen. In den Assoziationen zu diesem Traum ist es »die Behauptung, daß R. ein Schwachkopf ist«. Das will Freud nicht wissen, dagegen richtet sich sein Sträuben – und diese affektive Haltung kommt im Traum verkehrt, als »große Zärtlichkeit« an die Oberfläche. – Die generalisierende Erkenntnis beschreibt Freud dann so: »Wo die Wunscherfüllung unkenntlich, verkleidet ist, da müßte eine Tendenz zur Abwehr gegen diesen Wunsch vorhanden sein, und infolge dieser Abwehr könnte der Wunsch sich nicht anders als entstellt zum Ausdruck bringen« (ebd., 147). Das bedeutet, dass für die Traumproduktion mindestens »zwei psychische Mächte« notwendig sind: einmal der Wunsch, zum anderen die Abwehr, die Zensur. Und: »[...] das Vorrecht der zweiten Instanz sei eben die Zulassung zum Bewußtsein« (ebd., 149). Freud geht nun einen Schritt weiter. Er behandelt jetzt Träume »peinlichen Inhalts«, um an ihnen zu zeigen, dass sie trotz ihres gegenteiligen Anscheins ebenfalls der The20
Hier deutet sich an, was Freuds nächstes Thema nach der Traumdeutung sein wird: Sein wachsendes Interesse an der Sprache, an Märchen, Mythen und Redensarten mündet in seinen Text Zur Psychopathologie des Alltagslebens.
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se, wonach alle Träume Wunschträume sind, entsprechen, aber eben auch deutliche Spuren der Zensur an sich tragen. – Der Traum, an dem Freud dies exemplifiziert, ist ein ebenfalls in der Geschichte der Psychoanalyse wirkmächtiger und viel interpretierter Traum, der Traum von der »Metzgersfrau«. Freud stellt sie uns als »eine witzige Patientin« vor. – Zur Vorgeschichte dieses Traums gehört, dass diese Patientin Freud mit ihrem Traum beweisen will, dass seine These der Wunscherfüllung für diesen ihren Traum nicht gilt. – Der manifeste Traum handelt davon, dass diese Frau ein Souper geben will, aber nichts als Lachs zu Hause hat. Die Geschäfte sind geschlossen, das Telefon ist gestört; sie muss also auf ihren Wunsch, ein Souper zu geben, verzichten. – Wohin führt Freuds Analyse? Über die Assoziationen der Frau wird klar, dass sie sich in einer Rivalität mit ihrer Freundin befindet, die rundlichere Formen bekommen will, um dem Mann der Metzgersfrau zu gefallen. »Ich kann der Patientin sagen: Es ist gerade so, als ob Sie sich bei der Aufforderung (an ihre Freundin) gedacht hätten: Dich werde ich natürlich einladen, damit du dich bei mir anessen, dick werden und meinem Mann noch besser gefallen kannst. Lieber geb’ ich kein Souper mehr« (ebd., 153). Bei diesem und anderen Träumen, die Freud in der Folge darstellt, kommt noch ein anderes Moment zur Wirkung: eine negative Übertragung. Freud spricht von »Gegenwunschträumen«, in welchen eine Kraft aus dem Wunsch resultiert, dass Freud unrecht haben soll. »Diese Träume ereignen sich regelmäßig im Laufe meiner Behandlungen, wenn sich der Patient im Widerstand gegen mich befindet« (ebd., 163). Als vorläufige Konsequenz aus dieser Analyse »widerständiger« Träume formuliert Freud eine Präzisierung seiner Wunscherfüllungsthese: »Der Traum ist die (verkleidete) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches« (ebd., 166). Hintergrund dieser Differenzierung ist, dass Freud den Traum als Kompromiss zwischen mindestens zwei Kräften versteht (verdrängter Wunsch und Widerstand/Zensur), und dass es durch die Traumarbeit zu einer Verstellung/Entstellung der latenten Traumgedanken hin zum manifesten Trauminhalt kommt, der aufgrund dieser Entstellungsarbeit nicht mehr verständlich ist bzw. auf falsche Fährten führt. Was ist also das Neue an Freuds Zugang zum Traum? Alle bisherigen Traumtheorien haben diese Barriere zwischen dem Bewusstsein des erwachten Träumers und dem manifesten Traum übersprungen bzw. ignoriert: »Nur wir allein stehen einem anderen Sachverhalt gegenüber: für uns schiebt sich zwischen den Trauminhalt und die Resultate unserer Betrachtung ein neues psychisches Material ein: der durch unser Verfahren gewonnene latente Trauminhalt oder die Traumgedanken« (ebd., 183). Im nächsten Kapitel über Das Traummaterial und die Traumquellen kommt Freud auf den ersten der Mechanismen der Traumarbeit zu sprechen, die Verschiebung. Freud formuliert es ganz elementar: »Der Vorgang ist aber so, als ob eine Verschiebung – sagen wir: des psychischen Akzentes – ... zustande käme. Wir deuten somit die Tatsache, daß der Trauminhalt Reste von nebensächlichen Erlebnissen aufnimmt, als eine Äußerung der Traumentstellung (durch Verschiebung) und erinnern daran, daß wir in der Traumentstellung eine Folge der zwischen zwei psychischen Instanzen bestehenden Durchgangszensur erkannt haben« (ebd.). Was bedeutet das? Nicht weniger, als dass durch diesen Mechanismus Verwirrung und Verrätselung entsteht: Wesentliches wird unwichtig, Nebensächliches ins Zentrum gerückt. Dies macht Freud wieder an einigen Traumbeispielen von Patientinnen klar.
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Ein Zwischenabschnitt nennt sich hier »Das Infantile als Traumquelle«. Es geht Freud darum, zu zeigen, dass nicht nur aktuelle Ereignisse der letzten Tage, sondern immer auch längst zurückliegende, oft längst vergessene Erlebnisse der Kindheit in den Träumen auftauchen. Der Träumer wird in seinem Traum gewissermaßen wieder zu dem Kind, das er einmal gewesen. Mit einer ganzen Serie von Träumen sucht Freud diese These zu untermauern, um diesen Abschnitt mit folgender Aussage abzuschließen: »Der Traum erscheint häufig mehrdeutig; es können nicht nur, wie Beispiele zeigen, mehrere Wunscherfüllungen nebeneinander in ihm vereinigt sein; es kann auch ein Sinn, eine Wunscherfüllung die andere decken, bis man zu unterst auf die Erfüllung eines Wunsches aus der ersten Kindheit stößt, und auch hier wieder die Erwägung, ob in diesem Satze das ›häufig‹ nicht richtiger durch ›regelmäßig‹ zu ersetzen ist« (ebd., 224). Wir erhalten also die Präzisierung, dass der verdrängte Wunsch bzw. der oder die eigentlichen Traumgedanken immer infantilen Ursprungs sind. Freud kommt dann auf eine weitere grundlegende Traumfunktion zu sprechen: »Der Traum ist der Wächter des Schlafes, nicht sein Störer« (ebd., 239). Später wird Freud diese Traumfunktion als »Hüter des Schlafes« bezeichnen. Dann kommt Freud zu Träumen, in denen Todeswünsche, insbesondere gegen die Eltern, ausgedrückt werden: »Nach meinen bereits zahlreichen Erfahrungen spielen die Eltern im Kinderseelenleben aller späteren Psychoneurotiker die Hauptrolle, und Verliebtheit gegen den einen, Haß gegen den andern Teil des Elternpaares gehören zum eisernen Bestand…Ich glaube aber nicht, daß die Psychoneurotiker sich hierin von anderen normal verbleibenden Menschenkindern scharf sondern« (ebd., 267). – Wir erinnern uns: Dies ist die fast wörtliche Übernahme einer Mitteilung an Fließ (vom 15. Oktober 1897). Und jetzt erzählt Freud die Sage vom König Ödipus bzw. das gleichnamige Drama von Sophokles, um so zu folgern: »Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können… Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Haß und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon« (ebd., 269). – Also: Der Traum hat eine weiterführende Funktion für die Entwicklung der Psychoanalyse – Freud erfährt ihn als Bestätigung seiner Annahme des Ödipuskomplexes. Im nächsten Abschnitt, mit Die Traumarbeit übertitelt, will Freud weiter klären, was sich auf dem Weg der Traumarbeit von den latenten Traumgedanken zum manifesten Trauminhalt tut: »Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise … Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre gehen, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte. Ich habe etwa ein Bilderrätsel (Rebus) vor mir … die richtige Beurteilung des Rebus ergibt sich offenbar erst dann, wenn ich … mich bemühe, jedes Bild durch eine Silbe oder ein Wort zu ersetzen, das nach irgendwelcher Beziehung durch das Bild darstellbar ist« (ebd., 283, 284; Kursivierung von mir). Hier befinden wir uns an einer der zentralen Stellen dieses Buches bzw. von Freuds Verständnis des Traums und der richtigen Anwendung der Methode der Traumdeutung. Freud verwendet die Metapher von den zwei Sprachen, zwischen denen eine Über-
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tragung, also eine Übersetzung stattfindet – und die durch die Deutung wiederum in die andere Richtung vollzogen werden muss. Und er beschreitet mit dieser Übertragung einen neuen, revolutionären Weg. Die »alten« Traumdeuter, etwa der griechischen Antike, versuchten eine Übersetzung von Bild zu Bild. Freud plädiert für eine Übertragung vom Bild zum Wort, zur Silbe, zum Buchstaben. – Und er bringt in der Folge zahlreiche Beispiele von Traumanalysen, um dieses Vorgehen für den Leser nachvollziehbar zu machen. Worin besteht also das Wesentliche, das Neue an der freudschen Operation? »Zunächst darin, das Sehen von Bildern durch das Hören einer Erzählung zu ersetzen. Weiter darin, diese Erzählung, diese Diskursform, die mehr oder weniger der linearen Logik der Narration untergeordnet ist, zurückzuführen auf einen Text. Und schließlich – da fängt erst die Arbeit der Deutung an – darin, den Text zu zerlegen, zu entflechten, zu entweben (das Gewebe zu zerreißen), um am Ende an die Aussage des Wunsches zu gelangen« (Pontalis 1990, 15). Wir können – über die Sache mit dem Traum hinaus – das Projekt der gesamten freudschen Psychoanalyse als eines der fortschreitenden Ablösung vom Bild begreifen: vom Verzicht auf die Hypnose, auf den Blick über das setting des Liegens (dem Blick des Analytikers entzogen) bis zum späteren Konzept des Todestriebes, der sich auf keinerlei Weise bildhaft veranschaulichen lässt. Als zweiten Mechanismus der Traumarbeit beschreibt Freud die so von ihm benannte Verdichtung. Am Traum von der »botanischen Monographie«, einem kurzen manifesten Traum, macht er so genannte »Knotenpunkte« aus, »in denen sehr viele Traumgedanken zusammentreffen«; und Freuds Schlussfolgerung ist dann: »Jedes der Elemente des Trauminhaltes erweist sich als überdeterminiert, als mehrfach in den Traumgedanken vertreten« (ebd., 289). – Und dieser Sachverhalt gilt auch umgekehrt: »Nicht nur die Elemente des Traums sind durch die Traumgedanken mehrfach determiniert, sondern die einzelnen Traumgedanken sind auch im Traum durch mehrere Elemente vertreten« (ebd., 290). Bei seinen Beispielen kommt Freud wieder auf seinen ersten Traum, den von Irmas Injektion, zurück. Die Hauptperson, Irma, ist, wie die Analyse gezeigt hat, eine »Sammelperson«, in welcher sich mehrere Personen verdichten. »Die Herstellung von Sammel- und Mischpersonen ist eines der Hauptarbeitsmittel der Traumverdichtung« (ebd., 299). Und nun stellt Freud eine Verknüpfung zwischen den beiden bisher erläuterten Traummechanismen her, zwischen Verdichtung und Verschiebung: »Es liegt nun der Einfall nahe, daß bei der Traumarbeit eine psychische Macht sich äußert, die einerseits die psychisch hochwertigen Elemente ihrer Intensität entkleidet, und andererseits auf dem Wege der Überdeterminierung aus minderwertigen, neue Wertigkeiten schafft … Wenn das so zugeht, so hat bei der Traumbildung eine Übertragung und Verschiebung der psychischen Intensitäten der einzelnen Elemente stattgefunden … Der Vorgang … verdient den Namen der Traumverschiebung. Traumverschiebung und Traumverdichtung sind die beiden Werkmeister, deren Tätigkeit wir die Gestaltung des Traumes hauptsächlich zuschreiben dürfen« (ebd., 313). Aber damit ist die Traumarbeit noch nicht vollständig entschlüsselt. Es gibt noch zwei weitere Darstellungsmittel der Traumarbeit. – Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Frage, wie im Traum »logische Bande«, Verknüpfungen wie »wenn, weil, gleichwie, obgleich, entweder-oder und alle anderen Präpositionen« ausgedrückt wer-
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den. Freud bemerkt hier ganz apodiktisch: »[...] der Traum hat für diese logischen Relationen unter den Traumgedanken keine Mittel der Darstellung zur Verfügung« (ebd., 317). In der Folge beschreibt Freud eine ganze Reihe von solchen Traumphänomenen, die in seiner späteren Theorie als Spezifika des Unbewussten beschrieben werden:21 Logischer Zusammenhang wird als Gleichzeitigkeit ausgedrückt, Kausalbeziehungen durch ein Nacheinander, ein Entweder-Oder kann gar nicht ausgedrückt werden, ebenso kein Gegensatz, kein Widerspruch (Freud später: Das Unbewusste kennt keine Negation); Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten werden als Identifizierung oder über den Weg der Mischbildung bewältigt. »Die Umkehrung, Verwandlung ins Gegenteil, ist übrigens eines der beliebtesten, der vielseitigsten Verwendung fähigen Darstellungsmittel der Traumarbeit« (ebd., 332). So muss der Traum eigene Wege finden, in seiner Bildersprache komplexe und verdichtete Traumgedanken auszudrücken. »Die Rücksicht auf Darstellbarkeit« ist ein weiterer Mechanismus der Traumarbeit, der der Tatsache geschuldet ist, dass Träume primär bildsprachlich gebaut sind. Als eines seiner Beispiele bringt Freud hier ein Traumelement aus dem Traum von Irmas Injektion: »Der Mund geht gut auf«, was Freud zur Übersetzung bringt: Sie ist leichter zum Reden zu bringen als meine Frau; oder das »Sitzenbleiben« in einem anderen Traum bildlich als Sitzenbleiben auf einem Sessel in der Wiener Oper – von Freud als »keinen Mann kriegen« übersetzt. – Worum geht es also bei dieser Rücksicht auf Darstellbarkeit? Offenbar braucht der Traum Wege, die Traumgedanken in Bilder, in Szenen umzuwandeln. Jeder Gedanke, jedes Urteil, jede Rede muss sich in visuelle Bilder umwandeln. Erst die Bilder sorgen für eine Anbindung des Traums an unsere sichtbare Welt. Die Traumanalyse aber muss diesen Weg rückwärts beschreiten – von den Bildern zu den Gedanken und ihren Elementen, den Worten und Buchstaben mit ihrem Überschuss an Bedeutung. Die Rückübersetzung dieser Bilder kann also, wie Freud schon in seiner obigen Aussage (vgl. 283f) gezeigt hat, nicht in einer eins-zu-eins-Übersetzung erfolgen, »Das ›Szenische‹ an der ›Darstellbarkeit‹ ist keine einfache Repräsentation oder ›Darstellung‹ im Sinne einer irgendwie gearteten Entsprechung oder Adäquation zwischen Dargestelltem und Darstellendem: es fällt nicht mit einem ›natürlichen Ausdruck‹ zusammen, und auch nicht ›in einer figurativen Semiologie‹. Vielmehr ähnelt es einer ›Schrift‹, gewiss im Sinne jener ›Bilderschrift‹, von der Freud schon schreibt« (Pontalis 1990, 137). So setzt sich Freud in der Folge mit der insbesondere von seinem Mitstreiter Wilhelm Stekel forcierten Symboldeutung auseinander. Zum einen anerkennt Freud, dass es durchaus zumindest für einen Kulturkreis verbindliche »Symbolgemeinschaften« gibt, zum anderen warnt er davor, »ein neues Traumbuch nach der Chiffriermethode zu entwerfen« (Freud 1900, 356). Letztlich wisse man nie, ob ein Trauminhalt einmal symbolisch, ein anderes mal »in seinem eigentlichen Sinn zu deuten« sei« (ebd., 357). Jedenfalls lehnt es Freud ab, die Traumübersetzung auf Symbolübersetzung zu beschränken. Schließlich bespricht Freud noch einen vierten Traummechanismus – die sekundäre Bearbeitung. Sie geht auf das Konto jener psychischen Funktion, »die von unserem 21
So etwa in Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens von 1911 oder im paradigmatischen Artikel Das Unbewußte von 1915.
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wachen Denken nicht zu unterscheiden ist« (ebd., 493) und kommt als Ergänzung der sonst als Zensur wirkenden Instanz in den Traum. Was macht dieser Mechanismus? »Was dieses Stück der Traumarbeit auszeichnet und verrät, ist seine Tendenz … mit ihren Fetzen und Flicken stopft sie die Lücken im Aufbau des Traums… Es kommen so Träume zustande, die für die oberflächliche Betrachtung tadellos logisch und korrekt erscheinen mögen; sie gehen von einer möglichen Situation aus, führen dieselbe durch widerspruchsfreie Veränderungen fort und bringen es, wiewohl dies am seltensten, zu einem nicht befremdenden Abschluss« (ebd., 494). – Was passiert hier? Die sonst sinnlos nebeneinander liegenden »Brocken« werden zu einem sinnvollen Ganzen geformt, und zwar durch eine zeitliche Strukturierung, die daraus die Struktur einer Erzählung, einer Geschichte macht: »Die sekundäre Bearbeitung also versucht, dem Traum den Anschein einer in sich geschlossenen, sinnvollen Erzählung zu geben… Diese Bestrebung der ›sekundären Bearbeitung‹ versucht also, die Entstellungsarbeit des Traumes nochmals zu verstellen, und zwar indem aus der ›Rücksicht auf Darstellbarkeit‹ eine Berücksichtigung der Erzählbarkeit wird« (Weber 1999, 139). Zusammenfassend können wir zur Traumarbeit also festhalten, dass diese einen inhaltlichen und formalen Kompromiss zwischen unbewussten Gedanken und vorbewussten Tagesresten erzeugt: »Der Traum kann als Ort, an dem Bedeutung erzeugt wird, angesehen werden, aber nicht als Ausdruck unbewußten Denkens, sondern als Allianz der zwei Denksysteme, wie sie auf den verschiedenen Ebenen der Traumrhetorik hergestellt wird. Die bedeutungserzeugenden Metaphern sind also nicht im Unbewußten lokalisiert, nicht das Produkt unbewußten Denkens, sondern entstehen an der Schnittstelle zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten als Ergebnis einer Begegnung zwischen der imaginären und der strukturellen Sphäre, die in der Traumrhetorik am unmißverständlichsten zum Ausdruck kommt« (Stockreiter 2000, 268).
Vom Traum zur Metapsychologie – das Kapitel VII Nach Jones ist dieser Schlussteil des Buches »das Schwierigste und Abstrakteste«, was Freud bisher geschrieben hat (Jones 1960, 417). Er hat es unter dem sich selbst gesetzten Termindruck innerhalb weniger Wochen im September 1899 verfasst. Freud eröffnet hier eine übergreifende Perspektive, die dem entsprach, was er Fließ gegenüber als metapsychologisch bezeichnet hat. Er versucht nicht weniger als die Mechanismen der Traumarbeit auf die grundsätzliche Funktionsweise des seelischen Apparates hochzurechnen. Noch immer wird dieses Kapitel der Traumdeutung als Anfang und Grundlage der psychoanalytischen Metapsychologie und als Modell des »seelischen Apparates« gesehen. Dies zum einen deshalb, weil der Generation der »Gründerväter« der Entwurf schlicht nicht bekannt war, zum anderen, weil eine Sichtweise bis heute tradiert wird, die die Begründung der Theorie der Psychoanalyse mit dem »Bruch« Freuds mit dieser »neurologischen Träumerei« und folglich mit der Traumdeutung gleichsetzt. Wir wollen mit der Darstellung dieses VII. Kapitels hingegen die Kontinuität zwischen Entwurf und Traumdeutung zeigen, deutlich machen, wie Freud alle wesentlichen Annahmen des Entwurfs zum Teil wörtlich übernimmt, zum Teil allerdings die stark neurologische Sprache
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durch eine stärker psychologische Begrifflichkeit ersetzt und ergänzt. Wesentliche Teile dieses Kapitels stammen tatsächlich aus dem Entwurf einer Psychologie von 1895.
Wie funktioniert der seelische Apparat? Zwei Fragestellungen stehen im Zentrum dieses sehr abstrakt und philosophisch gehaltenen Kapitels: Zum einen stellt uns Freud die Funktionsweise des psychischen Apparats vor; zum anderen entwickelt er ein Verständnis für die Dynamik von Wunsch und Abwehr, womit ein erstes Triebkonzept und ein erstes vertieftes Konzept der Verdrängung vorgelegt wird. Freud beginnt diesen Abschnitt, der eine komprimierte Darstellung seiner Traumtheorie und damit auch seiner damaligen Auffassung der Dynamik psychischer Vorgänge enthält, mit einem Traumbericht, dem Traum vom brennenden Kind. Zunächst der Vorbericht: Ein Vater hat viele Nächte am Krankenbett seines Kindes gewacht. Nachdem das Kind gestorben ist, begibt er sich im Nebenzimmer zur Nachtruhe. Ein Mann wacht neben der aufgebahrten Leiche, die von Kerzen umstellt ist. In dieser Nacht träumt der Vater »daß das Kind an seinem Bette steht, ihn am Arm faßt und ihm vorwurfsvoll zuraunt: Vater, siehst du denn nicht, daß ich verbrenne« (Freud 1900, 513)? Er erwacht, sieht einen hellen Lichtschein, eilt ins Nebenzimmer, der Wächter schläft und findet »die Hüllen und einen Arm der teuren Leiche verbrannt durch eine Kerze, die brennend auf sie gefallen war« (ebd., 514). Die Frage an dieser Stelle ist also: Wozu beginnt Freud diesen Abschnitt gerade mit diesem Traum? Was will er uns zeigen? Vermutlich geht es noch einmal um sein Insistieren auf seiner zentralen These, hier als Frage formuliert: Inwiefern kann dieser Traum eine Wunscherfüllung sein?! Freuds schnelle Antwort lautet: »Im Traum benimmt sich das tote Kind wie ein lebendes« (ebd.). Der Traumwunsch könnte also lauten: Ach wäre mein Kind doch noch am Leben! – Aber es sind wohl noch andere Elemente an diesem Traum, die Freud für das Nachfolgende braucht. Freud erörtert nochmals sein Vorgehen bei einer Traumanalyse. Er versucht, den Träumenden dazu zu bewegen, seine Vorbehalte, seine Skepsis und Kritik beiseite zu stellen, was freilich immer wieder schwierig ist; die Kraft, die im Traum als Zensur wirkt, ist im Wachzustand ja noch stärker und folglich auch bei der Erzählung und Analyse wirksam und äußert sich als Widerstand: »Was immer die Fortsetzung der Arbeit stört, ist ein Widerstand« (ebd., 521). – Dies als »technische Regel«, als »Mahnung für den Analytiker«. Freud berichtet hier von Traumanalysen, wo dem Träumer an bestimmten Stellen zunächst nichts einfällt, dann aber oft ein zunächst ausgelassenes Stück des Traumes auftaucht, was ihn zu einer weiteren Gepflogenheit führt: Er lässt sich häufig den Traum ein zweites Mal erzählen – und meist weicht der zweite Traumtext vom ersten ab. Diese Unterschiede sind dann der Ausgangspunkt für die weitere Deutungsarbeit. Im Zusammenhang der Frage, ob jeder Traum auch »zur Deutung gebracht werden kann« (was Freud klar mit »nein« beantwortet), kommt er nochmals auf die Metapher vom Nabel des Traums: »[...] der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt. Die Traumgedanken … müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen.
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Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus dem Mycelium« (ebd., 530). – Neu gegenüber Freuds erster Bezugnahme auf dieses Bild ist das Wort »aufsitzen«. Wenn »aufsitzen« neben anderen Bedeutungen auch »festsitzen« heißen kann, dann ist der »Nabel« nicht nur der Grenzpunkt zwischen dem Erkannten und dem Unerkannten, sondern auch die Stelle, an der Freud den »Traumwunsch« platziert, was wir auch so verstehen können, dass es die Stelle ist, an der eine bestimmte Deutung festsitzt. »Es gibt in jeder Deutung und im Zuge jeder Deutung einen Rest; etwas, das der Symbolisierung unzugänglich ist. … Taucht damit das Konzept einer unendlichenTextur auf, so hat der Signifikant ›Netz‹ auch die Bedeutung eines Gewebes, in dem man sich, ohne Ausweg, verfangen und verstricken kann. Sind Traum und Deutung … ineinander verfangen und verstrickt, so folgt daraus: Die Traumdeutung ... stellt sich als ein Text dar, dessen bildliche und buchstäblich Konfigurationen immer wieder und immer wieder das erste Mal gelesen werden müssen« (Schuller 2006, 47). Nun gibt Freud eine Art Zusammenfassung des bisher Erarbeiteten: »Wir stellen die Hauptergebnisse unserer bisherigen Untersuchung zusammen. Der Traum ist ein vollwichtiger psychischer Akt; seine Triebkraft ist alle Male ein zu erfüllender Wunsch; seine Unkenntlichkeit als Wunsch und seine vielen Sonderbarkeiten und Absurditäten rühren von dem Einfluß der psychischen Zensur her … außer der Nötigung, sich dieser Zensur zu entziehen, haben bei seiner Bildung mitgewirkt eine Nötigung zur Verdichtung des psychischen Materials, eine Rücksicht auf Darstellbarkeit in Sinnesbildern und ... eine Rücksicht auf ein rationelles und intellegibles Äußere des Traumgebildes« (Freud 1900, 538). Jetzt folgt Freuds Beschreibung des seelischen Apparats: »Wir stellen uns also den seelischen Apparat vor als ein zusammengesetztes Instrument, dessen Bestandteile wir Instanzen oder der Anschaulichkeit zuliebe Systeme heißen wollen. Dann bilden wir die Erwartung, daß diese Systeme vielleicht eine konstante räumliche Orientierung gegeneinander haben … Es genügt uns, wenn eine feste Reihenfolge dadurch hergestellt wird, daß bei gewissen psychischen Vorgängen die Systeme in einer bestimmten zeitlichen Folge von der Erregung durchlaufen werden … Der psychische Vorgang verläuft im allgemeinen vom Wahrnehmungsende zum Motilitätsende« (ebd., 542). Es folgen Ausführungen, die weitestgehend eine Wiederholung des im Entwurf entwickelten Modells und dessen Begrifflichkeit sind. Die Analyse des Traums und seiner Dynamik erachtet Freud als weitere Bestätigung seiner dort vorgebrachten Überlegungen, insbesondere der von den zwei Systemen. »Wir haben gesehen, daß es uns unmöglich wurde, die Traumbildung zu erklären, wenn wir nicht die Annahme zweier psychischer Instanzen wagen wollten, von denen die eine die Tätigkeit der anderen einer Kritik unterzieht … Ersetzen wir nun diese Instanzen im Sinne unserer Annahme durch Systeme. Das letzte der Systeme am motorischen Ende heißen wir das Vorbewußte… Das System dahinter heißen wir das Unbewußte… In welches dieser Systeme verlegen wir nun den Anstoß zur Traumbildung? Der Vereinfachung zuliebe in das System Ubw.« (ebd., 545, 546). Die Traumgedanken entstehen durch ein Zurückwirken des Vorbewussten auf das Unbewusste, aus dessen Quellen sie sich speisen. Freud nennt diesen Vorgang hier erstmals Regression: »Was im halluzinatorischen Traum vor sich geht, können wir nicht an-
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ders beschreiben, als indem wir sagen: Die Erregung nimmt einen rückläufigen Weg. Anstatt gegen das motorische Ende des Apparats pflanzt sie sich gegen das sensible fort und langt schließlich beim System der Wahrnehmungen an…. so dürfen wir vom Traum aussagen, er habe regredienten Charakter… Wir heißen es Regression, wenn sich im Traum die Vorstellung in das sinnliche Bild rückverwandelt, aus dem sie irgendeinmal hervorgegangen ist« (ebd., 547f). – Und auch hier macht Freud auf die Parallelen zur Psychopathologie aufmerksam: »Für die Halluzinationen der Hysterie, der Paranoia, die Visionen geistesnormaler Personen kann ich die Aufklärung geben, daß sie tatsächlich Regressionen entsprechen, d.h. in Bilder verwandelte Gedanken sind« (ebd., 549). Es geht im Weiteren um die Frage, welche Bedingungen für eine Traumproduktion notwendig sind. In diesem Zusammenhang finden wir eine interessante Verwendung des Begriffs der Übertragung (übrigens die einzige Verwendung in der Traumdeutung!): »Aus dieser (der Neurosenpsychologie) erfährt man, daß die unbewußte Vorstellung als solche überhaupt unfähig ist, ins Vorbewußte einzutreten, und daß sie dort nur eine Wirkung zu äußern vermag, indem sie sich mit einer harmlosen, dem Vorbewußten bereits angehörigen Vorstellung in Verbindung setzt, auf sie ihre Intensität überträgt und sich durch sie decken läßt. Es ist dies die Tatsache der Übertragung, welche für so viele auffällige Vorfälle im Seelenleben der Neurotiker die Aufklärung enthält« (ebd., 568). – Wir kennen den Übertragungsbegriff bereits aus den Studien. Dort taucht er auf, wenn Freud über die unterschiedlichen Störungen und Hindernisse der kathartischen Kur spricht. Eines davon ist dort die »Übertragung« von peinlichen und anderen Vorstellungen auf den Arzt, was Freud als »falsche Verknüpfung« versteht. – Hier geht es ihm um etwas gänzlich anderes, nämlich um die Notwendigkeit, dass die unbewusste Vorstellung ein Medium, einen Träger in Form der Tagesreste braucht, um überhaupt als Wunschmaschine ins Funktionieren zu kommen. Freud postuliert weiters (ganz wie im Entwurf), dass der psychische Apparat funktioniert wie ein Reflexapparat. Er soll »Anhäufung von Erregung vermeiden und sich möglichst erregungslos erhalten«, weil »die Anhäufung von Erregung ... als Unlust empfunden wird und den Apparat in Tätigkeit versetzt, um das Befriedigungserlebnis, bei dem die Verringerung der Erregung als Lust verspürt wird, wieder herbeizuführen« (ebd., 604). Wie schon im Entwurf dargestellt, kann der Gleichgewichtszustand nicht durch eine unmittelbare Reizabfuhr erreicht werden. Die endogenen Bedürfnisse bedürfen einer spezifischen Aktion, um das Befriedigungserlebnis zu erzielen. – Wie kann nun der psychische Apparat diese Fähigkeit erreichen? Nun – dazu konstruiert Freud eine fiktive phylogenetische Entwicklung: »Wir zweifeln nicht daran, daß auch dieser Apparat seine heutige Vollkommenheit erst über den Weg einer langen Entwicklung erreicht hat. … daß der Apparat zunächst dem Bestreben folgte, sich möglichst reizlos zu halten, und darum in seinem ersten Aufbau das Schema des Reflexapparates annahm. Aber die Not des Lebens störte diese einfache Funktion. In der Form der großen Körperbedürfnisse tritt die Not des Lebens zuerst an ihn heran. Das hungrige Kind wird hilflos schreien und zappeln … Eine Wendung kann erst eintreten, wenn auf irgendeinem Wege, beim Kinde durch fremde Hilfeleistung, die Erfahrung des Befriedigungserlebnisses gemacht wird, das den inneren Reiz aufhebt. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Erlebnisses
Mit der Selbstanalyse zur Traumdeutung und zur Geburt der Psychoanalyse
ist das Erscheinen einer gewissen Wahrnehmung (der Nahrung zum Beispiel), deren Erinnerungsbild von jetzt an mit der Gedächtnisspur der Bedürfniserregung assoziiert bleibt. Sobald dieses Bedürfnis ein nächstes Mal auftritt, wird sich, dank der hergestellten Verknüpfung, eine psychische Regung ergeben, welche das Erinnerungsbild jener Wahrnehmung besetzen und die Wahrnehmung selbst wieder hervorrufen, also eigentlich die Situation der ersten Befriedigung wieder herstellen will. Eine solche Regung ist das, was wir einen Wunsch heißen: das Wiedererscheinen der Wahrnehmung ist die Wunscherfüllung, und die volle Besetzung der Wahrnehmung von der Bedürfniserregung her der kürzeste Weg zur Wunscherfüllung … das Wünschen also auf ein Halluzinieren hinausläuft« (ebd., 570). Es ist also dieselbe Entwicklung, wie sie Freud schon im Entwurf gezeichnet hat: ein endogener Reiz, dem nur durch fremde Hilfeleistung die Wahrnehmung des befriedigenden Objekts und damit das Befriedigungserlebnis vermittelt wird. Das Entscheidende dabei ist die hergestellte Verknüpfung, eine erste Struktur, die ein Erinnerungsbild enthält, das bei jeder neuerlichen ähnlichen inneren Erregung als Halluzination auftritt. Diese erste Tätigkeit des psychischen Apparats nennt Freud in der Folge »Primärvorgang« (ebd., 607). Dieser ist also mehr als nur eine reflexartige Abfuhr der Erregung, er impliziert bereits strukturierte Vorgänge wie die Besetzung von Assoziationsmustern. Das System Ubw ist also auch schon strukturiert. Die oftmalige Wiederholung solcher Erfahrungen führt schließlich zur Etablierung einer zweiten Struktur, deren wesentliche Funktion ist, die vom Bedürfnisreiz ausgehende Erregung auf einen Umweg zu leiten, »der endlich über die willkürliche Motilität die Außenwelt so verändert, daß die reale Wahrnehmung des Befriedigungsobjekts eintreten kann« (ebd., 604). Die Tätigkeit dieses zweiten Systems nennt Freud »Sekundärvorgang« (ebd., 607). Er ist demnach vom Primärvorgang nicht prinzipiell, sondern nur graduell, aufgrund seiner höheren Komplexität und der intensiveren Vernetzung von Assoziationen, unterschieden. Das Wesentliche am Sekundärvorgang ist aber die Hemmung der direkten Verknüpfung der Erregung mit der Halluzination. Wenn diese Entwicklung zur Etablierung des Systems Vbw führt, so ist die Entstehung des Systems Bw noch komplizierter: »Das Bewußtsein nämlich … ist im Wachen von zwei Stellen her erregbar. Von der Peripherie des ganzen Apparats, dem Wahrnehmungssystem, in erster Linie; außerdem von den Lust- und Unlusterregungen, die sich als fast einzige Qualität bei den Energieumsetzungen im Innern des Apparats ergeben. … Es hat sich aber später die Notwendigkeit herausgestellt, zur Ermöglichung feinerer Leistungen den Vorstellungsablauf unabhängiger von den Unlustzeichen zu gestalten. Zu diesem Zwecke bedurfte das Vbw-System eigener Qualitäten, die das Bewußtsein anziehen könnten, und erhielt sie höchst wahrscheinlich durch die Verknüpfung der vorbewußten Vorgänge mit dem nicht qualitätslosen Erinnerungssystem der Sprachzeichen… Es gibt jetzt gleichsam zwei Sinnesoberflächen, die eine dem Wahrnehmen, die andere den vorbewußten Denkvorgängen zugewendet« (ebd., 579, 580). Dieses Erinnerungssystem der Sprachzeichen, das Freud im Entwurf als »motorische Wortbilder« bzw. »Sprachabfuhrzeichen« benannt hatte, führt dazu, dass er die höhere Funktion des Denkens an den Einsatz und die Wirkung dieser Sprachzeichen bindet. – Wir sehen also: Gegenüber dem Entwurf hat sich außer der Differenzierung von zwei auf die drei Systeme Ubw, Vbw, Bw nichts geändert – und: Die Terminologie ist jetzt psy-
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chologischer, statt von Neuronen, Bahnungen und Leitungswiderständen spricht Freud jetzt von Instanzen, Assoziationsmustern und Hemmungen.
Trieb und Verdrängung, Wunsch und Zensur Beginnen wir mit dem Verhältnis von Trieb und Wunsch: Dass der Traum eine Wunscherfüllung ist, und zwar die Erfüllung eines verdrängten infantilen sexuellen Wunsches, der aus dem Unbewussten stammt, hat Freud in den vorangegangenen Kapiteln an vielen Traumbeispielen demonstriert. Jetzt macht er sich an die Aufgabe, die Vorgänge der Traumentstehung und der Traumarbeit in das oben beschriebene Modell des psychischen Apparats zu integrieren. Der Wunsch, der sich im Traum auszudrücken sucht, hat seine »Triebwurzeln« (ebd., 529) im Unbewussten. »Diese Traumerregung wird nun wie alle anderen Gedankenbildungen das Bestreben äußern, sich ins Vbw fortzusetzen und von diesem aus den Zugang zum Bewußtsein zu gewinnen« (ebd., 547). Die Triebkraft wirkt also von innen nach außen. Ein endogener Reiz veranlasst den seelischen Apparat, ein Bedürfnis, ein Verlangen, einen Drang zu entwickeln – nach Erfüllung, Befriedigung, die als Lust erfahren wird. »Eine solche, von der Unlust ausgehende, auf die Lust zielende Strömung im Apparat heißen wir einen Wunsch; wir haben gesagt, nichts anderes als ein Wunsch sei imstande, den Apparat in Bewegung zu bringen« (ebd., 604). An dieser Stelle können wir den Unterschied zwischen Trieb, Bedürfnis und Wunsch klarer machen: Der Trieb ist ein Erregungsvorgang im Primärsystem, nichts anderes als die von der Unlust ausgehende, auf Lust zielende Strömung. Diese Strömung hat eine Richtung: von der Bedürfniserregung zum Befriedigungsobjekt – und endet mit dem Befriedigungserlebnis. Der Wunsch ist nicht identisch mit dem Trieb, er umfasst die gesamte Erinnerungsspur der assoziativen Verknüpfungen zwischen Bedürfnis und Befriedigungsobjekt. Wunsch ist also ein komplexeres Konzept als Trieb, wenngleich beide dem Primärsystem angehören; freilich bietet die Umwandlung des Triebs in den Wunsch die Voraussetzung für den weiteren Entwicklungsgang ins System Vbw. Auch Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis betonen Freuds begriffliche Differenzierung von Bedürfnis und Wunsch: »Freud identifiziert das Bedürfnis nicht mit dem Wunsch: Das aus einem Zustand innerer Spannung entstandene Bedürfnis findet seine Befriedigung in der spezifischen Aktion, die das adäquate Objekt beschafft (z.B. Nahrung); der Wunsch ist unlösbar mit ›Erinnerungsspuren‹ verknüpft und findet seine Erfüllung in der halluzinatorischen Reproduktion der Wahrnehmungen, die zum Zeichen (›Erinnerungsbild‹) dieser Wahrnehmung geworden sind« (Laplanche&Pontalis 1973, 635).22 So gesehen ist der Traum eine geradezu paradigmatische Verwirklichung des Wunsches, indem er ja Erfüllung halluzinatorisch herstellt. Nun zu den Begriffen von Zensur, Widerstand und Verdrängung: Während Trieb und Wunsch die Richtung von innen nach außen nehmen, setzen sich Zensur und Widerstand diesen Kräften entgegen. Wenn Freud den Traum erläutert, sieht er auf einer
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Freud hat in seinen weiteren Schriften diese begriffliche Differenzierung nicht immer so deutlich durchgehalten. Lacan hat in seiner Rückkehr zu Freud eine konsequente Unterscheidung von Trieb, Bedürfnis und Wunsch vorgenommen und noch durch den Begriff des Anspruchs erweitert.
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phänomenologischen Ebene die Zensur am Werk im »Zweifel an der richtigen Wiedergabe« des Traums, bei »Veränderungen, die der Traum bei der Redaktion des Wachens erfährt« bis hin zum teilweisen oder vollständigen »Vergessen« desselben bzw. in dem, was er die »Wertentziehung« nennt (ebd., 517f). Alle diese Charakteristika des Traums, »seine Unkenntlichkeit als Wunsch und seine vielen Sonderbarkeiten und Absurditäten rühren von dem Einfluß der psychischen Zensur her, den er bei seiner Bildung erfahren hat« (Freud 1900, 538). Die Zensur, diese Form des Widerstands, erkennt Freud als Wirkung der Verdrängung. Wie der Wunsch ist also auch die Verdrängung ein gerichteter Vorgang, einmal vom System Ubw ins System Vbw bzw. Bw, andererseits vom System Bw ins Ubw. Als Kompromiss dieser beiden Kräfte ergibt sich im Falle des Traumgeschehens der manifeste Traum. Die Begriffe Wunsch und Zensur stehen also im selben antagonistischen Verhältnis wie die Kräfte von Trieb und Verdrängung. Jeder Triebimpuls wird von den entsprechenden Verdrängungsmaßnahmen beantwortet. Verdrängung bzw. Widerstand und Zensur haben also die zentrale Funktion der Hemmung, einer Verzögerung und Umlenkung des Triebes. Der Trieb »will« ja unmittelbare Abfuhr – eine grundsätzliche Eigenschaft des Primärprozesses. Diese Tendenz wird durch die in den Erinnerungssystemen aufgerichteten Strukturen gebremst und gehemmt – und diese Hemmung ist eine zentrale Funktion des Sekundärvorgangs. Freilich kann man davon ausgehen, dass schon im Primärprozess selbst eine gewisse Hemmung erfolgt – durch die Umwandlung der Erregung in die Halluzination. So gesehen enthielte schon der Trieb eine Hemmung.23 Dieser Gedanke wird noch weiter geführt am Beispiel des Schrecks: »Suchen wir uns das Gegenstück zum primären Befriedigungserlebnis auf, das äußere Schreckerlebnis« (ebd., 605f). Da diese Erfahrung ja unlustvoll ist, wird – so folgert Freud durchaus konsequent – auch keine Neigung übrig bleiben, diese Erfahrung halluzinatorisch zu besetzen. »Vielmehr wird im primären Apparat die Neigung bestehen, dies peinliche Erinnerungsbild sofort, wenn es irgendwie geweckt wird, wieder zu verlassen… Dies … gibt uns das Vorbild und das erste Beispiel der psychischen Verdrängung« (ebd., 606). – Dieser Gedanke macht das Modell noch um eine wesentliche Drehung komplizierter: Die Verdrängung ist also nicht nur ein Effekt des Einflusses des Sekundärprozesses, sondern wird auch schon innerhalb des Primärvorgangs platziert. Wenn Freud das Lustprinzip anhand des (zunächst halluzinatorischen) Befriedigungserlebnisses, das Unlustprinzip aber anhand des Schmerzerlebnisses erklärt, so kommt die Verdrängung einmal gewissermaßen von außen, einmal von innen. Lust und Unlust sind also zwei verschiedene Erlebnisqualitäten, die einmal als Kompromiss zwischen Trieb und Abwehr, das andere mal im Primärprozess selbst verortet werden. Im System Ubw verläuft diese Auseinandersetzung unter der Vorherrschaft des Lustprinzips, im System Vbw unter der Vorherrschaft des Unlustprinzips. An das Ende des Abschnitts über »Primär- und Sekundärvorgang – die Verdrängung« stellt Freud nochmals sein Motto »Flectere si nequeo Superos, Acheronta movebo«. »[...] diese Verse stehen in neuem Licht, weil ihr Bezug zu den Erkenntnissen der 23
Dies ist ein Gedanke, den Freud systematisch in seinem Jenseits des Lustprinzips aufgreift, weiter entwickelt und zu einer immanenten Eigenschaft des Triebes macht. (Vgl. dazu die Ausführungen im entsprechenden Kapitel.)
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Traumdeutung jetzt klarer hervortritt. Ihre Analyse ›bewegt‹ in der Tat die ›Unterwelt‹, nämlich das Reich des Unbewußten, indem sie es aus dem Dunkel an die Oberfläche befördert. Nicht nur der Trotz, der hier anklang, sondern auch die Richtung der Reise waren wesentlich« (Alt 2016, 292). Und direkt darauf folgt sein berühmt gewordenes Diktum: »Die Traumdeutung aber ist die Via regia zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben« (ebd., 613). Zur via regia wird die Traumdeutung dadurch, dass sie zeigt, dass die Mechanismen der Traumarbeit nicht nur eine genaue Entsprechung in den Symptomen der Neurotiker haben, sondern auch im Unbewussten der psychisch Gesunden. Über die Entschlüsselung des Traums hinaus sind für Freud diese neuen Einsichten solche, die seine Theorien zum Funktionieren des Unbewussten bzw. zur infantilen Sexualität und zum Ödipuskomplex auf eine neue und solide Grundlage stellen. Es folgen Überlegungen über die Notwendigkeit, die topische durch eine dynamische Perspektive des Psychischen zu ergänzen, zum Vorrang der psychischen vor der materiellen Realität, über Lust- und Realitätsprinzip, warum die Differenzierung in Vbw und Ubw notwendig ist; inwiefern das Unbewußte »uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane« (ebd., 617f.) ist. »Dieser großartige Satz definierte das Credo der Psychoanalyse in einem Zug mit einer naturphilosophischen Überzeugung; er reflektierte das Wissen, daß die wichtigsten Seiten der seelischen Prozesse unbekannt sind, und die parallele Erkenntnis, daß auch die sichtbaren Elemente der sinnlichen Welt nur zum Schein objektiv vor uns liegen« (Alt 2016, 296). Was aber wird aus dem Bewusstsein? Das Bewusstsein bekommt die Rolle »eines Sinnesorgans zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten« (Freud 1900, 620).24 Es ist weder – wie in der damals herrschenden Psychologie von Wilhelm Wundt – eine zentrale steuernde Instanz, die Herr im eigenen Haus ist, sondern verliert, weil dieses Bewusstsein vom Primärvorgang permanent subvertiert ist, seine Monopolstellung. Es ist zwar anders als das Unbewusste in der Lage, äußere Reize zu erfassen und zu bearbeiten, aber es ist dabei von den Kräften des Unbewussten abhängig. Wie beendet Freud diesen Text? Er platziert den Traum als Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. »Und der Wert des Traums für die Kenntnis der Zukunft? Daran ist natürlich nicht zu denken. Man möchte dafür einsetzen: für die Kenntnis der Vergangenheit. Denn aus der Vergangenheit stammt der Traum in jedem Sinne… Indem uns der Traum einen Wunsch als erfüllt vorstellt, führt er uns allerdings in die Zukunft« (ebd., 626).
Wie weiter? Zur Resonanz der Traumdeutung und Freuds nächsten Plänen Freud ist in seinen Erwartungen, was die Reaktion der wissenschaftlichen Welt auf seine Traumdeutung betrifft, äußerst ambivalent. Zum einen hegt er große Hoffnungen,
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Auch dies ein Gedanke, der schon im Entwurf entwickelt wurde.
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Traumdeutung jetzt klarer hervortritt. Ihre Analyse ›bewegt‹ in der Tat die ›Unterwelt‹, nämlich das Reich des Unbewußten, indem sie es aus dem Dunkel an die Oberfläche befördert. Nicht nur der Trotz, der hier anklang, sondern auch die Richtung der Reise waren wesentlich« (Alt 2016, 292). Und direkt darauf folgt sein berühmt gewordenes Diktum: »Die Traumdeutung aber ist die Via regia zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben« (ebd., 613). Zur via regia wird die Traumdeutung dadurch, dass sie zeigt, dass die Mechanismen der Traumarbeit nicht nur eine genaue Entsprechung in den Symptomen der Neurotiker haben, sondern auch im Unbewussten der psychisch Gesunden. Über die Entschlüsselung des Traums hinaus sind für Freud diese neuen Einsichten solche, die seine Theorien zum Funktionieren des Unbewussten bzw. zur infantilen Sexualität und zum Ödipuskomplex auf eine neue und solide Grundlage stellen. Es folgen Überlegungen über die Notwendigkeit, die topische durch eine dynamische Perspektive des Psychischen zu ergänzen, zum Vorrang der psychischen vor der materiellen Realität, über Lust- und Realitätsprinzip, warum die Differenzierung in Vbw und Ubw notwendig ist; inwiefern das Unbewußte »uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane« (ebd., 617f.) ist. »Dieser großartige Satz definierte das Credo der Psychoanalyse in einem Zug mit einer naturphilosophischen Überzeugung; er reflektierte das Wissen, daß die wichtigsten Seiten der seelischen Prozesse unbekannt sind, und die parallele Erkenntnis, daß auch die sichtbaren Elemente der sinnlichen Welt nur zum Schein objektiv vor uns liegen« (Alt 2016, 296). Was aber wird aus dem Bewusstsein? Das Bewusstsein bekommt die Rolle »eines Sinnesorgans zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten« (Freud 1900, 620).24 Es ist weder – wie in der damals herrschenden Psychologie von Wilhelm Wundt – eine zentrale steuernde Instanz, die Herr im eigenen Haus ist, sondern verliert, weil dieses Bewusstsein vom Primärvorgang permanent subvertiert ist, seine Monopolstellung. Es ist zwar anders als das Unbewusste in der Lage, äußere Reize zu erfassen und zu bearbeiten, aber es ist dabei von den Kräften des Unbewussten abhängig. Wie beendet Freud diesen Text? Er platziert den Traum als Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. »Und der Wert des Traums für die Kenntnis der Zukunft? Daran ist natürlich nicht zu denken. Man möchte dafür einsetzen: für die Kenntnis der Vergangenheit. Denn aus der Vergangenheit stammt der Traum in jedem Sinne… Indem uns der Traum einen Wunsch als erfüllt vorstellt, führt er uns allerdings in die Zukunft« (ebd., 626).
Wie weiter? Zur Resonanz der Traumdeutung und Freuds nächsten Plänen Freud ist in seinen Erwartungen, was die Reaktion der wissenschaftlichen Welt auf seine Traumdeutung betrifft, äußerst ambivalent. Zum einen hegt er große Hoffnungen,
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Auch dies ein Gedanke, der schon im Entwurf entwickelt wurde.
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dass ihm mit diesem Werk ein wissenschaftlicher Durchbruch, eine wirkliche Anerkennung gelingt, zum anderen begibt er sich rasch in die Position des einsamen und verkannten Genies – und diesen Mythos hat er dann durch die Jahrzehnte beibehalten. »Durch mehr als ein Jahrzehnt nach der Trennung von Breuer hatte ich keine Anhänger. Ich stand völlig isoliert. In Wien wurde ich gemieden, das Ausland nahm von mir keine Kenntnis« (Freud 1925d, 74). So schreibt er ein Vierteljahrhundert später in seiner Selbstdarstellung. Tatsächlich waren die Reaktionen unterschiedlich. Die erste längere Rezension erschien in der Wiener Wochenschrift Die Zeit, ihr Autor, Max Burckhard, als ehemaliger Direktor des Burgtheaters eine bekannte Figur des Wiener Kulturlebens, attackierte die Wunscherfüllungstheorie als ein Artefakt aus der Praxis des Nervenarztes: Dieser habe Wünsche »construiert« und dann seinen Patienten »unterstellt«, die sie ihm dann bestätigt hätten. (Max. Burckhard, Ein modernes Traumbuch, in: Die Zeit 22, Nr. 275, 6.1.1900, 9-11, zit.n. Kimmerle 1986, 27) Die erste fachwissenschaftliche Reaktion fiel nicht anders aus, als es Freud erwartet hatte. Der bekannte Psychologe Wilhelm Stern bezeichnete die Theorie Freuds aus methodologischen Gründen für »verfehlt und unannehmbar. An diesem Verfahren ist nicht weniger als Alles zu bestreiten« (W. Stern, S. Freud. Die Traumdeutung. in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 26, 1901, 130-133, zit.n. Kimmerle 1986, 63). – Auch andere akademische Psychologen lehnten Freuds »Traumdeuterei« ab. Die Kritikpunkte waren: Einseitigkeit und Überwertigkeit des Sexuellen, die Generalisierung von Einzelfällen und die zu geringe Bedeutung der Konstitution. Freilich gibt es auch anderes zu berichten: »Die Lektüre der Traumdeutung entfaltete sich zunächst in klinischen Kulturen, die über Orte der Beobachtung und des Experimentierens mit sichtbar gemachten Manifestationen des Unbewußten verfügten« (Marinelli & Mayer 2000, 48). In Zürich und Wien entstanden solche Kulturen. – So kamen auch die ersten positiven Zeichen von Anerkennung aus der Klinik Burghölzli in Zürich. Eugen Bleuler, Leiter der dortigen Klinik, sorgte dort für eine frühe Rezeption von Freuds Arbeiten. C.G. Jung, ab 1900 Assistenzarzt ebendort, hielt bereits im Jänner 1901 ein Referat über Freuds Kurzfassung der Traumdeutung, betitelt Über den Traum, für seine dortigen Kollegen. Bleuler schrieb über Die Traumdeutung 1905, sie enthalte »eine Fülle von scharfsinnigen Beobachtungen und Deutungen. Die letztern erscheinen nur so lange als phantastisch, als man nicht selbst in der Richtung geforscht hat« (Bleuler, E., Bewußtsein und Assoziation. 1905. Zit. nach Marinelli & Mayer 2000, 49). Zu diesem Zeitpunkt stand Bleuler bereits mit Freud in regem Austausch und schickte ihm regelmäßig seine Träume. Die Aufnahme des Buches in Wien verlief zögerlicher. Der erste Boden, auf dem sich eine psychoanalytische Deutungskultur etablieren konnte, war die 1902 gegründete Psychologische Mittwoch-Gesellschaft. In diesem Kreis wurde persönliches und klinisches Material nach dem Prinzip des »geistigen Kommunismus« zur Diskussion gestellt. Wilhelm Stekel, der Initiator dieses Kreises, war in einer kurzen Analyse bei Freud und ein begeisterter Propagandist der psychoanalytischen Sache. – In den Jahren nach 1902 begannen die Mitglieder der Mittwochs-Gesellschaft erste Traumanalysen mit ihren Patienten anzustellen. – Ein weiterer und wesentlicher Effekt der Publikation der Traumdeutung war die Tatsache, dass Patienten nun beim Therapeuten erschienen,
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weil sie dieses Buch gelesen hatten. Diese Patienten träumten und assoziierten also bereits unter dem Einfluss der entstehenden psychoanalytischen Literatur. »An die Stelle der eingebildeten treten die vorgebildeten Kranken« (ebd., 68). John Forrester vertritt die These, dass durch den Verlust der Übertragungsfigur Fließ bei Freud eine unproduktive Zeit begann. »Zwischen 1901 und 1905 ging die Publikationstätigkeit von Freud drastisch zurück, und dieser Zeitraum stellt den größten Einbruch in seinem Schreiben dar« (Forrester 2000, 32). Erst als es Freud allmählich gelang, den »Leser« Fließ durch eine »Reihe von Platzhaltern« (Jung, Ferenczi, Abraham, Jones) zu ersetzen, vollzieht er einen wesentlichen Schritt: »Am einen Ende steht Fließ als der unabdingbare ›Repräsentant des Anderen‹, am anderen die ›weiteren Kreise der Gebildeten und Wißbegierigen‹ (Freud 1900, IX), die Freud im Vorwort zur zweiten Auflage der Traumdeutung an der äußeren Grenze der psychoanalytischen Bewegung verortete« (ebd., 32). Am 14. Oktober 1900 meldet Freud seinem Freund Fließ, dass er eine neue Patientin hat (die er dann »Dora« nennen wird). Die Behandlung dauert bis zum 31.12. des Jahres; bis zum 24.Jänner 1901 verfasst Freud seinen Fallbericht, den er allerdings erst fünf Jahre später veröffentlicht. – Diese Dora-Analyse ist eine Fortsetzung der Traumdeutung. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen zwei ausführliche Traumanalysen – und Freud hatte als ursprünglichen Titel auch Traum und Hysterie geplant. (Publiziert wurde der Text schließlich unter dem Titel Bruchstück einer Hysterieanalyse).25 Endlich nach siebzehn Jahren erfolgt 1902 Freuds Ernennung zum lang ersehnten a.o. Professor, eineinhalb Jahre nach Erscheinen der Traumdeutung. Freud teilt dies Fließ am 11.3.1902 mit einer ordentlichen Portion Humor aber auch als politischen Triumph mit: »In der ganzen Geschichte gibt es eine Person mit sehr langen Ohren … das bin: Ich…. Es regnet auch jetzt schon Glückwünsche und Blumenspenden, als sei die Rolle der Sexualität plötzlich von Seiner Majestät amtlich anerkannt, die Bedeutung des Traumes vom Ministerrat bestätigt und die Notwendigkeit einer psychoanalytischen Therapie der Hysterie mit 2/3 Majorität im Parlament durchgedrungen« (Freud 1986, 503). Carl Schorske interpretiert diesen Brief Freuds so, dass dieser mit diesem Witz eine Wunscherfüllung ausspricht, nämlich, »die Obrigkeit in die Knie zu zwingen« (Schorske 1961, 186). In Schorskes kulturgeschichtlicher Perspektive kämpfte Freud einen lebenslangen Kampf mit der österreichischen Wirklichkeit in Gesellschaft und Politik. Und mit seiner Traumdeutung »verlieh Freud diesem Kampf nach außen sowohl wie nach innen seinen vollständigsten und persönlichsten Ausdruck und überwand ihn gleichzeitig durch eine epochemachende Deutung menschlicher Erfahrung, welche die Politik zu einer beiläufigen Äußerung seelischer Kräfte reduzierte« (ebd., 187). Für Freud war »seine« Traumdeutung nicht irgend ein Buch. Zeit seines Lebens behielt dieses Werk in seiner eigenen Bewertung einen Sonderstatus. So schrieb er im Vorwort zur dritten englischen Auflage:: »daß dieses Buch … selbst nach meinem heutigen Urteil, die wertvollste von all den Entdeckungen enthält, die mir das Glück zuteil werden ließ. Einsichten wie diese fallen dem Sterblichen nur einmal im Leben zu« (zit.n. Jones 1960, 406). 25
Wir werden den Fall Dora im Kapitel über Freuds Fälle eingehend besprechen.
Mit der Selbstanalyse zur Traumdeutung und zur Geburt der Psychoanalyse
So vertrat Freud dieses Werk auch prominent 1908 in seinen Vorlesungen in den USA: »Die Traumdeutung ist in Wirklichkeit die Via Regia zur Kenntnis des Unbewußten, die sicherste Grundlage der Psychoanalyse und jenes Gebiet, auf welchem jeder Arbeiter seine Überzeugung gewinnen und seine Ausbildung anzustreben hat« (Freud 1910a, 32).
Der Stellenwert der Traumdeutung im Rückblick: Freuds Revision der Traumlehre von 1932 Auch noch im Rückblick des Jahres 1932 stellt Freud seine Traumdeutung auf einen speziellen Platz: Er bezeichnet sie als »Wendepunkt; mit ihr hat die Analyse den Schritt von einem psychotherapeutischen Verfahren zu einer Tiefenpsychologie vollzogen. Die Traumlehre ist seither auch das Kennzeichnendste und Eigentümlichste der jungen Wissenschaft geblieben« (Freud 1933a, 6). Der größte Teil dieser Vorlesung, die als »Revision der Traumlehre« betitelt ist, ist eine Bestätigung und Bekräftigung der grundlegenden Aussagen aus der Traumdeutung. Freud schildert die Methode der Traumdeutung, betont dabei die Unverzichtbarkeit der Assoziationen des Träumenden, macht sehr konkrete technische Vorschläge, wie man beim Sammeln der Assoziationen vorgehen kann. Relativ breiten Raum gibt er der Rolle von Widerstand und Zensur – und der Aussage, dass der Traum eine »Kompromißbildung« darstellt. – Sodann kommt Freud auf die Mechanismen der Traumarbeit zu sprechen. Auch hier nichts Neues. Der Weg von den latenten Traumgedanken zum manifesten Traum verläuft mittels des ständigen Antagonismus von Triebwunsch und Zensur, bedient sich dabei der Mittel der Verschiebung, Verdichtung, Symbolbildung und der sekundären Bearbeitung. Schließlich kommt Freud doch noch dazu, über »Abänderungen und neue Einsichten« etwas zu sagen (ebd., 22f). Zunächst betont er die Beiträge vor allem einiger Mitstreiter wie Theodor Reik, Sandor Ferenczi und Karl Abraham, die neue Symbole dechiffriert haben, um schließlich, wie er meint, zum »bestrittensten Punkt der ganzen Lehre«, nämlich »die Behauptung, daß alle Träume Wunscherfüllungen sind«, zu gelangen (ebd., 28). Hier kommt eine wesentliche Konsequenz seiner neuen Strukturtheorie zur Sprache. Was Freud in der Traumdeutung als Funktion der Zensur beschrieb, wird jetzt als Manifestation des Über-Ich erkannt: »Indem wir nun auch die Traumzensur als eine Leistung dieser Instanz erkannten, wurden wir angeleitet, den Anteil des Über-Ichs an der Traumbildung sorgfältiger zu beachten« (ebd., 29). Aber dann kommt doch noch echtes Neuland: »Gegen die Wunscherfüllungstheorie des Traumes haben sich nur zwei ernsthafte Schwierigkeiten erhoben … Die erste ist durch die Tatsache gegeben, daß Personen, die ein Schockerlebnis, ein schweres psychisches Trauma durchgemacht haben … vom Traum regelmäßig in die traumatische Situation zurückversetzt werden« (ebd., 29). – Die »zweite Schwierigkeit« erscheint im Verhältnis zur ersten zunächst nicht wirklich neu: Freud betont den wesentlichen Anteil des »frühkindlichen Sexuallebens«, welches, wie er ausführt, nicht nur deshalb in den Erwachsenenträumen eine so wesentliche Funktion hat, weil es häufig »mit schmerzlichen Eindrücken von Angst, Verbot, Enttäuschung und Bestrafung« verknüpft ist,
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So vertrat Freud dieses Werk auch prominent 1908 in seinen Vorlesungen in den USA: »Die Traumdeutung ist in Wirklichkeit die Via Regia zur Kenntnis des Unbewußten, die sicherste Grundlage der Psychoanalyse und jenes Gebiet, auf welchem jeder Arbeiter seine Überzeugung gewinnen und seine Ausbildung anzustreben hat« (Freud 1910a, 32).
Der Stellenwert der Traumdeutung im Rückblick: Freuds Revision der Traumlehre von 1932 Auch noch im Rückblick des Jahres 1932 stellt Freud seine Traumdeutung auf einen speziellen Platz: Er bezeichnet sie als »Wendepunkt; mit ihr hat die Analyse den Schritt von einem psychotherapeutischen Verfahren zu einer Tiefenpsychologie vollzogen. Die Traumlehre ist seither auch das Kennzeichnendste und Eigentümlichste der jungen Wissenschaft geblieben« (Freud 1933a, 6). Der größte Teil dieser Vorlesung, die als »Revision der Traumlehre« betitelt ist, ist eine Bestätigung und Bekräftigung der grundlegenden Aussagen aus der Traumdeutung. Freud schildert die Methode der Traumdeutung, betont dabei die Unverzichtbarkeit der Assoziationen des Träumenden, macht sehr konkrete technische Vorschläge, wie man beim Sammeln der Assoziationen vorgehen kann. Relativ breiten Raum gibt er der Rolle von Widerstand und Zensur – und der Aussage, dass der Traum eine »Kompromißbildung« darstellt. – Sodann kommt Freud auf die Mechanismen der Traumarbeit zu sprechen. Auch hier nichts Neues. Der Weg von den latenten Traumgedanken zum manifesten Traum verläuft mittels des ständigen Antagonismus von Triebwunsch und Zensur, bedient sich dabei der Mittel der Verschiebung, Verdichtung, Symbolbildung und der sekundären Bearbeitung. Schließlich kommt Freud doch noch dazu, über »Abänderungen und neue Einsichten« etwas zu sagen (ebd., 22f). Zunächst betont er die Beiträge vor allem einiger Mitstreiter wie Theodor Reik, Sandor Ferenczi und Karl Abraham, die neue Symbole dechiffriert haben, um schließlich, wie er meint, zum »bestrittensten Punkt der ganzen Lehre«, nämlich »die Behauptung, daß alle Träume Wunscherfüllungen sind«, zu gelangen (ebd., 28). Hier kommt eine wesentliche Konsequenz seiner neuen Strukturtheorie zur Sprache. Was Freud in der Traumdeutung als Funktion der Zensur beschrieb, wird jetzt als Manifestation des Über-Ich erkannt: »Indem wir nun auch die Traumzensur als eine Leistung dieser Instanz erkannten, wurden wir angeleitet, den Anteil des Über-Ichs an der Traumbildung sorgfältiger zu beachten« (ebd., 29). Aber dann kommt doch noch echtes Neuland: »Gegen die Wunscherfüllungstheorie des Traumes haben sich nur zwei ernsthafte Schwierigkeiten erhoben … Die erste ist durch die Tatsache gegeben, daß Personen, die ein Schockerlebnis, ein schweres psychisches Trauma durchgemacht haben … vom Traum regelmäßig in die traumatische Situation zurückversetzt werden« (ebd., 29). – Die »zweite Schwierigkeit« erscheint im Verhältnis zur ersten zunächst nicht wirklich neu: Freud betont den wesentlichen Anteil des »frühkindlichen Sexuallebens«, welches, wie er ausführt, nicht nur deshalb in den Erwachsenenträumen eine so wesentliche Funktion hat, weil es häufig »mit schmerzlichen Eindrücken von Angst, Verbot, Enttäuschung und Bestrafung« verknüpft ist,
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sondern weil ganz generell gilt: »An denselben Kindheitserlebnissen haften ja alle die unvergänglichen, unerfüllten Triebwünsche, die durchs ganze Leben die Energie für die Traumbildung abgeben« (ebd., 30). Das erscheint nicht wirklich neu, lediglich eine besondere Akzentuierung. – Aber was ist mit den Träumen der »Traumatisierten«? Freud bringt diese spezielle Erfahrung, die er ja in seinem Jenseits des Lustprinzips zum entscheidenden Beleg für die These vom Wiederholungszwang als einem Jenseits des Lustprinzips gemacht hat, zu einer interessanten Modifikation seiner Wunscherfüllungsthese: »Wir sagen, der Traum ist eine Wunscherfüllung; wenn Sie den letzten Einwänden Rechnung tragen wollen, so sagen Sie immerhin, der Traum ist der Versuch einer Wunscherfüllung… Unter bestimmten Verhältnissen kann der Traum seine Absicht nur sehr unvollkommen durchsetzen oder muß sie überhaupt aufgeben; die unbewußte Fixierung an ein Trauma scheint unter diesen Verhinderungen der Traumfunktion obenauf zu stehen« (ebd., 30, 31). – So vorsichtig und dezent Freud hier argumentiert – ganz am Schluss – buchstäblich im letzten Satz – gibt er dann doch diesem Gesichtspunkt des Jenseits eine grundsätzliche und generelle Bedeutung: »Die traumatische Neurose zeigt uns da einen extremen Fall, aber man muß auch den Kindheitserlebnissen den traumatischen Charakter zugestehen und braucht sich nicht zu wundern, wenn sich geringfügigere Störungen der Traumleistung auch unter anderen Bedingungen ergeben« (ebd., 31).
Zusammenfassung Das Traumbuch hat für die Psychoanalyse dieselbe Funktion, die Thomas S. Kuhn für alle originären wissenschaftlichen Leistungen beschrieben hat: die eines Paradigmas: Freud hat hier für eine grundsätzliche und radikale Neubewertung der seelischen Realität des Menschen Bahn gebrochen. Er zeigt eindringlich, dass diese innere Realität mehrschichtig ist und ihre Erscheinungsformen dynamisch und komplex sind, weil sie der Ausdruck einer permanent wirksamen Dynamik von Entstellung, Verschiebung und Überlagerung sind. So zählt letztlich auch in der Traumanalyse nicht die Oberfläche der Bilder, sondern die Rekonstruktion des Unbewussten. Worauf Freud bei seinen Traumanalysen regelmäßig stieß – die infantilen Wünsche und die infantile Sexualität – verlangte jetzt nach einer weiteren Durchdringung. So war eigentlich seine nächste wissenschaftliche Aufgabe schon da: eine genauere Analyse der infantilen Sexualität und eine Systematisierung seiner Neurosenlehre. Im VII. Kapitel entwickelt Freud ein Modell des psychischen Apparats, das im Wesentlichen den Gedanken des Entwurfs folgt. Der Apparat besteht jetzt aus drei Systemen: Dem Ubw ist der Trieb und der Primärprozess, dem Vbw die Zensur, der Widerstand, die Hemmung und der Sekundärprozess zugeordnet. Das Bw wird als Sinnesorgan beschrieben, das zu drei Seiten hin offen ist: auf die Lust und Unlust erzeugenden Vorgänge der inneren Erregungen, auf die Sinnesreize bzw. Wahrnehmungen, die von außen kommen, und auf die Sprachzeichen. Was im Entwurf als »endogene Erregung« bezeichnet wurde, wird jetzt als Wunsch konzipiert. Dieses Verständnis des Wunsches ist, wie gezeigt wurde, komplexer als es die frühere Fassung von 1895 war. Primär-
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sondern weil ganz generell gilt: »An denselben Kindheitserlebnissen haften ja alle die unvergänglichen, unerfüllten Triebwünsche, die durchs ganze Leben die Energie für die Traumbildung abgeben« (ebd., 30). Das erscheint nicht wirklich neu, lediglich eine besondere Akzentuierung. – Aber was ist mit den Träumen der »Traumatisierten«? Freud bringt diese spezielle Erfahrung, die er ja in seinem Jenseits des Lustprinzips zum entscheidenden Beleg für die These vom Wiederholungszwang als einem Jenseits des Lustprinzips gemacht hat, zu einer interessanten Modifikation seiner Wunscherfüllungsthese: »Wir sagen, der Traum ist eine Wunscherfüllung; wenn Sie den letzten Einwänden Rechnung tragen wollen, so sagen Sie immerhin, der Traum ist der Versuch einer Wunscherfüllung… Unter bestimmten Verhältnissen kann der Traum seine Absicht nur sehr unvollkommen durchsetzen oder muß sie überhaupt aufgeben; die unbewußte Fixierung an ein Trauma scheint unter diesen Verhinderungen der Traumfunktion obenauf zu stehen« (ebd., 30, 31). – So vorsichtig und dezent Freud hier argumentiert – ganz am Schluss – buchstäblich im letzten Satz – gibt er dann doch diesem Gesichtspunkt des Jenseits eine grundsätzliche und generelle Bedeutung: »Die traumatische Neurose zeigt uns da einen extremen Fall, aber man muß auch den Kindheitserlebnissen den traumatischen Charakter zugestehen und braucht sich nicht zu wundern, wenn sich geringfügigere Störungen der Traumleistung auch unter anderen Bedingungen ergeben« (ebd., 31).
Zusammenfassung Das Traumbuch hat für die Psychoanalyse dieselbe Funktion, die Thomas S. Kuhn für alle originären wissenschaftlichen Leistungen beschrieben hat: die eines Paradigmas: Freud hat hier für eine grundsätzliche und radikale Neubewertung der seelischen Realität des Menschen Bahn gebrochen. Er zeigt eindringlich, dass diese innere Realität mehrschichtig ist und ihre Erscheinungsformen dynamisch und komplex sind, weil sie der Ausdruck einer permanent wirksamen Dynamik von Entstellung, Verschiebung und Überlagerung sind. So zählt letztlich auch in der Traumanalyse nicht die Oberfläche der Bilder, sondern die Rekonstruktion des Unbewussten. Worauf Freud bei seinen Traumanalysen regelmäßig stieß – die infantilen Wünsche und die infantile Sexualität – verlangte jetzt nach einer weiteren Durchdringung. So war eigentlich seine nächste wissenschaftliche Aufgabe schon da: eine genauere Analyse der infantilen Sexualität und eine Systematisierung seiner Neurosenlehre. Im VII. Kapitel entwickelt Freud ein Modell des psychischen Apparats, das im Wesentlichen den Gedanken des Entwurfs folgt. Der Apparat besteht jetzt aus drei Systemen: Dem Ubw ist der Trieb und der Primärprozess, dem Vbw die Zensur, der Widerstand, die Hemmung und der Sekundärprozess zugeordnet. Das Bw wird als Sinnesorgan beschrieben, das zu drei Seiten hin offen ist: auf die Lust und Unlust erzeugenden Vorgänge der inneren Erregungen, auf die Sinnesreize bzw. Wahrnehmungen, die von außen kommen, und auf die Sprachzeichen. Was im Entwurf als »endogene Erregung« bezeichnet wurde, wird jetzt als Wunsch konzipiert. Dieses Verständnis des Wunsches ist, wie gezeigt wurde, komplexer als es die frühere Fassung von 1895 war. Primär-
Mit der Selbstanalyse zur Traumdeutung und zur Geburt der Psychoanalyse
und Sekundärprozess sind antagonistische Systeme – dies also die metapsychologische Grundlegung des »Konfliktmodells«. Eine zentrale Frage in diesem Abschlusskapitel ist die nach der Repräsentierbarkeit des Psychischen: Wie zeigt sich die psychische Realität, wie stellt sie sich im Traum dar? Freuds Überlegungen münden in eine philosophisch-erkenntnistheoretische Ansage, die radikale Konsequenzen auf vielen Ebenen der Theorie und Praxis einfordert: »Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane« (Freud 1900, 617f). Das bedeutet nicht weniger, als dass uns Freud die generelle Leseanweisung für den Traum gibt, dass wir darauf verzichten müssen, im Realen nach Urbildern für den Traum zu suchen. Die Traumdeutung geht also nicht wie die bisherigen Traumdeutungen von einer binären Struktur zwischen einem Bild, einem Zeichen und seiner Bedeutung, also modern gesprochen zwischen Signifikant und Signifikat aus, sondern von den Beziehungen, die der Signifikant, das Zeichen, zu anderen Zeichen eingehen kann. Und diese finden sich durch die freie Assoziation des Träumers selbst, der als Produzent weiterer Zeichen fungiert. Der Traum führt uns in keine jemals in dieser Form erlebte Vergangenheit zurück, er produziert eine neue psychische Realität. Lassen wir zum Abschluss dieses Kapitels einem Philosophen das Wort, der eine Verbindung der Traumdeutung zur Jetztzeit herstellt: »Freud hat den Träumen ihre Vernunft zurückerstattet, die sie seit der Mantik verloren hatten; heute geht es vielleicht darum, auch der Vernunft ihre Träume zurückzugeben« (Heise 1989, 283).
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Das Paradigma der Psychosexualität – das Zentrum der freudschen Psychoanalyse »Man gibt zuerst in Worten nach und dann allmählich auch in der Sache.« (S. Freud 1921) »Die Lust aber, die wir kennen, gründet auf der Entfremdung, ist auf Verbote, Versagungen und Angst verwiesen. Natürlich ist sie nicht.« (V. Sigusch 1998)
Freuds Jahre zwischen der Veröffentlichung der »Traumdeutung« und der Fertigstellung der »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«: Ausklang eines Wunder-Jahrzehnts Die Dekade zwischen 1895 und 1905 bildete für Freud, so Peter André Alt, »ein decennium mirabile, ein Wunder-Jahrzehnt« (Alt 2016, 368). Auch Ernest Jones sieht Freud jetzt im Zustand der »Reife« (Jones 1962, 15). Freuds Bilanz erscheint im Rückblick in der Tat eindrucksvoll: Seine großen Studien zum Traum, zur Sexualität, zu den Fehlleistungen und zur Logik des Witzes fanden ihren Abschluss. Und er wird sich in diesen Jahren auch in seiner praktischen Arbeit eine vielversprechende Position erarbeiten, die ihm die Möglichkeit gibt, für die Psychoanalyse die ersten Anhänger zu gewinnen. So tritt Freud in diesen Jahren aus seiner, wie er im Rückblick schreibt, 10 Jahre dauernden Isolation heraus.1 Kurz nach Beendigung seiner Arbeit an der Traumdeutung projektierte Freud fünf weitere Bücher, wie er seinem Noch-Freund Wilhelm Fließ mitteilte (vgl. Freud 1986, 418). Seine beabsichtigten nächsten Texte sollten sich der Theorie der Verdrängung, dem Modell des Unbewussten, einer allgemeinen Neurosenlehre, einer Ätiologie der Psychose und einer Theorie der Sexualität widmen. In diese Zeit fiel aber auch eine tiefe persönliche Enttäuschung: das Ende der Freundschaft mit Fließ. Anfang August 1900 fand der letzte »Kongress« der beiden in 1
Die 10 Jahre hat Freud selbst in die Welt gesetzt in seiner Selbstdarstellung: »Durch mehr als ein Jahrzehnt nach meiner Trennung von Breuer hatte ich keine Anhänger« (Freud 1925d, 74).
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Achensee statt. Eine wesentliche Rolle bei dieser Entfremdung spielte, so vermutet der Freud-Biograph Max Schur, eine grundsätzliche fachliche Differenz: »[...]es war die Unvereinbarkeit von Freuds Glauben an den psychischen Determinismus mit Fließ’ starrer Annahme, alle Psychopathologie werde durch die Gesetze der Periodizität bestimmt« (Schur 1972, 253). Zum endgültigen Bruch kam es 1904, als Fließ Freud unterstellte, dieser hätte seine Theorie der Bisexualität »verraten«. Der letzte Brief von Freud an Fließ datiert auf Sommer 1904. Freud reagierte letztlich mit einem Deutungsmuster (»Mein einstiger Freund Fließ hat eine schöne Paranoia entwickelt, nachdem er sich der gewiß nicht geringen Neigung zu mir entledigt« [Freud&Jung 1974, 134]), das er auch später bei ähnlichen Anlässen der Trennung von ehemaligen Schülern bzw. Freunden anwandte. – Nie wieder führte Freud eine Freundschaft mit einer vergleichbaren Intensität und Offenheit. »Die Wunde Fließ blieb, über die Zeiten hinweg« (Alt 2016, 375). 1902 erhielt Freud endlich den lange vorenthaltenen Professorentitel. – Ins selbe Jahr fällt Freuds Gründung der »Psychologischen-Mittwochs-Gesellschaft«. Im Herbst dieses Jahres lud er mit einer Postkarte die Wiener Ärzte Alfred Adler, Max Kahane, Rudolf Reitler und Wilhelm Stekel zu einer abendlichen Zusammenkunft in seiner Praxis ein, die der intensiven Diskussion der neuen Lehre dienen sollte. Ab Oktober 1902 fanden sich die Mitglieder des kleinen Kreises in wöchentlichem Rhythmus jeweils am Mittwochabend in der Berggasse 19 ein. Damit war die Keimzelle der späteren »Wiener Psychoanalytischen Vereinigung« geschaffen. Zwischen 1902 und 1908 erweiterte sich der Kreis, neben Ärzten kamen auch Anwälte, Musiker, Verleger und Philosophen dazu. Ab 1907 kamen auch vorübergehend Gäste aus dem Ausland hinzu wie Max Eitingon, Carl Gustav Jung, Ludwig Binswanger, Karl Abraham, Abraham Brill, Ernest Jones und Sandor Ferenczi. Auch im benachbarten Ausland fand Freuds Traumdeutung allmählich wissenschaftliche Resonanz. Den Anfang bildete die öffentliche Anerkennung, die Eugen Bleuler, der Leiter der renommierten Nervenheilanstalt Burghölzli in Zürich, Freud und seiner Traumdeutung zollte. 1904 wandte sich Bleuler brieflich an Freud, bekundete sein Interesse an dessen Theorien und fragte nach einer kurzen und einfachen Zusammenstellung der wesentlichen Forschungsresultate. Einer von Bleulers Assistenten, C.G. Jung, baute ab 1903 am Burghölzli einen psychoanalytischen Diskussionskreis auf. 1906 schickte er sein Buch mit den Diagnostischen Assoziationsstudien an Freud, der anerkennend antwortete. Sehr bald schien Jung für Freud der ideale Kornprinz, nicht zuletzt weil dieser kein Jude war. Allerdings kam es rasch zu Spannungen. Einmal waren diese inhaltlicher Natur, da Jung die universelle Natur des Sexuellen durch eine Theorie der emotionalen Identität ersetzte, zum anderen wollte Jung, der sehr ehrgeizig war, die Vorrangstellung Freuds nicht wirklich anerkennen. Freud war in diesen Jahren schriftstellerisch sehr aktiv, besonders 1905/06. Der Psychopathologie des Alltagslebens von 1901 folgte 1904 der kurze Artikel Die Freudsche psychoanalytische Methode; 1905 verfasste er Artikel zu Psychische Behandlung, Über Psychotherapie, Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen sowie die zwei Bücher Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten und die berühmten Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Und schließlich gab Freud die schon Anfang 1901 verfasste »Dora-Studie« (Bruchstück einer Hysterie-Analyse) zur Publikation frei.
Das Paradigma der Psychosexualität – das Zentrum der freudschen Psychoanalyse
Als erstes Buchprojekt aber realisierte Freud die Psychopathologie des Alltagslebens (1901). Diese lässt sich als eine Vertiefung bestimmter Überlegungen aus der Traumdeutung verstehen. Es geht um die vielfältigen Formen von Fehlleistungen, die als Kompromissbildungen zwischen verbotenen Wünschen und Verdrängungen gelesen werden. So ist für den Autor die wesentliche Triebfeder für das Vergessen die Unlust. Und Freud zieht deutliche Parallelen zwischen Fehlleistungen und Traumarbeit: So wie der Traum seine Gedanken nur entstellt – über Verschiebung und Verdichtung – darstellen kann, so offenbart sich die Bedeutung der Fehlleistung über den Umweg des Kompromisses. – Dieses Buch verkaufte sich übrigens – anders als Die Traumdeutung in den ersten Jahren – sehr gut. Eine Fortsetzung dieser Arbeit ist Freuds Studie Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten von 1905. Der Kerngedanke ist, dass der Witz denselben Mechanismen unterliegt wie die Traumarbeit, also mit Verschiebung und Verdichtung operiert. Maßgeblich waren für Freud die dynamischen Eigenschaften des Witzes: seine konzentrierende Wirkung, seine Assoziationsleistung, seine Fähigkeit zu überraschenden Kombinationen und seine Aufdeckung versteckter Ähnlichkeiten. Mittels verschiedener Techniken wie Wiederholung und Variation ermöglicht es der Witz, einen Triebstau aufzulösen und sinnliches Vergnügen zu bereiten. Entscheidend scheint Freud die Erkenntnis, »daß die Aufdeckung des sonst verdrängten Unbewußten in der Menschenseele unter gewissen Veranstaltungen zu einer Quelle von Lust« werden könne« (Freud 1910f, 225). Die 1899 angekündigte Sexualtheorie erschien aber erst 1905. Warum erst so spät? Schrieb doch Freud schon am 11. Oktober 1899 an Fließ: »Es arbeitet merkwürdigerweise im untersten Stockwerk. Eine Sexualtheorie dürfte die nächste Nachfolgerin des Traumbuches werden« (Freud 1986, 416). Dazu skizziert Freud ein schematisches dreistöckiges Haus, in dessen unterstem Stockwerk eine »Sexualität. Organisch«, darüber eine »Hysterie-Klinisch« und im obersten Stockwerk ein »Psychischer Apparat« wohnen sollen. Drei Monate später, am 8.1.1900, schreibt er: »Ich arbeite nichts, und es ist still in mir. Kommt die Sexualtheorie, so werde ich sie anhören. Wenn nicht, dann nicht« (ebd., 434). Und drei Wochen später: »Zur Sexualtheorie wird gesammelt und gewartet, bis das aufgehäufte Material durch einen zündenden Funken in Brand gesteckt werden kann« (ebd., 436). Wir fragen uns also: Warum dauerte es fünf Jahre, bis dieser Funke kam? Und was war überhaupt »der Funke«?! Andre Haynal stellt die folgende Vermutung dazu an: »Wir können vermuten, daß die Entdeckung der sexuellen Natur des unbewußten Wunsches als Ursprung des Traums mehr als die früheren Erfahrungen mit Sexualität zur weiteren Entwicklung seiner Theorie beigetragen hat. Die Triebe wurden zur Grundlage des Phantasielebens, und das ist bis heute das vielleicht wichtigste Element psychoanalytischer Praxis geblieben« (Haynal 2005, 1031). Die Autoren des Editorials zum Band V der Studienausgabe (Sexualleben) stellen dazu folgende Überlegung an: »Aber obgleich so viele Elemente seiner Sexualtheorie schon 1896 in Freuds Denken gegenwärtig waren, hatte er den eigentlichen Schlußstein noch nicht entdeckt. Von Anfang an hatte er den Verdacht, daß die die Hysterie verursachenden Faktoren in die Kindheit zurückreichten; zu Beginn des Jahres 1895 hatte er sich eine komplette Erklärung der Hysterie zurechtgelegt, die von den traumatischen
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Wirkungen sexueller Verführung in der frühen Kindheit ausging…. Erst im Sommer 1897 fühlte Freud sich gezwungen, die Verführungstheorie aufzugeben… Andererseits spricht er schon in der ersten Auflage der Traumdeutung ganz eindeutig vom Vorhandensein sexueller Wünsche bei normalen Kindern… Und es ist auch offenkundig, daß die Grundzüge seiner Sexualtheorie bereits festlagen, als er (Anfang des Jahres 1901) die Fallgeschichte der ›Dora‹ niederschrieb… Trotzdem hatte Freud es nicht eilig, seine Ergebnisse zu veröffentlichen« (Mitscherlich et.al., Editorial zu Band V der Studienausgabe, 41). War es also die »Aufgabe« der Verführungstheorie, die Freud auf einen neuen »Funken« warten ließ? Und warum hatte Freud es »nicht eilig«, wo wir ihn doch als ambitionierten und zuweilen ungeduldigen Forscher kennengelernt haben? Reimut Reiche bietet eine einleuchtendere Erklärung: Es sind »derart viele Zündfunken, daß deren bloße Aufzählung den Rahmen einer Einleitung sprengen würde.« Und er sieht vor allem einen Funken, »den Funken, den Freud ›die infantile Sexualität‹ nennt« (Reiche 1991, 9). Reiche vermutet, dass Freud so lange gezögert hat, von dieser kindlichen Sexualität als von »etwas psychobiologisch Allgemeingültigem« (ebd., 9) zu sprechen, vertrat er doch noch in seiner Traumdeutung die konventionelle Auffassung, dass »wir die Kindheit glücklich preisen, weil sie die sexuelle Begierde noch nicht kennt« (Freud 1900, 136). Ernest Jones erachtet wie andere Historiker der Psychoanalyse die Drei Abhandlungen als entscheidende Zäsur in Freuds Schaffen und für seinen Status in der damaligen Öffentlichkeit: »Diese Veröffentlichung war diejenige, die seinen Namen am meisten in Verruf brachte… Das Buch wurde als Verleumdung der unschuldigen Kindheit empfunden, und doch darf es …unzweifelhaft neben der Traumdeutung als Freuds monumentalster und originellster Beitrag zum menschlichen Wissen gelten« (Jones 1962, 340). Und Reiche stimmt dieser Einschätzung mit einer anderen Akzentsetzung vierzig Jahre später zu: »In der kollektiven Geschichte dieser Suchbewegungen nehmen die Drei Abhandlungen eine besondere Stellung ein. Keiner anderen Veröffentlichung ist so sehr die Rolle einer Einführung in das psychoanalytische Wissen und zugleich einer Einführung in die Suche nach Selbstaufklärung zugefallen. Werkgeschichtlich handelt es sich zugleich um eine Veröffentlichung, die wie keine andere mit ihrem Bekanntwerden Freud und die Psychoanalyse in Verruf brachte, ihnen den Ruf des Pansexualismus eintrug« (Reiche 1991, 7).
Eine kurze Vorgeschichte: Freuds Sexualtheorie als Manifest der ersten sexuellen Revolution Freud beginnt seine Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie mit einem Hinweis auf die wissenschaftliche Vorgeschichte, an die er mit seinen eigenen Ausführungen anschließen will. »Die in der ersten Abhandlung enthaltenen Angaben sind aus den bekannten Publikationen von v. Krafft-Ebing, Moll, Moebius, Havelock Ellis, v. Schrenck-Notzing, Löwenfeld, Eulenburg, I. Bloch, M. Hirschfeld und aus den Arbeiten in dem vom letzteren herausgegebenen ›Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen‹ geschöpft. Da an diesen Stellen auch die übrige Literatur des Themas aufgeführt ist, habe ich mir detaillierte Nachweise ersparen können« (Freud 1905b, 33, Fn.1). Damit ist eine ganze Wissenschaftstra-
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Wirkungen sexueller Verführung in der frühen Kindheit ausging…. Erst im Sommer 1897 fühlte Freud sich gezwungen, die Verführungstheorie aufzugeben… Andererseits spricht er schon in der ersten Auflage der Traumdeutung ganz eindeutig vom Vorhandensein sexueller Wünsche bei normalen Kindern… Und es ist auch offenkundig, daß die Grundzüge seiner Sexualtheorie bereits festlagen, als er (Anfang des Jahres 1901) die Fallgeschichte der ›Dora‹ niederschrieb… Trotzdem hatte Freud es nicht eilig, seine Ergebnisse zu veröffentlichen« (Mitscherlich et.al., Editorial zu Band V der Studienausgabe, 41). War es also die »Aufgabe« der Verführungstheorie, die Freud auf einen neuen »Funken« warten ließ? Und warum hatte Freud es »nicht eilig«, wo wir ihn doch als ambitionierten und zuweilen ungeduldigen Forscher kennengelernt haben? Reimut Reiche bietet eine einleuchtendere Erklärung: Es sind »derart viele Zündfunken, daß deren bloße Aufzählung den Rahmen einer Einleitung sprengen würde.« Und er sieht vor allem einen Funken, »den Funken, den Freud ›die infantile Sexualität‹ nennt« (Reiche 1991, 9). Reiche vermutet, dass Freud so lange gezögert hat, von dieser kindlichen Sexualität als von »etwas psychobiologisch Allgemeingültigem« (ebd., 9) zu sprechen, vertrat er doch noch in seiner Traumdeutung die konventionelle Auffassung, dass »wir die Kindheit glücklich preisen, weil sie die sexuelle Begierde noch nicht kennt« (Freud 1900, 136). Ernest Jones erachtet wie andere Historiker der Psychoanalyse die Drei Abhandlungen als entscheidende Zäsur in Freuds Schaffen und für seinen Status in der damaligen Öffentlichkeit: »Diese Veröffentlichung war diejenige, die seinen Namen am meisten in Verruf brachte… Das Buch wurde als Verleumdung der unschuldigen Kindheit empfunden, und doch darf es …unzweifelhaft neben der Traumdeutung als Freuds monumentalster und originellster Beitrag zum menschlichen Wissen gelten« (Jones 1962, 340). Und Reiche stimmt dieser Einschätzung mit einer anderen Akzentsetzung vierzig Jahre später zu: »In der kollektiven Geschichte dieser Suchbewegungen nehmen die Drei Abhandlungen eine besondere Stellung ein. Keiner anderen Veröffentlichung ist so sehr die Rolle einer Einführung in das psychoanalytische Wissen und zugleich einer Einführung in die Suche nach Selbstaufklärung zugefallen. Werkgeschichtlich handelt es sich zugleich um eine Veröffentlichung, die wie keine andere mit ihrem Bekanntwerden Freud und die Psychoanalyse in Verruf brachte, ihnen den Ruf des Pansexualismus eintrug« (Reiche 1991, 7).
Eine kurze Vorgeschichte: Freuds Sexualtheorie als Manifest der ersten sexuellen Revolution Freud beginnt seine Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie mit einem Hinweis auf die wissenschaftliche Vorgeschichte, an die er mit seinen eigenen Ausführungen anschließen will. »Die in der ersten Abhandlung enthaltenen Angaben sind aus den bekannten Publikationen von v. Krafft-Ebing, Moll, Moebius, Havelock Ellis, v. Schrenck-Notzing, Löwenfeld, Eulenburg, I. Bloch, M. Hirschfeld und aus den Arbeiten in dem vom letzteren herausgegebenen ›Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen‹ geschöpft. Da an diesen Stellen auch die übrige Literatur des Themas aufgeführt ist, habe ich mir detaillierte Nachweise ersparen können« (Freud 1905b, 33, Fn.1). Damit ist eine ganze Wissenschaftstra-
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dition angesprochen, die in die freudsche Theorie eingegangen ist, der er aber zugleich eine entscheidende Wendung gegeben hat. Nach Volkmar Sigusch sind Karl Heinrich Ulrichs (1825-1898) und Paolo Mantegazza (1831-1912) die ersten Sexualwissenschaftler und damit die Begründer der modernen Sexualwissenschaft. Ulrichs vertrat die ganz im Geist der Aufklärung konzipierte Auffassung, wonach alle sexuellen Vorlieben zu respektieren seien, alle seien natürlich und gesund, insbesondere die homosexuelle (vgl. Sigusch 2013, 42). Das Jahr 1869 kann als Gründungsjahr betrachtet werden: Mehrere bekannte Mediziner, unter ihnen Rudolf Virchow, fordern in einem Gutachten die Aufhebung der Strafbarkeit der so genannten »widernatürlichen Unzucht« und lösen damit eine bald breit geführte Strafrechtsdebatte in Deutschland aus, die schließlich in die Verabschiedung des §175 im Jahre 1871 mündet (vgl. Hegener 2005, 1083). Ebenfalls 1869 wird der Begriff Homosexualität eingeführt. Er stammt von dem österreichisch-ungarischen Kaufmann Karl Kertbeny, auf den auch der Ausdruck Heterosexualität zurückgeht. Für diese erste Generation von Sexualwissenschaftlern gibt es drei Geschlechter. Die Homosexuellen gelten ihnen als Zwitterwesen, bei denen sich ein männlicher Körper mit einem weiblichen Geschlechtstrieb verbindet. Der Diskurswandel ist hierbei signifikant: Homosexualität wird zu einem medizinischen bzw. psychologischen Begriff, der jetzt eine Perversion bzw. Abweichung beschreibt. Die Erklärungsmuster sind dabei weitgehend biologische: Homosexualität gilt als angeboren, unausweichlich und durch die Natur gerechtfertigt. Da die Homosexualität etwas Natürliches sei, dürfe sie auch nicht länger strafrechtlich verfolgt werden, sie wird – um mit Foucault zu sprechen – normalisiert und normiert (vgl. Foucault 1977, 50f). Mit der dann um die Jahrhundertwende einsetzenden Transformation der Sexualpathologie in eine allgemeine Sexualwissenschaft (dieser Begriff wird von Iwan Bloch 1906 mit verbindlicher Wirkung in die Debatte eingeführt), sind – so formuliert es Freud in seinen Drei Abhandlungen – »pathologische Gesichtspunkte durch anthropologische abgelöst worden« (Freud 1905b, 38, Fn.1). Der wichtigste Pionier dieser neuen Wissenschaft im deutsch-österreichischen Raum ist Viktor Krafft-Ebing. Er eröffnet sein Werk der Psychopathia sexualis mit den folgenden Sätzen, die von Freud stammen könnten: »Die wenigsten Menschen werden sich vollkommen des gewaltigen Einflusses bewußt, welchen im individuellen und im gesellschaftlichen Dasein das Sexualleben auf Fühlen, Denken und Handeln gewinnt« (Krafft-Ebing 1984, III). Schon bei ihm wird die Auffassung von der angeborenen sexuellen Orientierung problematisiert. Sexuelle Perversionen werden als Triebfehlfunktionen verstanden, die er auf die Überforderung des Nervensystems durch die Zivilisation zurückführt. Er beruft sich dabei auf den Degenerationsbegriff, den er vom französischen Psychiater Auguste Morel übernimmt. Schon in den 1890-er Jahren kommt es zu einer heftigen Debatte um Vererbung bzw. Erwerb von sexuellen Perversionen, die durch Alfred Binet 1887 eröffnet wird. Er ist es, der im Gegensatz zu Krafft-Ebing auf den entscheidenden Einfluss von frühkindlichen Erlebnissen hinweist. Es ist schließlich Iwan Bloch, dem der medizinische Diskurs zu eng erscheint – er will eine Sexualwissenschaft »integriert wissen in die Wissenschaft vom Menschen überhaupt.« Es ist seine Auffassung, »daß Perversionen in der Kultur jeder histori-
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schen Epoche nachzuweisen sind.« Jedes Sinnesorgan, so seine konkretisierende Erklärung, »könne unter spezifischen kulturellen Bedingungen und Einflüssen als erogene Zone fungieren und den Ausgangspunkt für eine perverse Sexualentwicklung darstellen« (Bloch, zit.n. Hegener, 1092). So ist um 1905 eine Sexualwissenschaft etabliert, die schon eine ganze Reihe »freudscher« Auffassungen vorweggenommen hat. Volkmar Sigusch hat für das 20. Jahrhundert drei sexuelle Revolutionen ausgemacht, die erste um 1905: »Als Freud seine Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie veröffentlichte, erreichte die ›erste sexuelle Revolution‹ in Mitteleuropa einen ihrer Höhepunkte. Folglich werden diese Jahre in einer Geschichte des Verhältnisses von Psychoanalyse und Sexualwissenschaft als Jahre der Weichenstellung und der Dissoziation eine besondere Aufmerksamkeit beanspruchen können« (Sigusch 2013, 45). Was sind also die Gründe für diese »Dissoziation«? Vor allem zwischen Albert Moll und Freud gab es Streit um die »Prioritätsrechte« bezüglich der Entdeckung der frühkindlichen Sexualität. Sigusch steht hier eindeutig auf der Seite des Berliner Sexologen Moll, hat doch dieser in seinen 1897 publizierten Untersuchungen über die Libido sexualis, welche Freud nachweislich kannte, die »normale« frühkindliche Sexualität »systematisch entdeckt, empirisch bewiesen und theoretisch eingeordnet« (Sigusch 2013, 46). Aber die Gründe für diese Spannungen liegen tiefer. Sigusch kommentiert das so: »Ich denke, hier schlägt sich wieder die grundsätzliche Differenz von Psychoanalyse und Sexualwissenschaft nieder: Unbewusstes, Phantasie und Konfliktpsychologie auf der einen Seite, Bewusstes, Verhalten und Assoziations- oder Reflexpsychologie auf der anderen Seite… Es waren alle Zutaten schon da – doch, das wollte ich zeigen, die Drei Abhandlungen suchen aus mehreren Gründen ihresgleichen« (Sigusch 2005, 30). – Sehen wir also, worin das Neue, Innovative an Freuds Zugang zur infantilen Sexualität und generell zum Sexuellen bestand.2
Die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie – ein Text mit mehreren Überarbeitungen und multiplen Deutungsmöglichkeiten Die erste Ausgabe von 1905 umfasst nur 83 Seiten. Freud selbst sah diesen Text als einen seiner wichtigsten. Nicht zuletzt deshalb hat er den Text viermal neu herausgegeben (1910, 1915, 1920,1924) und ihn jedes Mal umfassend redigiert (was er mit keinem anderen seiner Artikel und Bücher tat). So wuchs der Text bei der letzten Neuauflage auf 120 Seiten.3 Diese Änderungen betrafen weniger das Streichen von Aussagen, sondern 2
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Interessant ist auch die Einschätzung von Friedl Früh und Johannes Reichmayr zu diesem Prioritätsstreit: »Alle Argumente, die dahin gehen, Freuds Entdeckung der infantilen Sexualität sei keine Entdeckung, sondern ein längst bekanntes Phänomen gewesen, verfehlen allerdings die zentrale Aussage des Begriffs. Das Spezifische des Freudschen Begriffs …liegt .in der Erkenntnis, daß die infantile Sexualität mit dem Schicksal der Verdrängung verknüpft ist und daß gerade die verdrängte infantile Sexualität als Ursache neurotischer oder perverser Symptome anzuerkennen sei….Die infantile Sexualität ist mehr als eine klinisch beobachtbare Tatsache – sie ist auch ein theoretisches Konzept« (Früh, F., Reichmayr, J. 2013, 147). Ein weiterer interessanter Aspekt dieses Textes sind seine vielen Fußnoten: »Die Fußnoten in den Drei Abhandlungen sind etwas Besonderes – es gibt nichts dergleichen in den übrigen Schriften
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schen Epoche nachzuweisen sind.« Jedes Sinnesorgan, so seine konkretisierende Erklärung, »könne unter spezifischen kulturellen Bedingungen und Einflüssen als erogene Zone fungieren und den Ausgangspunkt für eine perverse Sexualentwicklung darstellen« (Bloch, zit.n. Hegener, 1092). So ist um 1905 eine Sexualwissenschaft etabliert, die schon eine ganze Reihe »freudscher« Auffassungen vorweggenommen hat. Volkmar Sigusch hat für das 20. Jahrhundert drei sexuelle Revolutionen ausgemacht, die erste um 1905: »Als Freud seine Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie veröffentlichte, erreichte die ›erste sexuelle Revolution‹ in Mitteleuropa einen ihrer Höhepunkte. Folglich werden diese Jahre in einer Geschichte des Verhältnisses von Psychoanalyse und Sexualwissenschaft als Jahre der Weichenstellung und der Dissoziation eine besondere Aufmerksamkeit beanspruchen können« (Sigusch 2013, 45). Was sind also die Gründe für diese »Dissoziation«? Vor allem zwischen Albert Moll und Freud gab es Streit um die »Prioritätsrechte« bezüglich der Entdeckung der frühkindlichen Sexualität. Sigusch steht hier eindeutig auf der Seite des Berliner Sexologen Moll, hat doch dieser in seinen 1897 publizierten Untersuchungen über die Libido sexualis, welche Freud nachweislich kannte, die »normale« frühkindliche Sexualität »systematisch entdeckt, empirisch bewiesen und theoretisch eingeordnet« (Sigusch 2013, 46). Aber die Gründe für diese Spannungen liegen tiefer. Sigusch kommentiert das so: »Ich denke, hier schlägt sich wieder die grundsätzliche Differenz von Psychoanalyse und Sexualwissenschaft nieder: Unbewusstes, Phantasie und Konfliktpsychologie auf der einen Seite, Bewusstes, Verhalten und Assoziations- oder Reflexpsychologie auf der anderen Seite… Es waren alle Zutaten schon da – doch, das wollte ich zeigen, die Drei Abhandlungen suchen aus mehreren Gründen ihresgleichen« (Sigusch 2005, 30). – Sehen wir also, worin das Neue, Innovative an Freuds Zugang zur infantilen Sexualität und generell zum Sexuellen bestand.2
Die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie – ein Text mit mehreren Überarbeitungen und multiplen Deutungsmöglichkeiten Die erste Ausgabe von 1905 umfasst nur 83 Seiten. Freud selbst sah diesen Text als einen seiner wichtigsten. Nicht zuletzt deshalb hat er den Text viermal neu herausgegeben (1910, 1915, 1920,1924) und ihn jedes Mal umfassend redigiert (was er mit keinem anderen seiner Artikel und Bücher tat). So wuchs der Text bei der letzten Neuauflage auf 120 Seiten.3 Diese Änderungen betrafen weniger das Streichen von Aussagen, sondern 2
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Interessant ist auch die Einschätzung von Friedl Früh und Johannes Reichmayr zu diesem Prioritätsstreit: »Alle Argumente, die dahin gehen, Freuds Entdeckung der infantilen Sexualität sei keine Entdeckung, sondern ein längst bekanntes Phänomen gewesen, verfehlen allerdings die zentrale Aussage des Begriffs. Das Spezifische des Freudschen Begriffs …liegt .in der Erkenntnis, daß die infantile Sexualität mit dem Schicksal der Verdrängung verknüpft ist und daß gerade die verdrängte infantile Sexualität als Ursache neurotischer oder perverser Symptome anzuerkennen sei….Die infantile Sexualität ist mehr als eine klinisch beobachtbare Tatsache – sie ist auch ein theoretisches Konzept« (Früh, F., Reichmayr, J. 2013, 147). Ein weiterer interessanter Aspekt dieses Textes sind seine vielen Fußnoten: »Die Fußnoten in den Drei Abhandlungen sind etwas Besonderes – es gibt nichts dergleichen in den übrigen Schriften
Das Paradigma der Psychosexualität – das Zentrum der freudschen Psychoanalyse
das Ergänzen durch neue Passagen, die nicht – wie wir noch sehen werden – zu einer Bestätigung seiner 1905 vorgebrachten Ansichten, sondern ganz im Gegenteil zu einer schrittweisen Revision einiger seiner ursprünglichen Ansätze führten. Was kommt da in den späteren Auflagen Neues hinzu? Freuds Theorie des Ödipuskomplexes; die zwangsneurotische Problematik von Liebe und Hass, Ambivalenz, Gewissen und Schuld; die Ansätze einer Triebtheorie; die Theorie des Narzissmus; der entwicklungstheoretische Ansatz; ergänzende kulturtheoretische Überlegungen. – Ein wesentliches Motiv für diese Ergänzungen liegt vermutlich in Freuds Auseinandersetzung mit Alfred Adler und C.G.Jung, besonders der Sichtweise Jungs zum Stellenwert des Sexuellen, auf die Psychose und die Libidotheorie. – Es lohnt sich also, die Fassung von 1905 mit den späteren zu vergleichen.4 Freud schreibt diese Drei Abhandlungen vor dem Hintergrund der Debatten, welche die Fragen des Sexuellen, insbesondere den Status der Perversionen in der damaligen Sexualwissenschaft betreffen. Er knüpft einerseits an diesen Diskurs an, aber entwickelt dabei etwas radikal Neues, was schon daran deutlich wird, dass Freud von der ersten Seite weg sich von diesem Sexualitätsdiskurs distanziert. Diese Forscher und Theoretiker finden nur in einer Fußnote Erwähnung, in der sich Freud gegen das wendet, was er die »populäre Theorie« und die »poetische Fabel« nennt (Freud 1905b, 33, Fn.1). Die Sexualwissenschaft (der Psychiatrie und Neurologie) vor und um 1900 beschrieb Sexualität aus einer darwinistischen und funktionalen Perspektive. So wurde der Geschlechtstrieb als Fortpflanzungstrieb im Dienste der Arterhaltung analog dem Hunger im Dienste der Selbsterhaltung gesehen. Freud distanziert sich davon deutlich. In der Tat offenbart eine Lektüre der Psychopathia sexualis von Krafft-Ebing diese funktionale Sichtweise. Diese zeigt sich deutlich in seiner Sicht auf die Perversion: »Als pervers muss – bei gebotener Gelegenheit zu naturgemässer geschlechtlicher Befriedigung – jede Aeusserung des Geschlechtstriebes erklärt werden, die nicht den Zwecken der Natur, i.e. der Fortpflanzung entspricht« (Krafft-Ebing 1984, 68). Alle sexuellen Impulse und Handlungen, egal ob es sich um Sadismus, Masochismus, Fetischismus oder »Inversion« handelt, sind demnach pervers. – Ähnliche Auffassungen finden sich beim damals einflussreichsten deutschen Sexualforscher, Albert Moll, den Freud verschiedentlich erwähnt. Aber so sehr sich Freud auch von diesem Diskurs distanziert, er verdankt ihm auch mehr, als er zuzugeben bereit ist. Viele seiner Thesen sind dort schon vorweggenommen, so etwa die Konzeption der Sexualität als starker natürlicher Trieb, der auch für
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Freuds. Wie das Begehren, das dieses Werk zu erfassen versucht, ist dieser Text ungenau, denn er sucht vielfältige Kanäle des Ausdrucks und der Befriedigung, das Subjekt/Objekt der Frustration und der Enttäuschung… In einem Werk von 125 Seiten gibt es 88 Fußnoten, die zu verschiedenen Zeiten hinzugefügt wurden, ganz abgesehen von den vielen eingefügten und gestrichenen Sätzen und ganzen Absätzen« (Flax 2001, 66). So schreibt Jean Laplanche zu diesem Vergleich: »Die Wirkung ist eindrucksvoll, umwerfend. Alles, was wohlbekannt erschien, die ›Stadien‹ der Libidoentwicklung, der Narzißmus, die Weiterentwicklung hin zum Genitalprimat, all das ist verschwunden. Es bleibt ein rätselhafter, manchmal widersprüchlicher Text, der trotzdem durch starke Kraftlinien getragen wird« (Laplanche 2006, 1005).
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die Kulturentwicklung eine oder gar die treibende Kraft darstellt; oder die Auffassung, dass jede Sexualtheorie auch eine allgemeine anthropologische Dimension aufweist; und die gesellschaftspolitisch-emanzipatorische Haltung, die sich gegen eine Kriminalisierung so genannter »Sexual-Perverser« wendet.
Das erste Kapitel: Die sexuellen Abirrungen Freud beginnt mit der »Tatsache«, dass die Biologie einen »Geschlechtstrieb« annimmt. Und er setzt dieses Wort in Anführungszeichen. Es wird nicht der einzige Begriff bleiben, den Freud so kennzeichnet. Wir können hier keine einheitliche und durchgängige Deutung vornehmen, aber ein so sprachbewusster Autor wie Freud macht so etwas nicht unbedacht. Vielleicht will er bereits hier den Leser für die noch folgende Problematik des Konzepts des Triebes sensibilisieren; vielleicht auch unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Biologie und Psychoanalyse – auch wenn beide denselben Ausdruck verwenden – damit Unterschiedliches ausdrücken. – Und er bringt gleich einen zweiten Begriff, der für sein Verständnis von Lust und Trieb wesentlich werden wird – den Begriff »Libido«. In einer später angefügten Fußnote begründet Freud die Zuhilfenahme dieses Fachterminus damit, dass ihm das deutsche Wort »Lust« zu vieldeutig erscheint (»benennt ebensowohl die Empfindung des Bedürfnisses als die der Befriedigung«).5 Neben der Biologie beruft sich Freud auf die »populäre Meinung«, wonach der »Geschlechtstrieb« »der Kindheit fehlen soll« (ebd., 33). Wieder so eine sprachliche Feinheit. Einerseits holt Freud den Leser gewissermaßen im mainstream der damaligen Vorstellungswelt über Sexualität und Trieb ab, aber sofort folgt eine Distanzierung, die den Leser auf etwas hinweisen soll, das – so darf vermutet werden – für Freud so nicht stimmt.6 Und noch eine Distanzierung von der »populären Meinung« folgt: »[...]sein Ziel (des »Geschlechtstriebes«) soll die geschlechtliche Vereinigung sein« (ebd., 33). Heutige Freud-Leser wissen, worauf Freud hier vorgreift: auf seine Überzeugung, dass das Ziel des Sexualtriebes die Maximierung der Lust ist – und dass der Fortpflanzung dabei nur eine sekundäre Bedeutung zukommt. – Und genau diese Differenzierung ist es, die Freud als nächste einführt – die von Sexualobjekt und Sexualziel. Zunächst also die »Abweichungen in Bezug auf das Sexualobjekt«. Wieder beginnt Freud mit »der populären Theorie«, die er »am schönsten« in der Platonischen Fabel vom ursprünglichen Kugelwesen beschrieben sieht, das in zwei Hälften geteilt – als Mann und Frau – hinfort »sich in der Liebe wieder zu vereinigen streben« (ebd., 34). Und fährt sinngemäß fort, dass es »eine große Überraschung« sei zu hören, dass es 5
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Nichtsdestotrotz bleibt auch das Wort Lust für die freudsche Triebtheorie weiterhin essentiell. Freud hat alles sexuell genannt, was Lust bereitet, und damit eine Konsequenz aus seiner Auffassung gezogen, dass das Lustprinzip das Regulationsprinzip des Seelenlebens ist. So ist es nur konsequent, wenn das Sexuelle, der Trieb und seine Schicksale von nun an zum zentralen Studienobjekt der Psychoanalyse wurden. Freud verrät uns also im 2. Absatz seines Artikels bereits eine seiner wesentlichen Botschaften: dass die verbreitete Annahme einer »unschuldigen«, weil sexlosen Kindheit ein Irrtum ist. In der zweiten Abhandlung wird er das explizieren.
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Männer und Frauen gibt, die dasselbe Geschlecht als Sexualobjekt suchen – er nennt sie »Invertierte«, um sich dann gegen das verbreitete »Urteil«, dass diese Personen »Degenerierte« seien, deutlich abzugrenzen. Er bringt hierfür eine Reihe von Argumenten, unter anderem die Berufung auf die von ihm ja aus vielen Gründen so geschätzten antiken Zivilisationen: »Man muß Wert darauf legen, daß die Inversion eine häufige Erscheinung, fast eine mit wichtigen Funktionen betraute Institution bei den alten Völkern auf der Höhe ihrer Kultur war« (ebd., 37).7 – Im weiteren beruft er sich auch auf den Sexualforscher Iwan Bloch, der dafür plädierte, die »pathologischen Gesichtspunkte« zugunsten der »anthropologischen« abzulösen. Dies bedeutet nicht weniger – und Freud wird sich mit wechselndem Erfolg in diesen Drei Abhandlungen darum bemühen – dass eine Analyse der Phänomene des Sexuellen nur gelingen kann, wenn eine vorschnelle Identifizierung mit den Normen und Wertungen der zeitgenössischen Kultur möglichst unterbleibt. Freud spricht also zunächst nicht von Homosexualität, sondern von Inversion. Er übernimmt damit die Sprachregelung der damaligen Sexualwissenschaftler, teilte aber deren Auffassung definitiv nicht, die Inversion als Ausdruck einer körperlichen oder seelischen Degeneration zu verstehen. So war Freuds Ziel bei der Behandlung dieser Personen nicht, sie zu Heterosexuellen zu machen, sondern sie »mit ihrem Leben auf der Basis der Homosexualität auszusöhnen«, wie er an seinen Kollegen Ludwig Binswanger schrieb (Freud&Binswanger 1992, Brief vom 7. Feber 1923, 183). Freud diskutiert dann die Frage, ob es sich bei der Inversion um einen angeborenen oder aber einen »erworbenen Charakter des Geschlechtstriebes« handle. Er weist einerseits darauf hin, dass »nachweisbar viele Personen die nämlichen sexuellen Beeinflussungen (auch in früher Jugend: Verführung, mutuelle Onanie) erfahren« haben, aber nur teilweise dadurch »invertiert« werden – um schließlich eine interessante Wendung vorzunehmen: »Weder mit der Annahme, die Inversion sei angeboren, noch mit der anderen, sie werde erworben, ist das Wesen der Inversion geklärt« (Freud 1905b, 39). Das macht neugierig. – Und Freud bietet eine überraschende und folgenträchtige Lösung an: »Die Auffassung, die sich aus diesen lange bekannten anatomischen Tatsachen ergibt, ist die einer ursprünglichen bisexuellen Veranlagung … Es lag nahe, diese Auffassung aufs psychische Gebiet zu übertragen und die Inversion in ihren Abarten als Ausdruck eines psychischen Hermaphroditismus zu verstehen« (ebd., 40). – Also: Freud übernimmt hier die von Wilhelm Fließ schon lange vertretene Auffassung der grundsätzlichen, biologisch verankerten Bisexualität und überträgt diese auf das Seelische.8 Er versteht in der Folge die Bisexualität als eine universelle Veranlagung, die Fließ in der embryonalen Entwicklung des Menschen angelegt sah, überträgt diese auf 7
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»Der Freudsche Homosexuelle ist ein zivilisiertes Subjekt, dessen die Zivilisation bedarf, weil es in gewisser Hinsicht die Inkarnation des Sublimen ist. Freud schließt hier an eine bestimmte griechische Konzeption der Homosexualität an« (Roudinesco 2002, 9). Lassen wir hier nochmals Elisabeth Roudinesco zu Wort kommen: »In seiner Auseinandersetzung mit der Homosexualität nimmt Freud dieselbe Haltung ein. Er macht einen großen Schritt nach vorwärts, indem er sich weigert, die Homosexualität unter die Fehlentwicklungen oder Anomalien der Sexualität einzuordnen, wie es die Sexologen seiner Zeit taten… Er weist jede Form der Stigmatisierung, die auf dem Begriff der ›Degeneration‹ aufbaut, zurück. Mit anderen Worten: Er unterscheidet Homosexuelle nicht von anderen Menschen, und er ist der Ansicht, dass jedes
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die psychische Ebene und vertrat die Auffassung, dass in jedem Menschen von Kindheit an männliche und weibliche Neigungen vorhanden sind. In einer 1910 hinzugefügten Fußnote führt Freud aus, wie er sich mittlerweile erklärt, dass aus den ursprünglichen Bisexuellen Invertierte werden: »Wir haben bei allen untersuchten Fällen festgestellt, daß die später Invertierten in den ersten Jahren ihrer Kindheit eine Phase von sehr intensiver, aber kurzlebiger Fixierung an das Weib (meist die Mutter) durchmachen, nach deren Überwindung sie sich mit dem Weib identifizieren und sich selbst zum Sexualobjekt nehmen, das heißt vom Narzißmus ausgehend jugendliche und der eigenen Person ähnliche Männer aufsuchen, die sie so lieben wollen, wie die Mutter sie geliebt hat… Ihr zwanghaftes Streben nach dem Manne erwies sich als bedingt durch die ruhelose Flucht vor dem Weibe…. Die Geltung der narzißtischen Objektwahl und die Festhaltung der erotischen Bedeutung der Analzone erscheinen als deren wesentlichste Charaktere… Der Wegfall eines starken Vaters in der Kindheit begünstigt nicht selten die Inversion« (ebd., 44, Fn.1). Freud zeigt uns hier erstmals in dieser Abhandlung, was die Übertragung biologischer Konzepte auf das Psychische bedeuten kann: dass die Neigung zur »Inversion« durchaus auf einschlägige frühkindliche Erfahrungen zurückgeführt werden kann. Und nun eine Aussage Freuds, die der damals verbreiteten Auffassung der Homosexualität radikal widersprach und seinen energischen Versuch, sich der vorherrschenden Normativität zu entziehen, unterstreicht: »Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit dem Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen. Indem sie auch andere als die manifest kundgegebenen Sexualregungen studiert, erfährt sie, daß alle Menschen der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind und dieselbe auch im Unbewußten vollzogen haben« (ebd., 44, Fn. 1). Das war wohl schwer verdaulich für die damalige Zeit und ist es wohl auch heute: Einem »überzeugten« Heterosexuellen zu sagen, er sei in seinem Unbewussten zugleich homosexuell! – Aber Freud ist mit seinem Angriff auf die herrschende Sexualmoral noch nicht fertig. Im nächsten Schritt hinterfragt er die vermeintlich fixe Verlötung von Sexualobjekt und Sexualziel: »Der Psychoanalyse erscheint vielmehr die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht des Objektes, die gleich freie Verfügung über männliche und weibliche Objekte, wie sie im Kindesalter, in primitiven Zuständen und frühhistorischen Zeiten zu beobachten sind, als das Ursprüngliche« (ebd.). Aber auch damit noch nicht genug. Freud hinterfragt gleich noch die »ausschließliche« Heterosexualität: »Im Sinne der Psychoanalyse ist also auch das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit« (ebd.). Indem Freud von Anfang an die Vielfalt und Variabilität des Sexuellen betont, stellt er die damals gängige funktionalistische Sichtweise auf den Kopf. Damit ist eine Berufung auf eine »natürliche« und quasi biologisch fundierte »Normsexualität« von Anfang an subvertiert. Es gibt nichts als diese Vielfalt sexueller Aktivitäten und Orientierungen – und damit wird die Grenze zwischen »normaler« und »abnormer« Sexualität aufgehoben. Subjekt aufgrund der Existenz einer psychischen Bisexualität in jedem von uns seine Wahl selber treffen kann« (ebd., 8).
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Kurz darauf problematisiert Freud eine weitere gängige »Überzeugung«: »Wir werden darauf aufmerksam gemacht, daß wir uns die Verknüpfung des Sexualtriebes mit dem Sexualobjekt als eine zu innige vorgestellt haben…. Der Geschlechtstrieb ist wahrscheinlich zunächst unabhängig von seinem Objekt und verdankt wohl auch nicht den Reizen desselben seine Entstehung« (ebd., 46, 47). Dies ist einer der wesentlichen Grundgedanken dieser Schrift und wird an mehreren späteren Stellen wieder aufgegriffen und weiter vertieft. Diese These, wonach der Sexualtrieb ursprünglich gar kein privilegiertes Objekt hat und auch nicht primär auf intersubjektive Weise entsteht, bedeutet, dass die menschliche Sexualität in einem strikten Sinn nicht-funktional ist. Damit ist jede Bezugnahme des sexuellen Triebes auf einen »Fortpflanzungstrieb«, auf Selbst- und Arterhaltung desavouiert. Freud kommt nun zu den »Abweichungen in Bezug auf das Sexualziel«. Das Ziel eines Triebes, so haben wir das in den bisherigen Schriften Freuds seit dem Entwurf kennengelernt, ist die Aufhebung der Triebspannung durch eine Triebbefriedigung. Aber hier gibt Freud eine Definition, die den Handlungsaspekt in den Mittelpunkt stellt. Wieder nimmt er den Faden der »populären Sichtweise« auf, wenn er schreibt: »Als normales Sexualziel gilt die Vereinigung der Genitalien in dem zur Begattung bezeichneten Akte« (ebd., 48); um im nächsten Satz die Verleugnung aufzudecken, die dieser Auffassung zugrunde liegt: »Doch sind bereits am normalsten Sexualvorgang jene Ansätze kenntlich, deren Ausbildung zu den Abirrungen führt, die man als Perversionen beschrieben hat. Es werden nämlich gewisse intermediäre (auf dem Wege zur Begattung liegende) Beziehungen zum Sexualobjekt, wie das Betasten und Beschauen desselben, als vorläufige Sexualziele anerkannt« (ebd., 48, 49). – Hier fällt zum ersten Mal der Ausdruck »Perversion«. Und: Bevor Freud jetzt die einzelnen Abweichungen in Bezug auf das Sexualziel (Erscheinungsformen der Perversion) bespricht, macht er schon unmissverständlich klar, dass auch diese Grenze zwischen »normalen« und »perversen« Sexualzielen eine fließende ist, auch der so genannte Normale »perverse Sexualziele« »anerkannt« hat. Die »anatomischen Überschreitungen« (so etwa »die Verwendung des Mundes als Sexualorgan« oder die »Inanspruchnahme des Afters«) offenbaren die Tendenz des Sexualtriebes, »sich des Sexualobjekts nach allen Richtungen zu bemächtigen« bis hin zur Ersetzung eines »normalen Sexualobjekts« durch einen Fetisch (»[...] ein unbelebtes Objekt, welches in nachweisbarer Relation mit der Sexualperson, am besten mit der Sexualität derselben, steht« (ebd., 52). Und zur Verdeutlichung sagt es Freud nochmals: »Ein gewisser Grad von solchem Fetischismus ist daher dem normalen Lieben regelmäßig eigen« (ebd., 53). Also: Die Grenze zwischen »Normalsexualität« und »perverser Sexualität« ist für Freud eine fließende. Erst die Ausschließlichkeit (zum Beispiel des Fetischismus) ist für ihn ein Anzeichen für Pathologie: »Der pathologische Fall tritt erst ein, wenn sich das Streben nach dem Fetisch über solche Bedingung hinaus fixiert und sich an die Stelle des normalen Zieles setzt« (ebd., 53). Damit wissen wir freilich noch nicht, worin jetzt für Freud das »normale Ziel« besteht. Die weiteren Ausführungen zeigen nämlich, dass er sich nicht mit der kulturell üblichen Definition der »genitalen Vereinigung zum Zwecke der Fortpflanzung« zufrieden gibt. Unter dem Titel »Fixierungen von vorläufigen Sexualzielen« handelt Freud jetzt das Betasten, Beschauen, Exhibitionismus und Voyeurismus, Sadismus und Masochismus
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ab. Er bleibt bei seiner Linie, wonach die so genannte »normale Sexualität« alle diese Elemente enthält: »[...] die alltägliche Erfahrung hat gezeigt, daß die meisten dieser Überschreitungen, wenigstens die minder argen unter ihnen, einen selten fehlenden Bestandteil des Sexuallebens des Gesunden bilden und von ihnen wie andere Intimitäten auch beurteilt werden« (ebd., 59). Freuds Argumentation bezüglich der Sexualziele hat also eine ähnliche Stoßrichtung wie jene in Bezug auf die Sexualobjekte. Während Krafft-Ebing und andere die damals gängige Ansicht vertraten, dass der Koitus das normale Sexualziel darstellt, setzt Freud den Kontrapunkt, indem er auf die Vielfalt und Variabilität dieser Sexualziele hinweist: Sexualziele, die auch bei der so genannten normalen erwachsenen Sexualität keineswegs fehlen. Das Sexualziel kann also niemals auf die Geschlechtsorgane reduziert werden, vielmehr hat der gesamte Körper als Schauplatz von Erregung und Lust Anteil am sexuellen Erleben und Geschehen. Auf durchaus provokante und ironische Weise kommt Freud hier auf das Küssen zu sprechen, das er als Berührung der Schleimhaut der Lippen bestimmt, die doch den Eingang des Verdauungstrakts darstellen. Der Kuss ist daher für diese funktionale Sicht als Perversion einzuordnen, genauso wie andere Formen von Oralsex, Analsex, Fetischismus, Sadomasochismus, Voyeurismus und Exhibitionismus – also alle klassischen Perversionen. In all diesen Sexualpraktiken sind Körperzonen involviert, die im strengen Sinne nicht zum Genitalapparat gehören. Insbesondere bei der infantilen Sexualität sei dieser Vorrang der Genitalzone noch überhaupt nicht vorhanden, sondern alle erogenen Zonen und der ganze Körper werden als Quelle der Lustempfindung benutzt. – Aus der Perspektive kultureller Sexualmoral ist die Zuschreibung pervers also eine Frage der Festlegung eines Konsenses, da es keine natürliche Unterscheidung zwischen normalen und abnormen Sexualzielen gibt. Allerdings gesteht Freud, dass es perverse Praktiken gibt wie Kotlecken oder Missbrauch von Leichen, die derart radikal vom normalen Sexualverhalten abgelöst sind, dass man sie als pathologisch bezeichnen muss (vgl. Freud, 60). Aber er schränkt sogar hier noch weiter ein: »[...] in der Ausschließlichkeit und in der Fixierung also der Perversion sehen wir zu allermeist die Berechtigung, sie als ein krankhaftes Symptom zu beurteilen« (ebd., 61). Wesentliche Argumentationslinie bleibt für Freud, dass die meisten perversen Sexualpraktiken Teil des normalen Sexualverhaltens darstellen. – Seine Schlussfolgerung an dieser Stelle ist, dass »vielleicht der Sexualtrieb selbst nichts einfaches, sondern aus Komponenten zusammengesetzt ist, die sich in den Perversionen wieder von ihm ablösen« (ebd., 61f). Wenn die erwachsene Sexualität aus mehreren Komponenten zusammengesetzt ist, liegt es nahe, dass auch deren Quelle etwas Multiples ist. Dies führt Freud in der Zweiten Abhandlung zu seiner Theorie der polymorph-perversen Natur infantiler Sexualität sowie der Partialtriebe und der erogenen Zonen. Das Studium der »Perversionen« hat Freud noch eine weitere Einsicht gebracht: »[...] daß der Sexualtrieb gegen gewisse seelische Mächte als Widerstände anzukämpfen hat, unter denen Scham und Ekel am deutlichsten hervorgetreten sind. Es ist die Vermutung gestattet, daß diese Mächte daran beteiligt sind, den Trieb innerhalb der als normal geltenden Schranken zu bannen« (ebd., 61). Die »Normsexualität« ist also, wie Freud später schreiben wird, ein Kompromiss zwischen Trieb und Kulturanforderung und so betrachtet nichts »Natürliches«, sondern etwas auch historisch Variables. Die erwachsene »Normsexualität« ist folglich eine Kompromissbildung: Durch den Ein-
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fluss der Kultur und ihrer zentralen Transmissionsstelle, der Familie, lernt das Kind allmählich, dass das »richtige« Objekt seines Begehrens ein anderer Mensch des anderen Geschlechts sein soll. Deshalb sieht Freud die so genannte »genitale Reife« als etwas zutiefst Problematisches an, als eine tendenzielle Überforderung, die die Neigung zur »modernen Nervosität« befördert. Nun kommt Freud auf den »Sexualtrieb bei den Neurotikern« zu sprechen. Er beginnt mit der Feststellung, dass er schon seit längerem die Überzeugung gewonnen hat, dass »diese Psychoneurosen, soweit meine Erfahrungen reichen, auf sexuellen Triebkräften beruhen« (ebd., 62). Und er führt weiter aus, »daß dieser Anteil der einzig konstante und die wichtigste Energiequelle der Neurose ist, so daß das Sexualleben der betreffenden Personen sich entweder ausschließlich oder vorwiegend oder nur teilweise in diesen Symptomen äußert. Die Symptome sind … die Sexualbetätigung der Kranken« (ebd., 62f). An dieser Stelle eine grundsätzliche Bemerkung: Zum Zeitpunkt von Freuds Erstfassung der Drei Abhandlungen stellt die Hysterie das Paradigma für sein Verständnis der Sexualität dar. Dies wird deutlich, wenn wir uns Freuds diesbezügliche Auffassung ansehen, wie er sie den Studien über Hysterie, aber auch der schon 1901 geschriebenen, aber ebenfalls 1905 publizierten Dora-Studie (Bruchstück einer Hysterie-Analyse) zugrunde legt. In den Jahren vor 1895 hatte Freud in seiner klinischen Arbeit mit Hysterikerinnen herausgefunden, dass ihre Symptomatik auf frühkindliche sexuelle und damit traumatische Erfahrungen zurückgehen. Entsprechend seiner 1895 noch vertretenen Verführungstheorie verstand er die Traumatisierung als Folge eines sexuellen Missbrauchs in der Kindheit, wobei die Tatsache für Freud entscheidend war, dass eine so frühzeitige Konfrontation mit erwachsener Sexualität traumatisierend sein muss. Bei seinen Hysterikerinnen fand er eine Steigerung und Intensivierung deren sexueller Triebe, aber auch ein Ausmaß von Verdrängung, das über das durchschnittliche Maß hinausgeht. Für ihn war nun der Gedanke zielführend: Wenn alle Menschen bis zu einem gewissen Grade hysterisch sind, dann kann uns die Hysterie darüber Aufschluss geben, wer wir sind (vgl. ebd., 62f). Hier sehen wir also, wie weit Freuds Erweiterung des Begriffs des Sexuellen reicht: Jedes neurotische Symptom wird als Ersatz, als Ausdruck verdrängter und verschobener sexueller Impulse verstanden. – In der 1920 hinzugefügten Fußnote bringt Freud eine nicht unwesentliche Differenzierung vor, die eine Konsequenz seiner mittlerweile gewachsenen Einsicht in die Dynamik zwischen Sexual- und Ichtrieben ist: »Die nervösen Symptome beruhen einerseits auf dem Anspruch der libidinösen Triebe, andererseits auf dem Einspruch des Ichs, der Reaktion gegen dieselben« (ebd., 63, Fn.1). Das neurotische Symptom wird von Freud also späterhin als Kompromiss zwischen Ich- und Sexualtrieben, ab 1923 auch als solcher zwischen Es, Ich und Überich gelesen. Freud nähert sich nun der zentralen Frage, was nun Sexualität eigentlich ist, so an, dass er die Verbindungen zwischen Neurose (= Hysterie) und Perversion aufgreift. Er geht von der klinischen Erfahrung aus, dass die neurotischen Symptome nicht allein der Verdrängung des »sogenannten normalen Sexualtriebes« geschuldet sind, sondern auch jener Triebimpulse, »welche man als perverse (im weitesten Sinne) bezeichnen würde … Die Symptome bilden sich also zum Teil auf Kosten abnormer Sexualität« (ebd., 65). Diese innige Verknüpfung von Neurose und Perversion mündet in seinen viel disku-
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tierten und sehr unterschiedlich gedeuteten Satz: »[...] die Neurose ist sozusagen das Negativ der Perversion« (ebd., 65). In der anschließenden Fußnote wird dies noch näher erläutert: »Die klar bewußten Phantasien der Perversen …, die in feindlichem Sinne auf andere projizierten Wahnbefürchtungen der Paranoiker und die unbewußten Phantasien der Hysteriker, die man durch Psychoanalyse hinter ihren Symptomen aufdeckt, fallen inhaltlich bis in einzelne Details zusammen« (ebd., F.1). Wie können wir diese Metapher vom »Negativ der Perversion« verstehen? Zunächst wohl so: Hysterische Symptome sind nichts anderes als verdrehte, verschobene Äußerungen des Triebes, die als pervers zu bezeichnen sind. Und: Was der Neurotiker verdrängt, ist beim Perversen bewusste Phantasie, beim Paranoiker auf den anderen projizierter Wahn. Was Perverse in ihrem abweichenden Sexualverhalten agieren, wird von den Neurotikern in ihren Phantasien und Träumen imaginiert und in ihren Symptomen ausgedrückt. – Eine weiterführende Lesart geht dahin, den Neurotiker grundsätzlich als »heimlichen Perversen« zu sehen. Diese Lesart wird auch durch eine spätere Feststellung Freuds bestätigt: »[...] daß den Perversionen allerdings etwas Angeborenes zugrunde liegt, aber etwas, was allen Menschen angeboren ist ... Es handelt sich um angeborene, in der Konstitution gegebene Wurzeln des Sexualtriebes, die sich in der einen Reihe von Fällen zu den wirklichen Trägern der Sexualtätigkeit entwickeln (Perverse), andere Male eine ungenügende Unterdrückung (Verdrängung) erfahren … während sie in den günstigsten Fällen zwischen beiden Extremen durch wirksame Einschränkung und sonstige Verarbeitung das sogenannte normale Sexualleben entstehen lassen« (ebd., 71). – Jedenfalls hat diese freudsche Aussage eine bis heute intensive Diskussion darüber ausgelöst, wie weit die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Neurose und Perversion nun wirklich reicht – oder ob es sich bei den beiden klinischen Bildern doch um grundsätzlich unterschiedliche »Ausgänge« aus dem Ödipuskomplex handelt.9 Wir können die Frage auch so stellen: Warum spricht Freud von der Neurose als Negativ der Perversion und nicht umgekehrt von der Perversion als Negativ der Neurose? Zu bedenken ist dabei, dass Freud zu diesem Zeitpunkt noch über kein strukturelles Konzept für die Perversion verfügt, wohl aber für die Neurose. (»Die Symptome sind … die Sexualbetätigung der Kranken.«) Dieses Konzept formuliert er erst über zwanzig Jahre später in seinem Aufsatz über Fetischismus. Lesen wir dazu die Stellungnahme von Reimut Reiche, einem der wichtigsten Theoretiker der Perversion der letzten Jahrzehnte: »Neurosen sind negative, Perversionen positive Abweichungen, oder eben: Abirrungen – von einem virtuellen Normalzustand. Meiner Lesart zufolge sagt er damit nicht, die Perversionen seien das ›Ursprüngliche‹ und die Neurosen das von ihnen Abgeleitete. Die in den Drei Abhandlungen so genannte ursprüngliche polymorph-perverse Triebanlage, was immer das sein mag, hat mit der Perversion des Erwachsenen oder
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Wolfgang Berner fasst Freuds Konzeption so zusammen: »Das perverse Triebschicksal wäre demnach, dass ein Teil der polymorph-perversen kindlichen Anlage sich ungefiltert durchsetzt und zum Symptom wird, weil es sich auf Kosten der anderen Teile entwickelt, das neurotische Triebschicksal hingegen, dass eine allgemeine Sexualhemmung eintritt. Jedes neurotische Symptom ist dann ausschließlich als Abwehrleistung gegen unterschiedliche (kindliche) polymorph-perverse Bedürfnisse zu verstehen. Die Neurose ist damit wie bei der Fotografie der Negativabdruck zum Positivbild der Perversion« (Berner 2005, 174, Anm.1).
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Jugendlichen, des Mannes oder der Frau so viel zu tun wie ein Nachttopf mit einem Strohhut: Beide sind rund und haben einen Rand, aber der eine geht nicht aus dem anderen hervor. Damit ist also noch keine psychogenetische oder psychodynamische Formel für die Perversion gefunden, sondern zunächst nur eine gemeinsame Struktur von Neurose und Perversion behauptet« (Reiche 2005, 137f). Wie gesagt, erst 22 Jahre später wird Freud die Formel für die perverse Struktur finden: den Fetisch – und das, was er die Ichspaltung nennt – als Prototyp der perversen Abwehr. »Wenn wir auch heute den Kastrationsschock und die protofetischistische Antwort darauf nicht mehr so eng – man kann auch sagen: nicht mehr so konkretistisch – sehen, so bildet dieses Ensemble doch den bis heute gültigen Kern des modernen psychoanalytischen Verständnisses der Perversion« (Reiche 2005, 138f). Freuds abschließendes Thema dieser ersten Abhandlung ist der »Trieb«. Sein erster Definitionsversuch liest sich so: »Unter einem ›Trieb‹ können wir zunächst nichts anderes verstehen als die psychische Repräsentanz einer kontinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle … Trieb ist so einer der Begriffe der Abgrenzung des Seelischen vom Körperlichen« (Freud 1905b, 67). Hier wird deutlich, was Freud mit seinem Ziel, eine biologische durch eine psychologische Perspektive auf das Sexuelle zu erweitern, meint. Offenkundig meint er mit »Trieb« eben nicht das, was die Biologie mit »Instinkt« bezeichnet. Vielmehr setzt er sich zum Ziel, die »psychische Repräsentanz« eines spezifischen somatischen Impulses näher zu untersuchen. Was immer diese im Körperlichen liegende »Reizquelle« sein mag, Freud geht es um deren Umsetzung ins Seelische, das ja immer auch offen gegenüber dem »Außen«, dem Sozialen, den Einflüssen des »Nebenmenschen« ist. Der sexuelle Trieb ist also kein reines Verhaltensprogramm, sondern ist eine psychische Repräsentanz und damit Ausdruck unbewusster Phantasien.10 Im nächsten Schritt unterscheidet Freud die im Somatischen liegende Quelle von den Zielen des Triebes: »Die Quelle des Triebes ist ein erregender Vorgang in einem Organ und das nächste Ziel des Triebes liegt in der Aufhebung dieses Organreizes« (ebd.). Wir kennen diesen Gedanken schon seit Freuds Entwurf, in dem er das Konzept des Lustprinzips als Ausdruck eines grundsätzlichen Strebens des menschlichen Organismus nach Homöostase entwickelt hatte. Vereinfachend gesagt bedeutet das, dass der Anstieg von Spannung mit Unlust, die Reduktion dieser Spannung mit Lust einher geht und deshalb im Psychischen eine durchgängige Tendenz besteht – Freud nennt sie Lustprinzip – diese Spannung zu verringern. In einer sehr verdichteten Aussage versucht er nun diesen Vorgang einer Aktivität des »sexuellen Triebes« zu beschreiben: »Eine weitere vorläufige Annahme in der Trieblehre, welcher wir uns nicht entziehen können, besagt, daß von den Körperorganen Erregungen von zweierlei Art geliefert werden, die in Differenzen chemischer Natur begründet sind. Die eine dieser Arten von Erregung bezeichnen wir als die spezifisch sexuelle und das betreffende Organ als die ›erogene Zone‹ des von ihm ausgehenden Partialtriebes« (ebd., 68). – Also: Freud versteht diesen »Trieb« als etwas komplexes, aus Partialtrieben zusammengesetztes. Und: Diese speziellen Körperzonen, die erogenen 10
Für nicht wenige Psychoanalytiker in der Nachfolge Freuds ist diese Differenzierung von Instinkt und Trieb das Bedeutsamste der ganzen freudschen Theorie. So baut etwa Jean Laplanche seine Allgemeine Verführungstheorie ganz auf diesem Gegensatz auf (vgl. Laplanche 1988).
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Zonen (und Freud nennt ausdrücklich Mund und After, aber auch Auge und Haut) »benimmt sich … wie ein Stück des Geschlechtsapparates« (ebd.). Die Tatsache der Existenz von erogenen Zonen (wobei deren Sensitivität, wie wir noch erfahren werden, nicht nur biologisch begründet werden kann) ist ein weiterer Beleg dafür, dass auch die Normsexualität weit mehr ist als »genitale Sexualität«. Wir wollen diese Erste Abhandlung abschließend kommentieren: Die aufkommende Sexualwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts war beherrscht vom Gestus der Klassifikation und Vermessung alles Abweichenden. Mit dieser Tendenz bricht Freud. Seine Darstellung der sexuellen Abirrungen zielt gerade nicht auf eine Pathologie des Sexuellen, sondern darauf, diese Abirrungen zum Leitmotiv für die ganze Entwicklung seiner Sexualtheorie zu machen. Die Abirrungen sind nicht länger einfach pathologisch, sondern sie verkörpern ein bestimmtes Triebschicksal, das in vielfältiger Weise mit dem Normal-Neurotischen verknüpft ist. Mit seiner Aussage »[...] die Neurose ist sozusagen das Negativ der Perversion« macht Freud klar, dass die beiden Triebschicksale von Perversion und Neurose mehr miteinander zu tun haben als bislang gedacht wurde. Und mit der Zweiten Abhandlung kommt Freud auf deren gemeinsame Wurzel zu sprechen: die infantile Sexualität.
Das zweite Kapitel: Die infantile Sexualität Freud beginnt auch hier den Leser bei der »populären Meinung« abzuholen, nämlich, dass »der Geschlechtstrieb … der Kindheit fehle.« Dies sei allerdings »nicht nur ein einfacher, sondern sogar ein folgenschwerer Irrtum« (ebd., 73). Und Freud nimmt für sich in Anspruch, der erste zu sein, der »die Gesetzmäßigkeit eines Sexualtriebes in der Kindheit klar erkannt« hat (ebd., 74).11 Er gibt in der Folge eine Erklärung für diese »merkwürdige Vernachlässigung«; er sieht die Gründe dafür zum einen »in den konventionellen Rücksichten, … zum anderen Teil in einem psychischen Phänomen, welches sich bis jetzt selbst der Erklärung entzogen hat. Ich meine hiemit die eigentümliche Amnesie, welche den meisten Menschen (nicht allen!) die ersten Jahre ihrer Kindheit bis zum 6. oder 8. Lebensjahre verhüllt« (ebd., 75). Freud wird im dritten Abschnitt über Die Umgestaltungen der Pubertät auf dieses Phänomen zurückkommen – und dort seine Ansicht von der grundsätzlich zweiphasigen Sexualentwicklung des Menschen darstellen. Die sexuelle Latenzperiode, wie Freud in der Folge die Jahre vor dem Beginn der Pubertät nennt, haben eben die Wirkung, dass die Erfahrungen und Erlebnisse der frühen Kindheit, insbesondere die sexuellen Erfahrungen, einer Amnesie anheimfallen: »Es scheint gewiß, daß das Neugeborene Keime von sexuellen Regungen mitbringt, die sich eine Zeitlang weiter entwickeln, dann aber einer fortschreitenden Unterdrückung erliegen … Es scheint aber, daß das Sexualleben der Kinder sich zumeist um das dritte oder vierte Lebensjahr in einer der Beobachtung zugänglichen Form zum Ausdruck bringt«
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Heinz Müller-Pozzi bringt den Stellenwert dieser freudschen Innovation auf den Punkt: »Mit der Entdeckung der infantilen, prägenitalen Sexualität erweitert Freud das Feld des Sexuellen und den Begriff der Sexualität in entscheidender Weise. Er löst sie nicht nur aus ihrer funktionalen Verknüpfung mit der Fortpflanzung …, sondern auch aus der Verknüpfung mit dem Genitalen« (Müller-Pozzi 2008, 25).
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(ebd., 77). In der Zeit der Latenz werden, so Freud, die spezifischen Sexualhemmnisse aufgebaut wie Ekel, Schamgefühl und moralische Idealanforderungen. Hier spielt die Erziehung eine wichtige Rolle, wenngleich Freud glaubt, dass »in Wirklichkeit« die Basis für den Aufbau dieser Hemmnisse »eine organisch bedingte, hereditär fixierte« ist (ebd., 78). Peter Passett zieht aus dieser freudschen Entdeckung der zweiphasigen sexuellen Entwicklung des Menschen eine Schlussfolgerung in die andere Richtung: » … so muss man die Entstehung der Sexualität beim Menschen als ein geschichtliches Ereignis verstehen und nicht als das Ergebnis einer naturhaften Entwicklung« (Passett 2005, 48). Diese Schlussfolgerung scheint uns plausibel, ist es doch gerade der Effekt dieser Zweiphasigkeit, dass die menschliche Sexualität durch diese verlängerte Öffnung in einzigartiger Weise plastisch, variabel und durch kulturelle Einflüsse formbar bleibt. Wie zeigt sich nun diese infantile Sexualität? Freud beginnt mit dem »Ludeln« bzw. »Lutschen« des Säuglings. Es besteht »in einer rhythmisch wiederholten saugenden Berührung mit dem Munde (den Lippen), wobei der Zweck der Nahrungsaufnahme ausgeschlossen ist…. Das Wonnesaugen … führt entweder zum Einschlafen oder selbst zu einer motorischen Reaktion in einer Art von Orgasmus. Nicht selten kombiniert sich mit dem Wonnesaugen die reibende Berührung gewisser empfindlicher Körperstellen, der Brust, der äußeren Genitalien. Auf diesem Wege gelangen viele Kinder vom Ludeln zur Masturbation« (Freud 1905b, 80f). Freud ist es wichtig zu betonen, dass dieser Trieb »nicht auf eine andere Person gerichtet ist; er befriedigt sich am eigenen Körper, er ist autoerotisch« (ebd., 81f). Bei dieser Beschreibung wird deutlich, dass Freud das Sexuelle nicht am Genitalen festmacht, sondern dass ein anderes Kriterium für ihn entscheidend ist – die Lust: »Es ist ferner deutlich, daß die Handlung des lutschenden Kindes durch das Suchen nach einer – bereits erlebten und nun erinnerten – Lust bestimmt wird. Durch das rhythmische Saugen an einer Haut- oder Schleimhautstelle findet es dann im einfachsten Falle die Befriedigung« (ebd., 82). Das Saugen an der Mutterbrust ist also – neben der Funktion der Nahrungsaufnahme – von dieser Art von Lustgewinn getrieben. Die Lippen des Kindes spielen dabei die Rolle einer erogenen Zone. – Interessant ist auch die Bemerkung Freuds, wonach sich bei dieser frühesten Manifestation der infantilen Sexualität diese an die lebenserhaltende Funktion des Hungers, welche Freud in der Folge den Ichtrieben zuordnet, anlehnt. Der spätere Erwachsene als »Kußfeinschmecker«, aber auch die neurotischen Reaktionsbildungen wie Essstörungen bringt Freud mit diesen frühesten Erfahrungen von sexueller Lust in Verbindung: »Viele meiner Patientinnen mit Eßstörungen, hysterischem Globus, Schnüren im Hals und Erbrechen waren in den Kinderjahren energische Ludlerinnen gewesen« (ebd., 83). Drei wesentliche Merkmale der infantilen Sexualität werden betont: »Dieselbe entsteht in Anlehnung an eine der lebenswichtigen Körperfunktionen, sie kennt noch kein Sexualobjekt, ist autoerotisch, und ihr Sexualziel steht unter der Herrschaft einer erogenen Zone« (ebd.). Freud fügt hier noch die Beobachtung an, dass die Erogenität eine
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große Verschiebbarkeit aufweist, was bedeutet, dass im Prinzip jede andere Körperstelle diese Funktion übernehmen kann.12 Mit diesem Konzept der erogenen Zonen bahnt Freud einen neuen Weg zum Verständnis der menschlichen Sexualität, indem er beschreibt, wie der Körper eines Neugeborenen zu einem sexuellen, einem sexuell erregbaren Körper wird. Die Sexualität, das Streben nach Lust und Befriedigung, wird dem Körper gleichsam – aber auf eine je singuläre Weise – eingeschrieben. Warum auf eine singuläre Weise? Wie Freud oben schreibt, wird nicht aus jedem Säugling ein »Kußfeinschmecker«. Dazu braucht es spezifische frühkindliche Erfahrungen, die auch mit dem Objekt zu tun haben. Wir müssen also Freuds These der Objektlosigkeit näher betrachten. In Freuds an der Physiologie orientierten Sichtweise kann letztlich jedes Sinnesorgan, ja sogar jede äußere oder innere Körperstelle erogen werden. Wie kommt es aber zu dieser Erogenität? Zwar können wir Freud zustimmen, dass letztlich jeder Sinnesreiz erogen wirken kann, aber es braucht offenbar noch zusätzliche Bedingungen. Und diese haben – so sehen es viele zeitgenössische Autoren – mit dem Befriedigungsobjekt zu tun. Lesen wir nochmals Freud: Seine diesbezügliche Argumentation ist alles andere als einfach. Einerseits insistiert er darauf, dass die Autoerotik die Präsenz eines Objekts nicht benötigt, sie folglich auch nicht mit sexuellen Phantasien zu tun hat, da Phantasie immer ein Objekt impliziert. Es soll sich vielmehr um eine physisch lustvolle Handlung drehen, die ihren Ursprung im Trieb und der Erregbarkeit der erogenen Zonen hat. Andererseits sagt Freud, dass es eine Art Urhandlung gibt, die das Ludeln zur Folge hat, nämlich das Saugen an der mütterlichen Brust. Die Brust oder auch eines ihrer Surrogate wäre dabei aber nur ein Ding, mit Hilfe dessen das Kind entdeckt, dass Saugen und Lutschen Lust bereitet. Oder anders gesagt: Indem das Kind an der Brust saugt, fungieren seine Lippen als erogene Zone – und dies bedeute, dass die Beziehung zur Brust bzw. die Bindung an das Objekt für die infantile Sexualität nicht wesentlich ist. Die Brust ist nur das Mittel zum Zweck im Vorgang der Entdeckung und Entwicklung der autoerotischen Lust.13 Freuds Ansicht, die ihm etwa bei Laplanche den Vorwurf eingebracht hat, seine Auffassung sei ipsozentrisch, ist aber nicht so eindimensional. So schreibt er ja in diesem Text, dass zunächst der Sexualtrieb sich an die Nahrungsaufnahme anlehne und ein Sexualobjekt außerhalb des eigenen Körpers habe, die Mutterbrust. Aus diesem Grund sei das Saugen an dieser Brust auch das Modell für alle späteren Objektbeziehungen – und jede spätere Objektfindung »eigentlich eine Wiederfindung« (Freud 1905b, 123). Diese Aussage widerspricht aber nur scheinbar dem, was Freud über den grundsätzlichen Autoerotismus und die Objektlosigkeit der infantilen Sexualität sagt. Erst mit Beginn der Pubertät richtet sich die Sexualität auf ein Objekt. Wenn dies dann der Fall ist, werden die erogenen Zonen aus der Perspektive jugendlicher objektbezogener Sexualität neu besetzt. »Die Brust kann nun eine Bedeutung annehmen, die ihr zuvor nicht hatte
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In einer 1915 hinzugefügten Fußnote schreibt er: »Weitere Überlegungen und die Verwertung anderer Beobachtungen führen dazu, die Eigenschaft der Erogenität allen Körperstellen und inneren Organen zuzusprechen« (ebd., 85). Zu einer deutlich anderen Schlussfolgerung kommt Jean Laplanche: Für ihn ist die kindliche autoerotische Tätigkeit wesentlich phantasmatisch (vgl. Laplanche 2006).
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zukommen können. Daher erlangt das Saugen an der Brust nur nachträglich, in der Pubertät, seinen paradigmatischen Wert« (van Haute, Westerink 2015, 34). Aus Freuds Festlegung, dass die infantile Sexualität wesentlich autoerotisch ist, sollten wir nicht vorschnell ableiten, dass Phantasien in der Sexualentwicklung keine wesentliche Rolle spielen. Im unmittelbar nach den Drei Abhandlungen verfassten Text Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen schreibt Freud, dass ihm in den Jahren vor 1905 die Bedeutung der Konstitution und erblicher Faktoren aber auch die Rolle, die die Phantasie bei der Entwicklung von neurotischen Symptomen spielt, immer deutlicher bewusst geworden waren (vgl. Freud 1905c, 149f). Freuds Abhandlung über den Fall Dora, die er im selben Jahr wie die Drei Abhandlungen veröffentlichte und die wie ein klinisches Gegenstück gelesen werden kann, kann vielleicht helfen, diese Problematik noch besser zu beleuchten. Freud bringt Doras Hustensymptom mit sechzehn Jahren mit einer Fellatio-Phantasie, die sie verdrängt, in Verbindung. Für Freud ist dabei evident, dass sich diese Phantasie erst in der Pubertät entwickeln kann. Während Herrn K’s Liebeserklärung am See mit sechzehn Jahren erinnert sich Dora an eine frühere Verführungsszene durch denselben Mann. Damals versuchte er sie zu umarmen und sie fühlte dabei – so Freuds Annahme – seinen erigierten Penis an ihrem Körper. Freud nimmt nun an, dass Dora diese Wahrnehmung verschoben hat – von der Genitalzone in die Mundzone, die Unlust wurde dabei zum Ekel. – Warum gerade zur Mundzone? Freuds Erklärung geht auf Doras Kindheit zurück. Sie sei damals eine enthusiastische Daumenlutscherin gewesen, sodass ihre Mundzone dazu prädestiniert war, in ihrem Erwachsenenleben eine entsprechende Rolle zu übernehmen. In Doras jugendlicher Sexualität spiele die Mundzone und deren Verdrängung eine dominante Rolle. Es ist also diese ursprüngliche Szene und deren Aktualisierung durch die zweite Liebesszene mit sechzehn, die einen Teil der unbewussten Determinierung ihres Hustensymptoms ausmacht. Die andere Verursachung rührt Freud zufolge aus Doras intensiver Beschäftigung mit dem heimlichen Liebestreiben zwischen ihrem Vater und Frau K: »[...] daß sie sich mit ihrem stoßweise erfolgenden Husten, der wie gewöhnlich einen Kitzel im Halse als Reizanlaß angab, eine Situation von sexueller Befriedigung per os zwischen den zwei Personen vorstellte, deren Liebesbeziehung sie unausgesetzt beschäftigte« (Freud 1905d, 207). – So erklärt sich Freud, warum Sexualität erst mit der Pubertät ein Objekt erlangt und phantasmatisch wird, und dass folglich bei Neurosen unbewusste Phantasien eine entscheidende Rolle bei der Pathogenese spielen. – Einmal mehr wird hier Freuds Konzept der Nachträglichkeit, das er ja schon im Entwurf entwickelt hat, klinisch bedeutsam – ein Konzept, das für Freuds Verständnis der Pubertät, wie wir noch sehen werden, ebenfalls grundlegend ist. Freuds nächste Frage lautet: Was ist nun aber das Sexualziel des Kindes? Es geht um die »Befriedigung durch die geeignete Reizung.« Worin aber besteht diese Befriedigung? Freud greift auf sein schon in den Studien, vor allem aber im Entwurf entwickeltes Modell der Homöostase zurück: Es geht um ein »eigentümliches Spannungsgefühl«, das durch einen entsprechenden äußeren Reiz aufgehoben wird, »indem er die Empfindung der Befriedigung hervorruft« (Freud 1905b, 85). Aus diesem primären Befriedigungserlebnis hatte Freud im Entwurf bekanntlich sein Konzept der halluzinatorischen Wunscherfüllung abgeleitet: Der Wunsch geht auf eine Erinnerung zurück. Er besteht in der Besetzung eines Erinnerungsbildes (an eine Befriedigungssituation). Es ist das
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Objekterinnerungsbild, die Brust, die sexuelle Brust, die von der Wunschbelebung getroffen und aktiviert wird. Indem Freud in den Drei Abhandlungen von einem äußeren Reiz spricht, vernachlässigt er die Bedeutung des Befriedigungsobjekts. Ilka Quindeau fokussiert eben dieses: »Betont wird mit dieser Sichtweise der Primat des Anderen … die psychische Struktur gründet in Sozialität … Pointiert ausgedrückt könnte man formulieren, dass das Begehrtwerden dem Begehren vorausgeht« (Quindeau 2005, 204f).14 Freud kommt jetzt auf eine andere erogene Zone zu sprechen – die Zone des Afters. »Die Afterzone ist ähnlich wie die Lippenzone durch ihre Lage geeignet, eine Anlehnung der Sexualität an andere Körperfunktionen zu vermitteln. Man muß sich die erogene Bedeutung dieser Körperstelle als ursprünglich sehr groß vorstellen« (Freud 1905b, 86). Freud verweist darauf, dass die häufigen Darm- und Verdauungsstörungen der Kinderjahre dafür sorgen, »daß es der Zone an intensiven Erregungen nicht fehle« (ebd.). Auch das Zurückhalten von Harn und Stuhl bringe dem Kind neben den schmerzhaften unzweifelhaft auch Lustempfindungen. Zudem vermutet Freud, dass der Stuhl für das Kind bald auch die Bedeutung eines »ersten Geschenks« annimmt, das es geben oder verweigern kann. Hinzu kommt die häufige masturbatorische Reizung der Afterzone. Schließlich entdeckt das Kind auch »die Säuglingsonanie, der kaum ein Individuum entgeht,« womit auch »das künftige Primat dieser erogenen Zone für die Geschlechtstätigkeit festgelegt wird« (ebd., 89). Alle diese frühkindlichen sexuellen Erfahrungen hinterlassen tiefe Spuren im Gedächtnis und bestimmen damit in hohem Maß die weitere Entwicklung. Freud erkennt dabei durchaus an, dass es neben den konstitutionellen auch äußere Faktoren gibt, die diese frühen sexuellen Erfahrungen beeinflussen. Er betont vor allem den Einfluss der frühen »Verführung, die das Kind vorzeitig als Sexualobjekt behandelt« (ebd., 91), und er weist darauf hin, dass er schon in seiner Abhandlung Über die Ätiologie der Hysterie von 1896 diesen Faktor der sexuellen Verführung ausdrücklich hervorhob. »Es ist lehrreich, daß das Kind unter dem Einfluß der Verführung polymorph pervers werden, zu allen möglichen Überschreitungen verleitet werden kann. Dies zeigt, daß es die Eignung dazu in der Anlage mitbringt« (ebd.). Die Anlage zum Polymorph-Perversen bringt also jeder Mensch mit. Und außerdem verschwindet diese polymorph-perverse Veranlagung nicht mit der Kindheit: Ob verdrängt oder sublimiert, sie besteht als latente oder manifeste Möglichkeit bei jedem Erwachsenen weiter: »[...] es wird endgül-
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Diese Betonung eines primären sexuellen Objekts kann sich durchaus auf Freud berufen. An einer späteren Stelle schreibt er: »[...] die Pflegeperson – in der Regel die Mutter – bedenkt das Kind selbst mit Gefühlen, die aus ihrem Sexualleben stammen, es streichelt, küßt und wiegt und ganz deutlich zum Ersatz für ein vollgültiges Sexualobjekt nimmt« (Freud 1905b, 124). – Es sind Textstellen wie diese, die Jean Laplanche für seine Argumentation der Allgemeinen Verführungstheorie verwendet, die ja vom Primat des Anderen, eines sexuellen Anderen, der für die Entstehung des Triebes konstituierend sein soll, ausgeht: »Unserer Ansicht nach kommt das mütterliche Unbewußte im Akt des Säugens mit ins Spiel ... man ist bei der Frage, was, mit der Einführung der Brust, als teilweise unbewußte Botschaft der Mutter an das Kind weitergereicht wird« (Laplanche 2006, 1015). In Freuds Text findet sich aber auch eine gegenteilige Stellungnahme: »Es ist selbstverständlich, daß es der Verführung nicht bedarf, um das Sexualleben des Kindes zu wecken, daß solche Erweckung auch spontan aus inneren Ursachen vor sich gehen kann« Freud 1905b, 91).
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tig unmöglich, in der gleichmäßigen Anlage zu allen Perversionen nicht das allgemein Menschliche und Ursprüngliche zu erkennen« (ebd., 92). Was ist mit diesem Polymorph-Perversen gemeint? Freud geht es darum, dass beim Kind eine ganze Serie von Partialtrieben (oral, anal, phallisch, voyeuristisch, exhibitionistisch, sadistisch etc.) in »größter Unabhängigkeit« nebeneinander existieren – und noch nicht zentriert, aber auch nicht durch die späteren Hemmungen und Verdrängungen blockiert sind. Der Ausdruck »polymorph« unterstreicht also die große Vielfalt der erogenen Zonen und Teiltriebe; das »pervers« spielt darauf an, dass vom konventionellen Standpunkt der erwachsenen Normsexualität aus diese zahlreichen nicht-genitalen Partialtriebe als Abirrungen imponieren. Der folgende Unterabschnitt über die infantile Sexualforschung ist erst in den späteren Auflagen dazugekommen. Freud versucht hier zu rekonstruieren, wie sich der frühkindliche »Wiß- oder Forschertrieb« die zentralen sexuellen Phänomene wie Geschlechtsverkehr, Zeugung und Geburt vorstellt. Dabei kommt Freud auf die Annahme zu sprechen, dass beide Geschlechter anfangs von der »Annahme des nämlichen (männlichen) Genitales bei allen Menschen« ausgehen. Die Entdeckung der tatsächlichen Beschaffenheit des weiblichen Genitales führe beim Buben zum Kastrationskomplex, beim Mädchen zum Penisneid.15 Häufig sei auch die Vorstellung, dass der Sexualakt ein sadistischer Gewaltakt sei: Die Kinder kämen aus der Brust, aus dem After, aus dem Nabel, würden der Mutter aus dem Leib geschnitten. Auch der folgende Abschnitt über die Entwicklungsphasen der sexuellen Organisation ist erst später hinzugefügt worden. Freud geht hier davon aus, dass das Kind eine Reihe von Entwicklungsschritten durchläuft, in denen jeweils ein Partialtrieb bzw. eine erogene Zone vorherrschend sind. Die frühen Stufen, bevor die Genitalzone wichtig wird, nennt Freud prägenitale. Die erste solche Phase bezeichnet er als oral-kannibalistische. Das Sexualziel bestehe hier in der Einverleibung des Objekts, was Freud später als frühe oder auch primitive Identifizierung bezeichnet. Die darauf folgende Phase nennt Freud die sadistisch-anale: »In dieser Phase sind also die sexuelle Polarität« (Freud spricht hier ausdrücklich noch nicht von männlich und weiblich, sondern von aktiv und passiv) »und das fremde Objekt bereits nachweisbar« (ebd., 99). Diese Polarität wird sich später als Ambivalenz äußern. In dieser Zeit des zweiten und dritten Lebensjahres glaubt Freud auch eine erste deutliche Objektwahl zu erkennen. Er versteht darunter, »daß sämtliche Sexualstrebungen die Richtung auf eine einzige Person nehmen, an der sie ihre Ziele erreichen wollen« (ebd., 100). Es kommt also schon hier zu einer gewissen Zentrierung der Partialtriebe, freilich noch nicht unter dem Primat der Genitaltriebe, den Freud 1905 noch der Entwicklungsphase der Pubertät zuordnet. – In einer 1924 hinzugefügten Fußnote schreibt er allerdings von einer dritten prägenitalen Phase, die er die phallische nennt: »Sie kennt nämlich nur eine Art von Genitale, das männliche« (ebd., 100). – Diese erste Objektwahl tritt in der Latenzzeit zurück; in der Pubertät kommt es dann zu einer neuerlichen Objektwahl, die allerdings von dieser ersten Objektwahl mitbestimmt ist. 15
Diese Auffassung Freuds zur Frage der unterschiedlichen Entwicklung der beiden Geschlechter hat schon früh Kritik hervorgerufen. – Wir werden an späterer Stelle noch auf diese Debatte zurückkommen.
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Zum Ende dieses Kapitels nimmt Freud eine weitere Ausdehnung des Begriffs des Sexuellen vor: Alle intensiven Affektvorgänge, aber auch die »Konzentration der Aufmerksamkeit auf eine intellektuelle Leistung« haben »eine sexuelle Miterregung« zur Folge (ebd., 104f). Wenn Freud auch die Quellen der Sexualerregung rätselhaft bleiben (er vermutet sie primär im Körperlichen), so bekennt er sich andererseits zu einer großen Plastizität und Verschiebbarkeit des Sexuellen: Letztlich erscheinen ihm alle mit großer psychischer Energie ausgestatteten menschlichen Regungen und Handlungen von sexuellen Trieben wesentlich motiviert bzw. mitgestaltet.
Das dritte Kapitel: die Umgestaltungen der Pubertät Die grundlegenden Veränderungen in dieser Entwicklungsphase beschreibt Freud erst einmal so: »Der Sexualtrieb war bisher vorwiegend autoerotisch, er findet nun das Sexualobjekt. Er betätigte sich bisher von einzelnen Trieben und erogenen Zonen aus … Nun wird ein neues Sexualziel gegeben, zu dessen Erreichung alle Partialtriebe zusammenwirken, während die erogenen Zonen sich dem Primat der Genitalzone unterordnen« (ebd., 108). In diesen Sätzen wird deutlich, dass Freud jetzt in den normativen Setzungen der damaligen Sexualmoral, der Heteronormativität angekommen ist: »Das neue Sexualziel besteht beim Manne in der Entladung der Geschlechtsprodukte … Der Sexualtrieb stellt sich jetzt in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion; er wird sozusagen altruistisch« (ebd., 109).16 Diese These, wonach die sexuelle Entwicklung des Menschen letztlich dahin geht, die autoerotischen Praktiken und die Partialtriebe dem Genitalprimat unterzuordnen, lässt sich allerdings auch anders interpretieren: Wir können Freud hier als teleologischen Denker verstehen, der seine Sexualtheorie jenseits der Rücksichtnahme auf gesellschaftliche Konventionen auf das Ziel der Fortpflanzung der Gattung hin konzipierte. Seine durch das ganze weitere Werk sich ziehenden Analogieschlüsse zwischen Phylogenese und Ontogenese weisen in diese Richtung eines durch den »Trieb« im Individuum wirkenden phylogenetischen Telos, der Reproduktion der Gattung. Die Partialtriebe sind dabei nicht völlig verschwunden; sie dienen jetzt primär der Vorlust, haben sich aber dem neuen Sexualziel unterzuordnen, das die Endlust im genitalen Akt darstellt. Während in der Kindheit die Genitalzone wie jede andere Zone unabhängig voneinander ihre Lust suchten, übernimmt mit der Pubertät die Genitalzone die Vorherrschaft. Die anderen Partialtriebe bleiben nach wie vor aktiv, allerdings werden sie zentriert, ihre Funktion ist nun die Gewährleistung der Vorlust, während der genitale Triebanteil nun für die orgiastische Lust, die Freud als Endlust bezeichnet, verantwortlich ist. Interessant erscheint, wie Freud das Zusammenspiel von Sexualziel und Sexualobjekt konstruiert. Solange er nämlich den Unterschied zwischen der Genitalzone und
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In diese Richtung geht etwa die Einschätzung von Martin Dannecker: »Mit diesem Satz manövriert sich Freud in einen offenen Widerspruch zu seiner Trieblehre« (Dannecker 2005, 86). Er bezeichnet die obige Aussage Freuds »als den bürgerlichen Hauptsatz von Freud…. Schon das von Freud geforderte Entwicklungsziel, die Errichtung des Primats der Genitalzonen, ist in höchstem Maße normativ« (ebd., 85).
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den anderen erogenen Zonen ausschließlich als Differenz zwischen verschiedenen Arten der Lust versteht, muss er keine notwendige Beziehung der Triebe zu einem spezifischen Objekt postulieren. Sowohl ein hetero- als auch ein homosexuelles Objekt kann die Funktion erfüllen, die »Endlust« zu garantieren. Aus der Perspektive der Lust ist das Geschlecht des Objekts irrelevant.17 – Aber Freud vollzieht hier einen folgenreichen Wechsel in seiner Argumentation. Er schwenkt auf die funktionalistische Sichtweise, die die damalige psychiatrische und sexualwissenschaftliche Auffassung war und die er bislang energisch bekämpft hatte, ein. Freud bleibt im Grunde eine Erklärung für diese zwei für die Umgestaltung der Pubertät essentiellen Veränderungen schuldig. Weder wird klar, warum das Objekt des Genitaltriebes nun ein heterosexuelles sein muss, noch wird geklärt, warum die Genitalzone als solche überhaupt diesen »Primat« bekommen soll. – Vermutlich bringt Freud eine andere Fragestellung zu diesem Positionswechsel. In den bisherigen Abschnitten hatte er Sexualität ohne explizite Bezugnahme auf die Geschlechterdifferenz beschrieben. Nach seiner Auffassung erlangt diese Differenz erst in der Pubertät wirkliche Bedeutung; eben dann, wenn es um die endgültige Objektfindung geht. Die Einführung dieser Differenz ist darüber hinaus auch mit den unterschiedlichen Rollen verbunden, die die beiden Geschlechter in der Fortpflanzung spielen: »Da das neue Sexualziel den beiden Geschlechtern sehr verschiedene Funktionen anweist, geht deren Sexualentwicklung nun weit auseinander« (ebd., 108). Damit ist Freud auf die Linie des damals herrschenden Paradigmas der Sexualwissenschaft eingeschwenkt. Freilich gibt es in dieser dritten Abhandlung auch Textstellen, die den Eindruck erwecken, dass Freud die Konsequenzen seiner hier getroffenen Argumentation nicht wirklich akzeptieren möchte. So schreibt er etwa am Beginn des Abschnittes über Das Primat der Genitalzonen und die Vorlust: »Von dem beschriebenen Entwicklungsgang liegen Ausgang und Endziel klar vor unseren Augen. Die vermittelnden Übergänge sind uns noch vielfach dunkel; wir werden an ihnen mehr als ein Rätsel bestehen lassen müssen« (ebd., 109). Freud spricht dann von der »Gefahr«, wenn bestimmte Aspekte der Vorlust so dominant bleiben, dass es zu einer Fixierung kommt, was er als Charakteristikum der erwachsenen Perversionen ansieht: »Solcherart ist in der Tat der Mechanismus vieler Perversionen, die ein Verweilen bei vorbereitenden Akten des Sexualvorganges darstellen« (ebd., 113). Der folgende Abschnitt über Die Libidotheorie ist erst den späteren Auflagen ab 1915 hinzugefügt. Freud wiederholt zunächst seine Definition, die wir schon vom Beginn seines ersten Kapitels her kennen: »Wir haben uns den Begriff der Libido festgelegt als einer quantitativ veränderlichen Kraft, welche Vorgänge und Umsetzungen auf dem Gebiete der Sexualerregung messen könnte« (ebd., 118). Er grenzt sich damit deutlich von Jungs Gebrauch des Begriffs ab, indem er an einem Triebdualismus festhält: »Diese
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Wäre Freud bei dieser Position, die eigentlich konsequent seine Sichtweise aus den bisherigen Gedankengängen fortschreibt, geblieben, wäre es ihm möglich gewesen, seine Dekonstruktion des Verhältnisses zwischen Normalität und Pathologie fortzusetzen. Aber dies tut er nicht. Er verknüpft den Begriff der Endlust mit dem Konzept der heterosexuellen Objektwahl. – Und diese veränderte Sichtweise antizipiert Freuds spätere Fokussierung auf den Ödipuskomplex.
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Libido sondern wir von der Energie, die den seelischen Kräften allgemein unterzulegen ist, mit Beziehung auf ihren besonderen Ursprung, und verleihen ihr so auch einen qualitativen Charakter« (ebd.).18 Er unterscheidet ja seit 1905 zwischen sexueller und Ichlibido, differenziert bei letzterer (ab 1914) zwischen Objektlibido und narzisstischer Libido. Mit Letzterer bezeichnet er jene Energie, die von den Objekten abgezogen und ins Ich zurückgeholt wird.19 Freuds Anspruch ist es, »alle beobachteten Phänomene und erschlossenen Vorgänge in den Termini der Libidoökonomie auszudrücken« (ebd., 119). Er meint damit sowohl die »normalen« als auch die »pathologischen« Phänomene und Entwicklungsgänge. – Die Anfänge der Libidotheorie gehen auf die frühen Neunziger Jahre zurück, als Freud im Zusammenhang mit den Aktualneurosen auf die Bedeutung der Sexualität stieß. Als er aber diese Bedeutung bei allen anderen Neurosen erkannte, wandte er seine Aufmerksamkeit mehr der psychischen Seite des Triebes zu. »Die Theorie wurde dann Schritt für Schritt, seiner wachsenden Erfahrung entsprechend, ausgebaut. Da war die Rolle des Autoerotismus in der Kindheit mit dem Begriff der ›erogenen Zonen‹ außerhalb der genitalen Körperteile, die Bedeutung der vorzeitigen Erregung durch Erwachsene und dann das Wichtigste, die Erkenntnis der reichen Sexualphantasien beim Kinde, von denen er früher angenommen hatte, sie begännen erst nach der Pubertät« (Jones 1962, 337). Auch in seinem Text von 1917, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, bekräftigt Freud seine Auffassung von einem grundsätzlichen Triebdualismus: »Die populäre Auffassung trennt Hunger und Liebe als Vertreter der Triebe, welche das Einzelwesen erhalten, und jener, die es fortzupflanzen streben. … unterscheiden wir auch in der Psychoanalyse die Selbsterhaltungs- oder Ich-Triebe von den Sexualtrieben und nennen die Kraft, mit welcher der Sexualtrieb im Seelenleben auftritt, Libido – sexuelles Verlangen – als etwas dem Hunger, dem Machtwillen u. dgl. bei den Ich-Trieben Analoges« (Freud 1917, 4). Im folgenden Abschnitt versucht Freud die unterschiedlichen Entwicklungsprozesse bei Frau und Mann zu erklären.20 Diese Unterschiedlichkeit beginnt – so Freud – schon in der frühen Kindheit. Er nimmt an, dass beim Mädchen die Sexualhemmungen (Scham- und Ekelschwelle etc.) frühzeitiger und heftiger ausgebildet werden: »[...] die Neigung zur Sexualverdrängung erscheint überhaupt größer; wo sich Partialtriebe der Sexualität bemerkbar machen, bevorzugen sie die passive Form« (ebd., 120).21 Und weiter: Die phallische Sexualität des Mädchen ist männlich, die leitende erogene Zone
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So schreibt er ausdrücklich: »Man verzichtet aber auf allen Gewinn aus der bisherigen psychoanalytischen Beobachtung, wenn man nach dem Vorgang von C.G.Jung den Begriff der Libido selbst verflüchtigt, indem man sie mit der psychischen Triebkraft überhaupt zusammenfallen läßt« (ebd., 120). Diese Differenzierung ist eine Konsequenz aus Freuds neuen Einsichten, die er in seinem Artikel Zur Einführung des Narzißmus von 1914 systematisch dargestellt hat. Es ist wohl in erster Linie dieser Abschnitt, der in der analytischen community schon zu Freuds Zeiten und bis heute die schärfste Kritik erfahren hat. Dies wohl primär deshalb, weil Freud hier seinen Anspruch, seine Theorie des Sexuellen von kulturellen Normen frei zu halten, über weite Strecken verloren hat. Dass Freud diese Phänomene an seinen Patientinnen »richtig« beobachtet hat, steht wohl außer Zweifel. Er hat allerdings die auch kulturell geprägten Geschlechterverhältnisse seiner Zeit immer wieder unbemerkt ontologisiert.
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sei die Klitoris.22 Allerdings relativiert Freud in einer 1915 angefügten Fußnote wieder: Die Begriffe »männlich« und »weiblich« seien die verwirrendsten überhaupt, bald im Sinne von »aktiv« und »passiv« gebraucht, »bald im biologischen und dann auch im soziologischen Sinne« (ebd., 121, Fn.1). Diese Fußnote mündet in die Feststellung, »daß weder im psychologischen noch im biologischen Sinne eine reine Männlichkeit oder Weiblichkeit gefunden wird. Jede Einzelperson weist vielmehr eine Vermengung ihres biologischen Geschlechtscharakters mit biologischen Zügen des anderen Geschlechts und eine Vereinigung von Aktivität und Passivität auf« (ebd.). Wir erinnern uns: Freud geht von einer grundsätzlich bisexuellen Anlage aus, insofern sind die beiden Geschlechter immer etwas Relatives. Die konkrete Sexualität eines Menschen ist letztlich singulär, da sie das je einmalige Ergebnis der immer auch veränderlich bleibenden Kompromissbildungen zwischen dessen biologischer Konstitution und dessen psychosozialer Geschichte ist. – Aber die Rätselhaftigkeit und theoretische Inkonsistenz, was die Verbindung und Vermischung von biologischen, psychischen und kulturell-sozialen Faktoren betrifft, bleibt. In der Phase der Pubertät gehen die beiden Geschlechter – so Freud – endgültig unterschiedliche Wege. So ist das weitere »Schicksal« des Mädchens, dass sie ihre Klitoriserregbarkeit verdrängen muss, es gilt »diese Erregung an die benachbarten weiblichen Teile weiter zu leiten« (ebd., 122). »In diesem Wechsel der leitenden erogenen Zone sowie in dem Verdrängungsschub der Pubertät, der gleichsam die infantile Männlichkeit beiseite schafft, liegen die Hauptbedingungen für die Bevorzugung des Weibes zur Neurose, insbesondere zur Hysterie« (ebd., 123). – Wir sehen: Die Frau hat es in dieser Perspektive schwer: Sie ist ursprünglich ein Mann (allerdings nur mit einem kleinen Penis); sie muss diesen als ihre bevorzugte Lustquelle aufgeben – was viele Frauen nicht tun – daher ihre häufige Anästhesie bzw. ihre erhöhte Neigung zur Neurose.23 Bemerkenswert scheint uns, dass in Freuds Darstellung von 1905 der Begriff des Ödipuskomplexes nicht vorkommt. Erst in der Ausgabe von 1920 heißt es: »Man sagt mit Recht, daß der Ödipuskomplex der Kernkomplex der Neurosen ist… In ihm gipfelt die infantile Sexualität… Jedem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen« (ebd., 127, Fn.2). Tatsächlich hätte ein Einbau des Ödipuskomplexes in die Sexualtheorie eine Verstärkung eines Gedankenkonzepts bewirkt, das Moll das »teleologische Prinzip« nannte: eine Entwicklungsperspektive, die ihre Vollendung in einer heterosexuellen Beziehung findet. Damit wären (bzw. sind) die
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In der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse differenziert Freud seine Auffassung, wonach es zwar eine sexuelle Polarität von männlich und weiblich gibt, aber keine geschlechtsspezifische Libido, jedoch mit einer interessanten Modifikation gegenüber seiner Positionierung von 1905: »Aber nichts dergleichen ist der Fall. Es gibt nur eine Libido, die in den Dienst der männlichen wie der weiblichen Sexualfunktion gestellt wird. Wir können ihr selbst kein Geschlecht geben« (Freud 1933a, 141). Freuds damaliges Verständnis der weiblichen sexuellen Entwicklung kann vielleicht so zusammengefasst werden: »Trotz seiner Anerkennung der menschlichen Polysexualität ist Freuds Prototyp eines begehrenden Subjekts männlich … Begehrende Subjekte müssen männlich sein, und sie sind männlich in den drei Bedeutungen, die er sonst auseinanderhält, nämlich im Sinne der Biologie, der Aktivität und der Gesellschaft« (Flax 2001, 74).
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Drei Abhandlungen, die ihren Ausgangspunkt mit einer radikalen Kritik der »populären Theorie« nahmen, in einer letztendlichen Verteidigung derselben gemündet. Freuds nächstes Thema ist die Objektfindung. Er erinnert nochmals an die früheste Kindheit: »Als die anfänglichste Sexualbefriedigung noch mit der Nahrungsaufnahme verbunden war, hatte der Sexualtrieb ein Sexualobjekt außerhalb des eigenen Körpers in der Mutterbrust. Er verlor es nur später, vielleicht gerade zu der Zeit, als es dem Kind möglich wurde, die Gesamtvorstellung der Person, welcher das ihm Befriedigung spendende Organ angehörte, zu bilden. Der Geschlechtstrieb wird dann in der Regel autoerotisch« (ebd., 123). -Über diese frühen Erfahrungen, wo das Sexuelle sich in Anlehnung entwickelt, macht Freud dann eine erstaunliche Bemerkung: »Der Verkehr des Kindes mit seiner Pflegeperson ist für dasselbe eine unaufhörlich fließende Quelle sexueller Erregung und Befriedigung von erogenen Zonen aus, zumal da letztere – in der Regel doch die Mutter – das Kind selbst mit Gefühlen bedenkt, die aus ihrem Sexualleben stammen, es streichelt, küßt und wiegt und ganz deutlich zum Ersatz für ein vollgültiges Sexualobjekt nimmt« (ebd., 124). Erstaunlich ist diese Textstelle deshalb, weil Freud hier ganz explizit die Rolle eines äußeren Objekts bei der Etablierung der kindlichen Sexualität anerkennt.24 D.h. der häufig gegen Freud vorgebrachte Vorwurf, er stelle die kindliche Entwicklung als eine quasi »autistische« dar, ohne Beachtung der intersubjektiven Vorgänge, wird durch diese Textstelle jedenfalls relativiert. Jetzt – in der Zeit der Pubertät – geht es um eine neuerliche Objektfindung und diese ist – so Freud – »eigentlich eine Wiederfindung« (ebd., 123). Warum »Wiederfindung«? Haben wir nicht bisher Freud so gelesen, dass die infantile Sexualität autoerotisch und damit objektlos ist? Eine mögliche Deutung dieser Widersprüchlichkeit wäre die folgende: Am Beginn des menschlichen Lebens war über den Vorgang der Anlehnung die erste Sexualbefriedigung mit der Nahrungsaufnahme verbunden – und diese auch an ein Objekt, das zugleich Ich-Objekt und Sexualobjekt ist, eben die mütterliche Brust gebunden. Dieses Objekt musste (vielleicht über den Vorgang des Abstillens) aufgegeben werden. Aber das Modell für alle späteren Formen der Objektsuche wären in dieser frühesten Erfahrung mit der Mutterbrust zu suchen. Folgende Differenzierung scheint uns dabei wichtig: Welches Objekt geht hier verloren? Vielleicht ist es der Verlust des Zustandes, den Freud später »primären Narzißmus« nennen wird. So jedenfalls argumentiert Heinz Müller-Pozzi: »Eines ist sicher: Was Freud im Rahmen der Entstehung der infantilen Sexualität Objektverlust nennt, ist nicht der reale Verlust des Anderen und ist nicht physische Verlassenheit. Es ist die Erfahrung der grundlegenden Differenz zwischen dem Subjekt und seinem Anderen, es ist ein Vorgang der psychischen Trennung, der Trennung von Bedürfnis und Wunsch, Objekt der Bindung und Objekt der Libido, von Sein und Sprache« (MüllerPozzi 2008, 33). Wenn es also bei dieser »Wiederfindung« um den primären Narzissmus geht, dann wäre die Objektsuche des Adoleszenten und Erwachsenen auch von narzisstischen Strebungen mitgesteuert. Freud schreibt durchaus in diesem Sinne: »Aber von
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Das Argument, welches Freud hier vorbringt, nimmt in gewisser Weise den Begründungsansatz für die Bildung des Sexualtriebs, wie ihn Jean Laplanche vornimmt, vorweg: Die unbewussten sexuellen Botschaften der Mutter, die für das Kind rätselhaft sind, können von diesem nicht integriert werden und stellen die Grundlage seines Sexualtriebes dar. (Vgl. etwa Laplanche, J., 1988; 2006)
Das Paradigma der Psychosexualität – das Zentrum der freudschen Psychoanalyse
dieser ersten und wichtigsten aller sexuellen Beziehungen bleibt … ein wichtiges Stück übrig, welches die Objektwahl vorbereiten, das verlorene Glück wiederherstellen hilft« (Freud 1905b, 124). – Das letzte Ziel der »Liebe« wäre, wie Freud mit Hinweis auf die platonische Fabel verdeutlicht hat, die Überwindung der Trennung, der Teilung. – Doch die Erfüllung dieses Wunsches würde die Autonomie des Erwachsenen gefährden. Wir sehen also: Freud kommt in dieser Frage, den Status des Objekts in der Sexualentwicklung des Kindes betreffend, zu keiner eindeutigen Lösung. Wichtig erscheint uns seine Bemerkung, wonach auch in dem Moment, wo sich die Sexualtätigkeit aus ihrer Anlehnung an den Vorgang der Nahrungsaufnahme befreit, die Beziehung des Kindes zu seinen Pflegepersonen bedeutsam bleibt: »Die ganze Latenzzeit über lernt das Kind andere Personen, die seiner Hilflosigkeit abhelfen und seine Bedürfnisse befriedigen, lieben, durchaus nach dem Muster und in Fortsetzung eines Säuglingsverhältnisses zur Amme« (ebd., 124). Aber für Freud ist diese Liebe eine zärtliche, eine zielgehemmte sexuelle Strömung. Erst in der Pubertät werden diese Objekte ödipal-sexuell besetzt. Die Eltern sind also schon längst naheliegende phantasmatische Objekte der Libido, aber die ödipale Besetzung dieser Objekte geschieht zu einem Zeitpunkt – nach der Latenzzeit –, an dem die Inzestschranke verbunden mit anderen Sexualhemmungen (auch seitens der Kultur) endgültig aufgestellt und verankert wird. Die Inzestschranke hat für Freud die Funktion, die libidinösen Energien von den Eltern abzulösen und auf die Gesellschaft zu richten.25 Freuds These, wonach die Objektfindung immer schon Wiederfindung sei, hat in der weiteren Geschichte der Psychoanalyse eine eminente Rolle gespielt. Insbesondere die Differenz zwischen dem späteren Objekt und dem verlorenen Urobjekt hat eine wichtige konzeptionelle Rolle vor allem in der lacanschen Auslegung dieser Problematik gespielt. Es sei demnach gerade diese strukturelle und prinzipielle Differenz, die den Trieb auf den Weg bringe.26 Freuds Position in den Drei Abhandlungen und weiterhin war allerdings jene, dass das, was in der Entwicklung von der infantilen zur adoleszenten Sexualität primär verloren gehe, nicht das Objekt ist, sondern eine spezifische Formation autoerotischer Lust. Gehen wir weiter in Freuds Text: Es kommt in der Pubertät zunächst zu einem Wiederaufleben der ödipalen Gefühle und der entsprechenden inneren Konflikte, die eine Lösung derart finden müssen, dass der Jugendliche auf seine inzestuösen elterlichen Objekte verzichtet und damit frei wird für eine Objektwahl in der außerfamiliären Welt. Diese neue Objektwahl wird zunächst vor allem in der Phantasie vollzogen: »Unter den sexuellen Phantasien der Pubertätszeit ragen einige hervor, welche durch allgemeinstes Vorkommen und weitgehende Unabhängigkeit vom Erleben des Einzelnen ausgezeichnet sind. So die Phantasien von der Belauschung des elterlichen Geschlechtsverkehrs, von der frühen Verführung durch geliebte Personen, von der Kastra-
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Die Entstehung sozialer Bindungen, die über die Familie hinausgehen, wird in diesem Text von 1905 noch nicht thematisiert. Es ist die Abhandlung Totem und Tabu von 1912/1913, in welcher Freud einen umfassenden Erklärungsansatz einer auf der Libidothese beruhenden Kulturtheorie vorlegen wird. Man denke etwa an Lacans Auffassung, wonach das Begehren Konsequenz dieses unhintergehbaren Seinsmangels ist. (Vgl. Lacan 1986, 210f)
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tionsdrohung, die Mutterleibsphantasien, deren Inhalt Verweilen und selbst Erlebnisse im Mutterleib sind, und der sogenannte ›Familienroman‹, in welchem der Heranwachsende auf den Unterschied seiner Einstellung zu den Eltern jetzt und in der Kindheit reagiert« (ebd., 127, Fn.2). Diese Phantasien müssen durchlaufen und letztlich aufgegeben werden – ansonsten kann sich der Jugendliche innerlich nicht von den Eltern lösen. Freilich bleibt diese Bewältigung des Ödipus und die Ablösung von den Eltern häufig eine nur relativ gelungene, was die Konsequenz hat, dass sich die unbewusste inzestuöse Fixierung in einer entsprechenden Partnerwahl äußert. Freud nimmt sogar an, dass ein solcher unbewusster Einfluss immer da ist: »In freierer Anlehnung an diese Vorbilder geht wohl die Objektwahl überhaupt vor sich. Vor allem sucht der Mann nach dem Erinnerungsbild der Mutter.« (ebd., 129). An dieser Stelle bringt Freud auch einige interessante Überlegungen zur Frage, warum die überwiegende Zahl der Adoleszenten sich für eine heterosexuelle Orientierung »entscheidet«. Er nennt zum einen die »Autoritätshemmung der Gesellschaft«, zum anderen die zärtliche Zugewandtheit der Mutter zum Sohn und die des Vaters zur Tochter, »während (beim Sohn) die von seiten des Vaters erfahrene frühzeitige Sexualeinschüchterung und die Konkurrenzeinstellung zu ihm vom gleichen Geschlechte ablenkt. Beide Momente gelten aber auch für das Mädchen…. Es ergibt sich so eine feindliche Einstellung zum eigenen Geschlecht« (ebd., 131). – Wir sehen einmal mehr: Freud ist es ernst mit seiner Bemerkung, dass die Heterosexualität nicht weniger erklärungsbedürftig ist als die Homosexualität. Beschließen wir diese Besprechung des dritten Kapitels mit einer kurzen Bilanz, in welcher wir auf die Kritik, Freud habe mit diesem Kapitel seine revolutionäre Haltung, mit der Normativität der Sexualmoral seiner Zeit zu brechen, aufgegeben, antworten wollen. Grundsätzlich schließen wir uns der Einschätzung Reimut Reiches an: »Das psychoanalytische Denken und die psychoanalytische Methode sind prinzipiell anti-normativ. Wir fragen nicht primär nach gut und böse, sondern nach Bedeutungen« (Reiche 1991, 12). Wir wollen ferner nochmals darauf hinweisen, dass Freud häufig sprachlich differenziert: Er schreibt nicht »Norm«, sondern »angenommene Norm«; er schreibt nicht »das normale Sexualziel ist«, sondern »als normales Sexualziel gilt« (vgl. etwa Freud 1905, 33). Trotzdem gilt: Keine wie immer gestaltete Theorie menschlicher Sexualität kann den Fallstricken der Normativität gänzlich entkommen. Und eine solche Normativität wurde und wird Freud insbesondere bezüglich seines »Genitalprimats« bzw. seiner Theorie der Weiblichkeit unterstellt.27
Zusammenfassung Freud nimmt hier eine Akzentuierung vor, die dem Leser zeigen soll, was ihm an seinen Drei Abhandlungen zentral und wichtig ist. Ich gebe diese in 10 Punkten wieder.
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Dabei wäre auf eine wichtige Differenz zu achten: »Es wird nämlich oft nicht erkannt, daß mit ›Genitalprimat‹ ebensowenig wie mit ›oraler Fixierung‹ oder irgendeinem anderen Begriff aus der psychosexuellen Phasenlehre ein Verhalten gemeint ist, sondern in erster Linie eine innerpsychische Disposition« (Reiche 1991, 12).
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tionsdrohung, die Mutterleibsphantasien, deren Inhalt Verweilen und selbst Erlebnisse im Mutterleib sind, und der sogenannte ›Familienroman‹, in welchem der Heranwachsende auf den Unterschied seiner Einstellung zu den Eltern jetzt und in der Kindheit reagiert« (ebd., 127, Fn.2). Diese Phantasien müssen durchlaufen und letztlich aufgegeben werden – ansonsten kann sich der Jugendliche innerlich nicht von den Eltern lösen. Freilich bleibt diese Bewältigung des Ödipus und die Ablösung von den Eltern häufig eine nur relativ gelungene, was die Konsequenz hat, dass sich die unbewusste inzestuöse Fixierung in einer entsprechenden Partnerwahl äußert. Freud nimmt sogar an, dass ein solcher unbewusster Einfluss immer da ist: »In freierer Anlehnung an diese Vorbilder geht wohl die Objektwahl überhaupt vor sich. Vor allem sucht der Mann nach dem Erinnerungsbild der Mutter.« (ebd., 129). An dieser Stelle bringt Freud auch einige interessante Überlegungen zur Frage, warum die überwiegende Zahl der Adoleszenten sich für eine heterosexuelle Orientierung »entscheidet«. Er nennt zum einen die »Autoritätshemmung der Gesellschaft«, zum anderen die zärtliche Zugewandtheit der Mutter zum Sohn und die des Vaters zur Tochter, »während (beim Sohn) die von seiten des Vaters erfahrene frühzeitige Sexualeinschüchterung und die Konkurrenzeinstellung zu ihm vom gleichen Geschlechte ablenkt. Beide Momente gelten aber auch für das Mädchen…. Es ergibt sich so eine feindliche Einstellung zum eigenen Geschlecht« (ebd., 131). – Wir sehen einmal mehr: Freud ist es ernst mit seiner Bemerkung, dass die Heterosexualität nicht weniger erklärungsbedürftig ist als die Homosexualität. Beschließen wir diese Besprechung des dritten Kapitels mit einer kurzen Bilanz, in welcher wir auf die Kritik, Freud habe mit diesem Kapitel seine revolutionäre Haltung, mit der Normativität der Sexualmoral seiner Zeit zu brechen, aufgegeben, antworten wollen. Grundsätzlich schließen wir uns der Einschätzung Reimut Reiches an: »Das psychoanalytische Denken und die psychoanalytische Methode sind prinzipiell anti-normativ. Wir fragen nicht primär nach gut und böse, sondern nach Bedeutungen« (Reiche 1991, 12). Wir wollen ferner nochmals darauf hinweisen, dass Freud häufig sprachlich differenziert: Er schreibt nicht »Norm«, sondern »angenommene Norm«; er schreibt nicht »das normale Sexualziel ist«, sondern »als normales Sexualziel gilt« (vgl. etwa Freud 1905, 33). Trotzdem gilt: Keine wie immer gestaltete Theorie menschlicher Sexualität kann den Fallstricken der Normativität gänzlich entkommen. Und eine solche Normativität wurde und wird Freud insbesondere bezüglich seines »Genitalprimats« bzw. seiner Theorie der Weiblichkeit unterstellt.27
Zusammenfassung Freud nimmt hier eine Akzentuierung vor, die dem Leser zeigen soll, was ihm an seinen Drei Abhandlungen zentral und wichtig ist. Ich gebe diese in 10 Punkten wieder.
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Dabei wäre auf eine wichtige Differenz zu achten: »Es wird nämlich oft nicht erkannt, daß mit ›Genitalprimat‹ ebensowenig wie mit ›oraler Fixierung‹ oder irgendeinem anderen Begriff aus der psychosexuellen Phasenlehre ein Verhalten gemeint ist, sondern in erster Linie eine innerpsychische Disposition« (Reiche 1991, 12).
Das Paradigma der Psychosexualität – das Zentrum der freudschen Psychoanalyse 1. »Die Anlage zu den Perversionen« ist »die ursprüngliche allgemeine Anlage des menschlichen Geschlechtstriebes« (Freud 1905b, 132). 2. Diese »ursprüngliche Anlage« liegt beim Kind in seiner »infantilen Sexualität« offen zu Tage, da hier die späteren Sexualhemmungen wie Scham, Ekel, Mitleid und die »sozialen Konstruktionen der Moral und Autorität« noch nicht verinnerlicht sind. 3. Der Sexualtrieb ist nichts einfaches und auch nichts einheitliches; er ist etwas »aus vielen Faktoren Zusammengesetztes«. Die einzelnen Elemente (auch Partialtriebe) sind in der frühen Kindheit und bei der Perversion deutlich erkennbar. 4. Das Konzept der Anlehnung: »Es schien uns vielmehr, daß das Kind Keime von Sexualtätigkeit mit zur Welt bringt und schon bei der Nahrungsaufnahme sexuelle Befriedigung mitgenießt« (ebd., 133). 5. Die Sexualität des Kindes ist »nicht zentriert« und primär »autoerotisch«, relativ unabhängig vom Objekt (ebd., 134). 6. Freud hat in den späteren Auflagen auch einige Sätze eingefügt, die eine Zusammenfassung seiner Überlegungen zur Entwicklung des Sexualtriebes beim Kind (prägenitale Sexualität) darstellen. Er spricht von einer ersten Phase, in welcher die Oralerotik im Vordergrund steht, die abgelöst wird durch Sadismus und Analerotik, bevor dann in einer dritten Phase sich der »Primat des Phallus« bei beiden Geschlechtern herausbildet (ebd., 135). 7. »Die Tatsache des zweizeitigen Ansatzes der Sexualentwicklung beim Menschen … scheint eine der Bedingungen für die Eignung des Menschen zur Entwicklung höherer Kultur, aber auch für seine Neigung zur Neurose zu enthalten« (ebd.). 8. Während die infantile Sexualität polymorph pervers strukturiert ist, kommt es in der Pubertät zur »Unterordnung aller sonstigen Ursprünge der Sexualerregung unter das Primat der Genitalzonen« und zur neuerlichen »Objektfindung« (ebd., 136). 9. Ab der Pubertät sind die Wege der zwei Geschlechter unterschiedlich. Zum »Weibwerden« muss die junge Frau eine »neuerliche Verdrängung« auf sich nehmen, da sie »ein Stück infantiler Männlichkeit« aufgeben muss. 10. »Jeder Schritt auf diesem langen Entwicklungswege kann zur Fixierungsstelle, jede Fuge dieser verwickelten Zusammensetzung zum Anlaß der Dissoziation des Geschlechtstriebes werden« (ebd., 137).
Im letzten Absatz zeigt sich Freud »unbefriedigt« und bedauert es, »daß wir von den biologischen Vorgängen, in denen das Wesen der Sexualität besteht, lange nicht genug wissen, um aus unseren vereinzelten Einsichten eine zum Verständnis des Normalen wie des Pathologischen genügende Theorie zu gestalten« (ebd., 145) – als wäre die ganze Leistung seiner bisherigen Arbeit an einer psychoanalytischen Begrifflichkeit und Beschreibung der Komplexität des menschlichen Sexuallebens nur ein Ersatz, etwas Vorläufiges, das durch eine biologisch fundierte Sexualtheorie zu ersetzen sei.
Freuds Äußerungen zum Thema der Sexualität in seinen späteren Schriften Das Thema der Sexualität beschäftigte Freud auch nach 1905 noch intensiv. In einer Serie von Artikeln, die zwischen 1906 und 1912 entstanden, thematisierte er die Bedeutung der Sexualität in der Ätiologie der Neurose, die sexuelle Aufklärung der Kinder, die
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infantilen Vorstellungen zur Sexualität, die frühkindliche Analerotik, die Folgen einer starken Sexualunterdrückung für die Kultur und die besondere Psychologie des Liebeslebens (des Mannes). Freuds Sexualtheorie, wie er sie in den Drei Abhandlungen darstellte, war am Paradigma der Hysterie orientiert. Er versteht diese als eine Disposition, in welcher die unbewusste perverse Orientierung eine entscheidende Rolle spielt. Aus diesem Grund erlangt – jedenfalls was die Erstausgabe betrifft – die Hysterie eine paradigmatische und eine anthropologische Bedeutung. Nicht nur die Auseinandersetzung mit Jung bewirkte eine Änderung von Freuds Perspektive. Es setzt eine intensive Auseinandersetzung mit der Psychose, der Zwangsneurose und schließlich mit der Melancholie ein, die in der Folge die Hysterie als Hauptparadigma zum Verständnis psychischer Erkrankungen und der menschlichen Sexualität schrittweise ergänzen. Insofern markiert die Erstausgabe der Drei Abhandlungen auch das Ende einer Ära – der Ära der Hysterie. Dieses Ende führt zu einer tendenziellen Neuschreibung der psychoanalytischen Theorie, die sie stärker an die sexualwissenschaftliche und psychiatrische Sichtweise bindet, die sie zuvor radikal kritisiert hatte. In Freuds Arbeit Über infantile Sexualtheorien von 1908 tauchen eine Reihe von neuen Ideen auf, die ein Resultat seiner Arbeit mit dem Kleinen Hans darstellen, die erst einige Monate später publiziert wurde. Themen sind vor allem die infantilen Sexualtheorien wie Befruchtung durch den Mund, der Geburt durch den Anus, des elterlichen Geschlechtsverkehrs als etwas Sadistischem und die Wertschätzung, die der Penis bei Kindern beiderlei Geschlechts genießt; die Folgen der Entdeckung, dass das eine Geschlecht keinen Penis hat, das Auftreten des Penisneides beim Mädchen und die Vorstellung der Frau mit dem Penis beim Knaben sowie deren Bedeutung für eine bestimmte Form der Homosexualität. Und schließlich haben wir in diesem Text die erste ausdrückliche Erwähnung und Erörterung des Kastrationskomplexes vor uns. Mit seinem Aufsatz Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität von 1908 macht Freud einen ersten Ausflug ins Gebiet der Soziologie. Diese Arbeit imponiert durch ihre klaren Thesen: »Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut« (Freud 1908a, 149). Zugleich ist es Freuds erste Arbeit, in der er explizit den Antagonismus von Trieb und Kultur in den Mittelpunkt des Interesses rückt.28 Besonderes Augenmerk legt er dabei auf die Sexualeinschränkungen durch die herrschende Sexualmoral mit ihren Forderungen nach Abstinenz bzw. Monogamie. Es ist einerseits die Kultur an sich, andererseits die gegenwärtige Kultur mit ihrer speziellen »Sexualmoral«, die schädliche Folgen für die in ihr lebenden Menschen zeitigt. Freuds Aufsatz wurde, vor allem durch die Kulturtheoretiker der »Linken« der 1930er Jahre wie Wilhelm Reich und Otto Fenichel, als eine Abrechnung mit der Sexualmoral seiner Zeit gelesen. Hier war noch keine Rede von einem Todestrieb, einem Wiederholungszwang, es gibt noch keine Sexualität, der die Unfähigkeit zur vollen Befriedigung eingeschrieben ist. »Insofern handelt es sich um einen Aufsatz, der implizit revolutionäre Umwandlungen und radikale Sexualreformen propagiert« (Hock 2013, 150).
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Wir werden diesen Aufsatz nochmals im Rahmen von Freuds kulturtheoretischen Schriften erläutern.
Das Paradigma der Psychosexualität – das Zentrum der freudschen Psychoanalyse
1910 folgen die 3 Aufsätze Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens; der erste Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne. In diesem Text benutzt Freud erstmals den Ausdruck Ödipuskomplex. Zunächst beschreibt er die einfache (oder wie er später sagen wird, positive) Form des Ödipuskomplexes. Beim Jungen sieht Freud das so, dass das erste Liebesobjekt die Mutter ist, die er zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr ganz für sich haben möchte, was ihn in eine Rivalität zum Vater bringt. Die Angst vor dem Vater (Kastrationsangst) bringt ihn schließlich dazu, auf seine inzestuösen Wünsche zu verzichten und in die Latenz einzutreten. – Längere Zeit nimmt Freud an, dass sich die weibliche Entwicklung ganz analog darstellt. In Das Ich und das Es von 1923 ergänzt Freud dieses Modell durch den negativen Ödipus: Der Junge sehnt sich demnach auch nach dem Vater und will die Mutter als Rivalin beseitigen. Er wünscht sich also, »Mutter« zu sein – und zwar aufgrund einer regressiven Identifizierung mit dem frühesten Liebesobjekt, eben der Mutter. Seine passiv homosexuellen Wünsche lassen ihn auf seine heterosexuellen Wünsche verzichten. Diese Konstellation hatte Freud schon in seiner Schreber-Studie und später beim Wolfsmann benutzt, um deren homosexuelle Fixierung zu erklären. – Freud geht letztlich davon aus, dass beide Positionen in jedem Individuum existieren, die so genannte normale psychosexuelle Entwicklung sei das Ergebnis des Sieges des positiven über den negativen Ödipus. In der zweiten Abhandlung Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens kommt Freud zu einer zukunftsträchtigen Frage, nämlich »daß etwas in der Natur des Sexualtriebes selbst das Zustandekommen der vollen Befriedigung nicht günstig ist« (Freud 1910b, 89).29 Zwei Momente, meint er, könne man vielleicht dafür verantwortlich machen: erstens die zwei getrennten Phasen der menschlichen Sexualentwicklung in der Kindheit bzw. der Pubertät, zweitens die anatomische Nähe der Genitalien und der Ausscheidungsorgane. Und schließlich kommt in diesem Artikel Freuds viel diskutierte Aussage: »Die Anatomie ist das Schicksal« (ebd., 90). Zum einen erkannte Freud, wie sehr die ihn umgebende Zivilisation auf dem Misslingen sexueller Befriedigung gegründet war. Andererseits vertrat er jetzt die Überzeugung, dass im Sexualtrieb selbst ein konstitutioneller Defekt angelegt sei. Dieser offenbare sich einerseits in der Unmöglichkeit, die Spuren der prägenitalen »polymorph-perversen« Sexualität im Erwachsenenleben zu überwinden, andererseits bleibe im Streben nach sexueller Befriedigung ein »Rest« von Unerfüllbarkeit.30 Freilich: Gerade Freuds Triebkonzept war jener Teil seiner Theorie, die immer schon und immer noch eine geteilte Aufnahme fand und findet. So schreibt Freud im Vorwort zur 4. Auflage der Drei Abhandlungen 1920: »Die rein psychologischen Aufstellungen und Ermittlungen der Psychoanalyse über das Unbewußte, die Verdrängung, den Konflikt,
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Mit zukunftsträchtig ist gemeint, dass hier Fragen auftauchen, die schließlich zur Neukonzeption von Freuds Triebkonzept in seinem Jenseits des Lustprinzips münden. Dieser »Rest« wurde später von Lacan als notwendige Eigenschaft des »Begehrens« verstanden. Würde sich der sexuelle Trieb tatsächlich durch eine vollständige Befriedigung (was Lacan zur Unterscheidung vom Begehren Genießen nennt) auflösen lassen, würde das zu einem Erlöschen des Begehrens bzw. in die Psychose führen (vgl. etwa Lacan 1966, 210f).
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der zur Krankheit führt, den Krankheitsgewinn, die Mechanismen der Symptombildung u.a. erfreuen sich wachsender Anerkennung und finden selbst bei prinzipiellen Gegnern Beachtung. Das an die Biologie angrenzende Stück der Lehre, dessen Grundlage in dieser kleinen Schrift gegeben wird, ruft noch immer unverminderten Widerspruch hervor« (1905b, 31). Um 1910 war für Freud das Kapitel »Sexualtheorie« im Wesentlichen abgeschlossen. Es folgten später seine Systematisierung des Triebkonzepts (Triebe und Triebschicksale, 1915), Überlegungen zur weiblichen Homosexualität (Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität, 1918) und seine Studie zum Fetischismus 1927. – Mit seiner Studie zum Narzissmus 1914 und noch stärker durch seine grundsätzliche Revision der Trieblehre in Jenseits des Lustprinzips 1920 kam es freilich zu einer grundlegenden Neukonzeption seines Verständnisses der Natur des Triebes.31 Die kurze Arbeit Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds von 1925 enthält eine vollständige Neuformulierung der Ansichten über die Psychologie der Frau. Anfangs war Freud ja von einer analogen Entwicklung bei Knaben und Mädchen ausgegangen (so etwa im V. Kapitel der Traumdeutung). Von der Dora-Analyse bis zur Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität hatte sich Freud zu diesem Thema nicht geäußert – außer im Text Ein Kind wird geschlagen, in welchem fast ausschließlich die weibliche Entwicklung beschrieben wird. Dort steht dann auch: »Die Erwartung eines vollen Parallelismus hatte sich also getäuscht« (Freud 1919b, 217). – Erst in der Schrift von 1925 greift Freud diese Differenzen wieder auf. Er betont jetzt das Faktum, dass das Mädchen anders als der Junge einen Objektwechsel vollziehen muss, von der Liebe zur Mutter zur Liebe zum Vater. Gleichwohl hält Freud auch in diesem Aufsatz an seiner Überzeugung fest, dass die weibliche psychosexuelle Entwicklung durch den Penisneid bestimmt ist – und die Lösung für dieses Problem soll der Wunsch nach einem Kind vom Vater sein. Der Aufsatz Über die weibliche Sexualität von 1931 ist eine Fortführung dieser Überlegungen. Freud hebt die Intensität und lange Dauer der präödipalen Mutterbindung des kleinen Mädchens hervor. Am interessantesten ist dabei die ausführliche Erörterung des aktiven Elements in der Einstellung des kleinen Mädchens zur Mutter und in der Weiblichkeit überhaupt. In der 33. Vorlesung der Neuen Folge zum Thema Weiblichkeit betont Freud neuerlich die »doppelte Wendung«, die das kleine Mädchen im Unterschied zum Jungen vollziehen muss (weg von der Mutter hin zum Vater, zurück zur Mutter), bevor es den »normalen Ödipuskomplex« erreicht: »Wechsel seines leitenden Sexualorgans und Wechsel seines Sexualobjekts« (Freud 1933a, 256). »Nun war der Weg frei für die Erforschung der ›präödipalen‹ Phase des Mädchens und der psychischen Unterschiede zwischen Knaben und Mädchen … es handelt sich um den Unterschied in der Relation des Kastrationskomplexes zum Ödipuskomplex und den weiteren Unterschied im Aufbau des ÜberIchs« (ebd.).
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Diese vor allem metapsychologischen Neuerungen, die aber auch grundlegende Konsequenzen für Freuds Verständnis der klinischen Praxis hatten, werden in späteren Kapiteln behandelt.
Das Paradigma der Psychosexualität – das Zentrum der freudschen Psychoanalyse
Die Drei Abhandlungen 100 Jahre später – Versuch einer Bilanz 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung der Drei Abhandlungen gab es eine intensive Relektüre und Resonanz auf dieses Werk seitens der Psychoanalytiker unterschiedlichster Richtungen. Wir wollen einige dieser aktuellen Stellungnahmen betrachten und reflektieren. Sophinette Becker bringt in ihrem Beitrag Jenseits von Lüsternheit und Prüderie Abgrenzung und Anerkennung zum Ausdruck: »Die neueren Erkenntnisse im Blick lassen sich in den ›Drei Abhandlungen‹ hellsichtige und heute noch brauchbare Bemerkungen Freuds zur weiblichen Entwicklung finden: von den sexuellen Aspekten der Mutterliebe [...] über klinische Beobachtungen wie die zur ›scheinbaren‹ (weil nur partiellen) ›sexuellen Anästhesie‹ bei Frauen bis hin zu seinen Einsichten über Weiblichkeit (auch) als Konstruktion« (Becker 2005, 29). Und sie setzt so fort: »Die ›Drei Abhandlungen‹ enthalten aber auch vieles, was nicht nur damals revolutionär war, sondern meines Erachtens auch heute noch nichts von seiner Aktualität und Widerspenstigkeit verloren hat.« Und sie hebt folgende Aspekte hervor: • •
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»Es gibt keine klare Grenze, sondern nur Übergänge zwischen dem Normalen/Gesunden und dem Pathologischen (Neurotischen/Perversen). Alle Menschen sind ›der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig‹ und haben ›dieselbe auch im Unbewußten vollzogen‹ (Freud 1905b, 44). Auch die heterosexuelle Objektwahl ist ›im Sinne der Psychoanalyse‹ ein ›der Aufklärung bedürftiges Problem‹. Last but not least: Das Wichtigste in den ›Drei Abhandlungen‹ ist für mich immer noch die Betonung der eigenständigen, spontanen infantilen Sexualität und das über Genitalität hinausgehende Konzept von Sexualität« (ebd., 30f).
Bernd Nitzschke stimmt dieser grundsätzlich positiven Stellungnahme zu, sieht die Drei Abhandlungen als »Pionierleistung« Freuds. »Diese besteht eben nicht in der Entdeckung der infantilen Sexualität als solcher, sondern darin, kindliche, deviante, neurotische und so genannte normale (reife) Ausdrucksformen sexuellen Begehrens unter einer entwicklungsorientierten Perspektive zusammengefasst und in einem systematischen Zusammenhang dargestellt zu haben, aus dem sich dann auch Behandlungsstrategien ableiten ließen« (Nitzschke 2005, 124). Noch deutlicher wird Ilka Quindeau, die Freuds Sexualtheorie als »unverzichtbare Grundlage für psychoanalytisches Denken« heute und als »in hervorragender Weise anschlussfähig an gegenwärtige Diskurse in den Sozial- und Kulturwissenschaften« ansieht (Quindeau 2005, 135). Auf einen anderen Aspekt fokussiert Andrè Haynal: »Wenn Sex mit Lust verbunden ist, dann, das machte uns Freud klar, muß in jeder Lust auch Sex sein. Darüber hinaus gab er der Sexualität weitergehende Bedeutung, indem er Abkömmlinge sexueller Erregung oder Hemmung als konstitutive Elemente der Persönlichkeitsstruktur betrachtete« (Haynal 2005, 1033). Interessant auch die Einschätzung des Sexualwissenschaftlers Volkmar Sigusch: Für ihn »gehört er zu den ersten kritischen Sexualforschern, weil er direkt oder in-
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direkt die Frage erörtert, was an Sexus und Genus ›natürlich‹ und was ›kulturell‹ sei, eine Frage, die alle Geschlechts- und Sexualtheorien der Moderne durchzieht« (Sigusch 1998, 1194). Was ist nun das bleibend Innovative von Freuds Sexualtheorie? Wir glauben, der Kern liegt in Freuds Konzept der Psychosexualität: »Der Begriff des Sexuellen umfaßt in der Psychoanalyse weit mehr; er geht nach unten wie nach oben über den populären Sinn hinaus. Die Erweiterung rechtfertigt sich genetisch; wir rechnen zum ›Sexualleben‹ auch alle Betätigungen zärtlicher Gefühle, die aus der Quelle der primitiven sexuellen Regungen hervorgegangen sind, auch wenn diese Regungen eine Hemmung ihres ursprünglichen Zieles erfahren oder dieses Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles vertauscht haben. Wir sprechen darum auch lieber von Psychosexualität, legen also Wert darauf, dass man den seelischen Faktor des Sexuallebens nicht übersehe und nicht unterschätze« (Freud 1910d, 120). So zielt dieses Konzept auf eine virtuelle Sexualität insofern, als sie auch alle Phantasien umfasst, die sich rund um das Sexuelle im erweiterten Sinn ihres Begriffs ranken, von Geburtsphantasien über Kastrationsängste bis zum Orgasmus, von der Selbstliebe über die Phantasmen der Geschlechterdifferenz bis zu Fetischisierungen und Prothetisierungen. Alle Körperorgane können eine sexuelle Bedeutung annehmen, sind nicht nur Funktionen der Lusterfüllung. Die Entdeckung der infantilen Sexualität hat zur Konsequenz, dass Sexualität keine natürliche Grundlage hat, sondern erst entwickelt wird, da die sprachliche Verfasstheit des Unbewussten zur Folge hat, dass das menschliche Sexuelle das Resultat eines Übersetzungsprozesses von Vorgängen des Körpers in die Sprache der Seele ist. Wenn die Psychoanalyse also vom Körper spricht, meint sie nicht den physiologischen Körper, sondern den Triebkörper. Und da es zwei Triebe gibt, die Sexual- und die Selbsterhaltungstriebe bzw. wie Freud sie später fasst, die Sexualtriebe und die Todestriebe, ist das menschliche Leben grundsätzlich konflikthaft. Und da es nicht die Sexualität gibt, sondern verschiedene Partialtriebe, setzt sich die Diversifikation des freudschen Sexualitätskonstrukts in unterschiedlichsten Triebschicksalen und Abwehrformationen fort. Unsere triebbasierte Sexualität ist folglich grundsätzlich fragmentiert, plastisch und variabel. Freuds spätere Unterscheidung der Komponenten des Triebes nach Drang, Ziel, Quelle und Objekten (in Triebe und Triebschicksale) macht dies deutlich: Ist die Triebquelle noch nahe am Körper, gilt dies schon weniger für die Triebziele und ist im Fall des Objekts, das im höchsten Maß variabel ist, von der körperlichen Anbindung maximal entfernt. – Und schließlich: Ob dieser Komplexität ist mit der Sexualität, psychoanalytisch gesehen, wenig Glück zu machen: Sexuelle Triebe und Triebobjekt kommen kaum zusammen. Und die Konsequenz ist: Die volle Befriedigung bleibt aus. »Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer geschädigt… Manchmal glaubt man zu erkennen, es sei nicht allein der Druck der Kultur, sondern etwas am Wesen der Funktion versage uns die volle Befriedigung und dränge uns auf andere Wege« (Freud 1930, 465).
Zur Einführung des Narzißmus: Ein Wendepunkt in Freuds Denken und Auslöser für eine kontroverse Debatte bis heute Narzissmus ist also nicht einfach Selbst-Liebe oder Egoismus: Er ist zunächst und vor allem Liebe zu einem Bild, das nicht als Bild von einem selbst erkannt wird. (Sergio Benvenuto) Das Ichideal ist der Erbe des primären Narzissmus und zugleich das Movens der Internalisierung des patriarchalen Rechts und der patriarchalen Ordnung. (Paul Verhaeghe)
Die Ausgangslage: Freuds Entwicklung zwischen 1905 und 1914 – die Kontroversen mit Alfred Adler und Carl Gustav Jung In Freuds Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, 1914 geschrieben, kommentiert er diese Jahre in seinem Rückblick so: »Vom Jahre 1902 an scharte sich eine Anzahl jüngerer Ärzte um mich in der ausgesprochenen Absicht, die Psychoanalyse zu erlernen, auszuüben und zu verbreiten« (Freud 1914a, 63). Und dann lässt er »die Schweizer« kommen: »Von 1907 an änderte sich die Situation gegen alle Erwartungen und wie mit einem Schlage. Man erfuhr, daß die Psychoanalyse in aller Stille Interesse erweckt und Freunde gefunden habe« (ebd., 65). Freud würdigt explizit das Interesse von Eugen Bleuler, dem damaligen Leiter der Burhölzli-Klinik am Zürichsee, sowie dessen Assistenten Carl Gustav Jung. Sehr bald schien Jung für Freud der ideale Kronprinz zu sein, nicht zuletzt, weil dieser kein Jude war. So nannte er Jung »den stärksten Helfer, der sich noch zu mir gesellt hat« (Freud&Jung 1974, 18). – Kurt Eissler, der sich intensiv mit dem Briefwechsel der beiden befasste, weist darauf hin, dass Freud nach dem Zerwürfnis mit Fließ diese neue Freundschaft dringend brauchte, geradezu den Zwang verspürte, diesem wöchentlich einen Brief zu schreiben – auch wenn Jung mit seinen Antworten viel zögerlicher war (vgl. Eissler 1982, 10).
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Die erste persönliche Begegnung fand Anfang März 1907 in Wien statt – die beiden sprachen über viele Stunden intensiv über verschiedenste Themen, die Psychoanalyse betreffend – und Jung war sehr beeindruckt, wie sein Brief nach seiner Rückkehr aus Wien anzeigt: »Zweifel an der Richtigkeit Ihrer Lehre plagen mich allerdings nicht mehr… Den gewaltigen Eindruck, den ich bei Ihnen empfangen … meine Arbeit für Ihre Sache wird Ihnen hoffentlich zeigen, welche Dankbarkeit und Verehrung ich für Sie hege« (Freud&Jung 1974, 28). Jung deutete diese Begegnung gar als religiöse Erweckung: »Mein Besuch in Wien war mir darum eine eigentliche Konfirmation« (ebd.). Und etwas später: »Wer Ihre Wissenschaft kennt, hat eben vom Baume des Paradieses gegessen und ist sehend geworden« (ebd., 62). 1908 fand der erste psychoanalytische Kongress in Salzburg statt, mit Interessenten aus Wien, Zürich, Budapest und Berlin. Dort hielt Freud eine mehrstündige Darlegung eines Falles von Zwangsneurose (den Rattenmann) und es kam zur Gründung der ersten psychoanalytischen Zeitschrift, dem Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen. Eissler vermutet eine heftige homosexuelle Komponente in dieser Freundschaft – und dies auf beiden Seiten; und er glaubt aufgrund der Korrespondenz der beiden, dass Freud mit dieser Seite seines Inneren gut umgehen konnte, Jung aber letztlich nicht. »Denn Jung litt unter Freuds Genie und war von Neid erfüllt, der zwar nur selten, blitzartig aufscheint. Jungs Reaktion auf Freuds Geschichte des Rattenmannes (Freud 1909) mag als Beispiel dienen. Nachdem er die Korrekturabzüge des Manuskripts gelesen hatte, heißt es: ›Ihr Rattenmann erfüllt mich mit Entzücken, er ist furchtbar intelligent geschrieben und voll raffinierter Wirklichkeit … Es sind prächtige Finessen darin. Ich bedaure aus tiefstem Herzensgrunde, daß ich es nicht geschrieben habe‹« (Freud&Jung 1974, 276; Eissler 1982, 21). Ein erster Höhepunkt der Beziehung war zweifellos die gemeinsame Amerikareise im Herbst 1909. Es sollte ein Anfang für die Verbreitung der Psychoanalyse in den USA werden. In diesen Jahren kam es dann auch zur Gründung von psychoanalytischen Gruppen in New York, London, Berlin und Budapest. – Und Freud sah Jung bald als geeigneten Nachfolger. Er benutzte mehrfach die alttestamentarische Metaphorik von Moses und Josua, so etwa, wenn er schrieb: »Sie werden als Joshua, wenn ich der Moses bin, das gelobte Land der Psychiatrie, das ich nur aus der Ferne erschauen darf, in Besitz nehmen« (Freud&Jung 1974, 218). Oder wenn er Jung in einem Brief als »Lieber Freund und Erbe« anspricht (ebd., 191). Das Vertrauen Jungs in Freud war in diesen Jahren so groß, dass er auch seine persönlichen Konflikte mit ihm besprach. Eissler geht davon aus, dass die Zeitspanne, in der solche Gespräche zwischen den beiden stattfanden, es für damalige Gegebenheiten legitim erscheinen lassen, davon zu sprechen, dass Jung eine Analyse bei Freud machte. »Jung und Freud verbrachten vom Jahre 1907 bis zum Jahre 1911 ungefähr 60 Tage zusammen, lange genug, um eine Analyse im damaligen Sinne zu ermöglichen« (Eissler 1982, 37). Und für Jung war, folgt man seinen Briefen aus dieser Zeit, diese Analyse durchaus erleichternd und erfolgreich. So schreibt er etwa: »Der letzte Abend bei Ihnen hat mich innerlich glücklichst befreit vom drückenden Gefühl Ihrer Vaterautorität… Ihre Sache soll und wird blühen, das sagen mir meine Schwangerschaftsphantasien, die Sie zu guter Letzt noch glücklich erwischt haben« (Freud&Jung 1974, 240). In dieser
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Analyse ging es u.a. um Jungs Ehekonflikte, seine Beziehung zu Sabina Spielrein und später zu Antonia Wolff, eine um 13 Jahre jüngere Frau, die über 40 Jahre seine engste Mitarbeiterin werden sollte. 1910 fand in Nürnberg der zweite Kongress für Psychoanalyse statt. Dort wurde die Internationale Psychoanalytische Vereinigung gegründet mit C. G. Jung als erstem Vorsitzenden. Freud rechtfertigt seine damalige personalpolitische Entscheidung, sieht sie aber rückblickend auch als schweren Fehler: »Ich ahnte damals nicht, daß diese Wahl trotz aller aufgezählten Vorzüge eine sehr unglückliche war, daß sie eine Person getroffen hatte, welche, unfähig, die Autorität eines anderen zu ertragen, noch weniger geeignet war, selbst eine Autorität zu bilden, und deren Energie in der rücksichtslosen Verfolgung der eigenen Interessen aufging« (Freud 1914a, 85). Inhaltlich gesehen hatte der Konflikt mit Adler und Jung primär mit Freuds erster Fassung der Triebtheorie zu tun. Er hatte dort einer lustorientierten Libido ein auf Selbsterhaltung gerichtetes, vergleichsweise realitätsorientiertes und vernünftiges Ich als eigenständigen Antagonisten entgegengestellt. Diese Konzeption geriet durch die Erfahrungen des Umgangs mit psychotischen Patienten empfindlich an ihre Grenzen. Zuerst Adler, dann auch Jung nahm dies zum Anlass, die in ihren Augen überfällige Relativierung und Entschärfung des Skandalons der Psychoanalyse – als welche sie in unterschiedlicher Weise die Libidotheorie, die Lehre vom Unbewussten und die generell sexuell gedachte Ätiologie der Neurose betrachteten – vorzunehmen. Dazu legten sie jeweils unterschiedliche Konzeptionen des motivationalen Kerns der Psyche vor. In Freuds Verständnis war der Konflikt zwischen Triebwunsch und Verbot nicht nur der grundlegende Antagonismus, sondern zugleich auch das entwicklungsfördernde und progressive Moment. Adler verlegte sich demgegenüber immer stärker auf eine ichpsychologische Sichtweise, welche die psychische Entwicklung primär auf der bewussten Ebene verankerte. Der für ihn zentrale Motor war ein Aggressionstrieb und der daraus resultierende Wille zur Macht, die Bewältigung und Überwindung einer anthropologisch verstandenen Organ-Minderwertigkeit durch die aggressive Bemächtigung der Welt. Die freudsche Libido spielte dabei nur mehr die Rolle eines Sekundärphänomens. Bereits 1908 präsentierte Adler in der Mittwochsgesellschaft sein Verständnis des Aggressionstriebs als in seinen Augen zentralen strukturierenden Faktor und löste damit heftige Debatten aus, in denen Paul Federn als erster die Konsequenz dieser neuen Ausrichtung erkannte: dass dieses Konzept auf eine Annullierung der Bedeutung der Libido für das Neurosenverständnis hinausläuft (vgl. Nunberg&Federn 1962, 384).1 Freud konnte auf Dauer nicht darüber hinwegsehen, dass Adler mit seiner Kritik den Finger zielsicher in eine Schwachstelle des damaligen psychoanalytischen Theoriegebäudes gelegt hatte. »So war es denn Adler, der für Freud den letzten Anstoß lieferte, sich der Notwendigkeit einer angemessenen Einbeziehung des Ich in die libidinöse
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Fritz Wittels kommentiert Adlers Position so: »Adler begnügte sich nicht mit einer Gegenüberstellung von Ich- und Sexualtrieben, sondern er leugnete die Ursprünglichkeit der Sexualität… Adler soll sogar so weit gegangen sein, daß er sogar den Geschlechtsverkehr als einen Akt des Bemächtigungstriebes auffaßt. Er unternimmt das Unmögliche, Eros von seinem Thron zu stoßen« (Wittels 1924, 135).
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Dynamik zu stellen und ihm aufgab, sich mit der Struktur des Ich, mit dessen Genese, Funktion und (metapsychologischem) Verhältnis zu den Sexualtrieben eingehender zu befassen, und dies erklärtermaßen ohne seine erkenntnistheoretischen Prinzipien einer dualistischen Fassung der Triebtheorie preiszugeben« (Gast 1997, 48). Im März 1911 folgte der Bruch mit Adler. Im Sommer 1912 veröffentlichte Adler seine Studie Über den nervösen Charakter, wo er seinen Bruch mit Freud auch öffentlich sichtbar machte. In dieser Situation schlug Ernest Jones Freud die Gründung eines »Geheimkomitees der Getreuen« vor – und Freud stimmte begeistert zu. Zum Komitee gehörten zunächst Ernest Jones, Karl Abraham, Sandor Ferenczi, Otto Rank und Hanns Sachs, später kam noch Max Eitingon dazu. Jeder erhielt von Freud einen Siegelring mit einer antiken Gemme, ähnlich dem, den er selber trug. Ab 1920 begann man mit der Versendung von »Rundbriefen«. Trotz Freuds heftigem Eintreten für seinen »Nachfolger« kam es bald darauf auch zum Bruch mit Jung. Dieser begann sich heftig für Mythologie zu interessieren und seine Überlegungen gingen immer stärker in Richtung eines Libidobegriffs, der als unbestimmte »psychische Energie« unter weitgehender Ausblendung der sexuellen Definition reüssierte (vgl. Jung 1912, 223f). Jungs Verständnis des Vorgangs der Introversion (dass bei den Psychosen die von den Objekten abgezogenen Libido auf das Ich zurückgenommen wird) war mit der Idee verknüpft, dass es dabei zu einer völligen Desexualisierung komme, diese Energie sich folglich nicht mehr von der allgemein wirksamen psychischen Energie unterscheide, was darauf hinaus lief, dass es letztlich nur eine Quelle der Triebenergie gäbe. Zudem blieb bei Jung das sexuelle Moment streng auf die Funktion der Arterhaltung begrenzt, Freuds anstößige infantile Sexualität verschwand. »An Stelle der Sexualtheorie der ›Drei Abhandlungen‹ schien mir eine energetische Auffassung passender zu sein. Sie ermöglichte es mir, den Ausdruck ›psychische Energie‹ mit dem Terminus der ›Libido‹ zu identifizieren. Entwicklungsgeschichtlich sind es die körperlichen Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Schlaf, Sexualität und die emotionalen Zustände, die Affekte, welche das Wesen der Libido ausmachen« (ebd., 223). – Zugleich revidierte Jung auch Freuds Verständnis des Unbewussten. Es wurde bei ihm zu einem zeitlos-ahistorischen, gleichsam sinnstiftenden Archiv kollektiver und individueller Erfahrungsmöglichkeiten. Sein Unbewusstes wurde zu einem anthropologisch angelegten Ursprungsort der Psyche schlechthin. Neben diesen inhaltlichen Differenzen beschuldigte Jung Freud, dass er ihn nur als Schüler, nicht als gleichberechtigten Denker anerkenne. Freud versuchte zunächst, zu beruhigen – und es kam auch wieder zur Versöhnung. Aber die Differenzen in der Sache wurden deutlicher. Freud veränderte in seinen Briefen, die seltener wurden, die Anrede von »Lieber Freund« zu »Lieber Herr Doktor«. Jungs Angriffe wurden persönlicher. So warf er Freud vor, dass er seine Schüler wie Patienten behandle. Damit würden »sklavische Söhne oder freche Schlingel (Adler-Stekel und die ganze freche Bande, die sich in Wien breitmacht), erzeugt.« Er sei objektiv genug, »um Ihren Trug zu durchschauen. Sie weisen rund um sich herum alle Symptomhandlungen nach, damit setzen Sie die ganze Umgebung auf das Niveau des Sohnes und der Tochter herunter, die mit Erröten die Existenz fehlerhafter Tendenzen zugeben.« Freud bleibe »immer schön oben als Vater« (Freud&Jung 1974, 594). Und die Zuspitzung seiner Unterstellungen war die folgende: »Ich bin nämlich gar nicht neurotisch – unberufen! Ich habe mich nämlich lege
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artis tout humblement analysieren lassen, was mir sehr gut bekommen ist. Sie wissen ja, wie weit ein Patient mit Selbstanalyse kommt, nämlich nicht aus der eigenen Neurose heraus – wie Sie« (ebd.). Freud reagierte auf diesen Brief, indem er versuchte, die Dinge zurechtzurücken: »Ihre Voraussetzung, daß ich meine Schüler wie Patienten behandle, ist nachweisbar unzutreffend« (ebd., 598). Seit zehn Jahren, also der Beendigung seiner Analyse bei ihm, habe Stekel »kein Wort zu seiner Analyse mehr von mir gehört« und Adler sei weder sein Patient gewesen noch habe er die Analyse bei ihm angewendet. Und Freud schließt diesen Brief mit den Worten: »Es ist unter uns Analytikern ausgemacht, daß keiner sich seines Stückes Neurose zu schämen brauche.« Und jetzt kommt doch klare Kritik: »Wer aber bei abnormem Benehmen unaufhörlich schreit, er sei normal, erweckt den Verdacht, daß ihm die Krankheitseinsicht fehlt.« Und Freud beendet diese Freundschaft: »Ich schlage Ihnen also vor, daß wir unsere privaten Beziehungen überhaupt aufgeben« (ebd., 598f). Auf dem vierten Kongress in München im Oktober 1913 traten die Differenzen zwischen den »Schweizern« und den »Wienern« offen zutage. Jung wurde zwar als Präsident wiedergewählt, aber, so Freud, »man schied voneinander ohne das Bedürfnis, sich wiederzusehen« (Freud 1914a, 88). Am 27.10. legte Jung die Redaktion des Jahrbuchs nieder, am 24.3.1914 die Präsidentschaft; die Züricher Ortsgruppe trat am 10.7.1914 aus der IPV aus. Freud schlug als Nachfolger für die Präsidentschaft Karl Abraham vor, niemand brachte einen Einwand. Freuds Moses-Studie, die er ebenfalls 1914 publizierte, kann auch als sein eigentlicher Kommentar zu Jungs Rücktritt gelesen werden. Michelangelos Moses scheint zwei Hörner auf dem Kopf zu tragen, die ihn in eine Verwandtschaft zu griechischen Göttern rücken könnten. Tatsächlich handelt es sich um Strahlen der göttlichen Erleuchtung, die daran erinnern sollen, dass der Prophet eben vom Berg Sinai kommt, wo er mit dem Schöpfer sprach und die heiligen Gesetze erhielt. Dieser Akt der Illumination spielt in Freuds Interpretation keine Rolle. Für ihn ist Moses nicht der Erleuchtete, sondern ein Mensch, der wegen der Undankbarkeit seiner Anhänger mit dem eigenen Zorn zu leben lernt. »Damit rundet sich das Moses-Bild, das der Essay entwirft, zu einem Porträt Freuds. Er selbst ist Moses, denn auch er entwarf eine neue Lehre, unterwies die Adepten und hielt sie zur reinen Wahrheit an; am Ende aber verließen ihn Einzelne und bekämpften seinen Standpunkt. Als Moses der Psychoanalyse schleudert er den Blitz seines Zorns auf das undankbare Volk« (Alt 2016, 568).2
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Diese persönliche Auseinandersetzung zwischen Freud und Jung lässt sich auch als narzisstischer Konflikt lesen: Ähnlich wie die Enttäuschungserfahrung mit Fließ Freud letztlich zu einem entscheidenden theoretischen Durchbruch geführt hat (Aufgabe der Verführungstheorie – Einsicht in den phantasmatischen Charakter des Unbewussten) – und die Selbstanalyse im Anschluss an den Tod von Freuds Vater (Psychoanalyse des Traums) bringt Freud auch aus diesem Beziehungsdrama mit Jung einen theoretischen Gewinn mit: eine Theorie des Narzissmus, die ihm auch die unbewusste Seite der Spannungen und Auseinandersetzungen mit Jung verständlich machen konnte. – Damit zeigt sich ein drittes Mal die enge Verbindung von Selbstanalyse und theoretischem Fortschritt als Spezifikum psychoanalytischer Erkenntnis.
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Freud auf dem Weg zu seinem Narzissmus-Konzept: ein Spiegel seiner diesbezüglichen Schriften vor 1914 Havelock Ellis war der erste, der auf eine »Narcissus-like tendency« aufmerksam machte (vgl. Ellis 1898, 266f). Paul Näcke gab diese Aussage auf deutsch mit »Narzißmus« wieder und hat damit die Bezeichnung geschaffen, die Isidor Sadger und Freud dann übernehmen. Näcke gab diesem Wort aber eine ganz andere Bedeutung als Ellis. Dieser gebrauchte die Bezeichnung für die Beschreibung der Masturbation als eines autoerotischen sexuellen Phänomens, das er als einen Bestandteil normaler Sexualäußerungen erachtete. Im Gegensatz dazu verstand Näcke Narzissmus als ein explizit sexuelles Verhalten, das er als Perversion bezeichnete. Als Kennzeichen des Narzissmus sieht er das Verhalten von Männern, die sich mit Wohlgefallen im Spiegel betrachten bzw. von Frauen, die sich die Arme und die Hand küssen und dabei »ganz verliebt« aussehen (Näcke 1899, 131). Wichtig war ihm, zwischen »echtem« und »unechtem« Narzissmus zu unterscheiden: Der »echte« liege nur dann vor, wenn das Verhalten mit einem Orgasmus verbunden ist. Er grenzte also den Begriff »Narzissmus« auf eine pathologische Perversion ein und verwendete dabei einen Begriff von Sexualität, der an der damaligen Sexualwissenschaft orientiert war und sich deutlich von Freuds in den Drei Abhandlungen gebrauchtem, viel weiterem Verständnis unterschied. Als einen anderen Auslöser für Freuds Beschäftigung mit dem Narzissmus kann ein Hinweis von Karl Abraham gesehen werden. Dieser knüpfte an Freuds Konzept des Autoerotismus von 1905 an und beobachtete beim Psychotiker eine entsprechende Regression. »Der Geisteskranke überträgt die gesamte Libido, die der Gesunde all den lebenden und unbelebten Objekten der Umgebung zuwendet, allein auf sich selbst als sein einziges Sexualobjekt. Die Sexualüberschätzung gilt ebenfalls nur ihm selbst« (Abraham 1908, 141). Damit hatte Abraham ein erstes Verständnis für die Psychosen und ihre mangelnde Übertragungsbereitschaft erschlossen und eine spezifische Ich-Regression hervorgehoben. Isodor Sadger hält am 10.11.1909 in der Wiener Psychologischen Mittwochsgesellschaft einen Vortrag. Er bringt den Fall eines männlichen Homosexuellen, dessen Ätiologie er mit einer Fixierung auf frühere Liebesobjekte (die Mutter bzw. die eigene Person) erklärt. Es erscheint klar, warum Sadger dabei so selbstverständlich von Narzissmus sprach – er bezog sich auf den seit 1899 vorliegenden sexualwissenschaftlichen Narzissmusbegriff, der damit etwas Pathologisches, eine Perversion meint. Und er verwendet diesen ausschließlich in Bezug auf die männliche Homosexualität. Freuds Diskussionsbeitrag erweitert diesen Gedanken wesentlich und kann als dessen erste Aussage zum Themenkomplex Narzissmus betrachtet werden: »Neu und wertvoll scheine die Bemerkung Sadgers, die sich auf den Narzißmus beziehe. Dieser sei keine vereinzelte Erscheinung, sondern eine notwendige Entwicklungsstufe des Übergangs vom Autoerotismus zur Objektliebe. Die Verliebtheit in die eigene Person (=in die eigenen Genitalien) sei ein notwendiges Entwicklungsstadium. Von da gehe man zu ähnlichen Objekten über. Der Mensch hat ursprünglich zwei Sexualobjekte, und sein weiteres Leben hängt davon ab, bei welchem er fixiert bleibt. Diese beiden Sexualobjekte sind für jeden das Weib (die Mutter, Pflegerin etc.) und die eigene Person. Und es komme darauf an, beide loszuwerden und bei beiden nicht zu lange zu verweilen. Die
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eigene Person ist es dann meist, die sich durch den Vater ersetzt, der jedoch bald in die feindliche Position tritt. – Die Homosexualität zweigt an der Stelle ab. Er kommt von sich nicht so bald los, wie dieser Fall sehr schön zeigt« (Nunberg, Federn 1967, 282). Freud löst mit dieser Aussage den Narzissmus aus seiner ausschließlichen Verknüpfung mit der Homosexualität und macht ihn zu einer normalen Entwicklungsstufe, die auch nicht per se pathologisch ist. Narzissmus ist eine Entwicklungsphase (primärer Narzissmus), dadurch charakterisiert, dass man den eigenen Körper/das Selbst/das Ich – Freud verwendete diese Begriffe synonym – liebe. Narzissmus ist ferner eine Form von Objektwahl und Objektbeziehung (narzisstische Objektwahl). Damit wurde Narzissmus gleichbedeutend mit Selbstliebe im Unterschied zur reiferen Objektliebe. Schriftlich gebraucht Freud den Begriff erstmals 1910, und zwar anlässlich der 2. Auflage der Drei Abhandlungen in einer entsprechenden Fußnote. Er erklärt dort die Entstehung der »Inversion« so, »daß die später Invertierten in den ersten Jahren ihrer Kindheit eine Phase von sehr intensiver, aber kurzlebiger Fixierung an das Weib (meist an die Mutter) durchmachen, nach deren Überwindung sie sich mit dem Weib identifizieren und sich selbst zum Sexualobjekt nehmen, das heißt vom Narzißmus ausgehend jugendliche und der eigenen Person ähnliche Männer aufsuchen, die sie so lieben wollen, wie die Mutter sie geliebt hat« (Freud 1905b, 44, Fn.1). Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910): Freud ging zu dieser Zeit, wie wir gesehen haben, allmählich mit dem Konzept des Narzissmus schwanger – und man könnte mit einer gewissen Berechtigung bemerken, dass er mit dem Personenporträt von Leonardo da Vinci ein erstes narzisstisches Persönlichkeitsprofil entworfen hat. Freud beschreibt zunächst gewisse Charakterzüge des Leonardo, wie sie von seinen vielen Biografen festgehalten wurden. »Er war mild und gütig gegen alle, lehnte angeblich Fleischnahrung ab … machte sich einen besonderen Genuß daraus, Vögeln, die er auf dem Markte kaufte, die Freiheit zu schenken. Er verurteilte Krieg und Blutvergießen… Aber diese weibliche Zartheit des Empfindens hielt ihn nicht ab, verurteilte Verbrecher auf ihrem Wege zur Hinrichtung zu begleiten, um deren von Angst verzerrte Mienen zu studieren und in seinem Taschenbuche abzuzeichnen, hinderte ihn nicht, die grausamsten Angriffswaffen zu entwerfen und als oberster Kriegsherr in die Dienste des Cesare Borgia zu treten« (Freud 1910e, 134f). Dann kommt er zum für ihn zentralen Gesichtspunkt, Leonardos Sexualleben: »Was hierüber bei Leonardo bekannt ist, ist wenig, aber dieses wenige bedeutungsvoll. In einer Zeit, die schrankenlose Sinnlichkeit mit düsterer Askese ringen sah, war Leonardo ein Beispiel von kühler Sexualablehnung…. Seine hinterlassenen Schriften … sind in einem Grade keusch, – man möchte sagen: abstinent, … sie weichen allem Sexuellen so entschieden aus… Es ist zweifelhaft, ob Leonardo jemals ein Weib in Liebe umarmt hat; auch von einer intimen seelischen Beziehung zu einer Frau … ist nichts bekannt. Als Meister umgab er sich mit schönen Knaben und Jünglingen… mag man es für weitaus wahrscheinlicher halten, daß die zärtlichen Beziehungen Leonardos zu den jungen Leuten… nicht in geschlechtliche Betätigung ausliefen« (ebd., 135f). So zieht Freud einen ersten analytischen Schluss: »Seine Affekte waren gebändigt, dem Forschertrieb unterworfen… Er hatte die Leidenschaft nur in Wissensdrang verwandelt« (ebd., 141). Ohne den Begriff vorerst zu gebrauchen, wird dem Leser klar, dass Freud hier von einer gelungenen Sublimierung spricht.
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In der Folge beschreibt Freud drei Triebschicksale der frühesten Sexualverdrängung – und macht für Leonardo die dritte Variante geltend: »Der dritte, seltenste und vollkommenste Typus entgeht kraft besonderer Anlage der Denkhemmung wie dem neurotischen Denkzwang. Die Sexualverdrängung tritt zwar auch hier ein, aber es gelingt ihr nicht, einen Partialtrieb der Sexuallust ins Unbewußte zu weisen, sondern die Libido entzieht sich dem Schicksal der Verdrängung, indem sie sich von Anfang an in Wißbegierde sublimiert« (ebd., 147). Freud rekonstruiert nun, was er über die Kindheit und die sozialen Umstände von Leonardos Jugendzeit weiß. Leonardo war ein uneheliches Kind, sein Vater ein Notar, seine Mutter »wahrscheinlich ein Bauernmädchen«. Da die Ehe des Vaters mit seiner damaligen Frau kinderlos blieb, nahm er Leonardo im Alter von 3 bis 5 Jahren in sein Haus auf, wo Leonardo lebte, bis er als Lehrling in eine Künstlerwerkstatt eintrat. Im Zentrum von Freuds Recherche steht die einzige Mitteilung, die Leonardo zu seiner Kindheit machte: »[...] es kommt mir als eine ganz frühe Erinnerung in den Sinn, als ich noch in der Wiege lag, ist ein Geier zu mir herabgekommen, hat mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und viele Male mit diesem seinen Schwanz gegen meine Lippen gestoßen« (Leonardo, zit.n. Freud 1910f, 150). Freud versteht diese Äußerung nicht als direkte Erinnerung, sondern als eine Phantasie, die dieser sich später gebildet und in seine Kindheit zurückversetzt hat. Seine Deutung zielt direkt aufs Erotische: »Schwanz, ›coda‹, ist eines der bekanntesten Symbole und Ersatzbezeichnungen des männlichen Gliedes… daß ein Geier den Mund des Kindes öffnet und mit dem Schwanz tüchtig darin herumarbeitet, entspricht der Vorstellung einer Fellatio … sie ähnelt auch gewissen Träumen und Phantasien von Frauen oder passiven Homosexuellen… Hinter dieser Phantasie verbirgt sich doch nichts anderes als eine Reminiszenz an das Saugen – oder Gesäugtwerden – an der Mutterbrust« (ebd., 154f). Freud fragt sich nun, »warum dieser Erinnerungsinhalt in eine homosexuelle Situation umgearbeitet worden ist« (ebd., 162). Seine Überlegungen münden in eine These, die für einen bestimmten Typus männlicher Homosexualität gelten soll: »Bei allen unseren homosexuellen Männern gab es in der ersten, vom Individuum später vergessenen Kindheit eine sehr intensive erotische Bindung an eine weibliche Person, in der Regel an die Mutter, hervorgerufen oder begünstigt durch die Überzärtlichkeit der Mutter selbst, ferner unterstützt durch ein Zurücktreten des Vaters im kindlichen Leben« (ebd., 169). – Und jetzt kommt eine einschlägig narzisstische Deutung der weiteren psychosexuellen Entwicklung: »Die Liebe zur Mutter kann die weitere bewußte Entwicklung nicht mitmachen, sie verfällt der Verdrängung. Der Knabe verdrängt die Liebe zur Mutter, indem er sich selbst an deren Stelle setzt, sich mit der Mutter identifiziert und seine eigene Person zum Vorbild nimmt, in dessen Ähnlichkeit er seine neuen Liebesobjekte auswählt. Er ist so homosexuell geworden; eigentlich ist er in den Autoerotismus zurückgeglitten, da die Knaben, die der Heranwachsende jetzt liebt, doch nur Ersatzpersonen und Erneuerungen seiner eigenen kindlichen Person sind, die er so liebt, wie die Mutter ihn als Kind geliebt hat. Wir sagen, er findet seine Liebesobjekte auf dem Wege des Narzißmus, da die griechische Sage einen Jüngling Narzissus nennt, dem nichts so wohl gefiel wie das eigene Spiegelbild« (ebd., 170). Also: Narzissmus wird hier verstanden als die libidinöse Ergänzung des Ichs bzw. des eigenen Körpers. Das ist aber nur die eine Seite dieser Erfahrung. Wesentliches
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Augenmerk legt Freud auf Leonardos Objektwahl. Seine Hypothese dazu ist, dass er sich mit den jungen Männern, die er liebte, wie eine Mutter umgab, also mit seiner ihn liebenden Mutter identifiziert und zugleich über den Umweg der Jungen sich selbst liebte. Und diese Art der Selbstliebe bezeichnet Freud als narzisstisch. – Und er bringt hier erstmals den Narzissmusbegriff mit Identifizierung in Verbindung: Es geht nicht nur darum, sich selbst zu lieben, sondern durch die Vorstellung, mit der Mutter identifiziert zu sein, sich selbst zu lieben, wie es einst die Mutter tat.3 Dieses Moment taucht in der für den Narzissmus so grundlegenden Metapher des Spiegels auf.4 Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (1911): Auch die Schreber-Studie enthält eine ganze Reihe von Vorwegnahmen des drei Jahre später folgenden Narzissmus-Konzepts. So spielt in Freuds Analyse dieses als Paranoia bezeichneten Krankheitsbildes der Größenwahn und die passive homosexuelle Einstellung eine entscheidende Rolle: »Wir würden sagen, der paranoische Charakter liegt darin, daß zur Abwehr einer homosexuellen Wunschphantasie gerade mit einem Verfolgungswahn von solcher Art reagiert wird« (Freud 1911b, 295). Im Kapitel Über den paranoischen Mechanismus kommt Freud explizit auf den Narzissmus zu sprechen. »Untersuchungen der letzten Zeit haben uns auf ein Stadium in der Entwicklungsgeschichte der Libido aufmerksam gemacht, welches auf dem Wege vom Autoerotismus zur Objektliebe durchschritten wird. Man hat es als Narzissismus bezeichnet; ich ziehe den vielleicht minder korrekten, aber kürzeren und weniger übelklingenden Namen Narzißmus vor. Es besteht darin, daß das in der Entwicklung begriffene Individuum, welches seine autoerotisch arbeitenden Sexualtriebe zu einer Einheit zusammenfaßt, um ein Liebesobjekt zu gewinnen, zunächst sich selbst, seinen eigenen Körper zum Liebesobjekt nimmt, ehe es von diesem zur Objektwahl einer fremden Person übergeht… Der weitere Weg führt zur Wahl eines Objekts mit ähnlichen Genitalien, also über die homosexuelle Objektwahl, zur Heterosexualität« (ebd., 297). Narzissmus wird also jetzt als »Stadium der Entwicklungsgeschichte der Libido«, als eine »zwischen Autoerotismus und Objektwahl vermittelnde Phase« eingeführt. Eine Fixierung auf dieses Stadium verursache »eine Hochflut von Libido«, welche die »sozialen Triebe der Sexualisierung unterzieht« und bereits etablierte Sublimierungen homosexueller Strebungen rückgängig macht (ebd., 296f). Die innere Verbindung zwischen Narzissmus und Paranoia vermutet Freud so: »[...]daß die schwache Stelle ihrer Entwicklung in dem Stück zwischen Autoerotismus, Narzißmus und Homosexualität zu suchen ist« (ebd., 298). In der Sprache der Libidoökonomie klingt der Vorgang, den Freud unterstellt, dann so: »Wir erinnern uns daran, daß die meisten Fälle von Paranoia ein Stück Größenwahn zeigen ... Daraus wollen wir schließen, daß die frei gewordene Libido bei der Paranoia zum Ich geschlagen, zur Ichvergrößerung verwendet wird. Damit ist das aus der Entwicklung der Libido
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Melanie Klein wird dieses Konzept weiter entwickeln zur 1946 von ihr eingeführten projektiven Identifizierung (vgl. Klein 1946). Wie Lacan später deutlich gemacht hat, ist die Spiegelerfahrung nicht möglich ohne den Dritten, den Blick, die mimisch-sprachliche Bestätigung des Gesehenen durch die Mutter (vgl. Lacan 1966, 61f).
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bekannte Stadium des Narzißmus wieder erreicht« (ebd., 309). Damit hat Freud eine neue Erklärung für die libidinösen Vorgänge, die bei der Psychose wirksam werden, gefunden. Totem und Tabu (1912/13): Was Freud und seine Mitstreiter in Wien in diesen Jahren zunehmend diskutierten, waren die Parallelen zwischen Neurose und Mythologie. So untersuchte Ranks Abhandlung Mythos von der Geburt des Helden von 1909 die Verbindungen zwischen kollektiver Erinnerung und Psychologie. Am Ende der Schreber-Studie schrieb Freud, in Träumen und Neurosen finde man nicht nur das Kind, sondern »auch den wilden, primitiven Menschen« (Freud 1911b, 320). Freuds Arbeit Totem und Tabu erschien 1912 und 1913 in den ersten beiden Bänden der neu gegründeten Zeitschrift Imago. Mit dieser Publikation suchte Freud auch eine Entgegnung auf Jungs Wandlungen und Symbole der Libido. »Wo Jung eine gleichsam überzeitliche Manifestation des menschlichen Trieblebens in den Kulturen der Welt nachzuweisen suchte, betonte Freud gerade die konkrete Analogie von barbarischen Riten und zwangsneurotischen Störungen« (Alt 2016, 574). Die Abhandlung besteht aus vier Teilen. Zunächst geht es um die Inzestscheu, dann um die Funktion von Tabus. Im dritten Abschnitt befasst sich Freud mit Animismus, Magie und Totemkult, um schließlich die Verbindungen zwischen Vatermord und Totem sowie deren Zusammenhang mit der infantilen Sexualität zu erklären. Freud stützt sich auf ethnologisches und anthropologisches Material, um seine These zu entwickeln, wonach es zwischen den Entdeckungen der Psychoanalyse, vor allem zum Problemkreis des Ödipuskomplexes (Vatermord und Inzesttabu), und den Riten und Vorstellungswelten der so genannten »Wilden« signifikante Übereinstimmungen gäbe. Im Zentrum dieses frühen Weltbildes steht – so Freud – das Tabu des Inzest. Wie jedes Verbot offenbare es einen Zwangscharakter. Die Vorschrift, »den Totem nicht zu töten, und kein Weib, das dem Totem angehört, sexuell zu gebrauchen, steht für die Gesamtheit des Inzest-Mythos« (Freud 1912/1913, 160). Freud geht von einer Vererbung von psychischen Strukturen aus, die die Menschheit in ihren Uranfängen entwickelt hat. Diese archaischen Spuren zeigten sich in den ambivalenten Gefühlen, die auch jedes moderne Individuum gegenüber seinem Vater spüre – und dem unbewussten Schuldgefühl – als Überrest des Urverbrechens, das die Brüderhorde, im Hass vereint, gegen den Urvater beging, indem es ihn ermordete und anschließend in einem Opfermahl aufaß. – Die Religionen seien eine Ausdrucksform davon. Der Kern der Abhandlung dreht sich um die Beziehung zwischen Totemismus und Ödipuskomplex: »Wenn das Totemtier der Vater ist, dann fallen die beiden Tabuvorschriften, die seinen Kern ausmachen, den Totem nicht zu töten und kein Weib, das dem Totem angehört, sexuell zu gebrauchen, inhaltlich zusammen mit den beiden Verbrechen des Ödipus, der seinen Vater tötete und seine Mutter zum Weibe nahm, und mit den beiden Urwünschen des Kindes, deren ungenügende Verdrängung oder deren Wiedererweckung den Kern vielleicht aller Psychoneurosen bildet« (ebd., 160). Im dritten Abschnitt kommt Freud auf die individuelle Entwicklung zu sprechen, insbesondere auf die Libidoentwicklung. Er nimmt hier den Gedanken wieder auf, den wir zum Teil aus den Drei Abhandlungen, dann aber aus der Schreber-Studie kennen: »Es hat sich bei weiterem Studium als zweckmäßig, ja als unabweisbar gezeigt, zwischen
Zur Einführung des Narzißmus: Wendepunkt und Auslöser einer kontroversen Debatte
diesen beiden Stadien ein drittes einzuschieben, oder, wenn man so will, das erste Stadium des Autoerotismus in zwei zu zerlegen. In diesem Zwischenstadium, dessen Bedeutsamkeit sich der Forschung immer mehr aufdrängt, haben die vorher vereinzelten Sexualtriebe sich bereits zu einer Einheit zusammengesetzt und auch ein Objekt gefunden; dies Objekt ist aber kein äußeres, dem Individuum fremdes, sondern es ist das eigene, um diese Zeit konstituierte Ich« (ebd., 109). Der Fortschritt des narzisstischen Stadiums bestünde also, pointiert ausgedrückt, in einer Nicht-Anerkennung oder Verleugnung einer äußeren Realität, die im Primärobjekt repräsentiert ist. Diese wird als äußere Lustquelle negiert – und zwei Objekte, Brust und Mund, verschmelzen zu einem. Damit macht Freud eine deutliche Differenz zwischen Autoerotismus und Narzissmus fest: Narzissmus imponiert als »libidinöse Bezugnahme des Subjekts auf ein imaginär-phantasmatisches ganzes ›Ich-Subjekt‹, auf ein Ich als Imago des ›ganzheitlichen Körpers‹« (Gast 1992, 58). Und jetzt kommt ein weiterer neuer Gedanke: Freud betont, »daß die narzißtische Organisation nie mehr völlig aufgegeben wird. Der Mensch bleibt in gewissem Sinne narzißtisch, auch nachdem er äußere Objekte für seine Libido gefunden hat; die Objektbesetzungen, die er vornimmt, sind gleichsam Emanationen der beim Ich verbleibenden Libido und können wieder in dieselbe zurückgezogen werden. Die psychologisch so merkwürdigen Zustände von Verliebtheit, die Normalvorbilder der Psychosen, entsprechen dem höchsten Stande dieser Emanationen im Vergleich zum Niveau der Ichliebe« (Freud 1912/1913, 110). Freud geht hier also im Vergleich zur Leonardo-Studie und zur Schreber-Analyse einen entscheidenden Schritt weiter: War bisher der Narzissmus als Stadium der Libidoentwicklung beschrieben, das unter normalen Bedingungen zur Objektliebe hin überschritten wird bzw. im pathologischen Fall mittels einer Regression wieder aktiviert wird, so wird jetzt der Narzissmus auf der ganzen Linie normalisiert: Nicht nur ist er ein normales Stadium der Libidoentwicklung; er bleibt zudem lebenslang eine wesentliche Komponente der Libidoorganisation und -ökonomie. Ein bestimmter Beitrag der Objektliebe ist immer narzisstisch – und ein zentrales Phänomen menschlichen Begehrens, die Verliebtheit, wird ab nun als exemplarische Äußerungsform des Narzissmus verstanden. Eigentlich hat Freud in dieser Arbeit noch eine weitere Idee der Narzissmus-Studie vorweggenommen, nämlich das Konzept des Ich-Ideals. Was er hier in Form des Tabus in die Frühzeit der Menschheit verlegt, wird er 1914 als allgemeines Triebschicksal des Narzissmus beschreiben: Das Ich-Ideal wird zur Ersatzbildung für den zumindest teilweise aufzugebenden primären Narzissmus.
Zur Einführung des Narzißmus (1914) Freud bereitet parallel zur Einführung die Arbeit Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung vor, eine Abrechnung mit allen Abtrünnigen, und spricht diesbezüglich merkwürdigerweise immer von der »Bombe«, die dann im Juli mit der Publikation platzt. Zur gleichen Zeit werden andere Bomben vorbereitet, am 28.6. 1914 wird Erzherzog Ferdinand in Sarajevo ermordet, der Erste Weltkrieg beginnt sechs Wochen später.
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diesen beiden Stadien ein drittes einzuschieben, oder, wenn man so will, das erste Stadium des Autoerotismus in zwei zu zerlegen. In diesem Zwischenstadium, dessen Bedeutsamkeit sich der Forschung immer mehr aufdrängt, haben die vorher vereinzelten Sexualtriebe sich bereits zu einer Einheit zusammengesetzt und auch ein Objekt gefunden; dies Objekt ist aber kein äußeres, dem Individuum fremdes, sondern es ist das eigene, um diese Zeit konstituierte Ich« (ebd., 109). Der Fortschritt des narzisstischen Stadiums bestünde also, pointiert ausgedrückt, in einer Nicht-Anerkennung oder Verleugnung einer äußeren Realität, die im Primärobjekt repräsentiert ist. Diese wird als äußere Lustquelle negiert – und zwei Objekte, Brust und Mund, verschmelzen zu einem. Damit macht Freud eine deutliche Differenz zwischen Autoerotismus und Narzissmus fest: Narzissmus imponiert als »libidinöse Bezugnahme des Subjekts auf ein imaginär-phantasmatisches ganzes ›Ich-Subjekt‹, auf ein Ich als Imago des ›ganzheitlichen Körpers‹« (Gast 1992, 58). Und jetzt kommt ein weiterer neuer Gedanke: Freud betont, »daß die narzißtische Organisation nie mehr völlig aufgegeben wird. Der Mensch bleibt in gewissem Sinne narzißtisch, auch nachdem er äußere Objekte für seine Libido gefunden hat; die Objektbesetzungen, die er vornimmt, sind gleichsam Emanationen der beim Ich verbleibenden Libido und können wieder in dieselbe zurückgezogen werden. Die psychologisch so merkwürdigen Zustände von Verliebtheit, die Normalvorbilder der Psychosen, entsprechen dem höchsten Stande dieser Emanationen im Vergleich zum Niveau der Ichliebe« (Freud 1912/1913, 110). Freud geht hier also im Vergleich zur Leonardo-Studie und zur Schreber-Analyse einen entscheidenden Schritt weiter: War bisher der Narzissmus als Stadium der Libidoentwicklung beschrieben, das unter normalen Bedingungen zur Objektliebe hin überschritten wird bzw. im pathologischen Fall mittels einer Regression wieder aktiviert wird, so wird jetzt der Narzissmus auf der ganzen Linie normalisiert: Nicht nur ist er ein normales Stadium der Libidoentwicklung; er bleibt zudem lebenslang eine wesentliche Komponente der Libidoorganisation und -ökonomie. Ein bestimmter Beitrag der Objektliebe ist immer narzisstisch – und ein zentrales Phänomen menschlichen Begehrens, die Verliebtheit, wird ab nun als exemplarische Äußerungsform des Narzissmus verstanden. Eigentlich hat Freud in dieser Arbeit noch eine weitere Idee der Narzissmus-Studie vorweggenommen, nämlich das Konzept des Ich-Ideals. Was er hier in Form des Tabus in die Frühzeit der Menschheit verlegt, wird er 1914 als allgemeines Triebschicksal des Narzissmus beschreiben: Das Ich-Ideal wird zur Ersatzbildung für den zumindest teilweise aufzugebenden primären Narzissmus.
Zur Einführung des Narzißmus (1914) Freud bereitet parallel zur Einführung die Arbeit Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung vor, eine Abrechnung mit allen Abtrünnigen, und spricht diesbezüglich merkwürdigerweise immer von der »Bombe«, die dann im Juli mit der Publikation platzt. Zur gleichen Zeit werden andere Bomben vorbereitet, am 28.6. 1914 wird Erzherzog Ferdinand in Sarajevo ermordet, der Erste Weltkrieg beginnt sechs Wochen später.
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Erst im dritten Abschnitt kommt Freud auf das möglicherweise entscheidende Motiv für diesen Text zu sprechen, die zwei »Abfallbewegungen«. Er beginnt mit einer ausführlichen Diskussion darüber, dass es eigentlich nicht verwunderlich sei, dass die Kräfte von Widerstand und Verdrängung auch innerhalb der psychoanalytischen Bewegung wirksam seien, um dann zu erklären, worum es ihm bei dieser folgenden Darstellung geht: »Ich will bloß zeigen, daß – und in welchen Punkten – diese Lehren die Grundsätze der Analyse verleugnen und darum nicht unter diesem Namen behandelt werden sollen« (Freud 1914a, 93). Zunächst widmet sich Freud dem »Abweichler« Adler: »[...] die Adlersche Theorie war von allem Anfang an ein ›System‹, was die Psychoanalyse sorgfältig zu sein vermied. Sie ist auch ein ausgezeichnetes Beispiel einer ›sekundären Bearbeitung’… sie besteht demnach aus drei recht ungleichwertigen Elementen, den guten Beiträgen zur Ichpsychologie, den – überflüssigen, aber zulässigen – Übersetzungen der analytischen Tatsachen in den neuen Jargon, und in den Entstellungen und Verdrehungen der letzteren« (ebd., 96). Und jetzt kommt Freud auf den Kern des Adlerschen »Systems« zu sprechen: »Der Systemgedanke Adlers lautet bekanntlich, es sei die Absicht der Selbstbehauptung des Individuums, sein ›Wille zur Macht‹, der sich in der Form des ›männlichen Protests‹ in Lebensführung, Charakterbildung und Neurose dominierend kundtut. Dieser männliche Protest ist aber nichts anderes als die von ihrem psychologischen Mechanismus losgelöste Verdrängung, die überdies sexualisiert wird« (ebd., 98). – An dieser Stelle wird deutlich, warum Freud die Verdrängungslehre als »Grundpfeiler« der Psychoanalyse bezeichnete. Das Abrücken von dieser ist für ihn, wie er später schreiben wird, das »Schiboleth« (vgl. Freud 1905b, 128, Fn., 1920 hinzugefügt; und auch in Freud 1914a, 101 – diesmal mit Bezug auf den Traum). Und er schreibt weiter: »Von den beiden … Bewegungen ist die Adlersche unzweifelhaft die bedeutsamere; radikal falsch, ist sie doch durch Konsequenz und Kohärenz ausgezeichnet. Sie ist auch noch immer auf eine Trieblehre gegründet. Die Jungsche Modifikation dagegen hat den Zusammenhang mit dem Triebleben gelockert; sie ist übrigens, wie ihre Kritiker (Abraham, Ferenczi, Jones) hervorgehoben, so unklar, undurchsichtig und verworren, daß es nicht leicht ist, Stellung zu ihr zu nehmen…. Sie stellt sich selbst in eigentümlich schwankender Weise vor, bald als ›ganz zahme Abweichung, die das Geschrei nicht wert sei, das sich darum erhoben habe‹ (Jung), bald als neue Heilsbotschaft, mit der eine neue Epoche für die Psychoanalyse beginne, ja, eine neue Weltanschauung für alle übrigen« (ebd., 105). – Als entscheidende inhaltliche Veranlassung für das Abrücken Jungs von der Psychoanalyse sieht Freud den Status des Sexuellen (»die theoretische Zurückdrängung des sexuellen Moments«; 103). Insgesamt bringt Freud dem Adlerschen Konzept mehr Respekt entgegen als den Wandlungen und Symbole der Libido von Jung. Alles sei hier nur »symbolisch« gemeint (»der Inzestkomplex sei nur symbolisch, er habe doch keine reale Existenz«, 110), was schließlich »eine volle Abwendung von der Beobachtung und von der Technik der Psychoanalyse notwendig« mache (ebd., 108). Abschließend erklärt Freud optimistisch, dass diese zwei Abfallbewegungen die »starke Idee« der Psychoanalyse nicht ernsthaft gefährden könnten: »Die Psychoanalyse wird diesen Verlust ertragen und für diese Anhänger neue gewinnen« (ebd., 113).
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Freuds Plan in diesen Jahren war es, eine größere metapsychologische Abhandlung zu verfassen, die die Themen Narzissmus, Trieb, Verdrängung und das Unbewusste behandeln sollten. Den Beginn machte er mit seiner Abhandlung über den Narzissmus, die im März 1914 beendet war.5 Später ergänzte er sein Konzept durch die Beiträge zu Trauer und Melancholie und Metapsychologische Ergänzung der Traumlehre. Zu diesen fünf Texten sollten sieben weitere Kapitel folgen, die zwar geschrieben, aber von Freud vernichtet wurden – »vermutlich deshalb, weil er nach 1920 mit der Ausdehnung der Trieblehre und der Einführung des ›Es‹ eine verbesserte Grundlegung seines Systems geschaffen hatte, die frühere Versuche obsolet machte« (Alt 2016, 608). – Zum einen wollte Freud mit Hilfe seines Narzissmus-Konzepts ein Verständnis der Psychose liefern, das seinem Libido-Konzept angemessen war. Schwächen der ersten Triebtheorie sollten überwunden werden, ohne sie freilich grundsätzlich aufzugeben. Zweitens versuchte Freud, auf das Adlersche Ichkonzept und den Jungschen Triebmonismus und dessen entsexualisierten Libidobegriff mit einer eigenen Konzeption zu antworten, die eine sowohl klinische als auch metapsychologische Absicherung seiner Grundannahmen gegenüber Adler und Jung sicherstellen sollte. Insofern kann dieser Text »nicht nur als Schlußakkord der personellen und konzeptionellen Schismen innerhalb der Psychoanalytischen Gemeinschaft, sondern darüberhinaus auch als substantieller Wendepunkt im Freudschen Oevre bezeichnet werden« (Gast 1997, 51). Bevor wir nun zur Analyse von Freuds Text gehen, wollen wir uns kurz den NarzissMythos in Erinnerung rufen: In der griechischen Mythen- und Sagenwelt sind unterschiedliche Versionen des Narzissmythos tradiert. Am bekanntesten ist die Version, die Ovid in den Metamorphosen darstellt. Dort ist Narzissos der Sohn der Nymphe Leiriope durch Vergewaltigung durch den Flussgott Kephissos. Der Seher Teiresias sagt Narzissos ein langes Leben voraus, vorausgesetzt, er erkenne sich niemals selbst. Narziss ist den ambivalenten Gefühlen seiner Mutter ausgeliefert: Einerseits ist er ihr Augapfel, andererseits sah sie in ihm das Abbild des Vergewaltigers. Später wies Narziss das Liebeswerben von Männern und Frauen zurück und ist von Stolz auf seine eigene Schönheit erfüllt. Einem seiner Bewerber, Amenios, schickt er ein Schwert. Dieser suizidiert sich damit und ruft die Götter um Rache an. Seine Bitte wird von Artemis erhört, die Narziss mit unerfüllbarer Selbstliebe straft. – Die Nymphe Echo, die von Hera mit dem Verlust der Sprache bestraft wird, weil sie sie mit allzu langen Reden langweilte, kann nur die Rufe der anderen wiederholen. Sie kann also auch kein wirkliches Objekt von Liebe sein. Sie verliebt sich in Narziss, verfolgt ihn auf einer Hirschjagd. Er verirrt sich und ruft: »Ist da jemand?« Sie antwortet entsprechend. Er darauf: »Ich würde lieber sterben, als mit dir zu liegen« – was sie wiederholt. Echo verbringt den Rest ihres Lebens in einsamen Schluchten und siecht an ihrem Liebeskummer dahin, bis nur noch ihre Stimme blieb.
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Zur Entstehung des Textes: Freud verbrachte im Sommer 1913 »17 delicious days« mit seiner Schwägerin Minna in Rom. Dort beschäftigt er sich einmal mehr mit der Moses-Darstellung, über die er dann auch noch 1914 seinen Aufsatz schreiben wird – und beginnt mit seinem Narzissmus-Text: »At Rome I began to do some work, I attacked the matter of Narzissm and wrote a first paper on it« (Brief Freuds an Jones vom 1.10.1913; in Freud&Jones 1993, 37).
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Die unerfüllte Selbstliebe von Narziss findet ein Ende, als er in einer Quelle sein Spiegelbild erblickt und sich in dieses verliebt. Die Unerreichbarkeit dieses Bildes treibt ihn schließlich in den Selbstmord. Aus seinem Blut entspringt eine Blume, die Narzisse. Etymologisch hat die Blume dem Mythos den Namen gegeben, der wegen ihres betäubenden Duftes mit »narkotisch« in Zusammenhang steht. Also: Der Mythos des Narzissos steht für die Narkotisierung bzw. Abtötung unerträglicher Gefühle, für die fehlende Wahrnehmung und Spiegelung der Gefühle des Anderen bzw. für den Versuch der Restitution eines verletzten Narzissmus durch narzisstische Abwehrformen wie Grandiosität, übersteigerte Selbstliebe und Distanzierung vom Anderen. Im März 1914 schreibt Freud an Karl Abraham: »Ich schicke Ihnen morgen den Narzißmus, der eine schwere Geburt war und alle Deformationen einer solchen zeigt. Er gefällt mir natürlich nicht besonders … Er bedarf noch sehr der Retouche« (Freud&Abraham 2009, 163). Einer der ersten Leser, Sandor Ferenczi, verfällt sogleich dem Faszinosum: »Soeben den Narzißmus mit Entzücken gelesen. Längst kein solches Vergnügen an einer Lektüre gefunden« (Brief vom 4.6.1914; in: Freud&Ferenczi 1993-2005, 304). Freud beginnt diese Abhandlung, indem er eine »klinische Deskription« von Paul Näcke anführt, der 1899 Narzissmus als Bezeichnung eines Verhaltens wählte, »bei welchem ein Individuum den eigenen Leib in ähnlicher Weise behandelt wie sonst den eines Sexualobjekts, … bis es durch diese Vornahmen zur vollen Befriedigung gelangt. In dieser Ausbildung hat der Narzißmus die Bedeutung einer Perversion, welche das gesamte Sexualleben der Person aufgesogen hat« (Freud 1914c, 138). Freud stellt diese Annahme sogleich in Frage und beruft sich dabei auf die »psychoanalytische Beobachtung«, »daß einzelne Züge des narzißtischen Verhaltens bei vielen mit anderen Störungen behafteten Personen gefunden werden, so nach Sadger, bei Homosexuellen, und endlich lag die Vermutung nahe, daß eine als Narzißmus zu bezeichnende Unterbringung der Libido in viel weiterem Umfang in Betracht kommen und eine Stelle in der regulären Sexualentwicklung des Menschen beanspruchen könnte… Narzißmus in diesem Sinne wäre keine Perversion, sondern die libidinöse Ergänzung zum Egoismus des Selbsterhaltungstriebes, von dem jedem Lebewesen mit Recht ein Stück zugeschrieben wird« (ebd., 138, 139). – Freud nimmt also in Abgrenzung zum Paradigma der damaligen Sexualwissenschaft den Narzissmus aus dem Bereich der Pathologie heraus. Narzissmus – und das ist Freuds entscheidende erste Weichenstellung – sollte nicht primär als Perversion, sondern einmal als normales Entwicklungsstadium, zum anderen als eine wesentliche Seite der Ichtriebe, die bislang unerkannt war, verstanden werden. Als weiteres »dringendes« Motiv für diese neue Hypothese eines primären Narzissmus bringt Freud seine neuen Überlegungen zu den Psychosen, angeregt durch Abrahams Bild der Rückwendung der Libido auf das Ich als Quelle des Größenwahns der Dementia praecox. – Dieser Narzissmus ist demnach ein Hindernis; der Narzisst lässt sich von der Analyse nicht erreichen: »[...] denn es schien, als ob ein solches narzißtisches Verhalten derselben eine der Grenzen ihrer Beeinflußbarkeit herstellte« (ebd., 138). Narzissmus ist ein Hindernis, eine Grenze gegenüber dem Anderen in dem Maße, als dieser auf Widerspiegelung ausgerichtet ist: »Narziss verliebt sich in sein eigenes Bild, weil sein Trieb den anderen nicht erreicht; sein einziges Objekt ist sein eigenes Bild. Und das
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Subjekt kann leicht die imaginäre Spiegelung seiner selbst für ein anderes Objekt halten, weil eine Oberfläche es zurückwirft« (Benvenuto 2011, 130). Es sind die zwei grundlegenden Charakterzüge dieses Krankheitsbildes, die Freud so zu erklären glaubt – »den Größenwahn und die Abwendung ihres Interesses von der Außenwelt« (Freud 1914c, 139). So begreift er den Größenwahn als Folge des Rückzugs der Objektlibido, die – anders als bei den Übertragungsneurosen, wo die äußeren Objekte als imaginäre besetzt bleiben – dem Ich zugeführt wird: »Die der Außenwelt entzogene Libido ist dem Ich zugeführt worden, so daß ein Verhalten entstand, welches wir Narzißmus heißen können. Der Größenwahn selbst ist aber keine Neuschöpfung, sondern [...] die Vergrößerung und Verdeutlichung eines Zustandes, der schon vorher bestanden hatte…. Somit werden wir dazu geführt, den Narzißmus, der durch Einbeziehung der Objektbesetzungen entsteht, als einen sekundären aufzufassen, welcher sich über einen primären, durch mannigfache Einflüsse verdunkelten, aufbaut« (ebd., 140). – Diesen »Größenwahn« glaubt Freud auch an kleinen Kindern und »primitiven Völkern« zu finden.6 Gehen wir Schritt für Schritt vor: Für Freuds bisherigen Zugang zur Psychose war die Annahme entscheidend, dass der grundlegende Konflikt des Subjekt der zwischen außen und innen, zwischen äußeren Ansprüchen und eigenen Wünschen ist. Das Ich hat mit seinem Selbsterhaltungstrieb die Interessen dieser äußeren Realität gegenüber den Wünschen als Abkömmlingen der Libido zu vertreten. Der Realitätsverlust des Psychotikers stellt diese Auffassung in Frage: Wie lässt sich dieser Realitätsverlust erklären, wenn das Ich ausschließlich als Repräsentant der Realität verstanden wird? – Freud geht jetzt einen radikal neuen Weg: Er lässt das Ich die Seite wechseln. Das Ich, bislang der Gegenspieler der Libido, wird jetzt zum Reservoir derselben. Um aber die Psychoanalyse als Konfliktpsychologie zu erhalten, muss er dem Ich einen neuen Gegner verschaffen. Und dies tut er durch die Hypothese einer neuen grundsätzlichen Spaltung – nicht mehr zwischen Wunsch und Realität, sondern von Ich und Objekt. Freuds erste Theoretisierung betrifft also die Behauptung eines primären Narzissmus als einer »ursprünglichen Libidobesetzung des Ichs« – und daraus folgt die notwendige und folgenreiche Differenzierung von Ichlibido und Objektlibido. – Diese Differenzierung, so nimmt Freud weiters an, ist nicht von Anfang an gegeben, »[...] daß es erst mit der Objektbesetzung möglich wird, eine Sexualenergie, die Libido, von einer Energie der Ichtriebe zu unterscheiden« (ebd., 141). Mit dieser neuen Unterscheidung von Ich- und Objektlibido führt Freud einen neuen Dualismus ein, der jedoch – und das ist entscheidend – in der Libido selbst angesiedelt ist – und in weiterer Folge zu einer Neubestimmung der Position und der Funktion des Ich zwingt. Freud resümiert diesen Schritt 6 Jahre später: »Der nächste Schritt erfolgte, als sich die Psychoanalyse näher an das psychologische Ich herantasten konnte, das ihr zunächst als verdrängende, zensurierende und zu Schutzbauten, Reaktionsbildungen befähigte Instanz bekannt geworden war. … indem sie die Libidoentwicklung des Kindes in den frühesten Phasen studierte, kam sie zur Einsicht, daß das Ich das eigentliche und ursprüngliche Reservoir der Libido sei, die erst von da aus
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Vgl. Freuds diesbezügliche Ausführungen in Totem und Tabu.
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auf das Objekt erstreckt werde. Das Ich trat unter die Sexualobjekte und wurde sogleich als das vornehmste unter ihnen erkannt« (Freud 1920b, 55f). Das Ich wird also als ein ursprüngliches Reservoir der Libido erkannt – und nicht mehr wie bislang als Gegenspieler derselben. Damit begibt sich Freud aber in gefährliche Nähe zum Jungschen Triebmonismus, was er auch registriert: »Wenn wir dem Ich eine primäre Besetzung mit Libido zuerkennen, wozu ist es überhaupt noch nötig, eine sexuelle Libido von einer nicht sexuellen Energie der Ichtriebe zu trennen« (Freud 1914b, 141)? Und weiter mit Blick auf Jung: »Würde die Zugrundelegung einer einheitlichen psychischen Energie nicht alle Schwierigkeiten der Sonderung von Ichtriebenergie und Ichlibido, Ichlibido und Objektlibido ersparen« (ebd., 141)? So stellen sich für Freud zwei neue und brennende Fragen: 1. Wie verhält sich dieser Narzissmus zu seiner bislang gültigen Beschreibung des Frühzustandes der Libido, dem Autoerotismus? 2. Wie lässt sich der aus vielerlei Gründen für Freud obligatorische Triebdualismus weiter rechtfertigen? Die erste Frage wird scheinbar klar beantwortet, lässt aber, wie wir noch sehen werden, weitere Fragen auftauchen: »Es ist eine notwendige Annahme, daß eine dem Ich vergleichbare Einheit nicht von Anfang an im Individuum vorhanden ist; das Ich muß entwickelt werden. Die autoerotischen Triebe sind aber uranfänglich; es muß also irgend etwas zum Autoerotismus hinzukommen, eine neue psychische Aktion, um den Narzißmus zu gestalten« (ebd., 142). – Wir sind gespannt, welche weiteren Überlegungen Freud anstellt, um diese »neue psychische Aktion« zu erhellen. Zunächst: Was ist das Problem mit Freuds Hypothese eines primären Narzißmus? Wie Lilli Gast hervorhebt, besteht es »nämlich in der gnoseologischen Problemstellung des ›Urzustandes‹ des Psychischen, im Problem seiner Rückgründung, wie es Freud mittels der dialektischen Figur der Ichkonstitution im Narzißmus und der Bedingtheit der narzißtischen Dimension von eben jener Ichkonstitution zu lösen versuchte« (Gast 1992, 53). Narzissmus wird einmal als Motor der Ichwerdung gedacht, andererseits soll die Bedingtheit der narzisstischen Libidoorganisation von den Prozessen der Ichwerdung her verstanden werden. Inwiefern ist aber der Autoerotismus ein Vorläufer des Narzissmus? In den Drei Abhandlungen differenzierte Freud den Autoerotismus in einen primären und sekundären – dieser sekundäre mutiert 1914 – so unsere Auslegung – zur frühesten Ich-Tätigkeit. Freuds Argumentation nahm bekanntlich als Ausgangspunkt die frühkindliche Anlehnung des Sexuellen an die Nahrungsaufnahme, in welcher der infantile Sexualtrieb sein Sexualobjekt zunächst »außerhalb des eigenen Körpers in der Mutterbrust« findet (Freud 1905b, 123), ehe er sich, veranlasst durch die sich wiederholende Enttäuschung des Verlustes der mütterlichen Brust, auf seine autoerotische Wendung besinnt. Insofern ist also dieser Autoerotismus ein sekundärer, weil er ja die Enttäuschung am frühesten Objekt kompensieren soll. Es geht hier also um einen Objektverlust bzw. den Verlust eines Partialobjekts – und führt über den Weg des Autoerotismus zugleich zur phantasmatischen, halluzinatorischen Wunschbefriedigung. Die damit erreichte relative Autonomie vom Objekt wird erkauft durch eine Verleugnung bzw. Verkennung, aber hat auch eine progressive Wirkung: Der Weg zu einem sich von außen abgrenzenden Ich ist eröffnet.
Zur Einführung des Narzißmus: Wendepunkt und Auslöser einer kontroversen Debatte
Wir können diese Entwicklungsreihe Autoerotismus – Narzissmus – Objektliebe auch so verstehen: Während der Autorerotismus laut Freud völlig objektlos ist, bezieht sich der Narzissmus auf ein Objekt, nämlich das Ich. »Autoerotismus bezeichnet den erotischen Genuß des eigenen Körpers; Prototyp hierfür ist das Wonnesaugen, die anale und genitale Masturbation. Narzißmus hingegen meint die Wertschätzung des eigenen Körpers, der eigenen Hervorbringungen und der eigenen Person. Die Betonung liegt dabei auf dem erotischen, sinnlichen, an erogene Zonen gebundenen Lustgenuß versus dem ebenso bedeutsamen Gefühl von Einzigartigkeit, Wert- und Hochschätzung. Damit hatte Freud den Ellis-Näckeschen Narzißmusbegriff von 1898/1899 radikal verwandelt. Der Narzißmus war nun keine Form der Selbsterregung mehr (Ellis), keine Technik der Selbstbefriedigung und keine Perversion (Näcke), sondern ein Abschnitt der normalen Entwicklung, gekennzeichnet durch die Besonderheit, daß das Ich die Stelle des Liebesobjekts einnimmt« (May-Tolzmann 1991, 78). Und was ist nun diese »neue psychische Aktion«? Es ist unseres Erachtens dieselbe Frage wie jene, was den Menschen überhaupt aus seinem primären Narzissmus herausbringen kann. Während Freud diese Frage erst einmal liegen lässt, findet sich allerdings eine »Antwort« in Freuds Entwurf, in dessen Überlegungen zum Nebenmenschen: »Am Nebenmensch lernt … der Mensch erkennen« (Freud 1895c, 426). Dieser ist, so Freud in diesem Text, ein dem Subjekt ähnliches Objekt, das »gleichzeitig das erste Befriedigungsobjekt, im ferneren das erste feindliche Objekt … wie die einzig helfende Macht« ist.- Dieser Nebenmensch zerfällt also in zwei Teile, einen dem Subjekt assimilierbaren Teil und einen anderen, den Freud dort als »Ding« bezeichnet. »Die wesentliche Aussage dieser Freudschen Kürzestanthropologie indessen lautet: Homo homini alienum est – daß der Mensch dem Menschen fremd ist und bleibt« (Schneider 2005, 330, Fn.21).7 Die zweite Frage enthält insofern zusätzlichen Zündstoff, als sie Freud in die Nähe der gerade von Jung aufgestellten monistischen Libidoauffassung bringen würde. Freuds Erläuterungen lesen sich freilich eher wie tastende Orientierungsversuche: »Die Sonderung der Libido in eine solche, die dem Ich eigen ist, und eine, die den Objekten angehängt wird, ist eine unerläßliche Fortführung einer ersten Annahme, welche Sexualtriebe und Ichtriebe voneinander schied…. Für die Annahme einer ursprünglichen Sonderung von Sexualtrieben und anderen, Ichtrieben, spricht nun mancherlei nebst ihrer Brauchbarkeit für die Analyse der Übertragungsneurosen… Aber diese begriffliche Scheidung entspricht erstens der populär geläufigen Trennung von Hunger und Liebe. Zweitens machen sich biologische Rücksichten zu ihren Gunsten geltend. Das Individuum führt wirklich eine Doppelexistenz als sein Selbstzweck und als Glied in einer Kette, der es gegen, jedenfalls ohne seinen Willen, dienstbar ist« (Freud 1914b, 143). Freud will also unbedingt an seiner Libidotheorie festhalten, vor allem eine streng sexuelle Definition der Libido. Trotz der Vorsicht und Vorläufigkeit, mit welcher er diese Argumentation führt, bleibt er gegenüber der Hypothese Jungs auf Ablehnungskurs: »Die Behauptung von Jung ist aber zum mindesten eine Voreiligkeit. Seine Begründungen sind spärlich. Er beruft sich auf mein eigenes Zeugnis, daß ich mich selbst
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Von hier wäre es nicht weit gewesen zu Lacans von Rimbaud entlehntem Diktum, dass »Ich ein Anderer« ist – aber dorthin geht Freud – zumindest explizit – nicht.
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genötigt gesehen habe, angesichts der Schwierigkeiten der Schreber-Analyse den Begriff der Libido zu erweitern, das heißt seinen sexuellen Inhalt aufzugeben, Libido mit psychischem Interesse überhaupt zusammenfallen zu lassen…. so werden wir die Behauptung Jungs zurückweisen können, daß die Libidotheorie an der Bewältigung der Dementia praecox gescheitert und damit auch für die anderen Neurosen erledigt ist« (ebd., 145, 147). Freud stand jetzt vor dem Konstrukt von zwei gleichzeitigen Dualismen, die durch seine Erklärung, beim Narzissmus handle es sich um »die libidinöse Ergänzung zum Egoismus des Selbsterhaltungstriebes« (ebd., 141), nicht wirklich beruhigt war. Seine Einführung des neuen Dualismus von Ich- und Objektlibido kann als Antwort auf die jungsche Herausforderung gelesen werden. Er intendierte damit einen Doppelschlag, der sowohl gegen Adlers ichpsychologische Reduktion als auch gegen Jungs vom Sexuellen gesäuberten Libidobegriff gerichtet war. Im Unterschied zu deren Konzeptionen ist Freuds Zugang zur Ichpsychologie von der Idee geleitet, das Ich in seinem Entstehen und in seinem Verhältnis zur Libido zu erhellen. Die neue freudsche Konstruktion sieht also einerseits eine getrennte Perspektive auf die Ichwerdung und die narzissstische Libidoorganisation, andererseits auf die Schicksale der Objektlibido vor. Damit ist das Problem aber erst halb gelöst. Worauf es Freud ebenfalls ankommt, ist, die dialektische Bezogenheit der beiden Sphären zu erfassen. »[...] die neue Dualität von Objekt- und Ichlibido liegt gleichsam quer zur alten, umfaßt diese beinahe. Ihre Achse verläuft durch die Libido und kreuzt doch auch das Ich; sie bringt Ich und Libido in Berührung, um sie sogleich wieder voneinander zu trennen« (Gast 1997, 54). Freud versucht also die Ausgestaltung des Narzissmus durch die Momente der Ichkonstitution zu erfassen. Die narzisstische Libidoorganisation wird dabei sowohl als Verursacher als auch als Produkt der Ichwerdung verstanden. Das den Narzissmus gestaltende Moment liegt darin, dass ein sich bildendes bzw. differenzierendes Ich sich den Sexualtrieben als Objekt anbietet. Dieses Ich bzw. rudimentäre Subjekt wird zu einer Einheit, welche sich selbst als Objekt gegenübertritt. Es ist eben jene libidinöse Bezugnahme auf das Ich als objektale Gestalt, die zugleich auch die Partialtriebe zu einer libidinösen Einheit formt. Den zweiten Abschnitt beginnt Freud mit der Beschreibung jener Phänomene, die ihn zur Hypothese des Narzissmus gebracht haben. »Der Hauptzugang wird wohl die Analyse der Paraphrenien bleiben« (ebd., 148). Als weitere Phänomene führt er auf: 1. die organische Krankheit: Hierzu stellt er fest, »daß der von organischem Schmerz und Mißempfindungen Gepeinigte das Interesse an den Dingen der Außenwelt, soweit sie nicht sein Leiden betreffen, aufgibt. Genauere Beobachtung lehrt, daß er auch das libidinöse Interesse von seinen Liebesobjekten abzieht, aufhört zu lieben, solange er leidet« (ebd., 148). 2. den Schlaf: »Ähnlich wie die Krankheit bedeutet auch der Schlafzustand ein narzißtisches Zurückziehen der Libidopositionen auf die eigene Person, des Genaueren, auf den einen Wunsch zu schlafen. Der Egoismus der Träume fügt sich wohl in diesen Zusammenhang ein« (ebd., 149).
Zur Einführung des Narzißmus: Wendepunkt und Auslöser einer kontroversen Debatte 3. die Hypochondrie: »Der Hypochondrische zieht Interesse wie Libido – die letztere besonders deutlich – von den Objekten der Außenwelt zurück und konzentriert beides auf das ihn beschäftigende Organ« (ebd.).
Anschließend wirft Freud die interessante Frage auf, »woher denn überhaupt die Nötigung für das Seelenleben rührt, über die Grenzen des Narzißmus hinauszugehen … diese Nötigung trete ein, wenn die Ichbesetzung mit Libido ein gewisses Maß überschritten habe. Ein starker Egoismus schützt vor Erkrankung, aber endlich muß man beginnen zu lieben, um nicht krank zu werden« (ebd., 151). Hypochondrie bzw. eine zu starke narzisstische Regression wie im Falle der Paraphrenie wären Beispiele für diese krankmachende Abkehr von der Liebe. Als nächstes Demonstrationsfeld für den Narzissmus geht Freud zu verschiedenen Facetten des »Liebeslebens«. Er beginnt diesen Abschnitt mit der Erinnerung an seine diesbezüglichen Überlegungen in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Dort entwickelte er ja die Theorie der Anlehnung, wonach sich die frühesten autoerotischen sexuellen Impulse an die Ichtriebe anlehnen. Aus dieser frühen Orientierung leitet Freud nun einen Typus der Objektwahl ab, den er den Anlehnungstypus nennt. Neben diesen stellt er die narzisstische Objektwahl, die bewirkt, dass der Betreffende sein Liebesobjekt nicht nach dem Vorbild der Mutter, sondern nach dem der eigenen Person sucht. Freud führt dies zur Generalisierung: »Wir sagen, der Mensch habe zwei ursprüngliche Sexualobjekte: sich selbst und das pflegende Weib, und setzen dabei den primären Narzißmus jedes Menschen voraus, der eventuell in seiner Objektwahl dominierend zum Ausdruck kommen kann« (ebd. 154). Für den Anlehnungstyp gilt: »Diese Sexualüberschätzung gestattet die Entstehung des eigentümlichen, an neurotischen Zwang mahnenden Zustandes der Verliebtheit, der sich so auf eine Verarmung des Ichs an Libido zugunsten des Objektes zurückführt.« Aber andererseits stimmt auch: »Wer liebt, hat sozusagen ein Stück seines Narzißmus eingebüßt und kann es erst durch das Geliebtwerden ersetzt erhalten« (ebd., 154 bzw. 166). Wir können also die Verliebtheit als einen Zustand verstehen, der zugleich einer der Libidoverarmung und -bereicherung ist. Aber Freud geht dann einen anderen Weg, indem er diese zwei Fließrichtungen der Libido auf zwei Typen der Objektwahl verteilt – den Anlehnungs- und den narzisstischen Typ, die er dann noch mit männlich und weiblich gleichsetzt. Der Anlehnungstyp ist dadurch definiert, dass er Objekte sucht, die ihm Libidoabfuhr ermöglichen, der narzisstische Typ hingegen sucht Objekte, die ihn mit Libido ausstatten; zugleich sucht er Objekte, die ihm die Illusion geben, dass es spannungslose Zustände ohne Überfluss oder Mangel gibt, Objekte, die er sich über den Vorgang der Identifizierung einverleiben kann. Die Wege der Objektwahl werden in der Folge noch differenziert: »Man liebt: I) a) was man selbst ist (sich selbst), b) was man selbst war, c) was man selbst sein möchte,
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d) die Person, die ein Teil des eigenen Selbst war.8 2) Nach dem Anlehnungstypus: a) die nährende Frau b) den schützenden Mann« (ebd., 156, 157). Den Abschluss dieses zweiten Abschnitts bilden Bemerkungen zum kindlichen bzw. elterlichen Narzissmus: »Der von uns supponierte primäre Narzißmus des Kindes, der eine der Voraussetzungen unserer Libidotheorien enthält, ist weniger leicht durch direkte Beobachtung zu erfassen… Wenn man die Einstellung zärtlicher Eltern gegen ihre Kinder ins Auge faßt, muß man sie als Wiederaufleben und Reproduktion des eigenen, längst aufgegebenen Narzißmus erkennen… His Majesty the Baby … soll die unausgeführten Wunschträume der Eltern erfüllen… Die rührende, im Grunde so kindliche Elternliebe ist nichts anderes als der wiedergeborene Narzißmus der Eltern, der in seiner Umwandlung zur Objektliebe sein einstiges Wesen unverkennbar offenbart« (ebd., 157, 158). Diese Stelle lässt sich auch so lesen, dass Freud seine Hypothese eines primären Narzissmus, den er gerade unterstreichen will, eigentlich einer anderen Erklärung zuführt: Es ist nach seiner Beschreibung vielmehr ein sekundärer Narzissmus, ist er doch das Ergebnis der narzisstischen oder jedenfalls narzisstisch kontaminierten Objektliebe der Eltern. Der dritte Abschnitt ist dem Triebschicksal des Narzissmus, also der Frage gewidmet, wie sich die weitere Entwicklung des Narzissmus denken lässt. Freud greift jetzt intensiv die Frage auf, die schon im zweiten Abschnitt angedeutet wurde: Was zwingt das Kind überhaupt dazu, den Narzissmus zu verlassen? Zunächst stellt er fest, dass der »normale Erwachsene« zumindest einen Teil des kindlichen Größenwahns und des infantilen Narzissmus aufgegeben hat. »Was ist aus seiner Ichlibido geworden« (ebd., 160)? Und er schafft jetzt eine neue Konstruktion, die letztlich in seine spätere Strukturlehre münden wird: »Wir können sagen, der eine habe ein Ideal in sich aufgerichtet, an welchem er sein aktuelles Ich mißt… Die Idealbildung wäre von seiten des Ichs die Bedingung der Verdrängung« (ebd., 161). Wenn, wie wir gesehen haben, das Ich jetzt das Reservoir der Libido darstellt und damit nicht mehr als Motor hinter der Verdrängung in Frage kommt, ist die Frage akut, wer jetzt diese Funktion übernimmt. Es ist der Narzissmus selbst. Freud kreiert eine neue und für seine weitere theoretische Konstruktion essentielle Instanz, das Ich-Ideal bzw. Ideal-Ich, das jetzt als verantwortlich für die Verdrängung gedacht wird: »Der Mensch verdrängt diejenigen Möglichkeiten der Triebbefriedigung, die sich mit seinem Selbstbild nicht vereinbaren lassen… Dieses Bild von sich selbst nennt Freud das IchIdeal resp. Ideal-Ich. Zugunsten dieses Bildes verzichten wir auf Triebbefriedigung« (Strassberg 1994, 131).9
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Interessant ist, dass Freud hier fast wie selbstverständlich den Terminus »Selbst« einführt. In der Nachfolge von Freuds Narzissmuskonzept hat als erster Heinz Hartmann diesen Begriff prominent gemacht: »Narzissmus als libidinöse Besetzung des Selbst«; für eine Unterscheidung von »Ich« und »Selbst« vgl. Hartmann 1939; und später hat Heinz Kohut darauf die Legitimation für seine »Selbstpsychologie« begründet (vgl. Kohut 1977). Man kann Freuds neue Formel für die Verdrängung auch als Abgrenzung gegenüber Adler sehen: Die Verdrängung wird nicht primär als Folge eines sozialen Unterdrückungseffekts verstanden, sondern verdankt ihre Kraft einer inneren Spannung im Ich.
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Es ist zwar immer noch das Ich, das die Verdrängung auslöst, aber nicht mehr das Real-Ich, sondern jenes Ich, das einmal war bzw. einmal sein soll – das in die Zukunft projizierte Bild der vermeintlich vergangenen Vollkommenheit: »Diesem Idealich gilt nun die Selbstliebe, welche in der Kindheit das wirkliche Ich genoß. Der Narzißmus scheint auf dieses neue ideale Ich verschoben, welches sich wie das infantile im Besitze aller wertvollen Vollkommenheit befindet« (Freud 1914c, 161). D.h. der Übergang vom Narzissmus zur Objektliebe ist keineswegs linear. Ein Teil der narzisstischen Libido geht einen anderen Weg und führt zur Errichtung einer inneren Instanz, die Freud Idealich bzw. Ichideal nennt. Der narzisstische Größenwahn ist also nicht einfach aufgegeben, sondern auf dieses Ideal verschoben: »Was er als sein Ideal vor sich hin projiziert, ist der Ersatz für den verlorenen Narzißmus seiner Kindheit, in der er sein eigenes Ideal war« (ebd.). Freud differenziert hier zwischen Idealbildung und Sublimierung. »Die Sublimierung ist ein Prozeß an der Objektlibido … Die Idealisierung ist sowohl auf dem Gebiete der Ichlibido wie auch der Objektlibido möglich« (ebd.). Während Sublimierung als ein Vorgang an der Objektlibido verstanden wird, der einen Prozess der Entsexualisierung bewirkt, begreift Freud die Idealbildung einerseits als einen Vorgang am Objekt, das damit erhöht und vergrößert wird. Sie steigere andererseits die Anforderungen ans Ich und damit die Verdrängung: »Die Idealbildung steigert, wie wir gehört haben, die Anforderungen des Ichs und ist die stärkste Begünstigung der Verdrängung; die Sublimierung stellt den Ausweg dar, wie die Anforderung erfüllt werden kann, ohne die Verdrängung herbeizuführen« (ebd., 162). Die Tatsache, dass diese Idealisierung »sowohl auf dem Gebiete der Ichlibido wie auch der Objektlibido« möglich ist, bedeutet nicht weniger, als dass Freud hier jenen Typus von Objektwahl, den er vorhin schon als »narzisstischen« beschrieben hat, auch von dieser Seite der Auslagerung seines Ichideals bzw. Idealichs her denkt.10 Aus der Bildung dieses Ideals resultiert eine ständige Herausforderung an das Ich, das seine Handlungen an diesem Ideal messen muss. – Freud ahnt hier schon das ÜberIch und bringt eine »zensorische Instanz« ins Spiel, »welche die Aufgabe erfüllt, über die Sicherung der narzißtischen Befriedigung aus dem Ichideal zu wachen, und in dieser Absicht das aktuelle Ich unausgesetzt beobachtet und am Ideal mißt« (ebd.).11 Diese gesuchte Instanz nennt Freud »unser Gewissen« – jene Instanz, welche jetzt für die Verdrängung verantwortlich sein soll. – Es erscheint evident, dass Freud damit seine Konzeptualisierung des Über-Ich von 1923 ein Stück vorweggenommen hat, spricht er doch an dieser Stelle schon von der Verinnerlichung der elterlichen Normen: »Die Anregung zur Bildung des Ichideals, als dessen Wächter das Gewissen bestellt ist, war
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Man könnte dies als eine Vorwegnahme jener Theoretisierung sehen, die Heinz Kohut mit seinem »Selbstobjekt« in den zwei Varianten von »spiegelnd« und »idealisierend« beschrieben hat, ohne dass Freud damit eine Abkehr von seinem Trieb- und Konfliktkonzept intendiert hätte (vgl. Kohut 1971). Diese Idee eines Zensors ist nicht neu. Freud hat ihm ja schon als »Traumzensor« in seiner Traumdeutung eine wesentliche Rolle eingeräumt. Er bestätigt diese Bezugnahme auch ausdrücklich, wenn er jetzt schreibt: »Gehen wir in die Struktur des Ichs weiter ein, so dürfen wir im Ichideal und in den dynamischen Äußerungen des Gewissens auch den Traumzensor erkennen« (ebd., 165).
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nämlich von dem durch die Stimme vermittelten kritischen Einfluß der Eltern ausgegangen« (ebd., 163). Freud setzt seine Überlegungen fort, indem er sich dem Phänomen des Selbstgefühls zuwendet. »Wenn wir unsere Unterscheidung von Sexual- und Ichtrieben einführen, müssen wir dem Selbstgefühl eine besonders innige Abhängigkeit von der narzißtischen Libido zuerkennen« (ebd., 165). Das Selbstgefühl entwickelt sich aus den Resten des primären Narzissmus, der Erfüllung des Ichideals und der Befriedigung der Objektlibido. Erfolge steigern das Selbstgefühl, in der Verliebtheit wird das Objekt zum Ideal. – Als Beweis für diesen Zusammenhang verweist Freud auf den positiven Effekt des Geliebtwerdens auf das Selbstgefühl, während er die »Minderwertigkeitsgefühle der Übertragungsneurotiker« als eine Folge der »Ichverarmung«, des Rückzugs der Libido vom geliebten Objekt versteht. Dem Ichideal wird nun eine konstitutive Rolle bei der weiteren Strukturierung des Ichs zugeschrieben: »Die Entwicklung des Ichs besteht in der Entfernung vom primären Narzißmus und erzeugt ein intensives Streben, diesen wieder zu gewinnen. Diese Entfernung geschieht vermittels der Libidoverschiebung auf ein von außen aufgenötigtes Ichideal, die Befriedigung durch die Erfüllung des Ideals« (ebd., 167f). Die Frage, die sich im weiteren stellt, ist, wie das sich bildende Subjekt auf dem Weg zum Objekt das Lustprinzip ins Realitätsprinzip hinein verlängern kann. Dieser Weg lässt die Problematik und Dynamik des sekundären Narzissmus anklingen, können wir doch obiges Zitat als Beleg für einen dialektischen Vorgang verstehen, in welchem es zu einer partiellen Verschiebung narzisstischer Libido auf die Eltern mit einer nachfolgenden Introjektion dieser Selbst-Objekt-Einheit und deren Repräsentanzen ins Ich kommt. »Gleichzeitig hat das Ich die libidinösen Objektbesetzungen ausgeschickt. Es ist zugunsten dieser Besetzungen wie des Ichideals verarmt und bereichert sich wieder durch die Objektbefriedigungen wie durch die Idealerfüllung« (ebd., 168). Das Ichideal verkörpert also einerseits einen Verlust, den Verlust des primären Narzissmus, andererseits aber doch ein erstes Anerkennen der Realität über die Objekte. In diesem Sinne ist der sekundäre Narzissmus als Ausgangspunkt der Differenzierung und Trennung von Ich- und Objektlibido zu verstehen. In der Binnenwelt des Ich spiegelt sich die wachsende konflikthafte Auseinandersetzung des entstehenden Subjekts mit der Objektwelt. – Der Narzissmus wird dabei keineswegs aufgegeben; er sucht sich künftig neue Wege, wobei Freud zwei für besonders bedeutsam hält: jenen über die (narzisstische) Befriedigung seitens des Objekts bzw. jenen über die Befriedigung des Ichideals: Indem ich mein Ideal anstrebe, bekomme ich von dort her »Anerkennung«. Der Begriff des »Selbstgefühls«, der in der Narzissmusrenaissance der 1960-er und 1970-er Jahre eine unglaubliche Aufwertung erfuhr, wird am Ende von Freuds Einführung als von drei »Zuflüssen« genährt verstanden: Neben den Resten des kindlichen Narzissmus gehen in ihn aktuelle Erfahrungen ein, die das frühkindliche Allmachtsgefühl durch eine Bestätigung des Ichideals stärken, als auch Befriedigungserfahrungen der Objektliebe: »Ein Anteil des Selbstgefühls ist primär, der Rest des kindlichen Narzißmus, ein anderer Teil stammt aus der durch Erfahrung bestätigten Allmacht (der Erfüllung des Ichideals), ein dritter aus der Befriedigung der Objektliebe« (ebd.). Der abschließende Gedanke in dieser Abhandlung geht in Richtung Kulturtheorie, indem Freud die Konsequenzen seiner Narzissmuskonzeption für die »Massenpsycho-
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logie« andeutet.12 »Dies Ideal hat außer seinem individuellen einen sozialen Anteil, es ist auch das gemeinsame Ideal einer Familie, eines Standes, einer Nation. Es hat außer der narzißtischen Libido einen großen Betrag der homosexuellen Libido einer Person gebunden, welcher auf diesem Wege ins Ich zurückgekehrt ist. Die Unbefriedigung durch Nichterfüllung dieses Ideals macht homosexuelle Libido frei, welche sich in Schuldbewußtsein (soziale Angst) verwandelt« (ebd., 169). – Der wesentliche Gedanke ist hier wohl der folgende: Bei Nichtbefriedigung des Ichideals treten soziale Ängste und Schuldgefühle auf. Diese können und müssen als ein spezielles Triebschicksal des Narzissmus verstanden werden. Zusammenfassend wollen wir festhalten, dass dieser Text neben seinen Beobachtungen zum Narzissmus einen geschärften Blick auf das Ich und die Genese seiner Struktur bringt. Indem Freud das Ichideal bzw. das Idealich, Konflikte innerhalb des Ichs, narzisstische Befriedigungsmodalitäten und Objekte narzisstischer Besetzungen unterschied, ist es nicht erstaunlich, dass er die Vertiefung seiner Einsichten in den Narzißmus als »Ichpsychologie« bezeichnete« (ebd., 148).13
Weiterführung des Narzissmus-Konzepts in Freuds Schriften nach 1914 Wir haben ja schon erwähnt, dass Freud 1914 den Plan einer größeren Arbeit zur Metapsychologie hatte, mit unterschiedlichen Themenbereichen. So schreibt Freud in einer Fußnote von Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre: »Die beiden nachstehenden Abhandlungen stammen aus einer Sammlung, die ich ursprünglich unter dem Titel ›Zur Vorbereitung einer Metapsychologie‹ in Buchform veröffentlichen wollte. Sie schließen an Arbeiten an, welche im III. Jahrgang der Intern. Zeitschrift für ärztl. Psychoanalyse abgedruckt worden sind. (›Triebe und Triebschicksale‹ – ›Die Verdrängung‹ – ›Das Unbewußte‹ enthalten in diesem Bande). Absicht dieser Reihe ist die Klärung und Vertiefung der theoretischen Annahmen, die man einem psychoanalytischen System zugrunde legen könnte« (Freud 1916a, 412). Die drei ersten Arbeiten publizierte Freud 1915, die beiden anderen 1916. Laut Jones schrieb Freud weitere 7 Arbeiten bis zum August 1915. Er hat sie nie veröffentlicht; vermutlich hat er sie später vernichtet. Dass es sie gab, konnte Jones aufgrund der Briefe
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Die konsequente und tiefer gehende Ausführung dieser Gedanken wird Freud 1921 in Massenpsychologie und Ich-Analyse darstellen. (Siehe auch unsere Zusammenfassung im nächsten Abschnitt.) In den Vorlesungen definierte er »Ichpsychologie« folgendermaßen: »Die Ichpsychologie, die wir anstreben, soll nicht auf die Daten unserer Selbstwahrnehmungen, sondern wie bei der Libido auf die Analyse der Störungen und Zerrüttungen des Ichs begründet sein« (Freud 1916/17, 438). Neben dieser Art, den Ausdruck »Ichpsychologie« zu verwenden, gibt es bei Freud noch eine zweite, in einem pejorativen Sinn, vor allem im Kontext der Kritik an Adlers Theorie als »Oberflächenoder »Ichpsychologie« (vgl. Nunberg und Federn 1967, 145). – Interessant ist auch die historische Einordnung von May-Tolzmann: »Die Ichpsychologie ... ist keine moderne Entwicklung und beginnt auch nicht mit dem Strukturmodell. Sie hat ihre Wurzeln vielmehr in der Schreber-Studie, in den ›Formulierungen über die zwei Prinzipien‹, in ›Totem und Tabu‹, in Ferenczis Arbeit über den Wirklichkeitssinn und in ›Zur Einführung des Narzißmus« (May-Tolzmann 1990, 720).
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logie« andeutet.12 »Dies Ideal hat außer seinem individuellen einen sozialen Anteil, es ist auch das gemeinsame Ideal einer Familie, eines Standes, einer Nation. Es hat außer der narzißtischen Libido einen großen Betrag der homosexuellen Libido einer Person gebunden, welcher auf diesem Wege ins Ich zurückgekehrt ist. Die Unbefriedigung durch Nichterfüllung dieses Ideals macht homosexuelle Libido frei, welche sich in Schuldbewußtsein (soziale Angst) verwandelt« (ebd., 169). – Der wesentliche Gedanke ist hier wohl der folgende: Bei Nichtbefriedigung des Ichideals treten soziale Ängste und Schuldgefühle auf. Diese können und müssen als ein spezielles Triebschicksal des Narzissmus verstanden werden. Zusammenfassend wollen wir festhalten, dass dieser Text neben seinen Beobachtungen zum Narzissmus einen geschärften Blick auf das Ich und die Genese seiner Struktur bringt. Indem Freud das Ichideal bzw. das Idealich, Konflikte innerhalb des Ichs, narzisstische Befriedigungsmodalitäten und Objekte narzisstischer Besetzungen unterschied, ist es nicht erstaunlich, dass er die Vertiefung seiner Einsichten in den Narzißmus als »Ichpsychologie« bezeichnete« (ebd., 148).13
Weiterführung des Narzissmus-Konzepts in Freuds Schriften nach 1914 Wir haben ja schon erwähnt, dass Freud 1914 den Plan einer größeren Arbeit zur Metapsychologie hatte, mit unterschiedlichen Themenbereichen. So schreibt Freud in einer Fußnote von Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre: »Die beiden nachstehenden Abhandlungen stammen aus einer Sammlung, die ich ursprünglich unter dem Titel ›Zur Vorbereitung einer Metapsychologie‹ in Buchform veröffentlichen wollte. Sie schließen an Arbeiten an, welche im III. Jahrgang der Intern. Zeitschrift für ärztl. Psychoanalyse abgedruckt worden sind. (›Triebe und Triebschicksale‹ – ›Die Verdrängung‹ – ›Das Unbewußte‹ enthalten in diesem Bande). Absicht dieser Reihe ist die Klärung und Vertiefung der theoretischen Annahmen, die man einem psychoanalytischen System zugrunde legen könnte« (Freud 1916a, 412). Die drei ersten Arbeiten publizierte Freud 1915, die beiden anderen 1916. Laut Jones schrieb Freud weitere 7 Arbeiten bis zum August 1915. Er hat sie nie veröffentlicht; vermutlich hat er sie später vernichtet. Dass es sie gab, konnte Jones aufgrund der Briefe
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Die konsequente und tiefer gehende Ausführung dieser Gedanken wird Freud 1921 in Massenpsychologie und Ich-Analyse darstellen. (Siehe auch unsere Zusammenfassung im nächsten Abschnitt.) In den Vorlesungen definierte er »Ichpsychologie« folgendermaßen: »Die Ichpsychologie, die wir anstreben, soll nicht auf die Daten unserer Selbstwahrnehmungen, sondern wie bei der Libido auf die Analyse der Störungen und Zerrüttungen des Ichs begründet sein« (Freud 1916/17, 438). Neben dieser Art, den Ausdruck »Ichpsychologie« zu verwenden, gibt es bei Freud noch eine zweite, in einem pejorativen Sinn, vor allem im Kontext der Kritik an Adlers Theorie als »Oberflächenoder »Ichpsychologie« (vgl. Nunberg und Federn 1967, 145). – Interessant ist auch die historische Einordnung von May-Tolzmann: »Die Ichpsychologie ... ist keine moderne Entwicklung und beginnt auch nicht mit dem Strukturmodell. Sie hat ihre Wurzeln vielmehr in der Schreber-Studie, in den ›Formulierungen über die zwei Prinzipien‹, in ›Totem und Tabu‹, in Ferenczis Arbeit über den Wirklichkeitssinn und in ›Zur Einführung des Narzißmus« (May-Tolzmann 1990, 720).
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Freuds beweisen. Dieser schrieb nämlich in diesen Monaten über den Fortschritt seiner Arbeit an Ferenczi, Abraham und Jones. Noch in einem Brief an Abraham von 1917 bezieht sich Freud auf diese Texte, immer noch mit dem Plan, sie zu publizieren. – Und dann gibt es noch die Stelle in einem Brief Freuds an James Putnam vom 8. Juli 1915: »Selbst benütze ich die Arbeitspause dieser Zeit (infolge des Kriegsausbruchs) zur Fertigstellung eines Buches, das zwölf psychologische Abhandlungen zusammenfassen soll« (Freud 1960b, 146).14 Unsere weiterführende Frage ist nun, welche Spuren das neue Konzept des Narzissmus in den metapsychologischen Schriften hinterlässt, deren erste sich den Trieben und Triebschicksalen widmet. Es fällt auf, dass Freud dort an der dualistischen Triebkonzeption von Ich- und Sexualtrieben festhält und zunächst (vgl. Freud 1915b, 216) mit keinem Wort erwähnt, dass er in der Narzissmus-Schrift eine Unterscheidung von Ich- und Objektlibido getroffen hat – und wir jetzt gespannt wären, wie dieses Konzept mit jenem des Triebdualismus vereinbart werden kann. Es gibt hier lediglich einen schwachen Hinweis: »Es ist immerhin möglich, daß ein eindringendes Studium der anderen neurotischen Affektionen (vor allem der narzißtischen Psychoneurosen: der Schizophrenien) zu einer Abänderung dieser Formel und somit zu einer anderen Gruppierung der Urtriebe nötigen wird. Aber gegenwärtig kennen wir diese neue Formel nicht« (ebd., 217). Dann kommt aber bei der Behandlung der Triebschicksale doch eine explizite Bezugnahme auf das Narzissmuskonzept: »Wir haben uns daran gewöhnt, die frühe Entwicklungsphase des Ichs, während welcher dessen Sexualtriebe sich autoerotisch befriedigen, Narzißmus zu heißen, ohne zunächst die Beziehung zwischen Autoerotismus und Narzißmus in Diskussion zu ziehen. Dann müssen wir von der Vorstufe des Schautriebes, auf der die Schaulust den eigenen Körper zum Objekt hat, sagen, sie gehöre dem Narzißmus an, sei eine narzißtische Bildung. Aus ihr entwickelt sich der aktive Schautrieb, indem er den Narzißmus verläßt, der passive Schautrieb halte aber das narzißtische Objekt fest. Ebenso bedeute die Umwandlung des Sadismus in Masochismus eine Rückkehr zum narzißtischen Objekt… nähern wir uns der allgemeineren Einsicht, daß die Triebschicksale der Wendung gegen das eigene Ich und der Verkehrung von Aktivität in Passivität von der narzißtischen Organisation des Ichs abhängig sind« (ebd., 224). Freud erklärt die »Wendung gegen die eigene Person« und die »Verkehrung ins Gegenteil« als frühe Abwehrvorgänge, die er von der Verdrängung als einem späteren und reiferen Abwehrmechanismus unterscheidet. Hier klingt bereits das Konzept der nar-
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Dass Freud diese Aufsätze schließlich verwarf, darf ferner aus seiner diesbezüglichen Korrespondenz mit Lou Andreas-Salomé geschlossen werden. So fragt diese am 18. März 1919: »...wo bleibt die Metapsychologie… Wo bleiben die übrigen, schon fertig gewesenen?« Und Freud antwortet am 2. April: »Wo meine Metapsychologie bleibt? Zunächst bleibt sie ungeschrieben. Das systematische Bearbeiten des Stoffes ist mir nicht möglich… Wenn ich aber noch zehn Jahre leben, in dieser Zeit arbeitsfähig bleiben, nicht verhungern, nicht erschlagen werden, nicht von dem Elend der Meinigen oder dem um mich herum zu stark hergenommen sein sollte – ein bißchen viel Bedingungen – dann verspreche ich, weitere Beiträge zu ihr zu leisten. Ein erster der Art wird in einem Aufsatz ›Jenseits des Lustprinzips‹ enthalten sein« (Freud&Andreas-Salome 1966, 73).
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zisstischen Identifizierung an, das Freud in Trauer und Melancholie differenziert darstellen wird. Im folgenden Abschnitt über die grundlegenden seelischen Polaritäten kommt Freud erneut auf den Narzissmus, diesmal als Stadium: »Die drei seelischen Polaritäten gehen die bedeutsamsten Verknüpfungen miteinander ein. Es gibt eine psychische Ursituation, in welcher zwei derselben zusammentreffen. Das Ich findet sich ursprünglich, zu allem Anfang des Seelenlebens, triebbesetzt und zum Teil fähig, seine Triebe an sich selbst zu befriedigen. Wir heißen diesen Zustand den des Narzißmus, die Befriedigungsmöglichkeit die autoerotische« (ebd., 227). Freud und Ferenczi tauschten sich zu dieser Zeit intensiv über die Frage der Introjektion aus. Ein Niederschlag dieser Überlegungen findet sich in der folgenden Textstelle: »Das Ich bedarf der Außenwelt nicht, insofern es autoerotisch ist …Unter der Herrschaft des Lustprinzips vollzieht sich nun in ihm eine weitere Entwicklung. Es nimmt die dargebotenen Objekte, insofern sie Lustquellen sind, in sein Ich auf, introjiziert sich dieselben … und stößt anderseits von sich aus, was ihm im eigenen Innern Unlustanlaß wird. Es wandelt sich so aus dem anfänglichen Real-Ich, welches Innen und Außen nach einem guten objektiven Kennzeichen unterschieden hat, in ein purifiziertes Lust-Ich« (ebd., 228, Kursivierung von mir). Die Introjektion hat dabei eine produktive Funktion. Sie dient der Abgrenzung des Ich von der Außenwelt. Für Freud handelt es sich offenbar um einen Vorgang einer normalen und notwendigen psychischen Entwicklung, durch welche sich das Ich weiter konstituiert. Freud hat demnach den Narzissmus ganz unmissverständlich als eine Transformationsgestalt der Libido konzipiert. Die Polarität von Lust und Unlust ist dabei der entscheidende Motor für den Aufbau der entsprechenden Struktur. »Es fällt also um diese Zeit das Ich-Subjekt mit dem Lustvollen, die Außenwelt mit dem Gleichgültigen (eventuell als Reizquelle Unlustvollen) zusammen« (ebd., 227). Insbesondere dieser Figur des primärnarzisstischen Lust-Ichs kommt dabei eine signifikante Rolle zu. Die Konstitution des Psychischen ist mit diesem Lust-Ich engstens verbunden, insofern dieses eine echte Trennung von Ich und Außenwelt nicht zulässt. Diese wird vielmehr durch eine phantasmatische innerpsychische Differenzierung zustande gebracht, »so daß man sagen kann, es sei die libininös untergründete Lust-Unlust-Relation, in der sich das Psychische situiere und nicht – wie es die moderne Objektbeziehungstheorie nahelegt – die objektivierbare Beziehung zwischen Kind und Objekt« (Gast 1997, 56). Dem primären Narzissmus kommt dabei die Funktion der Aufrechterhaltung des Lust-Ich zu.15 Das primärnarzisstische Ich kann demnach als phantasmatische Einheit von Primärobjekt (seinen »guten« Eigenschaften) und Kind verstanden werden. Und damit diese halluzinatorische Vorstellung aufrecht erhalten werden kann, braucht es ein rudimentäres Ich, das über die Prozesse von Introjektion und Projektion dieses Phantasma von subjektiver Allmacht weiter garantieren kann. Eine wichtige Konsequenz dieses Entwicklungsschrittes ist die folgende: »Der Haß ist als Relation zum Objekt älter als die Liebe, er entspringt der uranfänglichen Ablehnung der reizspendenden Außenwelt von seiten des narzißtischen Ichs« (Freud 1915b, 15
Lacans Konzeption des Spiegelstadiums arbeitet genau diesen Aspekt weiter aus. Wir kommen später darauf zurück.
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231). Damit hat Freud eine weitere Facette des Narzissmus entdeckt: die narzisstische Aggression, eine spezifische Form von Hass, die sich anders als der bislang beschriebene Sadismus (als eine Variante der Objektlibido) als eine Form von Destruktion äußert, die bis zum völligen Rückzug vom Objekt, zur Gleichgültigkeit reichen kann. Trauer und Melancholie (1916): Freud reagierte auf die düstere Zeit des Krieges zunächst mit einem Vortrag »Wir und der Tod«, den er am 16. Februar 1915 in der jüdischen Loge B’nai B’rith hielt, in dem er die These argumentierte, dass der Krieg das Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit schärfe. Das Unbewusste bleibe aber blind gegenüber der Begrenztheit des Lebens. Diese Gedanken führte Freud in seinem Aufsatz Zeitgemäßes über Krieg und Tod weiter. Seine Kernfrage war dort die nach dem Ursprung von Aggression und Feindseligkeit. Seine Lösung bestand darin, dass der Mensch weder gut noch böse sei, sondern beide Seiten in sich trage (später: Eros und Thanatos). – Auch im Aufsatz Trauer und Melancholie verfolgt Freud diese Überlegungen weiter. Hamlet dient ihm dabei als paradigmatische Figur, die einen Verlust nicht imstande ist durch Trauer zu bewältigen. Schon der Eröffnungssatz dieser Abhandlung macht klar, dass Freud über sein neues Konzept des Narzissmus auch für andere psychische Phänomene ein neues Verständnis gewonnen hat: »Nachdem uns der Traum als Normalvorbild der narzißtischen Seelenstörungen gedient hat, wollen wir den Versuch machen, das Wesen der Melancholie durch ihre Vergleichung mit dem Normalaffekt der Trauer zu erhellen« (Freud 1916b, 428). Es geht um die Frage, wie Menschen mit Verlust und Enttäuschung umgehen. (Verlust meint ja auch Verlust eines Ideals!) Insbesondere möchte Freud verstehen, warum der Melancholiker aus seinem Zustand nicht mehr herauskommt. – Als ersten und wichtigen Unterschied zwischen Trauer und Melancholie macht Freud etwas aus, was er wohl ohne Theorie des Narzissmus nicht erkannt hätte – »die Herabsetzung des Selbstgefühls« (ebd., 429). Und er sagt es noch deutlicher und differenzierter: »[...] eine außerordentliche Herabsetzung des Ichgefühls, eine großartige Ichverarmung. Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst« (ebd., 431). Unter Trauer versteht Freud die Reaktion auf einen Verlust von etwas, das Wert für uns hat, sei es Gesundheit, Geld, Erfolg, die Heimat, ein Freund, ein Geliebter, ein Ideal etc. Der Schmerz der Trauer bringt uns Schritt für Schritt dazu, uns vom verlorenen Objekt abzulösen. Melancholie hingegen ist die innere Arbeit mit dem Ziel, ein verlorenes Objekt zu eliminieren, was zum Gegenteil führen kann – zur Manie oder zur Identifizierung mit demselben. Um den Vorgang zu verstehen, warum es in einem Fall zu »normaler« Trauer kommt, im anderen aber zur chronifizierten Melancholie, greift Freud auf eine andere Erkenntnis aus Zur Einführung des Narzißmus zurück – den Mechanismus der Identifizierung: »Es hatte eine Objektwahl, eine Bindung der Libido an eine bestimmte Person bestanden; durch den Einfluß einer realen Kränkung oder Enttäuschung von seiten der geliebten Person trat eine Erschütterung dieser Objektbeziehung ein… die freie Libido nicht auf ein anderes Objekt verschoben, sondern ins Ich zurückgezogen. Dort fand sie aber nicht eine beliebige Verwendung, sondern diente dazu, eine Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt herzustellen. Der Schatten des Objekts fiel so auf
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das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt beurteilt werden konnte« (ebd., 435). Das melancholische Ich kann also den Abzug der Libido vom verlorenen Objekt nicht leisten, es versucht vielmehr, sich dieses Objekt über den Weg der Identifizierung »einzuverleiben«. Indem »der Schatten des Objekts« auf das Ich »fiel«, verwandelt sich der Objektverlust in einen Ichverlust, der Konflikt zwischen dem Ich und dem verlorenen Objekt wird zu einem Zwiespalt innerhalb des Ich, zwischen der Ichkritik und dem durch Identifizierung veränderten Ich. »Der Melancholische ist also narzisstisch, weil er in grandioser Weise alle Schuld und alles Böse seinem eigenen Ich anlastet« (Benvenuto 2011, 128). Wie können wir also diese Beziehung charakterisieren, die zwischen dem Objekt, das hasserfüllt geliebt wird, und dem Ich andererseits hergestellt wird? Melanie Kleins Antwort lautet: Der Melancholische introjiziert das böse Objekt in sich hinein. Freuds Perspektive ist weniger drastisch. Er verwendet das Bild: Der Schatten des Objekts fällt auf das Ich. Wir könnten also sagen, der Melancholische verfolgt nicht das Objekt, sondern seinen Schatten. Der Melancholische weiß zwar – so könnten wir folgern – wen er verloren hat, aber nicht was. Der Verlust scheint etwas mit dem narzisstischen Wert zu tun zu haben. Es ist nicht der andere an sich, sondern das Bild, der Wert, den er oder sie für uns verkörpert. Der Melancholische weiß also nicht, dass das Selbst, das ihm und seinem weiteren Leben im Wege steht, in Wirklichkeit der Andere ist. Freud diagnostiziert eine Art Ichspaltung: »Wir sehen bei ihm, wie sich ein Teil des Ichs dem anderen gegenüberstellt, es kritisch bewertet, es gleichsam zum Objekt nimmt« (ebd., 433).16 Wir fragen uns: Von welcher Instanz ist hier die Rede? Vermutlich vom Ideal-Ich bzw. Ich-Ideal, das Freud ja in seiner Studie zum Narzissmus als eine solche Funktion und Instanz eingeführt hatte. – Und Freud geht noch einen Schritt weiter, indem er fragt, warum im einen Fall diese frei werdende Libido auf ein neues Objekt verschoben werden kann, im anderen Fall aber ins Ich zurückgenommen werden muss. Seine Antwort ist einleuchtend: Die ursprüngliche Objektwahl war im zweiten Fall schon eine narzisstische, sodass dann im Falle des enttäuschten Rückzugs »die narzißtische Identifizierung mit dem Objekt … zum Ersatz der Liebesbesetzung« wird (ebd., 436). Freud stellt an diesem Punkt weiters fest, »ein solcher Ersatz der Objektliebe durch Identifizierung ist ein für die narzißtischen Affektionen bedeutsamer Mechanismus… Er entspricht natürlich der Regression von einem Typus der Objektwahl auf den ursprünglichen Narzißmus« (ebd.). Wie gesagt: Freud stellt den Mechanismus der narzisstischen Identifizierung ins Zentrum, er differenziert zwischen objektlibidinöser und narzisstischer Besetzung und geht dabei von einem Ich aus, das teilbar ist, dessen Teile daher miteinander in Konflikt geraten können und diejenigen Aspekte von Objekten aufnehmen können, die sich als stärker als das restliche Ich erweisen. In der Melancholie werde die Objektliebe nach der Enttäuschung durch eine narzisstische Identifizierung mit diesem Objekt ersetzt. Das Ich richtet in der Folge die Vorwürfe gegen sich selbst. 16
Auch diese Äußerung über die »kritische Instanz« können wir als Vorläufer für Freuds Begriff des Über-Ich ansehen.
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Freud erinnert dann daran, dass er eine Entwicklungsreihe formuliert hat, wonach die (narzisstische) Identifizierung generell die Vorstufe der Objektwahl sei. Jetzt fügt er die klinisch bedeutsame Differenzierung hinzu, dass im Falle der narzisstischen Objektwahl eine Enttäuschung schneller und direkter zu einer Regression auf den »ursprünglichen Narzißmus« führen kann. So fasst Freud abschließend seine Analyse der Differenz von Trauer und melancholischer Reaktion zusammen: »Die Melancholie entlehnt einen Teil ihrer Charaktere der Trauer, den anderen Teil dem Vorgang der Regression von der narzißtischen Objektwahl zum Narzißmus« (ebd., 437). Der entscheidende Mechanismus ist also die Objektersetzung durch den Vorgang der Identifizierung. Im Modus der narzisstischen Identifizierung kann das Objekt nicht angegriffen werden, das Subjekt kann gegenüber dem Objekt keinen Konflikt zulassen. Anstelle von Trauer und Wut stellt sich Selbstentwertung ein. In seinen Vorlesungen begründet Freud nochmals, was für ihn das stärkste Motiv für die Einführung des Narzißmus war: »Die narzißtischen Neurosen sind für die Technik, welche uns bei den Übertragungsneurosen gedient hat, kaum angreifbar« (Freud 1916/17, 438). In der 26. Vorlesung fügt Freud seinem Verständnis der Dialektik zwischen Autoerotismus und Narzissmus eine weitere Facette an, indem er den primären Narzissmus als Erinnerungsspur an das intrauterine Leben definiert, die vor jeglicher Ichbildung im Säugling wirksam bleibe – womit sich die Unterscheidung zwischen Autoerotismus und Narzissmus für ihn anscheinend erledigt.17 Freuds primärer Narzissmus steht damit in deutlichem Kontrast zu seinem früheren Ichkonzept. Dieses frühe narzisstische Ich zeigt sich als ein Ort phantasmatischer reiner Lust und Omnipotenz, der zwar schließlich aufgegeben werden muss, aber im Wunsch überleben wird und lebenslänglich (auch in der Formation des Ich-Ideals) fortbesteht. Auch Freuds Studie zum Wolfsmann ist stark von seinen Überlegungen zum Narzissmus geprägt ist. Die Behandlung fand ja in den Jahren 1910 bis 1914 statt, also genau in der Zeit, in der Freud an seinem Narzissmuskonzept brütete. Das zeigt sich an seinen Überlegungen zur Beziehung zwischen Narzissmus und Identifizierung. So bemerkt
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Diesen Gedanken wird Ferenczi in den Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes aufgreifen. Dort macht er das Intrauterinleben des Fötus zum Urgrund, zu einer archaischen Matrix, die die ganze weitere Ichbildung prägt. Die Annahme eines Primärzustandes von absoluter Wunscherfüllung bzw. Wunschlosigkeit wird als reinstes Lustprinzip gedacht, das für die ganze weitere Entwicklung insofern prägend ist, als das regressive Wunschziel der Wiederherstellung der als paradiesisch konzipierten Mutterleibssituation der zentrale narzisstische Wunschmotor bleibe. Die Libidoentwicklung ist damit gegenüber der Ichentwicklung sekundär, es gibt keinen gestaltgebenden Konflikt zwischen Libido und Ich, die Rückkehr in die grandiose Omnipotenz des frühen Narzissmus wird zum zentralen Motor aller unbewussten Wünsche. Insofern bleibt Ferenczi ebenso wie Jung bei der Mutter-Sohn-Dyade als entscheidender strukturgebender Figur. — Später wird dieses Narzissmuskonzept vor allem von Bela Grunberger prominent gemacht. Allerdings versucht er, Narzissmus und sexuelle Libido als zwei Stränge der psychischen Entwicklung zu bewahren (vgl. Grunberger 1971).
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er, dass der Wolfsmann, nachdem er von seiner so innig geliebten Nanja zurückgewiesen wurde, seine ganze Zuneigung auf seinen Vater richtete. Laut Freud »erneuerte er damit seine erste und ursprünglichste Objektwahl, die sich dem Narzißmus des Kindes entsprechend auf dem Wege der Identifizierung vollzogen hatte« (Freud 1918, 51). – Der Wolfsmann kann als eine Studie über einen Mann gelesen werden, der eine passive masochistische Einstellung hat, die das Zentrum seiner verdrängten Homosexualität bildet, und in der Freud dessen narzisstische Identifizierungen in den Mittelpunkt stellt.18 In Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) führt Freud auch Gedanken zum Narzissmus weiter. Er spricht dabei von jener Phase des primären Narzißmus, in welcher sich über den Vorgang der Identifizierung das Idealich bildet. In dieser Phase, so schreibt er jetzt, wird das Objekt nicht »real« sondern »imaginär« einverleibt und damit eine erste Brücke zwischen Ich und Außenwelt hergestellt, von der dann die Objektliebe ihren Ausgang nehme. Vor der libidinösen Objektbesetzung gebe es also eine andere Form der »Gefühlsbindung an eine andere Person«, eben die Identifizierung. Am Beispiel der Beziehung zum Vater versucht Freud eine Unterscheidung zwischen Identifizierung und Objektbesetzung: »Im ersteren Fall ist der Vater das, was man sein, im zweiten das, was man haben möchte« (Freud 1921, 116). Bei der Identifizierung werde das Objekt ins Ich introjiziert, während bei der Idealisierung das Objekt ins Ichideal introjiziert würde. Die Verbindung zur Massenpsychologie stellt Freud so her: »Eine … primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben« (ebd., 108). Dazu bemerkt Heinz Henseler: »Anders ausgedrückt, sind die Massenindividuen in das idealisierte Objekt verliebt und in einem großartigen Gefühl des Einsseins miteinander identifiziert« (Henseler 2000, 265). In Das Ich und das Es von 1923 stellen wir eine anscheinend klare Abkehr Freuds vom Konzept des primären Narzissmus fest, wenn er ausführt: »An der Lehre vom Narzißmus wäre nun eine wichtige Ausgestaltung vorzunehmen. Zu Uranfang ist alle Libido im Es angehäuft, während das Ich noch in der Bildung begriffen oder schwächlich ist. Das Es sendet einen Teil dieser Libido auf erotische Objektbesetzungen aus, worauf das erstarkte Ich sich dieser Objektlibido zu bemächtigen und sich dem Es als Liebesobjekt aufzudrängen sucht. Der Narzißmus des Ichs ist so ein sekundärer, den Objekten entzogener« (Freud 1923b, 275). Wir können diese Sichtweise so verdeutlichen: Der Narzissmus der ersten Art, der Narzißmus des Ichs, ist nun nicht mehr ein primärer Narzissmus, sondern immer ein sekundärer Narzissmus. Denn er stammt von Objekten her, die durch das Es, mit dem sich das Ich identifiziert (das es introjiziert), besetzt wurden. Die Terminologie scheint auf den Kopf gestellt: Was Freud vormals den primären Narzißmus nannte, ist nun zwangsläufig der sekundäre Narzißmus. Aber auch bei dieser Position bleibt Freud nicht! Sowohl in Das Unbehagen in der Kultur als auch im 1938 verfassten Abriß der Psychoanalyse kommt Freud doch wieder auf die frühere Position zurück. »Das Ich selbst ist mit Libido besetzt., sogar deren ursprüngliche Heimstätte… diese narzißtische Libido wendet sich den Objekten zu, wird so zur 18
Diese Falldarstellung werden wir im entsprechenden Kapitel noch eingehender analysieren.
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Objektlibido und kann sich in narzißtische Libido zurückverwandeln« (Freud 1930, 477). Und im Abriß heißt es: »Wir nennen diesen Zustand den absoluten primären Narzißmus. Er hält solange an, bis das Ich beginnt, die Vorstellungen von Objekten mit Libido zu besetzen, narzißtische Libido in Objektlibido umzusetzen. Über das ganze Leben bleibt das Ich das große Reservoir, aus dem Libidobesetzungen an Objekte ausgeschickt und in das sie auch wieder zurückgezogen werden, wie ein Protoplasmakörper mit seinen Pseudopodien verfährt« (Freud 1940, 72f).
Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte von Freuds Narzissmustheorie Stellen wir an den Anfang zwei Einschätzungen dieser historischen Entwicklung, von Lilli Gast und Joachim Küchenhoff: »War das Narzißtische bei Freud unablösbar mit dem Sexuell-Libidinösen verbunden und wohnte dem Narzißmuskonzept per definitionem und sui generis eine Geschlechtlichkeit inne, so zeichnet sich die Rezeptionsgeschichte durch eine zunehmende Lockerung dieser dialektischen Verwobenheit bis hin zum Ausschluß des Sexuellen überhaupt aus« (Gast 1997, 59). – »Die Widersprüche, die sich mit ›Zur Einführung des Narzißmus‹ auftun, werden vereinseitigt, z.B. indem das Postulat des primären Narzißmus, das ja dem Primat der Objektbeziehung an anderen Stellen widerspricht, unkritisch erweitert wird, woraus die Psychomythologie von den pränatalen Glücksgefühlen als den Wurzeln eines ursprünglichen Narzißmus entsprang … Immerhin sind einander befehdende Schulen aus diesem Disput hervorgegangen: gegen die Verfechter des primären Narzißmus standen z.B. die auf Balint und Winnicott fußenden Objektbeziehungstheoretiker, die eine primäre Liebe annahmen, den Narzißmus also nur als sekundären gelten ließen« (Küchenhoff 2004, 153). Beginnen wir mit einer kurzen Replik auf Sandor Ferenczis Beiträge zur Thematik, denn dieser kann einmal als wesentlicher Promotor für eine Integration Adlerscher und Jungscher »Versatzstücke« in die Psychoanalyse angesehen werden, zum anderen »als Schlüsselfigur, als ›graue Eminenz‹ im Hintergrund der postfreudianischen Theoriebildung und in diesem Sinn als Wegbereiter der paradigmatischen Wende, da sich führende Zweige der Exil- und Nachkriegs-Psychoanalyse auf ihn berufen« (Gast 1997, 61). – Ferenczis Versuch einer Genitaltheorie von 1924 bringt eine entscheidende Akzentverschiebung, »in der ein primordial gegebenes, narzißtisch wünschendes und wollendes Ich das Psychische determinierend strukturiert. Dieses ins Zentrum gerückte und metatheoretisch aufgewertete Ich unterwirft die Libido seinem Sehnen nach dem pränatalen Paradies der fetalen Intrauterinexistenz … Nicht nur Adlers zentrales Thema der Prädominanz des Ich über die Libido klingt hier an, sondern ebenso Jungs romantisierendes Motiv der Rückkehr zur Großen Mutter (maternaler Regressionszug bei Ferenczi)« (ebd., 61). Diese Reduktion des Sexuell-Triebhaften geht einher mit einer Wiedereinsetzung des frühen Traumabegriffs Freuds. Die Umgestaltung des Lustprinzips unter dem Druck der Realität vollzieht sich bei Ferenczi nicht mehr über die konflikthaften Spannungen zwischen ödipalem Begehren und Verbot, sondern die äußere Realität drängt sich über Kränkungen (Ferenczi spricht von »Taktlosigkeiten«) realer Bezugspersonen ins Ich. Damit wird der Bedeutungsgehalt von Narzissmus verschoben: Narzissmus
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Objektlibido und kann sich in narzißtische Libido zurückverwandeln« (Freud 1930, 477). Und im Abriß heißt es: »Wir nennen diesen Zustand den absoluten primären Narzißmus. Er hält solange an, bis das Ich beginnt, die Vorstellungen von Objekten mit Libido zu besetzen, narzißtische Libido in Objektlibido umzusetzen. Über das ganze Leben bleibt das Ich das große Reservoir, aus dem Libidobesetzungen an Objekte ausgeschickt und in das sie auch wieder zurückgezogen werden, wie ein Protoplasmakörper mit seinen Pseudopodien verfährt« (Freud 1940, 72f).
Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte von Freuds Narzissmustheorie Stellen wir an den Anfang zwei Einschätzungen dieser historischen Entwicklung, von Lilli Gast und Joachim Küchenhoff: »War das Narzißtische bei Freud unablösbar mit dem Sexuell-Libidinösen verbunden und wohnte dem Narzißmuskonzept per definitionem und sui generis eine Geschlechtlichkeit inne, so zeichnet sich die Rezeptionsgeschichte durch eine zunehmende Lockerung dieser dialektischen Verwobenheit bis hin zum Ausschluß des Sexuellen überhaupt aus« (Gast 1997, 59). – »Die Widersprüche, die sich mit ›Zur Einführung des Narzißmus‹ auftun, werden vereinseitigt, z.B. indem das Postulat des primären Narzißmus, das ja dem Primat der Objektbeziehung an anderen Stellen widerspricht, unkritisch erweitert wird, woraus die Psychomythologie von den pränatalen Glücksgefühlen als den Wurzeln eines ursprünglichen Narzißmus entsprang … Immerhin sind einander befehdende Schulen aus diesem Disput hervorgegangen: gegen die Verfechter des primären Narzißmus standen z.B. die auf Balint und Winnicott fußenden Objektbeziehungstheoretiker, die eine primäre Liebe annahmen, den Narzißmus also nur als sekundären gelten ließen« (Küchenhoff 2004, 153). Beginnen wir mit einer kurzen Replik auf Sandor Ferenczis Beiträge zur Thematik, denn dieser kann einmal als wesentlicher Promotor für eine Integration Adlerscher und Jungscher »Versatzstücke« in die Psychoanalyse angesehen werden, zum anderen »als Schlüsselfigur, als ›graue Eminenz‹ im Hintergrund der postfreudianischen Theoriebildung und in diesem Sinn als Wegbereiter der paradigmatischen Wende, da sich führende Zweige der Exil- und Nachkriegs-Psychoanalyse auf ihn berufen« (Gast 1997, 61). – Ferenczis Versuch einer Genitaltheorie von 1924 bringt eine entscheidende Akzentverschiebung, »in der ein primordial gegebenes, narzißtisch wünschendes und wollendes Ich das Psychische determinierend strukturiert. Dieses ins Zentrum gerückte und metatheoretisch aufgewertete Ich unterwirft die Libido seinem Sehnen nach dem pränatalen Paradies der fetalen Intrauterinexistenz … Nicht nur Adlers zentrales Thema der Prädominanz des Ich über die Libido klingt hier an, sondern ebenso Jungs romantisierendes Motiv der Rückkehr zur Großen Mutter (maternaler Regressionszug bei Ferenczi)« (ebd., 61). Diese Reduktion des Sexuell-Triebhaften geht einher mit einer Wiedereinsetzung des frühen Traumabegriffs Freuds. Die Umgestaltung des Lustprinzips unter dem Druck der Realität vollzieht sich bei Ferenczi nicht mehr über die konflikthaften Spannungen zwischen ödipalem Begehren und Verbot, sondern die äußere Realität drängt sich über Kränkungen (Ferenczi spricht von »Taktlosigkeiten«) realer Bezugspersonen ins Ich. Damit wird der Bedeutungsgehalt von Narzissmus verschoben: Narzissmus
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wird wieder zu einem Störungsbegriff, der unterstellt, es gebe so etwas wie einen harmonischen und weitgehenden konfliktfreien Entwicklungsverlauf, förderliche Milieubedingungen vorausgesetzt. Die postfreudianische Ich-Psychologie, etwa bei Heinz Hartmann, treibt diese theoretische Restitution des Ich bzw. des Selbst durch eine konzeptionelle Abkoppelung der psychischen Organisation vom Triebgeschehen weiter, in deren Folge die reale Außenwelt und deren Einfluss auf das Individuum an Bedeutung gewinnt. Das Narzisstische – im freudschen Denken ja nicht zuletzt der Garant der Sicherung des Luststrebens im Realitätsprinzip – wird damit wieder zu einem tendenziell pathologischen Phänomen. Durch Hartmanns Konzept der Ich-Autonomie geriet der freudsche Topos der inneren Konflikthaftigkeit des Menschen aus dem Blickfeld. Das Ich wird bei Hartmann tatsächlich wieder Herr in seinem eigenen Haus (vgl. Hartmann 1939). Auch in Großbritannien vollzog sich eine Verlagerung des psychisch strukturierenden Faktors von inneren Triebkonflikten hin zu Einflüssen äußerer und als real verstandener Objekte. Michael Balint kann dabei als jener Theoretiker gesehen werden, der die Konzeption Ferenczis von 1924 weiterführt. Er geht von einer romantisierenden Vorstellung einer primären Objektliebe aus, die die reale Mutter zunehmend zur Drehscheibe der inneren Strukturierung des Psychischen macht und dergestalt den freudschen Triebkonflikt gänzlich obsolet werden lässt. So sind für ihn die Manifestationen des Narzissmus lediglich Fehlhaltungen bzw. sekundäre Reaktionsbildungen auf eine unempathische reale Objektwelt, die die primäre Objektliebe des Kindes frustriert. Als vorläufigen Endpunkt dieser Bewegung der Abkehr vom freudschen Paradigma kann das Werk von Heinz Kohut betrachtet werden: »Kohuts Tragischer Mensch, jener Gegenentwurf zum Schuldigen Menschen Freuds, ist der Gücksritter, wie ihn schon Jung und Fromm entwarfen. Was ihn treibt, ist nicht die Sicherung seines Luststrebens in der Ordnung des Realitätsprinzips, und was ihn leiden macht, ist nicht die schuldhafte Verstrickung in Wunsch, Verbot und Verzicht. Er strebt vielmehr nach der Verwirklichung seiner Ideale und Potentialitäten, nach Selbst-Realisation und Wiedererlangung des narzißtischen Glücks, und er scheitert an den Grenzen, die ihm von seiner kontaminierten Sozialisationsgeschichte gesetzt werden« (Gast 1997, 73). Bela Grunberger leitet, wie Freud im Abriß, den primären Narzissmus von einer hypostasierten pränatalen Koanästhesie und von einer Zweieinheit von Mutter und Baby nach der Geburt ab, die er Monade nennt. Und diese Monade bleibt fortan Teil der psychischen Struktur des Menschen. Im Unterschied zu Kohut will Grunberger zwei Entwicklungslinien in ihrer Dialektik beschreiben – den Narzissmus und den Trieb: »Der Mensch bringt also einerseits bei der Geburt ein narzißtisches Erbe mit, dessen an das Fötalleben gebundene Grundlage ihm geraubt wurde, und besitzt andererseits einen sexuellen Apparat, der noch nicht funktioniert… Das Kind ist demnach gleichzeitig aus zwei Welten geworfen … es klammert sich verzweifelt an seine Mutter oder besser gesagt an das, was sie für das Neugeborene in diesem Augenblick darstellt: eine Möglichkeit zur Verlängerung des pränatalen narzißtischen Zustands und zur Integration in ein neues Universum auf triebhafter Grundlage« (Grunberger 2000, 288, 289). Diesen kursorischen historischen Überblick abschließend wollen wir noch kurz auf die Narzissmustheorie Jacques Lacans eingehen, erscheint uns diese doch als eine manche Implikationen der freudschen Überlegungen produktiv weiterführende Konzepti-
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on. – Freud hatte in seiner Narzißmus-Arbeit ja betont, »es muß also irgend etwas zum Autoerotismus hinzukommen, eine neue psychische Aktion, um den Narzißmus zu gestalten« (Freud 1914c, 142). Er führte aber nicht aus, was das sei. – Lacan füllt unseres Erachtens diese Leerstelle auf, indem er die Identifikation mit dem anderen, mit dem Bild des Ähnlichen, als die psychische Aktion schildert, die hinzutritt. Er nimmt die physiologische Frühgeburt des Menschen zum Ausgangspunkt und leitet davon eine grundlegende Diskrepanz zwischen körperlich-motorischer Unzulänglichkeit und libidinös getriebener phantasmatischer Potenz ab. In diese Lücke hinein konstituiert sich ein erstes Ich als diejenige »psychische Aktion«, von der Freud sprach, als er meinte, eine solche sei für die Genese des Narzissmus notwendig. Es geht um einen Moment in der Entwicklung des Kindes, den Lacan als Spiegelerfahrung bezeichnet, als Initialerfahrung und künftigen Kern des Narzissmus. In diesem strukturellen Moment, in dem das Kind sein Spiegelbild erblickt, erlebt es sich erstmals als Ganzes und kann die Erfahrung des »zerstückelten, fragmentierten Körpers« und der damit korrespondierenden Ängste ein Stück weit hinter sich lassen (Lacan 1966, 67). Dieser unzulängliche objektangewiesene Säugling entdeckt nun, etwa auf dem Arm der Mutter als seinem paradigmatischen Primärobjekt, sein Spiegelbild, nimmt dieses mit einer »Art jubilatorischer Geschäftigkeit« auf und dies führt zu einer Identifizierung des Kindes mit seinem Spiegelbild, insofern es von dem ihm dort entgegenstehenden alter ego von körperlicher Ganzheit und Einheitlichkeit zutiefst eingenommen ist. Die Jubelaktion ist dabei, wie Samuel Weber treffend bemerkt hat, »ein Zeichen nicht der Bestätigung der Identität des Subjekts, sondern der Konstitution dieser Identität selbst« (Weber 1990, 29). – Hierzu bedarf es auch des bestätigenden Blicks der Mutter, die damit die Identität des Kindes mit seinem Bild, diesem ersten alter ego, bekräftigt. – Diese Spiegelerfahrung hat etwas Illusionäres, weshalb sie Lacan auch als imaginär bezeichnet. Der Spiegel gibt ja in Wirklichkeit nur die Hülle um ein zerstückeltes Inneres wider und verbürgt damit den Sieg der Illusion über die bislang gültige innere Realität. Diese Illusion, ein ganzes Wesen zu sein, kann auch im weiteren Leben dem Menschen bevorzugt durch den Blick von außen, von anderen als Spiegel vermittelt werden. Die Ichkonstitution vollzieht sich in dieser Konstruktion über eine primäre Identifizierung des ja realiter objektangewiesenen Kindes mit einem imaginären, »ganzen« Ich, das zugleich ein Anderes, ein dem Kind Äußerliches ist; eine Identifizierung, die im Grunde mit einer weiteren Identifizierung, nämlich jener mit dem mütterlichen Blick, einhergeht. Beide Identifizierungen vollziehen sich unter libidinösen Bedingungen, lässt sich doch der kindliche Wunsch als auch das Begehren der Mutter in dieser Szene wiederfinden. – Das Moment der Verkennung, welches diese Identifizierung mit dem eigenen Bild, diesem Ideal-Ich bedeutet, bestätigt Freuds Konstruktion des frühen Ichs als illusionär, dem Lacan noch den Aspekt der Entfremdung hinzufügt. Das kindliche Ich muss sich von seiner »Realität«, seinen derzeitigen Fähigkeiten, ein Stück weit entfernen, um dieses Ich als Fiktion, als Trugbild aufrechterhalten zu können. Dieses Ich (Lacan nennt es das moi im Unterschied zum je-Ich) spielt sich eine Einheitlichkeit und Ganzheit vor, die wie eine »Fata Morgana die Reifung seiner Macht vorwegnimmt« (Lacan 1966, 64). – Indem also im Spiegelstadium eine erste Identifizierung mit einem anderen, eigentlich mit sich als Objekt, vollzogen wird, können wir diesen frühen Narzissmus zugleich als Verharren im Imaginären, in der Verkennung, aber auch als einen
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ersten Schritt hin zum Objekt begreifen – und dies entspricht durchaus dem freudschen Dreischritt vom Autoerotismus über den Narzissmus zur Objektliebe.
Zusammenfassung 1. Freuds Narzissmustheorie ist ein Resultat seiner Konflikte mit Adler und Jung und seiner wachsenden Einsicht in das Ungenügen seiner bisherigen Konzeption des Ich. Vor allem die Erfahrung mit den Psychosen (die er dann bald als narzißtische Neurosen bezeichnet) bringt ihn auf diesen letztlich so fruchtbaren konzeptiven Weg. 2. Schon mit seiner ersten einschlägigen Äußerung zum Narzissmus (anlässlich des Vortrages von Isidor Sadger im November 1909) bricht Freud mit der bis dahin gültigen sexualwissenschaftlichen Doktrin eines pathologischen Narzissmus – und bezeichnet diesen als notwendiges Entwicklungsstadium auf dem Weg zur reifen Objektliebe – er normalisiert den Narzissmus. 3. Mit der Leonardo-Studie von 1910 gelingt eine erste Beschreibung einer narzisstischen Persönlichkeit, ohne diese zu pathologisieren. 4. Die Schreber-Studie bringt erste Schritte in Richtung einer Klärung psychotischer Reaktionen als narzisstischer Regression. Neben der Verdrängung ist damit ein anderer Abwehrmechanismus entdeckt, der für das Verständnis der Psychosen essentiell wird. 5. In Totem und Tabu geht Freud einen wichtigen Schritt weiter: Narzissmus ist nicht nur ein normales Stadium der Libidoentwicklung; er bleibt zudem lebenslang eine wesentliche Komponente der Libidoorganisation. Ein bestimmter Beitrag der Objektliebe ist immer narzisstisch und damit ein zentrales Phänomen menschlichen Begehrens. 6. Die erste wichtige Aussage Freuds in seiner Einführung des Narzißmus betrifft zwei Charakteristika der Psychose: Größenwahn und Rückzug von der äußeren Welt. Beide werden als narzisstische Regression verstanden. 7. Die narzisstische Objektwahl wird als eine Folge der narzisstischen Identifizierung erkannt. 8. Neben den Dualismus von Sexual-und Ichtrieben stellt Freud einen von Ichlibido und Objektlibido. 9. Verschiedene Triebschicksale des Narzissmus werden beschrieben: das Ideal-Ich bzw. das Ich-Ideal; die Wendung gegen das eigene Ich, die Verkehrung ins Gegenteil (womit eine zusätzliche Dimension der Aggression vom Masochismus über den Sadismus bis zum narzisstischen Hass erkannt wird). 10. Mit der Konzeption des Lust-Ichs in Triebe und Triebschicksale gelingt ein neuer und klinisch fruchtbarer Einblick in die phantasmatische Natur des frühen Ichs. 11. Über den Mechanismus der Identifizierung gewinnt Freud ein neues Verständnis für die Melancholie. 12. Massenpsychologie und Ich-Analyse zeigt, wie das Narzissmus-Konzept auch soziale und kulturelle Phänomene wie die Bildung und Bindung einer Masse über den Vorgang der Identifizierung mit einem Führer als Ideal-Ich verständlich machen kann. 13. Die Narzissmustheorie muss als wesentlicher Schritt hin zur Strukturlehre der 1920er und 1930-er Jahre verstanden werden.
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Zur Einführung des Narzißmus: Wendepunkt und Auslöser einer kontroversen Debatte
ersten Schritt hin zum Objekt begreifen – und dies entspricht durchaus dem freudschen Dreischritt vom Autoerotismus über den Narzissmus zur Objektliebe.
Zusammenfassung 1. Freuds Narzissmustheorie ist ein Resultat seiner Konflikte mit Adler und Jung und seiner wachsenden Einsicht in das Ungenügen seiner bisherigen Konzeption des Ich. Vor allem die Erfahrung mit den Psychosen (die er dann bald als narzißtische Neurosen bezeichnet) bringt ihn auf diesen letztlich so fruchtbaren konzeptiven Weg. 2. Schon mit seiner ersten einschlägigen Äußerung zum Narzissmus (anlässlich des Vortrages von Isidor Sadger im November 1909) bricht Freud mit der bis dahin gültigen sexualwissenschaftlichen Doktrin eines pathologischen Narzissmus – und bezeichnet diesen als notwendiges Entwicklungsstadium auf dem Weg zur reifen Objektliebe – er normalisiert den Narzissmus. 3. Mit der Leonardo-Studie von 1910 gelingt eine erste Beschreibung einer narzisstischen Persönlichkeit, ohne diese zu pathologisieren. 4. Die Schreber-Studie bringt erste Schritte in Richtung einer Klärung psychotischer Reaktionen als narzisstischer Regression. Neben der Verdrängung ist damit ein anderer Abwehrmechanismus entdeckt, der für das Verständnis der Psychosen essentiell wird. 5. In Totem und Tabu geht Freud einen wichtigen Schritt weiter: Narzissmus ist nicht nur ein normales Stadium der Libidoentwicklung; er bleibt zudem lebenslang eine wesentliche Komponente der Libidoorganisation. Ein bestimmter Beitrag der Objektliebe ist immer narzisstisch und damit ein zentrales Phänomen menschlichen Begehrens. 6. Die erste wichtige Aussage Freuds in seiner Einführung des Narzißmus betrifft zwei Charakteristika der Psychose: Größenwahn und Rückzug von der äußeren Welt. Beide werden als narzisstische Regression verstanden. 7. Die narzisstische Objektwahl wird als eine Folge der narzisstischen Identifizierung erkannt. 8. Neben den Dualismus von Sexual-und Ichtrieben stellt Freud einen von Ichlibido und Objektlibido. 9. Verschiedene Triebschicksale des Narzissmus werden beschrieben: das Ideal-Ich bzw. das Ich-Ideal; die Wendung gegen das eigene Ich, die Verkehrung ins Gegenteil (womit eine zusätzliche Dimension der Aggression vom Masochismus über den Sadismus bis zum narzisstischen Hass erkannt wird). 10. Mit der Konzeption des Lust-Ichs in Triebe und Triebschicksale gelingt ein neuer und klinisch fruchtbarer Einblick in die phantasmatische Natur des frühen Ichs. 11. Über den Mechanismus der Identifizierung gewinnt Freud ein neues Verständnis für die Melancholie. 12. Massenpsychologie und Ich-Analyse zeigt, wie das Narzissmus-Konzept auch soziale und kulturelle Phänomene wie die Bildung und Bindung einer Masse über den Vorgang der Identifizierung mit einem Führer als Ideal-Ich verständlich machen kann. 13. Die Narzissmustheorie muss als wesentlicher Schritt hin zur Strukturlehre der 1920er und 1930-er Jahre verstanden werden.
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Sigmund Freud lesen 14. Der kurze Abriss der Wirkungsgeschichte zeigt, wie nachhaltig, produktiv und kontrovers die Theoreme von Freuds Narzissmuskonzeption bis heute die Psychoanalyse und ihre verschiedenen Richtungen bestimmen.
Technik oder Ethik? Freuds Schriften zur Behandlungspraxis Unsere Heilungen sind Liebesheilungen. (S. Freud) Die Position des Nicht-Wissens ist analytisch grundlegend. (Gerhard Schneider)
Einleitung Wir wollen dieses Kapitel mit einer Aussage von Otto Fenichel von 1935 eröffnen, die interessanterweise noch heute Gültigkeit hat: »Die analytische Literatur ist sehr groß. Es ist erstaunlich, ein wie geringer Prozentsatz davon sich mit analytischer Technik befaßt« (Fenichel 1935, 325). Wenn wir die Schriften Freuds über die Jahrzehnte betrachten, so trifft – quantitativ gesehen – Fenichels Aussage tatsächlich zu: Der mit Abstand größere Teil seiner Schriften befasst sich mit der theoretischen Grundlegung der Psychoanalyse und mit Kulturtheorie. Andererseits hat Freud, beginnend mit seinem Artikel Psychische Behandlung von 1890 bis knapp vor seinem Tod (das abschließende Kapitel vom Abriß der Psychoanalyse, postum 1940 erschienen, ist der Technik gewidmet) immer wieder auch »technische« Schriften verfasst. Zudem hat er in seinen Fallgeschichten dem praktischen Vorgehen viel Raum gegeben.1 Und auch in den anderen Texten (etwa der Traumdeutung) finden sich immer wieder behandlungstechnische Überlegungen. – Die dahinter liegende grundsätzliche Frage, die wir in diesem Kapitel aufgreifen wollen, ist die nach der inneren Beziehung von Theorie und Technik, letztlich nach dem epistemologischen Status der Psychoanalyse: Welche Bedeutung hat die Methode, die »Technik« in diesem Denksystem überhaupt? Und: Ist die »Technik« mehr als die Anwendung einer Theorie auf ein bestimmtes praktisches Feld, das der Klinik und der Psychotherapie? Oder geht die »Technik« gar der »Theorie« voraus?2
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Freuds Fallgeschichten werden wir im nächsten Kapitel entsprechenden Raum geben – und dabei auch seine dort geäußerten »technischen« Überlegungen besprechen. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass zeitlich parallel zu Freuds wichtigsten behandlungstechnischen Schriften, die er zwischen 1911 und 1915 publizierte, er auch an seiner »Metapsychologie«
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Eine andere grundsätzliche Frage ist, was Freud überhaupt unter »Technik« versteht? Verwendet er den Technik-Begriff, wie wir ihn heute kennen? Oder bezieht er ihn aus einer anderen Tradition? Wir werden also in diesem Abschnitt auch die von Freud verwendeten Begriffe der Technik, Methode, der Regeln und der Praxis zu klären versuchen. – Und nicht zuletzt soll uns die Frage der »Ethik« beschäftigen. Welche Werte, welche Normen stehen hinter dieser »Behandlungspraxis«, die Freud erstmals 1896 »Psychoanalyse« nennt? Obwohl obige Feststellung von Fenichel, auch was das psychoanalytische Schrifttum bis heute betrifft, cum grano salis zutrifft, werden wir neben einer wie gewohnt historischen Vorgangsweise auch einen spätestens ab den 1920-er Jahren virulenten Diskussions- und Streitpunkt aufgreifen, der sich zunächst an den beiden Hauptpersonen Sandor Ferenczi und Sigmund Freud festmachen lässt und sich um den richtigen Umgang mit der Abstinenz entspinnt – und signifikanter Weise nach dem Ableben Freuds als Debatte um eine so genannte »klassische Technik« entbrennt. Dies führte fast zu einem neuerlichen Schisma innerhalb der psychoanalytischen Bewegung – und stellt bis in die aktuelle Psychoanalyse hinein eines der virulentesten und kontroversiellsten Themen dar, das sich um die Frage der Wirkfaktoren der psychoanalytischen Behandlung dreht: »Deutung« oder »Beziehung«, »Einsicht« oder »Erleben«, »Abstinenz« oder »Empathie«, um schon einmal einige Schlagworte aus diesem Disput zu nennen. Im Zentrum unserer Darstellung wird aber stehen, was Psychoanalyse als Behandlungsmethode eigentlich ausmacht. Freud schreibt dazu 1904 lapidar: »Was ist Psychoanalyse? Ein Gespräch zwischen zwei … Personen« (Freud 1904, 5). Und auch gut zwei Jahrzehnte später, in Die Frage der Laienanalyse von 1926, erklärt er: »Es geht nichts anderes zwischen ihnen vor, als daß sie miteinander reden.« (Freud 1926b, 213) Und etwas differenzierter, aber immer noch sehr fokussiert, schreibt er an seinen Kollegen Georg Groddeck: »Wer erkennt, daß Übertragung und Widerstand die Drehpunkte der Behandlung sind, der gehört nun einmal rettungslos zum wilden Heer« (Brief v.5.6.1917; In: Freud 1960b, 316). Hier sind jedenfalls zwei zentrale Begriffe genannt, deren sich differenzierende Bedeutungen wir im Weiteren erörtern werden. Noch eine Vorbemerkung: Auch wenn Freud sich, sowohl die Theorie als auch die Praxis der Psychoanalyse betreffend, als solitären Gründer verstand (so schreibt er in seiner Geschichte der psychoanalytischen Bewegung: »Denn die Psychoanalyse ist meine Schöpfung, ich war durch zehn Jahre der einzige, der sich mit ihr beschäftigte« [Freud 1914a, 44]), so muss man doch mit einigem Recht auch einigen Patientinnen von Freud (und Josef Breuer) einen konstruktiven Anteil an der Entwicklung der analytischen Methode zuerkennen. So geht etwa die Wortschöpfung »talking cure« auf Anna O., die wichtige Patientin Breuers, zurück. – Freud hat von einigen seiner Patientinnen in diesen Jahren die Aufforderung gehört, ihnen endlich »zuzuhören« – und er wird in den folgenden Jahrzehnten die Psychoanalyse immer wieder als »Redekur« titulieren. – Die »kopernikanische Wende«, die Freud mit seiner Psychoanalyse initiiert hat, gilt also auch für die von ihm begründete Praxis. Die »Redekur«, bei welcher dem »Arzt« die Rolle des »Zuhörers« bestimmt wurde, stellte tatsächlich einen grundsätzlichen Bruch arbeitete, die ja seinen ersten großen Versuch darstellt, die bis dahin gesammelten Erkenntnisse in einem psychoanalytischen Theoriegebäude zu systematisieren.
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mit der bis dahin gültigen ärztlichen Praxis dar. Die Psychoanalyse-Historikerin Elisabeth Roudinesco bringt dies auf den Punkt: »Die Psychoanalyse entstand ja aus dem Protest gegen den therapeutischen Nihilismus… diese nihilistische Einstellung bestand darin, den Kranken zu beobachten, ohne ihm zuzuhören, und die Seelenkrankheiten zu diagnostizieren, ohne sie zu heilen« (Roudinesco/Plon 2004, 815). – Folgen wir also dem immer wieder steinigen Weg, den Freud mit seinen Analysanten gegangen ist – und der ihn zu einem »Regelwerk« gebracht hat, das in seinen Grundsätzen auch heute anerkannt ist.
Freuds frühe technische Beiträge (1890 – 1905) Psychische Behandlung, 1890 In der Frage, wie und durch welche Methoden die Erforschung der menschlichen Psyche voranzubringen sei, nimmt Freud bereits 1890 eine Position ein, die wissenschaftsgeschichtlich eine fundamentale Wende bedeutet. Er verfasst 1890 einen Beitrag zum Sammelwerk Die Gesundheit, einem populärwissenschaftlichen medizinischen Hausbuch, das Aufsätze zahlreicher Autoren enthält. Sein Beitrag heißt Psychische Behandlung. Bevor er dem Leser seine zentrale Hypothese vorstellt, macht er methodengeschichtliche Überlegungen und weist darauf hin, dass in der Heilkunde des Altertums das Seelische eine größere Aufmerksamkeit erhielt als in der aktuellen Medizin. So schreibt er über Letztere: »Sie schienen es zu scheuen, dem Seelenleben eine gewisse Selbstständigkeit einzuräumen, als ob sie damit den Boden der Wissenschaftlichkeit verlassen würden« (Freud 1905e, 291). – Und dann wird Freud noch deutlicher: »Psychische Behandlung will vielmehr sagen: Behandlung von der Seele aus, Behandlung – seelischer oder körperlicher Störungen – mit Mitteln, welche zunächst und unmittelbar auf das Seelische des Menschen einwirken« (ebd., 289). Und er fährt mit einer Ausrichtung fort, die von seinem späteren psychoanalytischen Verständnis etwas Essentielles vorwegnimmt, wenn er schreibt: »Ein solches Mittel ist vor allem das Wort, und Worte sind auch das wesentliche Handwerkszeug der Seelenbehandlung« (ebd.). Damit hat sich Freud, so resümiert Giovanni Vassali, »das Grundmuster für eine Seelenbehandlung, d.h. für eine moderne Psychotherapie überhaupt zurechtgelegt« (Vassalli 2005, 541). Die ausschließliche Ausrichtung der modernen Medizin auf das Körperliche bedarf einer grundsätzlichen Änderung. Und Freud macht hier die grundlegende Ansage, dass es sich zwischen »Leiblichem und Seelischem« um eine »Wechselwirkung« handelt (Freud 1905e, 291) – und kommt dann auf die vielfältigen Ausprägungen hysterischer Symptome und ihrer psychischen Beeinflussbarkeit zu sprechen: »[...]daß wenigsten bei einem Teil dieser Kranken die Zeichen des Leidens von nichts anderem herrühren als von einem veränderten Einfluß ihres Seelenlebens auf ihren Körper« (ebd., 293).
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mit der bis dahin gültigen ärztlichen Praxis dar. Die Psychoanalyse-Historikerin Elisabeth Roudinesco bringt dies auf den Punkt: »Die Psychoanalyse entstand ja aus dem Protest gegen den therapeutischen Nihilismus… diese nihilistische Einstellung bestand darin, den Kranken zu beobachten, ohne ihm zuzuhören, und die Seelenkrankheiten zu diagnostizieren, ohne sie zu heilen« (Roudinesco/Plon 2004, 815). – Folgen wir also dem immer wieder steinigen Weg, den Freud mit seinen Analysanten gegangen ist – und der ihn zu einem »Regelwerk« gebracht hat, das in seinen Grundsätzen auch heute anerkannt ist.
Freuds frühe technische Beiträge (1890 – 1905) Psychische Behandlung, 1890 In der Frage, wie und durch welche Methoden die Erforschung der menschlichen Psyche voranzubringen sei, nimmt Freud bereits 1890 eine Position ein, die wissenschaftsgeschichtlich eine fundamentale Wende bedeutet. Er verfasst 1890 einen Beitrag zum Sammelwerk Die Gesundheit, einem populärwissenschaftlichen medizinischen Hausbuch, das Aufsätze zahlreicher Autoren enthält. Sein Beitrag heißt Psychische Behandlung. Bevor er dem Leser seine zentrale Hypothese vorstellt, macht er methodengeschichtliche Überlegungen und weist darauf hin, dass in der Heilkunde des Altertums das Seelische eine größere Aufmerksamkeit erhielt als in der aktuellen Medizin. So schreibt er über Letztere: »Sie schienen es zu scheuen, dem Seelenleben eine gewisse Selbstständigkeit einzuräumen, als ob sie damit den Boden der Wissenschaftlichkeit verlassen würden« (Freud 1905e, 291). – Und dann wird Freud noch deutlicher: »Psychische Behandlung will vielmehr sagen: Behandlung von der Seele aus, Behandlung – seelischer oder körperlicher Störungen – mit Mitteln, welche zunächst und unmittelbar auf das Seelische des Menschen einwirken« (ebd., 289). Und er fährt mit einer Ausrichtung fort, die von seinem späteren psychoanalytischen Verständnis etwas Essentielles vorwegnimmt, wenn er schreibt: »Ein solches Mittel ist vor allem das Wort, und Worte sind auch das wesentliche Handwerkszeug der Seelenbehandlung« (ebd.). Damit hat sich Freud, so resümiert Giovanni Vassali, »das Grundmuster für eine Seelenbehandlung, d.h. für eine moderne Psychotherapie überhaupt zurechtgelegt« (Vassalli 2005, 541). Die ausschließliche Ausrichtung der modernen Medizin auf das Körperliche bedarf einer grundsätzlichen Änderung. Und Freud macht hier die grundlegende Ansage, dass es sich zwischen »Leiblichem und Seelischem« um eine »Wechselwirkung« handelt (Freud 1905e, 291) – und kommt dann auf die vielfältigen Ausprägungen hysterischer Symptome und ihrer psychischen Beeinflussbarkeit zu sprechen: »[...]daß wenigsten bei einem Teil dieser Kranken die Zeichen des Leidens von nichts anderem herrühren als von einem veränderten Einfluß ihres Seelenlebens auf ihren Körper« (ebd., 293).
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Diese Überzeugung hat er vermutlich aus seinen Erfahrungen mit der Hypnose geschöpft, die ja dann auch Hauptgegenstand dieses Artikels ist.3 – Freud ist sich der Brisanz seiner Position sehr wohl bewusst. Es ist die Macht und der Zauber des »Wortes«, die er im Sinn hat. Und er gibt als Erklärung für seine so andere methodische Ausrichtung den Hinweis, dass auch »die Worte unserer täglichen Reden nichts anderes sind als abgeblaßter Zauber« (ebd., 291). Und diesen »Zauber« gilt es künftig zu einer wissenschaftlichen Methode zu entwickeln: »Es wird aber notwendig sein, einen weiteren Umweg einzuschlagen, um verständlich zu machen, wie die Wissenschaft es anstellt, dem Worte wenigstens einen Teil seiner früheren Zauberkraft wiederzugeben« (ebd. 289). – Mit diesem »Umweg« meint er die Hypnose, die ja auf älteste Heilpraktiken zurückgeht.4 So führt Freud im Weiteren aus, worin die eigentliche Wirkung von Hypnose und Suggestion besteht. Und man liest das schon wie eine Anspielung auf sein späteres Konzept der Übertragung: »[...]daß der erstere vollkommen gefügig gegen den letzteren wird, gehorsam und gläubig« (Freud 1905e, 306). Freud beendet diesen Artikel mit dem Versprechen, wonach die Ärzte »nicht müde werden, nach anderen Verfahren zu suchen, welche eine eingreifendere oder minder unberechenbare Einwirkung auf die Seele der Kranken ermöglichen« (ebd., 315).
Zur Psychotherapie der Hysterie, 1895 Dieses Kapitel der Studien über Hysterie, das Freud verfasste, haben wir im entsprechenden Abschnitt schon vorgestellt. Wir sollten dabei diese Art der Arbeitsteilung zwischen Breuer und Freud nicht übersehen. Freud überließ Breuer das Theoriekapitel, er schrieb das »Technik«-Kapitel. Dies könnten wir als Hinweis daraufhin verstehen, dass, wie Vassalli in seiner Darstellung behauptet, »in der Psychoanalyse die Technik der Theorie vorausgeht« (Vassalli 2005, 544). Tatsächlich hat dieser Text wegweisenden Charakter nicht nur für Freuds technisches Vorgehen, sondern auch dafür, wie er aus seinen behandlungstechnischen Erfahrungen theoretische Schlussfolgerungen zieht. – Wir wollen also kurz die entscheidenden »technischen« Überlegungen Freuds in Erinnerung rufen.5 Freud spricht von der »Breuerschen Methode der Heilung« (Freud 1895a, 253), die er auch als »kathartische« bezeichnet, geht es doch primär um das »Abreagieren«, um die »Abfuhr« aufgestauter Affekte, um im Weiteren die Schwierigkeiten dieser Methode darzulegen, was ihn vorsichtig aber doch dazu bringt, »seine« Erfahrungen in Richtung einer eigenen Methodik der Psychotherapie zu erläutern.
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So schreibt er noch 1914: »Man muß der alten hypnotischen Technik dankbar dafür bleiben, daß sie uns einzelne psychische Vorgänge der Analyse in Isolierung und Schematisierung vorgeführt hat. Nur dadurch konnten wir den Mut gewinnen, komplizierte Situationen in der analytischen Kur selbst zu schaffen und durchsichtig zu erhalten« (Freud 1914b, 127). Vassalli stellt hier eine interessante Verbindung her, die wir noch weiter verfolgen werden: »Man kann für dieses Zaubern vor allem die Sprachform der Metapher verantwortlich machen, die bei Aristoteles in seiner Poetik und Rhetorik erstmals in der Philosophie untersucht wurde« (Vasalli 2005, 542). Wir möchten an dieser Stelle auch daran erinnern, dass Freud zu dieser Zeit (genauer: zwischen 1887 bis 1996) die Hypnose verwendet. Sein Interesse an der Theorie von Hypnotismus und Suggestion dauert länger an.
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Freud bezeichnet in der Folge die kathartische Methode als eine »symptomatische« und keine »kausale«, um deren Entwicklung es ihm im Weiteren gehen wird. Und er kommt dann auf einige Faktoren zu sprechen, die nach seinem Verständnis entscheidenden Einfluss auf den Erfolg der Therapie haben: Vor allem geht es ihm auf Seiten des »Kranken« um dessen »Zutrauen« (ebd., 264). – Dieses »Zutrauen« (Freud wird es später in diesem Artikel »Übertragung« nennen) beschäftigt ihn länger. So stellt er fest, »daß es kaum zu vermeiden ist, daß nicht die persönliche Beziehung zum Arzte sich wenigstens eine Zeitlang ungebührlich in den Vordergrund drängt; ja, es scheint, als ob eine solche Einwirkung des Arztes die Bedingung sei« (ebd., 265). Freud plädiert dann für die »Liegekur« und nennt seine eigene Technik eine der »Konzentration«, um schließlich auf den »Widerstand« zu kommen: »daß ich durch meine psychische Arbeit eine psychische Kraft bei dem Patienten zu überwinden habe, die sich dem Bewußtwerden (erinnern) der pathogenen Vorstellungen widersetze« (ebd., 268).6 Freud erahnt also die Dynamik der »Abwehr«: »An das Ich des Kranken war eine Vorstellung herangetreten, die sich als unverträglich erwies, die eine Kraft der Abstoßung von seiten des Ich wachrief, deren Zweck die Abwehr dieser unverträglichen Vorstellung war ... Wenn ich mich bemühte, die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, bekam ich dieselbe Kraft als Widerstand zu spüren, die sich bei der Genese des Symptoms als Abstoßung gezeigt hatte« (ebd., 269). Diesem Widerstand begegnet Freud mit dem »Drängen«, dem »Kunstgriff« des »Drucks auf die Stirne« und der Suggestion: Auf diesem Wege werde dem Kranken das »Gesuchte«, das »Richtige« einfallen. Im Umgang mit diesem »Widerstand« verwendet Freud eine Formulierung, die schon sehr nahe an seine spätere »Grundregel«, der Aufforderung zur »freien Assoziation«, kommt: »Sie haben versprochen, alles zu sagen, was ihnen unter dem Drucke der Hand einfällt, gleichgültig, ob es ihnen beziehungsvoll erscheint oder nicht, und ob es ihnen angenehm zu sagen ist oder nicht, also ohne Auswahl, ohne Beeinflussung durch Kritik oder Affekt« (ebd., 280f). Auf den letzten Seiten dieses Kapitels kommt Freud nochmals auf die Übertragung zurück: »Neben den intellektuellen Motiven, die man zur Überwindung des Widerstandes heranzieht, wird man ein affektives Moment, die persönliche Geltung des Arztes, selten entbehren können.« (ebd., 286). Und er kommt auf ein spezielles Phänomen des Widerstandes zu sprechen, das er später als »Übertragungswiderstand« bezeichnen wird: »Dieser Fall tritt ein, wenn das Verhältnis des Kranken zum Arzte gestört ist, und bedeutet das ärgste Hindernis … das durch irgendwelches Surrogat von Liebe vergolten werden muß« (ebd., 307). Die Rede ist also von der »negativen Übertragung«; und Freud hat schon eine »Lösung« parat: ein »Surrogat von Liebe« – doch davon später mehr.
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Und Freud fährt so fort: »Aus alledem ergab sich wie von selbst der Gedanke der Abwehr« (ebd., 268). – Dies ist eine Stelle, die die These von Vassalli, wonach die Theoriebildung den »technischen« Erfahrungen folgt, sehr plausibel macht. Auch im weiteren Fortgang des Kapitels zeigt sich, wie die theoretischen Schlüsselbegriffe von Verdrängung, Assoziation und Übertragung sich zunächst als »technische Bezeichnungen« anbieten, d.h. immer wieder gehen entsprechende Beobachtungen der Begriffsbildung voraus.
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Interessant und zukunftsweisend ist schließlich der Satz, in welchem Freud zum ersten Mal in diesem Text das Wort »Übertragung« gebraucht: »Die Übertragung auf den Arzt geschieht durch falsche Verknüpfung« (ebd., 308f). Freud ist sich bewusst, dass er mit seinen therapeutischen Bemühungen keinen Erfolg haben wird, wenn er diesem Widerstand nicht beikommt. – Und er setzt seine Hoffnung noch auf die »Druckprozedur« und das »Überzeugen«: »Die Kranken lernten auch allmählich einsehen, daß es sich bei solchen Übertragungen auf die Person des Arztes um einen Zwang und um eine Täuschung handle, die mit Beendigung der Analyse zerfließe« (ebd., 310). Diese Problematik der »Auflösung der Übertragung« wird Freud noch wiederholt beschäftigen und ihn letztlich zur Hypothese des »Wiederholungszwangs« und seiner metatheoretischen Verankerung in einem »Jenseits des Lustprinzips« bringen.7 Fragen wir uns abschließend: Inwiefern stellt dieses »technische Vorgehen« bereits ein »analytisches« dar? Können wir schon von einem Beginn der Psychoanalyse sprechen? Indem Freud sukzessive von der Hypnose abging und der »Konzentrationsmethode« den Vorzug gab, wurde für ihn erst das Phänomen des »Widerstandes« sichtbar. Die Alternative, diesen zu unterdrücken oder aber ihm Raum zu geben, kann als ein entscheidender Richtungswechsel angesehen werden, der Freud weiter auf den Weg zum Unbewussten brachte. Nicht zuletzt die Aufforderungen seiner Patientinnen brachten ihn dazu, sich dem Fluss der freien Assoziationen zu überlassen. – Und schließlich öffnete sich damit für Freud selbst der Weg zur Analyse der Träume, der eigenen und der seiner Analysantinnen. Und in der Folge bekam er dadurch ein weiteres wesentliches Werkzeug: die Deutung. – Wir können aber noch eine andere entscheidende Wende feststellen, nämlich die allmähliche und immer konsequentere, »radikale Veränderung im Arzt-Patient-Verhältnis«: »Der Patient ergreift nun die Initiative«, er bestimmt Thema und Art der Darstellung seines Leidens, während die Rolle des Arztes nun ist, »sich in einen interpretierenden Zuhörer zu verwandeln« (Lorenzer 1984, 117f).
Die Methode der Traumdeutung, 19008 Mit dieser Methode hat Freud seine via regia zum Unbewussten gefunden. Voraussetzung dafür war die Aufgabe der »Verführungstheorie«. Während er bis 1897 fest an den traumatischen Ursprung des Symptoms glaubte, wonach es hinter jedem Symptom eine mehr oder weniger lange Reihe von Vorstellungen und so verstandenen »Erinnerungen« gebe, die auf eine »letzte« Erinnerung zuliefen, die sich mit dem traumatischen bzw. pathogenen Kern decke. Und dieses Ereignis war per definitionem »sexuell«. – Die dabei verwendete Technik war zwischen der Hypnose und der des freien Einfalls als eine des »Drängens« und der »Konzentration« angesiedelt. Die Kur bestand also im Versuch der »Wiedererinnerung« und war demgemäß auf die »Realität« und das Biographische fokussiert. – So gesehen kann das Jahr 1897 mit Recht als entscheidende Wende in der Entstehungsgeschichte der psychoanalytischen Technik und der Psychoanalyse angesehen werden. So schrieb Freud am 7.7.1897 an Fließ über seine Technik, 7 8
Vgl. das entsprechende Kapitel über diesen Text und seine Folgen. Wir verweisen auch hier auf den entsprechenden Abschnitt in unserem Kapitel über Die Traumdeutung.
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dass »sie anfängt, einen gewissen Weg als den naturgemäßen zu bevorzugen« (Freud 1986, 273). – Marcel Ritter bringt dies auf den Punkt: »Dieser Wechsel der Technik fällt mit dem Übergang von der traumatischen Verführungstheorie zur Theorie des Fantasmas zusammen« (Ritter 1993, 138). Der pathogene Kern wird nicht länger als Sitz der Erinnerung an ein traumatisches Ereignis gesehen, sondern als ein dem Symptom zugrunde liegendes Phantasma, das Ausdruck eines unbewussten Wunsches ist. Dem entsprechend ist die Kur nicht länger ein Prozess mit dem Ziel der Wiedererinnerung, sondern einer, der das Wiedererleben des Phantasmas intendiert. Das Phantasma setzt sich an die Stelle des Biographischen. Freud macht seine »Methode« der Traumdeutung bereits im ersten Satz klar: »Auf den folgenden Blättern werde ich den Nachweis erbringen, daß es eine psychologische Technik gibt, welche gestattet, Träume zu deuten, und daß bei Anwendung dieses Verfahrens jeder Traum sich als sinnvolles Gebilde herausstellt« (Freud 1900, 1). Aber dieses »Verfahren« zwingt den Analytiker zu einem ganz speziellen und reflexionswürdigen Vorgehen. So schreibt Freud in seinen Vorlesungen: »Der Wissenserwerb kommt nun auf merkwürdigen Umwegen zustande. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Träumer es doch weiß, was sein Traum bedeutet, nur weiß er nicht, daß er es weiß, und glaubt darum, daß er es nicht weiß« (Freud 1916/17, 98). Will man den Träumer über sein Nicht/Wissen aufklären, bedarf es eines speziellen Weges: Die Traumdeutung muss die Wege der Traumarbeit quasi rückwärts gehen. Und damit bekommt auch der Analytiker eine andere Position: »Der beobachtende Analytiker kann die zum Bewußtsein durchgedrungenen Traumgedanken nicht unmittelbar, sondern nur in entstellter Form wahrnehmen. Die verschiedenen Formen der Entstellung werden aber zum Faden der Ariadne in der Auffindung unbewußter Seelenregungen« (Vassalli 2005, 551). Um diesen »Faden«, der ja schon »gesponnen« ist, aber nun rekonstruiert werden soll, braucht es die Assoziationen des Träumers. Sie ermöglichen den »Weg zurück« zum anlassgebenden unbewussten Wunsch. – Und dies bringt Freud dazu, sein Prinzip der »freien Assoziation« von nun an konsequent umzusetzen.
Die Freudsche psychoanalytische Methode, 1904 Diesen Text verfasst Freud für Leopold Löwenfelds Buch Die psychischen Zwangserscheinungen. Und wir sehen im Titel, dass Freud jetzt selbstbewusst von »seiner« Methode der Psychoanalyse spricht. In der Einleitung macht er einen kurzen historischen Rückblick: »Die eigentümliche Methode der Psychotherapie, die Freud ausübt und als Psychoanalyse bezeichnet, ist aus dem sogenannten kathartischen Verfahren hervorgegangen, über welches er seinerzeit in den ›Studien über Hysterie‹ 1895 in Gemeinschaft mit J. Breuer berichtet hat. Die kathartische Therapie war eine Erfindung Breuers« (Freud 1904, 3). – Und dann erklärt er dem Leser, was nun die Unterschiede seiner Methode gegenüber Breuer sind: »Die Abänderungen, welche Freud an dem kathartischen Verfahren Breuers vornahm, waren zunächst Änderungen der Technik… Hatte die kathartische Methode bereits auf die Suggestion verzichtet, so unternahm Freud den weiteren Schritt, auch die Hypnose aufzugeben.« (ebd., 4) Freud beschreibt dann das von ihm mittlerweile eingeführte »setting« mit der Couch, auf welcher der Patient ohne Blickkontakt zum Analytiker liegt: »Auch den
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Verschluß der Augen fordert er von ihnen nicht und vermeidet jede Berührung sowie jede andere Prozedur, die an Hypnose mahnen könnte« (ebd., 5). Die entscheidende Entwicklung ist aber die Einführung der »Grundregel«. Der »Ersatz« für die kathartische Methode sind die »freien Einfälle«: »Einen solchen völlig ausreichenden Ersatz fand nun Freud in den ungewollten, meist als störend empfundenen und darum unter gewöhnlichen Verhältnisse beseitigten Gedanken…. Um sich dieser Einfälle zu bemächtigen, fordert er die Kranken auf, sich in ihren Mitteilungen gehen zu lassen…. alles mit zu sagen, was ihnen dabei durch den Kopf geht« (ebd.). Und neu ist auch der Hinweis auf die »Deutungskunst«: »Freud hat darauf eine Deutungskunst ausgebildet, welcher diese Leistung zufällt, die gleichsam aus den Erzen der unbeabsichtigten Einfälle den Metallgehalt an verdrängten Gedanken darstellen soll. Objekt dieser Deutungsarbeit sind nicht allein die Einfälle der Kranken, sondern auch seine Träume, die den direktesten Zugang zur Kenntnis des Unbewußten eröffnen, seine unbeabsichtigten, wie planlosen Handlungen (Symptomhandlungen) und die Irrungen seiner Leistungen im Alltagsleben (Versprechen, Vergreifen u.dgl.)« (ebd., 7). – Zum einen ist auffällig, dass Freud hier von einer »Kunst« spricht (er setzt das Wort kursiv!), was ein weiterer Hinweis darauf ist, dass diese neue Methode andere Kriterien erfüllen muss als eine herkömmliche am Paradigma des Experiments orientierte naturwissenschaftliche.9 Zum anderen spricht Freud hier von zwei weiteren methodischen Zugängen zum Unbewussten neben dem Traum: Symptomhandlungen und Fehlleistungen.
Über Psychotherapie, 1905 Es handelt sich um einen Vortrag vor der Wiener Ärzteschaft, den Freud mit der Erinnerung an seinen letzten dort gehaltenen Vortrag beginnt, der ca 8 Jahre zurückliegt und den Studien gewidmet war.10 Er erinnert an das damals als wesentlich erachtete Wirkmoment des »Abreagierens« und kommt dann zu seinem Kunstgriff, indem er sein Publikum daran erinnert, dass »die Psychotherapie gar kein modernes Heilverfahren« ist, vielmehr den Ärzten seit der Antike vertraut ist. Er betont das Moment der »gläubigen Erwartung«, das in jeder medizinischen Behandlung eine entscheidende Rolle spiele und führt dies zur überraschenden Aussage: »Wir Ärzte, Sie alle, treiben also beständig Psychotherapie, auch wo Sie es nicht wissen und nicht beabsichtigen« (Freud 1905a, 15). Im Folgenden weist Freud darauf hin, dass es »viele Arten und Wege der Psychotherapie« gibt. Er nennt dabei die »gewöhnliche Tröstung«, die »Technik der hypnotischen Suggestion, der Psychotherapie durch Ablenkung, durch Übung, durch Hervorrufung zweckdienlicher Affekte«, um schließlich – wiederum unter Berufung auf Breuer – zu 9
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Freuds Verwendung des Ausdrucks »Kunst« für seine Methode ist keineswegs einmalig. So schreibt er etwa in Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse: »Ich plädiere also dafür, daß die Traumdeutung in der analytischen Behandlung nicht als Kunst um ihrer selbst willen betrieben werden soll, sondern daß ihre Handhabung jenen technischen Regeln unterworfen werde, welche die Ausführung der Kur überhaupt beherrschen« (Freud 1912b, 354). – Wir werden diese Frage des Status der »Technik« später ausführlicher erörtern. Dies sollte übrigens Freuds letzter Vortrag vor einem offiziellen medizinischen Publikum in Wien sein.
Technik oder Ethik? Freuds Schriften zur Behandlungspraxis
»seiner« Methode zu kommen: »Ich darf behaupten, die analytische Methode der Psychotherapie ist diejenige, welche am eindringlichsten wirkt, am weitesten trägt, durch welche man die ausgiebigste Veränderung des Kranken erzielt« (ebd., 16). Nachdem Freud auf eine ganze Reihe von Kontraindikationen und Bedenken eingeht, kommt er zum Schluss auf den Kern seiner Methode zurück: »Zum Schlusse, meine Herren Kollegen, muß ich Ihnen sagen, worin diese Behandlung besteht… Diese Therapie ist also auf die Einsicht gegründet, daß unbewußte Vorstellungen – besser: die Unbewußtheit gewisser seelischer Vorstellungen – die nächste Ursache der krankhaften Symptome ist« (ebd., 23f). Und diese »Unbewusstheit« soll gelockert werden: »Als eine solche Nacherziehung zur Überwindung innerer Widerstände können Sie nun die psychoanalytische Behandlung ganz allgemein auffassen« (ebd., 25).
Der große Wurf? Die behandlungstechnischen Schriften zwischen 1911 und 1915 In die Jahre zwischen 1905 und 1911 fallen die drei ersten großen Fallgeschichten Freuds, die Dora-Analyse, der kleine Hans und die Analyse des Rattenmanns.11 Es scheint, dass Freud aus der Tatsache des Analyse-Abbruchs von Dora entscheidende Folgerungen für seine Auffassung der Technik zog. Im Rückblick beschreibt er seine damalige Behandlungsmethode so: »Damals ging die Arbeit von den Symptomen aus und setzte sich die Auflösung derselben der Reihe nach zum Ziel. Ich habe diese Technik seither aufgegeben, weil ich sie der feineren Struktur der Neurose völlig unangemessen fand. Ich lasse nun den Kranken selbst das Thema der täglichen Arbeit bestimmen und gehe also von der jeweiligen Oberfläche aus, welche das Unbewußte in ihm seiner Aufmerksamkeit entgegenbringt« (Freud 1905d, 169). – Wichtiger noch erscheint uns aber die Tatsache, dass Freud in seiner nachträglichen Reflexion die Rolle der Übertragung für den Heilungsvorgang neu und anders bewertete. Die Übertragung, die er zehn Jahre zuvor noch als »falsche Verknüpfung« verstanden hatte, wurde von nun an zum hauptsächlichen Werkzeug der Psychoanalyse. Freud gestand sich ein, dass es ihm im Dora-Fall noch nicht gelungen war, »der Übertragung rechtzeitig Herr zu werden« (ebd., 282), und er führte den frühzeitigen Abbruch der Analyse auf diesen Umstand zurück. Der entscheidende Wendepunkt in Freuds Auffassung der Behandlungstechnik, insbesondere was die Arbeit an und mit der Übertragung betraf, vollzog sich aber offenbar in seiner Analyse mit dem Rattenmann 1907. In ihr veränderte Freud seine Perspektive mit seinem konsequenten Verzicht auf eine »aktive« Haltung des Analytikers: Hatte er bisher seine eigenen Rekonstruktionen dem Patienten oktroyiert, so begann er jetzt dem Fortgang des analytischen Prozesses zu vertrauen. So schreibt er am 9.1. 1908 an Karl Abraham: »Hauptregeln: 1. ›Zeit lassen’…. Der Patient zeigt den Weg, indem er in strenger Befolgung der Eingangsregel (Alles zu sagen, was ihm einfällt) seine jeweilige psychische Oberfläche zeigt« (Freud&Abraham 1965, 34). Wie Ernest Jones schreibt, plante Freud als eine Konsequenz des Salzburger Kongresses von 1908, wo er ja den Rattenmann vorgestellt hatte, eine systematische Dar11
Diese Fallgeschichten werden wir in unserem nächsten Kapitel ausführlich besprechen.
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»seiner« Methode zu kommen: »Ich darf behaupten, die analytische Methode der Psychotherapie ist diejenige, welche am eindringlichsten wirkt, am weitesten trägt, durch welche man die ausgiebigste Veränderung des Kranken erzielt« (ebd., 16). Nachdem Freud auf eine ganze Reihe von Kontraindikationen und Bedenken eingeht, kommt er zum Schluss auf den Kern seiner Methode zurück: »Zum Schlusse, meine Herren Kollegen, muß ich Ihnen sagen, worin diese Behandlung besteht… Diese Therapie ist also auf die Einsicht gegründet, daß unbewußte Vorstellungen – besser: die Unbewußtheit gewisser seelischer Vorstellungen – die nächste Ursache der krankhaften Symptome ist« (ebd., 23f). Und diese »Unbewusstheit« soll gelockert werden: »Als eine solche Nacherziehung zur Überwindung innerer Widerstände können Sie nun die psychoanalytische Behandlung ganz allgemein auffassen« (ebd., 25).
Der große Wurf? Die behandlungstechnischen Schriften zwischen 1911 und 1915 In die Jahre zwischen 1905 und 1911 fallen die drei ersten großen Fallgeschichten Freuds, die Dora-Analyse, der kleine Hans und die Analyse des Rattenmanns.11 Es scheint, dass Freud aus der Tatsache des Analyse-Abbruchs von Dora entscheidende Folgerungen für seine Auffassung der Technik zog. Im Rückblick beschreibt er seine damalige Behandlungsmethode so: »Damals ging die Arbeit von den Symptomen aus und setzte sich die Auflösung derselben der Reihe nach zum Ziel. Ich habe diese Technik seither aufgegeben, weil ich sie der feineren Struktur der Neurose völlig unangemessen fand. Ich lasse nun den Kranken selbst das Thema der täglichen Arbeit bestimmen und gehe also von der jeweiligen Oberfläche aus, welche das Unbewußte in ihm seiner Aufmerksamkeit entgegenbringt« (Freud 1905d, 169). – Wichtiger noch erscheint uns aber die Tatsache, dass Freud in seiner nachträglichen Reflexion die Rolle der Übertragung für den Heilungsvorgang neu und anders bewertete. Die Übertragung, die er zehn Jahre zuvor noch als »falsche Verknüpfung« verstanden hatte, wurde von nun an zum hauptsächlichen Werkzeug der Psychoanalyse. Freud gestand sich ein, dass es ihm im Dora-Fall noch nicht gelungen war, »der Übertragung rechtzeitig Herr zu werden« (ebd., 282), und er führte den frühzeitigen Abbruch der Analyse auf diesen Umstand zurück. Der entscheidende Wendepunkt in Freuds Auffassung der Behandlungstechnik, insbesondere was die Arbeit an und mit der Übertragung betraf, vollzog sich aber offenbar in seiner Analyse mit dem Rattenmann 1907. In ihr veränderte Freud seine Perspektive mit seinem konsequenten Verzicht auf eine »aktive« Haltung des Analytikers: Hatte er bisher seine eigenen Rekonstruktionen dem Patienten oktroyiert, so begann er jetzt dem Fortgang des analytischen Prozesses zu vertrauen. So schreibt er am 9.1. 1908 an Karl Abraham: »Hauptregeln: 1. ›Zeit lassen’…. Der Patient zeigt den Weg, indem er in strenger Befolgung der Eingangsregel (Alles zu sagen, was ihm einfällt) seine jeweilige psychische Oberfläche zeigt« (Freud&Abraham 1965, 34). Wie Ernest Jones schreibt, plante Freud als eine Konsequenz des Salzburger Kongresses von 1908, wo er ja den Rattenmann vorgestellt hatte, eine systematische Dar11
Diese Fallgeschichten werden wir in unserem nächsten Kapitel ausführlich besprechen.
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stellung seiner Technik, die er unter dem Titel Allgemeine Technik der Psychoanalyse herausgeben wollte. Aus den Briefen dieser Zeit an Karl Abraham wissen wir, dass Freud mit dieser Arbeit begann, aber im Folgejahr entschied er, damit zu warten; sie sollte nie erscheinen. Ein Jahr später äußerte Freud gegenüber Jones die Absicht, mehrere einzelne Artikel über die wesentlichen Aspekte der psychoanalytischen Technik schreiben zu wollen. – Zwischen 1911 und 1915 verfasste Freud dann tatsächlich diese Einzelarbeiten über die Behandlungstechnik. Die Verfasser des Editorials zum entsprechenden Ergänzungsband der Studienausgabe bewerten dieses Ergebnis so: »Zwar wird in diesen sechs Abhandlungen eine große Zahl wichtiger Themen erörtert, dennoch kann man sie kaum als eine systematische Darstellung der psychoanalytischen Behandlungstechnik beschreiben. Nichtsdestoweniger stellen sie Freuds größte Annäherung an eine solche Systematik dar« (In: Freud 1975 ,146).12
Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie, 1911 Dies ist der Vortrag, den Freud auf dem 2. Kongress der Psychoanalytiker in Nürnberg 1910 gehalten hat, veröffentlicht im »Zentralblatt für Psychoanalyse« 1911. Freud beschreibt hier die Modifikation seiner Technik vom »Drängen« zum »Deuten« und zur Arbeit an der »Übertragung«. – Auch das Ziel der Behandlung hat sich modifiziert: von der bloßen Aufdeckung der Symptome hin zur Aufdeckung der »Komplexe« im allgemeinen und zur direkten Auffindung der »Widerstände«. Er betont dabei zwei Aspekte: Die »intellektuelle Hilfe«, die »dem Kranken« in Form einer »bewußten Erwartungsvorstellung« gegeben wird, die ihm die »Überwindung der Widerstände« erleichtern soll, indem ihm das Auffinden der verdrängten unbewussten Vorstellungen in Aussicht gestellt wird; und die »Verwendung der Übertragung« (Freud 1911a, 105f).13 Die wesentliche Erfahrung mit dem Übertragungsphänomen machte Freud, wie schon erwähnt, in seiner Analyse mit Dora. Und in dieser Behandlung spürte er auch bei sich selbst einen deutlichen Widerstand gegenüber dem offensichtlichen Liebeswerben dieser Patientin, was möglicherweise die negative Übertragung dieser auf ihn ausgelöst haben mag. Diese Gefühlsreaktion bei ihm selbst nennt er jetzt »Gegenübertragung«: »Andere Neuerungen betreffen die Person des Arztes selbst. Wir sind auf die ›Gegenübertragung‹ aufmerksam geworden, die sich beim Arzt durch den Einfluß des Patienten auf das unbewußte Fühlen des Arztes einstellt, und sind nicht weit davon, die Forderung
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Und Freuds Verzicht auf ein systematisches Technik-Lehrbuch kommentieren die Herausgeber der Studienausgabe so: »Die relativ geringe Zahl seiner behandlungstechnischen Schriften sowie Unschlüssigkeit und Aufschub bei ihrer Niederschrift lassen vermuten, daß Freud gegen die Veröffentlichung gerade dieses Materials ein gewisses Widerstreben empfunden hat…. Die Begründung dafür liegt… zum Teil darin, daß die im psychoanalytischen Verfahren zur Geltung kommenden psychologischen Faktoren (die Persönlichkeit des Analytikers eingeschlossen) zu komplex und variabel seien, als daß sich irgendwelche strengen und unwandelbaren Regeln angeben ließen« (in: Freud 1975, 146f). Diese Erklärung erscheint uns zu kurz zu greifen. Wir werden die hier aufgeworfenen Fragen später noch näher erörtern. An dieser Stelle stellt Freud noch in Aussicht, dass er »demnächst« eine »Allgemeine Methodik der Psychoanalyse« vorlegen wird (ebd., 105).
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zu erheben, daß der Arzt diese Gegenübertragung in sich erkennen und bewältigen müsse« (ebd., 108).14 Und er zieht daraus folgenden Schluss: »Wir haben, seitdem eine größere Anzahl von Personen die Psychoanalyse üben und ihre Erfahrungen untereinander austauschen, bemerkt, daß jeder Psychoanalytiker nur so weit kommt, als seine eigenen Komplexe und inneren Widerstände es gestatten.« Und sofort verknüpft er diese Einsicht mit der Forderung: »[...]und verlangen daher, daß er seine Tätigkeit mit einer Selbstanalyse beginne, und diese, während er seine Erfahrungen an Kranken macht, fortlaufend vertiefe« (ebd., 108).15
Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse, 1912 Dies ist der erste der »technischen Aufsätze«, die als »kleinere Beiträge« offenbar der Ersatz für das angekündigte systematische Technik-Lehrbuch sein sollen. Es werden, wie Freud schreibt, nun (also demnächst) in dieser Zeitschrift, dem »Zentralblatt für Psychoanalyse« »Aufsätze didaktischer Natur und technischen Inhaltes« erscheinen, die »dem Lernenden … und dem Anfänger … durch geeignete Anweisungen Aufwand an Zeit und Mühe … ersparen« sollen (Freud 1912b, 350). Ins Zentrum stellt Freud die Frage, »welchen Gebrauch man bei der psychoanalytischen Behandlung von Kranken von der Kunst der Traumdeutung machen solle« (ebd., 350, Kursivierung von mir). – Also: Die Deutung von Träumen ist eine »Kunst«! Und lässt sich daher nicht nach einer »Regel« oder »strengen Systematik« ausüben! (Dies ist vielleicht ein wesentlicher Grund für den Verzicht auf das »Lehrbuch«.) Freud beginnt mit der Feststellung, dass manche Analysanten so reichlich Träume bringen, dass dies auch als eine Form von Widerstand betrachten werden muss. Er warnt davor, am Anspruch, jeden Traum möglichst vollständig zu deuten, festzuhalten, plädiert vielmehr dafür, »daß es für die Behandlung von größter Bedeutung ist, die jeweilige psychische Oberfläche des Kranken zu kennen« (ebd., 351). Das bedeutet: »Man mache also von der Regel, immer das zu nehmen, was dem Kranken zunächst in den Sinn kommt, zu Gunsten einer unterbrochenen Traumdeutung keine Ausnahme« (ebd., 352). Und noch deutlicher: Der Analytiker soll, auch wenn dies »eine starke Zumutung ist, die bewußten Zielvorstellungen bei der Behandlung aufzugeben und sich ganz einer Leitung zu überlassen, die uns doch immer wieder als ›zufällig‹ erscheint«
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Freud benutzt den Ausdruck »Gegenübertragung« zum ersten Mal in seinem Brief an C.G.Jung vom 7.6.1909 mit Bezug auf Jungs Beziehung zu Sabine Spielrein: »Solche Erfahrungen, wenngleich schmerzlich, sind notwendig und schwer zu ersparen. Erst dann kennt man das Leben und die Sache, die man in der Hand hat… Es schadet aber nichts, es wächst einem so die nötige harte Haut, man wird der ›Gegenübertragung‹ Herr, in die man doch jedesmal versetzt wird, und lernt seine eigenen Affekte verschieben und zweckmäßig platzieren. Es ist ›a blessing in disguise‹« (Freud&Jung 1974, 254, 255). Es sind diese beiden Sätze, welche die Auffassung zu bestätigen scheinen, Freud habe in der Gegenübertragung nur eine Störung gesehen und mit seiner Forderung, sie zu bewältigen, ihre Beseitigung gemeint. Wir werden noch sehen, dass Freud hier bald eine differenziertere Haltung einnehmen wird.
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(ebd., 354). – Freud plädiert also für Zurückhaltung bezüglich eines Deutungsaktivismus und stattdessen für eine Haltung, die er noch im selben Jahr (in den Ratschlägen) als »gleichschwebende Aufmerksamkeit« charakterisieren wird.
Zur Dynamik der Übertragung, 1912 Mit diesem Aufsatz knüpft Freud an Überlegungen an, die er schon 1907 im Rahmen einer Abenddiskussion der Wiener Mittwochsgesellschaft vorgelegt hat: »Um die Widerstände zu beseitigen, gäbe es nur eine Macht, die Übertragung. Wir nötigen die Patienten, uns zuliebe die Widerstände aufzugeben. Unsere Heilungen sind Liebesheilungen… Das Schicksal der Übertragung entscheide den Erfolg der Kur« (Nunberg&Federn 1962, 95f.). – Es ist ein Text über die Übertragung – und daher über die Liebe. Freud versucht sich an einer »libidotheoretischen Präzisierung des Übertragungskonzepts« (Mertens 2013, 140). Er beginnt den Aufsatz mit einer Erklärung, wie sich das je singuläre »Klischee« des »Liebeslebens« herausbildet: »Machen wir uns klar, daß jeder Mensch durch das Zusammenwirken von mitgebrachter Anlage und von Einwirkungen auf ihn während seiner Kinderjahre eine bestimmte Eigenart erworben hat, wie er das Liebesleben ausübt, also welche Liebesbedingungen er stellt, welche Triebe er dabei befriedigt, und welche Ziele er sich setzt. Das ergibt sozusagen ein Klischee« (Freud 1912c, 364). Und dieses »Klischee« wird sich zwangsläufig auch in der Therapie reproduzieren: »Es ist völlig normal und verständlich, wenn die erwartungsvoll bereitgehaltene Libidobesetzung des teilweise Unbefriedigten sich auch der Person des Arztes zuwendet« (ebd., 365).16 Nun wendet sich Freud zwei damit zusammenhängenden Fragen zu: »Erstens verstehen wir nicht, daß die Übertragung bei neurotischen Personen in der Analyse soviel intensiver ausfällt als bei anderen, nicht analysierten, und zweitens bleibt es rätselhaft, weshalb uns bei der Analyse die Übertragung als der stärkste Widerstand gegen die Behandlung entgegentritt« (ebd., 366). – Zum ersten Problem meint Freud dann, dass es schlicht nicht stimme, dass die Übertragung nur innerhalb der Analyse intensiv auftrete. Sie sei ein ganz alltägliches Phänomen, bekomme allerdings außerhalb der Analyse nicht die entsprechende Beachtung. – Zum zweiten Phänomen greift Freud auf Jungs Begriff der Introversion zurück. Als grundlegende Vorbedingung jeder neurotischen Erkrankung komme es zu einer »Introversion der Libido«, die sich dann »in die Regression begebe und die infantilen Imagines wiederbelebt« (ebd., 367). Wenn nun im Prozess der Analyse diese verdrängten Imagines reaktiviert werden, sei es nur konsequent, dass sich auch die entsprechenden Widerstände, die damals für die Verdrängung verantwortlich
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Freud hat diese Auffassung in wesentlichen Aspekten schon in seiner Dora-Analyse von 1905 vorweg genommen, wenn er schreibt: »Was sind Übertragungen? Es sind Neuauflagen,Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse geweckt und bewußt gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes. Um es anders zu sagen: Eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig« (Freud 1905d, 279).
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waren, wieder melden. Dies führt im Prozess der Analyse zu einer Situation, »in welcher schließlich alle Konflikte auf dem Gebiete der Übertragung ausgefochten werden müssen« (ebd., 370). Aber Freud ist noch nicht zufrieden mit dieser Aufklärung. Er fragt erneut: »Woher kommt es, daß sich die Übertragung vorzüglich zum Mittel des Widerstandes eignet« (ebd.)? Sein nächster Schritt führt ihn zu einer neuen Differenzierung: »Man muß sich entschließen, eine ›positive‹ Übertragung von einer ›negativen‹ zu sondern, die Übertragung zärtlicher Gefühle von der feindseliger…. Die Lösung des Rätsels ist also, daß die Übertragung auf den Arzt sich nur insofern zum Widerstande in der Kur eignet, als sie negative Übertragung oder positive von verdrängten erotischen Regungen ist. Wenn wir durch Bewußtmachen die Übertragung ›aufheben‹, so lösen wir nur diese beiden Komponenten des Gefühlsaktes von der Person des Arztes ab« (ebd., 371). Und er sagt es noch deutlicher: »Die unbewußten Regungen wollen nicht erinnert werden, wie die Kur es wünscht, sondern sie streben danach, sich zu reproduzieren, entsprechend der Zeitlosigkeit und der Halluzinationsfähigkeit des Unbewußten…. Der Kranke … will seine Leidenschaften agieren, ohne auf die reale Situation Rücksicht zu nehmen« (ebd., 374). Wir haben es hier also mit wesentlichen Neuerungen bzw. Differenzierungen zu tun: Freud unterscheidet »positive« und »negative« Übertragungen, empfiehlt einen unterschiedlichen technischen Gebrauch bezüglich der beiden – und er weist darauf hin, dass »der Kranke« dazu neigt, die hinter den Übertragungen liegenden Phantasmen statt zu erinnern zu »agieren«.17 Damit hat Freud eine weitere Wende in seinem technischen Verständnis vollzogen. Das Konzept der »Widerstandsanalyse« gilt zwar immer noch, aber es gibt jetzt einen Widerstand, der als der entscheidende angesehen wird: »Dieser Kampf … spielt sich fast ausschließlich an den Übertragungsphänomenen ab. Auf diesem Felde muß der Sieg gewonnen werden … denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden« (ebd., 374). Freud verwendet hier drastische Worte: Die Kur wird zum »Kampf«, es geht um »Sieg« (oder Niederlage) – und Freud sieht, wie er abschließend bemerkt, neben dem praktischen Erfolg auch den Erkenntnisgewinn als entscheidend an.
Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, 1912 In diesem Artikel taucht – es geht ja vor allem um die richtige Haltung des Analytikers bei der Behandlung – der wichtige Begriff der »gleich schwebenden Aufmerksamkeit« auf. – Gleich zu Beginn stellt Freud fest, dass alle »technischen Regeln« sich auf eine »einzige Vorschrift« zurückführen lassen, nämlich eine spezielle Form des Zuhörens, die er als »gleichschwebende Aufmerksamkeit« bezeichnet (Freud 1912d, 377). Und er macht darauf aufmerksam, dass diese Regel »das notwendige Gegenstück zu der Aufforderung an den Analysierten« ist, »ohne Kritik und Auswahl alles zu erzählen, was ihm 17
Das »Aufheben« des Übertragungswiderstandes wird Freud noch länger beschäftigen und ihn schließlich auch zum Konzept des »Wiederholungszwangs« und seiner metatheoretischen Konsequenz eines »Jenseits des Lustprinzips« führen.
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einfällt« (ebd.). Die technische Empfehlung wird dann nochmals in folgender Formulierung wiederholt: »Man höre zu und kümmere sich nicht darum, ob man sich etwas merke« (ebd., 378). Als eine praktische Konsequenz daraus folgert Freud, dass er gegen Notizen während der Sitzung ist. Und auch der Analysant soll nicht dazu ermuntert werden, sich Aufzeichnungen zu machen oder solche mitzubringen. Auch soll der Analytiker nichts aus seinem eigenen Innenleben erzählen. – Und er sagt es noch einmal anders: »[...] dagegen gelingen jene Fälle am besten, bei denen man wie absichtslos verfährt, sich von jeder Wendung überraschen läßt, und denen man immer wieder unbefangen und voraussetzungslos entgegentritt« (ebd., 380). Diese völlige Offenheit und »Voraussetzungslosigkeit« stellt, wie Laplanche und Pontalis treffend bemerken, eine »Idealregel« dar, die in der konkreten Situation immer nur annähernd erreichbar ist (Laplanche&Pontalis 1967, 170). Und dann kommt die, wie wir noch sehen werden, konfliktträchtige und folgenreiche »Chirurgen«-Metapher: »Ich kann den Kollegen nicht dringend genug empfehlen, sich während der psychoanalytischen Behandlung den Chirurgen als Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt«, um dann vor dem »therapeutischen Ehrgeiz« zu warnen, eine »Affektstrebung«, die ihm als die »gefährlichste« erscheint (Freud 1912d, 380). – Wir verstehen diese Metapher als Verschärfung von Freuds Forderung, wonach die Kur »in der Abstinenz« geführt werden soll. Laplanche und Pontalis definieren Freuds »Abstinenzregel so: »Grundsatz, wonach die psychoanalytische Behandlung so geführt werden soll, daß der Patient die geringstmögliche Ersatzbefriedigung für seine Symptome findet. Für den Analytiker schließt er die Regel ein, dem Patienten die Befriedigung seiner Wünsche zu versagen und tatsächlich die Rolle zu übernehmen, die dieser bestrebt ist, ihm aufzudrängen« (Laplanche&Pontalis 1967, 22). Nochmals kommt Freud auf die »gleichschwebende Aufmerksamkeit« als »Gegenstück« zur »psychoanalytischen Grundregel« zurück, indem er dem Analytiker diese Haltung mit einer weiteren aus der zeitgenössischen Technik gewählten Metapher nahelegt: »[...] er soll dem gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des Telephons zum Teller eingestellt ist« (ebd., 381). Freud fordert da erneut sehr viel, nämlich eine wirkliche Kommunikation von Unbewusst zu Unbewusst.18 Dazu ist es aber notwendig, dass der Analytiker auch in sich selbst »keine Widerstände dulden« darf. Dazu genügt es nicht, schreibt Freud, »daß er selbst ein annähernd normaler Mensch sei«, er muss sich »einer psychoanalytischen Purifizierung unterzogen und von jenen Eigenkomplexen Kenntnis genommen haben« (ebd., 382).- Und diese Forderung nach einer »Eigenanalyse« wird dann noch gesteigert: »Eine solche Analyse eines praktisch Gesunden wird begreiflicherweise unabgeschlossen bleiben… wird die analytische Erforschung seiner eigenen Person nachher als Selbstanalyse fortsetzen« (ebd., 383). Wer aber eine solche Eigenanalyse »verschmäht …. wird leicht in
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Das hat Theodor Reik später in seine Metapher vom »Hören mit dem dritten Ohr« gefasst (vgl. Reik 1948).
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Versuchung geraten, was er in dumpfer Selbstwahrnehmung von den Eigentümlichkeiten seiner eigenen Person erkennt, als allgemeingültige Theorie in die Wissenschaft hinauszuprojizieren, er wird die psychoanalytische Methode in Mißkredit bringen und Unerfahrene irreleiten« (ebd.). Die Gefahr, die Freud hier anspricht, ist eine sehr reale. Was immer sich aus dem Unbewussten des Analytikers während seines Zuhörens in der Haltung der »gleichschwebenden Aufmerksamkeit«, des »receivers« meldet: Wie kann der Analytiker unterscheiden, ob diese Gedanken und Gefühle ihm selbst gehören, aus seinem eigenen Verdrängten stammen – oder eine Resonanz auf das Verdrängte des Analysanten darstellen?!19 Im Weiteren kommt Freud nochmals auf die Chirurgenmetapher zurück und radikalisiert sie noch: »Der Arzt soll undurchsichtig für den Analysierten sein und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird« (ebd., 384).20 Wie lässt sich dieses Insistieren auf einem ganz spezifischen Verständnis von »Abstinenz« verstehen? Wir erklären uns das so, dass Freud damit auf die besonderen Herausforderungen reagiert, die ihm seine Entdeckung des zentralen Stellenwerts der Übertragung und der Übertragungsdeutung abverlangt. Und noch eine Revision seiner bisherigen Auffassungen springt in diesem kurzen, aber zentralen technischen Aufsatz ins Auge: Freud rückt von seiner lange aufrecht erhaltenen Auffassung ab, es handle sich bei der Kur um eine »Nacherziehung«. Jetzt spricht er diesbezüglich von einer »Versuchung«, der es zu widerstehen gelte: »Der erzieherische Ehrgeiz ist so wenig zweckmäßig wie der therapeutische.« Die »intellektuelle Mitarbeit« des Analysanten sei mit Vorsicht zu bewerten, als wesentlich gilt Freud die Befolgung der »Grundregel«: »Besonders unerbittlich sollte man auf der Befolgung dieser Regel bei jenen Kranken bestehen, die die Kunst ausüben, bei der Behandlung ins Intellektuelle auszuweichen« (ebd., 386). Diesem Widerstand des Intellektualisierens soll der Analytiker eben nicht durch eigene an das bewusste Ich des Analysanten gerichtete Erklärungen und Unterweisungen Vorschub leisten.
Zur Einleitung der Behandlung, 1913 Dieser Aufsatz ist der am stärksten auf die Praxis ausgerichtete: Er bietet eine ganze Serie von Empfehlungen und Ratschlägen. – Freud empfiehlt zunächst eine »Probebehandlung« von etwas zwei Wochen, primär, um falsche Indikationen wie etwa Psychosen zu erkennen. Lange Vorbesprechungen hätten oft ungünstige Folgen, freundschaft-
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Diese Frage des Status der so genannten Gegenübertragung wird Freud und seine Mitarbeiter in den Folgejahren noch stark beschäftigen und stellt einen der zentralen Konflikt- und Diskussionspunkte zur Frage der »richtigen« Technik bis heute dar. Wir werden an späterer Stelle noch ausführen, warum wir hier die Chirurgen-Metapher als konfliktträchtig und folgenreich bezeichnet haben. Vorweg aber schon einmal eine Einschätzung von Johannes Cremerius, der meint, im Gegensatz zu Freuds theoretischen Forderungen sei dessen Praxis eine ganz andere gewesen: »Auf Fragen gab er so freimütig Antwort, daß der Wolfsmann z.B. über Freuds Vorlieben auf dem Gebiet der Literatur, Malerei, Musik, Philosophie und Religion sehr genau informiert war. Da Freud auch ungefragt von sich sprach, war er bald für seine Analysanden ein ›viel beschriebenes Blatt‹, aber kein ›Spiegel‹« (Cremerius 1981, 332).
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liche oder gesellschaftliche Beziehungen stellten eine besondere Schwierigkeit dar, sodass Freud davon abrät. Dann kommt Freud zu den Punkten »Zeit« und »Geld«. Er spricht vom »Prinzip des Vermietens einer bestimmten Stunde«, plädiert für eine Frequenz »gewöhnlich sechsmal in der Woche« (Freud 1913c, 459), spricht gar von der »Montagskruste« (die eigentlich »Sonntagskruste« heißen müsste, ist doch der Sonntag bei Freud der einzige analysefreie Tag). »Die Frage nach der voraussichtlichen Dauer der Behandlung ist in Wahrheit kaum zu beantworten.« (ebd., 460) Jedenfalls lehre ihn die Erfahrung, dass es eher um »ganze Jahre« gehe, die gewünschte Abkürzung der Kur sei zwar ein berechtigter Wunsch, es stünde ihm aber »leider ein sehr bedeutsames Moment entgegen, die Langsamkeit, mit der sich tiefgreifende seelische Veränderungen vollziehen, in letzter Linie wohl die ›Zeitlosigkeit‹ unserer unbewußten Vorgänge« (ebd., 462). Beim Geld verweist Freud darauf, dass »Geld in erster Linie als Mittel zur Selbsterhaltung und Machtgewinnung zu betrachten ist«, aber auch, »daß mächtige sexuelle Faktoren an der Schätzung des Geldes mitbeteiligt sind« (ebd., 464). Freud wendet sich gegen die in Geldangelegenheiten verbreitete »Zwiespältigkeit, Prüderie und Heuchelei« und fordert eine entsprechende »Aufrichtigkeit« (ebd.). Die Gratisbehandlung hat er mehrfach versucht, allein, »ich fand dabei die Vorteile nicht, die ich suchte« (ebd., 465). Im Gegenteil: Dankbarkeit, Schuldgefühle und andere Aspekte machten die Übertragungsbeziehung noch komplizierter als sie ohnehin schon ist und förderten zudem den »sekundären Krankheitsgewinn« (466).21 Sodann plädiert Freud für das »Liegen«. Seine Begründungen sind interessant: »Diese Veranstaltung hat einen historischen Sinn, sie ist ein Rest der hypnotischen Behandlung« (ebd., 467). Aber Freud macht auch ein »persönliches Motiv« dafür verantwortlich: »Ich vertrage es nicht, acht Stunden täglich (oder länger) von anderen angestarrt zu werden« (ebd.). Aber es gibt auch eine wichtige fachliche Begründung: »Der Patient faßt die ihm aufgezwungene Situation gewöhnlich als Entbehrung auf und sträubt sich gegen sie, besonders wenn der Schautrieb (das Voyeurtum) in seiner Neurose eine bedeutende Rolle spielt« (ebd.). Wie also mit der Übertragung umgehen? Und wann sie deuten? Das scheint Freud eine so wichtige Frage zu sein, dass er den zentralen Satz kursiv setzt: »Solange nun die Mitteilungen und Einfälle des Patienten ohne Stockung erfolgen, lasse man das Thema der Übertragung unberührt. Man warte mit dieser heikelsten aller Prozeduren, bis die Übertragung zum Widerstande geworden ist« (ebd., 473).22 Und nochmals zur Rolle des Intellekts, der »Bedeutung des Wissens« für den »Mechanismus der Heilung«: »In den frühesten Zeiten der analytischen Technik haben wir 21
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Unter »Krankheitsgewinn« versteht Freud jede direkte oder indirekte Befriedigung, die ein Analysant aus seiner Krankheit zieht. Der »primäre Krankheitsgewinn« meint insbesondere die Befriedigung durch das Symptom, durch die Flucht in die Krankheit; der »sekundäre Krankheitsgewinn« zeigt sich in seinem nachträglichen Auftreten während der Analyse, als eine spezielle Form von »Widerstand«. Diese Formulierung erinnert an Freuds diesbezüglich Positionierung in Zur Dynamik der Übertragung, wo er ja die Unterscheidung von positiver und negativer Übertragung einführte und auch bezüglich der Übertragungsdeutung eine ähnliche Aussage traf.
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allerdings in intellektualistischer Denkeinstellung das Wissen des Kranken um das von ihm Vergessene hoch eingeschätzt … Es war nur eine schwere Enttäuschung, als der erwartete Erfolg ausblieb… So mußte man sich denn entschließen, dem Wissen an sich die ihm vorgeschriebene Bedeutung zu entziehen und den Akzent auf die Widerstände zu legen… Das bewußte Wissen aber war gegen diese Widerstände … ohnmächtig« (ebd., 476). Abschließend spricht Freud die seiner Erfahrung nach entscheidenden zwei Wirkkräfte der analytischen Therapie nochmals an: »Übertragung und Unterweisung (durch Mitteilung) als die neuen Kraftquellen, welche der Kranke dem Analytiker verdankt« (ebd., 478) – also Arbeit an der Übertragung – durch Deutung: »[...] darum soll die erste Mitteilung warten, bis sich eine starke Übertragung hergestellt hat« (ebd.).
Exkurs 1: Ratschläge, Regeln, Methode, Technik Am Beginn seines Aufsatzes Zur Einleitung der Behandlung stellt Freud klar, dass es bei seinen Empfehlungen nicht um »Regeln«, sondern um »Ratschläge« gehe und er will »keine unbedingte Verbindlichkeit für sie beanspruchen« (Freud 1913c, 454). Seine persönliche Praxis habe ihn zu diesen »Regeln« gebracht, sie hätten viel mit seiner Persönlichkeit zu tun – und das bedeute, dass andere Persönlichkeiten vermutlich andere »persönliche Faktoren« für ihre Praxis entwickeln müssten. – Andererseits geht es Freud mit seinem Unternehmen Psychoanalyse darum, eine neue Wissenschaft zu etablieren – und folglich sollte auch die analytische Praxis eine möglichst weitgehende und umfassende Objektivierung bekommen. In gewisser Weise kann man schon Freuds »Scheitern« am Entwurf als ausschlaggebenden Abschied vom naturwissenschaftlichen Modell von Wissenschaft klassifizieren. So schreibt Freud im Rückblick in seinem Abriß: »Wir haben die technischen Mittel gefunden, um die Lücken unserer Bewußtseinsphänomene auszufüllen, deren wir uns also bedienen wie die Physiker des Experiments« (Freud 1940, 127). – Den entscheidenden Impuls für seinen weiteren methodischen Weg nimmt Freud schließlich über seine Einsicht in die Vorgänge des Traums. Zwar sind die ins Tagesbewusstsein vorgedrungenen Traumgedanken nicht unmittelbar, sondern nur in entstellter Form für den »beobachtenden« Analytiker wahrnehmbar. So ist Freud gezwungen, nach einer anderen Wissenstradition als der modernen am Experiment orientierten Wissenschaft Ausschau zu halten – und findet diese, wie Vassalli überzeugend belegen kann, in der Wissenstradition der antik-griechischen »technè«: »Technè geht auf anderes aus. Als Logik für das Wahrscheinliche hat sie ihren Ausgangspunkt in einer besonderen Art des Vernunftgebrauchs, der ganz allgemein für das künstlerische Herstellen im Sinne der Poiesis zuständig ist« (Vassalli 2005, 552). Freuds häufige Verwendung der Termini »Technik« bzw. »technisch« rekurrieren nicht auf den neuzeitlich-modernen Technikbegriff, sondern auf dieses unter anderem von Aristoteles in seiner Rhetorik beschriebenen Technik-Verständnis. Technik ist in der griechischen Antike etwas grundsätzlich anderes als heute. Unter dem Einfluss neuzeitlicher Wissenschaft, wie sie u.a. Bacon und Descartes entwickelten, wurde zunehmend das als »Technik« verstanden, was diese Wissenschaft praktisch anwendbar machte. Was bis dahin »technè« war, wurde zu Technologie umgeformt.
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Technè meint in der Antike einen Erkenntnisweg, der eine merkwürdige Zwischenstellung einnimmt: »Der Gegenstandsbereich der antiken technè hat seinen Ort (topos) zwischen den Dingen, die an sich und notwendig existieren einerseits, und dem Zufall (tyche) anderseits…. Diese ›Gegenstände‹ betreffen das, was wir durch Kunst herstellen, in der Heilkunst nämlich die Gesundheit, in der Ethik, was wir tun sollen, und in der Redekunst, der Rhetorik, eine Überzeugung« (ebd., 563). Ausgehend von diesem Technik-Verständnis konnte Freud an der Grenze zum »Zufälligen« den »Einfall« für seine »Technik« der Psychoanalyse fruchtbar machen. Über diesen methodischen Weg ist Freud dazu gekommen, die Sprache durch die Methode der freien Assoziation von ihrer alltäglichen Logik (was er »Sekundärprozess« nennt) zumindest tendenziell zu befreien und die Fehlleistungen, Symptomhandlungen und Träume als Enthüllungen einer anderen unbewussten Wirklichkeit durch seine therapeutische »Technik« praktisch und theoretisch fruchtbar zu machen. Wenn Freud im 7. Kapitel der Traumdeutung, welches ja die »Metatheorie« des Traums und damit eine erste komplexe Theorie des Unbewussten darstellt, schreibt, »… wir sind genötigt, ins Dunkle hinaus zu bauen« (Freud 1900, 555), dann enthält diese Aussage die Einsicht, dass psychische Wirklichkeit anders als die materielle erkannt werden muss. Das Seelische, jedenfalls in seiner »primärprozesshaften« Form, ist abgründig, mehrsinnig, fragwürdig; die »Seelenerforschung« muss die Vorstellung von Faktischem und fix Gegebenem aufgeben. Wie kann nun diese »Leerstelle« aufgefüllt, kompensiert werden? Freuds später Text Konstruktionen in der Analyse bringt interessante methodologische Reflexionen. Freud geht von einer Analogie zwischen psychoanalytischem »Konstruieren« und der Methode der Archäologie aus, die es ja ebenfalls mit »Rekonstruktion« zu tun hat. Freud hebt dabei eine wesentliche Differenz hervor: Der Archäologe findet ja Bruchstücke, aus welchen er ein Ganzes rekonstruiert. Im Unbewussten habe sich hingegen alles Wesentliche, auch das völlig Verdrängte und Vergessene, erhalten – und könne grundsätzlich ins Bewusstsein gebracht werden. Es sei »nur eine Frage der analytischen Technik, ob es gelingen wird, das Verborgene vollständig zum Vorschein zu bringen« (Freud 1937a, 46). Ein wesentliches Stück dieser »Technik« sei das »Erraten«: Der Analytiker »hat das Vergessene aus den Anzeichen, die es hinterlassen, zu erraten oder, richtiger ausgedrückt, zu konstruieren« (ebd., 50). Die »Konstruktion« stellt dabei eine erweiterte Form des »Erratens« dar. »Es ergibt sich also, daß man aus den direkten Äußerungen des Patienten nach der Mitteilung der Konstruktion wenig Anhaltspunkte gewinnen kann, ob man richtig oder unrichtig geraten hat« (ebd.). Denn auch die »Antworten« des Analysanten sind zumeist mehrdeutig, sodass Freud als angemessene »Technik« und Vorgehensweise empfiehlt: »Immer aber geben (wir) die einzelne Konstruktion für nichts anderes aus als für eine Vermutung« (ebd., 52). Was aber ist das für eine »Wissenschaft«, die zu ihrer Methode das »Erraten« erklärt?! Vassalli spricht von »Konjekturalwissenschaft«, von einer »konjekturalen Vernunft«, die Freud entwickelt, indem er auf die antike technè-Tradition zurückgreift: »Konjektural« steht für »erraten«, »mutmaßen« – und dieser Begriff wird in Freuds
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Werk gut fünfhundert Mal verwendet.23 – So schreibt Freud auch in seiner immer wieder verblüffenden Freimütigkeit: »Deuten! Das ist ein garstiges Wort. Das höre ich nicht gerne, damit bringen Sie mich um alle Sicherheit. Wenn alles von meiner Deutung abhängt, wer steht mir dafür ein, daß ich richtig deute? Dann ist doch alles meiner Willkür überlassen« (Freud 1926b, 249). – Entscheidend wird aber Folgendes: Als »Wahrheitsbeweis« beruft sich Freud auf die therapeutische Wirkung einer »Deutung«: Wenn zutreffend »geraten« wurde, stellt sich beim »Kranken« ein therapeutischer Effekt in Form der Überwindung des betreffenden Widerstandes oder auch des Verschwindens (einer bestimmten Bedeutung) des Symptoms ein. Wir sehen also: Freud greift auf den aristotelischen technè-Begriff zurück, um die Psychoanalyse als Wissenschaft neben der modernen Naturwissenschaft zu etablieren. Für seine »technischen« Schriften hat dies die Konsequenz, dass er eine strenge Regelhaftigkeit ablehnen muss, die Notwendigkeit, seiner Zunft praktikable Regeln an die Hand zu geben, immer wieder konterkariert durch irritierende Begriffe wie »Kunst«, »Erraten« etc. Die wesentlichen Botschaften liegen unseres Erachtens im Darstellen und Argumentieren von »Prinzipien«, nicht von »Regeln«.24 Lassen wir zum Abschluss dieses Exkurses noch einem modernen Analytiker das Wort: »Der analytische Prozeß ist ziellos. Wie alle anderen Entwicklungen im Leben können bestimmte Ausformungen, Ergebnisse, Resultate erst erkennbar sein, wenn sie sich eingestellt haben.Der analytische Prozeß folgt den Linien, die immer wieder Zielsetzungen relativieren. Die Dynamik, die sich daraus entwickelt, läßt schließlich die Flexibilität und Elastizität im Ich entstehen, die eine Neuformulierung der Konfliktneigungen ermöglicht. Diese Neuformulierungen lassen sich durch kein Regelsystem bestimmen« (Morgenthaler 1978, 148).25
Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten, 1914 Dieser Text ist bemerkenswert, bringt er doch mit den Konzepten des »Durcharbeitens« und des »Wiederholungszwangs« neue Begrifflichkeiten. Zudem wird die spezielle technische Bedeutung des Ausdrucks »Übertragungsneurose« als einer in der Beziehung zum Analytiker entstehenden »künstlichen« Neurose eingeführt. Freud beginnt mit einem historischen Rückblick: Ging es bei der »Breuerschen Katharsis« primär um »erinnern« und »abreagieren«, so folgte auf den Verzicht auf die
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Entsprechend schreibt Vassalli zu Freuds Gebrauch des Wortes »erraten«: »Seine epistemologischen Bedeutung nach verdiente es allerdings, wie wir meinen, als terminus technicus der Psychoanalyse gewürdigt zu werden« (Vassalli 2005, 557). So sollten wir von einem »Abstinenzprinzip« und nicht von einer »Abstinenzregel« sprechen, so wie auch die »Grundregel« keine »Regel« im strengen Sinne sein kann, denn »frei assoziieren« ist schlicht unmöglich. Gerhard Schneider betont in Bezug auf die unterschiedliche Begrifflichkeit in der heutigen Psychoanalyse, betreffend die Termini »Technik« und »Methode«, dass insbesondere Analytiker lacanianischer Orientierung den Begriff der Technik zugunsten des Begriffs der Methode ablehnen, weil dieser »die ausgeprägt individualisierten subjektiven und sogar künstlerischen Aspekte der psychoanalytischen Praxis hervorheben soll und ihre hochgradige Konzentration auf die linguistischen Aspekte der psychoanalytischen Kommunikation« (Schneider 2006, 917).
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Hypnose die Einführung der freien Assoziation: »Durch Deutungsarbeit und die Mitteilung ihrer Ergebnisse an den Kranken sollte der Widerstand umgangen werden« (Freud 1914b, 126). Die »heutige Technik« charakterisiert Freud dadurch, dass »der Arzt auf die Einstellung eines bestimmten Moments oder Problems verzichtet, sich damit begnügt, die jeweilige psychische Oberfläche des Analysierten zu studieren und die Deutungskunst wesentlich dazu benützt, um die an dieser hervortretenden Widerstände zu erkennen und dem Kranken bewußt zu machen.« (ebd., 127) Soweit das uns schon Bekannte. Dann kommt Freud zum »Erinnern«. Das Vergessene kann durch so genannte »Deckerinnerungen« repräsentiert sein. Und es lohnt sich, diese zu bearbeiten: »In diesen ist nicht nur einiges Wesentliche aus dem Kindheitsleben erhalten, sondern eigentlich alles Wesentliche. Man muß nur verstehen, es durch die Analyse aus ihnen zu entwickeln« (ebd., 128). Eine andere wichtige Form des »Erinnerns« ist das »Agieren«: »[...] der Analysierte erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt« (ebd., 129). Die Transformation dieses zusätzlichen »Hindernisses« besteht darin, es als »Inszenierung« oder als »Enactment« zu begreifen und entsprechend zu analysieren. Auch die Übertragung ist so ein Stück Wiederholung: »[...] die Wiederholung ist die Übertragung der vergessenen Vergangenheit nicht nur auf den Arzt, sondern auch auf alle anderen Gebiete der gegenwärtigen Situation« (ebd., 130). – Und was wird da wiederholt? »Die Antwort lautet, er wiederholt alles, was sich aus den Quellen des Verdrängten bereits in seinem offenkundigen Wesen durchgesetzt hat, seine Hemmungen und unbrauchbaren Einstellungen, seine pathologischen Charakterzüge. Er wiederholt ja auch während der Behandlung all seine Symptome« (ebd., 131). Und diese Wiederholung erscheint Freud mittlerweile als etwas durchaus Unheimliches, was ihn zu einer neuen Formulierung, der eines »Wiederholungszwanges«, greifen lässt. – Das »Hauptmittel«, diesen Wiederholungszwang des Patienten (durch Agieren) »zu bändigen«, liegt in der richtigen Handhabung der Übertragung. »Wir machen ihn unschädlich, ja vielmehr nutzbar, indem wir ihm sein Recht einräumen, ihn auf einem bestimmten Gebiete gewähren zu lassen. Wir eröffnen ihm die Übertragung als den Tummelplatz, auf dem es ihm gestattet wird… seine gemeine Neurose durch eine Übertragungsneurose zu ersetzen« (ebd., 134f). Es ist das Konzept der »Übertragungsneurose«, welches Freud von nun an seinem technischen Vorgehen zugrunde legt: Durch die Aktualisierung der Übertragung innerhalb der Analyse kommt es zur Wiederbelebung und Aktualisierung der verdrängten »Klischees« – und alle wesentlichen Aspekte vergangener Vorstellungen, Phantasien und zugehöriger Affekte werden als »Übertragungsneurose« reinszeniert. Und jetzt kommt der neue Begriff »Durcharbeiten«: »Man muß dem Kranken die Zeit lassen, sich in den ihm unbekannten Widerstand zu vertiefen, ihn durchzuarbeiten, ihn zu überwinden, indem er ihm zum Trotze die Arbeit nach der analytischen Grundregel fortsetzt« (135).26 Die Benennung eines Widerstandes genügt nicht. Es be26
Laplanche und Pontalis verweisen darauf, dass Freud schon in den Studien den Ausdruck »durcharbeiten« verwendet, ohne ihm freilich die spezielle technische Bedeutung zu geben, die er erst in
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darf des »Durcharbeitens«. Darauf kommt es an – und der Analytiker braucht hierfür Geduld: »Dieses Durcharbeiten der Widerstände … ist aber jenes Stück der Arbeit, welches die größte verändernde Einwirkung auf den Patienten hat« (ebd., 136). – Wir können dieses »Durcharbeiten« als ergänzende Methode verstehen, die eine vertiefte Einsicht in die Ursachen der eigenen Widerstände ermöglichen soll und damit als ein Verfahren, das ein wirksames Deuten vorbereitet.
Bemerkungen über die Übertragungsliebe, 1915 Der letzte Aufsatz dieser Reihe wurde, wie wir aus einem Brief Freuds an Karl Abraham (vom 29.7.1914) wissen, noch vor Ausbruch des 1. Weltkrieges geschrieben und ist im Jänner 1915 erschienen. Freud hielt ihn, wie er in einem Brief an Abraham (vom 4. März 1915) feststellt, für seinen besten. Ernest Jones bestätigt diese Einschätzung: »Ohne in konventionelle Moral zu verfallen, setzt er mit äußerster Klarheit die Prinzipien auseinander, die den Analytiker dabei leiten sollen, und legt ihre genaue Begründung dar« (Jones 1962, 283). Mutig bekenne er sich dazu, dass die Übertragungsliebe eine »echte« Liebe sei. Ja, sie sei zwar verblendet und zwanghaft, aber dies gelte doch für alle Formen von Verliebtheit. – Aber folgen wir Freuds Text selbst. Einleitend stellt Freud fest, dass »die einzigen wirklich ernsthaften Schwierigkeiten bei der Handhabung der Übertragung anzutreffen sind« (Freud 1915d, 306). Und er kommt gleich auf den Fall, »daß eine weibliche Patientin durch unzweideutige Andeutungen erraten läßt oder es direkt ausspricht, daß sie sich wie ein anderes sterbliches Weib in den sie analysierenden Arzt verliebt hat« (ebd.). Dass eine solche »Verliebtheit« ein in der Analyse regelmäßig anzutreffendes Phänomen sei, veranlasst Freud, das Phänomen der »Gegenübertragung« zu besprechen: »Er (der Arzt) muß erkennen, daß das Verlieben der Patientin durch die analytische Situation erzwungen wird und nicht etwa den Vorzügen seiner Person zugeschrieben werden kann« (ebd., 308).27 Wann tritt dieses »Geständnis« auf? Freud führt es auf einen heftigen Widerstand zurück: »[...]diese Wandlung ist ganz regelmäßig in einem Zeitpunkte aufgetreten, da man ihr gerade zumuten mußte, ein besonders peinliches und schwer verdrängtes
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diesem Text von 1914 bekommt. In ihrer Definition versteht sich dieses »Durcharbeiten« so: »Vorgang, durch den die Analyse eine Deutung integriert und die Widerstände überwindet, die sie hervorruft. Es handelt sich dabei um eine Form psychischer Arbeit, die es dem Subjekt erlaubt, bestimmte verdrängte Elemente zu akzeptieren und sich von der Bemächtigung der Wiederholungsmechanismen zu befreien« (Laplanche&Pontalis 1967, 123). Interessant ist die Lesart von Klaus Nerenz, der von einer »Legende zum Begriff der Gegenübertragung« spricht: Diese bestünde darin, dass ein großer Teil der Psychoanalytiker, die sich seit den 1950-er Jahren dem Konzept der »Beziehungsanalyse« verschrieben haben, Freuds Haltung zur Gegenübertragung so lesen, dass dieser sie nur als »Störung« verstanden habe und mit der Forderung verknüpft habe, sie »zu bewältigen«. Mit »Bewältigung« wäre »Beseitigung« gemeint. Dagegen stellt Nerenz seine Deutung, wonach Freud die »Gegenübertragung« als zur Übertragung des Patienten korrespondierenden Teil gesehen habe. Und entsprechend gelte hier auch die Metapher vom »größten Hindernis« und dem »mächtigsten Hebel des Erfolgs«: »Entsprechend muß man auch bei der Gegenübertragung – ebenfalls ein ›mächtiger Hebel‹ im psychoanalytischen Prozeß – mit Gegenübertragungswiderständen rechnen. Gegenübertragung ist also nicht schlechtweg eine ›Störung‹« (Nerenz 1983, 149).
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Stück ihrer Lebensgeschichte zuzugestehen oder zu erinnern. Die Verliebtheit ist also längst da gewesen, aber jetzt beginnt der Widerstand sich ihrer zu bedienen« (ebd., 310). – Wie also mit dieser »Liebe« umgehen? »Zur Triebunterdrückung, zum Verzicht oder zur Sublimierung auffordern, sobald die Patientin ihre Liebesübertragung eingestanden hat, hieße nicht analytisch, sondern sinnlos handeln« (ebd., 312). Was aber dann? Freud meint, der Analytiker müsse die verlangte Befriedigung versagen: »Die Kur muß in der Abstinenz durchgeführt werden… Sondern ich will den Grundsatz aufstellen, daß man Bedürfnis und Sehnsucht als zur Arbeit und Veränderung treibende Kräfte bei der Kranken bestehen lassen und sich hüten muß, dieselben durch Surrogate zu beschwichtigen« (ebd., 313). Der Analytiker solle die zärtlichen Gefühle der Patientin nicht erwidern. Damit würde er es verabsäumen (neben den ethischen Problemen, die damit entstünden), das Agieren zu blockieren, um das Erinnern zu stimulieren und damit das »Durcharbeiten« der Übertragung zu ermöglichen. Freuds Ratschlag an dieser Stelle ist also: »Man hält die Liebesübertragung fest, behandelt sie aber als etwas Unreales, als eine Situation, die in der Kur durchgemacht, auf ihre unbewußten Ursprünge zurückgeleitet werden soll und dazu verhelfen muß, das Verborgenste des Liebeslebens der Kranken dem Bewußtsein und damit der Beherrschung zuzuführen« (ebd., 315). Trotz diesem Insistieren auf dem Gesichtspunkt, dass es sich bei dieser »Liebe« um »Übertragung« handelt, wirft Freud die Frage auf, ob es sich bei dieser Liebe um eine »echte« handelt. Und er beantwortet diese Frage mit »ja«! Seine Argumentation ist dabei die folgende: »Der Anteil des Widerstandes an der Übertragungsliebe ist unbestreitbar und sehr beträchtlich. Aber der Widerstand hat diese Liebe doch nicht geschaffen, er findet sie vor, bedient sich ihrer und übertreibt ihre Äußerungen. Die Echtheit des Phänomens wird auch durch den Widerstand nicht entkräftet« (ebd., 317). – Und dann Freuds entscheidendes Argument: Dass eine solche Verliebtheit eine Wiederholung eines infantilen Musters sei, das gelte für jede Form der Verliebtheit! »Aber dies ist der wesentliche Charakter jeder Verliebtheit« (ebd.). So gilt: »Man hat kein Anrecht, der in der analytischen Behandlung zutage tretenden Verliebtheit den Charakter einer ›echten‹ Liebe abzustreiten« (ebd.).28 Was folgt daraus für die »Technik«? Der Analytiker »hat diese Verliebtheit durch die Einleitung der analytischen Behandlung zur Heilung der Neurose hervorgelockt. Damit steht es für ihn fest, daß er keinen persönlichen Vorteil aus ihr ziehen darf… Für den Arzt vereinigen sich nun ethische Motive mit den technischen, um ihn von der Liebesgewährung an die Kranke zurückzuhalten… So hoch er die Liebe schätzen mag, er muß es höher stellen, daß er die Gelegenheit hat, seine Patientin über eine entscheidende Stufe ihres Lebens zu heben. Sie hat von ihm die Überwindung des Lustprinzips zu lernen« (ebd., 318f).
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Auch Jacques Lacans These zur Übertragung lautet entsprechend, wie Edith Seifert ausführt: »Übertragung ist Liebe. Sie hat die Grundstruktur der Liebe, genauer gesagt, folgt einer Logik der Liebe. Soll heißen: Übertragungsliebe ist ein Beziehungsgeschehen (ein Gabentausch), in dem auf besondere Weise die Gesetze des Unbewussten zum Tragen kommen« (Seifert 2017, 50).
Technik oder Ethik? Freuds Schriften zur Behandlungspraxis
Abschließend spricht Freud von »ferrum« und »ignis«: Die »kunstgerechte« und »unabgeschwächte Psychoanalyse« sollte sich nicht scheuen, »die gefährlichsten seelischen Regungen zu handhaben und zum Wohle des Kranken zu meistern« (ebd., 321).
Freuds spätere Bemerkungen und Schriften zur »Technik« Freuds nächste schriftliche Äußerungen zu technischen Fragen sind die beiden Kapitel seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse über Die Übertragung und Die analytische Therapie von 1917. Er wiederholt hier in seiner für eine andere Hörerschaft einfacher gehaltenen Sprache seine uns schon bekannten Auffassungen. – Interessant erscheint uns Freuds Ansprache auf dem 5. psychoanalytischen Kongress im September 1918 in Budapest. Er befasst sich vorwiegend mit den »aktiven Methoden«, die mit dem Namen Sandor Ferenczi verknüpft sind, ein Vortrag, der im Folgejahr publiziert wird.
Wege der psychoanalytischen Therapie, 1919 In diesem Vortrag bringt Freud zunächst einige Argumente gegen die Auffassung, dass es zusätzlich zur »Analyse« auch »Synthese« brauche. – Dann kommt er auf den jüngsten Aufsatz von Ferenczi Technische Schwierigkeiten einer Hysterieanalyse von 1919 zu sprechen, in welchem dieser die »Aktivität« des Analytikers thematisiert. Freud beginnt mit einer Definition der »therapeutischen Aufgabe«, von der er unterstellt, dass sie Konsens findet: »Wir umschrieben unsere therapeutische Aufgabe durch die zwei Inhalte: Bewußtmachen des Verdrängten und Aufdeckung der Widerstände« (Freud 1919a, 187), um dann auf eine (von Ferenczi vorgeschlagene) zusätzliche Aktivität zu kommen: »Liegt es nicht vielmehr sehr nahe, ihm auch dadurch zu helfen, daß wir ihn in jene psychische Situation versetzen, welche für die erwünschte Erledigung des Konflikts die günstigste ist« (ebd.)? Nachdem Freud konzediert, dass eine solche zusätzliche Aktivität grundsätzlich »einwandfrei und durchaus gerechtfertigt« sei, wird er schnell vorsichtiger: Man begebe sich dabei auf ein »neues Gebiet der analytischen Technik« – und: Wie auch immer diese neue Aufgabe zu realisieren sei, erinnert Freud an einen »Grundsatz, dem wahrscheinlich die Herrschaft auf diesem Gebiete zufallen wird.« Und er setzt ihn kursiv! »Die analytische Kur soll, soweit es möglich ist, in der Entbehrung – Abstinenz – durchgeführt werden« (ebd., 187). Es klingt wie eine Warnung, eine Sorge, durch diese neue »Aktivität« des Analytikers könnte die Kur eine gefährliche Wendung erfahren. Freud spricht dann von zwei Gefahren: Zum einen die Versuche des Kranken, »sich an Stelle seiner Symptome neue Ersatzbefriedigungen zu schaffen« – und zweitens der Versuch, »die Ersatzbefriedigung in der Kur selbst im Übertragungsverhältnis zum Arzt« zu erreichen. Und jetzt kommt die Warnung ganz explizit: »Einiges muß man ihm ja wohl gewähren, mehr oder weniger, je nach der Natur des Falles und der Eigenart des Kranken. Aber es ist nicht gut, wenn es zu viel wird… Der Kranke soll, was sein Verhältnis zum Arzt betrifft, unerfüllte Wünsche reichlich übrig behalten« (ebd., 189). Freud erinnert daran, dass dieses Thema auch schon Konfliktstoff mit der »Schweizer Schule« war: »Wir haben es entschieden abgelehnt, den Patienten … zu unserem
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Abschließend spricht Freud von »ferrum« und »ignis«: Die »kunstgerechte« und »unabgeschwächte Psychoanalyse« sollte sich nicht scheuen, »die gefährlichsten seelischen Regungen zu handhaben und zum Wohle des Kranken zu meistern« (ebd., 321).
Freuds spätere Bemerkungen und Schriften zur »Technik« Freuds nächste schriftliche Äußerungen zu technischen Fragen sind die beiden Kapitel seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse über Die Übertragung und Die analytische Therapie von 1917. Er wiederholt hier in seiner für eine andere Hörerschaft einfacher gehaltenen Sprache seine uns schon bekannten Auffassungen. – Interessant erscheint uns Freuds Ansprache auf dem 5. psychoanalytischen Kongress im September 1918 in Budapest. Er befasst sich vorwiegend mit den »aktiven Methoden«, die mit dem Namen Sandor Ferenczi verknüpft sind, ein Vortrag, der im Folgejahr publiziert wird.
Wege der psychoanalytischen Therapie, 1919 In diesem Vortrag bringt Freud zunächst einige Argumente gegen die Auffassung, dass es zusätzlich zur »Analyse« auch »Synthese« brauche. – Dann kommt er auf den jüngsten Aufsatz von Ferenczi Technische Schwierigkeiten einer Hysterieanalyse von 1919 zu sprechen, in welchem dieser die »Aktivität« des Analytikers thematisiert. Freud beginnt mit einer Definition der »therapeutischen Aufgabe«, von der er unterstellt, dass sie Konsens findet: »Wir umschrieben unsere therapeutische Aufgabe durch die zwei Inhalte: Bewußtmachen des Verdrängten und Aufdeckung der Widerstände« (Freud 1919a, 187), um dann auf eine (von Ferenczi vorgeschlagene) zusätzliche Aktivität zu kommen: »Liegt es nicht vielmehr sehr nahe, ihm auch dadurch zu helfen, daß wir ihn in jene psychische Situation versetzen, welche für die erwünschte Erledigung des Konflikts die günstigste ist« (ebd.)? Nachdem Freud konzediert, dass eine solche zusätzliche Aktivität grundsätzlich »einwandfrei und durchaus gerechtfertigt« sei, wird er schnell vorsichtiger: Man begebe sich dabei auf ein »neues Gebiet der analytischen Technik« – und: Wie auch immer diese neue Aufgabe zu realisieren sei, erinnert Freud an einen »Grundsatz, dem wahrscheinlich die Herrschaft auf diesem Gebiete zufallen wird.« Und er setzt ihn kursiv! »Die analytische Kur soll, soweit es möglich ist, in der Entbehrung – Abstinenz – durchgeführt werden« (ebd., 187). Es klingt wie eine Warnung, eine Sorge, durch diese neue »Aktivität« des Analytikers könnte die Kur eine gefährliche Wendung erfahren. Freud spricht dann von zwei Gefahren: Zum einen die Versuche des Kranken, »sich an Stelle seiner Symptome neue Ersatzbefriedigungen zu schaffen« – und zweitens der Versuch, »die Ersatzbefriedigung in der Kur selbst im Übertragungsverhältnis zum Arzt« zu erreichen. Und jetzt kommt die Warnung ganz explizit: »Einiges muß man ihm ja wohl gewähren, mehr oder weniger, je nach der Natur des Falles und der Eigenart des Kranken. Aber es ist nicht gut, wenn es zu viel wird… Der Kranke soll, was sein Verhältnis zum Arzt betrifft, unerfüllte Wünsche reichlich übrig behalten« (ebd., 189). Freud erinnert daran, dass dieses Thema auch schon Konfliktstoff mit der »Schweizer Schule« war: »Wir haben es entschieden abgelehnt, den Patienten … zu unserem
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Leibgut zu machen, sein Schicksal für ihn zu formen, ihm unsere Ideale aufzudrängen und ihn im Hochmut des Schöpfers zu unserem Ebenbild, an dem wir Wohlgefallen haben, zu gestalten…. Ich halte an dieser Ablehnung auch heute noch fest« (ebd., 190). Dann kommt Freud auf klinische Krankheitsbilder zu sprechen, bei denen es nicht möglich scheint, an der »klassischen« analytischen Technik« festzuhalten (er denkt dabei an psychosenahe Störungsbilder) – und spricht sich abschließend für eine Kompromissbildung aus: »Wir werden auch sehr wahrscheinlich dazu genötigt sein, in der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren« (ebd., 193).
Exkurs 2: Ferenczis aktive Technik und ihre Folgen: die Debatte um die »klassische« Technik Sandor Ferenczi war es, der in diesen Jahren begann, über Freuds Ratschläge hinauszugehen und die »emotionale Beziehung« ins Zentrum rückte: »[...]daß es für mich und meine Analysen eine wesentliche Forderung bedeutete, als ich auf Ranks Anregung das Verhältnis des Kranken zum Analytiker zum Angelpunkte des analytischen Materials nahm und jeden Traum, jede Geste, jede Fehlhandlung, jede Verschlimmerung oder Besserung im Zustande des Patienten vor allem als Ausdruck der Übertragungs- und Widerstandsverhältnisse auffaßte« (Ferenczi 1926, 189). In der gemeinsam mit Rank veröffentlichten Arbeit Entwicklungsziele der Psychoanalyse von 1924 stellen die beiden die Bedeutung der mütterlichen Übertragung heraus. Der von Ferenczi entwickelte Ansatz zielte schließlich darauf ab, den Patienten die Liebe zu geben, die sie in ihrer Kindheit hatten entbehren müssen. Deshalb ließ er auch physischen Kontakt und den Austausch von Zärtlichkeiten zu. Freud sah zunächst diese Experimente von Ferenczi und Rank als durchaus notwendige und möglicherweise produktive Neuerungen, wie sein Brief vom 15.2.1924 an Karl Abraham belegt: »Rank und Ferenczi machen auf die Unausweichlichkeit und die nützliche Verwertung dieses Erlebens aufmerksam… Mit dieser Abweichung von unserer ›klassischen Technik‹, wie Ferenczi sie in Wien nannte, sind gewiß mancherlei Gefahren verbunden, aber damit ist ja nicht gesagt, daß man sie nicht vermeiden kann… Jedenfalls müßten wir uns hüten, ein solches Unternehmen von vornherein als ketzerisch zu verurteilen« (Freud&Abraham 1965, 321). In den Folgejahren radikalisierte Ferenczi diese seine »aktive« Position: »Die Atmosphäre des Vertrauens und das Gefühl vollkommener Freiheit sowie Zärtlichkeit, nicht aber heftige Äußerung der Leidenschaftlichkeit« sind das, was die Patienten brauchten. Nur eine solche Beziehung führe zu einem wirklichen »Neubeginn« (Ferenczi 1930, 272). In Ferenczis letzten Jahren entdeckte dieser – so jedenfalls die nachträgliche Wertung seines wichtigsten Schülers, Michael Balint – eine Reihe von klinischen Phänomenen und folgerte daraus neue technische Haltungen: »Den enormen Wert der Regression in der analytischen Situation… die alles andere überwiegende Bedeutung der Übertragungsdeutungen; den Einfluß der ›berufsmäßigen Heuchelei des Analytikers auf die sich entwickelnde Übertragungsbeziehung und Hand in Hand damit die Notwendigkeit absoluter Aufrichtigkeit bis hin zu dem, was wir heute ›Gegenübertragungsdeutungen‹
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nennen; die Gefahr, den Patienten durch allzu konsequente Beachtung der klassischen passiven Objektivät in eine Wiederholung des ursprünglichen, pathogenen Traumas zu treiben« (Balint 1966, 905). Ferenczi gelangte zur Überzeugung, dass die »klassische« Haltung der Abstinenz bei bestimmten Analysanten, jedenfalls solchen mit einer traumatischen Vergangenheit, zu einer »Retraumatisierung« führen könnte. Die neuerliche »Entbehrung« sollte durch eine andere Haltung des Analytikers vermieden werden: »Das, so glaubte Ferenczi, würde dadurch erreicht werden, daß der Analytiker positiv auf die Wünsche, Begierden und Bedürfnisse des regredierten Patienten reagierte. Damit wich Ferenczi nun endgültig von Freuds Abstinenzregel ab« (ebd., 920). In der Nachfolge Ferenczis machte Michael Balint den Begriff »Neubeginn« populär. Das zweite wesentliche Schlagwort in der Nachfolge von Ferenczi, die »korrigierende emotionale Erfahrung«, ging auf Franz Alexander zurück: »Beim ›psychoanalytischen Erlebnis‹ – und beim Neubeginn – wird angenommen, daß hierbei nicht nur Vergangenes in der Übertragung wiederholt, also in der analytischen Situation agiert wird, sondern daß im Gegenteil neue Erfahrungen in der Beziehung gemacht werden und darin die therapeutische Wirkung als korrigierende Erfahrung zu sehen ist« (Thomä 1983, 19). Noch deutlicher wird diese Auffassungsänderung in der Zusammenfassung von Robert Lévy: »Ferenczis Behandlungskonzept beruht auf dem Willen, eine Art ›Wiedergutmachungserfahrung‹ zu konstruieren; der gute, sein Kind liebende Elternteil zu sein, um so die unglücklichen Anfänge der Existenz des Patienten zu neutralisieren. Und da zugestanden wird, daß Übertragung bei beiden Protagonisten im Spiel ist, sind die Rollen austauschbar, und die Technik richtet sich in erster Linie auf die Wiedergutmachung der infantilen Traumen« (Levy 1993, 9). 1953 kam es zur »Antithese« zu diesen technischen Innovationen in der Nachfolge von Ferenczi durch Kurt Robert Eissler. Er erklärte das »Deuten« zur »Idealtechnik« und bezeichnete dieses als »basic model technique«, alle Abweichungen davon als »Parameter«: »Das Deuten ist das Alpha und Omega der klassischen psychoanalytischen Technik…. Sie ist eine Therapie, bei welcher das Deuten das führende oder vorherrschende ausschließliche, beziehungsweise das führende oder ausschließliche Mittel der Wahl darstellt« (Eissler 1959/1960, 611). Aus Eisslers Kritik wurde in der Folge ein normativer Verhaltenskodex abgeleitet, der enorme institutionelle Auswirkungen hatte. In den meisten psychoanalytischen Ausbildungsinstituten der Welt wurden die angehenden Analytiker angewiesen, nach dieser »basic model technique« zu arbeiten. Eissler hat sich gegen diese Verschulung und Vereinnahmung der psychoanalytischen Ausbildung energisch, aber vergeblich zur Wehr gesetzt. Diese widerspreche dem Geist der Psychoanalyse.29
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Aron von Blarer und Irene Brogle fassen diese dramatischen und viele Jahrzehnte wirksamen Folgen von Eisslers Kritik in eine interessante Metapher: »Als K.R.Eissler (1953) seinen Stein in das Wasser der psychoanalytischen Theorie der Technik geworfen und das Deuten zur Idealtechnik erklärt hatte, konnte er nicht ahnen, daß die Wirkung seiner Thesen vergleichbar sein würde mit derjenigen der Gesetzestafeln, die einst Moses vom heiligen Berg mitgebracht hatte« (von Blarer, A., Brogle, I. 1983, 72).
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Wie können wir diese fundamentale Veränderung bezüglich der Frage der »richtigen« Technik, des »richtigen« Umgangs mit der Übertragung bzw. der Abstinenz verstehen? Herbert Will bietet eine einleuchtende historische Erklärung: In den 1940-er Jahren, also kurz nach Freuds Tod, wurde in den USA eine Frage virulent, die es bislang in Europa in dieser Form nicht gegeben hatte, nämlich: Wie unterscheidet sich die Psychoanalyse von anderen Psychotherapien? Der Leitbegriff für diese Abgrenzung wurde der der »klassischen Psychoanalyse«. »Wie aber kam es dazu, daß Eisslers BasismodellTechnik zu einer normativen Idealtechnik stilisiert wurde, die über Jahrzehnte hinweg so unheilvolle Auswirkungen auf die Haltung vieler Psychoanalytiker hatte« (Will 2001, 697)? Will weist darauf hin, dass das Bild, das diese »Idealtechnik« entwirft, weder Freuds Theorie noch seiner Praxis entspricht. Freud verstand seine Metaphern vom Chirurgen und Spiegel niemals absolut. Es sei ein Problem der Rezeption der 1950-er Jahre, welches dazu führte, dass »die Technikschriften zu einseitig aufgefaßt worden waren; daß der späte Freud aller Wahrscheinlichkeit nach keine wesentlich veränderte ›ichpsychologische‹ Technik entwickelt hat; und daß ihm nicht ein möglichst korrektes Verhalten des Analytikers, sondern dessen Orientierung an zentralen Grundlagen und Zielvorstellungen des analytischen Arbeitens wichtig war« (ebd., 702). Demnach wäre die »klassische Psychoanalyse« ein Konstrukt, welches erst nachträglich in den 1950-er Jahren in den USA entstand.30 Nichtdestotrotz hat sich seit den 1950-er Jahren in breiten Teilen der psychoanalytischen community die Auffassung breit gemacht, wonach es »zwei« psychoanalytische Techniken gäbe; eine Auffassung, welche bis heute nachwirkt.31
Die Frage der Laienanalyse, 1926 Anlass für diesen Text war eine Klage, die im Frühjahr 1926 gegen Theodor Reik eingebracht wurde, wonach diesem nach geltendem österreichischem Recht ein Prozess wegen Kurpfuscherei drohte. Freud verfasste auf Einladung des Physiologen Durig ein Gutachten. Das Wiener Gesundheitsamt aber folgte seinem Rat nicht und am 24.2.1925 wurde Reik die Ausübung der Psychoanalyse untersagt. »Dieses Verbot spiegelte die repressive Atmosphäre wider, aus der heraus der Zugang zur Wiener psychoanalytischen Poliklinik ausschließlich auf Ärzte beschränkt werden sollte. Sie war unter anderem Folge einer Stellungnahme von Professor Wagner-Jauregg und der nicht enden wollenden Attacken der von Wilhelm Stekel geleiteten Vereinigung unabhängiger Ärzte gegen die WPV« (Roudinesco&Plon 2004, 260). 30
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Will führt diese These noch weiter aus: »Mir ist anhand der Beschäftigung mit der amerikanischen Diskussion um die Standardtechnik klar geworden, daß zwischen dem Wien, Budapest und Berlin der dreißiger Jahre sowie dem New York, Boston und Chicago der fünfziger Jahre Welten liegen … Gleiches gilt für das London der vierziger und fünfziger Jahre, in dem sich Anna Freud behaupten mußte« (ebd., 707). André Haynal, der eine differenzierte historische Analyse dieser Technik-Debatte zwischen Freud und Ferenczi und ihren Folgen verfasst hat, resümiert so: Dies »führte schließlich zur Frage, ob es in Wirklichkeit zwei Arten von Analysen gebe: eine erste, väterliche, rationale, die auf Erinnerungen und Einsicht gründet, die ›klassische‹; und eine weitere, mütterliche, regressive, die auf Interaktion, Erlebnis, Infraverbalem, ›Tieferem‹ beruht« (Haynal 1988, 571).
Technik oder Ethik? Freuds Schriften zur Behandlungspraxis
Als das Gerichtsverfahren gegen Reik eröffnet wurde, intervenierte Freud ein zweites Mal und machte sich an die Arbeit am vorliegenden Text, der im September 1926 publiziert wurde. Vielleicht wegen Freuds Intervention, aber vermutlich wegen des Mangels an Beweisen wurde die Untersuchung gegen Reik seitens des Staatsanwaltes eingestellt. – Die Angelegenheit war aber damit nicht erledigt. Freuds Veröffentlichung machte die extremen Auffassungsunterschiede innerhalb der analytischen community deutlich. 1927 erschienen nicht weniger als 28 Stellungnahmen von Analytikern aus unterschiedlichen Ländern, die in den beiden psychoanalytischen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Freud vertrat hier ganz klar eine Minderheitenposition, der Großteil vor allem der angelsächsischen Analytiker vertrat eine strikt medizinale Ausrichtung der analytischen Ausbildung. 1925 hatte Abraham Arden Brill als Präsident der New York Psychoanalytical Society Freud den Austritt seiner Organisation aus der IPA wegen dieser Frage der Laienanalyse angekündigt. Und Freuds Buch erschien just zu dem Zeitpunkt, als der Staat New York die Laienanalyse für gesetzwidrig erklärte. Im fünften Kapitel geht Freud näher auf die Beziehung zwischen Medizin und Psychoanalyse ein. Sein fiktiver Gesprächspartner geht davon aus, dass die Psychoanalyse doch ein Teil der Medizin sei. Freuds Antwort fällt sehr deutlich aus: »[...]daß der Arzt in der medizinischen Schule eine Ausbildung erfahren hat, die ungefähr das Gegenteil von dem ist, was er als Vorbereitung zur Psychoanalyse brauchen würde… Es wäre zu ertragen, wenn die medizinische Schulung den Ärzten bloß die Orientierung auf dem Gebiete der Neurosen versagte. Sie tut mehr; sie gibt ihnen eine falsche und schädliche Einstellung mit« (Freud 1926b, 262, 264). Und dann setzt er seine berufspolitische Position kursiv: »daß niemand die Analyse ausüben soll, der nicht die Berechtigung dazu durch eine bestimmte Ausbildung erworben hat. Ob diese Person nun Arzt ist oder nicht, erscheint mir als nebensächlich« (ebd., 267). – Und mit Blick auf die Affäre Reik warnt Freud vor der Einmischung der öffentlichen Macht und des Staates: »Lassen wir die Kranken selbst die Entdeckung machen, daß es schädlich für sie ist, seelische Hilfe bei Personen zu suchen, die nicht gelernt haben, wie man sie leistet« (ebd., 270). Die Differentialdiagnose, also die Klärung der Frage, ob jemand für die Analyse geeignet ist, soll aber in der Hand der Ärzte sein. In einem seiner letzten Briefe (vom 5.7.1938) schreibt Freud: »Ich kann mir nicht vorstellen, woher dieses dumme Gerücht, ich habe meine Ansicht über das Problem der Laienanalyse geändert, stammen könne. Tatsache ist, daß ich von diesen Ansichten niemals abgerückt bin und sogar noch mehr als früher auf ihnen bestehe angesichts der deutlichen Tendenzen der Amerikaner, aus der Psychoanalyse nur eine Dienstmagd der Psychiatrie zu machen« (zit.n. Jones 1962, 354).
Konstruktionen in der Analyse, 1937 Im Zentrum dieses kurzen Texts steht die Frage: Wie kommt der Analytiker vom dem, was ihm erzählt wird, zur Deutung? Freud sagt es so: »Was ist also seine Aufgabe? Er hat das Vergessene aus den Anzeichen, die es hinterlassen hat, zu erraten, oder, richtiger ausgedrückt, zu konstruieren« (Freud 1937a, 45). Interessant ist die Analogie, die Freud hier herstellt: »Seine Arbeit der Konstruktion oder, wenn man es so lieber hört, der Rekonstruktion, zeigt eine weitgehende Überein-
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stimmung mit der des Archäologen, der eine zerstörte und verschüttete Wohnstätte oder ein Bauwerk der Vergangenheit ausgräbt« (ebd.). Die Analogie endet dort, dass für den Archäologen die Rekonstruktion das Ziel und Ende seiner Arbeit ist, für den Analytiker ist dies nur, wie Freud schreibt, »die Vorarbeit«.32 Und jetzt zur Differenzierung Deutung – Konstruktion: »Wenn man in den Darstellungen der analytischen Technik so wenig von ›Konstruktionen‹ hört, so hat dies seinen Grund darin, daß man anstatt dessen von ›Deutungen‹ und deren Wirkung spricht. Aber ich meine, Konstruktion ist die weitaus angemessenere Bezeichnung. Deutung bezieht sich auf das, was man mit einem einzelnen Element des Materials, einem Einfall, einer Fehlleistung u.dgl. vornimmt. Eine Konstruktion ist es aber, wenn man dem Analysierten ein Stück seiner vergessenen Vorgeschichte [...] vorführt.« (ebd., 47) Die »Konstruktion« ist also eine erweiterte Form des »Erratens«: »Es ergibt sich also, daß man aus den direkten Äußerungen des Patienten nach der Mitteilung einer Konstruktion wenige Anhaltspunkte gewinnen kann, ob man richtig oder unrichtig geraten hat« (ebd., 50; Kursivierung von mir). Da eine Konstruktion immer ein Wagnis darstellt, drängt sich die Frage auf, wie wir die »Richtigkeit« einer Konstruktion erkennen können. Freud meint, es geht um die »Wirkung«. Diese wird aber unterschieden von der verbalen Zustimmung des Analysanten. »Es ist ja richtig, daß wir ein ›Nein‹ des Analysierten nicht als vollwertig hinnehmen, aber ebensowenig lassen wir sein ›Ja‹ gelten« (ebd., 49). Wo also ist das gesuchte Kriterium? »Ist die Konstruktion falsch, so ändert sich nichts beim Patienten; wenn sie aber richtig ist oder eine Annäherung an die Wahrheit bringt, so reagiert er auf sie mit einer unverkennbaren Verschlimmerung seiner Symptome und seines Allgemeinbefindens« (ebd., 52). Und mit Blick auf die Zielsetzung des analytischen Prozesses: »Der Weg, der von der Konstruktion des Analytikers ausgeht, sollte in der Erinnerung des Analysierten enden« (ebd., 55).
Die endliche und die unendliche Analyse, 1937 Das Jahr 1936 mit den Feierlichkeiten zu Freuds 80. Geburtstag, die neuerlich notwendigen Operationen, die Feier der goldenen Hochzeit, vor allem aber die sich zuspitzenden politischen Verhältnisse zeigen, dass Freud auf mehrfachen Ebenen sein Leben und Werk bedroht sah. So schreibt er am 22.6.1936 an Arnold Zweig: »Die Zeitverhältnisse, aber auch die Vorgänge innerhalb der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, lassen keine gute Stimmung bei uns aufkommen. Österreichs Weg zum National-Sozialismus scheint unaufhaltbar. Alle Schicksale haben sich mit dem Gesindel verschworen. Mit immer weniger Bedauern warte ich darauf, daß für mich der Vorhang fällt« (in: Freud 1960b, 142). Freuds Zeitgenossen, z.B. James Strachey, bewerten diesen Text Freuds als »pessimistisch«. In einem Brief an Max Eitingon vom 5.2.1937 gibt Freud einen Hinweis auf diese Arbeit: »Von den letzten Schädigungen erholt und wieder zu mäßigem Rauchgenuß befähigt, habe ich sogar begonnen, etwas zu schreiben. Ein kleiner technischer Aufsatz, der mir unter den Händen langsam wächst« (ebd., 428). 32
Wir haben diese Analogie und ihre Implikation bereits im Abschnitt über Ratschläge, Regeln etc. näher ausgeführt.
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Ernest Jones kommentiert in seiner Freud-Biographie die damalige Lage so: »Trotz seines elenden Zustandes brachte Freud es fertig, auch 1937 noch manches zu veröffentlichen« (Jones 1962, 257). Und mit Blick auf die eben erschienene Endliche und unendliche Analyse: »[...]für den praktizierenden Analytiker möglicherweise das Wertvollste, was Freud überhaupt geschrieben hat« (ebd., 297). Das zentrale Thema dieses Aufsatzes ist die Frage der Beendigung einer Analyse. Freud stellt zunächst trocken fest: »Die Analyse ist beendigt, wenn Analytiker und Patient sich nicht mehr zur analytischen Arbeitsstunde treffen. Sie werden so tun, wenn zwei Bedingungen ungefähr erfüllt sind, die erste, daß der Patient nicht mehr an seinen Symptomen leidet und seine Ängste wie seine Hemmungen überwunden hat, die zweite, daß der Analytiker urteilt, es sei beim Kranken so viel bewußt gemacht, soviel Unverständliches aufgeklärt, soviel innerer Widerstand besiegt worden, daß man die Wiederholung der betreffenden pathologischen Vorgänge nicht zu befürchten braucht« (Freud 1937b, 63). Dann kommt Freud auf Faktoren zu sprechen, die entscheidenden Einfluss auf den Erfolg einer Analyse haben. Er unterscheidet drei solche: »Einfluß von Traumen – konstitutionelle Triebstärke – Ichveränderung« (ebd., 68). – Zwischen Freuds technischen Empfehlungen der Jahre 1911 bis 1915 und diesem Text von 1937 liegt seine revidierte Metapsychologie – mit dem Zentrum seiner neuen Trieblehre. So sieht André Green Freuds Text als »Antwort« auf dessen Kollegenschaft und deren Drift Richtung »Ichpsychologie: »In der Ich-Psychologie wird die Freudsche Vorstellung eines primitiven Es, das sich vom Ich unterscheidet, bestritten. Sie postuliert deshalb einen getrennten Ursprung der beiden Instanzen und behauptet sogar, daß ein konfliktfreies Gebiet im Ich besteht. Indem sie wiederum den Todestrieb durch ein mit der erotischen Libido gleichgestelltes Aggressionskonzept ersetzte, schwächte sie Freuds letzte Triebtheorie in ihrer Radikalität ab« (Green 1991, 171). Auch für Harald Leupold-Löwenthal ist klar, dass Freud mit diesem Text auf bestimmte Tendenzen in der IPV reagierte, die ihm missfielen, und zwar die ichpsychologische Perspektive, die seit Anna Freuds Abwehrmechanismen besonders von Hartmann, Sterba, Nunberg, Strachey und Fenichel forciert wurde. »Freud tritt zweifelsohne … einem theoretisch begründbaren therapeutischen Optimismus entgegen, den er in seiner klinischen Arbeit nicht bestätigt finden kann« (Leupold-Löwenthal 1991, 87). So schreibt Freud im Abschnitt V in Bezug auf die heute wohl als »Arbeitsbündnis« bezeichnete Beziehung von Analysant und Analytiker: »Das Ich, mit dem wir einen solchen Pakt schließen können, muß ein normales Ich sein. Aber ein solches Normal-Ich ist, wie die Normalität überhaupt eine Idealfiktion. Das abnorme, für unsre Absichten unbrauchbare Ich ist leider keine« (Freud 1937b, 80). Gegen eine (von der ichpsychologischen Richtung eingenommene) Fokussierung auf die Ich-Dimension schreibt Freud: »Unsere therapeutische Bemühung pendelt während der Behandlung ständig von einem Stückchen Esanalyse zu einem Stück Ich-analyse. In einem Fall wollen wir etwas vom Es bewußt machen, im anderen etwas am Ich korrigieren« (ebd., 84). Im Zentrum von Freuds Text steht die Frage, wie die beiden Triebe miteinander arbeiten. Er bezeichnet es als »die lohnendste Aufgabe der psychologischen Forschung«, klarzustellen, »wie Anteile der beiden Triebarten zur Durchsetzung der einzelnen Le-
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bensfunktionen miteinander zusammentreten, unter welchen Bedingungen diese Vereinigungen sich lockern oder zerfallen« (ebd., 89). Freud weiß, wie wenig Anklang seine dualistische Triebtheorie bei seinem Kollegen findet: »Es ist mir wohl bekannt, daß die dualistische Theorie, die einen Todes-, Destruktions- oder Aggressionstrieb als gleichberechtigten Partner neben den in der Libido sich kundgebenden Eros hinstellen will, im allgemeinen wenig Anklang gefunden und sich unter Psychoanalytikern nicht eigentlich durchgesetzt hat« (ebd., 90). Viele Analytiker (so auch die Editoren des Ergänzungsbandes der Studienausgabe) kommen zum Ergebnis, dass Freud in diesem Text stärker als sonst biologische und physiologische Faktoren betone und deuten das als Ausdruck seines, wie sie meinen, schon länger bestehenden therapeutischen Pessimismus. Wir stellen diese Einschätzung mit Verweis auf die folgende Aussage Freuds in Frage: »Ein Gegensatz einer optimistischen zu einer pessimistischen Lebenstheorie kommt nicht in Frage; nur das Zusammen- und Gegeneinanderwirken der beiden Urtriebe Eros und Todestrieb erklärt die Buntheit der Lebenserscheinungen, niemals einer von ihnen allein« (ebd., 89f). Und dann kommt im Abschnitt VII noch eine Ergänzung – mit Berufung auf Ferenczi: »Nicht nur die Ich-Beschaffenheit des Patienten, auch die Eigenart des Analytikers fordert ihre Stelle unter den Momenten, die die Aussichten der analytischen Kur beeinflussen und dieselbe nach Art der Widerstände erschweren« (ebd., 93). Daher ist die »Lehranalyse« obligatorisch – und der Beruf des Analytikers erscheint Freud trotzdem als »der dritte jener ›unmöglichen‹ Berufe, in denen man des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann. Die beiden anderen, weit länger bekannten, sind das Erziehen und das Regieren« (ebd., 94).33 Freud erläutert dann die Schwierigkeiten, die mit der Persönlichkeit des Analytikers zu tun haben und schließt diese Überlegungen mit der Zuspitzung einer Forderung, die er so noch nie formuliert hat: »Jeder Analytiker sollte periodisch, etwa nach Verlauf von fünf Jahren, sich wieder zum Objekt der Analyse machen, ohne sich dieses Schrittes zu schämen. Das hieße also, auch die Eigenanalyse würde aus einer endlichen eine unendliche Aufgabe, nicht nur die therapeutische Analyse am Kranken« (ebd., 96). Und dann gibt es noch zwei Gegebenheiten, welche dem Veränderungsstreben der Analyse Grenzen setzen: Der »Penisneid« des Frau und der Widerstand des Mannes gegenüber seiner »passiv-femininen Einstellung zum anderen Mann«; beides seien Manifestationen des »Kastrationskomplexes« – und Freud bezeichnet sie als »gewachsenen
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Gerhard Schneider stellt in seinem Aufsatz Ein ›unmöglicher‹ Beruf die Frage: Was ist an der analytischen Praxis das »Unmögliche«? Und er führt den Begriff der »Aporie« ein. Die Wortbedeutung im Altgriechischen steht für Ausweglosigkeit, Verlegenheit, Not, Zweifel. – Eine Aporie ist also etwas Grundsätzlicheres als eine Problemsituation (der man ja vielleicht ausweichen kann). Schneiders zentrale These lautet: »Analysieren ist essentiell aporetischer Art … Analysieren besteht darin, Analysieren möglich zu machen« (Schneider 2006, 903). Als einen Aspekt des Aporetischen könnten wir die grundsätzliche Ungerichtetheit und Zielunbestimmtheit der analytischen Praxis verstehen, ein anderer Aspekt liegt im »Nicht-Wissen«: ».daß das Nicht-Wissen in der Psychoanalyse einen Wert als solchen hat« (ebd., 905). Zu denken wäre hier an Freuds Postulat der »gleichschwebenden Aufmerksamkeit«, das ja impliziert, dass der Analytiker sein »Wissen« so weit wie möglich zurückstellt.
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Fels«: »Man hat oft den Eindruck, mit dem Peniswunsch und dem männlichen Protest sei man durch alle psychologische Schichtung hindurch zum ›gewachsenen Fels‹ durchgedrungen und so am Ende seiner Tätigkeit« (ebd., 97). Abschließend wollen wir noch auf ein Verständnisproblem bezüglich der für diesen Aufsatz konstitutiven Begriffe »endlich« und »unendlich« eingehen. Ins Englische wurden diese mit »terminable« und »interminable« übersetzt. Aber »terminable« lenkt den Blick auf »beendbar« (bzw. »unbeendbar«), was im Deutschen so nicht angesprochen wird. Mit ›unendlich‹ wird der analytische Prozess zu einer Entwicklungsaufgabe: »Hier wird der ›unendliche‹ analytische Prozeß (nicht mehr nur im setting einer ›Kur‹) zu einer Entwicklungsaufgabe, die durchaus im Zusammenhang mit der Kulturtradition und dem humanistischen Bildungsideal steht, dem Freud entwachsen ist« (Leupold Löwenthal 1991, 96).
Die psychoanalytische Technik, 1940 Es handelt sich um das Abschlusskapitel des Abriß der Psychoanalyse; es ist der Text, den Freud vermutlich im Juli oder September 1938 in London verfasst hat und der, wie die Herausgeber des Ergänzungsbandes der Studienausgabe meinen, »als unfertig bezeichnet« werden muss« (Mitscherlich et.al. 1975, 410).34 Freud eröffnet dieses Kapitel mit einer Kriegsmetapher! »Auf diese Einsichten gründen wir unseren Heilungsplan. Das Ich ist durch den inneren Konflikt geschwächt, wir müssen ihm zu Hilfe kommen. Es ist wie in einem Bürgerkrieg, der durch den Beistand eines Bundesgenossen von aussen entschieden werden soll« (Freud 1940, 98). Dieser »Beistand« wird mit einem »Vertrag« gefestigt, den spätere Psychoanalytiker das »Arbeitsbündnis« nennen werden: »Mit den Neurotikern schliessen wir also den Vertrag: volle Aufrichtigkeit gegen strenge Diskretion. Das macht den Eindruck, als strebten wir nur die Stellung eines weltlichen Beichtvaters an. Aber der Unterschied ist gross, denn wir wollen von ihm nicht nur hören, was er weiss und vor anderen verbirgt, sondern er soll uns auch erzählen, was er nicht weiss« (ebd., 99). Freud kommt dann auf die Übertragung und den Umgang mit ihr zu sprechen: »Der Analytiker hat die Aufgabe, den Patienten jedesmal aus der gefahrdrohenden Illusion zu reissen, ihm immer wieder zu zeigen, dass es eine Spiegelung der Vergangenheit ist, was er für ein neues reales Leben hält. Und damit er nicht in einen Zustand gerate, der ihn unzugänglich für alle Beweismittel macht, sorgt man dafür, dass weder die Verliebtheit noch die Feindseligkeit eine extreme Höhe erreichen. Man tut dies, indem man ihn frühzeitig auf diese Möglichkeiten vorbereitet und deren erste Anzeichen nicht unbeachtet lässt« (ebd., 102).
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Trotzdem nimmt dieser Text in der Folge der technischen Aufsätze Freuds eine besondere Stellung ein: »In der langen Folge der erläuternden Werke Freuds nimmt der Abriß eine ganz besondere Stellung ein. Die anderen haben nämlich ausnahmslos das Ziel, die Psychoanalyse einem ihr fernstehenden Publikum zu erklären… Dies läßt sich vom Abriß nicht sagen. Es sollte unmißverständlich klar sein, daß dies kein Buch für Anfänger ist; viel eher ist es so etwas wie ein ›Auffrischungskurs‹ für Fortgeschrittene« (ebd.).
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Und wie soll der Analytiker mit den »Konstruktionen« umgehen? »In der Regel verzögern wir die Mitteilung einer Konstruktion, die Aufklärung, bis er sich selbst derselben so weit genähert hat, dass ihm nur ein Schritt, allerdings die entscheidende Synthese, zu tun übrig bleibt« (ebd., 103f). Und dann kommt Freud auf zwei relativ neue Momente zu sprechen, die als wesentliche Quellen von Widerstand Geltung haben. Freud hat ja spätestens in Jenseits des Lustprinzips den »Wiederholungszwang« als eine spezielle Form von Widerstand entdeckt und dort auch den metapsychologischen Hintergrund dafür entwickelt. – Hier gibt Freud eine weiterführende Erklärung, welche möglichen Auswirkungen davon im analytischen Prozess auftauchen können: »Beide sind dem Kranken völlig unbekannt… sie gehen auch nicht vom Ich des Patienten aus. Man kann sie unter den gemeinsamen Namen: Krankheits- oder Leidensbedürfnis zusammenfassen, aber sie sind verschiedener Herkunft, wenn auch sonst verwandter Natur. Das erste dieser beiden Momente ist das Schuldgefühl oder Schuldbewusstsein… Es ist offenbar der Beitrag zum Widerstand, den ein besonders hart und grausam gewordenes Überich leistet. Das Individuum soll nicht gesund werden, sondern krank bleiben, denn es verdient nichts besseres. … Weniger leicht ist es, die Existenz eines anderen Widerstandes zu erweisen, in dessen Bekämpfung wir uns besonders unzulänglich finden. Es gibt unter den Neurotikern Personen, bei denen, nach all ihren Reaktionen zu urteilen, der Trieb zur Selbsterhaltung geradezu eine Verkehrung erfahren hat…. Wir nehmen an, dass bei ihnen weitgehende Triebentmischungen stattgefunden haben, in deren Folge übergrosse Quantitäten des nach innen gewendeten Destruktionstriebes frei geworden sind« (ebd.,105f). Freud unterscheidet also neben den »Ich-Widerständen« solche des »Überich«, und schließlich auch einen »Es-Widerstand«, der als Auswirkung der »Triebentmischung« die therapeutische Arbeit subvertieren oder überhaupt unwirksam machen kann. André Green sieht diese abschließenden Aussagen als neuerliche Abgrenzung Freuds gegenüber der »ichpsychologischen« Sicht auf eine »Autonomie« bzw. eine »konfliktfreie Sphäre« innerhalb des Ich: »Dieser spezifische Charakter zeigt sich darin, daß die Neigung zum Konflikt dauerhafter Art ist. Dieser Konflikt ist zweifacher Art: Er existiert innerhalb des triebhaften Ganzen selbst zwischen den zwei Hauptgruppen der Triebe, und er zeigt sich als Konflikt zwischen Triebleben als Ganzem und dem Ich. Er wird anschließend von den Beziehungen zwischen dem Ich und dem Überich übernommen« (Green 1991, 185).
Exkurs 3: Technik und Ethik Freud scheint in vielen seiner diesbezüglichen Stellungnahmen eine reservierte oder skeptische Haltung einzunehmen, so etwa in seinen Vorlesungen: »Ich will keine Überzeugungen erwecken – ich will Anregungen geben und Vorurteile erschüttern … Wir verlangen nicht einmal von unseren Patienten, daß sie eine Überzeugung oder Anhängerschaft an die Psychoanalyse mitbringen. Das macht sie uns oft verdächtig. Eine wohlwollende Skepsis ist uns die erwünschteste Einstellung bei ihnen« (Freud 1916/17, 250). Andererseits ist offenkundig, dass die Psychoanalyse wie jede andere wissenschaftliche oder künstlerische Tradition vom grundlegenden Wertesystem der Kultur,
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aus dem sie hervorgeht, durchdrungen ist. In diesem Sinne ist die freudsche Psychoanalyse ein Ergebnis und Ausdruck der westlichen Kultur in ihrer Epoche der Moderne. So können wir mit Joyce McDougall sagen: »Selbsterkenntnis, sowie der angeborene Wert, der jedem Individuum zukommt, gleichgültig wie verrückt, krank, marginal oder auf die eine oder andere Weise anders es sei, sind heilige Werte der westlichen Welt. Für Freud stellt die Suche nach der Wahrheit den grundlegenden Wert der Psychoanalyse dar« (McDougall 1988, 9). Andererseits gilt aber auch: Freuds Empfehlungen zu Abstinenz, Neutralität, seine Metaphern des reflektierenden Spiegels und des kühlen Chirurgen sollen die schützende Begrenzung des analytischen Raumes garantieren, in welchem die technischen Werte ihre Wirkung entfalten können: die freie Assoziation des Analysanten, die gleichschwebende Aufmerksamkeit des Analytikers, seine Deutung von Widerstand und Übertragung; dies alles mit dem Ziel, die Phantasmen und den unbewussten Konflikt an die Oberfläche des Bewusstseins zu bringen. Susann Heenen-Wolf betont als entscheidenden psychoanalytischen Wert die Dimension eines »Dritten«: »Die ethische Frage stellt sich spätestens dann, wenn man bedenkt, wie die klassischen Psychoanalytiker sich die Konstituierung des Subjekts vorstellen: Es ist nach Freud in allererster Linie das ödipale Schuldbewußtsein, das konstitutiv für den Prozeß der Subjektwerdung ist. Das heißt, ohne Triangulierung, ohne die volle Wucht des Erlebens von ödipalem Begehren und Versagen kann Subjektivät gar nicht wirklich entstehen« (Heenen-Wolf 1998, 110f). Freud selbst und viele Analytiker nach ihm haben den Wert der »Selbsterkenntnis« als eine spezifisch moderne Fortführung des entsprechenden sokratischen Ideals verstanden und als zentralen Wert der Psychoanalyse erachtet. Freilich gilt: Schon der Begriff »Symptom« ist normativ. Andererseits erscheint es uns als das Spezifische des psychoanalytischen Gebrauchs dieses Begriffs, dass psychische Symptome zwar einerseits als von der gesellschaftlichen Norm abweichende Einstellungen und Erlebnisweisen verstanden werden, andererseits aber auch als kreative Versuche, sich zu den unausweichlichen »Realitäten« des Lebens wie der Tatsache des Andersseins (des eigenen und des »Nebenmenschen«), der Geschlechts- und Generationendifferenzen, der Unvermeidbarkeit des Todes zu positionieren. Eine andere Perspektive auf Freuds ethische Normen bringen seine Formulierungen zu den Zielsetzungen einer psychoanalytischen Kur. So beschreibt er das Wesen seelischer Gesundheit in Über neurotische Erkrankungstypen als »Leistungs- und Genußfähigkeit« (Freud 1912a, 327). – Aber neben der Unfähigkeit, das Leben zu genießen, gibt es auch Menschen, die kein Leid spüren können; jene, die nicht »arbeiten« können, aber auch jene, die lernen müssen, mit dem Arbeiten aufzuhören, weil sie ihr Arbeiten als Abwehr verwenden, um nicht ihre Sehnsüchte und Träume spüren zu müssen. Von den Nachfolgern Freuds wurden noch weitere Ziele formuliert, so die »Erlangung von Genitalität«, die »Anpassung« an die »Realität«, die »Fähigkeit zu stabilen Objektbeziehungen« etc. Aber gerade hier stellt sich doch die Frage: Nach welchen Werten sollen wir eine »erreichte Genitalität« beurteilen? Und wie verstehen wir überhaupt »Realität«? Können wir nicht auch die »Abweichung« von der »Realität«, von einer gesellschaftlichen Norm als »normal« erachten? Alle diese Ziele sind doch zutiefst norma-
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tiv, sodass wir Gefahr laufen, »aus der Psychoanalyse eine moralische, religiöse, ästhetische oder politische Sittenlehre zu machen« (Mc.Dougall 1998, 15). Mit McDougall wollen wir diesen Exkurs abschließend auf eine grundlegende Maxime hinweisen: »Die Antwort der Psychoanalyse ist es, eine neutrale Haltung zu befürworten, auch wenn dies von der Gesellschaft als subversiv angesehen werden mag… Unser einziges Ziel ist es, sie (unsere Patienten) in die Lage zu versetzen, bei vollem Bewußtsein ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen…. und sie damit zu befähigen, alle ihre bisherigen Werte, ihre religiösen, politischen, ethischen und ästhetischen Anschauungen, ebenso wie ihre sexuellen Wünsche und Praktiken, in Frage zu stellen« (ebd., 16f).
Zusammenfassung Worin besteht nun das Wesentliche, das Essentielle von Freuds »Technik« bzw. was waren die diesbezüglichen »essentials« der Pioniergeneration um Freud bis zu seinem Tod 1938? Grundsätzlich lässt sich dazu sagen, dass es sich um eine spezielle »Mischung« aus technischen Gesichtspunkten und davon nicht ablösbaren theoretischen Überzeugungen handelt. •
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Als theoretische Grundüberzeugungen wären zu nennen: die fundamentale Bedeutung des Unbewussten sowie der infantilen Sexualität und generell die Bedeutung des Konzepts der Psychosexualität; die zentrale Rolle, die hierbei dem Ödipuskomplex zugemessen wird; die Lehre von Verdrängung, Abwehr und Widerstand und bezüglich der »Technik«: die Methode der freien Assoziation und der komplementären Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit; die fundamentale Funktion des Übertragungsgeschehens und die Überzeugung vom funktionalen Wert der Abstinenz; die unverzichtbare Rolle von Deutung und Konstruktion als Mittel, unbewusste Phantasmen und Vorstellungen bewusst zu machen; Grundannahmen über das »setting« wie das Liegen, die hohe Frequenz der Sitzungen etc.
Lassen wir zwei zeitgenössische Analytiker ihre Variante der »Grundregel« bzw. der komplementären analytischen Haltung formulieren: »Der Analysant ist eingeladen, frei zu assoziieren, gerade weil seine Assoziationen genaugenommen nicht frei sind, indem sein Sprechen auf ein Ziel zutreibt und das Begehren durch das metaphorisch-metonymische Spiel des Signifikanten hindurchträgt« (Ritter 1993, 139). In der von Lacan beeinflussten Sprache Ritters geht es beim »freien« Assoziieren also um die Freilegung unseres »Begehrens«, das Assoziieren bringt die »Logik« des Primärprozesses zumindest tendenziell an die Oberfläche der Rede. – Und zur Position der »gleich schwebenden Aufmerksamkeit«: »Diese Haltung einzunehmen, heisst auch unseren eigenen Mangel anzuerkennen, dass wir nicht die Liebe, das Verständnis und die Einfühlung haben … Wir nehmen die Wünsche und Ansprüche unserer Analysanten entgegen als etwas, das eben das Mal des Scheiterns in sich trägt. Und wir geben diesem Scheitern eine bestimmte Lektüre: Es heisst für uns, dass die Wünsche und Ansprüche in sich
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tiv, sodass wir Gefahr laufen, »aus der Psychoanalyse eine moralische, religiöse, ästhetische oder politische Sittenlehre zu machen« (Mc.Dougall 1998, 15). Mit McDougall wollen wir diesen Exkurs abschließend auf eine grundlegende Maxime hinweisen: »Die Antwort der Psychoanalyse ist es, eine neutrale Haltung zu befürworten, auch wenn dies von der Gesellschaft als subversiv angesehen werden mag… Unser einziges Ziel ist es, sie (unsere Patienten) in die Lage zu versetzen, bei vollem Bewußtsein ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen…. und sie damit zu befähigen, alle ihre bisherigen Werte, ihre religiösen, politischen, ethischen und ästhetischen Anschauungen, ebenso wie ihre sexuellen Wünsche und Praktiken, in Frage zu stellen« (ebd., 16f).
Zusammenfassung Worin besteht nun das Wesentliche, das Essentielle von Freuds »Technik« bzw. was waren die diesbezüglichen »essentials« der Pioniergeneration um Freud bis zu seinem Tod 1938? Grundsätzlich lässt sich dazu sagen, dass es sich um eine spezielle »Mischung« aus technischen Gesichtspunkten und davon nicht ablösbaren theoretischen Überzeugungen handelt. •
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Als theoretische Grundüberzeugungen wären zu nennen: die fundamentale Bedeutung des Unbewussten sowie der infantilen Sexualität und generell die Bedeutung des Konzepts der Psychosexualität; die zentrale Rolle, die hierbei dem Ödipuskomplex zugemessen wird; die Lehre von Verdrängung, Abwehr und Widerstand und bezüglich der »Technik«: die Methode der freien Assoziation und der komplementären Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit; die fundamentale Funktion des Übertragungsgeschehens und die Überzeugung vom funktionalen Wert der Abstinenz; die unverzichtbare Rolle von Deutung und Konstruktion als Mittel, unbewusste Phantasmen und Vorstellungen bewusst zu machen; Grundannahmen über das »setting« wie das Liegen, die hohe Frequenz der Sitzungen etc.
Lassen wir zwei zeitgenössische Analytiker ihre Variante der »Grundregel« bzw. der komplementären analytischen Haltung formulieren: »Der Analysant ist eingeladen, frei zu assoziieren, gerade weil seine Assoziationen genaugenommen nicht frei sind, indem sein Sprechen auf ein Ziel zutreibt und das Begehren durch das metaphorisch-metonymische Spiel des Signifikanten hindurchträgt« (Ritter 1993, 139). In der von Lacan beeinflussten Sprache Ritters geht es beim »freien« Assoziieren also um die Freilegung unseres »Begehrens«, das Assoziieren bringt die »Logik« des Primärprozesses zumindest tendenziell an die Oberfläche der Rede. – Und zur Position der »gleich schwebenden Aufmerksamkeit«: »Diese Haltung einzunehmen, heisst auch unseren eigenen Mangel anzuerkennen, dass wir nicht die Liebe, das Verständnis und die Einfühlung haben … Wir nehmen die Wünsche und Ansprüche unserer Analysanten entgegen als etwas, das eben das Mal des Scheiterns in sich trägt. Und wir geben diesem Scheitern eine bestimmte Lektüre: Es heisst für uns, dass die Wünsche und Ansprüche in sich
Technik oder Ethik? Freuds Schriften zur Behandlungspraxis
ein Fragezeichen tragen« (Kläui 2008, 42). Diese Charakterisierung Kläuis weist darauf hin, dass auch auf der Seite des Analytikers eine prinzipielle Grenze erreicht wird: eine Grenze des Verstehens, die aber auch eine Chance darstellt, indem sie zu einer »Öffnung« des bislang vorherrschenden Selbstbildes beitragen kann. – Und zur »Abstinenz« als die die »gleichschwebende Aufmerksamkeit« stützende und ergänzende Haltung: »Diese Abstinenz ist also alles andere als eine Attitüde, …. sondern sie ist eine Funktion: Abstinent ist unsere Haltung dann – nur dann und immer dann – wenn sie darauf ausgerichtet ist, das, was unsere Patienten uns mitteilen, zu öffnen in Richtung auf die darin verborgene Frage« (ebd., 43). Einen anderen Fokus legt René Roussillon mit seiner Beschreibung des Zentrums und eigentlichen Ziels der analytischen Erfahrung: »Was mir die psychoanalytische Arbeit zu charakterisieren und zugleich ihr wesentliches Ziel zu sein scheint, ist die Symbolisierungsarbeit, eine Arbeit der Umbildung, eine umbildende innere Übersetzungsarbeit… Symbolisieren, das heißt nicht, einfach etwas einen Sinn anzuheften, es handelt sich bei der Symbolisierung vielmehr um eine Umbildung« (Roussillon 1988, 36). Kommen wir abschließend auf die schon mehrfach angesprochene innere Bezogenheit von »Theorie« und »Technik« im Werk Freuds zurück. Freuds Definitionsversuch der Psychoanalyse aus dem Jahre 1923 ist diesbezüglich interessant: »Psychoanalyse ist der Name 1. eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind; 2. einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet; 3. einer Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen« (Freud 1923a, 211). Freuds Reihung legt nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine diskurslogische Priorität der »Technik« nahe. Dazu passt auch seine Äußerung in der Neuen Folge der Vorlesungen: »Sie wissen, die Psychoanalyse ist als Therapie entstanden … die gehäuften Eindrücke, aus denen wir unsere Theorie entwickeln, können auf andere Weise nicht gewonnen werden« (Freud 1933a, 163). Damit scheint uns die These von Vassalli, wonach bei Freud die »Technik« der Theorie vorausgeht, überzeugend und berechtigt. Wenn wir die Weiterentwicklung der freudschen Psychoanalyse bis heute unter diesem Gesichtspunkt divergierender technischer und theoretischer Haltungen betrachten, so können wir mit Joyce McDougall sagen: »Je nach ihren persönlichen theoretischen Optionen begründen Psychoanalytiker psychische Veränderungen und symptomatische Heilungen unterschiedlich: Sei es, daß Unbewußtes bewußt geworden ist; daß das Ich stärker geworden ist; daß die depressive Position verarbeitet wurde; daß die grundlegenden Signifikanten des Wunsches deutlich geworden sind; daß BetaElemente in Alpha-Elemente umgewandelt wurden; daß ein bisher fehlender Übergangsraum entstanden ist… Der ›Bericht einer Analyse‹ wird wohl immer in einem gewissen Maße die Schilderung einer Geschichte sein, an deren Rekonstruktion zwei Menschen gearbeitet haben« (McDougall 1998, 24).
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Die Fallgeschichten, die wie Novellen zu lesen sind ...dass es Krankheiten gibt, welche sprechen und uns die Wahrheit dessen, was sie sagen, zu hören geben. (Jacques Lacan)
Einleitung Die Entwicklung der freudschen Psychoanalyse geht, wie wir im letzten Kapitel über die »Technik« gesehen haben, Hand in Hand mit deren klinisch-praktischen Erfahrungen. Und Freud geht ab 1901 mit dem »Fall Dora« daran, sich an das Schreiben seiner »Fallgeschichten« zu machen. Er zeigte sich schon bei seinen ersten Versuchen in diese Richtung, den kurzen Fallgeschichten, welche er für die Studien zur Hysterie verfasste, »eigentümlich berührt«, dass sich seine Fallgeschichten teilweise wie Novellen lesen bzw. wie er selbst es sagte, »wie Novellen zu lesen sind«. Er zeigte sich irritiert, dass seine Darstellungen »sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren« (Freud 1895a, 227). Und er hat sie in die Nähe der Literatur gerückt: Sie könnten mit einer solchen verwechselt werden. Oder müssten sie nicht gerade für ein klinisches Verständnis als Literatur gelesen werden? In Die Falldarstellung als Mutmaßung geht Susann Heenen-Wolff der Frage nach, welche Herausforderungen das Schreiben psychoanalytischer Fallvignetten stellt. »Zunächst schreiben wir vielleicht einfach nur, um nicht zu vergessen, dann aber vor allem, um zu dokumentieren und um Besonderes festzuhalten. Wir notieren ungewöhnliche Träume, überraschendes Übertragungsgeschehen, markante Gegenübertragungsmomente. Wir schreiben, um zu verarbeiten, zu theoretisieren, mitunter einfach, um zu ertragen, was der Patient uns zumutet…. Beim Schreiben kommt dann unweigerlich die Konfrontation mit der Ungewissheit, was denn die Essenz der psychoanalytischen Annäherung ist« (Heenen-Wolff 2016, 98). Freud stellt im Rückblick auf seine Analyseberichte 1937 fest, dass die Arbeit an einem »Fall« unweigerlich »Konstruktion« beinhaltet (vgl. Freud 1937a, 47). Das bedeutet, dass in die Darstellung (eigentlich schon in den Prozess der Analyse selbst) immer auch die theoretischen Überzeugungen des Analytikers mit einfließen. Mit unserer Darstellung von Freuds fünf »großen« Fallgeschichten werden wir den Versuch machen, aus der Position der Nachträglichkeit diese Differenzierung zumindest ansatzweise deutlich
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Sigmund Freud lesen
zu machen: Was hat Freud »gehört«, wenn er dem Sprechen seiner Analysanten folgte? Mit welchen »Konstruktionen« ist er diesem Ausgesagten und Gezeigten begegnet? Und welche andere Möglichkeiten des nachträglichen Hörens und Verstehens gibt es mittels des gewachsenen psychoanalytischen Instrumentariums heute? Zum einen bieten uns diese Fallgeschichten einen intimen Einblick in Freuds Arbeitsstil, in seine »Technik«, in seinen Umgang mit Übertragung, seine spezielle Art des Deutens. Er hat sich nicht gescheut, Brüche, Inkonsistenzen und ungeklärte Fragen offenzulegen. Von daher ist es möglich, Freuds »Regelwerk« der analytischen »Technik«, wie wir es im vorhergehenden Kapitel vorgestellt haben, mit seiner »Praxis« zu vergleichen und zu konfrontieren. Gibt es tatsächlich die »breite Kluft«, die einige Analytiker wie Johannes Cremerius (1984) oder Paul Roazen (1995) zu beobachten meinten? – Zum anderen enthalten Freuds Falldarstellungen auch detaillierte Überlegungen zur Diagnose und damit zum theoretischen Verständnis der wichtigsten klinischen Erscheinungsbilder (Hysterie, Phobie, Zwangsneurose, Paranoia) und ihrer jeweils speziellen Psychodynamik: Wie lassen sich die zum Teil schrillen Symptomatiken auf ihre unbewussten Ursprünge zurückführen? Welche Abwehrformen sind dabei im Spiel? Und welche »Konstruktionen« sind bei dieser »Arbeit« hilfreich und zielführend? Beschließen wir diese kurze Einleitung mit einer Einschätzung von Jaques Lacan zur möglichen Bedeutung von Freuds Falldarstellungen: »Man kann sagen, gewiß, daß sie alle unvollständig sind, daß sie überwiegend unterwegs abgebrochene Psychoanalysen sind, Bruchstücke von Analyse. Aber gerade dies sollte uns anregen, nachzudenken und uns zu fragen, warum diese Wahl von Freud getroffen wurde. Das, selbstverständlich, wenn man Freud vertraut« (Lacan 1953, 53).
Dora: ein exemplarisches Scheitern? Jedenfalls eine verstörende Fallgeschichte Freuds »Bruchstück einer Hysterie-Analyse« Freud beginnt diesen Text mit dem Eingeständnis, dass er von einem »Bruchstück« berichten wird. Seine Rechtfertigung ist, dass die Behandlung nur drei Monate gedauert habe und – dies ein Vorteil – die Darstellung sich um die »Aufklärung« zweier Träume zentriere, »deren Wortlaut unmittelbar nach der Sitzung festgelegt wurde«, während er die Krankengeschichte erst nach Abschluss der Kur verfasst habe (Freud 1905d, 166).1 Die Arbeit sollte ursprünglich den Titel Traum und Hysterie tragen, weil er sie als Gelegenheit sah, damit die so wesentliche Bedeutung der Traumdeutung für die Kur zu illustrieren. Dann kommt Freud auf die Änderung seiner Technik seit den Studien zu sprechen: »Damals ging die Arbeit von den Symptomen aus und setzte sich die Auflösung dersel-
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Die Analyse endete am 31.12.1900; Freud stellte seine Verschriftung am 24.1.1901 fertig. Am 25.1.1901 schrieb er an Wilhelm Fließ: »Es ist ein Bruchstück einer Hysterie-Analyse, in der sich die Aufklärungen um zwei Träume gruppieren, also eigentlich eine Fortsetzung des Traumbuchs… Es ist immerhin das Subtilste, was ich bis jetzt geschrieben« (Freud 1986, 476).
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zu machen: Was hat Freud »gehört«, wenn er dem Sprechen seiner Analysanten folgte? Mit welchen »Konstruktionen« ist er diesem Ausgesagten und Gezeigten begegnet? Und welche andere Möglichkeiten des nachträglichen Hörens und Verstehens gibt es mittels des gewachsenen psychoanalytischen Instrumentariums heute? Zum einen bieten uns diese Fallgeschichten einen intimen Einblick in Freuds Arbeitsstil, in seine »Technik«, in seinen Umgang mit Übertragung, seine spezielle Art des Deutens. Er hat sich nicht gescheut, Brüche, Inkonsistenzen und ungeklärte Fragen offenzulegen. Von daher ist es möglich, Freuds »Regelwerk« der analytischen »Technik«, wie wir es im vorhergehenden Kapitel vorgestellt haben, mit seiner »Praxis« zu vergleichen und zu konfrontieren. Gibt es tatsächlich die »breite Kluft«, die einige Analytiker wie Johannes Cremerius (1984) oder Paul Roazen (1995) zu beobachten meinten? – Zum anderen enthalten Freuds Falldarstellungen auch detaillierte Überlegungen zur Diagnose und damit zum theoretischen Verständnis der wichtigsten klinischen Erscheinungsbilder (Hysterie, Phobie, Zwangsneurose, Paranoia) und ihrer jeweils speziellen Psychodynamik: Wie lassen sich die zum Teil schrillen Symptomatiken auf ihre unbewussten Ursprünge zurückführen? Welche Abwehrformen sind dabei im Spiel? Und welche »Konstruktionen« sind bei dieser »Arbeit« hilfreich und zielführend? Beschließen wir diese kurze Einleitung mit einer Einschätzung von Jaques Lacan zur möglichen Bedeutung von Freuds Falldarstellungen: »Man kann sagen, gewiß, daß sie alle unvollständig sind, daß sie überwiegend unterwegs abgebrochene Psychoanalysen sind, Bruchstücke von Analyse. Aber gerade dies sollte uns anregen, nachzudenken und uns zu fragen, warum diese Wahl von Freud getroffen wurde. Das, selbstverständlich, wenn man Freud vertraut« (Lacan 1953, 53).
Dora: ein exemplarisches Scheitern? Jedenfalls eine verstörende Fallgeschichte Freuds »Bruchstück einer Hysterie-Analyse« Freud beginnt diesen Text mit dem Eingeständnis, dass er von einem »Bruchstück« berichten wird. Seine Rechtfertigung ist, dass die Behandlung nur drei Monate gedauert habe und – dies ein Vorteil – die Darstellung sich um die »Aufklärung« zweier Träume zentriere, »deren Wortlaut unmittelbar nach der Sitzung festgelegt wurde«, während er die Krankengeschichte erst nach Abschluss der Kur verfasst habe (Freud 1905d, 166).1 Die Arbeit sollte ursprünglich den Titel Traum und Hysterie tragen, weil er sie als Gelegenheit sah, damit die so wesentliche Bedeutung der Traumdeutung für die Kur zu illustrieren. Dann kommt Freud auf die Änderung seiner Technik seit den Studien zu sprechen: »Damals ging die Arbeit von den Symptomen aus und setzte sich die Auflösung dersel-
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Die Analyse endete am 31.12.1900; Freud stellte seine Verschriftung am 24.1.1901 fertig. Am 25.1.1901 schrieb er an Wilhelm Fließ: »Es ist ein Bruchstück einer Hysterie-Analyse, in der sich die Aufklärungen um zwei Träume gruppieren, also eigentlich eine Fortsetzung des Traumbuchs… Es ist immerhin das Subtilste, was ich bis jetzt geschrieben« (Freud 1986, 476).
Die Fallgeschichten, die wie Novellen zu lesen sind
ben der Reihe nach zum Ziel. Ich habe diese Technik seither aufgegeben, weil ich sie der feineren Struktur der Neurose völlig unangemessen fand. Ich lasse nun den Kranken selbst das Thema der täglichen Arbeit bestimmen und gehe also von der jeweiligen Oberfläche aus… Dann erhalte ich aber, was zu einer Symptomauflösung zusammengehört, zerstückelt… Trotz dieses scheinbaren Nachteils ist die neue Technik der alten weit überlegen« (ebd., 169). Und noch eine Rechtfertigung für das »Bruchstückhafte«: »Ich habe nämlich die Deutungsarbeit … im allgemeinen nicht dargestellt, sondern bloß die Ergebnisse derselben. Die Technik der analytischen Arbeit ist also, abgesehen von den Träumen, nur an einigen wenigen Stellen enthüllt worden« (ebd., 170). – Und schließlich noch eine ganz wichtige Erklärung, die einem Geständnis gleichkommt: »Gerade das schwierigste Stück der technischen Arbeit ist bei der Kranken nicht in Frage gekommen, da das Moment der ›Übertragung‹, von dem zu Ende der Krankengeschichte die Rede ist, während der kurzen Behandlung nicht zur Sprache kam« (ebd.). Am Ende dieses Vorwort steht in der Fußnote (als eine Ergänzung von 1923): »Die hier mitgeteilte Behandlung wurde am 31. Dezember 1899 unterbrochen, der Bericht über sie in den nächstfolgenden zwei Wochen niedergeschrieben, aber erst 1905 publiziert.« – Freud lässt also diese Arbeit nicht nur gut vier Jahre liegen, bevor er sie zur Veröffentlichung freigibt, er verlegt den Zeitpunkt der Behandlung auch um ein Jahr.2 Warum? Diese Fragen werden uns noch beschäftigen. Nun stellt uns Freud den »Familienkreis« um die damals 18-jährige »Patientin« vor. Er beginnt mit dem Vater. Er sei die dominierende Person, ein erfolgreicher Großindustrieller, der an verschiedenen Erkrankungen litt. Seine Tuberkulose hatte zur Folge, dass er mit seiner Familie für 12 Jahre in einen Kurort übersiedelte. Als die Tochter 10 Jahre alt war, bekam der Vater eine Netzhautablösung. Die »ernsteste« Erkrankung kam 2 Jahre später. Es ging um »Anfälle von Verworrenheit«, Lähmungserscheinungen und auch psychische Störungen. Damals kam der Vater zu Freud, der »eine energische antiluetische Kur« vornahm und damit erfolgreich war. – Diesen Behandlungserfolg sieht Freud als Grund dafür, dass der Vater mit seiner »deutlich neurotisch gewordenen Tochter« 4 Jahre später wiederum ihn aufsuchte. – Dann erwähnt Freud eine ältere Schwester des Vaters, die an einer schweren Psychoneurose litt und an einem Marasmus verstarb. Ein älterer Bruder war »ein hypochondrischer Junggeselle«. Beide hat Freud persönlich gekannt. Die Mutter – so Freud – sei ihm von Vater und Tochter als »wenig gebildete, vor allem aber unkluge Frau« vorgestellt worden, die seit den Erkrankungen ihres Mannes »und der ihr folgenden Entfremdung« sich ganz auf die Hauswirtschaft konzentriere. Sie biete das »Bild« einer »Hausfrauenpsychose«, die sich ganz um die »Reinlichkeit« drehe, was Freud veranlasst, bei ihr eine Zwangsneurose zu vermuten (ebd., 178). – Die Tochter sei ganz auf den Vater hin orientiert, hätte sich dem Einfluss der Mutter »völlig entzogen«. In der hier eingefügten Fußnote erwähnt Freud, dass der Vater vor seiner
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Steven Marcus hat darauf aufmerksam gemacht, dass Freud auch in seiner 1914 veröffentlichten Geschichte der psychoanalytischen Bewegung an dieser falschen Datierung festhält. Seine lapidare Deutung: »[...] daß Freud eben mit Dora noch nicht fertig war« (Marcus 1974, 43). Was es mit diesem »nicht fertig« auf sich haben könnte, werden wir noch zu erhellen suchen.
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Ehe Syphilis überstanden habe, was ihn zu einer ersten Generalisierung kommen lässt: »Nun stammt ein auffällig großer Prozentsatz meiner psychoanalytisch behandelten Kranken von Vätern ab, die an Tabes oder an Paralyse gelitten haben« (ebd.). – Dann gibt es noch einen 1 1/2 Jahre älteren Bruder der Patientin, der ihr lange ein Vorbild war. Aber in den letzten Jahren hatte sie sich von ihm zu distanzieren begonnen. Er versuchte sich den »Familienwirren« zu entziehen und stand, wenn er Partei ergriff, auf Seite der Mutter. Jetzt bekommt die junge Frau ihren Namen – Dora. Ihre »Krankengeschichte« geht – so Freud – bis in ihr achtes Lebensjahr zurück. Damals litt sie erstmals an Atemnot, die der Hausarzt als »rein nervöse Störung« diagnostizierte und die wieder verging. Mit 12 Jahren traten migräneartige Kopfschmerzen und »Anfälle von nervösem Husten« auf. Die Kopfschmerzen verschwanden, der Husten blieb. Als Dora zu Freud kam, hatte dieser Husten eine interessante Dynamik entwickelt. Er dauerte etwa drei bis fünf Wochen, begleitet von fast völliger Stimmlosigkeit, dann verging er wieder. Alle Behandlungsangebote der verschiedenen Ärzte blieben erfolglos, was Doras Einstellung ihnen gegenüber entsprechend prägte: Sie spottete über die Ärzte und verweigerte sich ihnen. – Als Dora 16 war, kam sie wegen dieses Symptoms erstmals zu Freud. Dieser schlug eine »psychische Kur« vor, zu der es nicht kam, da sich der »Anfall« wieder legte. Auslöser für den zweiten Versuch, 2 Jahre später, war ein »Abschiedsbrief« Doras, den die Eltern auf oder in ihrem Schreibtisch fanden. Bei einem »Wortwechsel« zwischen Vater und Tochter kurz danach kam es zu einem »ersten Anfall von Bewußtlosigkeit«, der den Vater dazu brachte, Dora gegen ihr Sträuben erneut zu Freud zu bringen (ebd., 180). – An dieser Stelle verkündet Freud seine vorläufige Diagnose: »Petite hystérie mit den allergewöhnlichsten somatischen und psychischen Symptomen« (ebd.,181). Und jetzt wird uns noch ein Ehepaar (die »K’s«) vorgestellt, mit denen die Familie von Dora »intime Freundschaft« seit etlichen Jahren geschlossen hätte. »Man« lernte das Ehepaar im Kurort kennen, wo diese ebenfalls lebten. Frau K pflegte Doras Vater während seiner »großen Krankheit« und habe sich dadurch »einen unvergänglichen Anspruch auf seine Dankbarkeit erworben« (ebd., 183). Herr K wiederum sei »stets sehr liebenswürdig gegen seine Tochter Dora gewesen« und Dora habe oft die zwei kleinen Kinder der K’s betreut. Vor zwei Jahren kam es nun zu einer speziellen Episode: Dora war mit ihrem Vater zu einem See gereist, wo die K’s gerade ihren Urlaub verbrachten. Dora sollte noch länger bleiben, der Vater wieder zurückreisen. Plötzlich erklärte ihm seine Tochter »mit größter Entschiedenheit«, dass sie ebenfalls mit ihm abreise, was auch so geschah. Erst einige Zeit später gab sie (der Mutter gegenüber) eine Erklärung dazu ab: Herr K habe ihr auf einem gemeinsamen Spaziergang einen Liebesantrag gemacht. – Der Vater, der dies von seiner Frau erfuhr, konfrontierte Herrn K, der alles in Abrede stellte. Im Gegenteil: Herr K beschuldigte Dora, dass sie ein besonderes Interesse »für sexuelle Dinge« zeige und sich folglich diese ganze Szene »eingebildet« habe (ebd., 184). Der Vater glaubte ihm – und äußerte gegenüber Freud aber die Überzeugung, dass dieser »Vorfall« schuld sei an Doras »Verstimmung, Gereiztheit und Selbstmordideen«. Dora verlange von ihm den Abbruch der Beziehung zu Herrn und Frau K, was er nicht tun wolle. Frau K sei er »durch ehrliche Freundschaft« verbunden, sie sei »unglücklich mit ihrem Manne«, »daß hinter diesem Verhältnis nichts Unerlaubtes steckt. Wir sind zwei arme Menschen, die einander, so gut es geht, durch
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freundschaftliche Teilnahme trösten« (ebd.). Und dann kommt ein wichtiger Satz, wie wir noch sehen werden: »Daß ich nichts an meiner Frau habe, ist Ihnen bekannt.« – Und dann der »Auftrag« des Vaters an Freud: »Suchen Sie sie jetzt auf bessere Wege zu bringen« (ebd.). – Freuds Schlussfolgerung: »In dem Erlebnis mit Herrn K. – in der Liebeswerbung und der darauffolgenden Ehrenkränkung – wäre also für unsere Patientin Dora das psychische Trauma gegeben« (ebd.,185). Schalten wir an dieser Stelle einige Kommentare der jüngeren Rezeptionsgeschichte zu diesem »Familienkreis« ein: Peter Gay spricht in seiner Freud-Biografie von einem »Ballett von versteckter sinnlicher Hemmungslosigkeit« und einer »Choreographie des erotischen Lebens von Wien« (Gay 1987, 281), Steven Marcus von einer »viktorianischen Konstellation, der Freud in der Haltung des Wahrheitsfanatikers wie aus einem Stück Ibsens gegenübertrete« (Marcus 1974, 32). Peter André Alt stellt ebenfalls deutliche literarische Bezüge her: »Die Familienkonfiguration, die sich hier offenbarte, besaß die Anlage zu einem Kammerspiel der Neurosen und Lebenslügen, wie es Arthur Schnitzler in seinem Werk so meisterhaft in Szene setzen konnte« (Alt 2016, 417). Elisabeth Roudinesco und Michel Plon charakterisieren diese Familienkonstellation so: »Die Geschichte der Ida Bauer stellt ein bürgerliches Drama dar, wie man es gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts häufig in Boulevardkomödien findet: Ein scheinheiliger, schwacher Ehemann betrügt seine Gattin, eine nicht besonders intelligente Hausfrau, mit der Frau eines seiner Freunde… Der betrogene Ehemann, der erst eifersüchtig, dann gleichgültig reagiert, versucht zunächst die Gouvernante seiner Kinder zu verführen. Dann verliebt er sich in die Tochter seines Rivalen und macht ihr während eines Aufenthaltes an seinem Zweitwohnsitz am Gardasee den Hof. Entsetzt weist diese ihn zurück, ohrfeigt ihn und erzählt den Vorfall ihrer Mutter, die ihrerseits dem Vater davon berichten soll… Um sein Verhältnis nicht zu gefährden, stellt der schuldige Vater seine Tochter als Lügnerin hin und schickt sie in Behandlung zu einem Arzt, der ihm einige Jahre zuvor eine ausgezeichnete Behandlung gegen die Syphilis verordnet hatte. Mit dem Erscheinen Freuds verwandelt sich diese Familiengeschichte in eine echte Tragödie um Krankheit, Liebe und Sexualität. So gesehen gleicht sein Bericht über den Fall ›Dora‹ einem modernen Roman: Man schwankt zwischen Arthur Schnitzler, Marcel Proust und Henrik Ibsen« (Roudinesco&Plon 2004, 72). Jetzt kommt Freud zur Darstellung der Kur. Er beginnt mit einer Mitteilung Doras, die sich auf ein Erlebnis mit Herrn K bezog, das 4 Jahre zurücklag. Herr K überraschte Dora in einem Geschäftslokal in B: Er »preßte plötzlich das Mädchen an sich und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen« (ebd., 186). Freud nimmt nun an, dass dies bei ihr eine sexuelle Erregung hervorgerufen habe. Sie empfand aber Ekel und riss sich los. – Keiner von beiden erwähnte mehr diese Szene. Dora vermied es allerdings seitdem, mit Herrn K allein zu sein. Freud diagnostiziert hier eine »Affektverkehrung« – und eine »Verschiebung« der Empfindung von unten nach oben (anstatt der »Genitalsensation« den Ekel). Der Ekel verschwand wieder, aber eine andere »Empfindungshalluzination« trat an seine Stelle: »Sie sagte, sie spüre jetzt noch den Druck auf den Oberkörper von jener Umarmung« (ebd., 188). Zudem vermeide sie es, an Männern vorbeizugehen, die gerade im »zärtlichen Gespräch mit einer Dame« seien. »Es ist bemerkenswert, wie hier drei Symptome – der Ekel, die Drucksensation am Oberkörper und die Scheu vor Männern in zärtlichem Gespräch – aus einem Erlebnis hervorgehen« (ebd.).
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Dora war fest überzeugt, dass sie mit Herrn K nach der Szene am See »abgeschlossen« habe. Ihre ganze Energie richtete sich auf den Vater: »Für sie bestand kein Zweifel, daß es ein gewöhnliches Liebesverhältnis sei, das ihren Vater an die junge und schöne Frau knüpfe« (ebd., 190). Dora wandte sich mit ihrem Verdacht an die Mutter, die die beiden in Schutz nahm: Der Vater sei damals sehr unglücklich gewesen, habe im Wald Selbstmord verüben wollen – Frau K habe ihn damals gerettet. Dora glaubte diese Geschichte nicht. Sie erzählte Freud auch, dass ihr Vater Frau K große Geschenke mache – und um dies zu verdecken, habe er zur selben Zeit begonnen, auch der Mutter und ihr gegenüber entsprechend großzügig zu sein. Jedenfalls sah Dora es so, dass Frau K, bis dahin kränklich, seither gesund und »lebensfrisch« sei. – Als sich der Gesundheitszustand des Vaters besserte, seien sie nach Wien übersiedelt – und bald erfuhr sie, dass auch die K’s jetzt hier lebten. So warf sie dem Vater »Unaufrichtigkeit« vor. Und Freud glaubt ihr: »Ich konnte die Charakteristik des Vaters im allgemeinen nicht bestreiten« (ebd., 193). Freud konfrontiert Dora mit der Frage, warum sie die Beziehung zwischen ihrem Vater und Frau K so lange geduldet und sogar mit ihrer Bereitschaft zur Kinderbetreuung unterstützt habe. Jetzt erfährt er von der »letzten Gouvernante« im Hause der Familie. Sie war es, die Dora auf das Verhältnis des Vaters zu Frau K aufmerksam gemacht hatte. Dora aber blieb Frau K weiterhin »zärtlich zugetan« (ebd., 195). Dora schätzte die Gouvernante lange (sie las »alle Bücher über Geschlechtsleben« und erzählte Dora »freimütig« davon), aber plötzlich verfeindete sie sich mit ihr und bestand auf ihrer Entlassung. Anlass für diesen Einstellungswandel war die Einsicht, dass »dieses Fräulein in den Papa verliebt sei«; eigentlich erst die Erkenntnis, dass diese sie nur benützt hatte, um dem Vater näher zu kommen. – An dieser Stelle gibt Freud eine weitere Deutung: Die stillschweigende Duldung der Beziehung des Vaters zu Frau K könne keine andere Funktion gehabt haben, nämlich, »daß sie all die Jahre über in Herrn K. verliebt gewesen war« (ebd., 196). Als Freud Dora dies mitteilt, stößt er auf Ablehnung. Aber er insistierte auf dieser Deutung: »Späterhin, als die Fülle des auftauchenden Materials ein Ableugnen erschwerte, gab sie zu, sie könne Herrn K. geliebt haben, aber seit der Szene am See sei das vorüber« (ebd.). Freuds nächste Frage ist: Wenn es stimmt, dass Dora in Herrn K verliebt war, warum dann ihre energische Abweisung in der Szene am See? Er bemerkt, dass Doras Anfälle von Husten und Stimmlosigkeit in einer auffälligen Übereinstimmung mit den Abwesenheiten von Herrn K stünden: »Die Aphonie Doras ließ also folgende symbolische Deutung zu: Wenn der Geliebte ferne war, verzichtete sie auf das Sprechen; es hatte seinen Wert verloren, da sie mit ihm nicht sprechen konnte« (ebd., 199). Eine weitere Konstruktion Freuds geht nun in die Richtung, dass die Liebe zu Herrn K die Liebe zu ihrem Vater verdeckt. Ihre ultimative Forderung an den Vater, diese Beziehung aufzugeben, sei Ausdruck ihrer Eifersucht. Freud teilt dies Dora folgendermaßen mit: »Ich sei ganz überzeugt, sie werde sofort gesund sein, wenn ihr der Vater erkläre, er bringe ihrer Gesundheit Frau K. zum Opfer« (ebd., 202). – In einer 1923 angefügten Fußnote erläutert Freud die wichtige Bedeutung des »primären und sekundären Krankheitsgewinns«. »Das Motiv des Krankseins ist ja allemal die Absicht eines Gewinnes…. Das Krankwerden erspart zunächst eine psychische Leistung… (Flucht in
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die Krankheit), wenngleich sich in den meisten Fällen später die Unzweckmäßigkeit eines solchen Ausweges unzweideutig erweist« (ebd., Fn.1). Freuds nächste Frage betrifft Doras Verständnis der Beziehung ihres Vaters zu Frau K: Der Signifikant, der dabei die Richtung gibt, ist »der vermögende« versus »der unvermögende« Mann. Freud deutet Doras Ausdruck »unvermögend« mit »impotent« – und weist Dora darauf hin, dass es ihr wohl bekannt sei, dass »es mehr als eine Art der sexuellen Befriedigung gebe« (ebd., 207). Ihr nervöser Husten, der Kitzel im Hals als auch der stoßweise erfolgende Hustenanfall seien eine symbolische Andeutung für »eine Situation von sexueller Befriedigung per os zwischen den zwei Personen« (ebd.). Nach dieser Deutung, die »stillschweigend hingenommen« wurde, verschwand der Husten. Freuds nächste Frage betrifft die von ihm angenommene Verliebtheit Doras in ihren Vater: Warum hatte sich diese Verliebtheit lange Jahre hindurch nicht geäußert? Sie wurde, so seine Hypothese, durch die Verliebtheit in Herrn K »aufgefrischt« – und er fragt weiter, »zu welchem Zwecke es geschah. Offenbar als Reaktionssymptom, um etwas anderes zu unterdrücken, was also im Unbewußten noch mächtig war. Wie die Dinge lagen, mußte ich in erster Linie daran denken, daß die Liebe zu Herrn K. dies Unterdrückte sei« (ebd., 218). – Mit dieser Deutung stieß Freud allerdings auf »den entschiedensten Widerspruch« (ebd., 219). Aber Freud deutet dieses Nein als Ausdruck der »Entschiedenheit« der Verdrängung. Nun kommt Freud auf die »recht bedeutsame homosexuelle Strömung«, die intensive gefühlsmäßige Bindung Doras an Frau K zu sprechen. Er erfährt, dass die beiden über Jahre »in der größten Vertraulichkeit« gelebt hatten. Dora teilte oft mit Frau K das Schlafzimmer, sie war ihre »Vertraute und Beraterin … in allen Schwierigkeiten ihre ehelichen Lebens gewesen« (ebd., 222). So fragt sich Freud: »Wie Dora es zustande brachte, den Mann zu lieben, über den ihre geliebte Freundin so viel Schlechtes zu sagen wußte, ist ein interessantes psychologisches Problem« (ebd.). Er kommt hier nicht wirklich zu einer klaren Antwort – der vorzeitige Abbruch der Behandlung hätte ihn daran gehindert, wie er meint. Er beschreibt, wie innig die Beziehung der beiden Frauen war, wie Dora den »entzückend weißen Körper« von Frau K liebte. – Und Freud fragt sich: Die Anschuldigung von Herrn K, sie lese ja »solche Bücher«, könne er nur von seiner Frau erfahren haben. »Frau K. hatte sie also verraten und angeschwärzt… Es war wieder derselbe Fall wie mit der Gouvernante; auch Frau K. hatte sie nicht um ihrer eigenen Person willen geliebt, sondern wegen des Vaters…. Vielleicht, daß diese Kränkung ihr näher ging, pathogen wirksamer war als die andere, mit der sie jene verdecken wollte, daß der Vater sie geopfert« (ebd., 223). Damit kommt Freud zu einer richtungsweisenden Hypothese, für die er allerdings nicht mehr die Gelegenheit fand, sie in die Analyse entsprechend einzubringen: »Ich glaube also mit der Annahme nicht irre zu gehen, daß der überwertige Gedankenzug Doras, der sich mit dem Verhältnis des Vaters zu Frau K. beschäftigte, nicht nur bestimmt war zur Unterdrückung der einst bewußt gewesenen Liebe zu Herrn K., sondern auch die in tieferem Sinne unbewußte Liebe zu Frau K. zu verdecken hatte« (ebd.). Damit kommt Freud zum ersten Traum. Es ist ein Wiederholungstraum, den Dora in einer der letzten Nächte wieder geträumt hat: »In einem Hause brennt es, erzählt Dora, der Vater steht vor meinem Bett und weckt mich auf. Ich kleide mich schnell an. Die Mama will noch ihr Schmuckkästchen retten, der Papa sagt aber: Ich will nicht, daß
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ich und meine beiden Kinder wegen deines Schmuckkästchens verbrennen. Wir eilen herunter, und sowie ich draußen bin, wache ich auf« (ebd., 225). Dora erinnert, dass sie den Traum in L., dem Ort am See, in drei aufeinander folgenden Nächten nach dem Vorfall mit Herrn K gehabt habe. Zunächst der Tagesrest: Kürzlich gab es einen Streit zwischen den Eltern, weil die Mutter nachts die Speisekammer absperrt hatte. Das Zimmer des Bruders ist aber nur durch diesen Raum zugänglich. Der Papa sagt, das ginge nicht, »es könnte doch bei Nacht etwas passieren, daß man hinaus muß.« Freud greift dieses »Hinausmüssen« auf – und Dora hat eine Anknüpfung gefunden: »Als wir damals in L. ankamen, der Papa und ich, hat er die Angst vor einem Brand direkt geäußert« (ebd., 227). – Dann erinnert Dora, dass sie sich dort am Nachmittag auf das Sofa legte und einschlief, als Herr K plötzlich hereinkam. Es gab ein Wortgefecht, worauf Dora sich einen Schlüssel besorgte, um ihr Zimmer abzusperren. Am nächsten Nachmittag fehlte der Schlüssel. Sie war überzeugt, Herr K hatte ihn an sich genommen. Auch das »Sich schnell Ankleiden« gehört nach L.: »An den nächsten Morgen mußte ich fürchten, daß mich Herr K. bei der Toilette überrasche, und kleidete mich darum immer sehr schnell an« (ebd., 228). Dann fragt Freud nach dem Schmuckkästchen. Dora erzählt, dass ihre Mutter sich vom Vater einen bestimmten Schmuck gewünscht habe, »Tropfen von Perlen im Ohre zu tragen«. Er brachte ihr statt dessen ein Armband. Das machte die Mutter wütend und meinte, er »solle es nur einer anderen schenken«. Freud unterstellt: »Sie nähmen es gerne?« Darauf kommt ein »ich weiß nicht.« – Freud fragt sodann explizit nach dem Schmuckkästchen. Herr K hat Dora vor einiger Zeit ein solches geschenkt. Freud meint, da sei »ein Gegengeschenk« wohl am Platz und weist Dora darauf hin, dass »Schmuckkästchen« eine beliebte Bezeichnung für das weibliche Genitale sei. Darauf Dora: »ich wußte, daß Sie das sagen würden« (ebd., 231). Freud darauf: »Das heißt, Sie wußten es.« – So kommt Freud zu einer ersten Deutung des Sinns des Traums: »Sie sagten sich: Der Mann stellt mir nach, er will in mein Zimmer dringen, meinem ›Schmuckkästchen‹ droht Gefahr, und wenn da ein Malheur passiert, wird es die Schuld vom Papa sein. Darum haben Sie in den Traum eine Situation genommen, die das Gegenteil ausdrückt, eine Gefahr, aus welcher der Papa Sie rettet.« (ebd.) Die Funktion der Mutter deutet Freud so: »Das heißt dann, Sie waren bereit, dem Papa zu geben, was die Mama ihm verweigert.« Und zur Situation in L.: »In dieser Gedankenreihe wird Ihre Mama durch Frau K. zu ersetzen sein, die doch wohl damals anwesend war. Sie sind also bereit, Herrn K. das zu schenken, was ihm seine Frau verweigert… der Traum bestätigt wieder, daß Sie die alte Liebe zum Papa wachrufen, um sich gegen die Liebe zu K. zu schützen« (ebd., 232). Und noch eine weitere Deutung macht Freud: »Übrigens muß ich aus dem Wiederauftauchen des Traumes in den letzten Tagen schließen, daß Sie dieselbe Situation für wiedergekommen erachten, und daß Sie beschlossen haben, aus der Kur, zu der ja nur der Papa Sie bringt, wegzubleiben« (ebd.). Damit hatte Freud richtig geraten, wie sich später zeigte. Dora fällt dann noch ein, dass Sie beim Aufwachen aus dem Traum jedesmal Rauch gerochen habe. Freud verbindet den Rauch mit dem drohenden Feuer, aber auch mit der Tatsache, dass alle drei Männer (auch er) leidenschaftliche Raucher seien. Er vermutet eine erotische Übertragung: »[...]daß ihr eines Tages wahrscheinlich während
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einer Sitzung eingefallen, sich einen Kuß von mir zu wünschen. Dies war für sie der Anlaß, sich den Warnungstraum zu wiederholen und den Vorsatz zu fassen, aus der Kur zu gehen« (ebd., 236). In der Folgestunde geht es um das »Portemonnaietäschchen«, das Dora an diesem Tag umgehängt hat. Sie spielte damit, während sie sprach, indem sie mehrmals den Finger hineinsteckte und dann wieder herauszog. Freud deutete dies als »Symptomhandlung« in Richtung Masturbation (ebd., 239). – In der Folge geht es um Doras Anklage gegenüber dem Vater: Dieser habe sie wie die Mutter angesteckt – und Doras Selbstanklage, ihr Fluor albus, ihr Bettnässen nach dem sechsten Lebensjahr seien Folgen ihrer kindlichen Masturbation: »Ich bin die Tochter von Papa. Ich habe einen Katarrh wie er. Er hat mich krank gemacht, wie er die Mama krank gemacht hat. Von ihm habe ich die bösen Leidenschaften, die sich durch Krankheit strafen« (ebd., 245). – Freuds Schlussfolgerung: Weil aber alle Männer »wie Papa« seien, also leichtsinnig und unverlässlich, aber eben auch krank, sprich’ geschlechtskrank, ist jeder sexuelle Kontakt mit ihnen unheilvoll – und schon die Vorstellung davon mit Angst besetzt. Freud wiederholt abschließend seine grundsätzliche Lesart dieses Traums: »Der Wunsch, Herrn K. durch den Vater zu ersetzen, gibt für mich die Triebkraft zum Traume ab« (ebd., 249). Und weiter: »Es kämpfen in ihr die Versuchung, dem werbenden Manne nachzugeben, und das zusammengesetzte Sträuben dagegen« (ebd., 251). Und zur Mama, die im Traum noch ihr »Schmuckkästchen« retten will: »Das Element ›Schmuckkästchen‹ ist wie kein anderes ein Verdichtungs- und Verschiebungsergebnis und ein Kompromiß gegensätzlicher Strömungen« (ebd., 254). Zum zweiten Traum: »Dora erzählte: Ich gehe in einer Stadt, die ich nicht kenne, spazieren, sehe Straßen und Plätze, die mir fremd sind. Ich komme dann in ein Haus, wo ich wohne, gehe auf mein Zimmer und finde dort einen Brief der Mama liegen. Sie schreibt: Da ich ohne Wissen der Eltern vom Hause fort bin, wollte sie mir nicht schreiben, daß der Papa erkrankt ist. Jetzt ist er gestorben, und wenn Du willst?, kannst Du kommen. Ich gehe nun zum Bahnhofe und frage etwa 100mal: Wo ist der Bahnhof? Ich bekomme immer wieder die Antwort: Fünf Minuten. Ich sehe dann einen dichten Wald vor mir, in den ich hineingehe, und frage dort einen Mann, dem ich begegne. Er sagt mir: Noch 2 1/2 Stunden. Er bietet mir an, mich zu begleiten. Ich lehne ab und gehe allein. Ich sehe den Bahnhof vor mir und kann ihn nicht erreichen. Dabei ist das gewöhnliche Angstgefühl, wenn man im Traume nicht weiter kommt. Dann bin ich zu Hause, dazwischen muß ich gefahren sein, davon weiß ich aber nichts. – Trete in die Portierloge und frage ihn nach unserer Wohnung. Das Dienstmädchen öffnet mir und antwortet: Die Mama und die anderen sind schon auf dem Friedhofe« (ebd., 256f). Über das »Spazieren in der fremden Stadt« kommt Dora zu einem Aufenthalt in Dresden, wo sie schließlich ihren Vetter, der sie begleiten wollte, abwies und allein in die Galerie ging. Dort verweilte sie 2 Stunden vor der »Sixtina« und war von der »Madonna, der jungfräulichen Mutter« ganz gefangen. – Die Tatsache, dass im Traum Doras Vater stirbt, deutet Freud als Rachephantasie: »Sie ginge vom Haus weg in die Fremde, und dem Vater würde aus Kummer darüber, vor Sehnsucht nach ihr das Herz brechen. Dann wäre sie gerächt« (ebd., 260). Die Frage der Mutter im Traum »wenn Du willst?« kommt Freud wichtig vor. Er bittet Dora, ihm die Szene am See nochmals detailliert zu erzählen. Sie erinnert K’s
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Begründung: »Sie wissen, ich habe nichts an meiner Frau« (ebd., 261); eine Aussage, die, wie wir noch lesen werden, mehrfach determiniert ist. Zum Ende des Traums ergänzt Dora, »daß sie ruhig auf ihr Zimmer geht und in einem großen Buch liest, welches auf ihrem Schreibtische liegt« (ebd., 262f). Freuds Deutung: »Wenn der Vater tot war, dann konnte sie lesen oder lieben, wie sie wollte« (ebd.). – Zudem findet Freud noch mehrere Spuren, die ihn veranlassen, den Traum auch als »Deflorationsphantasie« zu deuten. Freud ist nach den zwei Stunden der Traumanalyse zufrieden mit dem Erreichten, Dora antwortet mit: »Was ist denn da viel herausgekommen? und bereitete mich so auf das Herannahen weiterer Enthüllungen vor« (ebd., 267). – Die nächste Sitzung eröffnete Dora, indem sie Freud erklärte, dass sie heute das letzte Mal hier sei. Freud fragt, wann sie diesen Entschluss gefasst habe. »Vor 14 Tagen, glaube ich« (ebd., 268). Freud daraufhin: »Das klingt ja wie von einem Dienstmädchen, einer Gouvernante, 14tägige Kündigung.« Darauf erfährt er Interessantes über die letzte Gouvernante, die bei den K’s Dienst tat. Diese erzählte Dora, dass sie von Herrn K umworben wurde mit den Worten »Sie wissen ja, ich habe nichts an meiner Frau.« Die junge Frau gab seinem Begehren nach, aber er kümmerte sich schon bald nicht mehr um sie. Sie hat dann diesen Vorfall ihren Eltern erzählt, die von ihr eine sofortige Kündigung forderten. Sie ließ aber noch einige Zeit vergehen, wollte offenkundig abwarten, ob sich bei Herrn K etwas ändere. Dann sei sie fortgegangen. – Freud: »Jetzt kenne ich das Motiv jenes Schlages, mit dem Sie die Werbung beantwortet haben. Es war nicht Kränkung über die an Sie gestellte Zumutung, sondern eifersüchtige Rache… Sie sagten sich: Er wagt es, mich zu behandeln wie eine Gouvernante, eine dienende Person?… Sie kündigen mir wie eine Gouvernante mit 14tägiger Kündigung« (ebd., 269). Freud unterstellt Dora, dass sie auf eine Scheidung der K’s gehofft habe, deshalb auch gewartet habe, bevor sie ihre Klage an die Mutter richtete. »Es muß also eine schwere Enttäuschung für Sie sein, als anstatt einer erneuten Werbung das Leugnen und die Schmähungen von seiten des Herrn K. der Erfolg Ihrer Anklage wurden« (ebd., 271). Das Ende dieser letzten Stunde gibt Freud so wieder: »Sie hatte zugehört, ohne wie sonst zu widersprechen. Sie schien ergriffen, nahm auf die liebenswürdigste Weise mit warmen Wünschen zum Jahreswechsel Abschied und – kam nicht wieder… Ich wußte, daß sie nicht wiederkommen würde. Es war ein unzweifelhafter Racheakt« (ebd., 272). In seinem Nachwort beschreibt Freud, ohne den Begriff zu verwenden, das Phänomen einer »Übertragungsneurose«.3 – Und damit ist er wohl bei dem Thema, das ihn nachträglich am stärksten beschäftigt hat: der Übertragung und deren rechtzeitiger Deutung. So bekennt er: »Es gelang mir nicht, der Übertragung rechtzeitig Herr zu werden« (ebd., 282). Seine Vermutung geht dahin, dass er anfangs Ersatz für Doras Vater war, dann vermutlich für Herrn K: »So wurde ich denn von der Übertragung überrascht und wegen des X, in dem ich sie an Herrn K. erinnerte, rächte sie sich an
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Das Konzept der Übertragungsneurose findet sich erst in seinem Aufsatz Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten von 1914.
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mir, wie sie sich an Herrn K. rächen wollte… Sie agierte so ein wesentliches Stück ihrer Erinnerungen und Phantasien, anstatt sie in der Kur zu reproduzieren« (ebd., 283).4 In einer Fußnote kommt Freud auf eine weitere, ihm nun ganz wesentlich erscheinende Unterlassung zu sprechen: »Je weiter ich mich zeitlich von der Beendigung der Analyse entferne, desto wahrscheinlicher wird mir, daß mein technischer Fehler in folgender Unterlassung bestand: Ich habe es versäumt, rechtzeitig zu erraten und der Kranken mitzuteilen, daß die homosexuelle (gynäkophile) Liebesregung für Frau K. die stärkste ihrer unbewußten Strömungen ihres Seelenlebens war« (ebd., 284, Fn.1). Und schließlich berichtet Freud von der letzten Begegnung mit Dora, 1 1/4 Jahre später: Dora kommt an einem 1. April mit einem Symptom und der Bitte, ihr zu helfen. Zunächst berichtet sie, dass 5 Monate nach Beendigung der Kur das eine Kind der K’s verstarb. Sie machte einen Kondolenzbesuch und konfrontierte die beiden mit der »Wahrheit«: Frau K rang sie das Geständnis, ab, dass sie ein Verhältnis mit ihrem Vater hat, Herrn K, dass die Szene am See so tatsächlich stattgefunden habe. Nach dieser »Versöhnung« brach sie den Kontakt mit den K’s ab. Im Oktober dieses Jahres wurde sie Zeuge eines Unfalls: Ein Mann, niemand anderer als Herr K, wurde von einem Wagen überfahren. Er sah sie auf der Straße, blieb wie verworren stehen und vergaß auf den Verkehr. Sie vergewisserte sich, dass er ohne gröberen Schaden davongekommen war und ging. – Freuds Hilfe suche sie wegen einer Gesichtsneuralgie auf, die sie seit genau 14 Tagen habe. Freud denkt sofort daran, dass exakt vor 14 Tagen die Nachricht von seiner Ernennung zum Professor in den Zeitungen stand. »Die angebliche Gesichtsneuralgie entsprach also einer Selbstbestrafung, der Reue wegen der Ohrfeige, die sie damals Herrn K. gegeben, und der daraus auf mich bezogenen Racheübertragung… ich versprach, ihr zu verzeihen, daß sie mich um die Befriedigung gebracht, sie weit gründlicher von ihrem Leiden zu befreien« (ebd., 286). – Freud beendet seine Darstellung mit der Auskunft, dass er Jahre später erfahren hat, dass Dora verheiratet sei – und zwar mit jenem Mann, auf den im zweiten Traum deutliche Anspielungen vorkamen.
Kommentare – eine kleine Auswahl Der Fall Dora ist die meist kommentierte Fallgeschichte der Psychoanalyse, wobei der Großteil der nachträglichen Deutungen in die 20 Jahre zwischen 1975 und 1995 fällt. »In den vergangenen Jahrzehnten erschien eine Flut von Dora-Publikationen, viele davon mit einer besserwisserischen Schlagseite, gleich ob von historischer, feministischer oder psychoanalytischer Seite. Die ›aufdeckungsjournalistischen‹ Beiträge von unbelegbarer biografischer Beliebigkeit sind verbreitet« (List 2008, 98). Wir werden also versuchen, uns auf die konstruktiven Kommentare zu beschränken. Freud selbst war der erste »Sekundärinterpret«. Einige Passagen aus seinem Vorwort, seinem Nachwort und mehrere Fußnoten sind später hinzugefügt, so etwa die Annahme über »die tief wurzelnde homosexuelle Liebe zu Frau K« (Freud 1905d, 267,
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Dies ist die erste Bemerkung Freuds zum »Agieren«. In Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten befasst er sich ausführlich mit diesem Phänomen und wies auf dessen enge Verbindung zum Widerstand hin: »Je größer der Widerstand ist, desto ausgiebiger wird das Erinnern durch das Agieren (Wiederholen) sein« (Freud 1914b, 130).
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Fn.1). Schon im Brief Freuds an Fließ vom 30.1.1901 hatte er geschrieben, dass bei Dora hetero- und homosexuelle Neigungen im Widerstreit lägen (vgl. Freud 1986, 478). Aber als wesentlichen Grund für sein Scheitern sieht er auch nachträglich sein Versäumnis, die Wirkungen der Übertragung beachtet und zum Gegenstand seiner Deutungen gemacht zu haben.5 Der früheste theoretische Kommentar stammt von Jacques Lacan aus dem Jahr 1951. In seiner Wortmeldung zur Übertragung schreibt er: »Ich werde meine Beweisführung deswegen auf den Fall Dora gründen, weil er in der noch neuen Erfahrung der Übertragung den ersten Fall repräsentiert, an dem Freud erkennt, dass der Analytiker daran seinen Anteil hat« (Lacan 1951, 255). Was aber ist Freuds Anteil? Lacan unterstellt, dass Freud mit Herrn K unbewusst identifiziert war. Dies lässt ihn an den »Sieg der Liebe« glauben (vgl. Freud 1905d, 271-273), sprich, er glaubt an die Lösung, dass Herr K sich von seiner Frau trennt und Dora heiratet. »Freud kommt auf Grund seiner Gegenübertragung allzu beständig auf die Liebe zurück, die Herr K … angeblich in Dora wachrief« (ebd., 262). Lacan ist so der erste, der die allgemeine These formuliert, wonach die Gegenübertragung der Übertragung vorausgehe. Er deutet die »Übertragung«, an der Freud beteiligt ist, so: »Kann man sie hier nicht als eine ganz auf die Gegenübertragung, definiert als die Summe der Vorurteile, der Leidenschaften, der Hemmnisse, ja der unzureichenden Information des Analytikers zu irgendeinem Zeitpunkt des dialektischen Prozesses, bezüglichen Größe betrachten« (ebd., 264)? Die zweite Frage, der Lacan nachgeht, betrifft Doras »fasziniertes Hingezogensein zu Frau K«. Was steckt hinter dieser vorgeblichen homosexuellen Leidenschaft? »Nicht nur ein Individuum, sondern ein Mysterium, das Mysterium ihrer eigenen Weiblichkeit« (ebd., 258). Dora hat also – so die Lesart Lacans – eine Frage, die in ihr umgeht, nämlich jene nach »der Frau«: Wie kommt es dazu, dass »die Frau« zum Objekt des Begehrens des Mannes wird? »[...]darin besteht ihr Mysterium, das ihre abgöttische Liebe zu Frau K motiviert« (ebd., 260). Im Seminar von 1956/57 geht Lacan ein weiteres Mal auf die Position Doras zu Herrn und Frau K ein: »[...]mittels Herrn K., insofern sie Herr K. ist, an dem imaginären Punkt, den die Persönlichkeit von Herrn K. darstellt, ist Dora an die Person von Frau K. gebunden … Frau K. ist die Frage Doras« (Lacan 1956/57, 163). Oder anders gewendet: Was hat Dora an der Aussage »Ich habe nichts an meiner Frau« so skandalisiert? »Dora sieht sich in die Rolle des schlichten einfachen Objekts gefallen und beginnt darauf, in die Rückforderung einzutreten« (ebd., 169). Es geht also bei Dora, so die These Lacans, zentral um die Frage: Was ist eine Frau? Dann kam Felix Deutschs berühmt-berüchtigter Aufsatz von 1957 A Footnote to Freud’s ›Fragment of an Analysis of Hysteria‹. Deutsch war es, an den sich Dora 20 Jahre später wegen einer weiteren psychosomatischen Krise wandte. Seine affektgeladenen Äußerungen gipfeln in einer Charakteristik ihrer Persönlichkeit: Sie sei eine der »widerwärtigsten Hysterikerinnen« gewesen, der er je begegnet sei. (Deutsch 1957, 167). Dazu Vera
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Freud verwendet hier eine Formulierung, die er dann auch in seinem technischen Aufsatz zur Übertragungsliebe fast wortident wieder gebraucht: »Die Übertragung, die das größte Hindernis für die Psychoanalyse zu werden bestimmt ist, wird zum mächtigsten Hilfsmittel derselben, wenn es gelingt, sie jedesmal zu erraten und dem Kranken zu übersetzen« (Freud 1905d, 281).
Die Fallgeschichten, die wie Novellen zu lesen sind
King: »Die Entfaltung der Figur einer phallischen Rächerin kann als eine der zentralen typischen Interpretationslinien in der Dora-Rezeption und als charakteristische Deutung der weiblichen Homosexualität bezeichnet werden« (King 1995, 49). Eine andere Perspektive eröffnet Erik Erikson 1962 in Die psychologische Realität und die historische Aktualität. Er kommt zum Schluss, dass Doras Neurose in einer Adoleszentenkrise gründete. Das Scheitern Freuds habe damit zu tun, dass er dies nicht erkannt habe. Seine »sexuellen« Deutungen hätte Dora als Adoleszente als inzestuöse Verführung erlebt und dies sei der Grund für ihren Analyseabbruch (vgl. Erikson 1962, 151f). Feministisch orientierte Interpretationen werfen Freud einen Mangel an Einfühlung vor sowie eine Vernachlässigung der frühen Mutter-Tochter-Beziehung sowie eine Blindheit in Bezug auf die prekäre Lage der Frauen in der sexistischen Kultur des Wiener fin de siécle. Die »weibliche Hysterie« sei als zeitbezogener Ausdruck von Ohnmacht, Unterwerfung, aber auch als Protest zu verstehen (so z.B. bei Poluda-Korte 1992), was Freud, da er dies nicht angemessen reflektierte, zu seiner problematischen Weiblichkeitstheorie geführt habe. Er unterstelle der Frau ein quasi natürliches heterosexuelles Begehren und reproduziere damit die Vorurteile einer patriarchalen sexistischen Kultur.6 Eine andere Linie der Kritik bezieht sich auf Freuds mangelndes Verständnis für die Mutterproblematik Doras. So schreibt etwa Harry Stroeken: »Die Person hinter Frau K. ist Doras Mutter: Sie ist die Quelle ihrer Sehnsucht, ihrer Enttäuschung und ihrer Angst, verlassen zu werden. Diesen Mangel versucht sie mit Hilfe der Gouvernante, Frau K. und der Madonna auszugleichen. Auch ihre Suiziddrohung ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit« (Stroeken 1992, 54). In dieselbe Linie verweist Vera King: »Dora ist gefangen in einer masochistischen Identifizierung mit einem entwerteten Mutter- und Weiblichkeitsbild und einer sadistischen Urszenenvorstellung« (King 1995, 143). Obwohl Frau K Dora im Stich ließ und an die Männer verraten habe, blieb Dora bei ihrer Idealisierung dieser Frau. Dies zeige deutlich »Doras Not und Bedrängnis in bezug auf ihre Weiblichkeit« (ebd., 146). Und nochmals Stroeken: »Genau genommen glich Dora stark ihrer Mutter. Sie war dauernd mit ihrem Körper befaßt… Erst im Mai 1939 konnte Dora über Frankreich nach New York gelangen. Dort starb sie 1945 an Dickdarmkrebs, derselben Todesursache wie die ihrer Mutter« (Stroeken 1992, 62). Eine ganz andere Perspektive nehmen die französischen Analytiker um Pierre Marty und Michel de M’Uzan ein. Sie betonen beim Fall Dora den »psychosomatischen Gesichtspunkt«. Freud hätte in seinem Aufsatz über die Aktualneurose (1895b) eine stark psychosomatische Orientierung vertreten, die er 1905 zugunsten einer vorwiegend »psychologischen« Perspektive aufgegeben habe: »Dora soll die Hysterie endlich aus dem Nebel ›hypnoider Zustände‹ und angeblicher Degenerationserscheinungen befreien« (Marty et.al. 1979, 889). Im Gegensatz zu Freud sehen diese Autoren den Fall als eine Mischung aus Hysterie und Psychosomatik. Einige von Doras Symptomen seien
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Michel Foucault war der erste, der Dora als Heldin all jener bezeichnete, für die die männliche Sexualität »fremd« und »entehrend« war: »Dora wurde nicht trotz, sondern wegen des Abbruchs ihrer Analyse geheilt, weil sie durch ihre Entscheidung jetzt zu der Einsamkeit stand, zu der ihr bisheriges Leben sie auf Umwegen geführt hatte« (Foucault 1954, zit.n. Appignanesi&Forrester 1992, 203).
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der Konversion zuzuordnen, andere wie ihre Hustenanfälle, die Stimmlosigkeit und die Migräne wären »somatische Störungen«. Freud scheiterte an dieser Analyse nicht wegen der dominanten negativen Übertragung, sondern weil es der Psychosomatose eigen ist, weniger zu erinnern und zu phantasieren, sondern zu agieren. In der Tat hat Freud auf dieses Agieren nachträglich aufmerksam gemacht – und auch auf ein »somatisches Entgegenkommen« (vgl. Freud 1905d, 213). Die zentrale These lautet demnach, »…daß es auch Symptomatiken ohne Konversionscharakter gibt, bei denen sich keine Beziehung mehr zwischen einer pathologischen funktionellen Organisation und einer Konfliktkonstellation herstellen läßt ... In diesen Fällen verweist das Symptom vielmehr auf eine Unfähigkeit zur Symbolisierung« (ebd., 905). Daraus folge die erhöhte Neigung zum Agieren. Und der Höhepunkt von Doras Agieren war ihr Abbruch der Behandlung. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft Freuds Deutungsstil. Dieser wird von etlichen Autoren als intrusiv und den analytischen Prozess zu sehr determinierend bewertet. So findet Steven Marcus, dass Freud das »Material«, das ihm Dora anvertraute, benutzte, um »seine« Realität, seine Konstruktionen und Theorien weiter zu bestätigen. Er findet etwa Freuds Aussage, dass man mit einem 18-jährigen Mädchen offen über sexuelle Dinge sprechen könne, überdeterminiert: »Wir beginnen zu spüren, daß es seine eigene Geschichte ist, die er hier schreibt, und nicht Doras Geschichte« (Marcus 1974,72). Und noch extremer: »Hier reitet ihn der Deutungsteufel und sprengt ihn hinter Dora her, die ihm davongaloppiert war… Hier haben wir alle Deutungskunst hinter uns gelassen und befinden uns unübersehbar vor einem wissenschaftlichen Wahn« (ebd., 73). Marcus spricht hier zweifellos, freilich in einer sehr zugespitzten Weise, ein generelles Problem an, nämlich: Wie ist es uns als Analytiker möglich, die »frei schwebende Aufmerksamkeit« zu halten und nicht von unseren theoretischen Überzeugungen gelenkt zu werden?! Eine weitere Perspektive der Kritik betrifft Freuds Verständnis der Übertragung. Manche Autorinnen (wie etwa King) gehen davon aus, dass Freud weder die Übertragung von Doras Gefühlen Herrn K gegenüber noch ihre Liebesübertragung auf ihn erkannt habe. Dazu sollten wir bedenken, dass es diese Analyse war, in der Freud zum ersten Mal die zentrale und systematische Bedeutung der Übertragung (freilich großteils nachträglich) entdeckt und erkannt hat. So weist J. B. Pontalis in Die Macht der Anziehung darauf hin, dass Freud »erst mit Dora (oder eher noch später, nachdem erst einmal die Kur unterbrochen war) dafür das rechte Maß gefunden, das heißt deren Maßlosigkeit erkannt hat: ein abgemildertes Echo auf Breuer, der vor Anna O. die Flucht ergriff« (Pontalis 2007, 57). Für King ist evident, dass »die Schlußszene die inhaltliche Kernszene der Behandlung – die Szene am See – aufgreift und wiederholt. Die Szene am See und die Abbruchszene verdichten … den Kern des Übertragungskonflikts« (King 1995, 99).
Ein Fazit Ans Ende dieser höchst lückenhaften Geschichte der Dora-Rezeption möchten wir die Sichtweise von Paul Verhaeghe stellen. Er erkennt an »Dora« die »Grundstruktur« der Hysterie: »Das wiederkehrende Schema bleibt unverändert: Jemand setzt eine Person in die Position des Meisters, um dessen oder deren Hilfe zu erbitten; in der Folge erweist
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sich das Scheitern des Meisters, zumal sich seine Hilfe auf ein Wissen stützt, das nicht funktioniert« (Verhaeghe 2013, 79). Und nochmals anders: »Wieder und wieder fordert das hysterische Subjekt das Wissen des phallischen Meisters heraus, indem es ihm demonstriert, dass die Wahrheit irgendwo anders liegt… Eben dieses Scheitern erklärt die strukturelle Verbindung zwischen der Hysterie und dem Theater. Was fehlt, muss demonstriert werden. Hysterie benötigt die Bühne, und jede hysterische Darstellung ist ein an den anderen gerichtetes Ausagieren« (ebd., 90). Wir haben gesehen: Es gibt in der langen Geschichte der Dora-Rezeption »viele Doras«: Freud, so lässt sich abschließend feststellen, hat seinen Kampf mit »seiner« Dora und seinem Ringen um ein analytische Verständnis auf seine entwaffnende Weise offengelegt – und damit nachfolgenden Analytiker-Generationen neue Lesarten ermöglicht.
Der »kleine Hans« – die erste erfolgreiche Kinderanalyse Das phobische Objekt ist mit Sicherheit nicht das, was die Angst wirklich verursacht, sondern Staffage. (Peter Widmer)
Freuds »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« Diese Fallgeschichte nimmt eine Sonderstellung ein, zum einen, weil der Patient erstmals ein Kind war, zum anderen, weil Freud hier nicht in der Position des Analytikers war, sondern die des Supervisors innehatte. Diese »Analyse« findet in der ersten Jahreshälfte 1908 statt, gleichzeitig mit der des »Rattenmanns«. Freud wird sie mit der Genehmigung des Vaters 1909 veröffentlichen, bezieht sich jedoch schon in zwei Aufsätzen der Jahre 1907 und 1908 auf den Kleinen Hans. Der Vater, Max Graf, kommt vermutlich über seine Frau, Olga Graf-Boenig, die eine Analyse bei Freud gemacht hatte, zur Psychoanalyse und ist in diesen Jahren ein fixer Teilnehmer der Mittwochsgesellschaft. Ab 1906 bringt er dort seine Beobachtungen über die sexuelle Entwicklung seines Sohnes ein. Die früheste Bezugnahme auf den Fall des Kleinen Hans findet sich in Freuds Aufsatz Zur sexuellen Aufklärung der Kinder.«Ich kenne da einen prächtigen Jungen von jetzt vier Jahren, dessen verständige Eltern darauf verzichten, ein Stück der Entwicklung des Kindes gewaltsam zu unterdrücken. Der kleine Hans … zeigt schon seit einiger Zeit das lebhafteste Interesse für jenes Stück seines Körpers, das er als ›Wiwimacher‹ zu bezeichnen pflegt« (Freud 1907a, 23). – Freud führt weiter aus, dass Kinder in diesem Alter eine große Sexualneugierde haben, die vor allem um zwei Fragen kreist, den Geschlechtsunterschied und die Herkunft der Kinder. Und sie entwickeln dazu interessante »kindliche Sexualtheorien« (ebd., 25). Die zweite Bezugnahme auf den Kleinen Hans findet sich in Freuds Aufsatz Über infantile Sexualtheorien. Üblich ist zu Freuds Zeit die Auskunft der Eltern, die Kinder bringe der Storch. Der Kleine Hans, der stellvertretend für andere Kinder den Glauben an dieses Storchenmärchen verweigert, macht sich dazu seine eigenen Gedanken. So
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sich das Scheitern des Meisters, zumal sich seine Hilfe auf ein Wissen stützt, das nicht funktioniert« (Verhaeghe 2013, 79). Und nochmals anders: »Wieder und wieder fordert das hysterische Subjekt das Wissen des phallischen Meisters heraus, indem es ihm demonstriert, dass die Wahrheit irgendwo anders liegt… Eben dieses Scheitern erklärt die strukturelle Verbindung zwischen der Hysterie und dem Theater. Was fehlt, muss demonstriert werden. Hysterie benötigt die Bühne, und jede hysterische Darstellung ist ein an den anderen gerichtetes Ausagieren« (ebd., 90). Wir haben gesehen: Es gibt in der langen Geschichte der Dora-Rezeption »viele Doras«: Freud, so lässt sich abschließend feststellen, hat seinen Kampf mit »seiner« Dora und seinem Ringen um ein analytische Verständnis auf seine entwaffnende Weise offengelegt – und damit nachfolgenden Analytiker-Generationen neue Lesarten ermöglicht.
Der »kleine Hans« – die erste erfolgreiche Kinderanalyse Das phobische Objekt ist mit Sicherheit nicht das, was die Angst wirklich verursacht, sondern Staffage. (Peter Widmer)
Freuds »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« Diese Fallgeschichte nimmt eine Sonderstellung ein, zum einen, weil der Patient erstmals ein Kind war, zum anderen, weil Freud hier nicht in der Position des Analytikers war, sondern die des Supervisors innehatte. Diese »Analyse« findet in der ersten Jahreshälfte 1908 statt, gleichzeitig mit der des »Rattenmanns«. Freud wird sie mit der Genehmigung des Vaters 1909 veröffentlichen, bezieht sich jedoch schon in zwei Aufsätzen der Jahre 1907 und 1908 auf den Kleinen Hans. Der Vater, Max Graf, kommt vermutlich über seine Frau, Olga Graf-Boenig, die eine Analyse bei Freud gemacht hatte, zur Psychoanalyse und ist in diesen Jahren ein fixer Teilnehmer der Mittwochsgesellschaft. Ab 1906 bringt er dort seine Beobachtungen über die sexuelle Entwicklung seines Sohnes ein. Die früheste Bezugnahme auf den Fall des Kleinen Hans findet sich in Freuds Aufsatz Zur sexuellen Aufklärung der Kinder.«Ich kenne da einen prächtigen Jungen von jetzt vier Jahren, dessen verständige Eltern darauf verzichten, ein Stück der Entwicklung des Kindes gewaltsam zu unterdrücken. Der kleine Hans … zeigt schon seit einiger Zeit das lebhafteste Interesse für jenes Stück seines Körpers, das er als ›Wiwimacher‹ zu bezeichnen pflegt« (Freud 1907a, 23). – Freud führt weiter aus, dass Kinder in diesem Alter eine große Sexualneugierde haben, die vor allem um zwei Fragen kreist, den Geschlechtsunterschied und die Herkunft der Kinder. Und sie entwickeln dazu interessante »kindliche Sexualtheorien« (ebd., 25). Die zweite Bezugnahme auf den Kleinen Hans findet sich in Freuds Aufsatz Über infantile Sexualtheorien. Üblich ist zu Freuds Zeit die Auskunft der Eltern, die Kinder bringe der Storch. Der Kleine Hans, der stellvertretend für andere Kinder den Glauben an dieses Storchenmärchen verweigert, macht sich dazu seine eigenen Gedanken. So
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betont Freud die kindliche Überzeugung, wonach alle Menschen, auch die Frauen, einen Penis hätten. Die Kastrationsdrohung tue einiges dazu, dass diese Überzeugung aufrechterhalten wird – gegen die Wahrnehmung der äußeren Realität. – Die Geburt stellen sich die Kinder als Stuhlentleerung vor – daher wird bei Hans das Kind, exemplarisch die kleine Schwester, zum »Lumpf«. – Der Koitus wird als sadistischer Akt phantasiert – und zeitlich früher als »der Mann uriniert in den Topf der Frau« – oder »daß man einander den Popo zeigt« (Freud 1908b, 184). Nun zur Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben: Die Eltern dieses damals fünfjährigen Jungen hatten beschlossen, ihr Kind »mit nicht mehr Zwang zu erziehen, als zur Erhaltung guter Sitte unbedingt erforderlich werden sollte« (Freud 1909a, 244). Der Vater hatte begonnen, über das Verhalten und vor allem über die Dialoge mit dem kleinen Hans umfangreiche Protokolle zu schreiben, die er Freud regelmäßig schickte und sich mit ihm darüber austauschte. Eine erste solche Mitteilung datiert aus der Zeit, als Hans nicht einmal drei Jahre alt ist. Er äußert damals ein lebhaftes und beständiges Interesse am »Wiwimacher« – von Pferden, verschiedenen Tieren und den Menschen. Er hält entgegen den Aussagen seines Vaters an seiner Überzeugung fest, dass alle Menschen, beide Geschlechter einen solchen »Wiwimacher« hätten. Ein halbes Jahr später beobachtet die Mutter Hans beim Berühren seines Gliedes und droht ihm: »Wenn du das machst, lass’ ich den Dr. A. kommen, der schneidet dir den Wiwimacher ab.« Hans scheint davon zunächst wenig beeindruckt und stellt sein Masturbieren nicht ein. Freud kommentiert dies so: »Er antwortet noch ohne Schuldbewußtsein, aber er erwirbt bei diesem Anlasse den ›Kastrationskomplex‹« (ebd., 246). – Eine andere Szene – noch vor der eigentlichen »Behandlung« – dreht sich wieder um den »Wiwimacher«: Hans will wissen, ob die Mutter auch so einen hat. Sie bestätigt das! Hans darauf: »Nein, ich hab‹ gedacht, weil du so groß bist, hast du einen Wiwimacher wie ein Pferd« (ebd., 247). Dies ist, jedenfalls nach den Aufzeichnungen des Vaters, die erste Anspielung auf ein Pferd, das noch eine wichtige Rolle in der Phobie von Hans spielen wird. Ein weiteres Thema, das Hans in den folgenden Jahren sehr beschäftigt, ist die Geburt seiner Schwester Hanna. Er ist damals dreieinhalb Jahre alt. Zum einen wird deutlich, dass Hans die Geschichte vom Storch anzweifelt. – Und wenige Tage nach deren Geburt erkrankt er an einer Angina und sagt im Fieber: »Aber ich will keine Schwester haben« (ebd., 248)! Für den Vater und Freud ist dies ein deutlicher Hinweis auf seine Eifersucht. Einige Monate später datiert der erste Traum des Buben, den der Vater aufzeichnet: »Heute, wie ich geschlafen habe, habe ich geglaubt, ich bin in Gmunden mit der Mariedl.« Mariedl ist die damals 13-jährige Tochter der Hausherrn des Hauses, in dem die Familie einen guten Teil ihrer Sommerurlaube verbringt. Der Vater repliziert das »mit« – darauf stellt der Sohn klar: »Nicht mit der Mariedl, ganz allein mit der Mariedl« (ebd., 249). Den Beginn der »Krankengeschichte« und der »Analyse« datieren Vater und Freud mit Jänner 1908. Da schreibt der Vater an Freud einen Brief, »diesmal leider Beiträge zu einer Krankengeschichte«. Er spricht von »einer nervösen Störung, die mich und meine Frau sehr beunruhigt«, und liefert in der weiteren Beschreibung dieser »Störung« gleich eine Deutung mit: »Sexuelle Übererregung durch Zärtlichkeit der Mutter hat wohl den Grund gelegt, aber den Erreger der Störung weiß ich nicht anzugeben. Die Furcht, daß
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ihn auf der Gasse ein Pferd beißen werde« (ebd., 258). – Freuds Reaktion ist interessant: Er will sich »weder die begreiflichen Sorgen noch die ersten Erklärungsversuche des Vater zu eigen machen, sondern … zunächst das mitgeteilte Material beschauen« (ebd., 259). Freud warnt davor allzu schnell »verstehen zu wollen«, man solle die Sache erst einmal »in Schwebe« halten. Zum mitgeschickten »Material«: »Hans (4 3/4 Jahre) kommt morgens weinend auf und sagt der Mama auf die Frage, warum er weine: ›Wie ich geschlafen hab‹, hab’ ich gedacht, du bist fort und ich hab’ keine Mami mehr zum Schmeicheln (=liebkosen)« (ebd.). – Und Freuds lapidarer Kommentar: »Also ein Angsttraum.« – Der Kommentar des Vaters zeigt dann, dass er bei seinem Sohn schon ein halbes Jahr vorher, beim Sommeraufenhalt in Gmunden, eine ähnlich gelagerte »elegische Stimmung« bemerkt hat. »Wenn er in in einer solchen elegischen Stimmung war, wurde er leider immer von der Mama ins Bett genommen« (ebd.). Weiters führt der Vater in diesem ersten Bericht an, dass Hans beim Spaziergang mit dem Kindermädchen weinte und verlangte sofort nach Hause zu gehen (er wolle »mit der Mami schmeicheln«). Am Folgetag will die Mutter mit ihm spazieren gehen. Er weint, will nicht mitkommen, geht dann doch. Er hat auf der Straße sichtlich Angst, gesteht der Mutter bei der Rückfahrt, dass er Angst hat, dass ihn ein Pferd beißen wird. Am Abend steigert sich die Angst zu »Das Pferd wird ins Zimmer kommen« (ebd., 260). Am selben Tag fragt ihn die Mutter, ob er die Hand zum »Wiwimacher« gebe. Er bejaht: Ja, jeden Abend im Bett. Am Folgetag wird er gewarnt, dies nicht mehr zu tun. Nach dem Erwachen befragt, gesteht er, es doch kurz getan zu haben. – An dieser Stelle folgt Freuds zweiter Kommentar: »[...] dies wäre also der Anfang der Angst wie der Phobie… die Störung setzt mit ängstlich-zärtlichen Gedanken und dann mit einem Angsttraum ein.… Diese gesteigerte Zärtlichkeit für die Mutter ist es, die in Angst umschlägt, die, wie wir sagen, der Verdrängung unterliegt. Wir wissen aber noch nicht, woher der Anstoß der Verdrängung stammt« (ebd., 260f). Freud fragt sich nun, warum die Phobie als Objekt gerade das Pferd gewählt hat. Er führt an, dass Hans sich schon länger für den großen »Wiwimacher« der Pferde interessiert hat. Aber das genügt ihm noch nicht. Dann äußert er sich zur Mutter. Er nimmt sie gegen den Vorwurf des Vaters (»übergroße Zärtlichkeit«) in Schutz, verweist auf ihre »energische Abweisung« seiner »Werbungen« (Hans wollte, dass sie seinen »Wiwimacher« angreift, worauf sie meinte, das sei eine »Schweinerei«) und meint, sie habe dadurch den »Eintritt der Verdrängung beschleunigt«. Freud vereinbart mit dem Vater, dem Jungen zu sagen, das mit den Pferden sei eine »Dummheit, weiter nichts«. Die »Wahrheit« sei, dass er die Mama so gerne habe und deshalb häufig zu ihr ins Bett wolle. Er habe gemerkt, dass es unrecht sei, sich so intensiv mit dem eigenen »Wiwimacher« zu beschäftigen. Zudem schlägt Freud dem Vater vor, den »Weg der sexuellen Aufklärung zu betreten« (ebd., 264). Damit intendiert Freud, dass der Vater dem Buben sagen solle, dass die Mama und alle weiblichen Wesen einen solchen »Wiwimacher« überhaupt nicht besitzen. Die nächsten Aufzeichnungen des Vaters kommen im März. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Zum einen stellt Freud fest, dass der Vater seine Empfehlung der »Aufklärung« nur halb ausgeführt habe. Er »erklärt« dem Sohn zwar die Bedeutung seiner Angst, nichts aber über den »Wiwimacher« der Frauen. Hans geht in der nächsten Zeit anscheinend ohne Angst spazieren. Seine Furcht vor den Pferden verwandelt
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sich in einen Zwang, sie anzuschauen. Dann kommt doch wieder die Angst. Hans erklärt sich selbst seine Angst so: »O nein, sie ist so stark, weil ich immer wieder die Hand zum Wiwimacher gebe jede Nacht« (ebd., 265). Freuds Kommentar: »Arzt und Patient, Vater und Sohn, treffen sich also darin, der Onaniegewöhnung die Hauptrolle in der Pathogenese des gegenwärtigen Zustandes zuzuschieben. Es fehlt aber auch nicht an Anzeichen für die Bedeutung anderer Momente« (ebd., 266). Was sind diese »anderen Momente«? So berichtet der Vater davon, dass es seit dem 3. März ein neues Kindermädchen gibt. Hans nennt sie nur »mein Pferd«, will auf ihr reiten und will, dass sie sich für ihn auszieht. – Dann gibt der Vater doch die Aufklärung, dass die kleine Schwester und Frauen generell keinen »Wiwimacher« haben. Hans nimmt diese Deutung nicht an. Er erklärt dem Vater wenige Tage später, dass er den »Wiwimacher« seiner Mutter gesehen habe. Der Vater macht dann Ende März mit dem Sohn einen Ausflug in den Tierpark Schönbrunn, was der Junge immer geliebt hat. Er zeigt jetzt Angst vor allen großen Tieren, was der Vater auf deren große »Wiwimacher« zurückführt. Hans erklärt dem Vater neuerlich, dass alle Menschen einen solchen besäßen – und dass seiner wachsen werde, wenn er größer werde. Außerdem sei dieser »angewachsen« (ebd., 269). Diese letzte Bemerkung sieht Freud als Hinweis, dass die mütterliche Kastrationsdrohung, ein gutes Jahr zuvor ausgesprochen, mittlerweile »angekommen« ist: »Es wäre durchaus das typische Verhalten, wenn die Drohung mit der Kastration jetzt nachträglich zur Wirkung käme« (ebd., 271). Freud greift hier also auf ein Konzept zurück, das sich bis in die Zeit des Entwurfs zurückverfolgen lässt.7 Dann berichtet der Vater von einem weiteren Traum das Jungen – von einer »großen« und einer »zerwutzelten« Giraffe. Die große Giraffe schreit, als Hans ihr die »zerwutzelte« wegnimmt. Dann hört deren Schreien auf und er setzt sich auf die »zerwutzelte Giraffe« drauf (ebd., 272). Der Vater kommt zur folgenden Auflösung: »Die große Giraffe bin ich, respektive der große Penis (der lange Hals), die zerwutzelte Giraffe meine Frau, respektive ihr Glied, was also der Erfolg der Aufklärung ist« (ebd., 274). Und Freud ist mit dieser Deutung offenbar einverstanden: »Ich weiß der scharfsinnigen Deutung des Vaters nur hinzuzufügen: ›Das Draufsetzen‹ ist wahrscheinlich Hansens Darstellung des Besitzergreifens. Das Ganze aber ist eine Trutzphantasie, die mit Befriedigung an den Sieg über den väterlichen Widerstand anknüpft. ›Schrei, soviel du willst, die Mammi nimmt mich doch ins Bett und die Mammi gehört mir‹« (ebd., 275). In der Folgezeit berichtet Hans von verschiedenen Phantasien, in denen es um das Überschreiten von Verboten geht. Und Freuds Kommentar: »Die richtige Fortsetzung der Giraffenphantasie. Er ahnt, daß es verboten ist, sich in den Besitz der Mutter zu setzen; er ist auf die Inzestschranke gestoßen« (ebd., 276). Am 30. März kommt es zur einzigen direkten Aussprache zwischen Sohn, Vater und Freud. Der Vater beginnt damit, dass trotz aller Aufklärungen die Angst vor den Pferden
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Mit den Worten von Pontalis und Laplanche, den Herausgebern des Vokabulars der Psychoanalyse: »Nicht das Erlebte allgemein wird nachträglich umgearbeitet, sondern selektiv das, was in dem Augenblick, in dem es erlebt worden ist, nicht vollständig in einen Bedeutungszusammenhang integriert werden konnte. Das Vorbild für solches Erleben ist das traumatisierende Ereignis« (Laplanche&Pontalis 1973, 314).
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noch nicht ganz verschwunden sei. Im Gespräch erfährt Freud, dass Hans sich besonders vor »dem Schwarzen vor dem Mund der Pferde« fürchte. Freud verbindet das mit dem Schnurrbart des Vaters und deutet, Hans fürchte sich vor dem Vater, eben weil er die Mutter so lieb habe. Er überbietet diese Deutung noch dadurch, dass er sagt, schon lange vor Hansens Geburt hätte er, Freud, gewusst »daß ein kleiner Hans kommen werde, der seine Mutter so lieb hätte, daß er sich darum vor dem Vater fürchten müßte, und hätte es seinem Vater erzählt« (ebd., 277). – Auf dem Heimweg fragt Hans den Vater, ob der »Professor mit dem lieben Gott« spräche, dass er alles vorher wissen kann. – Jedenfalls tritt nach diesem Gespräch eine wesentliche Besserung ein. Hans macht immer wieder aggressive Gesten seinem Vater gegenüber. Und der Vater versteht allmählich, dass in seinem Sohn seine Zuneigung zum Vater mit seiner Feindseligkeit ringt. So berichtet er Freud: »Weil Hans die Mutter gerne hat, will er mich offenbar weghaben, dann ist er an Vaters Stelle. Dieser unterdrückte feindliche Wunsch wird zur Angst um den Vater, und er kommt früh zu mir, um zu sehen, ob ich fort bin. Ich habe das leider in diesem Momente noch nicht verstanden« (ebd., 279). Freuds Kommentar: »Wir wissen, daß dieses Stück der Angst Hansens doppelt gefügt ist: Angst vor dem Vater und Angst um den Vater« (ebd., 280). Hansens Angst wandelt sich zu jener vor Pferden, die »umfallen«, insbesondere um Pferde, die »Stellwägen« vorgespannt sind. Das »Fallen« deutet Freud über die vielen Assoziationen des Jungen als Bild für die Geburt, die vollbeladenen Stellwägen als Bild für die schwangere Mutter. (»Auf der Gasse erklärt mir Hans: ›Stellwagen, Möbelwagen, Kohlenwagen seien Storchkistenwagen.‹ Das heißt also: gravide Frauen« (ebd., 316). Und dann bringt Hans eine Phantasie, in welcher er in der Badewanne liegt, der Schlosser kommt und ihm mit einem großen Bohrer in den Bauch stößt. Der Vater deutet diese so: »Ich bin im Bette mit der Mama. Da kommt der Papa und treibt mich weg. Mit seinem großen Penis verdrängt er mich von der Mama« (ebd., 300). Ein anderes wichtiges Thema in dieser Zeit ist Hansens Wunsch, die Schwester möge »verschwinden«. Und er beschäftigt sich intensiv mit der Idee, auch er könnte Kinder »machen«. Die Kinder bezeichnet er entsprechend der analen Sexualphantasie als »Lümpfe«. »Am 24. April wird Hans von mir und meiner Frau soweit aufgeklärt, daß Kinder in der Mami wachsen und dann, was große Schmerzen bereite, mittels Drückens wie ein ›Lumpf‹ in die Welt gesetzt werden« (ebd., 323). Am 2. Mai erzählt Hans seinen Eltern: »Es ist der Installateur gekommen und hat mir mit einer Zange den Podl weggenommen und hat mir dann einen andern gegeben und dann den Wiwimacher« (ebd., 333). Der Vater dazu: »Er hat dir einen größeren Wiwimacher und einen größeren Podl gegeben«, was der Junge bejaht. (ebd.) Freud versteht dies später als Zeugungsphantasie: »Mit deinem großen Penis hast du mich ›gebohrt‹ (zur Geburt gebracht) und mich in den Mutterleib hineingesetzt« (ebd., 360). Nach dieser Phantasie und ihrer Besprechung scheint Hans von seinen Ängsten endgültig befreit. Der Vater erkennt als einen »Rest« einen starken »Fragetrieb«. Dieser kreist vor allem um die Frage, »was der Vater mit dem Kinde zu tun hat, da doch die Mutter das Kind zur Welt bringt« (ebd., 335). Freuds diesbezügliches Resümee lautet: »Mit der letzten Phantasie Hansens war auch die vom Kastrationskomplex stammende Angst überwunden, die peinliche Erwartung ins Beglückende gewendet. Ja, der Arzt, Installateur usw. kommt, er nimmt den Penis ab, aber nur um einen größeren dafür zu
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geben. Im übrigen mag unser kleiner Forscher nur frühzeitig die Erfahrung machen, daß alles Wissen Stückwerk ist, und daß auf jeder Stufe ein ungelöster Rest bleibt« (ebd.). Im abschließenden Resümee kommt Freud auf einige Schlussfolgerungen zu sprechen, die er aus dieser Kinderanalyse glaubt verallgemeinern zu können. So das Konzept der phallischen Phase: »Ich habe später (1923) hervorgehoben, daß die Periode der Sexualentwicklung, in der sich auch unser kleiner Patient befindet, ganz allgemein dadurch ausgezeichnet ist, daß sie nur ein Genitale, das männliche, kennt; zum Unterschied von der späteren Periode der Reife besteht in ihr nicht ein Genitalprimat, sondern das Primat des Phallus« (ebd., 345, Fußnote 1). Zentral ist für Freud wohl die Bestätigung seiner Theorie des Ödipus, wie er sie in seinen Drei Abhandlungen schon behauptet hat: »Er ist wirklich ein kleiner Ödipus, der den Vater ›weg‹, beseitigt haben möchte, um mit der schönen Mutter allein zu sein, bei ihr zu schlafen« (ebd., 345). – Als größte Schwierigkeit erachtet Freud die dramatische Gefühlsambivalenz des Jungen in Bezug auf seinen Vater: »Die aus diesem Todeswunsche gegen den Vater entspringende, also normal zu motivierende Angst vor dem Vater bildete das größte Hindernis der Analyse« (ebd., 346). – Den Auslöser für den Eintritt in den ödipalen Konflikt erblickt Freud in der Geburt der kleinen Schwester: »Die größte Bedeutung für die psychosexuelle Entwicklung unseres Knaben hat die Geburt der kleinen Schwester gehabt« (ebd., 347). Und Freud zieht noch einen weiteren theoretischen Gewinn aus dieser »Analyse«: Er glaubt den Unterschied von Hysterie und Phobie erkannt zu haben: »Sie rechtfertigt sich durch die vollkommene Übereinstimmung im psychischen Mechanismus dieser Phobien mit der Hysterie bis auf einen, aber entscheidenden und zur Sonderung geeigneten Punkt. Die aus dem pathogenen Material durch die Verdrängung entbundene Libido wird nämlich nicht konvertiert… sondern wird als Angst frei« (ebd., 349). Und er führt diesen Gedanken weiter aus: »Es bleibt ihr (der »psychischen Arbeit«, unsere Einfügung) nichts anderes übrig, als jeden der möglichen Anlässe zur Angstentwicklung durch einen psychischen Vorbau von der Art einer Vorsicht, einer Hemmung, eines Verbots zu sperren, und diese Schutzbauten sind es, die uns als Phobien erscheinen und für unsere Wahrnehmung das Wesen der Krankheit ausmachen« (ebd., 350). – Also: Die Phobie ist nicht »die Krankheit«, sondern das »Symptom«, dem es gelungen ist, die frei flottierende Angst zu binden. – Und so kommt Freud zu seiner Conclusio: »Hinter der erst geäußerten Angst, das Pferd werde ihn beißen, ist die tiefer liegende Angst, die Pferde werden umfallen, aufgedeckt worden, und beide, das beißende wie das fallende Pferd, sind der Vater, der ihn strafen wird, weil er so böse Wünsche gegen ihn hegt« (ebd., 358).
Einige Kommentare Den Ausgangspunkt in Lacans ausführlichem Kommentar in seinem Seminar Die Objektbeziehung von 1956/57 bildet der kleine Junge als »Hans im Glück«: Nichts wird ihm verwehrt. Er landet am Morgen im Ehebett, die Mutter lässt dies trotz des Protests des Vaters zu. Auch die Kastrationsdrohung der Mutter wirkt erst nachträglich. Lacan versteht diese Phase als eine »präödipale«: Das Kind phantasiert sich als Liebesobjekt,
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das der Mutter die Lust bringt. Das Kind füllt so den Mangel der Mutter aus. »Es kann sich mit der Mutter identifizieren, es kann sich mit dem Phallus identifizieren, es kann sich mit der Mutter als Trägerin des Phallus identifizieren oder sich als Phallusträger präsentieren« (Lacan 1956/1957b, 266). Diese Position des »Glücks« wird nach Lacans Ansicht durch zwei Ereignisse beendet: »Es gibt etwas Neues unter den Objekten der Mutter, nämlich die Geburt der kleinen Schwester, mit all den Reaktionen, die sie bei Hans nach sich zieht, aber diese zeigen sich nicht sogleich, denn erst fünfzehn Monate danach bricht die Phobie aus. … Auf der einen Seite ist Hans ausgeschlossen, fällt er aus der Situation heraus, wird er durch die kleine Schwester hinausgeworfen. Auf der anderen interveniert der Phallus in einer anderen Form – ich spreche von der Masturbation« (ebd., 307). – So kommt es zu einem Ende dieser Beziehung und dem Eintritt in den »Ödipus«. Lacan betont hier zwei Momente; zunächst: »Es ändert sich, daß sein eigener Penis beginnt, zu etwas ganz und gar Realem zu werden. Sein Penis beginnt sich zu regen, und das Kind beginnt, sich zu masturbieren. Das wichtige Moment ist nicht so sehr, daß die Mutter in genau jenem Moment eingreift, sondern daß der Penis real geworden ist« (ebd., 267). – Das zweite Moment ist das Eingreifen des Vaters, gestützt durch Freuds Haltung: »Das Eingreifen des Vaters führt hier die symbolische Ordnung mit ihren Verboten ein, die Herrschaft des Gesetzes, daß nämlich die Angelegenheit aus den Händen des Kindes genommen und damit anderswo geregelt wird« (ebd., 269). Und wie versteht Lacan das phobische Objekt, das Pferd? »Das Pferd wird als zentraler Punkt der Phobie mit der Funktion eingeführt, ein neuer Ausdruck zu sein, dessen Eigenschaft genau die ist, ein obskurer Signifikant zu sein« (ebd., 361). Der Signifikant »Pferd« kann so abwechselnd für den Vater, die Mutter oder auch Hans selbst stehen. Wir verstehen dieses Reale so, dass der kleine Junge mit diesem Signifikanten »Pferd« einen progressiven Versuch startet, das Reale seiner neuen Erfahrungen zu übersetzen. So sagt der Vater dem Kind, dass die Frauen keinen Phallus haben. Wie reagiert das Kind? Es reagiert darauf mit der Phantasie von den zwei Giraffen! Lacan betont, dass der kleine Hans schließlich so agiert, dass er für die kleine Giraffe ein Stück Papier nimmt, es zerknüllt und sich darauf setzt! Und dies bewirkt, so Lacan, den Übergang zur symbolischen Verarbeitung: »[...]daß wir damit den Übergang vom Bild zum Symbol geschafft haben, diese kleine Giraffe, an der niemand auch nur etwas begreift, obgleich es so sichtbar ist. Hans sagt es uns, diese kleine Giraffe ist solchermaßen ein Symbol, daß sie nunmehr eine Zeichnung ist auf einem Blatt Papier, das man zerknüllen kann… Die kleine Giraffe ist ein Double der Mutter, reduziert auf den stets notwendigen Träger für die Beförderung des Signifikanten, nämlich etwas, das man halten kann, das man zerknüllen kann und worauf man sich setzen kann« (ebd., 314). Die Lösung, die »Heilung« kommt genau in dem Moment, wo die Kastration auf die eindeutigste Weise in Form einer von Hans artikulierten Geschichte ausgedrückt wird; als nämlich der Schlosser kommt, »sie« ihm abschraubt und ihm dafür »eine andere« gibt: »Man kann daraus schließen, daß die Auflösung der Phobie an die Konstellation dieser Triade gebunden ist – imaginäre Orgie, Eingreifen des realen Vaters, symbolische Kastration« (ebd., 272). – Hansens Phobie tritt auf, weil sein »realer« Penis in Erscheinung tritt – mit der gleichzeitig auftretenden panischen Angst, von der mit imaginärer Allmacht ausgestatteten Mutter verschlungen zu werden. Die Phobie wird
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überwunden durch das Eingreifen des »realen« Vaters, unterstützt durch den »symbolischen« Vater Freud. Dieses Eingreifen bewirkte letztlich die Trennung des Kindes von der Mutter und seine Entwicklung vom »Imaginären« zum »Symbolischen«. Das Ans-Licht-Bringen der Kastration bereitet der Phobie ein Ende! Alfred Lorenzer benützt in seinem Buch Sprachzerstörung und Rekonstruktion von 1973 die Krankengeschichte des Kleinen Hans, um seine an der Hermeneutik orientierte Sprachtheorie zu exemplifizieren. Er geht grundsätzlich davon aus, dass verdrängte Inhalte nicht nur aus der Kommunikation, also aus dem intersubjektiv gebrauchten Symbolgefüge ausgeschlossen bleiben, sondern sich hinterrücks als Ausdruck einer »pseudokommunikativen Privatsprache« wieder zurückmelden (Lorenzer 1973, 127). Die verdrängten Repräsentanzen und die dazugehörigen Triebanteile werden aus dem Bewusstsein ausgeschlossen und damit desymbolisiert. Aber sie bleiben als »Klischees« virulent. So liegt bei Hans der Entstehung des Klischees »Pferd« ein Mechanismus zugrunde, der psychoanalytisch als Verdichtung und Verschiebung bezeichnet wird. Die Bedeutungen von »Pferd«, »Vater«, »Fritzl« etc. sind im Erleben des Kindes identisch, sodass »die Gleichung gilt: Pferd=Rivale; Fritzl=Vater« (ebd., 129). An die Stelle der aus der sprachlichen Kommunikation ausgeschlossenen Objektrepräsentanzen des Vaterbildes tritt das Symbol bzw. das Symbolgefüge »Pferd«. »›Pferd‹ hat so einen Bedeutungsumfang, der von dem Sprachgebrauch der allgemeinen Verständigung abweicht. Das Wort Pferd ist privatisiert…. ›Vater‹ wie ›Pferd‹ haben einen falschen Namen« (ebd., 132). Die Aufgabe der Analyse ist demnach die »Rekonstruktion«, die sich in mehreren Schritten vollzieht. Nachdem der Analytiker erkennt, dass die Bedeutung »Pferd« nicht stimmt und der Patient die Angst vor dem Pferd auf ihn überträgt, kann er für sich erkennen: Die »Gleichung der szenischen Konstellation« lautet: Analytiker=Vater; Analytiker=Pferd; so ergibt sich die Vermutung: Pferd=Vater. – Die Analyse soll »die verlorengegangene Situation mit dem durch die Verdrängung verstümmelten ganzen Bedeutungsrahmen rekonstruieren. Die Vermutung Pferd=Vater wird dadurch eingelöst, daß die Deutung die Szene herausholt. Es wird sich dann ergeben: Szene mit dem Pferd = Szene mit dem Vater. Damit ist klar: Pferd=Vater… Es resultiert (bei idealtypischer Vollendung): Pferd=Vater; Vater=Vater; Analytiker=Analytiker. Die Sprachverschiebung ist zurechtgerückt. Die Privatsprache ist aufgelöst« (ebd., 135f). In ihrem ein Jahr später erschienenen Artikel kritisieren Wolfgang Loch und Gemma Jappe sowohl Freuds als auch Lorenzers Ansicht, wonach es beim Kleinen Hans um eine Verarbeitung des »Ödipus« gegangen sei. Sie argumentieren dem gegenüber, dass die Problematik der »Trennungs- und Individuationsphase« das Entscheidende, die »ödipalen Verwicklungen« dagegen nur »eine vergleichsweise geringen Rolle« gespielt hätten (Loch&Jappe 1974, 4): »Der ödipale Konflikt wäre also nicht gelöst, vielmehr erst die Voraussetzung, in ihn einzutreten, geschaffen: Die Bewältigung der depressiven Position im Sinne der Fähigkeit, Böses ohne totale Vernichtungsangst sich selbst zuzuschreiben, was nur über die Etablierung der Drei-Personen-Beziehung und die Identifikation mit dem guten, gegen die archaische Mutter sichernden Vater gelingt« (ebd., 21). Und nun zu Lorenzer: »[...]daß im Hinblick auf ›Aggression und Vater‹ von Sprachzerstörung und Rekonstruktion keine Rede sein kann. Hier ist es ja evidenterweise so,
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daß die Aggression erst sekundär dem Vater zugeschrieben wird… daß der Kleine Hans, noch im Stadium fast vollständiger Abhängigkeit des Egozentrismus (im Sinne von J. Piaget) lebend, neue Erfahrungen zuerst an unbewußte Schemata, an unbewußte (sekundäre) Symbole assimilieren wird, assimilieren muß« (ebd., 24). Zusammenfassend erklären die beiden Autoren: »Die Analyse der Krankengeschichte weist als zentrales Problem des Kleinen Hans den Umgang mit aggressiven Tendenzen auf, die offensichtlich reaktiv aus der Beziehung zur Mutter durch die ihm in Zusammenhang mit der Geburt der Schwester aufgebürdete emotionale Deprivation entstanden waren und die zunächst den Charakter ›freier Aggressionen‹ hatten« (ebd., 28). Indem Freud durch seine Intervention die Position des Vaters stärkte, machte er es damit für Hans möglich, dessen Aggression an seinem Vater abzuhandeln und sich damit aus den Verwicklungen mit seiner Mutter sukzessive zu lösen. – Die hier aufgezeigte Entwicklung, so die zwei Autoren, sei »paradigmatisch für jede Ichentwicklung«: »Die Gründung des ›aktiven Ichs‹ … hat die Partizipation an der Existenzweise des Vaters zur Voraussetzung, der die Beziehung zur Mutter gefahrlos vorlebt« (ebd., 29). Franz Maciejewski versucht sich in seinem Aufsatz Zu einer ›dichten Beschreibung‹ des Kleinen Hans. Über das vergessene Trauma der Beschneidung an einer ganz anders ausgerichteten These. Freud hatte ja die Pferdephobie des Kleinen Hans als Ausdruck seiner Kastrationsangst gedeutet, die dem Vater gilt, und zwar aufgrund der inzenstuösen Wünsche, die der Junge auf seine Mutter richtete. Maciejewski präsentiert eine völlig andere Lesart des Textes: Für ihn zeichnet sich in den Symptomen des Kleinen Hans, der ein jüdischer Knabe und folglich, so jedenfalls die Annahme des Autors, beschnitten war, eine Kastrationsangst als eine »reale« ab, die auf ein tatsächlich vorausgegangenes Trauma verweise. So sei insbesondere die Angst des Kindes vor dem »gefallenen Pferd«, das mit seinen Füßen »Krawall« macht, eine unbewusste Reaktualisierung der Erfahrung des Säuglings während seiner Beschneidung. Eine der Kernaussagen dieses Aufsatzes liest sich so: »Immerhin erkennen wir am Fall des Kleinen Hans, wie fragmentarisch auch immer, Teile des jüdischen Fundamentes, auf dem Freud seine Theorie des psychoanalytischen Kernkomplexes errichtet hat. Wir erkennen hinter dem Kastrationskomplex die reale Kastrationserfahrung, hinter dem Begehren nach der Mutter das Verlangen nach der Wiedervereinigung des beschnittenen Penis mit der VorhautVagina, hinter dem tödlichen Haß auf den Vater den Wunsch nach Entmannung des Beschneiders und Kastrators; wir erahnen im (stillschweigend zum Paradigma erhobenen?) Schicksal des beschnittenen Knaben auch den möglichen Grund, warum Freud nur die männliche Verlaufsform der psychosexuellen Entwicklung theoretisch bewältigt hat« (Maciejewski 2003, 541). Adrian deKlerk hat 2004 auf diese These Maciejewskis reagiert. Dabei geht es um zwei grundlegende Annahmen: Erstens, dass die Säuglingsbeschneidung potentiell traumatisch wirkt. Darauf fußt ja Maciejewskis Annahme, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Freuds Konzept der Kastrationsangst und dem von ihm nicht beachteten Trauma der Säuglingsbeschneidung. Zweitens setzt Maciejewski voraus, dass der Kleine Hans beschnitten wurde. – Nach deKlerks Recherche in der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien gibt es aber keinen Beleg dafür! Die Schlussfolgerung von deKlerk: Die Hypothese von Maciejewski stimme zwar für den Kleinen Hans nicht, aber generell für alle Kulturen, insbesondere die jüdische, die Säuglingsbeschneidung
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praktizieren, schon. Er beruft sich hierzu auf Untersuchungen seit den 1980-er Jahren zu möglichen traumatischen Folgen der Säuglingsbeschneidung und kommt zu folgendem Schluss: »Die Ergebnisse weisen alle in dieselbe Richtung: daß der Säugling die Beschneidung wahrscheinlich als etwas viel Eingreifenderes erlebt – als ›Kastration‹ – als Erwachsene es sich vorstellen können. Das Leben beginnt mit einem Attentat auf das zarte ›Haut-Ich’(Anzieu 1989)« (deKlerk 2004, 468). Der Kinderanalytiker Antonino Ferro hebt in seiner Replik auf Freuds Fallgeschichte dessen revolutionäre Gesprächshaltung hervor: »[...] wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns im Jahre 1908 befinden, in der Entstehungszeit der Psychoanalyse – dass den Worten, Phantasien und Träumen eines fünfjährigen Kindes überhaupt Bedeutung beigemessen und Aufmerksamkeit gezollt wurde, ist an sich bereits ungewöhnlich« (Ferro 2003, 31). Bettina Jordan betont in ihrem Beitrag Darf er es denken? Einige Gedanken zur Modernität des Kleinen Hans und zur Modernität des Denkens ebenfalls diese innovative Haltung der Erwachsenen dem kindlichem Sprechen gegenüber. Lesen wir dazu eine kurze Passage aus Freuds Darstellung, die den Wortwechsel zwischen Vater und Sohn wiedergibt: Ich (Vater): »Wenn du lieber hättest, daß sie nicht auf der Welt wär‹, hast du sie gar nicht gern.« Hans: »Hm, hm (zustimmend) Ich (Vater): »Deshalb hast du gedacht, wenn die Mammi sie badet, wenn sie die Hände weggeben möcht‹, dann möchte sie ins Wasser fallen.« Hans (ergänzt: – »und sterben.« Ich (Vater): »Und du wärst dann allein mit der Mammi. Und ein braver Bub wünscht sich das doch nicht.« Hans: »Aber denken darf er’s.« Ich (Vater): »Das ist aber nicht gut.« Hans: »Wenn er’s denken tut, ist es doch gut, damit man’s dem Professor schreibt.« Und Freuds Kommentar: »Wacker, kleiner Hans! Ich wünschte mir bei keinem Erwachsenen ein besseres Verständnis für die Psychoanalyse« (Freud 1909a, 307). Freud ist also hellauf begeistert von seinem »wackeren« kleinen Hans. – Und Jordans Kommentar: »Denn die Klarheit und Ehrlichkeit, mit der der Kleine Hans seine mörderischen Wünsche anerkannt und seine Freiheit, dies zu denken, behaupten kann, ist beeindruckend… seine Fähigkeit zu unterscheiden zwischen tun und möchten, wie er es pointiert dem Vater auseinandersetzt, entwickelt sich in dieser Zeit und ermöglicht ihm, sich mit seinen Fantasien und seinen Gefühlen zu beschäftigen« (Jordan 2008, 158f).
Ein Fazit Ernest Jones, der durch die Lektüre genau dieser Fallgeschichte Freuds so fasziniert war, dass ihn dies zur Psychoanalyse brachte, gibt dem Text einen entsprechenden Stellenwert: »Aus dieser Studie hatte er Schlüsse über das allgemeine Vorkommen des Ödipuskomplexes in der Kindheit, der Kastrationsängste und der Bedeutung außergenitaler
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erogener Zonen des Körpers gezogen. Dies alles ließ sich nun an der Analyse des fünfjährigen Knaben gut veranschaulichen« (Jones 1962, 308). Demnach brachte Freud mit diesem Bericht den so sehr gewünschten »Beweis« für seine Hypothesen zur Existenz einer frühkindlichen Sexualität im Allgemeinen und zu den frühkindlichen Sexualtheorien. Zudem illustrierte die »Heilung« dieser Phobie auf hervorragende Weise die therapeutischen Möglichkeiten der Psychoanalyse nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern. Als besonders wichtig erscheint uns, dass Freud mit dieser Fallgeschichte den »Kastrationskomplex« einführt, der fortan ein essentieller Baustein seiner Entwicklungstheorie blieb. Im Falle von Hans führte die Kastrationsdrohung der Mutter aber zu keinem »Trauma« im engeren Sinne. Er entwickelte ja eine Phobie, das heißt, er konnte seine Ängste symbolisieren. Und er beginnt, in seinen Phantasien und seinem Spiel diese ängstigenden Situationen auszudrücken und zu modifizieren. Wir sehen hier also den Modus einer neurotischen Verarbeitung. Die Verbindung von Ödipuskomplex und Kastrationskomplex ist für Freud eigentlich eine Frage der Anerkennung von »Realität«. Für den ödipalen Knaben ist in dieser Auffassung die Kastration eine Realgefahr: Um seinen Penis zu retten, gibt er die ödipalen Wünsche auf. In Freud späterer Angsttheorie von 1926 (in Hemmung, Symptom und Angst) kommt es zu einer sehr deutlichen Anerkennung der »Realangst«, die zumindest tendenziell Freuds Konzept der »Triebangst« ablöst: »[...]die Angst der Tierphobie ist die unverwandelte Kastrationsangst, also Realangst, Angst vor einer wirklich drohenden oder als real beurteilten Gefahr« (Freud 1926a, 137). Wenn sich der Knabe dieser »Realgefahr« stellt, nimmt er die Kastration auf sich. Es gibt aber noch eine andere Lösung, die Freud später unter dem Titel »Verleugnung« bzw. »Ichspaltung« behandelt. In Die infantile Sexualorganisation von 1923 beschreibt er die Lösung des Knaben, der bezüglich des Genitales des Mädchens meint, dieses sei noch ein kleines Glied, das noch wachsen werde (so wie der Kleine Hans das auch behauptet – und was Freud nun als »Verleugnung« bezeichnet). Ab 1927 beschreibt Freud mit diesem Mechanismus Vorgänge, die beim Erwachsenen zum Fetischismus führen: Der Fetischist, so Freud, lässt in sich zwei unvereinbare Positionen bestehen – die Verleugnung und die Anerkennung der weiblichen Kastration. Verleugnung, so Freuds Position von 1938 (in Die Ichspaltung im Abwehrvorgang), führe aber zu einem »Einriß im Ich«, zur »Ichspaltung«. – Man hat den Eindruck, Freud denkt dabei immer noch an den Kleinen Hans, wenn er meint, die »gewöhnliche« Lösung der Kastrationsdrohung sei eben der Verzicht auf das inzestuöse Objekt; daneben gebe es aber noch »eine sehr geschickte Lösung«, die allerdings eine »knifflige Behandlung der Realität« impliziere. Der Knabe und später der Mann »schuf sich einen Ersatz für den vermißten Penis des Weibes, einen Fetisch. Damit hat er zwar die Realität verleugnet, aber seinen eigenen Penis gerettet« (Freud 1938, 61).8 Der fünfjährige Hans hatte also mehrere »Themen«: Was hat es mit dem Geschlechtsunterschied, der Zeugung, der Geburt und dem Tod auf sich? Wie leben mit seiner Rivalität zur Schwester? Und vor allem: Was bedeuten die Veränderungen am eigenen Körper, insbesondere der erwachende Penis? Wie mit dem Inzestverbot und 8
Wir werden diese späten Theorien Freuds im Folgekapitel ausführlicher darstellen.
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der damit verbundenen Kastrationsangst zurechtkommen angesichts der gewaltigen Gefühlsambivalenz, die gegenüber seinen Eltern wirkte? Und nicht zuletzt: Was ist ein Mann, der auch Vater ist? Und was eine Frau, die auch Mutter ist? Die Phobie bot ihm dafür eine vorübergehende Lösung, denn auf diese Weise konnte er seine Ängste symbolisieren und auf ein äußeres Objekt lenken – und seinen Eltern signalisieren, dass er in Not war.
Der »Rattenmann« – Freud er-findet die Zwangsneurose Die dritte der großen Falldarstellungen Freuds behandelt die Analyse des »Rattenmannes« und »besitzt zweifellos in Konstruktion, Struktur und Logik den strengsten Aufbau« (Roudinesco&Plon 2004, 613). Diese Kur dauert neun Monate, vom 1. Oktober 1907 bis Ende Juni des Folgejahres. Schon am 30. Oktober 1907, also wenige Wochen nach Beginn seiner Analyse mit dem »Rattenmann«, stellt Freud ihn in der Mittwochsgesellschaft vor. Sein Vortrag wird so wiedergegeben: »Es handele sich um einen sehr lehrreichen Fall von Zwangsneurose (Zwangsdenken), der einen 29jährigen jungen Mann (dr.jur.) betreffe. Sein Leiden datiert seit 1903, eigentlich aber schon seit seiner Kindheit. Er hat Befürchtungen, daß zwei Personen, die er sehr liebe, etwas geschehe. (Dieses Unbestimmte des Ausdrucks, das Verbergen des Inhalts charakterisiere die Zwangsneurose.) Diese zwei Personen seien der Vater und eine Dame, die er sehr verehre. Er habe Jahre hindurch abstinent gelebt, die Onanie habe eine sehr geringe Rolle gespielt. Erster Koitus mit 26 Jahren« (Nunberg&Federn 1962, 213). Diese Fallgeschichte bildet auch das Zentrum des 1. psychoanalytischen Kongresses 1908 in Salzburg, wo Freud am 26.4. einen fünfstündigen Vortrag darüber hält. Ernest Jones berichtet darüber: »Jung hatte ihn gebeten, einen Fall darzulegen, und so beschrieb er die Analyse eines Falles von Zwangsneurose, der unter uns ›Rattenmann‹ hieß. Freud saß am Ende eines langen Tisches, um den herum wir unsere Plätze hatten, und sprach wie sonst bei einer Unterhaltung mit leiser, aber deutlicher Stimme. Er fing um acht Uhr morgens an, und wir hörten ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Um elf Uhr unterbrach er sich mit der Bemerkung, wir hätten jetzt genug gehabt. Aber das Gehörte war für uns so spannend gewesen, daß wir in ihn drangen, fortzufahren, was er dann auch bis fast ein Uhr tat« (Jones 1962, 60). Ernst Lanzer9 stammte aus einer jüdischen Familie der bürgerlichen Mittelschicht, war das vierte von sieben Kindern. Sein Vater, Heinrich Lanzer, hatte eine mittellose Frau geliebt, hatte dann aber die begüterte Rosa Saborsky geheiratet. Lanzer begann 1897 mit dem Studium der Rechtswissenschaften, verliebte sich in eine seiner zwei Cousinen, Gisela Adler, die nicht wohlhabend war und damit nicht den Wünschen der Eltern entsprach. Zudem waren ihr die Ovarien entfernt worden, sodass sie kinderlos bleiben musste. Nach dem Tod des Vaters 1898 schlug der Sohn, dem Vorbild des Vaters folgend, die Militärlaufbahn ein. Ab 1901 wurde er von seltsamen Zwängen beherrscht. So fand er Gefallen an Bestattungsritualen, musste seinen Penis im Spiegel betrachten, 9
Die Identität des Rattenmanns wurde 1986 durch den kanadischen Analytiker Patrick Mahony enthüllt.
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der damit verbundenen Kastrationsangst zurechtkommen angesichts der gewaltigen Gefühlsambivalenz, die gegenüber seinen Eltern wirkte? Und nicht zuletzt: Was ist ein Mann, der auch Vater ist? Und was eine Frau, die auch Mutter ist? Die Phobie bot ihm dafür eine vorübergehende Lösung, denn auf diese Weise konnte er seine Ängste symbolisieren und auf ein äußeres Objekt lenken – und seinen Eltern signalisieren, dass er in Not war.
Der »Rattenmann« – Freud er-findet die Zwangsneurose Die dritte der großen Falldarstellungen Freuds behandelt die Analyse des »Rattenmannes« und »besitzt zweifellos in Konstruktion, Struktur und Logik den strengsten Aufbau« (Roudinesco&Plon 2004, 613). Diese Kur dauert neun Monate, vom 1. Oktober 1907 bis Ende Juni des Folgejahres. Schon am 30. Oktober 1907, also wenige Wochen nach Beginn seiner Analyse mit dem »Rattenmann«, stellt Freud ihn in der Mittwochsgesellschaft vor. Sein Vortrag wird so wiedergegeben: »Es handele sich um einen sehr lehrreichen Fall von Zwangsneurose (Zwangsdenken), der einen 29jährigen jungen Mann (dr.jur.) betreffe. Sein Leiden datiert seit 1903, eigentlich aber schon seit seiner Kindheit. Er hat Befürchtungen, daß zwei Personen, die er sehr liebe, etwas geschehe. (Dieses Unbestimmte des Ausdrucks, das Verbergen des Inhalts charakterisiere die Zwangsneurose.) Diese zwei Personen seien der Vater und eine Dame, die er sehr verehre. Er habe Jahre hindurch abstinent gelebt, die Onanie habe eine sehr geringe Rolle gespielt. Erster Koitus mit 26 Jahren« (Nunberg&Federn 1962, 213). Diese Fallgeschichte bildet auch das Zentrum des 1. psychoanalytischen Kongresses 1908 in Salzburg, wo Freud am 26.4. einen fünfstündigen Vortrag darüber hält. Ernest Jones berichtet darüber: »Jung hatte ihn gebeten, einen Fall darzulegen, und so beschrieb er die Analyse eines Falles von Zwangsneurose, der unter uns ›Rattenmann‹ hieß. Freud saß am Ende eines langen Tisches, um den herum wir unsere Plätze hatten, und sprach wie sonst bei einer Unterhaltung mit leiser, aber deutlicher Stimme. Er fing um acht Uhr morgens an, und wir hörten ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Um elf Uhr unterbrach er sich mit der Bemerkung, wir hätten jetzt genug gehabt. Aber das Gehörte war für uns so spannend gewesen, daß wir in ihn drangen, fortzufahren, was er dann auch bis fast ein Uhr tat« (Jones 1962, 60). Ernst Lanzer9 stammte aus einer jüdischen Familie der bürgerlichen Mittelschicht, war das vierte von sieben Kindern. Sein Vater, Heinrich Lanzer, hatte eine mittellose Frau geliebt, hatte dann aber die begüterte Rosa Saborsky geheiratet. Lanzer begann 1897 mit dem Studium der Rechtswissenschaften, verliebte sich in eine seiner zwei Cousinen, Gisela Adler, die nicht wohlhabend war und damit nicht den Wünschen der Eltern entsprach. Zudem waren ihr die Ovarien entfernt worden, sodass sie kinderlos bleiben musste. Nach dem Tod des Vaters 1898 schlug der Sohn, dem Vorbild des Vaters folgend, die Militärlaufbahn ein. Ab 1901 wurde er von seltsamen Zwängen beherrscht. So fand er Gefallen an Bestattungsritualen, musste seinen Penis im Spiegel betrachten, 9
Die Identität des Rattenmanns wurde 1986 durch den kanadischen Analytiker Patrick Mahony enthüllt.
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die auch dadurch ausgelösten Schuldgefühle suchte er durch fromme Entschlüsse, Gebete und sogar Selbstmordphantasien zu beschwichtigen. So wollte er sich die Kehle durchtrennen oder sich ertränken. Dem Wunsch der Eltern, eine vermögende Frau zu ehelichen, konnte und wollte er nicht folgen, aber auch zu einer Heirat seiner Cousine konnte er sich nicht entschließen.
Freuds »Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose« Freud leitet diese Falldarstellung durchaus optimistisch ein: Es sei ihm gelungen, diesen schweren Fall einer Zwangsneurose durch eine Behandlung über ein Jahr so erfolgreich abzuschließen, dass »die völlige Herstellung der Persönlichkeit und die Aufhebung der Hemmungen« gelungen sei« (Freud 1909b, 381). Zudem habe er an diesem Fall einige der »feineren Mechanismen« der Zwangsneurose verstehen gelernt, sodass er seine auf das Jahr 1896 zurückgehende Darstellung zu dieser Symptomatik und ihrer Genese nun differenzieren wolle.10 Freud stellt ihn uns als einen »jüngeren Mann von akademischer Bildung« vor, der schon seit seiner Kindheit an Zwangsvorstellungen leide, besonders aber seit vier Jahren. Im Zentrum stehe seine Befürchtung, dass zwei Menschen, die er sehr liebe, etwas geschehen könnte. Zudem verspüre er Zwangsimpulse wie etwa den, sich mit einem Rasiermesser den Hals abzuschneiden – und er entwickle Verbote, die sich auf »gleichgültige Dinge« bezögen. Freud nennt seinen Analysanten Paul. Dieser beginnt die erste Stunde mit der Mitteilung, dass er einen Freund habe, den er »außerordentlich hochstelle«. Immer, wenn ihn ein »verbrecherischer Impuls« plage, suche er diesen auf, der ihn dann beruhige. Er erwähnt dann einen früher für ihn wichtigen jungen Mann, den er sehr verehrte und der eine zeitlang sein Hauslehrer war. Plötzlich machte ihn dieser aber »zum Trottel« und er musste feststellen, dass dessen Interesse nur einer seiner Schwestern galt. Dies war »die erste große Erschütterung seines Lebens« (ebd., 385). Dann kommt er auf seine Sexualität zu sprechen. Er beginnt mit einer Begebenheit, die sich in seinem vierten oder fünften Lebensjahr zugetragen habe: »Wir hatten eine sehr schöne, junge Gouvernante, Fräulein Peter. Die lag eines Abends leicht bekleidet auf dem Sofa und las; ich lag neben ihr und bat sie um die Erlaubnis, unter ihre Röcke zu kriechen. Sie erlaubte es, wenn ich niemand etwas davon sagen würde. Sie hatte wenig an und ich betastete sie an den Genitalien und am Leibe, der mir kurios vorkam. Seitdem blieb mir eine brennende, peinigende Neugierde, den weiblichen Körper zu sehen« (ebd., 386). Freud bemerkt dazu, dass es damals in Wien ungewöhnlich war, eine Gouvernante bei ihrem Familiennamen zu nennen. Zudem sei es auffällig, dass dieser einem männlichen Vornamen gleiche. Paul berichtet dann von einer zweiten Gouvernante (sie bekommt einen Vornamen, nämlich Lina), die sich ebenfalls seine Berührungen gefallen ließ. »Ich habe schon mit sechs Jahren an Erektionen gelitten und weiß, dass ich einmal zur Mutter ging, um mich darüber zu beklagen« (ebd., 387). Dann gesteht er, dass er damals die »krankhafte Idee« hatte, seine Eltern wüßten seine Gedanken. Immer, wenn er sich wünschte, ein 10
In: Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen, hier insbesondere das 2. Kapitel über Wesen und Mechanismus der Zwangsneurose.
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Mädchen nackt zu sehen, hatte er das »unheimliche Gefühl, als müßte etwas geschehen, wenn ich das dächte, und ich müßte allerlei tun, um es zu verhindern« (ebd., 387). Auf Nachfrage erklärt er, eine solche Befürchtung war, sein Vater könnte sterben: »Gedanken an den Tod des Vaters haben mich frühzeitig und durch lange Zeit beschäftigt und sehr traurig gestimmt« (ebd.). Freud bringt hier seine erste Erklärung ein: »Die Zwangsbefürchtung lautete also, ihrem Sinne nach wiederhergestellt: Wenn ich den Wunsch habe, eine Frau nackt zu sehen, muß mein Vater sterben… Also: ein erotischer Trieb und eine Auflehnung gegen ihn, ein (noch nicht zwanghafter) Wunsch und eine (bereits zwanghafte) ihr widerstrebende Befürchtung, ein peinlicher Affekt und ein Drang zu Abwehrhandlungen; das Inventar der Neurose ist vollzählig. Ja, es ist noch etwas anderes vorhanden, eine Art von Delir- oder Wahnbildung sonderbaren Inhalts: die Eltern wüßten seine Gedanken, weil er sie ausspreche, ohne sie selbst zu hören« (ebd., 389). Soweit Freuds Bericht aus dieser ersten Stunde. Die zweite Stunde beginnt Paul mit der Ankündigung, dass er heute davon sprechen wolle, was der Anlass war, Freud aufzusuchen. Er war im August bei einer Waffenübung. Eines Tages verlor er seinen Zwicker, telegrafierte nach Wien für einen Ersatz. Am selben Tag nahm er während einer Rast Platz zwischen zwei Offizieren. Einer davon machte ihm Angst, »denn er liebte offenbar das Grausame« (ebd., 391). Dieser Hauptmann erzählte von einer schrecklichen Strafe, wie sie im Orient üblich gewesen sei. Paul will jetzt nicht mehr weitersprechen, bittet Freud darum, ihm das zu ersparen. Freud insistiert darauf, dass es für ihre Arbeit notwendig sei, »Widerstände« zu überwinden. Freud rät: Geht es dabei um Pfählung? Nein, das nicht. Der Verurteilte werde angebunden, über sein Gesäß ein Topf gestülpt, in dem sich Ratten befinden und sich »einbohrten«.11 Freud bemerkt, dass Paul an dieser Stelle seiner Erzählung »alle Zeichen des Grausens und Widerstandes« zeigte. Er deutet seinen Gesichtsausdruck als »Grausen vor seiner ihm selbst unbekannten Lust« (ebd., 392). Und Paul fährt fort: »In dem Momente durchzuckte mich die Vorstellung, daß dies mit einer mir teuren Person geschehe« (ebd.). Freuds Nachfrage ergibt, dass es um »die von ihm verehrte Dame« ging. – Später wird klar, dass diese Strafe auch seinen Vater treffen könnte. Gleichzeitig stellte sich die »Sanktion« ein, also eine Abwehrmaßnahme, die verhindern sollte, dass sich diese Phantasie erfüllt. Er machte damals eine abwehrende Handbewegung und sprach vor sich hin: »Aber, was fällt dir denn ein«. – Am nächsten Abend übergibt ihm besagter Hauptmann das Päckchen mit dem Zwicker und sagt ihm, der Leutnant A habe die Nachnahme für ihn ausgelegt. Er solle ihm das Geld zurückgeben. In diesem Moment ereilte Paul die »Sanktion«: »Nicht das Geld zurückgeben, sonst geschieht das« (ebd., 393). Ab diesem Zeitpunkt befand er sich in größter Unruhe, schwankte innerlich ständig zwischen dem Impuls dieser Aufforderung nachzukommen und dem, es nicht zu tun. Schließlich ging Paul zu A, der erklärte, er habe nichts für ihn ausgelegt, das sei Leutnant B. Dies brachte Paul noch weiter in Verwirrung: So konnte er seinen Eid nicht halten. Was sollte er tun? Er ersann eine ganze Reihe von letztlich unsinnigen Strategi-
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Die Geschichte von der Rattenstrafe findet sich im Roman Der Garten der Qualen von Octave Mirabeau, 1899 erschienen. Die Geschichte spielt dort in China, die Hauptfigur, eine Clara, fragt den Folterknecht und der erzählt.
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en. Gegen Ende der Stunde erlebte ihn Freud »wie betäubt und verworren«. »Er sprach mich wiederholt ›Herr Hauptmann‹ an« (ebd., 394). In der dritten Sitzung vervollständigt Paul seinen Bericht: »Er sprach gut, aber wie im Schlafwandel, denn im Hintergrunde plagte ihn immer sein Eid. Die Nacht war entsetzlich; Argumente und Gegenargumente bekämpften einander« (ebd.). – Am nächsten Tag war die Übung zu Ende, es ging um die Heimfahrt. Paul steckt im Dilemma: Soll er die Schuld begleichen (im übrigen weiß er, dass er auch Leutnant B dieses Geld nicht schuldet, sondern dem Postfräulein, die das für ihn vorgestreckt hat) – oder seinen Eid halten?! Letztlich fährt er ohne etwas zu tun nach Wien und eilt in größter Erregung zu seinem Freund, der ihn beruhigt und ihm verspricht, am nächsten Tag mit ihm zur Post zu gehen, um dem Postfräulein die kleine Summe zu überweisen. Zudem ermunterte ihn dieser Freund, wegen seines Zustandes dringend einen Arzt aufzusuchen. In der vierten Stunde erzählt Paul ausführlich die Krankengeschichte seines Vaters, der vor neun Jahren an einem Emphysem verstarb.12 Er hatte schon länger Angst um seinen Vater, auch am Abend vor dessen Ableben. Er schlief aber ein, erwachte gegen ein Uhr und erfuhr, dass der Vater schon gestorben sei. Seitdem macht er sich den Vorwurf, dass er »beim Tode nicht zugegen gewesen sei« (ebd., 398). Zum anderen realisierte er lange Zeit diese Tatsache nicht. So dachte er öfters, wenn er einen Witz hörte, den könnte er seinem Vater erzählen. Auch wenn es an die Türe klopfte, meinte er, der Vater stünde draußen. Die Vorwürfe steigerten sich immens, als vor 1 1/2 Jahren seine Tante verstarb. Die gravierendste Folge aber war eine schwere Arbeitsunfähigkeit. In den Folgestunden geht es um sein merkwürdig überzogenes Schuldgefühl dem Vater gegenüber. Freud erklärt ihm, dass das Schuldgefühl wohl »recht« habe, aber dass der Grund dafür ein anderer sein müsse. Eine wichtige Spur führt dann zum Gedanken, durch den Tod des Vaters könnte er so reich werden, dass er seine »Dame« heiraten könnte. Gegen diese Idee ergaben sich sofort zahlreiche »Gegenideen«; z.B. der Vater solle ihm gar nichts hinterlassen; oder: wie kann ich so etwas denken, wo mir doch mein Vater »der liebste aller Menschen« ist. Freud gibt seinem verzweifelten Analysanten hier die Deutung: »[...]gerade diese intensive Liebe sei die Bedingung des verdrängten Hasses« (ebd., 403). Wichtig sei aber, die Quelle dieses Hasses zu finden. Paul kann nicht glauben, dass er seinen Vater so hassen solle. Freud gibt ihm einen weiteren Hinweis: »Die Quelle, aus welcher die Feindseligkeit gegen den Vater ihre Unzerstörbarkeit beziehe, sei offenbar von der Natur sinnlicher Begierden, dabei habe er den Vater irgendwie als störend empfunden« (ebd., 405). Auch die Folgesitzung eröffnet Paul mit seinem »Unglauben«: »Er könne nicht glauben, daß er je den Wunsch gegen den Vater gehabt habe« (ebd., 406). Dann spricht er von einer Novelle, in der eine Frau am Krankenbett ihrer Schwester einen Todeswunsch gegen diese verspürte, verknüpft mit der Vorstellung, dann deren Mann heiraten zu können. Dann werde sie sich töten. Pauls Kommentar dazu: »Er verstehe das, und es
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Freud ist erstaunt, dies zu hören, sprach Paul doch die ganze Zeit über so von seinem Vater, als sei dieser noch am Leben. Daniel Pick deutet dies so, dass der Rattenmann fürchtete, seinen Vater »wieder und wieder zu töten. Hier mag man an Hamlet denken, ein Theaterstück, das allen Analytikern lieb ist, in dem das Phantom des toten (oder ermordeten) Vaters den Sohn heimsucht, seine Gedanken beschäftigt, Taten verlangt und Schuldgefühle auslöst« (Pick 2015, 74).
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sei ihm ganz recht, wenn er an seinen Gedanken zugrunde gehe, denn er verdiene es nicht anders« (ebd.). Freuds Kommentar für den Leser: »Dies Schuldbewußtsein enthält den offenbarsten Widerspruch gegen sein anfängliches Nein, er habe den bösen Wunsch gegen den Vater nie gehabt« (ebd., 406, Fn.1). – Paul will jetzt von einer »verbrecherischen Handlung« sprechen. Es geht um seinen jüngeren Bruder, den er sehr liebte, aber auf den er auch eifersüchtig war. Er hatte damals ein Kindergewehr, lud es, sagte dem Bruder, er solle in den Lauf hineinschauen und drückte ab. Es traf den Bruder, verletzte ihn aber nicht, aber »es war meine Absicht gewesen, ihm sehr wehe zu tun. Ich war dann ganz außer mir, warf mich auf den Boden und fragte mich: Wie habe ich das nur tun können? – Aber ich habe es getan« (ebd., 407). Freud verknüpft diese Szene mit seiner Rachsucht gegen die Dame und gegen den Vater. Eine andere Erzählung dreht sich um eine Zwangsvorstellung: Plötzlich während eines Sommerurlaubs hat Paul die Idee, er sei zu dick und müsse abmagern. Er rennt dann auf die Berge bis zur Erschöpfung, hat einmal an einem Abhang den Impuls hinunterzuspringen. Die Erklärung bringt Paul dann auch: Die verehrte Dame war damals im selben Ort, allerdings mit ihrem englischen Vetter, der Richard hieß. Diesen »Dick« wollte er umbringen – und erlegte sich als Selbstbestrafung die Abmagerungskur auf. Beim selben Sommeraufenthalt, am Tag, als die Dame abreiste, geht Paul auf der Straße und stößt dabei auf einen dort liegenden Stein. Er muss ihn auf die Seite wegräumen, denn er hat die Vorstellung, die Dame könnte auf dieser Straße mit ihrem Wagen fahren und vielleicht zu Schaden kommen. Nach wenigen Minuten muss er umkehren und den Stein wieder an seinen ursprünglichen Ort legen. Freuds Deutung: »Der Schutzzwang kann nichts anderes bedeuten als die Reaktion – Reue und Buße – gegen eine gegensätzliche, also feindselige Regung, die sich vor der Aufklärung gegen die Geliebte gerichtet hatte« (ebd., 413).13 Seine Zwangshandlungen seien häufig »zweizeitig«: »Ihre wirkliche Bedeutung liegt aber in der Darstellung des Konfliktes zweier annähernd gleich großer gegensätzlicher Regungen, soviel ich bisher erfahren konnte, stets der Gegensätze von Liebe und Haß. Sie beanspruchen ein besonderes theoretisches Interesse, weil sie einen neuen Typus der Symptombildung erkennen lassen. Anstatt, wie bei der Hysterie es regelmäßig geschieht, einen Kompromiß zu finden, welcher beiden Gegensätzen in einer Darstellung genügt, zwei Fliegen mit einem Schlag trifft, werden hier die beiden Gegensätze, jeder einzeln, befriedigt« (ebd., 414). Auch in seinen Gebeten zeigt sich dies als magische Formel: Wenn er etwa zu sich sagt »Gott schütze ihn«, »so gab der böse Geist schnell ein ›nicht‹ dazu« (ebd., 415). Auch einen Übertragungstraum bringt Freud hier als einen weiteren Beleg: »Meine Mutter ist gestorben.« (Gemeint ist Freuds Mutter.) Paul will Freud kondolieren, fürchtet aber, daß er dabei das impertinente Lachen produzieren wird, das er schon wiederholt bei Todesfällen gezeigt hat. Er schreibt darum lieber eine Karte mit p.c., aber diese
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Hermann Lang sieht diese tiefe Ambivalenz, dieses Vor und Zurück, als Ausdruck der tiefen Ambivalenz des Zwangsneurotikers. Zudem sei hier auch die typische »magische Weltauffassung« am Werk: »Bereits Gedanken können töten, schuldig machen, Unheil bringen, wieder gutmachen, verzaubern« (Lang 2015, 28).
Die Fallgeschichten, die wie Novellen zu lesen sind
Buchstaben verwandeln sich ihm beim Schreiben in p.f. (ebd.).14 – Seine Ambivalenz gegen die Dame begründet er u.a. damit, dass diese seine erste Werbung vor zehn Jahren mit einem Nein beantwortet hat. Seither wechseln Zeiten, in denen er sie intensiv zu lieben glaubt mit solchen, in denen er sich ihr gegenüber gleichgültig fühlt. In einer weiteren Erzählung Pauls glaubt Freud die »Krankheitsveranlassung« zu erkennen. Sein Vater hatte ursprünglich ein Mädchen aus armem Hause geliebt, letztlich aber seine Mutter geheiratet und war damit zu Wohlstand gekommen. Nach dem Tod des Vaters teilte ihm die Mutter mit, dass sie mit einem ihrer reichen Verwandten eine Vereinbarung getroffen habe, wonach er, Paul, eine der Töchter aus diesem wohlhabenden Haus heiraten solle. Dies entspreche auch dem Willen seines Vaters. Freud ist sich sicher, dass es dieser Konflikt war, dem Paul durch seine Erkrankung auszuweichen suchte. Wenn er arbeitsunfähig ist, dann kann er auch sein Studium nicht beenden und erfüllt damit die Bedingung für diese Heirat nicht. Freud erfährt auch eine entsprechende Übertragungsphantasie: Paul habe auf der Stiege in Freuds Haus ein junges Mädchen angetroffen und sie zu Freuds Tochter erklärt. »Er imaginierte, daß ich nur darum so liebenswürdig und unerhört geduldig mit ihm sei, weil ich ihn zum Schwiegersohne wünsche… Gegen diese Versuchung stritt aber in ihm die unauslöschliche Liebe zu seiner Dame« (ebd., 421). Beim Durcharbeiten dieser Phantasie entwickelte der Analysant heftige aggressive Phantasien gegen seinen Analytiker, die sich auch in einem Traum niederschlugen: »Er sieht meine Tochter vor sich, aber sie hat zwei Dreckpatzen anstatt der Augen.« Freud lapidarer Kommentar dazu: »Für jeden, der die Sprache der Träume versteht, wird die Übersetzung leicht sein: Er heiratet meine Tochter nicht ihrer schönen Augen, sondern ihres Geldes wegen« (ebd.). Im Zentrum von Pauls Leiden steckt aber nach Freuds Überzeugung dessen »Vaterkomplex«, der sich in irgendeiner noch aufzuklärenden Weise mit der »Rattenstrafe« verbunden hat. Freud erarbeitet Stück um Stück die Hintergründe. – Zunächst wagt Freud eine »Konstruktion«: Er unterstellt seinem Analysanten, dass dieser als Kind eine sexuelle Missetat im Zusammenhang mit Onanie begangen habe, dafür vom Vater bestraft worden sei und seither einen »unauslöschlichen Groll gegen den Vater« hege (ebd., 426). Zu Freuds großem Erstaunen bekommt er daraufhin eine Erzählung, die in die frühe Kindheit des Patienten datiert. Als Paul klein war, soll er etwas Arges angestellt haben, wofür ihn sein Vater verprügelte. Da geriet er in schreckliche Wut und begann den Vater zu beschimpfen. Mangels entsprechender Sprachkompetenz warf er Wörter wie »Du Lampe, du Handtuch, du Teller« dem Vater an den Kopf.15 Dieser war erschüttert über diesen Ausbruch und äußerte: »Der Kleine wird entweder ein großer Mann oder ein großer Verbrecher« (426)!16 Der Vater habe ihn seitdem nie wieder ge-
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Wie Freud in den Originalnotizen schreibt, sind dies die damals gebräuchlichen Abkürzungen für »pour condoler« und »pour féliciter« (Freud 1907-1908, 544). Elisabeth Skale erkennt in dieser Episode den Vorgang der Sexualisierung der Sprache: »Die Sprache verliert ihren Symbolcharakter, wird direkter Ausdruck von Triebregungen und eignet sich damit auch zur Triebabfuhr. Als Reaktion auf die Strafe für das Beißen der Kinderfrau ›schlägt-beißt‹ er in der Situation des Geschlagenwerdens den Vater mit Worten« (Skale 2008, 226). Diese Äußerung des Vaters lässt sich auch als Prophetie hören: Meinem Sohn wird entweder eine erfolgreiche Sublimierung gelingen oder er wird den Weg der Perversion einschlagen.
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schlagen, er aber sei ab diesem Zeitpunkt feige geworden. Auf Nachfrage erklärte ihm die Mutter, er sei vom Vater damals bestraft worden, weil er jemanden gebissen habe. In dieser Phase der Analyse entwickelt der Analysant eine heftige negative Übertragung auf Freud. »Es kam bald dazu, daß er mich und die Meinigen in Träumen, Tagesphantasien und Einfällen aufs gröblichste und unflätigste beschimpfte, während er mir doch mit Absicht niemals etwas anderes als größte Ehrerbietung entgegenbrachte« (429) .Diesen Attacken folgten regelmäßig heftige Selbstdenunzierungen. Dann kam es zur schrittweisen Entschlüsselung der Rattenstrafe. – Pauls Vater war vor seiner Heirat Unteroffizier gewesen, war in dieser Zeit spielsüchtig und hatte einmal Spielschulden gemacht, die ihm ein Kollege ersetzte. Als er später wohlhabend war, versuchte er diese zu begleichen, aber er konnte die Adresse dieses Mannes nie mehr finden. Freud ortet daher in der Aufforderung des Offiziers, Leutnant A das Geld zurückzugeben, eine »Komplexempfindlichkeit«. Paul befinde sich in einer unbewussten Identifizierung mit seinem Vater (dieser »Spielratte«) – und diese Identifizierung weckte eine andere, tiefer liegende: jene mit dem Vater und dessen »Eheroman« (ebd., 431). – Die Rattenstrafe rüttelte – so Freuds weiterführende Konstruktion – seine Analerotik auf, die Ratten bekamen im Unbewussten durch die Verknüpfung mit »Raten« die Bedeutung »Geld«. So dachte Paul seit der ersten Stunde, wenn er Freud das Honorar gab: »so viel Gulden, so viel Ratten«. Die weitere Analyse ergab noch weitere Konnotationen: Ratten für Penis, für Wurm, für Kinder. Ein weiteres wichtiges Thema war die Kinderlosigkeit der Dame. Aufgrund einer gynäkologischen Operation war diese zur Kinderlosigkeit verurteilt, was ein zusätzlicher Grund für das Schwanken von Pauls Gefühlen ihr gegenüber war. – Mit seiner »großen Zwangsidee« (dem Auftrag des Hauptmanns) erfasst den Rattenmann eine unauflösliche Ambivalenz. Mit seiner Phantasie, diese Rattenstrafe könnte seine Dame und seinen Vater treffen, »war das Verbrechen begangen, die beiden ihm teuersten Personen, Vater und Geliebte, von ihm geschmäht; das forderte Strafe, und die Bestrafung bestand in dem Auferlegen eines unmöglich zu erfüllenden Eides, der den Wortlaut des Gehorsams gegen die unberechtigte Mahnung des Vorgesetzten enthielt: Jetzt mußt du wirklich dem A. das Geld zurückgeben, wie der Stellvertreter des Vaters verlangt hat. Der Vater kann nicht irren« (436f). Freud geht nun daran, dieses »Material« zu theoretisieren. »Eine seiner ältesten und beliebtesten Zwangsideen ... lautete z.B.: Wenn ich die Dame heirate, geschieht dem Vater ein Unglück (im Jenseits)« (ebd., 443). – Oder: »Wenn du dir einen Koitus gestattest, wird der Ella ein Unglück geschehen« (ebd., 444). So folgert Freud: »Er erkrankte in den zwanziger Jahren, als er vor die Versuchung gestellt wurde, ein anderes Mädchen als die von ihm längst Geliebte zu heiraten, und entzog sich der Entscheidung dieses Konfliktes durch Aufschub aller für deren Vorbereitung erforderlichen Tätigkeiten, wozu ihm die Neurose die Mittel lieferte. Das Schwanken zwischen der Geliebten und der anderen läßt sich auf den Konflikt zwischen dem Einfluß des Vaters und der Liebe zur Dame reduzieren, also auf eine Konfliktwahl zwischen Vater und Sexualobjekt« (ebd., 453). Freud attestiert seinem Analysanten, dass dieser unter einer »Herrschaft von Zwang und Zweifel« stehe: »Der Zweifel entspricht der innern Wahrnehmung der Unentschlossenheit, welche, infolge der Hemmung der Liebe durch den Haß, bei jeder beabsichtigten Handlung sich des Kranken bemächtigt. Er ist eigentlich ein Zweifel an der Liebe…
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Der Zwang aber ist ein Versuch zur Kompensation des Zweifels und zur Korrektur der unerträglichen Hemmungszustände… die Spannung, wenn das Zwangsgebot nicht ausgeführt werden soll, ist eine unerträgliche und wird als höchste Angst wahrgenommen« (ebd., 457f). Und auch das Denkvermögen des »Kranken« wird von dieser unbewältigten Ambivalenz erfasst: »Wo der Wißtrieb in der Konstitution des Zwangskranken überwiegt, da wird das Grübeln zum Hauptsymptom der Neurose. Der Denkvorgang selbst wird sexualisiert« (ebd., 460). Ein eindrückliches Beispiel für diese Denkstörung ist die merkwürdige Formel »Gleijsamen«, die Paul bei bestimmten Gelegenheiten sprechen oder denken muss. Es zeigt sich, dass die Formel für die Worte »glücklich-alle-vergessenjetzt und immer-vergessen« steht, was Freud zur Deutung bringt, das Wort Gleijsamen sei eine Verdichtung aus »Gisela« (der Name der Geliebten) und »Samen« und bedeute, dass der Rattenmann seinen Samen mit der Geliebten vereinige, d.h. dass er mit der Vorstellung von ihr onaniert.17 Freud ist im Sommer 1908 mit dem Erreichten durchaus zufrieden. Er schreibt von der »völligen Herstellung der Persönlichkeit« und der »Aufhebung ihrer Hemmungen« (ebd., 381). In einem Zusatz von 1923 bemerkt er: »Der Patient, dem die mitgeteilte Analyse seine psychische Gesundheit wiedergegeben hatte, ist wie so viele andere wertvolle und hoffnungsvolle junge Männer im großen Kriege umgekommen« (ebd., 463, Fn.1).
Freuds Originalnotizen zu einem Fall von Zwangsneurose (»Rattenmann«) Die vorliegenden Notizen fanden sich nach Freuds Tod in London unter seinen Papieren, wurden 1955 in die Standard Edition aufgenommen. Der vollständige Originaltext erschien 1974 erstmals auf deutsch. – Der erste Teil des Textes deckt sich weitgehend mit Freuds veröffentlichter Krankengeschichte (das Vorgespräch vom 1.10.1907 und die ersten sieben Sitzungen). Im letzteren Teil erfahren wir neues detailliertes Material, etliche Träume und Phantasien. Die Editorin des Nachtragsbandes,Ilse Grubrich-Simitis, schreibt über die Bedeutung dieser »Notizen«: »Die Originalnotizen sind deshalb so bedeutsam, weil allein sie uns einen Eindruck von der Art des Rohmaterials vermitteln, auf dem Freuds gesamtes Werk fußt, sowie von der Stückwerkarbeit, mittels welcher dieses Rohmaterial zutage gefördert wurde« (in: Freud 1907/1908, 506). – Wenn wir die 42 Eintragungen zwischen dem 1.10. 1907 und dem 7.1.1908 mit Freuds publizierter Darstellung vergleichen, bekommen wir einen noch direkteren Eindruck von seiner Arbeitsweise. Dabei fällt auf, wie viele theoretische Informationen über die Funktionsweise der Psyche Freud seinem Analysanten zu vermitteln sucht. Zudem stellt er zahlreiche Fragen, meist auch zu ganz konkreten Gegebenheiten in dessen äußerem Leben. Er scheut sich auch nicht davor, Paul auf die logischen Unstimmigkeiten und Brüche in seinen Berichten hinzuweisen und macht ihm mehrfach die Unsinnigkeit und Irrealität seiner zwanghaften Befürchtungen deutlich. Daran schließt sich häufig eine theoretische Erklärung über 17
Elisabeth Skale versteht diesen Sprachgebrauch als Kompromissbildung: »Hier wird aber auch deutlich, dass in dem einen Wort der ›Schutzformel‹ Triebabwehr und Triebbefriedigung enthalten sind« (Skale 2008, 228).
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die unbewussten Motive und die Logik des Unbewussten an. Freud wendet sich also immer wieder an das »vernünftige Ich« und sucht es so zur Mitarbeit zu bringen. Im Kommentar zur ersten Stunde schreibt Freud (unter Bezug auf die Namensgebung Frl. Peter): »Ich erkenne ihn aber nach seiner Einleitg u dem Compromiß ›Peter‹ als Homosexuellen« (ebd., 511). Als Paul18 ihm die Geschichte der Rattenstrafe und vor allem die »verzwickte« Geschichte um den Zwicker und das Geld, das er (wem eigentlich?) zurückerstatten soll, erzählt, kommt Freud sichtlich in Verwirrung. So bemerkt er in seinen Notizen dazu: »Nun kommt meine Vergeßlichkeit« (ebd., 516). Auch nach der dritten Sitzung ein ähnlicher Kommentar: »Nicht gut reproduzirt, vieles von den eigent. Schönheiten des Falles versäumt, verwischt« (ebd., 518) – eine typische »Gegenübertragungsreaktion« auf die Denk- und Sprechhemmungen des Zwangsneurotikers, wie uns scheint! Die Mutter wird in diesem Text ca. 40x genannt! Einmal, als er von seiner Selbstmordneigung spricht; seine Hemmung sei u.a., dass er die Vorstellung nicht ertrage, wie seine Mutter die blutende Leiche findet; ein anderes Mal, als die ältere Schwester schon krank ist, der Vater sich über die weinende Mutter beugt.19 Ein weiteres Mal eine Erzählung von seinem Cousin. Dieser habe ihn in die Geheimnisse des Sexuallebens eingeführt, ihm erklärt, dass alle Frauen Huren seien, auch seine Mutter und Schwestern, worauf er dem Cousin die »Gegenfrage« stellte: »Glaubst du von deiner Mutter dasselbe« (ebd., 540)? – Oder: Die Mutter nennt den Vater »ordinärer Kerl, weil er sich ungenirt Luft zu machen pflegte« (ebd., 551). Ferner: Die Mutter zieht den Vater gerne damit auf, dass er früher einer Fleischhauerstochter den Hof gemacht habe. Diese Idee scheint Paul »unerträglich, daß Vater etwa seine Liebe im Stiche gelassen, um durch Verbindg mit R. seinen Vortheil zu sichern« (ebd.). Die Mutter spielt also im Leben des Rattenmanns eine gar nicht so unbedeutende Rolle! Freud berichtet dann von einem interessanten Traum, der die Ambivalenz des Rattenmanns zeigt: »Die Dame ist in irgend einer Bedrängniß. Er nimmt seine zwei japanischen Schwerter und befreit sie. Mit beiden in der Faust eilt er dorthin wo er sie vermutet. Er weiß, die beiden bedeuten Ehe u Coitus. Beides ist nun verwirklicht; er findet sie, an Wand gelehnt, mit Daumschrauben gefesselt. Der Tr scheint ihm nun zweideutig zu werden, entweder so, daß er sie durch die beiden Schwerter: Ehe u Coitus aus dieser Lage befreit, oder die andere Idee, daß sie erst dadurch in diese Lage kommt« (ebd., 532). Freuds Kommentar bezieht sich wieder auf die »Denkstörung«: »Er versteht diese Alternat. offenbar selbst nicht, obwol seine Worte gar nichts anderes bedeuten können« (ebd.).
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Freud nennt in den Originalnotizen den Patienten übrigens Dr. Lorenz. Die zweitälteste Schwester, Camilla, starb neunjährig an Krebs, als Paul dreieinhalb war. Für Harry Stroeken scheint klar, dass Gisela unbewusst auch für diese Schwester steht. Seine frühesten Erinnerungen haben mit ihr zu tun. Bei ihr hätte er zum ersten Mal den Unterschied von Mädchen und Jungen wahrgenommen. Im magischen Denken des Kindes hätten sich Sexualität und Tod verknüpft. »Wegen seiner sexuellen Neugier muß seine Schwester sterben.« Auch Gisela war viel krank. »Es spricht viel dafür, daß Gisela die wiedergefundene Camilla ist« (Stroeken 1992, 92).
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Lange verheimlicht Paul vor Freud den Namen seiner Dame. Freud fordert ihn dazu explizit auf, woraufhin er schließlich den Namen preisgibt – und Freud stellt als Effekt fest, dass seine Erzählungen jetzt »klar und systematisch« werden (ebd., 536). Viele von Freuds Notizen beziehen sich auf Pauls Analität: Z.B. »Hat als Kind viel an Würmern gelitten, war wahrsch. Afterbohrer u großes Schwein wie sein Bruder, ist jetzt überreinlich. Phantasie vor dem Einschlafen, er würde mit Cousine verheirat ihr Füße küssen, die sind aber nicht rein, sondern zeigen schwarze Streifen (was ihm sehr grauslich ist)… Nachts tr er, daß er der Geliebten Füße lecke, die aber rein waren, letzteres ist Trwunsch. Die Perversion ist ganz die namliche, wie sie positiv bekannt ist« (ebd., 539). – Oder: Als der Rattenmann von seinem »großen Grausen« spricht, wenn er von seiner Vorstellung erzählt, dass alle Frauen ekelhafte Sekrete ausscheiden. »Er enthüllt sich als ein Riecher… Die Mutter war unterleibsleidend u hat jetzt üblen Genitalgeruch, über den er sich furchtbar ärgert. Sie sagt selbst, daß sie stinkt, wen sie nicht ofter badet, daß sie sich das aber nicht gönnen kann u darüber ist er entsetzt« (ebd., 553). Zu diesen »analen« Eigenschaften zählt auch sein Geiz: »Sein Geiz wird klar. Die Uberzeugg, daß Vater des materiell Vorteils wegen Mutter geheiratet u eigene Liebe im Stich gelassen… Er spart also, um seine Liebe nicht verraten zu müssen. Ebenso tritt er alles Geld der Mutter ab, weil er nichts von ihr haben will, es gehört ihr u es ruht kein Segen darauf« (ebd., 554). Oder: »Die herrlichste Analphantasie, daß er auf Rücken auf Mädchen liegt (meine Tochter) u mit dem Stuhl der aus After heraushangt sie coitirt…Ergibt sich: ob er meine Tochter oder Cousine heiraten soll u dieses Schwanken läßt sich leicht auf sein Schwanken zwischen 2 Schwestern zurückführen« (ebd., 547). Die letzte Eintragung datiert auf den 20. Jänner. »Heute 5 Tr, davon militär. Aus erstem ergibt sich verhaltene Wut gegen Offiziere u Zurückhaltg um nicht einen zu fordern, der schmierigem Kellner Adolf eins auf Hintern gehaut. (Dieser Adolf ist er selbst.) Dieß mündet in Rattenszene ein mittelst des fallen gelaßenen u verlorenen Zwickers (Kneifers) u rührt an Erlebniß aus erst Univjahr, in dem er von Freund des ›Kneifens‹ verdächtigt wurde…. Also fortschreitende Unterdrückung des Wuttriebes mit Widerkehr des verdrängt erogenen Schmutztriebes« (ebd., 569).- Die Notizen brechen hier ab. Warum Freuds Aufzeichnungen hier enden, wissen wir nicht. Die Behandlung dauerte ja noch sieben Monate.
Einige Kommentare Die zeitlich frühesten Kommentare stammen aus der Mittwochsgesellschaft. Nachdem Freud dort im Oktober 1907 den Fall« vorgestellt hatte, hält das Protokoll eine Diskussionsmeldung von Otto Rank fest: »[...]daß alle Momente deutlich auf eine Liebe zur Mutter hinweisen…Der Kampf zwischen der Strebung zum Mann und derjenigen zum Weib sei wohl als solcher zwischen der Liebe zum Vater und zur Mutter in diesem Fall zu spezialisieren…. Die homosexuellen Neigungen seien… auch aus der Art der Identifizierung des Vaters mit der geliebten Dame in des Patienten Phantasie erwiesen. Er lasse beide Personen in gleicher Weise am After martern. Er benutze das Weib wie einen Mann« (Nunberg&Federn 1962, 219).
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Von den späteren Stellungnahmen Freuds wollen wir eine aus den Vorlesungen anführen, die eindrücklich zeigt, wie fasziniert Freud noch immer von dieser phantasmatischen Produktion war: »Das ist doch gewiß ein tolles Leiden. Ich glaube der ausschweifendsten psychiatrischen Phantasie wäre es nicht gelungen, etwas dergleichen zu konstruieren, und wenn man es nicht alle Tage vor sich sehen könnte, würde man sich nicht entschließen, daran zu glauben« (Freud 1916/17, 260). Jacques Lacan kommentiert den Fall 1953 in Der Individualmythos des Neurotikers. Er bezieht sich dabei auf das damals aktuelle Buch von Claude Levi-Strauss Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, verleiht der Zwangsneurose des Rattenmanns den Status eines Mythos und versucht an dieser Neurose zu zeigen, in welch enger Weise jedes Subjekt an die symbolische Kette der Generationen gebunden ist. Seine zentrale These lautet, dass sich in den Phantasmen der Zwangskranken letztlich die »fundamentalen Familienbeziehungen wiederholen: Die Konstellation des Subjekts ist in der Familientradition durch den Bericht einer gewissen Anzahl von Zügen gebildet, die die Vereinigung der Eltern spezifizieren« (Lacan 1980, 55). – Als solche »Züge« nennt Lacan, dass Pauls Vater »Unteroffizier« gewesen und in gewisser Weise auch geblieben ist; dass er diese »vorteilhafte Heirat« einging, wobei offen blieb, ob er diese Wahl gegen das »arme Mädchen« auch innerlich wirklich vollzogen hat; und seine Spielschulden, die er aus eigenartigen Gründen nie beglichen hat. – Lacans These ist nun, dass zwischen diesen »Zügen«, die ja schon vor Lanzers Existenz da waren, und seinem Zwangsphantasma eine enge Entsprechung existiere: Die Foltergeschichte löst ja bei ihm den Zwang aus, daran zu denken, dass seine Dame – oder auch der Vater (der schon längst gestorben ist) dieser Folter unterzogen würden. – Und dann die Schulden für die Zustellung des »Zwickers«. »Diese Pflicht erlegt er sich selbst auf in Form eines inneren Befehls, der im Zwangspsychismus auftaucht, im Widerspruch zur ersten Regung, die sich in der Form ›nicht zahlen‹ ausgedrückt hatte« (ebd., 57). Das soll bedeuten, dass sich die »ererbten Züge« wie ein Wiederholungszwang im Unbewussten des Sohnes reaktualisieren. Bela Grunberger legt den Akzent in seiner Deutung dieses Falls auf den narzisstischen Anteil der Zwangsneurose. Er erinnert daran, dass in der Sicht des Rattenmannes selbst der Auslöser für seine »Krankheit« in dieser Szene lag: »Ich sehe hierin den Beginn meiner Krankheit. Es gab Personen, Mädchen, die mir sehr gefielen, und die ich mir dringendst nackt zu sehen wünschte. Ich hatte aber bei diesen Wünschen ein unheimliches Gefühl, als müßte etwas geschehen, wenn ich das dächte, und ich müßte allerlei tun, um es zu verhindern« (Freud 1909b, 387). – Die Schlussfolgerung von Grunberger: »Damit stellte der ›Rattenmann‹ einen direkten Bezug zwischen seinem Voyeurismus und seinem spezifischen pathogenen Konflikt her… kann man den Voyeurismus auf einem bestimmten Niveau als eine motorische Aktivität betrachten, die aus der anal-sadistischen Phase stammt und eine starke aggressive Besetzung enthält« (Grunberger 1967, 576). Grunbergers diagnostische Einschätzung liest sich so: »Der Rattenmann ist, wie so viele Zwangsneurotiker, homosexuell, masochistisch, scoptophil und sadistisch« (ebd., 580). – Er betont ferner den für ihn so wichtigen narzisstischen Anteil bei der Zwangsneurose, den Freud 1909 noch nicht theoretisch würdigte, obwohl er die Phänomene sah. In dessen Bericht der ersten Analysestunde ist dieser Aspekt erkannt: Der Patient hatte einen Freund, der »seine Selbstachtung außerordentlich steigerte, so daß er sich wie
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ein Genie vorkam. Dieser Freund enttäuschte ihn später, was er als ›den ersten schweren Schlag seines Lebens‹ bezeichnete« (ebd., 584). Und Grunbergers Kommentar dazu: »Der Rattenmann war zweifellos ein hochgradiger Narziß…. Der Zwangsneurotiker scheint in den verschiedenen Beschreibungen in hohem Maße von den ›narzißtischen Zufuhren von außen‹ abhängig und hält sich im positiven wie im negativen Sinne durch ein mächtiges, reales oder imaginäres narzißtisches Ideal aufrecht« (ebd., 585). Dazu gehöre auch die stark libidinöse Besetzung des Denkens – anstelle des Handelns: »Das Zweifeln stellt bei den Zwangskranken den inneren Kampf dar zwischen ihrem Wunsch, den Penis zu besitzen oder zu erobern und ihre Abwehr dagegen« (ebd., 591). Lilla Veszy-Wagner legt in ihrer Replik den Akzent auf die latente Homosexualität des Rattenmanns. Dieser hätte eine übersteigerte Tendenz, seinen Vater zu beschützen und deshalb müsse er die Aggression gegen ihn tabuisieren bzw. auf jemanden anderen (die Geliebte, die Mutter) verschieben. Sein Phantasma stellt also eine »andere Variante des Ödipus« dar: die Zwei-Einheit von Vater und Sohn – und die ausgeschlossene Mutter (vgl. Veszy-Wagner 1967, 594). Die »Dame« hat demnach die Funktion, die latente Homosexualität zu verdecken. Als einen Beleg für diese erinnert die Autorin an die Aussage des Rattenmanns, er und der Vater hätten gelebt »wie die besten Freunde« (Freud 1909b, 422). – Die Idee des Rattenmanns, wenn der Vater stürbe, könnte er die Dame heiraten, löst Veszy-Wagner so: »›Wenn der Vater (d.h. die homosexuelle Liebe) stürbe, dann könnte ich heterosexuell sein.‹ Die unbewußte Fortsetzung lautet aber: ›Und wenn die Dame (d.h. die heterosexuelle Liebe) stürbe, dann könnte ich homosexuell und mit dem Vater vereinigt sein‹« (Veszy-Wagner 1967, 600). Ihre Grundthese lautet also: Der Rattenmann verschiebt die Aggression und die Mordimpulse gegenüber dem Vater auf die Frauen, die Dame und die Mutter: Sie werden zur »bösen« Dritten, die die »Zwei-Einheit« von Vater und Sohn zerstören wollen. »Die Zwangsneurose des Mannes scheint einen Kampf um Leben und Tod zwischen homosexuellen und heterosexuellen Neigungen anzuzeigen, sobald der latente homosexuelle Zug ungewöhnlich stark und die aggressiven Tendenzen die zärtlichen überwiegen« (ebd., 614). Janine Chasseguet-Smirgel bestätigt in ihrer Stellungnahme die Sichtweise von Veszy-Wagner. Sie drückt den zentralen Konflikt des Rattenmanns so aus: »Schutz gegen den positiven Ödipuskomplex und daher ein Versuch, der Kastration zu entgehen, und Schutz gegen die Imago der prägenitalen Mutter« (Chasseguet-Smirgel 1967, 619). Als einen weiteren Beleg für diese Position eines »negativen Ödipus« beschreibt sie die aggressive Übertragung des Rattenmanns auf Freud. Sie vermutet in dieser Übertragung eine Abwehr homosexueller Wünsche in Bezug auf den Analytiker. Auch sein innerer Kampf gegen die Phantasie, Freuds Tochter zu heiraten, sei eine Abwehr gegen sein Begehren, »Freuds Penis anal zu besitzen« (ebd., 622). Eine ganze Reihe von Analytikern, die sich einer lacanschen Orientierung verpflichtet fühlen, legen den Fokus auf das Verhältnis des Zwangsneurotikers zum »Gesetz«. Roland Chemama etwa sieht den Rattenmann gefangen in einer ganzen Serie von Dilemmata: Soll er wie sein Vater das reiche junge Mädchen heiraten oder das arme Mädchen (die Dame)? Tat sein Vater Recht damit, die (reiche) Mutter zu heiraten – oder nicht? Liebt er jetzt die Tochter Freuds wegen ihres Geldes oder wegen ihrer schönen Augen? Muss oder kann er die Schuld seines Vater begleichen oder nicht? Wird er –
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nach der Prophezeiung seines Vater – nun ein großer Mann oder ein großer Verbrecher sein? – Abstrakt gesprochen: Das Leiden des Zwangskranken »ist nichts anderes als das Gesetz des Signifikanten, insofern dieses Gesetz … das Gesetz des ›entwederoder‹ ist« (Chemama 1980, 40). Freud sieht als Zentrum der Zwangsneurose ein unbewusstes Schuldgefühl. Chemama stimmt dem zu, bezieht dieses aber auf das problematische Verhältnis zum »Gesetz«: »[...]daß die wesentliche Forderung des Unbewußten in der Zwangsneurose die Unterwerfung unter das Gesetz ist. So erklärt sich im Fall des Rattenmanns die Verpflichtung, jemandem Geld zurückzugeben, der es gar nicht vorgestreckt hat, aus dem Umstand, daß diese Verpflichtung ausgesprochen wird vom Hauptmann, also dem Substitut des Vaters, womit sie unbewußt die Form eines väterlichen Befehls hat. Selbst wenn sie absurd ist, wie Freud sagt, so ›kann der Vater nicht irren‹, auch ›die Majestät kann nicht irren‹« (ebd., 46). – Weil der Vater des Rattenmanns sich schlecht als Repräsentant des Gesetzes eignet, sucht der Rattenmann ständig im Äußeren nach solchen Repräsentanten: in seinem Freund – und dann in Freud. »Wo das Gesetz fehlt, wird es von einer besonderen, in bezug auf das Gesetz sekundäre Regel ersetzt« (ebd., 47). Und diese »sekundäre« Regeln zeigen sich als die schrillen und absurden Gebote und Rituale, denen sich der Rattenmann unterworfen fühlt. Da, wie Chemama folgert, dem Zwangsneurotiker die Funktion des Ichideals als Ergebnis einer symbolischen Identifizierung fehlt, ist sein Überich von einem analsadistischen Modus bestimmt. Hermann Lang betont ebenfalls die tiefe Ambivalenz des Zwangsneurotikers gegenüber dem Gesetz. Er unterwirft sich der menschlichen Ordnung, gibt sich ihr gegenüber angepasst, ja devot, aber zugleich gehen seine Impulse dahin, diese Ordnung, von der er sich auch kastriert fühlt, zu subvertieren. Und diese Subversion gilt auch dem höchsten Gesetzgeber, der Religion: »Was die Repräsentanten angeht, so betrifft diese Rebellion auch den göttlichen Gesetzgeber selbst. Der Zwangsneurotiker ist der Gotteslästerer und phantasierende Frevler schlechthin« (Lang 1986, 961). Wir können dabei an die Szene denken, wo der Rattenmann in Bezug auf seine Geliebte zunächst beten muss »Gott schütze sie« – und dann meldet sich aus seinem Unbewussten ein »nicht« dazu. Deshalb bezeichnet Lang den Zwangsneurotiker als »gehemmten Rebell« (vgl. Lang 2015). – Dies hat wichtige Folgen für die Kur. So wird der Zwangskranke die analytische Grundregel »doppelt kodieren«, indem er »die psychoanalytische Grundregel des Mitteilens und freien Assoziierens quasi im Sinne von Beichtritualen zwanghaft befolgt, möglichst im Abstrakten, Intellektualisierenden bleibt, um Emotionen zu vermeiden« (ebd., 114). Weil der Zwangsneurotiker der »Rationalist schlechthin« ist, sind »Deutungsargumentationen«, wie sie Freud beim Rattenmann häufig gegeben hat, nach Ansicht von Lang grundsätzlich verfehlt. Der Zwanghafte wird Deutungen schnell in »Regeln« umwandeln, denen er sich einerseits unterwirft, gegen die er aber rebelliert. So spricht Freud bezüglich des Durcharbeitens der Übertragung von »ärgsten Beschimpfungen« von Seiten des Rattenmanns. »Es kam bald dazu, daß er mich und die Meinigen in Träumen, Tagesphantasien und Einfällen aufs gröblichste und unflätigste beschimpfte« (Freud 1909b, 429). So ist für Lang das Durcharbeiten der negativen Übertragung »der entscheidende kurative Faktor« (Lang 1986, 968). Raymond Borens geht in seiner Analyse des Rattenmanns in eine ähnliche Richtung, betont dabei aber die Funktion der Mutter. »Die Mutter des Zwangsneurotikers
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überbesetzt das Kind und setzt es quasi als Ersatz des Ehemannes ein. Aber eben nur als Ersatz, denn der Vater ist von der Mutter des Zwangsneurotikers durchaus anerkannt, wenn auch nicht ernst genommen. Dieser Ersatzcharakter ist der Grund dafür, dass das Kind von der Mutter im Wesentlichen in einer imaginären Dimension gehalten wird« (Borens 1996, 47). Diese Ambivalenz der Mutter dem Vater (und damit dem väterlichen Gesetz) gegenüber führe zu einem speziellen Verhältnis des Zwangsneurotikers zum Gesetz.20 Zum einen bewirkt dies eine Inflationierung des »Gesetzes«: Ständig müssen neue Regeln, Ge- und Verbote errichtet werden. Zum anderen verharrt der Zwangsneurotiker in einer Zweideutigkeit diesen Gesetzen gegenüber. Er ist gefangen im zermürbenden Entweder-Oder. So wird das Disjunktive der Aussage des Vaters »dieses Kind wird entweder ein großes Genie oder ein großer Verbrecher« zur Grundlage des in ihm wirkenden Wiederholungszwangs. Auch Peter Widmer beschreibt dieses spezielle Gefangensein des Zwangsneurotikers im Verhältnis zur Mutter: »Der Zwangsneurotiker ist eingebunden in den Diskurs der Mutter. Sie wollte ihn zugleich zum Manne machen und ihn an sich binden. Der Zwangsneurotiker ist gefangen im mütterlichen Begehren, das ihn idealisiert und zugleich infantilisiert« (Widmer 1996, 65). Und diese Form des Gebundenseins an die Mutter führt zu einem anderen Umgang mit dem Ödipus: »Er will heraus aus der ödipalen Situation. Um dies zu erreichen, schlägt er nicht den Kreuzweg der Rivalität mit dem Vater ein… sondern er bestreitet von vornherein die Rechte des Vaters gar nicht, ja, er setzt sich für ihn ein. Denn sein Vater ist ein entwerteter Vater… An die Stelle des entwerteten Vaters tritt eine imaginäre Figur… vielmehr hat er Anlass, das familiäre Szenario, in dem Schuld und Vatersehnsucht unausweichlich sind, zu fliehen« (ebd., 77f). Auch Julia Kristeva stellt die Mutterproblematik ins Zentrum ihrer Replik auf den Rattenmann. Sie bezieht sich auf zwei seiner Träume. Den ersten gibt Freud so wieder: »Ihre Mutter (d.h. Freuds Mutter; Erg. von mir) ist gestorben.« Er will Freud kondolieren, fürchtet aber, dass er dabei in ein »impertinentes Lachen« ausbrechen könnte. Freud übergeht die offenkundige negative Übertragung und deutet den Traum so: Es sei kein Todeswunsch, auch kein Mord, sondern »sie ist gestorben« bedeute, dass sie (wer jetzt?) bereits ein Kadaver ist, sie existiert nicht mehr. Laut den Originalnotizen bringt der Rattenmann in die nächste Stunde einen weiteren Traum, diesmal »Meine Mutter ist gestorben« (Freud 1907/08, 544). Freud deutet diesmal seine Aggression gegen die Mutter: »Haben Sie nie daran gedacht, daß Sie durch den Tod der Mutter aus allen Konflikten kämen, da Sie heiraten könnten« (ebd.)? – Die folgende Sitzung bringt einen weiteren Traum: »Meine Mutter steht verzweifelt dabei, wie alle ihre Kinder erhängt sind« (ebd., 545). Freud deutet den aggressiven Wunsch des Rattenmanns, ihn, seinen Analytiker, aufzuhängen! – Kristeva liest diese Traumserie anders. Sie geht davon aus, dass sich im Inneren des Rattenmanns eine »tote Mutter« befindet und führt diesen Gedanken so weiter: »Als habe der Zwangsneurotiker zwei Sprachen: die eine ein geheimes, nicht verbales ›Sprechen‹, als Grab oder Schirm vor der Erfüllung, die das frühe 20
Das hat auch Freud schon bemerkt, so in seinen Vorlesungen: »Zwangsneurotiker verstehen es ausgezeichnet, die technische Regel fast unbrauchbar zu machen, dadurch, daß sie ihre Übergewissenhaftigkeit und ihren Zweifel auf sie einstellen« (Freud 1916/17, 287).
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Verlangen gegenüber einer Mutter erfahren hatte, die umso gefälliger war, je mehr ihre Bedürfnisse als Frau unerfüllt geblieben waren; die andere ein neutralisiertes, ›totes‹ Sprechen und Denken, zwar von den Ketten dieses gierigen Verlangens befreit, doch gerade deshalb affektlos, redundant, reversibel, zweifelnd, unkreativ« (Kristeva 1994, 64).21 Stellen wir ans Ende dieser Kommentare ein Resümee von Roudinesco und Plon: »Der Fall des Rattenmannes galt als die einzige gänzlich gelungene Therapie Freuds, was gewiss kein Zufall ist – war Freud doch der Erfinder des Begriffs Zwangsneurose, hatte sich selbst in einem Brief an C.G.Jung als Prototyp des Zwangsneurotikers beschrieben und von diesem Neurosentyp als dem interessantesten und fruchtbarsten der psychoanalytischen Forschung gesprochen« (Roudinesco&Plon 2004, 616).
Der Fall Schreber – Freuds Zugang zur Psychose Daniel Paul Schreber (1842-1911) stammte aus einer berühmten deutschen Familie des protestantischen Bürgertums, die aus Juristen, Ärzten und Pädagogen bestand. Sein Vater, Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808-1861), hatte sich durch die Erfindung extrem rigider Erziehungstheorien, basierend auf Hygiene, Gymnastik und Orthopädie, einen Namen gemacht. In seinen Büchern propagierte er die Schaffung eines neuen Menschen, um die Missbildungen der Natur und den gesellschaftlichen Verfall zu kompensieren: ein reiner Geist in einem gesunden Körper. Auch das soziale Projekt des Schreber-Gartens ging auf ihn zurück. Drei Jahre nach einem Unfall, bei dem eine Leiter seinen Kopf schwer verletzte, starb er 1861 an Darmverschluss. Schrebers um drei Jahre älterer Bruder beging 38-jährig 1877 Selbstmord. Zudem hatte er drei Schwestern. Schreber war Jurist. 1878 heiratete er die um fünfzehn Jahre jüngere Sabine, die in der Folge sechs Fehlgeburten hatte. 1884 erlitt er bei der Reichstagswahl eine Niederlage, im November dieses Jahres kontaktierte er erstmals Dr. Flechsig, den Leiter der psychiatrischen Ambulanz der Universitätsklinik Leipzig. Diese Krise dauerte sechs Monate und wurde als schwere Hypochondrie diagnostiziert. Flechsig war übrigens Hirnphysiologe und erachtete psychiatrische Krankheiten prinzipiell als organisch bedingt. Während dieses Aufenthalts machte Schreber zwei Selbstmordversuche. – 1893 wird Schreber Senatspräsident am Oberlandesgericht in Dresden. Und bald folgt die zweite Krise, die bis 1902 dauert und als Paranoia diagnostiziert wird. Von 1894 bis 1902 ist er im Sanatorium Sonnenstein in Pirna hospitalisiert und wurde 1900 entmündigt. Mittels seiner Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, die er 1903 publizierte, gelang es ihm, diese Entmündigung aufzuheben und 1902 die Anstalt 21
Melitta Fischer-Kern und Marianne Springer-Kremser, die von einem ganz anderen theoretischen Zugang kommen, stellen ebenfalls die Mutterproblematik des Rattenmanns ins Zentrum. Ihre Grundannahme bezüglich der Abwehrformen des Zwangs ist, dass diese bei ödipalen, präödipalen und psychotischen Störungen auftreten können. Beim Rattenmann handle es sich um eine präödipale Störung, die aus dessen Mutterbeziehung resultiere: Der ödipale Konflikt mit dem Vater sei nur die Oberfläche, unter der sich ein Konflikt mit der »präödipalen ›phallischen‹ Mutter« verbirgt« (Fischer-Kern, M., Springer-Kremser, M. 2008, 387). Dies zeige sich in den Originalnotizen Freuds viel deutlicher als in seinem Text von 1909.
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Verlangen gegenüber einer Mutter erfahren hatte, die umso gefälliger war, je mehr ihre Bedürfnisse als Frau unerfüllt geblieben waren; die andere ein neutralisiertes, ›totes‹ Sprechen und Denken, zwar von den Ketten dieses gierigen Verlangens befreit, doch gerade deshalb affektlos, redundant, reversibel, zweifelnd, unkreativ« (Kristeva 1994, 64).21 Stellen wir ans Ende dieser Kommentare ein Resümee von Roudinesco und Plon: »Der Fall des Rattenmannes galt als die einzige gänzlich gelungene Therapie Freuds, was gewiss kein Zufall ist – war Freud doch der Erfinder des Begriffs Zwangsneurose, hatte sich selbst in einem Brief an C.G.Jung als Prototyp des Zwangsneurotikers beschrieben und von diesem Neurosentyp als dem interessantesten und fruchtbarsten der psychoanalytischen Forschung gesprochen« (Roudinesco&Plon 2004, 616).
Der Fall Schreber – Freuds Zugang zur Psychose Daniel Paul Schreber (1842-1911) stammte aus einer berühmten deutschen Familie des protestantischen Bürgertums, die aus Juristen, Ärzten und Pädagogen bestand. Sein Vater, Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808-1861), hatte sich durch die Erfindung extrem rigider Erziehungstheorien, basierend auf Hygiene, Gymnastik und Orthopädie, einen Namen gemacht. In seinen Büchern propagierte er die Schaffung eines neuen Menschen, um die Missbildungen der Natur und den gesellschaftlichen Verfall zu kompensieren: ein reiner Geist in einem gesunden Körper. Auch das soziale Projekt des Schreber-Gartens ging auf ihn zurück. Drei Jahre nach einem Unfall, bei dem eine Leiter seinen Kopf schwer verletzte, starb er 1861 an Darmverschluss. Schrebers um drei Jahre älterer Bruder beging 38-jährig 1877 Selbstmord. Zudem hatte er drei Schwestern. Schreber war Jurist. 1878 heiratete er die um fünfzehn Jahre jüngere Sabine, die in der Folge sechs Fehlgeburten hatte. 1884 erlitt er bei der Reichstagswahl eine Niederlage, im November dieses Jahres kontaktierte er erstmals Dr. Flechsig, den Leiter der psychiatrischen Ambulanz der Universitätsklinik Leipzig. Diese Krise dauerte sechs Monate und wurde als schwere Hypochondrie diagnostiziert. Flechsig war übrigens Hirnphysiologe und erachtete psychiatrische Krankheiten prinzipiell als organisch bedingt. Während dieses Aufenthalts machte Schreber zwei Selbstmordversuche. – 1893 wird Schreber Senatspräsident am Oberlandesgericht in Dresden. Und bald folgt die zweite Krise, die bis 1902 dauert und als Paranoia diagnostiziert wird. Von 1894 bis 1902 ist er im Sanatorium Sonnenstein in Pirna hospitalisiert und wurde 1900 entmündigt. Mittels seiner Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, die er 1903 publizierte, gelang es ihm, diese Entmündigung aufzuheben und 1902 die Anstalt 21
Melitta Fischer-Kern und Marianne Springer-Kremser, die von einem ganz anderen theoretischen Zugang kommen, stellen ebenfalls die Mutterproblematik des Rattenmanns ins Zentrum. Ihre Grundannahme bezüglich der Abwehrformen des Zwangs ist, dass diese bei ödipalen, präödipalen und psychotischen Störungen auftreten können. Beim Rattenmann handle es sich um eine präödipale Störung, die aus dessen Mutterbeziehung resultiere: Der ödipale Konflikt mit dem Vater sei nur die Oberfläche, unter der sich ein Konflikt mit der »präödipalen ›phallischen‹ Mutter« verbirgt« (Fischer-Kern, M., Springer-Kremser, M. 2008, 387). Dies zeige sich in den Originalnotizen Freuds viel deutlicher als in seinem Text von 1909.
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zu verlassen. Er arbeitete die nächsten Jahre wieder als Rechtsanwalt. 1907 starb seine 92-jährige Mutter, wenige Monate später erlitt seine Frau einen Schlaganfall. Im November 1907 wurde Schreber erneut in die Nervenklinik Leipzig-Dösen eingewiesen, wo er am 14.4.1911 im Alter von 68 Jahren starb. Seine Diagnose bei diesem dritten Aufenthalt lautete erneut auf Paranoia.
Schrebers »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« Der Autor begründet diese Veröffentlichung zum einen damit, dass es »für die Wissenschaft und für die Erkenntniß religiöser Wahrheiten von Werth« wäre (Schreber 2003, V), andererseits betreibt er damit auch seine erfolgreiche Anfechtung seiner Entmündigung. Schrebers Text kann so zusammengefasst werden: Er handelt vom Wahnsystem eines von Gott verfolgten Menschen. Er hielt das Weltende für nahe, das er als einziger überleben würde, inmitten einer Welt aus Pflegern und Kranken, die er als »flüchtig hingemachte Männer« bezeichnete. Gott sprach zu ihm in der »Grundsprache« (der Sprache der Nerven), hatte ihn mit einer Rettungsmission betraut, was bedeutete, dass Schreber sich in eine Frau zu verwandeln hatte und mit Gott eine neue Rasse gründen sollte. Er wurde ständig mit Strahlen erneuert, die ihn unsterblich machten, wurde von »gewunderten Vögeln« verfolgt, mit »Leichengift« gefüllt. In Erwartung seiner Verwandlung in eine Frau und der anschließenden Schwängerung durch Gott »brülle« er zur Sonne, um sich dem »Komplott« Flechsigs entgegenzustellen, den er einen »Seelenmörder« nennt, da dieser ihn sexuell missbrauche und anschließend der Verwesung anheim gegeben habe.22 Schreber selbst erklärt seine Wandlung in diesen Jahren so: »Nach der Genesung von meiner ersten Krankheit habe ich acht, im Ganzen recht glückliche, auch an äußeren Ehren reiche und nur durch die mehrmalige Vereitelung der Hoffnung auf Kindersegen getrübte Jahre mit meiner Frau verlebt. Im Juni 1893 wurde mir … die Nachricht von meiner bevorstehenden Ernennung zum Senatspräsident beim Oberlandesgericht Dresden zu Theil. In diese Zeit fallen einige Träume, denen ich damals keine besondere Beachtung geschenkt habe… Es träumte mir einige Male, daß meine frühere Nervenkrankheit wieder zurückgekehrt sei… Ferner hatte ich einmal gegen Morgen noch im Bette liegend… eine Empfindung… Es war die Vorstellung, daß es doch eigentlich recht schön sein müsse, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege« (Schreber 2003, 26). Als Schreber am 1. Oktober 1893 sein neues Amt antrat, erlebte er bald größere Schwierigkeiten. Er sprach davon, daß er sich »geistig übernommen« hatte. Er konnte nicht mehr schlafen, hörte »störende Geräusche in der Wand unseres Schlafzimmers«. Sein Arzt riet ihm, Urlaub zu nehmen, den Schreber und seine Frau zu einer Konsultation bei Dr. Flechsig nutzten. »Es folgte eine längere Unterredung, bei welcher Prof.
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Der Ausdruck »Seelenmord« findet sich im »Kaspar Hauser« von Anselm von Feuerbach aus dem Jahre 1832 und in einem Essay von August Strindberg. Dieser verwendete den Begriff in seinem Essay über Ibsens Rosmersholm, der 1887 erschien. Strindberg bzw. Ibsen waren vor Schrebers zweiten Klinikaufenthalt ab 1893 in Deutschland wohl bekannt.
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Flechsig ... eine hervorragende Beredtsamkeit entwickelte, die nicht ohne tiefere Wirkung auf mich blieb« (ebd., 28). Die folgende Nacht verbrachte Schreber in der Wohnung seiner Mutter in Leipzig. Dort versuchte er Selbstmord zu begehen, woran ihn seine Frau hinderte. Am nächsten Tag ließ er sich in die Klinik Flechsigs einweisen. Nach einer schweren Zeit besserte sich sein Zustand, bis am 15. Feber 1894 seine Frau, die bis dahin täglich einige Stunden bei ihm war, für vier Tage für einen Besuch ihres Vaters nach Berlin reiste. In der folgenden Nacht stellte Schreber gravierende Veränderungen fest, »daß ich in ihr nicht mehr ein lebendes Wesen, sondern nur eine hingewunderte Menschengestalt nach Art der ›flüchtig hingemachten Männer‹ zu erblicken glaubte… Von nun an traten die ersten Anzeichen des Verkehrs mit übersinnlichen Kräften auf …. Von dieser Zeit ab gewann ich den Eindruck, daß Professor Flechsig nichts Gutes mit mir im Schilde führte« (ebd., 32). Schreber kam zur Überzeugung, dass eine Weltkatastrophe bevorstünde. »In diesen wundervollen Aufbau ist nun in neuerer Zeit ein Riß gekommen, der mit meinem persönlichen Schicksal aufs engste verknüpft ist« (ebd., 16). Die »Gottesnerven« bewirkten dabei eine »hochgesteigerte Wollustempfindung« mit dem Ziel eines »anscheinend der Weltordnung zugrunde liegenden Plans im Falle von Weltkatastrophen … eine Erneuerung des Menschengeschlechts zu ermöglichen« (ebd., 38). Er fühlte sich von bestimmten Personen beeinflusst, besonders von dem »Seelenmörder« Flechsig und seinen Assistenten.23 Es wurde davon »gesprochen«, dass sein Körper den Anstaltswärtern zu »geschlechtlichem Mißbrauch überlassen und dann einfach liegen gelassen« werde (ebd., 41). Schreber setzte den »Seelenmord« mit der Zerstörung seines Verstandes und mit »Kastration« gleich. Gegen dieses »Vorhaben« »bäumte sich mein ganzes männliches Ehr- und Selbstgefühl auf«, sodass Schreber beschloss, »durch den Hungertod meinem Leben ein Ende zu bereiten.« Daraufhin wurde das von ihm so bezeichnete »Fütterungssystem« eingerichtet (ebd., 42). Andererseits spricht Schreber Gott und sich selbst von jeder Schuld frei: Es handle sich eben um ein »Verhängnis, bei welchem weder auf Seite Gottes noch auf meiner Seite von sittlicher Verschuldung die Rede sein kann« (ebd., 45). Schreber nennt die Sprache, in welcher Gott zu ihm sprach, »Grundsprache«. Als gebildeter Mann kannte Schreber die philosophischen Begriffe in Bezug auf Gott, der ja als »Grund allen Seins«, als »Grund« bezeichnet wurde und wird. So ist diese Bezeichnung »Grundsprache« nur logisch konsequent. In diesen »Reden« Gottes wird dieser auch als »Abraham FürchteGott« und als »Daniel FürchteGott« bezeichnet, womit die Vornamen von Vater und Großvater angesprochen werden. In der Folge durchlebt Schreber konkrete Visionen vom Weltuntergang, er »fuhr gleichsam in einem Eisenbahnwagen oder einem Fahrstuhl sitzend, in die Tiefen der Erde hinab«, sodass er einige Jahre lang, wie er schreibt, »in dem Zweifel gelebt habe, ob ich mich wirklich auf der Erde oder nicht vielmehr auf irgend einem anderen Weltkörper befinde« (ebd., 55). In seinem Körper finden weitere Veränderungen statt, »eingepflanzte Nerven gehen darin auf, in welchem sie dann den Charakter weiblicher Wollustnerven angenommen« hatten (ebd., 64). Auch sein Schlaf ändert sich: »Mein Schlaf war Strahlenschlaf geworden« und an seinem »Geschlechtstheile« wurden »im 23
»Seelenmord« – so Schrebers Erklärung – ist die »Auslieferung einer Seele an einen Anderen« (ebd., 16).
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Laufe der Zeit allerhand Krankheitssymptome völlig ungewöhnlicher Art bemerkbar… Immer war hierbei die Vorstellung maßgebend, mich ›liegen‹ zu lassen, d.h. zu verlassen, was man in der Zeit, von der ich jetzt handele, durch Entmannung und Preisgebung meines Körpers als den einer weiblichen Dirne, ab und zu wohl auch durch Tödtung und später durch Zerstörung meines Verstandes (Blödsinnigmachen) erreichen zu können glaubte« (ebd., 66, 68). Schreber befindet sich in einem letztlich vergeblichen Kampf mit den »Gottsstrahlen«: »Gottesstrahlen glaubten mich nicht selten mit Rücksicht auf die angeblich bevorstehende Entmannung als ›Miß Schreber‹ verhöhnen zu dürfen« (ebd., 93). »Die bereits massenhaft in meinen Körper eingedrungenen weiblichen oder Wollustnerven konnten daher … irgend einen Einfluß auf mein Verhalten und meine Sinnesart nicht gewinnen. Ich unterdrückte jede Regung derselben durch Aufbietung meines männlichen Ehrgefühls und zugleich durch die Heiligkeit der religiösen Vorstellungen… Auf der anderen Seite konnte meine Willenskraft nicht verhindern, dass in meinem Körper namentlich beim Liegen im Bette ein Wollustgefühl Platz griff, welches als sog. ›Seelenwollust‹…, d.h. eine Wolllust, die den Seelen genügt, von Menschen aber ohne eigentliche geschlechtliche Regung nur als allgemeines körperliches Wohlbehagen empfunden wird – eine erhöhte Anziehungskraft auf die Strahlen ausübte« (ebd., 94). Schreber denkt in dieser Phase immer wieder an Selbstmord. Aber dann wird ihm bewusst, dass die »Weltordnung« die »Entmannung, mochte sie mir persönlich zusagen oder nicht, gebieterisch verlange und daß mir daher aus Vernunftgründen gar nichts Anderes übrig bleibe, als mich mit dem Gedanken der Verwandlung in ein Weib zu befreunden. Als weitere Folge der Entmannung konnte natürlich nur eine Befruchtung durch göttliche Strahlen zum Zwecke der Erschaffung neuer Menschen in Betracht kommen« (ebd., 129). Anfang 1896 revidiert Schreber seine Auffassungen über die »flüchtig hingemachten Männer«. Er hatte in der Überzeugung Jahre verbracht, dass die Menschheit in der bisherigen Zahl und Form nicht mehr existiere. Nun nimmt er allmählich zur Kenntnis, dass dem nicht so ist. Daraus ergibt sich für ihn das Problem »wie ich diese Thatsache mit meinen früheren, scheinbar auf das Gegentheil hinweisenden Wahrnehmungen vereinigen sollte… Ganz unzweifelhaft ist mir, dass meine früheren Vorstellungen nicht etwa bloße ›Wahnideen‹ und ›Sinnestäuschungen‹ gewesen sind« (ebd., 148). Nach wie vor empfängt Schreber täglich »Eindrücke, welche mir völlige Klarheit darüber geben, dass, um mit Hamlet zu reden, irgend etwas faul ist im Staate Dänemark.« Immer noch ist er überzeugt, dass »alles, was von Menschen in meiner Nähe besprochen und gethan wird, auf Wunderwirkung beruht und in unmittelbaren Zusammenhang mit der Annäherung der Strahlen … steht« (ebd., 149). Schreber beginnt jetzt, seinen »Egozentrismus«, also die größenwahnsinnige Vorstellung, dass durch ihn die Welt gerettet wurde, zu rechtfertigen. Er verwendet dazu eine ganz gefinkelte Argumentation: »[...] dass Alles, was geschieht, auf mich bezogen wird« (ebd., 192). Schreber erläutert, dass »normale« Menschen jetzt »an eine krankhafte Einbildung auf meiner Seite denken« könnten, »eine bei Geisteskranken häufig vorkommende Erscheinung. In Wirklichkeit liegt jedoch in meinem Falle die Sache gerade umgekehrt. Nachdem Gott zu mir in ausschließlichen Nervenanhang getreten ist, bin ich für Gott in gewissem Sinn der Mensch schlechthin oder der einzige Mensch
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geworden, um den sich Alles dreht … Diese durchaus verkehrte Auffassung … tritt bei jeder Gelegenheit und bei den verschiedensten Anlässen für mich zu Tage« (ebd.). Dann kommt Schreber dazu, seine Absicht zu erläutern, dass er »etwa seit Jahresfrist den Entschluss in sich zur Reife gebracht hat, für eine absehbare Zukunft meine Entlassung aus der hiesigen Anstalt zu betreiben. Ich gehöre eben unter gebildete Menschen, nicht unter Verrückte. Ich bin zwar nervenkrank, leide aber keinesfalls an einer Geisteskrankheit« (ebd., 196). – Auch wenn Schreber zuversichtlich ist, dass er bald eine »gewisse Verbesserung meiner äußeren Lebenslage« erreichen wird, fragt er sich doch, ob das schon ein »Ersatz« dafür sein kann, »was ich in den letzten sieben Jahren gelitten und entbehrt habe.« Und er kommt zur »Empfindung, dass mir in meinem künftigen Leben noch irgend eine große und glänzende Genugthuung bevorstehen müsse – nicht von Menschen bereitet, sondern gewissermaßen durch die innere Nothwendigkeit der Verhältnisse von selbst herbeigeführt« (ebd., 213f). – »In diesem Ton megalomaner Grandiosität endet Schrebers autobiographischer Bericht« (Niederland 1978, 41).
Freuds »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia« Als Freud auf den Text von Schreber stieß, hatte er sich schon länger mit der Paranoia befasst. Schon im Feber 1908 schrieb er an Sandor Ferenczi, er habe gerade eine Patientin »mit ausgewachsener Paranoia« gesehen. Sie sei zwar »wahrscheinlich jenseits der Grenze therapeutischer Beeinflussung«, aber er nahm sie trotzdem in Behandlung: »Man kann jedenfalls von ihr lernen« (Freud&Ferenczi, S. 1993, 53). Im Herbst 1910 teilt er Karl Abraham mit, dass er »in dickster Arbeit« und »etwas tiefer in die Paranoia eingedrungen auf dem Weg, den Sie betreten haben« (Freud&Abraham 1965, 101). Freud nahm die Denkwürdigkeiten des »wunderbaren Schreber« im Sommer 1910 mit in seinen Urlaub nach Italien. Er arbeitete daran in Rom und später in Wien.24 Freud analysiert diesen Fall, offenkundig von Schrebers außergewöhnlicher Sprache fasziniert, um gegen Eugen Bleuler und C. G. Jung die Berechtigung seiner eigenen Psychosentheorie zu behaupten. Er versteht Schrebers Gottesanschreiungen als Ausdruck einer Revolte gegen seinen Vater und vermutet als Quelle seines Wahns verdrängte Homosexualität. Der Hauptmechanismus der Paranoia bestehe in der Verkehrung von Liebe in Hass. – Freud lässt Schreber zunächst sich selbst vorstellen. »Ich bin zweimal nervenkrank gewesen, beide Male infolge von geistiger Überanstrengung; das erstemal (als Landesgerichtsdirektor in Chemnitz) aus Anlaß einer Reichstagskandidatur, das zweitemal aus Anlaß der ungewöhnlichen Arbeitslast, die ich beim Antritt des mir neu übertragenen Amtes eines Senatspräsidenten beim Oberlandesgericht Dresden vorfand« (Schreber 2003, 25). Und Freud erwähnt auch Schrebers »glücklichen Jahre« vor seiner zweiten Krise: Diesen merkwürdigen »Zustand zwischen Wachen und Schlafen«, in dem Schreber die
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Interessant der diesbezügliche Kommentar von Peter Gay: »Freuds geradezu manische Beschäftigung mit Schreber deutet auf ein verborgenes Interesse hin, das ihn vorwärts trieb: Fließ…. Schreber studieren hieß sich an Fließ erinnern, aber sich an Fließ erinnern heißt auch Schreber verstehen. Waren nicht beide, dachte Freud, Opfer der Paranoia« (Gay 1989, 316f)?
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Vorstellung hat, »daß es doch eigentlich recht schön sein müsse, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege« (ebd., 26). Dann schildert Freud den Ausbruch der zweiten Erkrankung im Oktober 1893. Das Gutachten (diesmal von Dr. Weber, Direktor der Anstalt Sonnenstein, wohin Schreber bald verlegt wurde) spricht von hypochondrischen Ideen, Verfolgungsideen, Gesichtsund Gehörtäuschungen. Schreber hielt sich laut Gutachten für tot, angefault, pestkrank, unternahm mehrere Selbstmordversuche und seine Wahnideen nahmen den Charakter des Mystischen und Religiösen an: Er hatte die Vorstellung, direkt mit Gott zu verkehren und nannte nun Flechsig, den er bislang sehr verehrt hatte, seinen »Seelenmörder«. Im weiteren Gutachten spricht Dr. Weber von einer Psychose, von halluzinatorischem Wahnsinn, von einem paranoischen Krankheitsbild. Im späteren Gutachten von 1899 anerkennt Dr. Weber, dass Schreber nun weder verwirrt noch psychisch gehemmt noch in seiner Intelligenz merklich beeinträchtigt sei. Trotzdem sei er nach wie vor von seinen krankheitshalber bedingten Vorstellungen erfüllt und deshalb war Dr. Weber gegen eine Entlassung, die Schreber aber anstrebte. – Freud zitiert ferner, wie im Gutachten der Kern von Schrebers Wahnsystems beschrieben wird: »Er halte sich für berufen, die Welt zu erlösen und ihr die verloren gegangene Seligkeit wiederzubringen. Das könne er aber nur, wenn er sich zuvor aus einem Manne zu einem Weibe gewandelt habe« (Schreber 2003, 278). – Freud dreht diese Reihung um: »Wir erfahren, daß die Verwandlung in ein Weib (Entmannung) der primäre Wahn war… und daß sie erst sekundär im Beziehung zur Erlöserrolle trat.« (Freud 1911b, 251).25 Schreber schrieb diesbezüglich von einem »Komplott«. Später wird Gott zunächst zum »Mitwisser« dieser Vorgänge, dann zum »Anstifter«. – Aber Schreber geht zu seinem eigenen Erstaunen aus diesem »anscheinend so ungleichen Kampf eines einzelnen schwachen Menschen mit Gott selbst, wennschon nach manchen bitteren Leiden und Entbehrungen« um seine Entmannung, diese »Verübung eines Seelenmords«, als Sieger hervor, »weil die Weltordnung auf meiner Seite steht« (Schreber 2003, 45). Freud stellt fest, das sich Schrebers Verhältnis zur Erotik in diesen Jahren seines Wahns verändert hat: »Er war zur Einsicht gekommen, daß die Pflege der Wollust eine Pflicht für ihn sei… die Wollust war, wie ihm die Stimmen versicherten, ›gottesfürchtig‹ geworden« (Freud 1911b, 265). Sein »Sexualgenießen« hatte, wie Freud anmerkt, einen »ganz ungewöhnlichen Charakter« angenommen: »Es war nicht mehr männliche Sexualfreiheit, sondern weibliches Sexualgefühl, er stellte sich feminin gegen Gott ein, fühlte sich als Gottes Weib« (ebd.). An dieser Stelle bemerkt Freud, dass sich letztlich in seinem Wahn der frühe Traum (»es müsse eigentlich schön sein«) in »Realität« verwandelt habe: »Auf der andern Seite verlangt Gott ein den weltordnungsgemäßen Daseinsbedingungen der Seelen entsprechendes beständiges Genießen; es ist meine Aufgabe, ihm dasselbe … in der Form ausgiebigster Entwicklung der Seelenwollust zu bieten« (Schreber 2003, 234). Nun kommt Freud zur Deutung des Krankheitsbildes: Er betont zunächst, dass sich Schrebers Haltung zu seinem behandelnden Arzt Dr. Flechsig ins Gegenteil verkehrt habe. War dieser zunächst hoch verehrt, so gilt er ihm jetzt in seiner akuten Erkrankung
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Wir werden diese Umkehr an späterer Stelle noch diskutieren; verbirgt sich darin doch Freuds Verständnis der Genese eines Wahnsystems.
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als Urheber aller Verfolgungen, die er erdulden muss. Die Untat Flechsigs ist der »Seelenmord«. Freud behauptet nun, dass die »feminine Einstellung« von Anfang an dem Arzt galt. Sie gipfelt in der Angst, dass »der Kranke einen sexuellen Mißbrauch von seiten des Arztes selbst befürchtete« (Freud 1911b, 277). Freud erblickt hier den »Vorstoß homosexueller Libido« und sieht dies als »Veranlassung der Erkrankung« (ebd., 278). Zum Ausbruch kam dieser »Nervensturz« in den ersten Wochen in der Anstalt, als seine Frau für mehrere Tage abwesend war. »Wir verstehen es wohl, daß bloß von der Anwesenheit der Frau schützende Einflüsse gegen die Anziehung der ihn umgebenden Männer ausgingen« (ebd., 281). Zudem betont Freud, dass Schreber zum Zeitpunkt dieser zweiten Krise einundfünfzig Jahre alt war und sich im männlichen »Klimakterium« befand (ebd.). Wie erklärt sich Freud nun diese heftige Übertragung auf Flechsig? »Die Sympathieempfindung für den Arzt kann leicht einem ›Übertragungsvorgang‹ entstammen. Konkreter gesprochen, der Kranke ist durch den Arzt an das Wesen des Bruders oder seines Vaters erinnert worden« (ebd., 282). Sein innerer Widerstand gegen den homosexuellen Schub wählte »aus uns unbekannten Gründen die Form eines Verfolgungswahnes. Der Ersehnte wurde jetzt zum Verfolger« (ebd., 283). Die weitere Verschiebung dieser Übertragungen von Flechsig auf Gott hat, so Freud, einen entscheidenden Vorteil: »Wenn es unmöglich war, sich mit der Rolle der weiblichen Dirne gegen den Arzt zu befreunden, so stößt die Aufgabe, Gott selbst die Wollust zu bieten, nicht auf den gleichen Widerstand des Ich… Somit ist ein Ausweg gefunden, der beide streitenden Teile befriedigt. Das Ich ist durch den Größenwahn entschädigt, die feminine Wunschphantasie aber ist durchgedrungen, akzeptabel geworden« (ebd.). Die Haltung Schrebers gegenüber Gott ist so wie gegen Flechsig eine zutiefst ambivalente: »Es war die merkwürdigste Vermengung von blasphemischer Kritik und rebellischer Auflehnung mit verehrungsvoller Ergebenheit« (ebd., 286). – Jetzt kommt Freud auf Schrebers Vater zu sprechen. Dieser war »kein unbedeutender Mann«: »Ein solcher Vater war gewiß nicht ungeeignet dazu, in der zärtlichen Erinnerung des Sohnes, dem er so früh durch den Tod entzogen wurde, zum Gotte verklärt zu werden… Die infantile Einstellung des Knaben zu seinem Vater ist uns genau bekannt; sie enthält die nämliche Vereinigung von verehrungsvoller Unterwerfung und rebellischer Auflehnung, die wir im Verhältnisse Schrebers zu seinem Gott gefunden haben… Wir befinden uns also auch im Falle Schreber auf dem wohlvertrauten Boden des Vaterkomplexes« (ebd., 287, 291). Als Ausdruck dieses »Komplexes« sieht Freud das Phantasma Schrebers, sich in eine Frau zu verwandeln. »Die gefürchtetste Drohung des Vaters, die der Kastration, hat der zuerst bekämpften und dann akzeptierten Wunschphantasie der Verwandlung in ein Weib geradezu den Stoff geliehen« (ebd.,292). Diese feminine Wunschphantasie bringt Freud aber auch mit einer »Versagung, einer Entbehrung im realen Leben« in Zusammenhang (ebd., 293). Er verweist auf die Kinderlosigkeit Schrebers, der sich offenkundig Kinder gewünscht hatte. »Dr. Schreber mochte die Phantasie gebildet haben, wenn er ein Weib wäre, würde er das Kinderbekommen besser treffen« (ebd., 294). Dann geht es Freud darum, den paranoischen Mechanismus zu erhellen: »Wir würden sagen, der paranoische Charakter liegt darin, daß zur Abwehr einer homosexuellen Wunschphantasie gerade mit einem Verfolgungswahn von solcher Art reagiert.wird«
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(ebd., 295). Hier haben wir also die erste Erklärung der Genese einer Paranoia: Am Anfang steht der homosexuelle Wunsch, der durch die Vorstellung eines Verfolgers nach außen projiziert wird. – Dann kommt Freud zu seiner in Entstehung begriffenen Theorie des Narzissmus: Er formuliert seine (dann in Zur Einführung des Narzißmus weiter entwickelte) Auffassung, wonach er für die »Entwicklungsgeschichte der Libido« einen Dreischritt annimmt: Vom Autoerotismus über den Narzissmus zur Objektliebe (vgl. ebd.,297). Und bei der Paranoia komme es zu einer Regression auf die Entwicklungsstufe des Narzissmus. Den paranoischen Mechanismus konstruiert Freud so: Wenn am Anfang eine homosexuelle Wunschphantasie im Unbewussten vorhanden ist (als Satz: Ich liebe ihn), dann ist die erste Abwehrmaßnahme der Verfolgungswahn (als Satz: Ich liebe ihn nicht, ich hasse ihn ja); und dieser Satz wird durch »Projektion« zu: Er hasst mich. – Der für die Symptombildung entscheidende Abwehrmechanismus der Paranoia ist demnach die Projektion: »Die Entstellung besteht beim Verfolgungswahn in einer Affektverwandlung; was als Liebe innen hätte gespürt werden sollen, wird als Haß von außen wahrgenommen« (ebd., 303). Am Höhepunkt von Schrebers Wahn führt diese Projektion zur Vorstellung einer Weltkatastrophe: »Der Weltuntergang ist die Projektion der innerlichen Katastrophe; seine subjektive Welt ist untergegangen, seitdem er ihr seine Liebe entzogen hat« (ebd., 307). Ein anderer wichtiger Gedanke, um die Psychodynamik dieser Art der Psychose zu verstehen, ist der folgende: »Was wir für die Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung, ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion« (ebd., 308). Was Freud schon für die Neurose formuliert hat, gilt also auch für die Psychose: Das Wahnsystem (wie dort das neurotische Symptom) ist ein (gescheiterter) Selbstheilungsversuch. Freud fragt sich weiter: Wenn die Libido sich vom Objekt zurückzieht, was ist dann ihr weiteres »Schicksal«? Sie führt zum Größenwahn: »Daraus wollen wir schließen, daß die frei gewordene Libido bei der Paranoia zum Ich geschlagen, zur Ichvergrößerung verwendet wird« (ebd., 309). Und dies ist nichts anderes als das Resultat einer Regression auf das Stadium des Narzissmus: »Dieser klinischen Aussage wegen nehmen wir an, daß die Paranoischen eine Fixierung im Narzißmus mitgebracht haben, und sprechen wir aus, daß der Rückschritt von der sublimierten Homosexualität bis zum Narzißmus den Beitrag der für die Paranoia charakteristischen Regression angibt« (ebd., 309f).
Freuds Verständnis der Paranoia bzw. der Psychose Freud bezeichnete ab 1893 mit Neurosen Erkrankungen, deren Symptome Ausdruck eines verdrängten seelischen Konflikts sind. Seit 1894 übernahm er von den Psychiatern auch den Begriff Psychose, um damit die unbewusste Konstruktion einer wahnhaften Realität zu bezeichnen. Obwohl Freud die Psychotiker für narzisstisch strukturiert und daher für nicht übertragungsfähig und folglich als nicht mit Psychoanalyse behandelbar erachtete, bemühte er sich über viele Jahrzehnte hinweg um ein theoretisches Verständnis der psychotischen Struktur. – Schon in Freuds Text über Die Abwehr-Neuropsychosen taucht mit dem Begriff der Verwerfung ein erster Hinweis auf eine andere Form der
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Abwehr auf: »Es gibt nun eine weit energischere und erfolgreichere Art der Abwehr, die darin besteht, daß das Ich die unerträgliche Vorstellung mitsamt ihrem Affekt verwirft und sich so benimmt, als ob die Vorstellung nie an das Ich herangetreten wäre« (Freud 1894, 72). Freud unterscheidet also bereits hier Verdrängung von Verwerfung, zieht allerdings nicht die Folgerung, wie dies später Lacan tun wird, nämlich, dass es bei der Verwerfung zu einem Zusammenbruch der symbolischen Konstitution des Subjekts kommt. So lassen sich Freud zufolge die verworfenen Vorstellungen deuten. Er hält es für möglich, dass bei der Psychose ein Teil des Ich unversehrt bleibt und so den eigenen Wahnbildungen zuschauen kann. Daraus folgt eigentlich, dass Psychosen keine irreparablen Störungen darstellen. Freuds Auffassungen zur Psychose in den Jahren vor der Schreber-Studie lassen sich am besten im Briefwechsel mit Jung zwischen 1909 und 1911 nachlesen. Im Gegensatz zu Eugen Bleuler entschied sich Freud für die Terminologie Emil Kraepelins (von dem er auch die Idee der Bewusstseinsspaltung übernahm – er nannte sie später Ichspaltung) und er bevorzugte den Begriff der Paranoia gegenüber dem der Schizophrenie. Er sah in der Paranoia das strukturelle Modell von Psychose überhaupt, so wie er in der Hysterie den Prototyp der Neurose sah. Im selben Jahr 1911, als Bleuler sein Werk Dementia praecox veröffentlichte, publizierte Freud seine Studie zu Schreber. In diesem Werk definiert Freud die Psychose als Störung des Ich in seiner Beziehung zur Außenwelt. Der Hauptmechanismus der Paranoia sei die Verkehrung von Liebe in Hass. Das psychotische Symptom, der Verfolgungswahn, sei ein (gescheiterter) Selbstheilungsversuch, mit welchem Schreber versuchte, über den Tod des Vaters hinwegzukommen, indem er sich mit dem Bild eines in Gott gewandelten Vaters auszusöhnen suchte.26 Eine weitere wichtige Differenzierung, die Freud in dieser Studie vornahm, die uns vor dem Hintergrund aktuell grassierender Auffassungen bezüglich der »realen Traumatisierung« wichtig erscheint, war seine Ansicht, dass es keinen wirklichen Zusammenhang zwischen der tyrannischen Erziehungspraxis des Vaters und der Entstehung der paranoischen Erkrankung des Sohnes gäbe. Viele bedeutende Psychoanalytiker haben später an dieser Auffassung Freuds Kritik geübt, vor allem Vertreter der kleinianischen Richtung.27 Freud beschäftigt auch in den Folgejahren die Frage der Differenz von Neurose und Psychose. Sein neuer Gedanke dabei ist, dass bei der Neurose das Ich den Trieb verdrängt, in der Psychose sich das Ich aus der Realität zurückzieht, wobei dieser Vorgang jedoch vom Trieb gesteuert wird. – In einem Brief an Karl Abraham vom 21.12.1914 geht Freud noch einen Schritt weiter: »Die Verdrängung bei den Übertragungsneurosen besteht in der Abziehung der Libido des Systems Bw., d.h. in der Lösung der Ding- und
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Eine einleuchtende Erklärung für Freuds nachhaltiges Interesse an der Paranoia bietet Jean-Michel Quinodoz: »Er war verblüfft über die Analogien zwischen dem psychosexuellen Inhalt der Wahnbildungen, die von den paranoiden Patienten vorgebracht werden, und dem psychosexuellen Inhalt, der von den Neurotikern verdrängt wird, so als ob jene offen die Phantasmen zum Ausdruck brächten, die diese in ihrem Unbewussten verbergen« (Quinodoz 2011, 179). In der weiteren Entwicklung der kleinianischen Psychose-Theorie wurde die Frage der Stellung des Vaters in der ödipalen Konstellation zurück gedrängt zugunsten der frühen Mutterbeziehung in der »paranoid-schizoiden Phase«.
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Wortvorstellungen, die Verdrängung bei den narzistischen Neurosen in der Libidoentziehung von den unbewußten Dingvorstellungen, eine natürlich viel tiefere Störung. Daher die Dementia Praecox zuerst die Sprache verändert und im ganzen die Wortvorstellungen so behandelt wie die Hysterie die Dingvorstellungen, d.h.: sie dem Primärvorgang mit Verdichtung, Verschiebung und Abfuhr unterwirft« (Freud&Abraham 1965, 198). Das bedeutet, vereinfacht gesprochen, dass sich das Unbewusste über das »Ding«, das Bewusste über das »Wort« definiert.28 Freud kommt viel später in zwei Aufsätzen des Jahres 1924 nochmals auf die Problematik der Psychose zurück. In Neurose und Psychose verweist er darauf, dass er jetzt aufgrund der neuen Strukturlehre (mit der Differenzierung in Es, Ich und Überich) in der Lage ist, den Unterschied von Neurose und Psychose präziser zu fassen: »Die Neurose sei der Erfolg eines Konflikts zwischen dem Ich und seinem Es, die Psychose aber der analoge Ausgang einer solchen Störung in den Beziehungen zwischen Ich und Außenwelt« (Freud 1924c, 387). Dann bringt er eine prägnante Zusammenfassung seines neuen Verständnisses zur Genese der Neurose und kommt am Ende zum Ergebnis: »Im Dienste des Über-Ichs und der Realität ist das Ich in Konflikt mit dem Es geraten…« (ebd., 388), um dann zur Psychose zu kommen: Es geht bei ihr um eine Störung des Verhältnisses von Ich und Außenwelt: »Das Ich schafft sich selbstherrlich eine neue Außen- und Innenwelt und es ist kein Zweifel an zwei Tatsachen, daß diese neue Welt im Sinne der Wunschregungen des Es aufgebaut ist, und daß eine schwere, unerträglich erscheinende Wunschversagung der Realität das Motiv dieses Zerfalles mit der Außenwelt ist« (ebd.). In Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose geht Freud näher auf das Verhältnis der beiden Krankheitsbilder zur »Realität« ein: Jede Neurose »störe« das Verhältnis des Kranken zur Realität »irgendwie«. Um den Unterschied klar zu machen, bezieht sich Freud auf eine der Fallgeschichten aus den Studien über Hysterie. Die Rede ist von einem in ihren Schwager verliebten Mädchen, das am Totenbett der Schwester durch die Idee erschüttert wird: Jetzt ist er frei und kann dich heiraten. Diese Szene wird bei der Neurose sofort verdrängt und Freud schreibt: »Die psychotische Reaktion wäre gewesen, die Tatsache des Todes der Schwester zu verleugnen« (Freud 1924a, 364). – Weiters macht Freud deutlich, dass der Mechanismus, welcher zur Entstehung einer Psychose führt, um nichts weniger komplex ist als bei der Neurose. Er unterscheidet für die Neurose zwei Schritte: zunächst, dass sich das Ich »diesmal von der Realität losreißt, der zweite aber den Schaden wieder gutmachen will und nun die Beziehung zur Realität auf Kosten des Es wiederherstellt« (ebd., 364, 365). Und er meint dann, dass es auch bei der Psychose zwei solcher Schritte gäbe: »Der zweite Schritt der Psychose will auch den Realitätsverlust ausgleichen, aber nicht auf Kosten einer Einschränkung des Es wie bei der Neurose auf Kosten der Realitätsbeziehung, sondern auf einem anderen, mehr selbstherrlichen Weg durch Schöpfung einer neuen Realität…« (ebd.). Und in einer anderen Wendung: »Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr
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Dies ist offenbar der Niederschlag von Freuds Beobachtungen bezüglich der Sprache Schrebers, die durch eine intensive Produktion von Neologismen imponiert. Die »Worte« haben im Erleben Schrebers offenbar »Dingcharakter«, d.h. sie sind nicht Symbole für, sondern unmittelbar »Realität«.
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wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht sie zu ersetzen« (ebd.). Hier taucht mit dem Begriff der Verleugnung ein anderer Terminus auf, der den alten der Verwerfung ersetzt.29 Da aber der Sexualtrieb einen Ausdruck finden muss, fällt er auf das Subjekt zurück und lädt es mit seiner Libido auf. Das Ergebnis ist der Größenwahn, der, wie Freud denkt, in allen Fällen von Paranoia vorhanden ist. – Und dann kommt ein sehr interessanter Satz, der diese beiden »Lösungen« in Bezug zur so genannten »Normalität« bringt: »Normal oder ›gesund‹ heißen wir ein Verhalten, welches bestimmte Züge beider Reaktionen vereinigt, die Realität so wenig verleugnet wie die Neurose, sich aber dann wie die Psychose um ihre Abänderung bemüht« (ebd.).
Einige Kommentare Jacques Lacan widmet sein Seminar III von 1955/56 den Psychosen und bezieht sich dabei intensiv auf Freuds Schreber-Studie. Freud habe, so Lacan, mit seiner Perspektive auf die Paranoia einen »absoluten Neubeginn« gesetzt. Wie bei seiner bahnbrechenden Art, den Traum zu lesen als etwas, »das spricht«, macht Freud dies auch mit dem Text Schrebers: »Er entziffert es, wie man Hieroglyphen entziffert« (Lacan 1981, 17). Indem Freud daran geht, die Grundsprache Schrebers »wiederherzustellen«, »erweist sich hier die analytische Deutung als symbolisch, im strukturierten Sinn des Wortes.« Weil Schreber ja einen Text produziert, handelt es sich um etwas »in der symbolischen Ordnung«, aber das »eigentliche Material« sei »der eigene Körper« (ebd., 18). Und das sei das Revolutionär-Neue an der Psychoanalyse, dass sie »durch die Eingangspforte des Symbolischen« einen Weg in diesen Erfahrungsbereich des »Körpers« gefunden habe. Bezüglich der »Autobiographie« Schrebers betont Lacan, dass in der Konstruktion des Wahns die Person des Dr. Flechsig einen zentralen Platz einnimmt. Die »Nerven des Subjekts« und die »Gottesnerven« gehen eine »Beziehung« ein: Am Anfang dominiert die Person Flechsigs, dann Gott selbst. Was die Nerven betrifft, wird »ein ganzer Metabolismus von Bildern mit äußerster Präzision entwickelt« (ebd., 35f). Es liegt in der Natur der Gottesstrahlen, zu sprechen – in der Grundsprache. Lacan bezeichnet Schrebers Audrücke als »neuartige, volle Worte«: »Auf der Ebene der Signifikanten, in seiner Materialität, unterscheidet sich der Wahn … durch dies, daß die Bedeutung dieser Worte sich eben nicht im Verweis auf eine Bedeutung erschöpfen.« Sie verweisen »auf die Bedeutung als solche… daß das Wort an sich Gewicht hat« (ebd., 42). Schreber spricht von etwas, das zu ihm gesprochen hat. Und dieses Andere gibt seinem Sprechen diese durchschlagende Wirkung. In Über eine Frage, die jeder Behandlung der Psychose vorausgeht, 1966 publiziert, vertieft Lacan seine Überlegungen zu Freuds Schreber-Studie. Sein innovativer Gedanke
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Auf diese Begrifflichkeit von Verdrängung, Verleugnung und Verwerfung werden wir im folgenden Kapitel noch näher eingehen. Der späte Freud grenzt, indem er der unterschiedlichen Bedeutung des Narzissmus Rechnung trägt, die Psychose in einer dreiteiligen Struktur von Neurose und Perversion ab. Die Psychose sei durch die Konstruktion einer halluzinatorischen Realität definiert, das Individuum ziehe sich in eine Situation des Auterotismus zurück und bleibe in sich selbst gefangen. Es nimmt seinen Körper bzw. einen Teil davon zu seinem ausschließlichen Liebesobjekt.
Die Fallgeschichten, die wie Novellen zu lesen sind
besteht jetzt in der Frage, welche Rolle der Name des Vaters in Schrebers Wahnproduktion spielt. Und er knüpft hierbei an Freuds Begriff der Verwerfung an. »Der Defekt, der die Psychose wesentlich bedingt und ihr eine Struktur gibt, die sie von der Neurose unterscheidet, besteht unserer Auffassung nach in einem Defekt dieses Registers und dessen, was in ihm sich erfüllt, nämlich die Verwerfung des Namen-des-Vaters am Platz des Anderen und im Mißlingen der Vatermetapher« (Lacan 1966, 108). Noch einmal anders: »Damit die Psychose ausgelöst wird, muß der Namen-des-Vaters, der verworfen, d.h. nie an den Platz des Anderen gekommen ist, daselbst angerufen werden in symbolischer Opposition zum Subjekt« (ebd., 110). Dies hat dann den Zusammenbruch des Imaginären zur Folge, »bis an den Punkt, wo Signifikant und Signifikat sich in der delirierenden Metapher stabilisieren« (ebd., 110f). – Schreber versucht ja seine Beschädigung mit dem Wort »Seelenmord« zu fassen. Dies nimmt Lacan ganz wörtlich: Schreber als »Subjekt« stirbt! Sein Körper ist zu dieser Zeit ein einziges Aggregat von »fremden Nerven«, eine »Art Schuttabladeplatz für losgelöste Fragmente der Identitäten seiner Verfolger« (ebd., 101). Die Stabilisierung gelingt Schreber erst einmal durch seine »narzißtische Wende«: »[...]wir sehen, wie sich das Subjekt einer erotischen Tätigkeit überläßt … Es geht um Befriedigungen, die ihm sein Spiegelbild vermittelt, wenn er sich in ›etwas weiblichem Aufputz‹ betrachtet« (ebd., 102). Dazu gehört auch die Entwicklung der weiblichen »Wollustnerven«, und zwar an Körperstellen, die bei Frauen erogen sein sollen. Dies führt schließlich zur Verweiblichung des Subjekts und damit zur Bereitschaft zum »göttlichen Beischlaf«. Eine weitere wesentliche Schiene in Lacans Schreber-Deutung ist die Frage, wie es zur Verwerfung kommt. Und interessanter Weise ist Lacan der erste, der hierbei die Position von Schrebers Mutter reflektiert. Welchen Wert räumt die Mutter dem Wort des Vaters ein? Welchen Platz gibt sie dem Namen des Vaters bei der Errichtung des Gesetzes? Und welches Verhältnis hat der Vater selbst zum Gesetz? Lacans diesbezügliche Überlegungen münden in die Aussage, dass »die verheerendsten Auswirkungen der Vaterfigur mit einer bemerkenswerten Häufigkeit in den Fällen auftreten, wo der Vater wirklich eine gesetzgebende Funktion ausübt oder doch so tut« (ebd., 112). – So habe auch Freud »der Übertragung der Beziehung zum Vater bei der Genesis der Psychose« entscheidenden Wert beigemessen. Und Lacan verweist hier auf die entsprechenden Überlegungen von William Niederland, der auf die delirierende Genealogie Flechsigs aufmerksam gemacht hat, »die konstruiert ist aus den Namen der realen Abstammung Schrebers: Gottfried, Gottlieb, Fürchtegott, und insbesondere Daniel… in dem Umstand, daß sie auf den Namen Gottes hin konvergieren, eine symbolische Kette aufzeigen, die ihre Bedeutung darin hat, daß sie im Wahn die Funktion des Vaters manifestiert« (ebd., 113). Im Unterschied zu Niederland, den wir noch zu Wort kommen lassen, sieht Lacan nicht im Versagen des Vaters, in der »ausbleibenden Vaterschaft« das die Psychose auslösende Moment, sondern »ist die ursprüngliche Verwerfung das alles überragende Problem… denn schlägt man nach im Werk von Daniel Gottlob Moritz Schreber, ... dem Erzieher, … dem Gesellschaftsreformer mit ›apostolischer Berufung, den Massen Gesundheit, Glück und Heil zu bringen‹… so dürfen wir jene Grenzen für überschritten halten… wo die Tugend sich verwandelt in Taumel… Kein Zweifel, daß es der Gestalt des Dr. Flechsig in ihrer Forscherstrenge … nicht gelungen war, Ersatz zu bieten für
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die plötzlich wahrgenommene Leere der Inauguralverwerfung (›Kleiner Flechsig!‹ rufen die Stimmen)« (ebd., 115). Damit glaubt sich Lacan in Übereinstimmung mit der Auffassung Freuds, wonach die Übertragung, die Schreber auf die Person von Flechsig richtet, als der Faktor erscheint, der das Subjekt in die Psychose gestürzt hat. Andererseits ist Lacan damit der erste, der eine Verbindung zwischen dem Erziehungssystem des Vaters und dem Wahn des Sohnes theoretisierte. William Niederland eröffnet seine umfangreiche Studie Der Fall Schreber mit Schrebers Vater: »Von größter Bedeutung für den Sohn war der charismatische Vater« (Niederland 1978, 19). Er bezieht sich vor allem auf das pädagogische Schrifttum des Vaters, das in einer äußerst rigiden Form auf die Disziplinierung des Körpers und der Psyche der Kinder abzielt. Niederland unterstellt, dass Schreber wie seine Geschwister Opfer dieser Zwangserziehung gewesen sind. Ein drastischer Höhepunkt dieses Erziehungssystems waren orthopädische Vorrichtungen, die den kindlichen Körper strecken, dehnen, »geradhalten« sollten, um dem Kind die Ausbildung eines eigenen Willens, vor allem aber einen selbstbewussten Zugang zu seinem eigenen Körper (Sexualität – Masturbation) verhindern sollten. – Verschärfend kommt hinzu, dass der Vater offenbar in seinem späteren Leben (nach dem ärztlichen Bericht aus dem Sanatorium Sonnenstein) an »Zwangsvorstellungen mit Mordtrieb« litt, was Niederland zur Annahme führt, dass der Vater dieses Folterinstrumentarium an seinen Kindern äußerst gewalttätig praktizierte. So hatte der Vater 1858, mit 50 oder 51 Jahren, einen »Unfall«, bei dem ihm im Turnsaal eine Leiter auf den Kopf fällt. Seitdem war er schwer gehandicapt und stirbt ein Jahr später an Darmverschluss. Der Sohn erkrankt 1893, ebenfalls mit 51 Jahren, was für Niederland ein Hinweis auf dessen Vateridentifizierung ist. Seine Hauptsymptome sind anfangs Klagen über seinen Kopf und »Gehirnerweichung«. Der Vater starb am 10. November 1861 an akuter Darmverschlingung. Die erste Erkrankung Schrebers setzt kurz nach der Niederlage bei der Reichstagswahl, die am 28.10. stattfand, ein. Seine zweite Erkrankung nimmt am 8. oder 9. 11. bedrohliche Ausmaße an, in der Nacht vom 10. auf 11.11. unternimmt er seinen Suizidversuch, ließ sich in Leipzig einweisen und hielt sich für tot. Einige Tage später versuchte er erneut sich zu töten, glaubte auch, an Darmverschlingung zu leiden. Alle drei Anstaltsunterbringungen – auch wenn Jahrzehnte dazwischen liegen, fallen in den November. So ist für Niederland die Psychose Schrebers vor allem eine Spätfolge der sadistischen Erziehung durch diesen Vater: »Abgesehen von einer reglementierten, rigide disziplinierten Erziehungsform, die Schrebers frühes Kindheitsschicksal bestimmt zu haben scheint, wurde er vermutlich zu völliger Unterwerfung und passiver Ergebenheit von einem Vater gezwungen, dessen Sadismus nur spärlich hinter einer Fassade medizinischer, reformerischer und philantropischer Ideen verborgen gewesen sein konnte« (ebd., 97). Niederland beruft sich auf Freud, wenn er meint, dass in den psychotischen Wahnvorstellungen ein Stück historischer Wahrheit enthalten sei, daß »in ihr etwas in der Frühzeit Erlebtes und dann Vergessenes wiederkehrt, etwas was das Kind gesehen oder gehört zur Zeit, da es noch kaum sprachfähig war, und was sich nun dem Bewußtsein aufdrängt« (Freud 1937a, 54).
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Eines von mehreren Phantasmen aus den Denkwürdigkeiten, von dem Niederland glaubt, dass es auf so etwas »Verdrängtes«, »Reales« aus der Kindheit hinweise: »Eins der abscheulichsten Wunder war das sogenannte Engbrüstigkeitswunder, das ich … erlebt habe… es wurde dabei der ganze Brustkasten zusammengepreßt, so daß der Zustand der durch die Athemnoth verursachten Beklemmung sich dem gesammten Körper mittheilte.« Und dann kommt Schreber auf ein anderes »Gerät« zu sprechen: »Es war… die Kopfzusammenschnürungsmaschine, … welche preßte durch Andrehen einer Art von Schraubenkurbel meinen Kopf in der Art einer Schraubenpresse zusammen, sodaß mein Kopf zeitweise eine nach oben verlängerte, fast birnenförmige Gestalt gewann« (Schreber 2003, 116f). Dazu Niederland: »Die Bezeichnungen Engbrüstigkeitswunder und Kopfzusammenschnürungsmaschine weisen nahezu direkt auf die ›historische Wahrheit‹, also auf die väterlichen Manipulationen hin« (Niederland 1978, 105). – Auch die Kastrationsängste Schrebers findet Niederland nicht weit hergeholt, war diese doch an der Klinik von Prof. Flechsig tatsächlich ärztliche Praxis: »In seinen Veröffentlichungen beschreibt Dr. Flechsig, damals Direktor der Institution, in der Schreber untergebracht war, die Anwendung tatsächlicher Kastration in seiner Klinik als eine Behandlungsmethode bei schweren nervösen und psychischen Leiden« (ebd., 139). Robert B. White stellt im Gegensatz zu Niederland den Mutterkonflikt Schrebers ins Zentrum seiner Analyse. Seine grundlegende Hypothese ist, dass die »gegen eine Mutter-Figur gerichteten primitiven oralen, destruktiv-abhängigen Impulse eine entscheidende Komponente in Schrebers psychotischem Konflikt darstellten« (White 1978, 197). Schreber sei ein von seiner Mutter schwer vernachlässigtes Kind gewesen und habe deshalb eine gierige orale Bedürftigkeit entwickelt. »Daß Schrebers prägenitale, abhängige, unersättliche Impulse die Ursache dieser Zerstörung und daß die Ehefrau, Flechsig und Gott weitestgehend Repräsentanten der Mutter waren, auf die diese Impulse gerichtet waren, kann meines Erachtens anhand der Denkwürdigkeiten nachgewiesen werden« (ebd.). Schrebers homosexuelle Phantasien bzw. jene, eine Frau zu sein, seien demnach aus dem Bedürfnis gespeist, sich mit der prägenitalen Mutter zu identifizieren. – So unterlegt White auch der Homosexualität Schrebers eine andere Funktion: Dessen Phantasie, eine Frau zu sein, drücke neben ihrer ödipalen Bedeutung zugleich ein intensives Bedürfnis aus, den Status des erwachsenen Mannes aufzugeben, »indem er sich mit der prägenitalen Mutter identifizierte und auf eine archaische, undifferenzierte und oral-abhängige Verschmelzung mit ihr regredierte« (ebd., 198). Lore Gratz-Erbler betont in ihrer Studie die narzisstische Problematik Schrebers. Ihre These ist, dass der Hass, der aus der Unterbindung seiner basalen körperlichen Bedürfnisse resultiere, sich bei einem kleinen Kind unausweichlich gegen sich selbst richten müsse (vgl. Gratz-Erbler 2008, 306). Und diese Problematik zeige sich auch in den Phantasien Schrebers: »Seit den ersten Anfängen meiner Verbindung mit Gott bis auf den heutigen Tag ist mein Körper unausgesetzt der Gegenstand göttlicher Wunder gewesen… Ich kann sagen, daß kaum ein einziges Glied oder Organ meines Körpers vorhanden ist, das nicht vorübergehend durch Wunder geschädigt worden wäre, kein einziger Muskel, an dem nicht durch Wunder herumgezerrt würde« (Schreber 2003, 109). – Die Triebbedürfnisse, die der Knabe als schlecht, ja teuflisch erfahren musste, werden in der Psychose nach außen projiziert. Im Wahn schreibt Schreber Gott zu, dass dieser von ihm die »fortwährende Seelenwollust« verlange. So ist die Entmannung keine
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Schande mehr, sie ist »weltordnungsgemäß«, weil die Entmannung für die Rettung der Welt notwendig ist. In dieser Größenphantasie liegt die narzisstische »Lösung« Schrebers.
Der Wolfsmann und die Frage der Urszene Dieser »Fall« ist in anderer Weise einmalig in der Geschichte des Freudianismus, wurde er nicht nur von sämtlichen psychoanalytischen Schulen ausführlich kommentiert, sondern auch vom Analysanten selbst, der, nachdem er beide Weltkriege überlebt hatte, auf Anregung von Muriel Gardiner eine Autobiographie verfasste und auch seine Analyse bei Freud aus der Nachträglichkeit von mehreren Jahrzehnten beschrieb.30 Sergej Pankejew wurde von Freud zwei Mal und später von Ruth Mack Brunswick analysiert. Sergej Pankejew (1886-1979) wurde in Südrussland in eine reiche Landadelsfamilie geboren und in Odessa gemeinsam mit seiner Schwester Anna von drei Gouvernanten (Gruscha, Nanja, Miss Oven) und weiteren Hauslehrern erzogen. Seine Mutter litt an vielfältigen psychosomatischen Störungen, sein Vater war depressiv veranlagt und beging 1905 Selbstmord. Bereits 1896 wies der zehnjährige Sergej erste Anzeichen einer Neurose auf. 1907 beging auch seine Schwester Selbstmord. Sergej ging zu dieser Zeit aufs Gymnasium, zog sich bei einer Frau (Matrona) eine Gonorrhöe zu und versank in der Folge in eine schwere Depression. Er zog in den nächsten Jahren von Kuranstalt zu Sanatorien, immer in Begleitung von jungen Männern. So kontaktierte er die berühmtesten Psychiater seiner Zeit: Wladimir M. Bechterew in St. Petersburg, Theodor Ziehen in Berlin und Ernst Kraepelin in München, welcher eine manisch-depressive Psychose diagnostizierte. Aber helfen konnte ihm keiner. In einem Sanatorium in Bayern verliebte er sich in eine Krankenschwester, Theresa Keller, die eine kleine Tochter (Else) hatte. Es entstand ein leidenschaftliches Liebesverhältnis, das seine Mutter als auch sein Psychiater ablehnten. Pankejew kehrte nach Odessa zurück, lernte dort den jungen Arzt Leonid Droznes kennen, der mit ihm zu Freud nach Wien fuhr. – So kam Sergej Pankejew als 23-Jähriger Anfang 1910 zu Freud. Er litt unter schweren zwangsneurotischen Symptomen, wirkte völlig entscheidungsunfähig und war in vielen lebenspraktischen Dingen überfordert.
Freuds »Aus der Geschichte einer infantilen Neurose« Der Titel von Freuds Fallgeschichte zeigt schon, was ihm daran wichtig ist: Die Darstellung beschränkt sich auf Pankejeffs Kindheit und thematisiert die aktuellen Konflikte seines Analysanten kaum. Viele Interpreten vermuten, dass dieser Patient Freud wegen der Kontroversen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung, die damals ihren Höhepunkt erreichten, besonders gelegen kam. Befand sich Freud doch in diesen Jahren im Kampf gegen die »Umdeutungen« seiner Lehre durch Adler und Jung. Es erscheint mehr als ein Zufall, dass er diese Darstellung im Herbst 1914, wenige Wochen nach 30
beides nachzulesen in Der Wolfsmann vom Wolfsmann. Sigmund Freuds berühmtester Fall. Hg. von Gardiner, M., 1971.
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Schande mehr, sie ist »weltordnungsgemäß«, weil die Entmannung für die Rettung der Welt notwendig ist. In dieser Größenphantasie liegt die narzisstische »Lösung« Schrebers.
Der Wolfsmann und die Frage der Urszene Dieser »Fall« ist in anderer Weise einmalig in der Geschichte des Freudianismus, wurde er nicht nur von sämtlichen psychoanalytischen Schulen ausführlich kommentiert, sondern auch vom Analysanten selbst, der, nachdem er beide Weltkriege überlebt hatte, auf Anregung von Muriel Gardiner eine Autobiographie verfasste und auch seine Analyse bei Freud aus der Nachträglichkeit von mehreren Jahrzehnten beschrieb.30 Sergej Pankejew wurde von Freud zwei Mal und später von Ruth Mack Brunswick analysiert. Sergej Pankejew (1886-1979) wurde in Südrussland in eine reiche Landadelsfamilie geboren und in Odessa gemeinsam mit seiner Schwester Anna von drei Gouvernanten (Gruscha, Nanja, Miss Oven) und weiteren Hauslehrern erzogen. Seine Mutter litt an vielfältigen psychosomatischen Störungen, sein Vater war depressiv veranlagt und beging 1905 Selbstmord. Bereits 1896 wies der zehnjährige Sergej erste Anzeichen einer Neurose auf. 1907 beging auch seine Schwester Selbstmord. Sergej ging zu dieser Zeit aufs Gymnasium, zog sich bei einer Frau (Matrona) eine Gonorrhöe zu und versank in der Folge in eine schwere Depression. Er zog in den nächsten Jahren von Kuranstalt zu Sanatorien, immer in Begleitung von jungen Männern. So kontaktierte er die berühmtesten Psychiater seiner Zeit: Wladimir M. Bechterew in St. Petersburg, Theodor Ziehen in Berlin und Ernst Kraepelin in München, welcher eine manisch-depressive Psychose diagnostizierte. Aber helfen konnte ihm keiner. In einem Sanatorium in Bayern verliebte er sich in eine Krankenschwester, Theresa Keller, die eine kleine Tochter (Else) hatte. Es entstand ein leidenschaftliches Liebesverhältnis, das seine Mutter als auch sein Psychiater ablehnten. Pankejew kehrte nach Odessa zurück, lernte dort den jungen Arzt Leonid Droznes kennen, der mit ihm zu Freud nach Wien fuhr. – So kam Sergej Pankejew als 23-Jähriger Anfang 1910 zu Freud. Er litt unter schweren zwangsneurotischen Symptomen, wirkte völlig entscheidungsunfähig und war in vielen lebenspraktischen Dingen überfordert.
Freuds »Aus der Geschichte einer infantilen Neurose« Der Titel von Freuds Fallgeschichte zeigt schon, was ihm daran wichtig ist: Die Darstellung beschränkt sich auf Pankejeffs Kindheit und thematisiert die aktuellen Konflikte seines Analysanten kaum. Viele Interpreten vermuten, dass dieser Patient Freud wegen der Kontroversen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung, die damals ihren Höhepunkt erreichten, besonders gelegen kam. Befand sich Freud doch in diesen Jahren im Kampf gegen die »Umdeutungen« seiner Lehre durch Adler und Jung. Es erscheint mehr als ein Zufall, dass er diese Darstellung im Herbst 1914, wenige Wochen nach 30
beides nachzulesen in Der Wolfsmann vom Wolfsmann. Sigmund Freuds berühmtester Fall. Hg. von Gardiner, M., 1971.
Die Fallgeschichten, die wie Novellen zu lesen sind
dem Ende der Behandlung, schrieb, sah er sie doch als fundierende Begleitschrift zu seiner Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. Gegenüber Adler wollte er beweisen, dass sich nicht alles mit dem »männlichen Protest« erklären ließ, sondern dass frühe sexuelle Konflikte für die Kindheitsneurose Pankejews und deren Folgen verantwortlich waren. Auch gegenüber Jung musste die Kindheit und die Bedeutung der Sexualität betont werden.31 Und Freud eröffnet seine Darstellung so: »Der Krankheitsfall. betrifft einen jungen Mann, welcher in seinem achtzehnten Jahr nach einer gonorrhoischen Infektion als krank zusammenbrach und gänzlich abhängig und existenzunfähig war, als er mehrere Jahre später in psychoanalytische Behandlung trat« (Freud 1918, 29). Dieser Krise in seiner Adoleszenz gehen – so stellt Freud gleich anschließend fest – eine Reihe von neurotischen Störungen seiner Kindheit voraus. Und diese – die Rede ist hier von einer »Angsthysterie (Tierphobie)« und einer »Zwangsneurose mit religiösem Inhalt« – will Freud ins Zentrum seiner Darstellung rücken.32 Bevor Freud näher auf den Behandlungsprozess eingeht, spricht er von einer speziellen Herausforderung bei dieser Kur: Über Jahre gelang es ihm nämlich nicht, den Patienten, der »hinter einer Einstellung von gefügiger Teilnahmslosigkeit unangreifbar verschanzt« blieb, aus der Reserve zu locken.33 So entschloss er sich zum ungewöhnlichen Schritt einer Terminsetzung: »Unter dem unerbittlichen Druck dieser Terminsetzung gab sein Widerstand, seine Fixierung ans Kranksein nach, und die Analyse lieferte nun in unverhältnismäßig kurzer Zeit all das Material, welches die Lösung seiner Hemmungen und die Aufhebung seiner Symptome ermöglichte« (ebd., 34). Nun schildert Freud die Familie und die Lebensumstände des »Kranken« als Kind und Jugendlicher. Die Eltern führten zunächst anscheinend eine durchaus glückliche Ehe, aber bald stellten sich bei beiden Erkrankungen ein, »Verstimmungsanfälle« beim Vater, »Unterleibskrankheiten« bei der Mutter. Zwei Kindermädchen, beide aus dem »einfachen Volk«, sind für den kleinen Jungen zuständig. Eines Sommers, er ist vermutlich dreieinhalb Jahre alt, kommt noch eine englische Gouvernante hinzu. War Sergej bis dahin ein sanftes und ruhiges Kind, so ist er nach der Rückkehr der Eltern von einer längeren Reise reizbar, unzufrieden und »schreit wie ein Wilder«. Die Großmutter führt diesen Wandel auf die Spannungen zwischen der Gouvernante und der von Ser-
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Gleich an den Anfang seines Textes platziert Freud eine Fußnote, in der er feststellt, dass diese Fallgeschichte kurz nach Abschluss der Behandlung im Winter 1914/15 niedergeschrieben wurde »unter dem damals frischen Eindruck der Umdeutungen, welche C. G. Jung und Alf. Adler an den psychoanalytischen Ergebnissen vornehmen wollten« (Freud 1918, 29, Fn.1). Freud vergisst nicht, auf die vergeblichen Versuche des Kranken, in verschiedenen Krankenanstalten u.a. bei hoch dekorierten Psychiatern Heilung zu erfahren, zu verweisen. – So führt er die »von der zuständigsten Stelle« gestellte Diagnose eines »manisch-depressiven Irreseins« an, die er für verfehlt hält (ebd., 30). Die Übertragungsdynamik scheint schon von Anfang an eine sehr heftige gewesen zu sein. So schreibt Freud schon am 13.2.1910 an Sandor Ferenczi: »Ein reicher junger Russe, den ich wegen Zwangsverlieben aufgenommen, gestand mir nach der ersten Sitzung folgende Übertragungen: jüdischer Schwindler, er möchte mich von hinten gebrauchen und mir auf den Kopf scheißen« (Freud&Ferenczi 1993, 214).
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gej so geliebten »Nanja«, seiner Kinderfrau, zurück. Die Gouvernante wurde entlassen, aber sein Stimmungswandel blieb. Schon bald erfährt Freud von einem Bilderbuch, in dem ein Wolf dargestellt wurde, aufrecht stehend und ausschreitend. Mit diesem Bild pflegte ihn seine Schwester zu quälen; er fürchtete sich davor, dass der Wolf kommen werde und ihn auffressen. Diese Angst übertrug er auch auf andere Tiere. Später begann er Tiere, vor allem Käfer und Raupen, zu quälen. – Aus den späteren Kinderjahren erfährt Freud, dass der Junge einerseits (unter dem Einfluss seiner Mutter) sehr fromm geworden sei, aber auch gotteslästerliche Gedanken entwickelte. Er musste denken: Gott – Schwein oder Gott – Kot. Wenn er drei Häufchen Pferdemist sah, musste er an die heilige Dreifaltigkeit denken. Freud vermutet, dass Sergej in diesen Jahren eine Zwangsneurose entwickelt hatte. Um das Alter von acht Jahren verschwanden anscheinend all diese Symptome. Um diesen merkwürdigen Symptomwandel und sein Verschwinden zu erklären, stellt Freud den folgenden Abschnitt seiner Darstellung unter den Titel Die Verführung und ihre nächsten Folgen. – Eine frühe Verführungsszene: Die Schwester habe ihn, »als er noch sehr klein war, auf dem ersten Gut zu sexuellen Tätlichkeiten verführt« (ebd., 43). Zugleich habe sie ihm erzählt, dass seine Nanja dasselbe tue, z.B.mit dem Gärtner, den sie auf den Kopf stelle und nach seinen Genitalien greife. Freud vermutet hinter dieser »Erinnerung« eine gegenteilige Wunschphantasie: Er habe die Schwester entblößt sehen wollen, sei zurückgewiesen worden und deshalb in Wut geraten. Die Schwester hat sich dann einige Jahre später während einer Reise vergiftet. Freud vermutet bei ihr den Beginn einer »Dementia praecox«: »Sie war eine der Zeugen für die ansehnliche neuropathische Heredität in der Familie« (ein Onkel litt an einer schweren Zwangsneurose, andere Verwandte an verschiedenen »nervösen Störungen«) (ebd., 45). Als Sergej die Nachricht vom Tod der Schwester bekam, empfand er kaum Trauer. Sein vorherrschender Gedanke war, dass er jetzt der alleinige Erbe des Vermögens geworden sei. Eine andere Szene zeigt ihn mit der Nanja: Er beginnt vor ihr mit seinem Glied zu spielen; sie schaut ernst, erklärt ihm, das sei nicht gut und droht, Kinder, die so etwas täten, bekämen eine »Wunde«. Nach dieser Zurückweisung habe er die Onanie aufgegeben. Freuds Deutung: »Das beginnende Sexualleben unter der Leitung der Genitalzone war also einer äußeren Hemmung erlegen und durch deren Einfluß auf eine frühere Phase prägenitaler Organisation zurückgeworfen worden. Infolge der Unterdrückung der Onanie nahm das Sexualleben des Knaben sadistisch-analen Charakter an… Sein Hauptobjekt war die geliebte Nanja, die er zu peinigen verstand, bis sie in Tränen ausbrach« (ebd., 50). – Eine weitere Veränderung war die sukzessive Abwendung von der Kinderfrau und seine libidinöse Zuwendung zum Vater. Mit seinem »Schlimmsein« – so jedenfalls die Deutung Freuds – suchte er den Vater zu Schlägen und Züchtigungen zu provozieren, was dieser allerdings nicht tat. – Ein entscheidender Einschnitt in seine Kinderzeit markiert das Auftreten von Angstsymptomen knapp vor seinem vierten Geburtstag. Der »Vorfall« aber, der für diesen Einschnitt steht, ist nach Freuds Verständnis »kein äußeres Trauma«, sondern ein Angsttraum. So kommt Freud zum nächsten Abschnitt, benannt Der Traum und die Urszene. – Der Traum: »Ich habe geträumt, daß es Nacht ist und ich in meinem Bett liege (mein Bett stand mit dem Fußende gegen das Fenster, vor dem Fenster befand sich eine Reihe alter Nußbäume. Ich weiß, es war Winter, als ich träumte, und Nachtzeit). Plötzlich geht das Fenster von selbst auf, und ich
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sehe mit großem Schrecken, daß auf dem großen Nußbaum vor dem Fenster ein paar weiße Wölfe sitzen. Es waren sechs oder sieben Stück. Die Wölfe waren ganz weiß und sahen eher aus wie Füchse oder Schäferhunde, denn sie hatten große Schwänze wie Füchse und ihre Ohren waren aufgestellt wie bei den Hunden, wenn sie auf etwas passen. Unter großer Angst, offenbar, von den Wölfen aufgefressen zu werden, schrie ich auf und erwachte… Ich glaube, das war mein erster Angsttraum. Ich war damals drei, vier, höchstens fünf Jahre alt« (ebd., 54). Es gibt eine Zeichnung des Traumbildes, die Sergej auf Aufforderung Freuds erstellt, da sitzen nur fünf »Wölfe« auf dem Baum. Sergej hat den Traum schon immer mit dem Bild des Wolfes im Märchenbuch in Verbindung gebracht. – Dann gibt es eine Geschichte, die Sergej als Erzählung des Großvaters erinnert: Ein Schneider sitzt bei seiner Arbeit im Zimmer, da springt durch das Fenster ein Wolf herein. Der Schneider packt ihn und reißt ihm den Schwanz aus. Später ist der Schneider im Wald und ein Rudel Wölfe kommt; er flüchtet sich auf einen Baum. Auch der schwanzlose Wolf ist dabei. Der Schneider ruft »Packt den Grauen beim Schwanz«, worauf dieser flüchtet und die anderen vom Baum herunterpurzeln. – Freud sieht in dieser Erzählung eine »unzweideutige Anknüpfung an den Kastrationskomplex«: »Der alte Wolf ist vom Schneider um seinen Schwanz gebracht worden« (ebd., 57). – Die sechs oder sieben Wölfe bringen Sergej zum Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein. Sechs werden da vom Wolf gefressen, das siebte flüchtet sich in einen Uhrkasten. – Auch das Weiß kommt in diesem Märchen vor (der Wolf lässt sich beim Bäcker die Pfoten weiß machen). – Nun kommt Freud zu seiner ersten »Konstruktion«: Der Wolf steht für den Vater, die Angst vor dem Wolf ist die Angst vor dem Vater. Als nächstes fragt sich Freud, worauf das merkwürdige »Wirklichkeitsgefühl« dieses Traumes anspielt. Bezieht sich der Traum auf etwas, das real vorgefallen ist? Steht die eigenartige Bewegungslosigkeit für ihr Gegenteil, heftigste Bewegung? Hat Sergej einen Koitus seiner Eltern (die »Urszene«) beobachtet? Der Nussbaum bringt Sergej zum Weihnachtsbaum und seinen ersten erinnerlichen Wutanfall, weil er zu Weihnachten nicht richtig beschenkt wurde. Dann aber berichtet er folgende Szene: Er war als kleines Kind an Malaria erkrankt, lag am Nachmittag in seinem Bett und erwachte »um die fünfte Stunde«. Er wird »Zeuge eines dreimal wiederholten coitus a tergo, konnte das Genitale der Mutter wie das Glied des Vaters sehen und verstand den Vorgang wie dessen Bedeutung« (ebd., 64). Freuds abschließende Konstruktion an dieser Stelle: »Die Materialwandlung: Urszene – Wolfsgeschichte – Märchen von den sieben Geißlein – ist die Spiegelung des Gedankenfortschritts während der Traumbildung: Sehnsucht nach sexueller Befriedigung durch den Vater – Einsicht in die daran geknüpfte Bedingung der Kastration – Angst vor dem Vater« (ebd., 69). Weil der Traum – nach Freuds Rekonstruktion – sich mit vier Jahren ereignete, die »Urszene« aber schon mit eineinhalb Jahren, handelt es sich hier, wie Freud hypostasiert, um einen Fall von »Nachträglichkeit«. Der Angsttraum knüpfte an diese Urszene (und an die Kastrationsdrohung der Nanja und andere Elemente) an, als der Knabe aufgrund seines Eintritts in die »ödipale Phase« einen entsprechenden »Triebschub« durchmachte: »Die Angst war eine Ablehnung des Wunsches nach Sexualbefriedigung durch den Vater… ihr Ausdruck: vom Wolf gefressen zu werden, war nur eine … Umsetzung des Wunsches, vom Vater koitiert, d.h. so befriedigt zu werden wie die Mutter« (ebd., 73). Diese Identifizierung mit der Mutter, folgert Freud, war der wesentliche An-
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trieb für seine Angst: »Wenn du vom Vater befriedigt werden willst, mußt du dir wie die Mutter die Kastration gefallen lassen; das will ich aber nicht« (ebd., 74). Im nächsten Abschnitt diskutiert Freud einige grundsätzliche Fragen, vor allem jene nach der »Realität« der »Urszene«. Handelt es sich bei solchen »frühinfantilen Szenen« um »Reproduktionen realer Begebenheiten« oder um »Phantasiebildungen, die der Zeit der Reife ihre Anregung entnehmen, zur gewissermaßen symbolischen Vertretung realer Wünsche und Interessen« (ebd., 77)? Freud schwankt: Einmal schreibt er: »Diese Infantilszenen werden in der Kur – soweit meine Erfahrung bis jetzt reicht – nicht als Erinnerungen reproduziert, sie sind Ergebnisse der Konstruktion« (ebd., 79). Andererseits: »Ich bin nun nicht der Meinung, daß diese Szenen notwendigerweise Phantasie sein müßten, weil sie nicht als Erinnerungen wiederkommen« (ebd., 80). Dann stellt Freud die Variante in den Raum, es könne sich nicht um die Beobachtung des Koitus der Eltern, sondern eines Tierkoitus gehandelt haben, den der Knabe beobachtet und nachträglich auf die Eltern verschoben habe. – Verdächtig scheint Freud, dass in seinen Analysen solche »Erinnerungen« sich häufig auf einen coitus a tergo bezogen, was ihm ein Hinweis darauf zu sein scheint, dass es sich doch um Phantasie handeln könne, die durch die Beobachtung der Tiere angeregt sei. Freud beschließt diese Diskussion mit einem »non liquet« (ebd., 90), wird aber später in seiner Abhandlung nochmals darauf zurückkommen. Der folgende Abschnitt ist der »Zwangsneurose« gewidmet. Als Einstieg in diese kindliche Phase erachtet Freud die Einführung Sergejs in die biblische Geschichte durch die Mutter. Sie versuchte damit das Kind von seinen Ängsten abzulenken: »Es gelang ihr auch, die Einführung der Religion machte der bisherigen Phase ein Ende, aber eine Ablösung der Angstsymptome durch Zwangssymptome mit sich« (ebd., 91). Das wesentliche Ergebnis dieser »religiösen Wende« sieht Freud in einer anders gearteten Abwehr gegen seine problematische Haltung zum Vater: »Die Kenntnis der heiligen Geschichte gab ihm nun die Möglichkeit, die vorherrschende masochistische Einstellung zum Vater zu sublimieren. Er wurde Christus, was ihm durch den gleichen Geburtstag besonders erleichtert war. Damit war er etwas Großes geworden und auch … ein Mann« (ebd., 95). – Wenn Gott der Vater war und er der »Sohn«, so war zu erwarten, dass dieser Gott, der so grausam zu seinem Sohn war, dies auch bei den Menschen so halten würde. So musste er in vielen seiner Zwangsrituale diesen Gott abwerten. – Im Laufe seiner reiferen Kindheit, die auch dazu führte, dass neben die Erziehung durch die Familienmitglieder aufgeklärte Lehrer traten, verflüchtigten sich seine Zwangssymptome. Aber seine Lernfähigkeit blieb eingeschränkt, es fehlten ihm, wie Freud anmerkt, »alle sozialen Interessen, welche dem Leben Inhalt geben«. Erst durch den Erfolg der Kur sollte er wieder in Besitz dieser aktiven Zuwendung zum Leben und zu einer »Anheftung an die großen gemeinsamen Geschäfte der Menschheit« kommen (ebd., 102). Die Zwangsneurose des Kindes entstand, wie Freud mehrfach betont, »auf dem Boden einer sadistisch-analen Konstitution« (ebd., 103). Diese äußerte sich in einer auffälligen »Exkrementallust« und in einem gestörten Verhältnis zum Geld. Nach dem Tod des Vaters verwaltete die Mutter seine Erbschaft, er konnte ihre Korrektheit und Großzügigkeit aber nicht anerkennen. Einen »armer Vetter«, der ihn um Unterstützung anfragte, wies er ab, machte sich dann Vorwürfe und bekam unmittelbar danach den »vielleicht stärksten Stuhlgang meines Lebens« (ebd., 105).
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Eine von Sergejs wiederholten Klagen war, dass die Welt für ihn in einen »Schleier« gehüllt sei, der ihn von der Welt abtrenne. Nur wenn beim »Lavement der Darminhalt den Darm verließ«, zerriss dieser Schleier. Dieses »Mitsprechen« des Darms erachtet Freud als hysterisches Symptom! Indem er die Analyse in dieser Phase auf dieses »hysterisch affizierte Organ« konzentrierte, gelang es, »die stärkste Waffe des Kranken«, seinen »Zweifel als bevorzugtes Mittel seines Widerstandes« zu lockern. Im Übrigen ergab die Analyse dieser Symptomatik seine Identifizierung mit der »Dysenterie« seiner Mutter: »Dysenterie war ihm offenbar der Name der Krankheit, über die er seine Mutter klagen gehört hatte, mit der man nicht leben könne; die Mutter galt ihm nicht als unterleibs-, sondern als darmkrank. Unter dem Einfluß der Urszene erschloß sich ihm der Zusammenhang, daß die Mutter durch das, was der Vater mit ihr vorgenommen, krank geworden sei« (ebd., 109). Im übrigen »erinnerte« Sergej an dieser Stelle der Analyse, dass er die »Urszene, das »Beisammensein der Eltern« durch eine »Stuhlentleerung« unterbrochen hatte. »Gott etwas scheißen« (eine wichtige Zwangsvorstellung) bedeutet demnach auf dieser analsadistischen Stufe »sich von Gott ein Kind schenken lassen«. Freud erinnert an dieser Stelle an das paranoische Wahnsystem Schrebers. Und ebenda benützt Freud einen beachtenswerten Terminus zur Art des Umgangs des Analysanten mit dem Problem der »Kastration«: »Er verwarf sie und blieb auf dem Standpunkt des Verkehrs im After« (ebd., 117; Kursivierung von mir).34 Dann kommt Freud auf eine »Halluzination« zu sprechen, die für spätere Analytiker ein wesentlicher Grund war, Freuds Diagnose anzuzweifeln und eher für eine »Psychose« zu plädieren.35 Der ca. fünfjährige Junge schnitzt mit seinem Taschenmesser an einem Stück Holz, als er plötzlich »mit unaussprechlichem Schrecken« bemerkt, dass er sich einen Finger fast abgeschnitten habe (er hing nur noch an der Haut). Er spürt keinen Schmerz, wohl aber große Angst. Erst nach längerer Zeit wagt er es, auf den Finger zu schauen, und »siehe da, er war ganz unverletzt« (ebd., 118). Freud nimmt an, dass diese »Halluzination« in die Zeit fiel, »als er sich zur Anerkennung der Realität der Kastration entschloß… Er spielte also dabei den Vater und brachte die ihm bekannten Blutungen der Mutter mit der von ihm erkannten Kastration der Frauen, der ›Wunde‹, in Beziehung« (ebd.). Im folgenden Abschnitt Nachträge aus der Urzeit – Lösung bietet Freud dem Leser eine Fülle von Material, großteils aus dieser letzten so ergiebigen Analysephase, das die Phantasie der Urszene umschließt wie weitere Ringe um den Kern einer Zwiebel. Insbesondere taucht dabei seine erste Kinderfrau namens Gruscha auf, die nach allem, 34
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Und Freud stellt klar, dass er mit »Verwerfung« eine andere Art von Abwehr meint als mit »Verdrängung«. Wenn er schreibt, »Am Ende bestanden bei ihm zwei gegensätzliche Strömungen nebeneinander, von denen die eine die Kastration verabscheute, die andre bereit war, sie anzunehmen« (ebd., 117), so nimmt er damit sein späteres Konzept von der Ichspaltung im Abwehrvorgang vorweg, in der diese als ein grundsätzlich anderer Abwehrmechanismus in Form der »Verleugnung« beschrieben wird. Einen ersten Schritt in diese Richtung tat zweifellos Ruth Mack-Brunswick mit ihrer Darstellung der kurzen, aber heftigen Analyse, die der »Wolfsmann« (sie gab ihm diesen Namen!) 1926/27 bei ihr machte. Andere Psychoanalytiker haben sich mit ihrer von Freud abweichenden Diagnose vor allem auf ihre Beschreibung der Symptomatik und der Übertragung berufen (vgl. Mack-Brunswick 1971).
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was Freud hierzu erfährt, wohl seine erste große Liebe war. Von ihr kam auch die früheste Kastrationsdrohung. Und von ihr hatte er auch seine Bevorzugung für »niedere Frauen« und die Haltung »a tergo« in seine erwachsene Sexualität mitgenommen. Schließlich kommt Freud wieder zu seiner Frage zurück: »Ich möchte selbst gerne wissen, ob die Urszene bei meinem Patienten Phantasie oder reales Erlebnis war, aber mit Rücksicht auf ähnliche Fälle muß man sagen, es sei eigentlich nicht sehr wichtig« (ebd., 131). Das erstaunt und lässt uns neugierig lesen, zu welcher Art von »Lösung« Freud jetzt wohl gekommen ist. Er spricht von »unzweifelhaft ererbtem Besitz«, von »phylogenetischer Erbschaft«. Kann es sein, dass Freud jetzt seinem Kontrahenten Jung Recht gibt?! Dann schreibt er wieder das Gegenteil: »[...] aber sie können ebensowohl Erwerb persönlichen Erlebens sein«. Also ein Kompromiss? Beides ist möglich? Aber es wäre nicht Freud, wenn da nicht ein »aber« käme: «In der Anerkennung der phylogenetischen Erbschaft stimme ich mit Jung … völlig zusammen; aber ich halte es für methodisch unrichtig, zur Erklärung aus der Phylogenese zu greifen, ehe man die Möglichkeit der Ontogenese erschöpft hat« (ebd., 131). Es folgt eine interessante Aufklärung bezüglich des »Schleiers«. Erst kurz vor Ende der Kur »besann er sich, er habe gehört, daß er in einer ›Glückshaube‹ zur Welt gekommen sei« (ebd., 133). Deshalb habe er sich immer für ein besonderes Glückskind gehalten, bis ihn die gonorrhoeische Erkrankung ereilte. Durch diese Kränkung brach sein Narzissmus zusammen, wie Freud feststellt: »Die Glückshaube ist also der Schleier, der ihn vor der Welt und ihm die Welt verhüllte. Seine Klage ist eigentlich eine erfüllte Wunschphantasie, sie zeigt ihn wieder in den Mutterleib zurückgekehrt, allerdings die Wunschphantasie der Weltflucht. Sie ist zu übersetzen: Ich bin so unglücklich im Leben, ich muß wieder in den Mutterschoß zurück« (ebd., 134). – Und jetzt kommt noch eine »starke« Konstruktion: »Er wünscht sich in den Mutterleib zurück, nicht um dann einfach wiedergeboren zu werden, sondern um dort beim Koitus vom Vater getroffen zu werden« (ebd., 135). D.h. hinter dieser narzisstisch-regressiven Phantasie vermutet Freud den verstümmelten, zensurierten homosexuellen Wunsch als tiefste Quelle seiner Neurose. Die abschließende Zusammenfassung bringt eine Entwicklungsgeschichte dieser komplexen Neurose in zehn Schritten: 1. seine frühe Ess-Störung 2. die Szene mit Gruscha (als er zweieinhalb Jahre ist), wo er vor ihr uriniert: Freud sieht sie als Beleg für seine Identifizierung mit dem Vater (»Harnerotik als Vertretung der Männlichkeit«) 3. die Kastrationsdrohung der Nanja mit dreieinhalb Jahren: seine »noch zaghafte genitale Organisation« bricht zusammen und er regrediert auf die »sadistisch-anale Organisation« 4. In der Folge wandelt sich der Sadismus in sein »passives Gegenstück, den Masochismus«. 5. Durch die nachträgliche Wirkung der »Urszene« und ihre Wiederkehr im Angsttraum kommt es zur Ersetzung durch die Tierphobie.
Die Fallgeschichten, die wie Novellen zu lesen sind 6. Mit dieser schützt sich das Ich durch die Angst vor der Gefahr des homosexuellen Wunsches. 7. Das hysterische Symptom der Darmstörung ist ein weiterer Beleg, dass sich die verdrängte Homosexualität dorthin »zurückgezogen« hat. 8. Durch den Eintritt in die Zwangsneurose kann die Angst vor dem Vater (dem Wolf) sich in Zwangsfrömmigkeit verschieben. Durch die Identifizierung mit Christus ist auch ein Stück Sublimierung des Masochismus gelungen. 9. In der Phase der Adoleszenz gelingt ihm der »gewaltsame Durchbruch zum Weib«: Die »sinnliche, männliche Strömung mit dem Ziel der Genitalorganisation« kann sich vorübergehend durchsetzen. Freilich blieb unbewusst die »Hinneigung zum Manne« erhalten, sodass er in der Kur die Klage vorbrachte, »daß er es beim Weibe nicht aushalten könne« (ebd., 153). 10. Seine gonorrhoeische Erkrankung (»die organische Affektion des Genitales«) ließ seine Kastrationsangst wieder aufleben und sein Narzissmus gewann die Oberhand: »Er erkrankte also an einer narzißtischen ›Versagung‹« (ebd., 154).
Zusammenfassend hebt Freud drei Besonderheiten dieses »Falles« hervor: Die ungewöhnliche »Zähigkeit der Fixierung«, die »außerordentliche Ausbildung der Ambivalenzneigung« und schließlich die »Fähigkeit, die verschiedenartigsten und widersprechendsten libidinösen Besetzungen alle nebeneinander funktionsfähig zu erhalten« (ebd., 154).
Pankejews weiteres Leben und die Analyse bei Mack Brunswick Pankejew kehrte im Sommer 1914 nach Russland zurück, heiratete Theresa und beendete sein Studium der Rechtswissenschaften. Die Oktoberrevolution brachte ihm den völligen finanziellen Ruin. Nun war er ein mittelloser Emigrant, folgte seiner Frau nach Wien, wo deren todkranke Tochter lebte. Er nahm eine Stelle bei einer Versicherungsgesellschaft an, in der er bis zu seiner Pensionierung verblieb. – Diese tiefgreifenden Veränderungen in seinem Leben stürzten Pankejew in eine Depression, die ihn zu Freud zurückbrachte. Dieser nahm ihn kostenfrei für drei Monate in Analyse, schenkte ihm seine Falldarstellung und sammelte für ihn Geld unter seinen Wiener Schülern. Seiner Ansicht nach diente diese »Nachbehandlung« dazu, »ein noch nicht überwundenes Stück der Übertragung« zu »bewältigen«. Pankejew habe sich dann »normal gefühlt und tadellos benommen« (ebd., 157, Fn.1). Pankejew begann sich aber offenbar mit seiner Fallgeschichte zu identifizieren und suchte 1926 erneut Freud auf, der ihn jetzt aber an Ruth Mack Brunswick überwies. Ruth Mack Brunswick betitelt die Darstellung ihrer Arbeit mit Pankejew bescheiden als Ein Nachtrag zu Freuds ›Geschichte einer infantilen Neurose. Diese Analyse dauerte von Oktober 1926 bis Feber 1927;36 und die Analytikerin diagnostizierte im Gegensatz zu Freud nicht eine Neurose, sondern Paranoia: »Er litt an einer hypochondrischen Wahnidee. Er beklagte sich, daß er das Opfer einer durch Elektrolyse hervorgerufenen
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Auch diese Analyse war eine unentgeltliche.
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Entstellung der Nase geworden sei« (Mack Brunswick 1972, 298). Er kontrollierte ständig das Aussehen seiner Nase, an der er ein »Loch« sah. Keiner der konsultierten Ärzte konnte ihm helfen. Seine zentrale Klage war: »So kann ich nicht mehr leben« (ebd.), was Mack Brunswick als Kern seiner pathologischen Mutteridentifizierung ansah. Die Analytikerin fragte sich, warum Pankejew überhaupt in Analyse kam. Er sprach zunächst ausschließlich von seinen körperlichen Beschwerden und Befürchtungen. Sie vermutete, es handle sich um eine oberflächlich idealisierende, darunter aber hasserfüllte Übertragung auf Freud. Sie beschrieb ihn als gehetzt, schmuddelig und hypochondrisch. Anfang 1924 wurden Pankejew zwei Zähne entfernt. Dieser Zahnarzt prophezeite ihm, dass er alle Zähne verlieren werde, weil er so kräftig zubeiße. Und dieser Zahnarzt hieß laut Mack Brunswick Dr. Wolf! – Dann begann die exzessive Beschäftigung mit seiner Nase. (Als 1923 seine Mutter nach Wien übersiedelte, bemerkte er am Bahnhof, als er sie abholte, auf ihrer Nase eine schwarze Warze.) Der Wolfsmann hasste diesen Arzt, der ihm erklärt hatte, nichts für seine Narbe an der Nase tun zu können. Abwechselnd dachte er an Selbstmord oder daran, diesen Mann zu töten. Im ersten Traum dieser Analyse kam wieder die Wolfsszene. Dieses Mal befürchtete er, die Wölfe würden ihn vernichten. Der Wolfsmann interpretierte seinen Traum so, dass alle seine Schwierigkeiten aus seinem Verhältnis zu seinem Vater stammten und dass er deshalb froh sei, jetzt bei einer Frau in Analyse zu sein. In der Folge kam immer mehr Material über Freud und über die Frau des Wolfsmanns, aber zunächst nichts über ihn selbst und seine hypochondrischen Ängste. Da starb der Dermatologe Prof. X., den der Wolfsmann für die Entstellung seiner Nase verantwortlich machte. Mack Brunswick teilte ihm das mit. Die Überraschung war offenbar groß. Sie schreibt, dass der Wolfsmann »vom Diwan aufsprang, die Fäuste ballte und die Arme erhob mit einer dramatischen Gebärde, wie sie einem echten Russen zukam. Mein Gott, rief er, jetzt kann ich ihn nicht mehr umbringen« (ebd., 319). Die Analytikerin deutete ihm, dass seine Racheimpulse gegen X wohl auch gegen Freud gerichtet seien. Der Wolfsmann entgegnete, dass Freud ihm doch größte Zuneigung gezeigt habe und zeige (er unterstützte ihn nach wie vor finanziell). Mack Brunswick nahm an, dass der Wolfsmann in seinem Bewussten nur die positiv-idealisierende Übertragung auf Freud habe, die negative Übertragung aber abgespalten sei. Sie beschloss, »die Vorstellung, er werde von Freud wie ein Lieblingssohn betrachtet und behandelt, anzugreifen und zu untergraben« (ebd., 320). Darauf produziert Pankejew mehrere Träume, die seine Verachtung für seine Analytikerin und in der Folge auch für Freud zeigen. So etwa in folgendem Traum: »Auf der Straße, vor dem Haus von Prof. X., der den Patienten analysiert, steht eine alte Zigeunerin. Sie verkauft Zeitungen (ich hatte ihm an Stelle einer Zeitung zuerst von Prof. X.s Tod berichtet), schwatzt und plappert dabei aufs Geratewohl mit sich selbst – niemand hört ihr zu« (ebd., 321). Mack Brunswick deutete, dass die Zigeunerin sie darstellte – und der Wolfsmann sich offenbar nach Freud als Analytiker zurücksehne. Daraufhin antwortete der Wolfsmann, dass er überzeugt sei, dass sie Freud alles über seine Analyse berichtete. Sie teilte ihm mit, dass dem nicht so sei. Mack Brunswicks Eindruck war, dass er dadurch verunsichert, ja erschreckt und verärgert war. Der nächste Traum: »Der Vater des Patienten, im Traum ein Professor, der aber gleichzeitig einem Bettelmusikanten ähnelt, den der Patient kennt, sitzt an einem Tisch und warnt die Anwesenden,
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vor dem Patienten nicht über Geldangelegenheiten zu reden, da dieser gerne spekuliere. Die Nase seines Vaters ist lang und krumm, worüber der Patient sich wundert« (ebd.). Die Analytikerin deutet diesen Traum als Kastrationswunsch gegen den Vater (und Freud), als Wut gegen beide, da sie seine homosexuelle Liebe nicht erwidern. In der Folge kam mehr Material über die Operationen Freuds – und Mack Brunswick blieb bei ihrer Linie, ihm seine Todeswünsche gegen Freud zu deuten. Der Wolfsmann wurde nun in seinen Träumen immer paranoischer und auch megalomanischer: Er verglich sich mit Christus und dem Zarewitsch. Er drohte auch damit, Freud und Mack Brunswick zu erschießen. Brunswick erkannte, »wie nötig er seine Megalomanie gebraucht hatte, um sich zu schützen« (ebd., 327) – und sie hatte Angst, dass sein Zustand noch weiter eskalieren könnte. Dann kam ein Traum, der sie sehr erleichterte: »Der Patient ist mit seiner Mutter in einem Zimmer, in dem in einer Ecke die ganze Wand mit Heiligenbildern bedeckt ist. Die Mutter nimmt die Bilder herunter und wirft sie auf den Boden. Die Bilder zerbrechen in Stücke. Der Patient ist erstaunt, daß seine fromme Mutter so etwas tut« (ebd.). Mack Brunswick versteht den Traum so, dass die Mutter für die Analytikerin steht. Sie ist aber sehr erstaunt, dass nach diesem Traum sich beim Patienten eine einschneidende Veränderung ergab: Seine paranoischen und hypochondrischen Symptome waren jetzt der Analyse zugänglich. Im letzten Traum dieser Analyse geht der Wolfsmann mit einem anderen Dermatologen auf der Straße. Der Wolfsmann nennt den Namen des Arztes, der seinerzeit seine Gonorrhöe mit einem zu starken Mittel behandelt hatte. Beim Hören des Namens sagt der Arzt: »nein, nein, nicht dieser, ein anderer« (ebd., 332). Mack Brunswick deutet, dass mit dem »anderen« der Vater gemeint sei, der also für alle »Krankheiten« verantwortlich sei. Und »Krankheit« bedeute »Kastration.« »Erst nach diesem Traum gab der Patient, und zwar sofort, seine Wahnvorstellungen auf… Die vollständige Wiederherstellung kam plötzlich auf fast trivial zu bezeichnende Art. Er bemerkte auf einmal, daß er wieder Novellen lesen und sich auch daran freuen könne… von da an war er gesund« (ebd., 333). Mack Brunswick diskutiert dann nochmals ihre Überlegungen zur Diagnose. Sie spricht von einem »hypochondrischen Typus von Paranoia«: »Die echte Hypochondrie ist keine Neurose; sie reiht sich eher den Psychosen ein« (ebd., 334), weil die hypochondrischen Phantasien nur die Funktion hätten, die darunter liegenden Verfolgungsideen zu verbergen. – Warum der Wolfsmann nach der »erfolgreichen Analyse« bei Freud erneut – und so schwer – erkrankte, erklärt sich Mack Brunswick mit der Krebserkrankung Freuds, von der der Wolfsmann wusste: »Der drohende Tod einer geliebten Person läßt alle Liebe, die man ihr zuwendet, aufblühen. Aber diese Liebe zu seinem Vater – Freud stellt ja für ihn den Vater dar – bedeutet die größte Gefahr für seine Männlichkeit… Diese Gefahr wehrt der Narzißmus des Patienten mit allen Kräften ab: die Liebe wird teils verdrängt, teils in Haß verwandelt. Die Folge dieses Hasses ist der Todeswunsch gegen den Vater« (ebd., 344). 1938 wurde Pankejews trauriges Schicksal ein weiteres Mal erschüttert. Wenige Tage nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Wien fand er seine Frau tot in ihrer gemeinsamen Wohnung auf. Sie hatte den Gashahn aufgedreht. – Nach 1945 nahm sich die freudianische Bewegung in einer sehr speziellen Weise des immer wieder melancholischen Wolfsmanns an. Muriel Gardiner besuchte ihn regelmäßig, wenn sie in Wien
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war, und sie und Kurt Eissler bemühten sich um eine Geldunterstützung und animierten Pankejew, seine Memoiren niederzuschreiben und seine Fallgeschichte persönlich zu kommentieren. In den langen Jahren seit seiner Pensionierung begann Pankejew zu malen – und erstellte auch ein Bild von seinem mittlerweile so berühmten »Wolfstraum«. Er starb 1979 hochbetagt in Wien in Anwesenheit seines Arztes, des Analytikers Graf Wilhelm Solms-Rödelheim.
Diskussion Zur Diagnose: Seit Mack Brunswicks Veröffentlichung ihres Nachtrags 1929 war das psychoanalytische Lager gespalten: die Anhänger der Psychose auf der einen Seite, die Verfechter der Neurose auf der anderen Seite. – Freud selbst kam in Die endliche und die unendliche Analyse nochmals auf seine Diagnose zu sprechen, wenngleich sein Hauptthema 1937 das der Terminsetzung war. Er gestand ein, dass seine positive Einschätzung von 1914 sich nur mit »Einschränkungen« als berechtigt erwiesen habe. Er lobt die Arbeit von Mack Brunswick und spricht von einem »deutlich paranoischen Charakter« des Wolfsmanns (Freud 1937b, 62), lässt damit die Frage der strukturellen Einordnung dieser Störung offen. – Muriel Gardiner sprach bei ihren »diagnostischen Eindrücken« von einer »mit Defekten ausgeheilten Zwangsneurose« (Gardiner 1972, 411), was sie als Bestätigung der Einschätzung Freuds verstand. Dann kommt sie aber doch näher auf den »Defekt« zu sprechen: »Einige Manifestationen dieses Defektes sind nach der Analyse des Wolfsmannes noch geblieben: Perioden der Depression, des Zweifelns und Hinund Herschwankens, Ambivalenz, Schuldgefühle und starke narzißtische Bedürfnisse« (ebd.). Gardiner unterstreicht aber auch die Erfolge der drei Analysen: »Der Wolfsmann war fähig zu heiraten und während der dreiundzwanzig Jahre seiner Ehe sorgte er für seine Frau und betreute sie. Er nahm auch ein echtes, liebevolles Interesse an der kleinen Tochter Thereses und betrauerte ihren frühen Tod. Nach dem Selbstmord seiner Frau umsorgte er fünfzehn Jahre lang seine Mutter zärtlich und seit dem Tode seiner Mutter beschützt er getreulich Fräulein Gaby« (ebd., 412). Autoren im Umfeld von Otto Kernberg verorteten die Symptomatik des Wolfsmanns im Grenzgebiet zwischen Neurose und Psychose. Es sind vor allem drei Phänomene, auf die sich die Vertreter einer »schwereren Störung« berufen: Die Szene des Kindes, das glaubt, sein Finger sei abgeschnitten, die als Hinweis auf ein »Delir« gedeutet wird; die große Klage des Wolfsmanns, »daß die Welt für ihn in einen Schleier gehüllt sei, oder er durch einen Schleier von der Welt getrennt sei« (Freud 1918, 106); und die Vorstellung von der »Glückshaube« (ebd.), was als deutlicher Hinweis auf eine »narzisstische Störung« betrachtet wird; und schließlich die heftigen destruktiven Übertragungen auf Freud und Mack Brunswick, die als Beleg dafür gedeutet wurden, wie stark der Wolfsmann unter dem Diktat des Todestriebes stehe (vgl. etwa Groysbeck 2008). Zur Frage der Urszene und zu Freuds Konzept der Nachträglichkeit: Mit dieser Fallgeschichte hat Freud sein Konzept der Nachträglichkeit, das er seit seinem Entwurf sukzessive weiterentwickelt hat, an einem klinischen Fall vertiefen und differenzieren können. Ein wesentlicher konzeptiver Gedanke dabei ist, wie auf der Basis von »Erinnerungen« Phantasien nicht nur einmalig, sondern fortwährend neu geformt und überarbeitet werden. Freud führt als Indiz für die Urszenenhypothese »das nachhaltige
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Wirklichkeitsgefühl« an, in welches der Wolfstraum auslief und das auch der Analysant »bemerkenswert« fand. Freuds Kommentar an dieser Stelle: »Wir wissen aus den Erfahrungen der Traumdeutung, daß diesem Wirklichkeitsgefühl eine bestimmte Bedeutung zukommt. Es versichert uns, daß etwas in dem latenten Material des Traumes den Anspruch auf Wirklichkeit in der Erinnerung erhebt, also daß der Traum sich auf eine Begebenheit bezieht, die wirklich vorgefallen und nicht bloß phantasiert worden ist« (Freud 1918, 59). Die Erzählung des Wolfstraums in der Analyse offenbart ja eine doppelte Nachträglichkeit: zum einen, daß dieser Traum dem Patienten erst in der Analyse, nach zwanzig Jahren, wieder einfällt, er ihn aber in voller Lebhaftigkeit berichtet; zum anderen, dass der Traum selbst auf etwas zurückzuführen ist, das im Alter von anderthalb Jahren stattgefunden haben muss – wenn es denn stattgefunden hat. – Hier ist erst einmal Vorsicht geboten, geht es doch um die berühmte »Urszene«, bei der Freud, wie wir gelesen haben, die Möglichkeit offenlässt, das es sich bei ihr auch um eine »Urphantasie« handeln könnte (die gar auf phylogenetische Erbschaft zurückzuführen wäre). Im Zusammenhang zwischen dieser hypothetischen ›Urszene‹ und dem Traum von den Wölfen erweist sich nun der eigentliche Sinn des Theorems der Nachträglichkeit: »In einen Angsttraum umsetzen konnte sich die angeblich im Alter von anderthalb Jahren gemachte Beobachtung erst, nachdem inzwischen die Kastrationsdrohung ins Spiel gekommen war; nachträglich bekommt das damals Beobachtete einen Sinn, der ihm bei der Beobachtung nicht gegeben werden konnte. Und nur aus Sicht dieser Nachträglichkeit kann man sagen, daß die Wirkung der ›Urszene‹ eine traumatische war« (Gondek 1996, 49). – Es handelt sich also, wie Hans-Dieter Gondek treffend formuliert, um eine »gestaffelte Nachträglichkeit« (ebd.). – Lesen wir dazu nochmals Freud selbst: »Das Kind empfängt mit 1 1/2 Jahren einen Eindruck, auf den es nicht genügend reagieren kann, versteht ihn erst, wird von ihm ergriffen bei der Wiederbelebung des Eindrucks mit vier Jahren, und kann erst zwei Dezennien später in der Analyse mit bewußter Denktätigkeit erfassen, was damals in ihm vorgegangen. Der Analysierte setzt sich dann mit Recht über die drei Zeitphasen hinweg und setzt sein gegenwärtiges Ich in die längstvergangene Situation ein« (Freud 1918, 72). Wie können wir also Freuds Schwanken bezüglich des Realitätswerts der »Urszene« begreifen? Könnten wir nicht annehmen, dass aufgrund der Unauflöslichkeit des »Traumas« immer beides beteiligt ist: »Wir haben es mit einer Szene zu tun, in der Reales begegnet, doch gestützt von einem Phantasma, das der Szene eine Form gibt, aber auch eine Grenze setzt. So daß das Reale nie rein begegnet, sondern immer im Kontext eines Versuches, es symbolisch zu erfassen« (Gondek 1996, 61). Freuds »non liquet« macht also Sinn. Phantasie und/oder Wirklichkeit: Der Einfluss auf das Triebschicksal ist jedenfalls einschneidend – und dies war es, was Freud gegen Jung beweisen wollte: Der Erwachsenenneurose geht immer eine infantile Neurose voraus!
Ein Resümee: Wie lesen wir »Fallgeschichten«? Kehren wir kurz an den Anfang dieses Kapitels zurück, zu Freuds Irritation, dass sich seine Fallgeschichten wie Novellen lesen bzw. »wie Novellen zu lesen sind.« Wie können
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Die Fallgeschichten, die wie Novellen zu lesen sind
Wirklichkeitsgefühl« an, in welches der Wolfstraum auslief und das auch der Analysant »bemerkenswert« fand. Freuds Kommentar an dieser Stelle: »Wir wissen aus den Erfahrungen der Traumdeutung, daß diesem Wirklichkeitsgefühl eine bestimmte Bedeutung zukommt. Es versichert uns, daß etwas in dem latenten Material des Traumes den Anspruch auf Wirklichkeit in der Erinnerung erhebt, also daß der Traum sich auf eine Begebenheit bezieht, die wirklich vorgefallen und nicht bloß phantasiert worden ist« (Freud 1918, 59). Die Erzählung des Wolfstraums in der Analyse offenbart ja eine doppelte Nachträglichkeit: zum einen, daß dieser Traum dem Patienten erst in der Analyse, nach zwanzig Jahren, wieder einfällt, er ihn aber in voller Lebhaftigkeit berichtet; zum anderen, dass der Traum selbst auf etwas zurückzuführen ist, das im Alter von anderthalb Jahren stattgefunden haben muss – wenn es denn stattgefunden hat. – Hier ist erst einmal Vorsicht geboten, geht es doch um die berühmte »Urszene«, bei der Freud, wie wir gelesen haben, die Möglichkeit offenlässt, das es sich bei ihr auch um eine »Urphantasie« handeln könnte (die gar auf phylogenetische Erbschaft zurückzuführen wäre). Im Zusammenhang zwischen dieser hypothetischen ›Urszene‹ und dem Traum von den Wölfen erweist sich nun der eigentliche Sinn des Theorems der Nachträglichkeit: »In einen Angsttraum umsetzen konnte sich die angeblich im Alter von anderthalb Jahren gemachte Beobachtung erst, nachdem inzwischen die Kastrationsdrohung ins Spiel gekommen war; nachträglich bekommt das damals Beobachtete einen Sinn, der ihm bei der Beobachtung nicht gegeben werden konnte. Und nur aus Sicht dieser Nachträglichkeit kann man sagen, daß die Wirkung der ›Urszene‹ eine traumatische war« (Gondek 1996, 49). – Es handelt sich also, wie Hans-Dieter Gondek treffend formuliert, um eine »gestaffelte Nachträglichkeit« (ebd.). – Lesen wir dazu nochmals Freud selbst: »Das Kind empfängt mit 1 1/2 Jahren einen Eindruck, auf den es nicht genügend reagieren kann, versteht ihn erst, wird von ihm ergriffen bei der Wiederbelebung des Eindrucks mit vier Jahren, und kann erst zwei Dezennien später in der Analyse mit bewußter Denktätigkeit erfassen, was damals in ihm vorgegangen. Der Analysierte setzt sich dann mit Recht über die drei Zeitphasen hinweg und setzt sein gegenwärtiges Ich in die längstvergangene Situation ein« (Freud 1918, 72). Wie können wir also Freuds Schwanken bezüglich des Realitätswerts der »Urszene« begreifen? Könnten wir nicht annehmen, dass aufgrund der Unauflöslichkeit des »Traumas« immer beides beteiligt ist: »Wir haben es mit einer Szene zu tun, in der Reales begegnet, doch gestützt von einem Phantasma, das der Szene eine Form gibt, aber auch eine Grenze setzt. So daß das Reale nie rein begegnet, sondern immer im Kontext eines Versuches, es symbolisch zu erfassen« (Gondek 1996, 61). Freuds »non liquet« macht also Sinn. Phantasie und/oder Wirklichkeit: Der Einfluss auf das Triebschicksal ist jedenfalls einschneidend – und dies war es, was Freud gegen Jung beweisen wollte: Der Erwachsenenneurose geht immer eine infantile Neurose voraus!
Ein Resümee: Wie lesen wir »Fallgeschichten«? Kehren wir kurz an den Anfang dieses Kapitels zurück, zu Freuds Irritation, dass sich seine Fallgeschichten wie Novellen lesen bzw. »wie Novellen zu lesen sind.« Wie können
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Sigmund Freud lesen
wir diese Irritation jetzt nach dem Durchgang durch seine fünf »großen« Falldarstellungen verstehen? Wenn wir uns die Kommentare von Steven Marcus, Peter André Alt und Elisabeth Roudinesco/Michel Plon zu Freuds Dora-Darstellung in Erinnerung rufen, so verwiesen sie deutlich auf die literarischen und kulturspezifischen Bezüge: Der gebildete Leser denke bei Freuds Darstellung unvermeidlich an Schnitzler, Proust oder Ibsen. Aber liegt dies nur an seiner Art der Präsentation – oder steckt da »Methode« dahinter? – Erinnern wir uns an den zentralen Signifikanten in der Fallgeschichte des Kleinen Hans, das »Pferd«. Freud konnte eindrücklich zeigen, dass dieses Wort abwechselnd für den Vater, die schwangere Mutter, das Kindermädchen oder auch den Kleinen Hans selbst steht. Das heißt aber nicht weniger, dass Freud in dieser »Kur« die sprachliche Fundierung des Unbewussten, ein spezielles Sprechen als Struktur des Unbewussten erkannt hat, was wir auf die Formel bringen wollen: Freud hat den »Signifikanten« entdeckt! Freuds genaues Hören auf die Worte des Kleinen Hans hat ihn – so unterstellen wir – in seiner Annahme bestärkt, dass das Unbewusste »novellenartig« spricht. Auch die Geschichte des Rattenmanns präsentiert sich wie eine Hamlet-Geschichte: Das Phantom eines verstorbenen (ermordeten) Vaters sucht den Sohn heim. Seine magisch aufgeladene Sprache mit Gebeten, Formeln und eigenartig anmutenden Wortkreationen soll diesen Bann brechen. – Und in Schreber und dessen »Grundsprache« findet Freud ein für ihn einzigartiges Dokument einer Psychose: Schreber wird von dieser Sprache »gesprochen« – und Freud versteht dies so, dass hier das »Unbewusste« ganz unmittelbar spricht – und: diese »Grundsprache ist Symbolsprache, d.h. sie ist deutbar! Eine zweite anfangs aufgeworfene Frage war die nach dem Verhältnis von »Technik« und »Praxis« bei Freud: Stimmt es, dass sich hier eine »Kluft« auftut zwischen den technischen Ratschlägen, die Freud in seinen technischen Schriften formuliert, und seiner eigenen Behandlungspraxis? Wir glauben, im Kapitel über die technischen Schriften Freuds Verständnis von »Technik« und »Regeln« hinlänglich erläutert zu haben. – Was seine praktische Arbeitsweise unterstreicht, ist die Einsicht, dass er – entgegen der Ansicht vieler seiner nachträglichen Interpreten – induktiv und pragmatisch vorgeht. So hat er etwa aus seinem Scheitern mit Dora weitreichende theoretische und technische Konsequenzen gezogen (was das Verständnis der Übertragung und den Umgang mit dieser betrifft). Ein anderes Beispiel ist seine »Terminsetzung« in der Arbeit mit dem »Wolfsmann«: Freud erfindet eine neue »Regel«, die in der Arbeit mit Zwangsneurotikern Sinn machen kann. Ein dritter Aspekt betrifft Freuds Verständnis der klinischen Erscheinungsbilder: Diese Fallgeschichten bieten nicht nur einen intimen Einblick in die Art, wie Freud arbeitete, sie geben uns zudem eine differenzierte Einsicht in Freuds wachsendes Verständnis für die Symptomatiken von Hysterie, Phobie, Zwangsneurose und Psychose. In jeder dieser Darstellungen finden wir neben der Schilderung des analytischen Prozesses und seiner Dynamik eine theoretische Reflexion über die Struktur und die spezifischen Abwehrformen. So kann man mit einigem Recht sagen, dass Freud mit »Dora« die Grundstruktur der Hysterie beschrieben hat; dass er mit dem »kleinen Hans« nicht nur die erste Kinderanalyse bzw. die erste Supervisionsarbeit dargestellt hat, sondern an diesem »Fall« die konkreten Phantasmen der infantilen Sexualität erkannt und ei-
Die Fallgeschichten, die wie Novellen zu lesen sind
ne Bestätigung für seine Annahmen zum Ödipuskomplex und zur Kastration gefunden hat. – Der »Rattenmann« geht als bleibende Charakteristik der »feineren Mechanismen der Zwangsneurose« (Freud 1909b, 381) in die Annalen der Psychoanalyse ein. Und in den ersten Stunden dieser Kur erkennt Freud am »Grausen vor einer ihm selbst unbekannten Lust« (ebd., 382) eine andere Art des Triebausdrucks, die er später als ein »Jenseits des Lustprinzips« klassifizieren wird. Eine weitere neue Erkenntnis zur Zwangsneurose ist: Das Denkvermögen des Rattenmanns ist sexualisiert; sein Grübeln, Zweifeln, seine magischen Formeln haben eine überdeterminierte Bedeutung, die auch den Analytiker zeitweilig erfasst – er wird »angesteckt« und kann selber nicht mehr klar denken. Schrebers Psychose, dessen extremen »Egozentrismus« liest Freud als Regression auf den frühkindlichen Narzissmus. Der »paranoische Mechanismus« als Kern dieser Art der Psychose dient der Abwehr des homosexuellen Wunsches – und die Projektion ist dabei der entscheidende Abwehrmechanismus. – Was Freud an der Psychose besonders interessiert: Er ist überzeugt, dass in Schrebers Phantasien offen zu Tage tritt, was beim Neurotiker ebenfalls da, aber gut verdrängt ist. – Und Freuds Arbeit mit dem Wolfsmann fokussiert auf die »Urszene« und die sich daran anschließenden Fragen: Ist es Phantasie oder »Realität«, ein »Reales« bzw. ein »Trauma«? Und welche Rolle spielt diese Vergangenheit für die Gegenwart kraft der mehrfachen Arbeit der »Nachträglichkeit«? Freuds Reflexionen zur Frage der Diagnose bzw. zum Symptomwandel beim »Wolfsmann« zeigen ein buntes und verwirrendes Bild: von der frühen Ess-Störung über Phobie, Hysterie bis zum Zwang; und die »narzisstische Versagung« in der Adoleszenz (Gonorrhöe) lässt diesen auf seine Kastrationsangst regredieren. Zuletzt: Diese Fallgeschichten offenbaren einen beeindruckenden Fortschritt, jedenfalls eine Entwicklung von Freuds »Technik«, insbesondere was sein Verständnis für die Übertragung und den Umgang mit ihr betrifft: Sein »Scheitern« mit Dora hat ihm die Idee der »Übertragungsneurose« gebracht; indem er diesen »Abbruch« als »Agieren« verstehen lernte, versuchte er in den künftigen Analysen solche Anzeichen zeitgerechter einer Deutung zuzuführen: So ist in seiner Darstellung der zweiten Stunde mit dem »Rattenmann« ganz deutlich von dessen Übertragung der komplexen Gefühle gegenüber dem Hauptmann auf Freud die Rede. D.h. Freud »erkennt« die »falsche Verknüpfung« und »arbeitet« mit ihr. So hat der Erfolg dieser Kur nicht zuletzt mit diesem anderen Umgang Freuds mit der Übertragung zu tun.
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Jenseits des Lustprinzips – ein Gründertext und seine Folgen Ohne metapsychologisches Spekulieren und Theoretisieren – beinahe hätte ich gesagt: Phantasieren – kommt man hier keinen Schritt weiter. (S. Freud 1937) Man kann sagen, daß die ›Erfindung‹ der Sexualität und des Todes miteinander Hand in Hand gehen. (A. Green 1983)
Zur Vorgeschichte: Der Erste Weltkrieg, das verworfene Projekt einer Metapsychologie, das Thema des Todes und andere Vorahnungen Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war für Freud wie für viele Zeitgenossen ein Schock. Nicht nur waren zwei seiner Söhne an der Front. Freud fühlte sich auch in der psychoanalytischen community zunehmend isoliert, einzig mit Sandor Ferenczi war er in intensiverem Austausch. Mit Fortdauer des Krieges blieben auch die Patienten aus – und der materielle Mangel wurde im Alltag der Familie Freud immer spürbarer. Nach den ersten Kriegsmonaten, die Freud eine Denk- und Schreibhemmung bescherten, nutzte er die freie Zeit für neue Schreibprojekte. Freud fasste den Plan eines Buches zur Metapsychologie ins Auge, mit unterschiedlichen Themenbereichen. Es sollten ursprünglich 12 Aufsätze werden. Einige davon wurden in den Jahren 1915 und 1916 publiziert (wie die Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre, Triebe und Triebschicksale, Die Verdrängung, Das Unbewußte). Freud verfolgte damit das Ziel einer Klärung und Vertiefung der theoretischen Annahmen, die sich als Konsequenz seiner Narzissmus-Theorie ergaben.1 Laut Ernest Jones schrieb Freud weitere 7 Arbeiten bis zum August 1915, die er aber nie veröffentlicht hat. Einer der Artikel sollte sich mit den Übertragungsneurosen befassen und diese aus einer phylogenetischen Perspektive darstellen. – Der engste Gesprächspartner war diesbezüglich Sandor Ferenczi. An diesen schrieb Freud am 12. Juli 1
Wir haben diese Aufsätze in unserem Kapitel zum Narzissmus ausführlich besprochen.
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1915: »Ich habe es jetzt bei der Vorbereitung der ›Übersicht der Übertragungsneurosen‹ mit Phantasien zu tun, die mich stören und kaum einen Niederschlag für die Öffentlichkeit ergeben werden. Hören Sie darum zu« (Freud&Ferenczi 1995, zit.n. Jones 1962 385f). Und er verrät seine zentralen Gedanken: »Dagegen scheint diese Reihe phylogenetisch einen historischen Hergang zu wiederholen. Was jetzt Neurosen sind, waren Zustandsphasen der Menschheit. Mit dem Einbruch der Entbehrung in der Eiszeit wurden die Menschen ängstlich, sie hatten allen Grund, Libido in Angst zu verwandeln. Als sie gelernt hatten, daß die Fortpflanzung jetzt der Feind der Erhaltung sei und eingeschränkt werden müßte, wurden sie – noch sprachlos – hysterisch. Nachdem sie in der harten Schule der Eiszeiten Sprache und Intelligenz entwickelt – wesentlich die Männer – bildete sich die Urhorde mit den zwei Verboten des Urvaters, während das Liebesleben egoistisch-aggressiv verbleiben mußte. Gegen diese Wiederkehr wehrt sich die Zwangsneurose. Die folgenden Neurosen gehören dem neuen Zeitalter an und sind von den Söhnen erworben worden« (ebd.). Diese Idee einer phylogenetischen Herleitung der modernen Neurosen ist so neu nicht. Ausführliche Überlegungen dazu finden sich bereits in Totem und Tabu, aber auch in Das Unbewußte: »Den Inhalt des Ubw kann man einer psychischen Urbevölkerung vergleichen. Wenn es bei Menschen ererbte psychische Bildungen, etwas dem Instinkt der Tiere Analoges gibt, so macht dies den Kern des Ubw aus« (Freud 1915c, 294). 1983 entdeckte Ilse Grubrich-Simitis in London in einem Koffer, der Michael Balint von seinem Lehrer Sandor Ferenczi übergeben worden war, das Manuskript offenbar genau jenes Artikels, von dem Freud damals an Ferenczi schrieb. Aufgrund eines Briefes auf der Rückseite des ersten Manuskriptblattes konnte sie diesen Text zuordnen: Es ist der Entwurf der verloren geglaubten zwölften metapsychologischen Abhandlung Freuds aus dem Jahr 1915. Nach Grubrich-Simitis könnte Freuds Forschungsfrage damals in etwa so gelautet haben: »Woher rühren letzten Endes der pathogene Terror der Kastrationsbefürchtung, die Glut der ödipalen Liebes- und Todeswünsche, die Wucht der damit verknüpften Schuldgefühle … etwas derart konstant, massiv und in jeder Generation aufs neue Wirksames muß letztlich in der materiellen Außenwelt begründet sein oder zumindest begründet gewesen sein« (Grubrich-Simits 2007, 642). Freud beruft sich in diesem Aufsatz mehrfach auf Ferenczi. So habe dieser in Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinns »die Idee ausgesprochen, daß die weitere Entwicklung dieses Urmenschen unter dem Einfluß der geologischen Erdschicksale erfolgt ist und daß insbesondere die Not der Eiszeiten ihm die Anregung zur Kulturentwicklung gebracht hat« (Freud 1915/1985, 73). – Freuds Idee in dieser Abhandlung ist es u.a., die drei Dispositionen zur Angsthysterie, Konversionshysterie und Zwangsneurose als »Regressionen auf Phasen zu erkennen, welche dereinst die ganze Menschenart vom Beginn bis zum Ende der Eiszeiten durchzumachen hatte« (ebd.). – Zwischendurch befallen Freud immer wieder Zweifel, ob dieser theoretische Ansatz sich zu weit von der Empirie entfernt: »Ob die hier entworfene Parallele mehr ist als eine spielerische Vergleichung« (ebd., 79) – oder am Ende: »Im ganzen sind wir nicht am Ende, sondern zu Anfang eines Verständnisses dieses phylogenetischen Faktors« (ebd., 81). In diesem Zweifel erblicken Grubrich-Simitis und andere Forscher den eigentlichen Grund, warum Freud diesen und die anderen sechs metapsychologischen Auf-
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sätze letztlich verschwinden ließ: Freud und Ferenczi waren überzeugte Lamarckisten und insofern befanden sie sich im Widerspruch zum wissenschaftlichen mainstream, der damals vehement darwinistisch und antilamarckistisch war. Sie verfolgten in diesen Jahren das Projekt einer »Vollendung der Psychoanalyse« (so Freud in einem Brief an Abraham vom 11.11.1917; Freud&Abraham 1965, 247) durch die Anwendung lamarckistischer Gedanken auf die Psyche. Es sollte eine psychoanalytische Naturgeschichte werden, die schließlich als »phylogenetische Phantasie« (vgl. Grubrich-Simitis 1987) in die Geschichte der Psychoanalyse eingegangen ist.2 In den Briefen zwischen Freud und Ferenczi während der Kriegsjahre wird dieses »Lamarck-Projekt« immer wieder diskutiert. Allerdings bekunden beide auch Vorbehalte. Sowohl Freuds Buchprojekt als auch Ferenczis Metabiologie-Plan gerieten ins Stocken. Aber die phylogenetischen Gedanken beschäftigen beide weiter. Im Frühjahr 1919 ist Freud dann endgültig mit anderen Projekten beschäftigt: Er schreibt Ein Kind wird geschlagen und im März des Jahres hat er die erste Fassung von Jenseits des Lustprinzips fertig. Ferenczi wird schließlich 1924 seinen Versuch einer Genitaltheorie publizieren, der, wie Grubrich-Simitis schreibt, »gleichsam der Erbe des aufgegebenen LamarckismusProjekts und in gewisser Weise auch der verworfenen ›phylogenetischen Phantasie‹« ist (Grubrich-Simitis 1985, 107). 1915 reagiert Freud auf den mittlerweile totalen Krieg mit den Aufsätzen Zeitgemäßes über Krieg und Tod sowie Vergänglichkeit. Der Titel des ersten spielt, wie Micha Brumlik meint, auf Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen an: »Der Krieg wird nun zum Anlaß einer Enttäuschungsverarbeitung und einer meditatio mortis, einer neu einsetzenden Überlegung zum Wesen des Todes… stellt die Reflexion über den Tod die innige Verbundenheit von Tötungs- und Verbundenheitswünschen in zwischenmenschlichen Beziehungen heraus. So wird der Krieg zum Lehrmeister« (Brumlik 2006, 159). Das 1. Kapitel nennt Freud »Die Enttäuschung des Krieges«. Als solche beschreibt Freud die Tatsache, dass die Fortschritte der letzten Jahrhunderte bezüglich Aufklärung und Zivilisiertheit die »Kulturvölker« nicht davon abhalten, jetzt einen Krieg zu führen, der »mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgend ein früherer« (Freud 1915e, 329) ist. Freud liefert folgende psychoanalytische Erklärung für diesen Vorgang: Die Sublimierung der »bösen« Triebe (»durch die Zumischung der erotischen Komponenten werden die eigensüchtigen Triebe in soziale umgewandelt« (ebd., 333) weicht in der jetzigen Zeit einer kollektiven Regression: »Ohne Zweifel gehören die Einflüsse des Krieges zu den Mächten, welche solche Rückbildung erzeugen können« (ebd., 338). Das zweite Kapitel nennt sich »Unser Verhältnis zum Tode«. Dieses Verhältnis ist auch in Friedenszeiten »kein aufrichtiges… Wir haben die unverkennbare Tendenz gezeigt, den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren. Wir haben versucht, ihn totzuschweigen… Der eigene Tod ist ja unvorstellbar« (ebd., 341). Und diese Verleugnung hat einen tieferen Grund, davon ist Freud überzeugt: »Im Unbewußten ist
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Die Fortführung dieser Gedanken findet sich dann schlussendlich in Freuds Der Mann Moses, in dem die Entwicklung der jüdischen Tradition lamarckistisch gedacht wird: 500 bis 800 Jahre nach der Ermordung des Moses, der als ein Fremder, ein Ägypter, eingeführt wird, errichten die Juden ihre Tradition der monotheistischen Religion auf der Basis ihres Schuldgefühls für diesen Mord.
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jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt« (ebd.).3 Der Krieg bewirke, dass er »diese konventionelle Behandlung des Todes hinwegfegen muß. Der Tod läßt sich jetzt nicht mehr verleugnen, man muß an ihn glauben« (ebd., 344). Dann macht Freud einen Ausflug in die Frühzeit der Menschheit. Nach seiner Rekonstruktion hatte der Urmensch ein »merkwürdiges« Verhältnis zum Tod: Einerseits habe er ihn »ernst« genommen, andererseits aber auch »geleugnet«. Vor allem der Tod des anderen, des Fremden, des Feindes »war ihm recht« (ebd., 345). Freud erinnert dann an seine Überlegungen aus Totem und Tabu zur »Urschuld«, mit der die Entwicklung zur Zivilisiertheit begonnen habe. Der Tod der geliebten, aber zugleich auch »fremden« Nebenmenschen habe einen Gefühlskonflikt erzeugt, der schließlich zur Erfindung der Religion geführt habe: »An der Leiche der geliebten Person entstanden nicht nur die Seelenlehre, der Unsterblichkeitsglaube und eine mächtige Wurzel des menschlichen Schuldbewußtseins, sondern auch die ersten ethischen Gebote. Das erste und bedeutsamste Verbot des erwachenden Gewissens lautete: Du sollst nicht töten« (ebd., 347f). Wie die Urmenschen verhält sich der heutige Mensch gegenüber dem Tod zutiefst ambivalent: »Resümieren wir nun: unser Unbewußtes ist gegen die Vorstellung des eigenen Todes ebenso unzugänglich, gegen den Fremden ebenso mordlustig, gegen die geliebte Person ebenso zwiespältig (ambivalent) wie der Mensch der Urzeit« (ebd., 354). Zum Abschluss seiner pessimistischen Analyse hat Freud eine interessante Empfehlung parat: Er schlägt vor, den alten Spruch »Si vis pacem, para bellum« (»wenn du den Frieden erhalten willst, so rüste zum Kriege«) abzuändern in: »Si vis vitam, para mortem« (»Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein« (ebd., 355). Dies können wir einmal so verstehen, dass die Aufhebung der Verleugnung des Todes, die Bewusstmachung der eigenen Sterblichkeit, einen positiven (pazifizierenden) Effekt auf das eigene und kollektive Leben haben könnte. Aber wir können Freuds Spekulation mit Brumlik auch als Vorwegnahme einer Grundidee des Jenseits des Lustprinzips verstehen, nämlich als Paradoxie lesen, wonach das Lustprinzip »geradezu im Dienste des Todestriebes« stehe (Brumlik 2006, 69). Den kurzen Beitrag über Vergänglichkeit verfasste Freud auf Einladung des Berliner Goethebundes. Er kommt hier auf die Trauer zu sprechen und greift damit Überlegungen auf, die er wenig später in Trauer und Melancholie ausführlicher analysieren wird. Freud spricht vom »großen Rätsel«, warum es dem Trauernden so schwer fällt, seine Libido vom geliebten Verstorbenen abzuziehen, um damit neue Objekte zu besetzen. Der aktuelle Krieg habe jetzt diese Perspektive auf die Vergänglichkeit unseres Daseins verschärft – und damit auch die Gefühle der Trauer. Der Text endet mit einer optimistische Prognose: »Es steht zu hoffen, daß es mit den Verlusten des Krieges nicht anders gehen wird. Wenn erst die Trauer überwunden ist … Wir werden alles wieder aufbauen, was der Krieg zerstört hat, vielleicht auf festerem Grund und dauerhafter als vorher« (Freud 1915f, 361).
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Dies ist eine der wesentlichen Fragen, die Freud dann im Zusammenhang seines Jenseits beschäftigen wird: Wenn es im Unbewussten keine Repräsentation des Todes gibt, wie kann es dann eine Repräsentation des Todestriebes geben? (Wir kommen darauf zurück.)
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In Trauer und Melancholie setzt sich Freud intensiv mit dem gelingenden bzw. scheiternden Prozess der Trauer auseinander.4 Vor dem Hintergrund dessen, was Freud in den nächsten Jahren auf die Suche nach einem klinischen Beleg für seine These des Todestriebes führen wird, scheinen uns seine Überlegungen zur inneren Dynamik der Melancholie wegweisend. Seine Frage ist: Was macht es, dass der Melancholiker nicht von seinem verlorenen Objekt lassen kann? Warum ist in diesem Fall die Identifizierung eine derart heftige? Wie lässt sich der auffällige Selbsthass erklären? Seine Hauptantwort bleibt im Rahmen der jüngst entwickelten Narzissmustheorie: Der Melancholiker regrediert von einer offenbar seinerzeit getroffenen narzisstischen Objektwahl auf den ursprünglichen Narzißmus« (Freud 1916b, 437). Als Kern der Abwehr lässt sich die »Regression der Libido ins Ich« und damit eine Wiederkehr des frühen Narzissmus erkennen: »Der Konflikt im Ich… muß ähnlich wie eine schmerzhafte Wunde wirken, die eine außerordentlich hohe Gegenbesetzung in Anspruch nimmt« (ebd., 446). – Aber von einem Andenken Richtung primärer Masochismus oder Todestrieb ist hier noch nicht die Rede. Ein einziger Satz könnte freilich doch in diese Richtung gelesen werden: »Das Ich mag dabei die Befriedigung genießen, daß es sich als das Bessere, als dem Objekt überlegen anerkennen darf« (ebd., 445). Jacques Lacan würde auf das Wort »genießen« verweisen, hat er doch diesen bei Freud nur selten gebrauchten Ausdruck als Terminus für eine psychische Tendenz zu einem »Jenseits« des Lustprinzips, einer »Mehr-Lust« genutzt (vgl. Lacan 1996, 231f). Nachdem Freud im März 1919 seine Erstfassung von Jenseits des Lustprinzips beendet hat, macht er sich an den Text über Das Unheimliche. Das Unheimliche ist zunächst die Reaktion auf etwas Erschreckendes. Der Held der Erzählung Der Sandmann von E.T.A.Hoffmann, auf die sich Freud hier bezieht, Nathanael, verliebt sich in eine Puppe namens Olimpia, von der er nicht weiß, ob sie ein Automat oder ein lebendiges Wesen ist. Die gleiche Ungewissheit empfindet er gegenüber Coppelius, von dem er nicht weiß, ob er nicht zugleich der gefürchtete Sandmann ist. Als er ihn wieder sieht, stürzt er sich von einem Turm in den Tod. Der stärkste Eindruck des Unheimlichen verbindet sich mit dem Sandmann, weil dieser den Kindern die Augen auszureißen droht. In Freuds Lesart verkörpert dieser den gefürchteten Vater, von dem die Kastrationsdrohung ausgeht. »Wir würden es also wagen, das Unheimliche des Sandmannes auf die Angst des kindlichen Kastrationskomplexes zurückzuführen« (Freud 1919c, 245). Ein anderes wichtiges Motiv in dieser Erzählung ist für Freud das des »Doppelgängers«: Es geht dabei um »Ich-Verdoppelung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung – und endlich die beständige Wiederkehr des Gleichen« (ebd., 246). An dieser Stelle nimmt Freud sein Konzept des Über-Ichs vorweg: »Im Ich bildet sich langsam eine besondere Instanz heraus, welche sich dem übrigen Ich entgegenstellen kann, die der Selbstbeobachtung und Selbstkritik dient, die Arbeit der psychischen Zensur leistet und unserem Bewußtsein als ›Gewissen‹ bekannt wird« (ebd., 247). Und den Doppelgänger erklärt Freud sich so: »Der Charakter des Unheimlichen kann doch nur daher rühren, daß der Doppelgänger eine den überwundenen seelischen Urzeiten angehörige Bildung ist, die
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Wir haben diesen Text schon ausführlich im Narzissmus-Kapitel besprochen. Hier also nur der Hinweis auf Gedanken, die das Jenseits ankündigen.
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damals allerdings einen freundlicheren Sinn hatte. Der Doppelgänger ist zum Schreckbild geworden, wie die Götter nach dem Sturz ihrer Religion zu Dämonen werden« (ebd., 248). Ebenfalls wichtig scheint Freud das Moment der Wiederholung. Dazu erzählt er sein eigenes »unheimliches« Erlebnis in einer italienischen Kleinstadt, in welcher er gegen seine bewusste Absicht drei Mal in ein Prostituiertenviertel gerät. »Dann erfaßte mich ein Gefühl, das ich nur als unheimlich bezeichnen kann« (ebd., 249). Was Freud hier als seine Erfahrung des Unheimlichen beschreibt, hat zum einen mit seinem inneren Triebgeschehen zu tun, von dem er nichts wissen will, aber es ist eine Qualität von Wiederholung, die ihn zu einem neuen Verständnis führt – und so kommt hier der entscheidende neue Begriff: »Im seelisch Unbewußten läßt sich nämlich die Herrschaft eines von den Triebregungen ausgehenden Wiederholungszwanges erkennen, der wahrscheinlich von der innersten Natur der Triebe selbst abhängt, stark genug ist, sich über das Lustprinzip hinauszusetzen, gewissen Seiten des Seelenlebens den dämonischen Charakter verleiht … Wir sind durch alle vorstehenden Erörterungen darauf vorbereitet, daß dasjenige als unheimlich verspürt werden wird, was an diesen inneren Wiederholungszwang mahnen kann« (ebd., 251).5 Nach diesem unerwarteten Vorstoß in eine gänzlich neue Gedankenrichtung, die Konzeption des Triebes betreffend, macht Freud dann aber eine Wende, einen Rückzug! »Nun, denke ich aber, ist es Zeit, uns von diesen immerhin schwierig zu beurteilenden Verhältnissen abzuwenden und unzweifelhafte Fälle des Unheimlichen aufzusuchen« (ebd.). Die wesentliche Erklärung, die Freud im Weiteren für die Analyse des Unheimlichen bietet, ist, dass es dabei zu einer Regression »zur alten Weltauffassung des Animismus« kommt, die gekennzeichnet ist »durch die Erfüllung der Welt mit Menschengeistern, durch die narzißtische Überschätzung der eigenen seelischen Vorgänge, die Allmacht der Gedanken und die darauf aufgebaute Technik der Magie« (ebd., 253). Und diese Regression erklärt er dann so: »Es mag zutreffen, daß das Unheimliche das HeimlicheUnheimliche ist, das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist, und daß alles Unheimliche diese Bedingung erfüllt. Aber mit dieser Stoffwahl scheint das Rätsel des Unheimlichen nicht gelöst« (ebd., 259). Was bleibt hier ungelöst? Wir wollen festhalten, dass das Phänomen des Unheimlichen in großer Nähe liegt zu den traumatischen Situationen, die Freud in Jenseits zum Ausgangspunkts seiner Überlegungen nimmt. »Freuds unheimliches Italienerlebnis kann man vielleicht genau auf der Grenze zwischen dem Unheimlichen und dem Trauma situieren: denn einerseits übt es nicht jene durchschlagende Wirkung aus, die für das Trauma charakteristisch ist, andererseits trägt es aber gewisse Insignien, die Freud in ›Jenseits des Lustprinzips‹ als Kennzeichen des Traumas diskutieren wird: auf ein kontingentes Ereignis, eine unfallartige Situation, folgt als Reaktion des psychischen Apparates ein Wiederholungszwang« (Hock 2000,196).
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Ganz neu ist der Begriff des Wiederholungszwangs freilich nicht. Freud hat ihn schon 1914 in Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten verwendet; dort, um das Phänomen des Agierens zu erläutern. Insofern stand dieser Begriff dort noch ganz im Kontext des Lustprinzips: Agieren als eine Form der Wiederholung, des Erinnerns – mit dem Ziel einer neuerlichen Bearbeitung und Bewältigung.
Jenseits des Lustprinzips – ein Gründertext und seine Folgen
Ebenfalls 1919 publiziert Freud seine Einleitung zu Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Der Text beruht auf dem Vortrag, den Freud im September 1918 auf dem V. Psychoanalytischen Kongress in Budapest gehalten hat. Diskutiert wird die Frage, ob die Annahme, dass es immer sexuelle Triebkräfte sind, die sich in neurotischen Symptomen äußern, auch für die Kriegsneurosen Gültigkeit beanspruchen können. Eine Erklärung, die Freud anbietet, geht so: Es handelt sich um einen Ichkonflikt zwischen »dem alten friedlichen und dem neuen kriegerischen Ich des Soldaten…. Man kann ebensowohl sagen, das alte Ich schütze sich durch Flucht in die traumatische Neurose gegen die Lebensgefahr, wie es erwehre sich des neuen Ichs, das es als bedrohlich für sein Leben erkennt« (Freud 1919d, 323). Wesentlich scheint Freud auch der Bezug auf die »narzißtische Libido«: »Auch die traumatische Neurose (des Friedens) wird sich in diesen Zusammenhang einfügen, wenn erst die Untersuchungen über die unzweifelhaft bestehenden Beziehungen zwischen Schreck, Angst und narzißtischer Libido zu einem Ergebnis gelangt sind« (ebd., 324). Und dies bringt ihn zur abschließenden Aussage: »Ja man könnte sagen, bei den Kriegsneurosen sei das Gefürchtete, zum Unterschied von der reinen traumatischen Neurose und in Annäherung an die Übertragungsneurosen, doch ein innerer Feind. man kann doch die Verdrängung, die jeder Neurose zugrunde liegt, mit Fug und Recht als Reaktion auf ein Trauma, als elementare traumatische Neurose bezeichnen« (ebd.). – Da ist sie, die neue Hypothese: Jede Neurose ist die Folge eines Traumas!6 Aber was ist dann der »innere Feind«? Vielleicht das Triebhafte?! – Wir werden sehen.
Jenseits des Lustprinzips – ein Text mit großen Folgen Freuds Text Lassen wir zur Einstimmung Freuds großen Biographen Ernest Jones zu Wort kommen. »Man war nicht im geringsten darauf gefaßt, daß Freud wenige Jahre später umwälzende Ideen entwickeln würde, die unvermeidlich eine weitgehende Umformung sowohl der psychoanalytischen Theorie als auch der psychoanalytischen Praxis zur Folge hatten… Es waren zwei Hauptthemen, die sich in ihrem Kern folgendermaßen formulieren lassen: die Bedeutung einer biologischen Tendenz des Organismus, frühere Zustände wiederherzustellen, und die dreifache Differenzierung der seelischen Vorgänge. Beide werden verknüpft durch Gedanken über die nichtlibidinösen Komponenten des Ichs… In der Behandlung der letzten Fragen, wie der nach dem Ursprung des Lebens und dem Wesen des Todes, zeigt Freud eine Kühnheit der Spekulation, die unter seinen Werken einzig dasteht… Tief in seine Gedankenwelt versunken, stößt Freud wieder auf Ideen aus seinen neurologischen oder noch früheren Jahren und weckt sie zu neuem Leben« (Jones 1962, 315f). Wichtig erscheint uns das »nicht im geringsten darauf gefaßt«, sprich, der Schock, die tiefe Irritation, den dieser Text bei Freuds Mitstreitern auslöste. – Auch 6
Ist diese These wirklich neu? Oder ist sie die Wiederkehr eines Konzepts, welches Freud in seiner Verführungstheorie bis 1897 vertreten und dann aufgeben hat – und die jetzt in neuem Gewand wieder auftaucht?!
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Ebenfalls 1919 publiziert Freud seine Einleitung zu Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Der Text beruht auf dem Vortrag, den Freud im September 1918 auf dem V. Psychoanalytischen Kongress in Budapest gehalten hat. Diskutiert wird die Frage, ob die Annahme, dass es immer sexuelle Triebkräfte sind, die sich in neurotischen Symptomen äußern, auch für die Kriegsneurosen Gültigkeit beanspruchen können. Eine Erklärung, die Freud anbietet, geht so: Es handelt sich um einen Ichkonflikt zwischen »dem alten friedlichen und dem neuen kriegerischen Ich des Soldaten…. Man kann ebensowohl sagen, das alte Ich schütze sich durch Flucht in die traumatische Neurose gegen die Lebensgefahr, wie es erwehre sich des neuen Ichs, das es als bedrohlich für sein Leben erkennt« (Freud 1919d, 323). Wesentlich scheint Freud auch der Bezug auf die »narzißtische Libido«: »Auch die traumatische Neurose (des Friedens) wird sich in diesen Zusammenhang einfügen, wenn erst die Untersuchungen über die unzweifelhaft bestehenden Beziehungen zwischen Schreck, Angst und narzißtischer Libido zu einem Ergebnis gelangt sind« (ebd., 324). Und dies bringt ihn zur abschließenden Aussage: »Ja man könnte sagen, bei den Kriegsneurosen sei das Gefürchtete, zum Unterschied von der reinen traumatischen Neurose und in Annäherung an die Übertragungsneurosen, doch ein innerer Feind. man kann doch die Verdrängung, die jeder Neurose zugrunde liegt, mit Fug und Recht als Reaktion auf ein Trauma, als elementare traumatische Neurose bezeichnen« (ebd.). – Da ist sie, die neue Hypothese: Jede Neurose ist die Folge eines Traumas!6 Aber was ist dann der »innere Feind«? Vielleicht das Triebhafte?! – Wir werden sehen.
Jenseits des Lustprinzips – ein Text mit großen Folgen Freuds Text Lassen wir zur Einstimmung Freuds großen Biographen Ernest Jones zu Wort kommen. »Man war nicht im geringsten darauf gefaßt, daß Freud wenige Jahre später umwälzende Ideen entwickeln würde, die unvermeidlich eine weitgehende Umformung sowohl der psychoanalytischen Theorie als auch der psychoanalytischen Praxis zur Folge hatten… Es waren zwei Hauptthemen, die sich in ihrem Kern folgendermaßen formulieren lassen: die Bedeutung einer biologischen Tendenz des Organismus, frühere Zustände wiederherzustellen, und die dreifache Differenzierung der seelischen Vorgänge. Beide werden verknüpft durch Gedanken über die nichtlibidinösen Komponenten des Ichs… In der Behandlung der letzten Fragen, wie der nach dem Ursprung des Lebens und dem Wesen des Todes, zeigt Freud eine Kühnheit der Spekulation, die unter seinen Werken einzig dasteht… Tief in seine Gedankenwelt versunken, stößt Freud wieder auf Ideen aus seinen neurologischen oder noch früheren Jahren und weckt sie zu neuem Leben« (Jones 1962, 315f). Wichtig erscheint uns das »nicht im geringsten darauf gefaßt«, sprich, der Schock, die tiefe Irritation, den dieser Text bei Freuds Mitstreitern auslöste. – Auch 6
Ist diese These wirklich neu? Oder ist sie die Wiederkehr eines Konzepts, welches Freud in seiner Verführungstheorie bis 1897 vertreten und dann aufgeben hat – und die jetzt in neuem Gewand wieder auftaucht?!
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eine zeitgenössische Einschätzung klingt ähnlich: »Bis heute wird diese Schrift kontrovers diskutiert, wobei die in Jenseits des Lustprinzips eingeführten Begriffe – ›Eros‹, ›Todestrieb‹, ›Wiederholungszwang‹ – vielfach als unwissenschaftlich, philosophisch und höchst spekulativ eingeschätzt werden« (Aichhorn 2006, 158). – Einen anderen Akzent setzt Elfriede Löchel. Für sie zählt dieser Text zu den »großen literarischen Schriften« Freuds: »Ein Text, der nicht nur durch das, was er gedanklich bewältigt, sondern vornehmlich durch das Schreiben und Seinlassen dessen, was er nicht bewältigt, hervorragt. Ein Text, der den Widerstreit der Kräfte, von denen er handelt, nicht nur aussagt, sondern auch in Szene setzt. Ein mimetischer Text, der sich im ›Zauderrythmus‹ von Vor und Zurück, von Unterbrechung und Wiederaufnahme des Unterbrochenen bewegt« (Löchel 1996, 682). – Nehmen wir uns diese Einschätzung als Leseanleitung – und lassen in einem ersten Durchgang erst einmal Freud sprechen. Der Text umfasst sieben Kapitel. Die Abschnitte I bis V bzw. VII sind im Frühjahr 1919 geschrieben, das umfangreiche Kapitel VI ist ungefähr ein Jahr später hinzugefügt worden.7 Ein Jenseits ist erst einmal nicht in Sicht. Freud eröffnet diesen Text, indem er sich auf sein bislang gültiges Verständnis des Lustprinzips bezieht: »In der psychoanalytischen Theorie nehmen wir unbedenklich an, daß der Ablauf der seelischen Vorgänge automatisch durch das Lustprinzip reguliert wird« (Freud 1920b, 3). Das Wort, das wir nicht überlesen sollten, lautet »unbedenklich«; genau das ist es, was Freud in der Folge in Frage stellen wird. Aber erst einmal der Reihe nach: Das Lustprinzip wird – wie gehabt – als »ökonomisches« Prinzip verstanden. Es geht um Spannungsregulation: »Herabsetzung von Spannung« soll mit Lust »zusammenfallen«. Freud sieht sich allerdings veranlasst, den Leser zu erinnern, dass er dabei nicht an »direkte Proportionalität« denkt: »[...]..wahrscheinlich ist das Maß der Verringerung oder Vermehrung in der Zeit das für die Empfindung entscheidende Moment« (ebd., 4). Und Freud beruft sich dabei auf Gustav Theodor Fechner, der von einem »Stabilitätsverhältnis« gesprochen hat. Diese Stabilität stellt Freud in den Zusammenhang mit dem »Bestreben des seelischen Apparates…, die in ihm vorhandene Quantität von Erregung möglichst niedrig oder wenigstens konstant zu erhalten« (ebd., 5), und resümiert dann: »Das Lustprinzip leitet sich aus dem Konstanzprinzip ab« (ebd.), und dieses sei »als spezieller Fall dem Fechnerschen Prinzip der Tendenz zur Stabilität untergeordnet« (ebd.). Für Freud scheint erst einmal alles klar zu sein. Trotzdem fragen wir uns schon an dieser Stelle: Hat das Lusterleben direkt mit der Spannungsreduktion zu tun? Geht es um völlige Spannungsreduktion – oder nur um ein gewisses Maß? Und was bedeutet in diesem Zusammenhang »Konstanz«? Was soll konstant gehalten werden? Heißt das, die Spannungsveränderungen sollen nicht zu rasch, zu plötzlich, zu massiv auftreten? Freud geht erst einmal einen anderen Weg. Er diskutiert jetzt die Frage, inwiefern es überhaupt berechtigt ist, von einer »Herrschaft des Lustprinzips« zu sprechen; ist dieses doch in mehrerer Hinsicht eingeschränkt. Es gilt für Freud nämlich: »Unter dem Einflusse der Selbsterhaltungstriebe des Ichs wird es vom Realitätsprinzip abgelöst«. Letzteres zwingt, »ohne die Absicht endlicher Lustgewinnung aufzugeben«, zum 7
Die Differenzen zwischen Erst- und Zweitfassung werden wir im Anschluss an diesen Abschnitt erläutern.
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Befriedigungsaufschub und zur »zeitweiligen Duldung von Unlust« (ebd., 6). – Aber das Realitätsprinzip ist nur für einen kleinen Teil der Unlust verantwortlich; ein weit größerer Teil kommt durch den Vorgang der Verdrängung und den daraus resultierenden inneren Konflikten zustande. So weit, so vertraut. »Und doch«, kündigt Freud zu Ende dieses Abschnitts an, »kann gerade die Untersuchung der seelischen Reaktion auf die äußerliche Gefahr neuen Stoff und neue Fragestellungen zu dem hier behandelten Problem liefern« (ebd., 8). Nichts in der bisherigen Argumentation gibt uns zu erkennen, woher dieses »und doch« seinen Antrieb bezieht. Das Kapitel II widmet sich zwei klinischen Phänomenen: zunächst der traumatischen Neurose; dann einem Kinderspiel und seiner Deutung. Die traumatische Neurose kennzeichnet Freud mittels zwei »Zügen«; »erstens, daß das Hauptgewicht der Verursachung auf das Moment der Überraschung, auf den Schreck, zu fallen schien, und zweitens, daß eine gleichzeitig erlittene Verletzung oder Wunde zumeist der Entstehung der Neurose entgegenwirkte« (ebd., 9f). Wichtig scheint ihm der Hinweis, dass es nicht die Angst ist, die als Verursachung geltend gemacht werden kann, im Gegenteil, »an der Angst ist etwas, was gegen den Schreck und also auch gegen die Schreckneurose schützt« (ebd.). – Dann weist Freud auf die Träume der Traumatisierten hin: Sie kehren in ihren Träumen immer wieder in die traumatisierende Situation zurück, was bedeutet, dass diese Träume äußerst unlustvoll sind. Dies führt zu einer Grundsatzfrage, die erstmals das Lustprinzip in Frage zu stellen scheint: »Sollen wir durch die Träume der Unfallsneurotiker nicht an der wunscherfüllenden Tendenz des Traumes irre werden« (ebd., 11)? Ohne diese Frage weiter zu verfolgen, kommt Freud zum Kinderspiel. Er bezieht sich dabei auf seine persönliche Beobachtung anlässlich eines längeren Besuchs bei seinem eineinhalbjährigen Enkel in Hamburg. Er schildert zunächst dieses Kind als »in gutem Rapport mit den Eltern«; vor allem hebt er hervor, dass es nie weinte, wenn es von der Mutter verlassen wurde, »obwohl es dieser Mutter zärtlich anhing« (ebd., 12). Das sodann geschilderte Spiel umfasst eigentlich drei Spiele. Das erste besteht darin, dass das Kind »alle kleinen Gegenstände, deren es habhaft wurde, weit weg von sich in eine Zimmerecke, unter ein Bett usw.« schleuderte und diesen Vorgang mit einem lauten, langgezogenen »o-o-o« kommentierte, welches Freud in Übereinstimmung mit der Mutter als »Fort« deutet. – Beim zweiten Spiel wirft das Kind eine Holzspule, die mit einem Bindfaden umwickelt ist, aus seinem Bett hinaus, kommentiert dies wiederum mit seinem »o-o-o«, um dann die Spule wieder zurückzuholen, kommentiert mit einem »freudigen ›Da‹«. Freud ist rasch bei seiner Deutung: »Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man meist nur den ersten Akt zu sehen bekam« (ebd.). In einer Fußnote an dieser Stelle erfahren wir von einem dritten Spiel: Das Kind begrüßt eines Tages die wiederkommende Mutter mit einem »Bebi oo-o«. Diese Äußerung wird nun mit einem weiteren Spiel in Verbindung gebracht, in welchem es allein vor dem Spiegel sich selbst hatte verschwinden lassen, »so daß das Spiegelbild ›fort‹ war« (ebd.). Welche Deutungen bietet Freud nun an? Zunächst erachtet er es als »große kulturelle Leistung« des Kindes, den »Triebverzicht« (das Fortgehen der Mutter) »ohne Sträuben zu gestatten«. Das Spiel sei eine »Entschädigung«, indem das Kind das Verlassenwerden und Wiederkommen selbst in Szene setzt. Wichtig erscheint Freud dabei die Um-
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wandlung von etwas passiv Erlebtem in eine »aktive Rolle«. Eine zusätzliche Deutung liegt für Freud im »unterdrückten Racheimpuls gegen die Mutter« (ebd., 13f). Was ist nun der tiefere Grund, weshalb Freud an dieser Stelle uns dieses Spiel vorstellt? Offenkundig beschäftigt ihn die Frage, warum etwas zutiefst Unlustvolles wie das Verlassenwerden im Spiel offenkundig lustvoll wiederholt wird, was ihn ja auch an den Träumen der Unfallneurotiker irritierte. Dies bringt ihn zum vorläufigen Schluss: »Wir werden so davon überzeugt, daß es auch unter der Herrschaft des Lustprinzips Wege und Mittel genug gibt, um das an sich Unlustvolle zum Gegenstand der Erinnerung und seelischen Bearbeitung zu machen« (ebd., 15). – So endet dieses zweite Kapitel wie das erste: Auch diese beiden beschriebenen Phänomene »setzen Existenz und Herrschaft des Lustprinzips voraus und zeugen nicht für die Wirksamkeit von Tendenzen jenseits des Lustprinzips, das heißt solcher, die ursprünglicher als dies und von ihm unabhängig wären« (ebd.).8 Im Zentrum des III. Kapitels steht der Wiederholungszwang, wie er sich in der Arbeit an und mit der Übertragung zeigt. Freud greift dabei zurück auf Überlegungen, die er in Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten beschrieben hat. Jetzt geht es ihm aber um die »neue und merkwürdige Tatsache. daß der Wiederholungszwang auch solche Erlebnisse der Vergangenheit wiederbringt, die keine Lustmöglichkeit enthalten« (ebd., 18). Er spricht von einem »dämonischen Zug« im Übertragungsphänomen, vom »Schicksalszwang« im Leben nicht neurotischer Personen, und meint damit den »Zwang«, mit dem diese »ewige Wiederkehr des Gleichen« auftritt. Dies bringt ihn zur Frage: In welcher Beziehung steht dieses Phänomen zum Lustprinzip bzw. »gibt es im Seelenleben wirklich einen Wiederholungszwang., der sich über das Lustprinzip hinaussetzt« (ebd.,19)? Diese grundsätzliche Frage bleibt erst einmal offen. Aber es wird klar: Freud kommt von dieser Frage so schnell nicht mehr los: »Es bleibt genug übrig, was die Annahme des Wiederholungszwanges rechtfertigt, und dieser erscheint uns ursprünglicher, triebhafter als das von ihm zur Seite geschobene Lustprinzip« (ebd., 22). Und er ist jetzt geneigt, auch bei den Träumen der Traumatisierten und beim Kinderspiel einen solchen Wiederholungszwang zu unterstellen. – Wir kommen also jetzt bei Jenseits des Lustprinzips an. Das IV. Kapitel kündigt Freud fast warnend an: »Was nun folgt, ist Spekulation, oft weitausholende Spekulation« (ebd., 23). Er greift hier, ohne dies explizit zu sagen, auf Überlegungen seines Entwurfs bzw. das 7. Kapitel seiner Traumdeutung zurück. Diskutiert wird die Frage, wie sich der psychische Apparat entwickelt hat, wie es ihm gelingt, äußere und innere Reize zu bändigen bzw. zu verarbeiten. Wesentlich erscheint Freud »das System W-Bw«, an der Grenze von innen und außen gelegen, und mit der Aufgabe befasst, Erregungen so zu bearbeiten, dass es nicht zu einer Überwältigung des »Systems« kommt. – Um dies zu erläutern, macht Freud einen ersten Ausflug in die Biologie: »Stellen wir uns den lebenden Organismus in seiner größtmöglichen Vereinfachung als undifferenziertes Bläschen reizbarer Substanz vor« (ebd., 25). Um die beiden
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Diese Formel »ursprünglicher und unabhängig vom Lustprinzip« wird in diesem Text noch mehrfach wiederholt. Jeder Wiederkehr wird aber auch eine kleine Variation beigefügt. Insofern ist das Phänomen der Wiederholung und des Wiederholungszwangs nicht nur Thema, sondern zugleich ein unterschwellig wirksames Element im Duktus des Erzählvorgangs.
Jenseits des Lustprinzips – ein Gründertext und seine Folgen
zentralen Aufgaben von Reizaufnahme und Reizschutz wahrnehmen zu können, bildet dieses Bläschen an seiner Außenseite eine »Hülle oder Membran«, die reizabhaltend wirkt, und dazu wird ein Teil dieses Bläschens »anorganisch«. – Wozu diese Konstruktion (von der wir noch sehen werden, dass sie Freud als weiterführendes Modell dient)? »Die Außenschicht hat aber durch ihr Absterben alle tieferen vor dem gleichen Schicksal bewahrt, wenigstens so lange, bis nicht Reize von solcher Stärke herankommen, daß sie den Reizschutz durchbrechen« (ebd., 27). Jetzt wechseln wir wieder die Perspektive. Unversehens ist Freud wieder beim psychischen Apparat, wenn er schreibt, dass es nach außen hin offenkundig einen Reizschutz gibt, aber nicht nach innen. Als eine Möglichkeit der Abwehr »allzu großer Unlustvermehrung« erachtet Freud die »Neigung«, »sie so zu behandeln, als ob sie nicht von innen, sondern von außen her einwirkten… Dies ist die Herkunft der Projektion« (ebd., 29). Aber das Problem bleibt: Es gibt offenkundig »Erregungen von außen, die stark genug sind, den Reizschutz zu durchbrechen«, und diese nennt er »traumatische«. So ist das psychische System vor die Aufgabe gestellt, diese »hereingebrochenen Reizmengen psychisch zu binden« (ebd.), und dieser Aufgabe kommt es mittels »großartigen ›Gegenbesetzungen« nach. Das »System« muss also in der Lage sein, große Mengen einströmender Energie zu binden – und dies kann es nur, wenn es selbst entsprechend »hoch besetzt« ist. Diese Bindungsaufgabe weist er den »höheren Schichten des seelischen Apparates« zu, was freilich ein Problem darstellt: Wie kann eine »höhere Schicht«, die es anfangs noch gar nicht gibt, diese Leistung vollbringen? Freuds Annahme zu Folge ist jenseits des Primärvorgangs, der ja mittels der Mechanismen von Verschiebung und Verdichtung arbeitet, eine ungebundene Energie wirksam, die den psychischen Apparat von innen her bedrohen kann. Dieses Problem bleibt erst einmal offen.9 Nun wendet Freud diese Überlegungen auf die traumatische Neurose an; er versteht diese als »die Folge eines ausgiebigen Durchbruchs des Reizschutzes« (ebd., 31). Die entscheidende Bedingung für den »Schreck« ist eine fehlende Angstbereitschaft, denn ohne eine solche ist das System nur mit einer »niedrigen Besetzung« ausgestattet.10 – Und jetzt folgt ein weiterer wichtiger Schritt: Die Träume der Unfallneurotiker, so mutmaßt er jetzt, dienten gar nicht der Wunscherfüllung, sondern sie suchen »die Reizbewältigung unter Angstentwicklung nachzuholen, deren Unterlassung die Ursache der traumatischen Neurose geworden ist« (ebd., 32). Freud gesteht explizit ein, dass er hier eine Ausnahme von seiner These, wonach jeder Traum eine Wunscherfüllung ist, gefunden hat. Jetzt ist also ein »Jenseits des Lustprinzips« gefunden, eine »Vorzeit«: Bevor nicht diese Reizbewältigung und Reizbindung stattgefunden hat, kann das Lustprinzip nicht ins Werk treten. Diese Aufgabe besteht, »ohne dem Lustprinzip zu widersprechen, doch unabhängig von ihm« und »ursprünglicher« (ebd.). – Freud hat jetzt also zwei Phänomene jenseits des Lustprinzips entdeckt: neben dem Wiederholungszwang das
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Der Begriff Bindung ist nicht neu, aber Freud gebraucht ihn jetzt anders. Bislang meinte er den Vorgang der Transformation von primären in sekundäre Prozesse. Nun geht es aber um eine Voraussetzung für den Primärprozess. Hier deutet sich auch ein neues Verständnis für das Phänomen der Angst an, das schließlich sechs Jahre später in Hemmung, Symptom und Angst seine Ausformung erhält.
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der Bindung. Und er hat die wesentliche Funktion des Wiederholungszwangs aufgedeckt: Es geht um Bindung; die Vorbedingung für sein Auftreten ist der Reizdurchbruch. Im V. Kapitel nimmt die Dynamik zu und es folgen eine Reihe von grundlegenden und umstürzenden Annahmen. Freud versucht seine neuen Einsichten bezüglich des Wiederholungszwangs mit seinem bisherigen Verständnis des »psychischen Apparates« und der Triebe in Einklang zu bringen. Bisher galt, dass im Unbewussten – und damit ist der »Primärvorgang« gemeint – »Besetzungen leicht vollständig übertragen, verschoben, verdichtet werden können« (ebd., 35), während es die Aufgabe der »höheren Schichten« ist, die »im Primärvorgang anlangende Erregung der Triebe zu binden«; »[...]erst nach erfolgter Bindung könnte sich die Herrschaft des Lustprinzips (und seiner Modifikation zum Realitätsprinzip) ungehemmt durchsetzen« (ebd., 36). Wieder wird der Wiederholungszwang als »im hohen Maße triebhaft« und »dämonisch« charakterisiert. Bezüglich des Kinderspiels meint Freud jetzt, dass offenkundig »die Wiederholung, das Wiederfinden der Identität, selbst eine Lustquelle bedeutet« (ebd., 37). Dies gilt auch für den Wiederholungszwang im analytischen Prozess, was Freud jetzt zur deutlichen Akzentsetzung veranlasst, »daß der Zwang, die Begebenheiten seiner infantilen Lebensperiode in der Übertragung zu wiederholen, sich in jeder Weise über das Lustprinzip hinaussetzt« (ebd.). So gelangt Freud zur nächsten Konsequenz, wenn er sich fragt: »Auf welche Art hängt aber das Triebhafte mit dem Zwang zur Wiederholung zusammen« (ebd., 38)? Und seine Antwort führt zu einem radikal anderen Verständnis der Natur des Triebes: »Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes« (ebd.). Freud sieht sich also veranlasst, eine neue Qualität der Triebe zu postulieren: Sie seien ihrem Wesen nach »konservativ«, sie verkörpern die »konservative Natur des Lebenden«, sind auf »Regression, Wiederherstellung von Früherem« gerichtet« (ebd., 38f). – Um diese neue Sicht zu begründen, nimmt Freud ein »Endziel alles organischen Strebens« an, nämlich, »daß alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende« (ebd., 40). – Diese in der Sprache der Biologie vorgebrachte Spekulation bringt Freud zur weiteren kosmologischen Annahme, dass es »eine noch ganz unvorstellbare Krafteinwirkung« gewesen sein musste, die in der »unbelebten Materie« die »Eigenschaften des Lebenden erweckt« hat. Die für ihn zentrale Beweisführung ist damit gegeben: »[...]es war der erste Trieb gegeben, der, zum Leblosen zurückzukehren« (ebd.). Freud muss damit seine bisher gültige Triebtheorie neu ordnen. Waren bisher die Selbsterhaltungstriebe Garanten für das Leben, so reduziert er sie jetzt auf »Partialtriebe, dazu bestimmt, den eigenen Todesweg zu sichern. auch diese Lebenswächter sind ursprünglich Trabanten des Todes gewesen« (ebd., 41). Diese umstürzende Folgerung scheint ihm aber doch zu viel! Er schreibt: »Aber besinnen wir uns, das kann nicht so sein!« (ebd.) Aber er kann auch nicht mehr zurück und kommt zur Frage, wie sich die »Sexualtriebe« in dieses neue Triebkonzept einordnen lassen. Er spricht von den »Keimzellen«, die sich »nach einer gewissen Zeit vom ganzen Organismus ablösen… So arbeiten diese Keimzellen dem Sterben der lebenden Substanz entgegen« (ebd., 42). Also gilt auch für die Sexualtriebe: Sie sind im selben Sinne »konservativ« wie die anderen Triebe; sie sind zwar »die eigentlichen Lebenstriebe«; indem sie den anderen Trieben
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»entgegenwirken, deutet sich ein Gegensatz zwischen ihnen und den übrigen an« (ebd., 43). Freud spricht jetzt von einem »Zauderrythmus im Leben der Organismen; die eine Triebgruppe stürmt nach vorwärts, um das Endziel des Lebens möglichst bald zu erreichen, die andere schnellt an einer gewissen Stelle dieses Weges zurück« (ebd.). Wenn also beide Triebe »konservativ« sind, woher kommt dann überhaupt die Entwicklungstendenz im Lebendigen? Gibt es einen »allgemeinen Trieb zur Höherentwicklung«? Freuds Position ist hier eindeutig: Weder in der organischen Welt noch im Menschen sieht er einen solchen »Trieb zur Vervollkommnung«. Entwicklung entstehe ausschließlich »als Folge der Triebverdrängung«, »auf welche das Wertvollste an der menschlichen Kultur aufgebaut ist« (ebd., 44). – Am Ende dieser heftigen Spekulation fällt dann ein weiterer neuer Begriff, der des Eros: »[...]daß das Betreben des Eros, das Organische zu immer größeren Einheiten zusammenzufassen, einen Ersatz für den nicht anzuerkennenden ›Vervollkommnungstrieb‹ leistet« (ebd., 45). Dazu braucht Freud eine weitere Hypothese: »Der verdrängte Trieb gibt es nie auf, nach seiner vollen Befriedigung zu streben, die in der Wiederholung eines primären Befriedigungserlebnisses bestünde… aus der Differenz zwischen der gefundenen und der geforderten Befriedigungslust ergibt sich das treibende Moment… Der Weg nach rückwärts, zur vollen Befriedigung, ist in der Regel durch die Widerstände … verlegt, und somit bleibt nichts anders übrig, als in der anderen, noch freien Entwicklungsrichtung fortzuschreiten« (ebd., 44f). So endet dieser turbulente Anschnitt. Halten wir also kurz inne. Ein entscheidender Gedanke lautet jetzt: Der Wiederholungszwang liegt jenseits des Lustprinzips, ist aber Merkmal nicht nur eines Triebes, sondern aller Triebe. Diese drängen nicht nach Abfuhr, wie bislang angenommen, sondern wollen »einen früheren Zustand wiederherstellen«, sie streben zurück nach dem Zustand der »Trägheit«. Freud hat sich also zu einem neuen Triebdualismus durchgerungen. Indem er die Selbsterhaltungstriebe ans »Todesprinzip« anbindet, verändert sich auch deren Beziehung zur Realität und zum Realitätsprinzip. Jetzt ist ihr Ziel nicht länger, die Außenwelt derart zu verändern, dass dem Lustprinzip eine Durchsetzung ermöglicht wird, sondern es geht jetzt darum, jeden Einfluss der Außenwelt zu unterbinden, da jeder Reiz eine Störung auf dem eigenen Todesweg darstellt. Damit verkörpern die Selbsterhaltungstriebe jetzt die radikale Tendenz des Konstanzprinzips, sie streben danach, den Organismus möglichst reizlos zu halten. Dem wird eine neue Variante der Sexualtriebe gegenübergestellt, die jetzt »Eros« heißt. Das ein Jahr später verfasste VI. Kapitel hat offenkundig die Aufgabe, die Ungereimtheiten der bisherigen Überlegungen, insbesondere was die Zuordnung des bisher gültigen Triebdualismus zum neuen Dualismus zwischen »Todesweg« und »Eros« betrifft, einer Klärung zuzuführen. Freud eröffnet mit dem Bekenntnis, dass ihn das bisherige Ergebnis, »welches einen scharfen Gegensatz zwischen den ›Ichtrieben‹ und den Sexualtrieben aufstellt…. nicht befriedigt« (ebd., 46). Und wieder der »Zauderrythmus«: »Setzen und Auflösen, Behaupten und In-Frage-Stellen von Positionen und Bedeutungen, der Zauderrythmus, von dem wohl alle Texte leben, weist in diesem Fall eine besonders enge mimetische Bindung an den behandelten Gegenstand auf« (Löchel 1996, 693).
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Zunächst folgt ein weiterer Ausflug in die Biologie, indem Freud sich fragt, »welches wichtige Ereignis im Entwicklungsgang der lebenden Substanz« durch »die geschlechtliche Fortpflanzung« wiederholt wird (ebd., 46). Länger werden die Überlegungen des Biologen August Weismann zum Problem des Todes im Organischen diskutiert. Weismann glaubt Gründe zu haben, den Einzellern eine potentielle Unsterblichkeit attestieren zu können, sodass es erst bei den höheren Organismen zum »Zugeständnis eines natürlichen Todes« gekommen sei« (ebd., 49). Freud beendet diesen Exkurs überraschend: »Wenn wir den morphologischen Standpunkt verlassen, um den dynamischen einzunehmen, so kann es uns überhaupt gleichgültig sein, ob sich der natürliche Tod der Protozoen erweisen läßt oder nicht. Unsere Erwartung, die Biologie werde die Anerkennung der Todestriebe11 glatt beseitigen, hat sich nicht erfüllt« (ebd., 52). So sieht sich Freud »unversehens in den Hafen der Philosophie Schopenhauers« einlaufen, für den ja »der Tod ›das eigentliche Resultat‹ und insofern der Zweck des Lebens ist, der Sexualtrieb aber die Verkörperung des Willens zum Leben« (ebd., 53). Und Freud fasst jetzt wieder Mut und will »kühn« einen Schritt weiter gehen: »Somit könnte man den Versuch machen, die in der Psychoanalyse gewonnene Libidotheorie auf das Verhältnis der Zellen zueinander zu übertragen und sich vorzustellen, daß es die in jeder Zelle tätigen Lebens- und Sexualtriebe sind, welche die anderen Zellen zum Objekt nehmen, deren Todestriebe … teilweise neutralisieren und sie so am Leben erhalten« (ebd., 54). – Worauf will Freud hier hinaus? Offenbar geht es ihm darum, eine Rechtfertigung dafür zu finden, dass er seine Annahme im vorhergehenden Kapitel, in dem er die Sexualtriebe ebenfalls als »konservativ« und als »Wege zum Tod« klassifiziert hat, zurücknehmen will. Zunächst macht er einen Zwischenschritt, der ihn ebenfalls unbefriedigt lässt: »Um so mehr müssen wir den libidinösen Charakter der Selbsterhaltungstriebe jetzt betonen, da wir den weiteren Schritt wagen, den Sexualtrieb als den alles erhaltenden Eros zu erkennen… Nun aber finden wir uns plötzlich folgender Frage gegenüber: Wenn auch die Selbsterhaltungstriebe libidinöser Natur sind, dann haben wir vielleicht überhaupt keine anderen Triebe als libidinöse« (ebd., 56). Landet Freud also jetzt bei einem Triebmonismus – und Jung hätte am Ende doch recht behalten mit seiner diesbezüglichen Annahme?! Dem tritt Freud gleich in aller Deutlichkeit entgegen: »Unsere Auffassung war von allem Anfang an eine dualistische und ist es heute schärfer denn zuvor« (ebd., 57). Der neue Dualismus sei der von »Lebens- und Todestrieben«. Die Frage ist nun aber: Wie lässt sich der neue Dualismus mit dem bisherigen Konzept von Ich- und Sexualtrieben vereinbaren? Freuds nächste Hypothese ist, dass es im Ich »noch andere als die libidinösen Selbsterhaltungstriebe« geben muss. Als Beleg erinnert er an die Polarität von Liebe und Hass in der Objektliebe. Zudem erinnert er an das Phänomen des Sadismus, den er allerdings seit den Drei Abhandlungen als sexuellen Partialtrieb verstanden hat. Das will er jetzt anders sehen: »Wie soll man aber den sadistischen Trieb, der auf die Schädigung
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Dies ist die erste Stelle, wo Freud den Ausdruck »Todestriebe« gebraucht. Da es sich um das erst im Frühjahr 1920 verfasste Kapitel handelt, haben diverse Autoren, beginnend mit Ernest Jones und Max Schur, die Auffassung vertreten, es waren die Todesfälle von Freuds geliebter Tochter Sophie sowie seines Freundes Anton von Freund (beide im Jänner 1920), welche Freud zu dieser »pessimistischen« Konzeption brachten.
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des Objekts abzielt, vom lebenserhaltenden Eros ableiten können? Liegt da nicht die Annahme nahe, daß dieser Sadismus eigentlich ein Todestrieb ist« (ebd., 58)? Und auch den Masochismus konzipiert er neu: »Der Masochismus, die Wendung des Triebes gegen das eigene Ich, wäre dann in Wirklichkeit eine Rückkehr zu einer früheren Phase derselben, eine Regression… der Masochismus könnte auch … ein primärer sein« (ebd., 59).12 – An dieser Stelle verweist Freud in einer Fußnote auf Sabina Spielreins Die Destruktion als Ursache des Werdens, wo sie den Sadismus bereits als »destruktiv« bezeichnet hat.13 Als »eines unserer stärksten Motive, an die Existenz von Todestrieben zu glauben« führt Freud ein (jedenfalls dem Namen nach) neues Prinzip ein: »[...]das Streben nach Herabsetzung, Konstanterhaltung, Aufhebung der inneren Reizspannung … (das Nirwanaprinzip nach einem Ausdruck von Barbara Low), wie es im Lustprinzip zum Ausdruck kommt« (ebd., 60). – Dies erscheint uns als eine Formulierung, die an Mehrdeutigkeit schwer zu überbieten ist: Konstanterhaltung ist nicht dasselbe wie Aufhebung der Reizspannung; und inwiefern unterscheiden sich Nirwana- und Lustprinzip, wenn das eine im anderen »zum Ausdruck kommt«?! Ohne auf diese »Mehrdeutigkeiten« näher einzugehen, wechselt Freud das Thema und formuliert das nächste Problem: Wie sich nämlich für den Sexualtrieb der »Charakter eines Wiederholungszwanges« nachweisen ließe? Es folgt ein weiterer »Ausflug« in die Biologie der Fortpflanzung, offenbar ohne befriedigendes Ergebnis, sodass Freud bei einer Hypothese »so phantastischer Art … gewiß eher ein Mythus als eine wissenschaftliche Erklärung« (ebd., 62) landet, dem Mythos, den Platon im Symposion durch Aristophanes erzählen lässt. Es geht in diesem Mythos darum, dass der Mensch ursprünglich ein »ganzer«, »mannweiblich« war, von Zeus dann zerschnitten, und seither »trieb die Sehnsucht die beiden Hälften zusammen« (ebd.). Somit hat Freud endlich einen »Trieb« gefunden, der »vom Bedürfnis nach Wiederherstellung eines früheren Zustandes« (ebd.) gesteuert ist. Und er folgert: »Sollen wir, dem Wink des Dichterphilosophen folgend, die Annahme wagen, daß die lebende Substanz bei ihrer Belebung in kleine Partikel zerrissen wurde, die seither durch die Sexualtriebe ihre Wiedervereinigung anstreben« (ebd., 63)? Freud kann sich nicht entscheiden, ob er seinen eben entwickelten Annahmen inklusive der »Beweisführung« durch den griechischen Mythos glauben soll: »[...]ich weiß nicht, wie weit ich an sie glaube« (ebd., 64). In seinem Dilemma rechtfertigt er sich als »advocatus diaboli«, der sich aber »doch nicht dem Teufel selbst verschreibt« (ebd.). Diesem sehr speziellen Ende dieses Kapitels fügt Freud eine Fußnote an, die wieder einen anderen »Geist« erkennen lässt; Freud wird wieder »nüchtern« und versucht Erklärungen dafür zu geben, warum sich seine Auffassung von Sexualität so fundamental gewandelt hat und wie er sich rückblickend die Entwicklung 12 13
In Das ökonomische Problem des Masochismus wird Freud diese neue Sicht eines primären Masochismus einer detaillierten klinischen Rechtfertigung zuführen. In Die Destruktion als Ursache des Werdens versucht Sabina Spielrein »biologische Tatsachen« als Gründe und Ursachen für die menschliche Neigung zur »Destruktion« zu finden. Sie nimmt an, dass das Lustprinzip zwar »die Grundlage aller psychischen Produktionen« ist, dass aber »in unserer Tiefe etwas da ist, so paradox es a priori klingen mag, das diese Selbstbeschädigung will« (Spielrein 1912, 105). Das erinnert allerdings frappant an Freuds neues Verständnis der Triebe in Jenseits.
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der drei Fassungen seiner Trieblehre erklärt: »Mit der Aufstellung der narzißtischen Libido und der Ausdehnung des Libidobegriffs auf die einzelne Zelle wandelte sich unser Sexualtrieb zum Eros, der die Teile der lebenden Substanz zueinanderzudrängen und zusammenzuhalten sucht… Unübersichtlicher ist vielleicht die Wandlung, die der Begriff der ›Ichtriebe‹ erfahren hat… Späterhin näherten wir uns der Analyse des Ichs und erkannten, daß auch ein Teil der ›Ichtriebe‹ libidinöser Natur ist… Der Gegensatz von Ich- und Sexualtrieben wandelte sich in den zwischen Ich- und Objekttrieben, beide libidinöser Natur. An seine Stelle trat aber ein neuer Gegensatz zwischen libidinösen (Ich- und Objekt)Trieben und anderen, die im Ich zu statuieren und vielleicht in den Destruktionstrieben aufzuzeigen sind. Die Spekulation wandelt diesen Gegensatz in den von Lebenstrieben (Eros) und von Todestrieben um« (ebd., 66, Fn.1). Sowohl Lebens- als auch Todestriebe würden demnach versuchen, die das Leben in Gang setzende »Katastrophe« rückgängig zu machen: die Todestriebe, indem sie die Spannung, die das Leben vom Anorganischen unterscheidet, wieder aufheben wollen; die Lebenstriebe, indem sie die bei der initialen »Katastrophe« »zersplitterten Teile der lebenden Substanz« wieder zu einer Einheit zusammenführen wollen – und damit ebenfalls zum Tode bringen würden. Der platonische Mythos erfüllt dabei genau die Bedingung, die Freud sucht: Er leitet nämlich den Sexualtrieb von einem »Bedürfnis nach Wiederherstellung eines früheren Zustandes« ab. Was dem Todestrieb also der Tod, das Anorganische, ist dem Eros dieser ursprüngliche ungeteilte Zustand: Anfang und Ziel. Noch eine Modifikation, die Freud gegenüber den vorhergehenden Kapiteln setzt, wollen wir hervorheben: Hatte er nämlich bislang behauptet, der Wiederholungszwang sei ein Charakteristikum aller Triebe, so formuliert er jetzt, »eigentlich« unterlägen nur die Ich-Triebe diesem. – Es gibt also in diesem Kapitel zwei wesentliche Revisionen: Nicht alle Triebe unterliegen dem Wiederholungszwang; und: die Zuordnung der Sexual- und Ichtriebe wird neu gedacht; die Sexualtriebe und ein Teil der Ichtriebe werden dem »Eros« zugeordnet. Beide Triebe aber wollen »zurück«. Sie unterscheiden sich nur relativ in Bezug auf ihre Ziele, die einmal früh am Anfang des Lebens, das andere Mal vor dem Leben bzw. jenseits des Lebens liegen. Das abschließende knapp drei Seiten lange Kapitel VII versucht eine Zusammenfassung und Synthese, bringt aber in Wirklichkeit eine Reihe weiterer offener Fragen. Das Kapitel beginnt mit einem Beruhigungsversuch: Es sollte den Leser, der bis hierher gefolgt ist, mittlerweile »nicht darüber verwundern, daß im Seelenleben so viele Vorgänge sich unabhängig vom Lustprinzip vollziehen« (ebd., 67). Und als entscheidende Erkenntnis nennt Freud die »frühesten und wichtigsten Funktionen des seelischen Apparates«, Triebregungen »zu ›binden‹, den in ihnen herrschenden Primärvorgang durch den Sekundärvorgang zu ersetzen« (ebd.). Dann kommt ein Versuch der Differenzierung: »Trennen wir Funktion und Tendenz schärfer voneinander… Das Lustprinzip ist dann eine Tendenz, welche im Dienste einer Funktion steht, der es zufällt, den seelischen Apparat überhaupt erregungslos zu machen, oder den Betrag der Erregung in ihm konstant oder möglichst niedrig zu erhalten« (ebd., 68). Wieder finden wir diese auffällige Mehrdeutigkeit im Versuch, zu differenzieren: Ist das Lustprinzip also ident mit dem Nirwanaprinzip oder eine Tendenz, die im Dienste der Funktion wovon steht?
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Dann wird eine weitere bislang offene Frage aufgeworfen: Gehen eigentlich die Lust- und Unlustempfindungen von den »gebundenen« oder aber von den »ungebundenen« Erregungen aus – oder von beiden? Zumindest eines scheint Freud hier klar zu sein: Die »ungebundenen« Erregungen, wie sie im Primärvorgang vorherrschen, ergeben »weit intensivere Empfindungen« (ebd.). Dann kehren wir zur Eingangsfrage des Verhältnisses von Spannung und Bindung zurück. Freud unterscheidet jetzt nicht nur die Empfindung von Lust oder Unlust, sondern auch noch jene einer »eigentümlichen Spannung«, die ihrerseits lust- oder unlustvoll sein kann. Sind für diese unterschiedlichen Empfindungen nun die »gebundenen« oder »ungebundenen Energievorgänge« verantwortlich … »oder ist die Spannungsempfindung auf die absolute Größe, eventuell das Niveau der Besetzung zu beziehen« (ebd., 69)? Es folgt keine Antwort, sondern der Hinweis, dass die »Lebenstriebe« für so viel mehr Unruhe im Seelischen sorgen, »da sie als Störenfriede auftreten… während die Todestriebe ihre Arbeit unauffällig zu leisten scheinen«.14 Dem folgt ein Satz, der Freuds mehrfach getroffene Behauptung eines neuen Triebdualismus in Frage stellt: »Das Lustprinzip scheint geradezu im Dienste der Todestriebe zu stehen« (ebd.). Sofort folgt ein »aber«: »[...] es wacht allerdings auch über die Reize von außen … aber ganz besonders über die Reizsteigerungen von innen her«. – Freud ist nicht nur am Ende seiner Ausführungen angelangt, sondern offenbar auch am Ende mit seinen Versuchen, mehr Klarheit in seine Überlegungen zu bringen. So endet der Text mit einem Tröstungsversuch: »Was man nicht erfliegen kann, muß man erhinken. … Die Schrift sagt, es ist keine Sünde zu hinken« (ebd.).15
Diskussion wesentlicher Fragen und Prinzipien Die zwei Fassungen des Jenseits Der bis in die 1980-er Jahre bekannte Text von Freud erschien Ende November 1920. Aber es gibt ein Manuskript von 1919, das sich in wesentlichen Punkten von der Zweit-
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Freud wird in den folgenden fast 20 Jahren viel Energie darauf verwenden, doch noch Repräsentanten für diesen Todestrieb zu finden. Er bringt dazu den Sadismus, den Masochismus, die negative therapeutische Reaktion, die Melancholie, den Destruktionstrieb, den Hass, schließlich die Aggression – keine dieser Lösungen befriedigt ihn uneingeschränkt. Als stärkstes Argument bleibt – wie schon hier in Jenseits – der Wiederholungszwang. – Und diese Suche nach handfesten klinischen Belegen setzt sich nach Freuds Tod fort: So ist etwa von Melanie Klein und ihrer Schule der Neid als ein Repräsentant des Todestriebes aufgefasst worden (vgl. Klein 1948, Rosenfeld 1971). Diese Sätze stammen aus dem Koran. Dort sind es drei Sätze. Und der zweite Satz, den Freud beiseite lässt, lautet: »Viel besser ist hinken, als völlig zu sinken«. Für diese Auslassung hat Joachim Küchenhoff eine interessante Deutung: »Denn das Hinken, als Intermediärhandlung zwischen Fliegen und völligem Sinken, wird zwischen diesen Polen zu einem Dritten, zu einer Möglichkeit, das Leben zu gestalten, weder in den Höhenflügen der einen Freude und Lust noch im Elend des Unglücks und Todes. Leben spielt sich im Zwischenraum zwischen Flug und Absturz ab« (Küchenhoff 2008, 479). Hintergrund dieser Deutung ist Küchenhoffs Verständnis des neuen freudschen Triebdualismus, wonach »der Umgang mit Differenz das entscheidende Kriterium ist, das Eros und Thanatos unterscheidet, aber auch zwischen ihnen vermittelt … Eros will sie aufheben, in dem berühmten Doppelsinn des Wortes, bewahren und verringern zugleich, während der Todestrieb sie zum Verschwinden bringen möchte« (ebd., 477, 488).
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fassung unterscheidet.16 Ilse Grubrich-Simitis hat dieses in der Library of Congress in New York entdeckt – Ulrike May bezeichnet es als die »Erstfassung« (vgl. May 2013). Diese besteht aus 34 Seiten und ist in 6 Kapiteln gegliedert. Die beiden Fassungen unterscheiden sich so stark, dass sie, so Grubrich-Simitis, als »zwei Manifestationen eines ›work in progress‹ gelten können« (Grubrich-Simitis 1993, 238). Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass Freud ein ganzes Kapitel ergänzte, das Kapitel VI der Zweitfassung. Es ist das umfangreichste und erst in in diesem verwendet Freud den Begriff der »Todestriebe«. Die Erstfassung datiert May mit Mitte März bis Mitte April 1919, die Zweitfassung mit Sommer 1920. Ende Jänner 1920 sterben kurz hintereinander Anton von Freund (20.1.) und Freuds Tochter Sophie (25.1.). Am 8. März 1920 erfahren wir aus einem Brief Freuds an Max Eitingon, dass er an »Massenpsychologie und Todestriebe« arbeitet (Freud&Eitingon 2004, 194). Dies ist die erste Erwähnung des Wortes »Todestriebe«. Am 24.5.1920 geht an Ernest Jones die Mitteilung, Freud wende sich nun, nach Fertigstellung der Neuauflage der Drei Abhandlungen, wieder dem Jenseits zu. Am 18.7.1920 schreibt er gleichlautend an Ferenczi und Eitingon, dass er mit dem Jenseits jetzt fertig sei. In diesem Brief an Eitingon findet sich die nicht unwichtige Bemerkung: »Sie werden bestätigen können, daß es halbfertig war, als Sophie lebte und blühte« (ebd., 213). Freud stellt also, zwar in Form einer Negation, eine Verbindung her zwischen dem Jenseits und dem Tod seiner Lieblingstochter, eine Verbindung, die später von Fritz Wittels und anderen vermutet wurde. Ernest Jones etwa schrieb dazu, Freud »habe nicht wahrhaben wollen, dass die neuen Gedanken über Sterblichkeit und Unsterblichkeit, die im Zentrum des sechsten Kapitels stehen, vom Kummer um seine Tochter beeinflußt waren« (Jones 1962, 57).17 – May hält im Gegensatz dazu und mit Blick auf die Unterschiede von Erst- und Zweitfassung Freuds Aussage für zutreffend. Es sei zwar richtig, dass das Wort »Todestriebe« erst in der Zweitfassung vorkommt, aber das Konzept davon ist in der Erstfassung in gewisser Weise sogar radikaler gedacht als im später geschriebenen 6. Kapitel.18 »In der Erstfassung von Jenseits des Lustprinzips verwendete Freud die Bezeichnung ›Todestrieb‹ noch nicht, aber er führte bereits eine neue Definition der Triebe ein, deren zentrales Bestimmungsstück der Drang nach Rückkehr zu einem früheren Zustand war, und sprach ausführlich von jenen Trieben, deren Ziel es ist, den Organismus zum Tode zu führen … Den Eros hingegen findet man in der Erstfassung weder dem Wort noch der Sache nach … Erst in der Zweitfassung wird er als nicht dem Sexuellen im engeren Sinn
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Dieser handschriftliche Text wurde offenbar von Freud an Max Eitingon geschickt und kam mit dessen Nachlass nach New York. Fritz Wittels schrieb seine Freud-Biographie 1923 und gab diese vor der Publikation Freud zum Lesen. Dieser antwortete mit einer längeren Korrekturliste, in der er u.a. festhält, er habe das Jenseits bereits 1919 geschrieben, »als meine Tochter gesund und blühend war« (Freud 1923e, 758). Freud spricht also von der Erstfassung. »Man könnte sagen, dass es sich bei der Druckfassung des Jenseits um das Produkt einer Entradikalisierung handelt« (May 2013, 141). May ist der Meinung, das Herzstück des Jenseits ist nicht das 6., sondern das 5.Kapitel, weil dort der Gedanke formuliert wird, dass das gesamte Triebleben dazu diene, den Organismus zum Tod zu führen. Und von der Radikalität dieser These rücke Freud im 6. Kapitel ein gutes Stück ab.
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zugehörig aus den Sexualtrieben ausgeklammert und als eigenständiger Trieb oder als Triebgruppe eingeführt« (May 2013, 122). May vergleicht die Situation, in welcher sich Freud 1920 befand, mit jenem »Umsturz aller Werte« in den 1890-erJahren, als sich Freud gezwungen sah, seine Verführungstheorie aufzugeben, nachdem er erkannt hatte, dass es sich bei den Mitteilungen seiner Analysanten über sexuellen Missbrauch häufig um Phantasien handelte. So wie Freud damals die Verführungstheorie nicht gänzlich verwarf, so behält er auch jetzt die »alte« Triebtheorie als Bestandteil der »neuen« Konzeption bei: »Die neue Theorie erlaubte Freud, an der alten Theorie festzuhalten und das Neue, den Kern seiner weitausholenden Spekulation, unterzubringen. Deshalb sprach er vom ›dritten Schritt in der Trieblehre‹« (May 2013, 139f, Freud 1920b, 64). Die dritte Triebtheorie tritt also nicht an die Stelle der alten, sie führte diese weiter. Eros und Todestrieb erhalten einen Platz über den beiden Triebgruppen von Ich- und Sexualtrieben. Darin besteht nach May das wesentliche Anliegen des neuen 6. Kapitels.
Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis der Zusammenhänge von Trauma und Trieb: Freuds Überlegungen zur traumatischen Neurose In Jenseits ist es, wie wir gelesen haben, zunächst das Phänomen der traumatischen Neurose, das Freud zu Überlegungen bezüglich eines Jenseits des Lustprinzips bringt. Er fragt sich, ob der Befund, den er bei dieser Krankheitsform macht, nicht bloß die Reinform dessen zum Ausdruck bringt, was für jede Neurose gilt, dass nämlich eine übermäßige Reizzufuhr, die der psychische Apparat als Einbruch erlebt und die nicht angemessen gebunden werden kann, Auslöser für den Weg zur Neurose ist. Dies würde bedeuten, dass schon Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten niemals ganz innerhalb des Lustprinzips zu situieren sind, sondern immer auch Zeichen für eine traumatische Begegnung mit einem nicht assimlierbaren Anderen sind. So schrieb Freud schon 1919 in Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen: »Man kann doch die Verdrängung, die jeder Neurose zugrunde liegt, mit Fug und Recht als Reaktion auf ein Trauma, als elementare traumatische Neurose bezeichnen« (Freud 1919d, 324). Das Wort »Trauma« leitet sich vom Altgriechischen für Wunde, durchbohren ab, auf psychischer Ebene als heftiger Schock, Einbruch. Der Begriff weist also auf eine ökonomische Perspektive hin: »Wir nennen so ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal-gewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen« (Freud 1916/1917, 284). Das Trauma ist demzufolge eine »ökonomische Störung«. Und der psychische Apparat strebt danach, dieses Unbewältigte einer Bindung zuzuführen. Was niemals restlos gelingt. So jedenfalls lässt sich dies im Kontext von Freuds Konzept der Urverdrängung verstehen: »Wir haben … Grund, eine Urverdrängung anzunehmen, eine erste Phase der Verdrängung, die darin besteht, daß der psychischen (Vorstellungs)Repräsentanz des Triebes die Übernahme ins Bewußte versagt wird. Mit dieser ist eine Fixierung gegeben; die betreffende Repräsentanz bleibt von da an unveränderlich bestehen und der Trieb an sie gebunden« (Freud 1915b, 250). Und in Hemmung, Symptom und Angst bekräftigt er, dass »quantitative Momente, wie die übergroße Stärke der Erregung und der
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Durchbruch des Reizschutzes, die nächsten Anlässe der Urverdrängungen sind« (Freud 1926a, 121). Hatte die Traumathese für den frühen Freud (der Verführungstheorie) entscheidende Bedeutung für die Erklärung der Neurosen, so tritt nach 1897 die ätiologische Bedeutung des Phantasielebens in den Vordergrund. Die wesentliche Neuerung war, dass die Traumatisierung aus inneren Quellen stammen könnte. An die Stelle des Traumas tritt somit der Trieb. Erst in Jenseits kommt Freud im Kontext der traumatischen Neurosen zur Hypothese, wonach eine exzessive Reizüberflutung das Lustprinzip aus dem Spiel bringt und den psychischen Apparat dazu zwingt, eine dringendere Aufgabe »jenseits des Lustprinzips« zu erfüllen, die darin besteht, Erregungen zu binden, sodass ihre Abfuhr möglich wird. Damit aber war die bislang gültige Theorie zur Ätiologie der Neurose in Frage gestellt. Traumatisch wirke ein Zuviel an Erregung und als Folge der Effekt eines gelähmten Ichs. – Die übliche Lesart dieser wechselnden Perspektive Freuds auf Trauma und Trieb ist, dass Freud zwei ätiologische Grundmodelle entwickelt habe; zunächst das Trauma-Modell, dann ab 1897 das Trieb-Modell – und mit dem Jenseits zum Trauma-Modell zurückgekehrt sei. Die These von Grubrich-Simitis, der wir uns hier anschließen wollen, lautet demgegenüber: nicht Trauma oder Trieb, sondern Trieb und Trauma. Freud ging es in Jenseits darum, »die traumatischen Momente der Pathogenese in das Trieb-Modell einzuarbeiten« (Grubrich-Simitis 1987, 995).
Das Kinderspiel und seine möglichen Deutungen Wir haben gesehen, dass es Freud bei seinen Überlegungen zur traumatischen Neurose wesentlich um den ökonomischen Aspekt ging. Das gilt in gewisser Weise auch für das Kinderspiel. Das Spiel dient ihm als Untermauerung seiner These, dass Lust von der Ersetzung einer unlustvollen Erfahrung durch Wiederholung abhängig ist, die in der Lage ist, die Spannung zu reduzieren. Aber es entstehen gleichzeitig neue Spannungen, die notwendig sind, um den Spannungsnullpunkt zu vermeiden. Freud hebt auch hervor, dass das Kind nie weinte, wenn die Mutter es für Stunden allein ließ. Er stellt uns also ein Kind vor, das in der Lage ist, kulturellen Gesetzen zu gehorchen, noch bevor es die Sprache dieser Gesetze erlernt hat. Das Kind kennt also die Negation, das »Nein« schon, bevor es in die Sprache eingeführt wurde. Dies kommentiert Elisabeth Bronfen so: »Anders als die vom Ödipuskomplex beherrschte Szene, handelt hier die Erzählung von der Art und Weise, in welcher Spracherwerb und Subjektivität sich auf eine anerkannte Verlusterfahrung gründen« (Bronfen 1993, 583). Und weiter: »Die Angst aber, um die es hier geht, schließt den Vater als ein störendes drittes Element nicht mit ein. Eine solche Erzählung legt nahe, daß es die vielen Zeichen des Todes sind, die sich dem menschlichen Körper von Geburt an einschreiben … daß diese Todeszeichen nicht nur die Sehnsucht nach einem früheren Zustand wecken (nach der vollständigen Einheit des Kindes mit dem mütterlichen Körper), sondern auch eine Ausrichtung auf Umwege und Kreativität im Form eines symbolischen Spiels verursachen« (ebd.). Freuds Beobachtung des kindlichen Spiels durchläuft ja mehrere Phasen. Zunächst beschreibt er das Spiel des Wegwerfens, begleitet mit dem lauten, langgezogenen »oo«, für Freud ein Signifikant für Interesse und Befriedigung. Freud deutet das »o-o« als
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feststehende Bedeutung eines »fort«. – Sodann schildert er das von ihm so genannte »komplette« Spiel: »oo« und »da«! Also: Verschwinden und Wiederkommen. – Es folgt eine weitere Spielvariante: Das Kind begrüßt seine wiederkehrende Mutter mit einer Lautgeste »Bebi o-o-o«. Diese deutet Freud in Verbindung mit der Beobachtung, dass das Kind während seines Alleinseins »ein Mittel gefunden (habe) sich selbst verschwinden zu lassen« (Freud 1920b, 13). Es hatte sein Spiegelbild entdeckt, sich so niedergekauert, dass es »fort« war. – Bronfen deutet die Varianten des Spiels als Versuche, mit der narzisstischen Verletzung der Abwesenheit des mütterlichen Körpers zurecht zu kommen: »Dies bedeutet einen Verzicht auf den Wunsch nach ständiger Anwesenheit der Mutter und beinhaltet die narzißtisch verletzende Anerkennung ihrer notwendigen Abwesenheit« (Bronfen 1993, 585). David Winnicott hat auf die enge Verbindung von Abwesenheit und Tod bei kleinen Kindern hingewiesen: »Hierbei handelt es sich um Tage, Stunden oder Minuten. Bevor diese Grenze erreicht wird, ist die Mutter noch am Leben; danach ist sie tot. Dazwischen liegt ein entscheidender Augenblick voller Angst, die sich aber schnell verliert und vielleicht nie erlebt wird… Dies fällt in eine Zeit, kurz bevor das Kind die Fähigkeit aufgebaut hat, Menschen in seiner inneren psychischen Realität … als lebendig zu erleben« (Winnicott 1971, 33). Freud selbst bietet zwei Lesarten des Kinderspiels an: Die eine ist die Vorstellung, das Kind hätte in seinem Spiel eine passiv erlebte Erfahrung in eine Aktivität verwandelt und damit ein Gefühl der Kontrolle entwickelt. Die zweite Lesart macht sich am Wegwerfen der Spule fest: Freud sieht dies als Beleg für die Vermutung, das Kind lebe damit seinen Racheimpuls gegen die ihn immer wieder verlassende Mutter aus. In beiden Lesarten dient die Wiederholung einer Rückgewinnung von Kontrolle, von Selbstbehauptung und widerspricht damit dem Lustprinzip nicht. Aber trotzdem ist in beiden Fällen die durch Wiederholung gewonnene Lust eine gebrochene: »Sie ist Resultat eines Umwegs einer Uneinigkeit, und es gibt sie nur in der Wechselbeziehung zu ihrem Gegenpart, der Unlust« (Bronfen 1993, 587). Auch in Melanie Kleins Theoriebildung findet sich diese doppelte Sicht auf diesen kindlichen Bewältigungsversuch mütterlicher Abwesenheit. Indem das Kind eine »gute« und eine »schlechte« Mutter imaginiert, läuft es einerseits Gefahr, die »gute« zu zerstören, und muss diesen Impuls gegen den anderen, die »böse« Mutter zerstören zu wollen, in Schwebe halten. Daraus resultiert schließlich der Weg zur Symbolbildung, der das kleine Ich in die Lage versetzt, seine Besetzungen von einem Ersatzobjekt zum anderen gleiten zu lassen. Damit verbunden ist aber der entscheidende Verzicht auf den mütterlichen Körper zugunsten von Bildern und damit die Anerkennung der Differenz zwischen Körper und Vorstellung. In Fortführung dieser Konzeption versteht Winnicott die Holzspule im Fort-Da-Spiel als Übergangsobjekt, das den Übergang des Kindes von einem Zustand der Verschmelzung mit der Mutter zu einem Zustand der Beziehung zur Mutter als einem äußeren und von ihm getrennten Objekt markiert. Das Spiel markiert so einerseits die Verletzung des narzisstischen Typs der Objektbeziehung, andererseits den Schritt hin zu einem Vertrauen des Kindes in die Erfahrung von Getrenntheit, indem es immer wieder »Einverleibung, Retention und Loswerden« (Winnicott 1958, 55) spielt. Durch das äußere Symbol wird eine Beziehung zwischen einem äußeren (abwesenden) Körper und einer inneren Repräsentanz hergestellt.
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In der Spielvariante vor dem eigenen Spiegelbild macht das Kind aber noch eine andere Erfahrung: Es verlagert die Abwesenheit des Anderen auf die Abwesenheit von sich selbst, ein Spiel, das man auch so verstehen kann, dass das Kind die eigene Sterblichkeit spielt, indem es sie zugleich bestätigt und verleugnet. In der Lesart Jacques Lacans geht es bei diesem Spiel um den Eintritt in die symbolische Ordnung. Verhandelt wird im Spiel die Möglichkeit, im Symbol eine bestimmte Unabhängigkeit von der Mutter zu gewinnen und durch die Bildung einer symbolischen Existenz der unlustvoll erlebten Absenz der Mutter entgegenzuwirken: Ich kann sie wegschicken und kommen machen wie mich selbst. So sieht Lacan das Fort-Da-Spiel als Zeichen für das Schwinden (aphanisis) des Subjektes vor und innerhalb des Prozesses der Signifikation. Die Holzspule repräsentiert in seinem Verständnis nicht bloß die abwesende Mutter, sondern »vielmehr ein kleines Etwas vom Subjekt, das sich ablöst, aber trotzdem ihm zugehörig ist« (Lacan 1978, 68). Die im Spiel wiederholte Erfahrung ist die »des Fortgangs der Mutter als Ursache einer Spaltung im Subjekt« (ebd.), die damit auch die eigene Abwesenheit des Kindes selbstreflexiv ausdrückt. Indem die Holzspule durch die Phoneme »o« und »a« und damit durch Signifikanten ersetzt wird, kommt es laut Lacan zu einer Ersetzung des Ichs durch ein »Subjekt des Unbewussten«. Das Subjekt, einmal den Gesetzen der Sprache unterworfen, kann sich immer nur unvollkommen mit einzelnen Signifikanten identifizieren, es ist vom Zustand der absoluten Selbst-Präsenz getrennt: Das Verschwinden des Körpers der Mutter wird durch das Verschwinden des Subjekts ersetzt. Insofern kommt Lacan zur Formulierung, dass die Repräsentanz unausweichlich auch den »Mord der Sache« bedeutet (Lacan 1986, 166). Von nun an ist dem Subjekt der Mangel eingeschrieben. Wie lässt sich nun verstehen, dass der Junge weder beim zeitweiligen Weggehen der Mutter noch bei ihrem Tod jemals Trauer oder Tränen zeigte? Bedeutet dies, dass das Spiel so erfolgreich war, dass das reale Ereignis es nur bestätigte? Lassen wir nochmals die Reihe der symbolisch-sprachlichen Wiederholungen Revue passieren: Zunächst spielt das Kind mit einem Symbol, das die Mutter ablöst. Sodann kommt eine Substitutionskette in Gang, die vom Symbol Richtung Signifikanten verweist, bis sie sich auf das zweite Symbol, das des Spiegelbildes des Kindes verlagert und damit die Mutter nochmals abdeckt bzw. ersetzt. Durch das Fort-Da wird eine nicht vorstellbare und auch nicht darstellbare traumatische Abwesenheit substituiert und durch die Wiederholung gebunden. Diese Bindung des »fort« in der Symbolisierung hat aber ihren Preis. Durch den Übertritt in die Sprache kommen Verschwinden, Auslöschung und Tod ins Subjekt. In der dritten Spielvariante wird dies deutlich: Das Kind bringt sich selbst zum Verschwinden. Und offenkundig ist es dem Kind auch wichtig, der heimkehrenden Mutter dieses Verschwinden mitzuteilen: »In dieser Mitteilung, in dieser an den Anderen gerichteten Rede, läßt sich der Wunsch nach Anerkennung und Aufhebung dieses Selbstverlustes erkennen, ein Wunsch, der möglich wird durch dasselbe Medium, das ihn, den Verlust, hervorruft: die Sprache« (Löchel 1996, 699). Peter Widmer fasst diesen für die Subjektwerdung grundlegenden Vorgang so: »Durch die Situierung in der Sprache geschieht ein Sprung aus der Unmittelbarkeit heraus… Die Symbolisierung negativiert die realen Personen, läßt sie als abwesende anwesend sein und erkennt sie damit als sterbliche Objekte, die fort sein können, als sprachliche Zeichen aber gleichwohl da sein. Durch diese Negativierung geschieht ein symbolischer
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Mord, der dazu führt, daß nicht nur die anderen für das Subjekt abwesend-anwesend sind, sondern auch es selbst sich für die anderen als abwesend konstituiert« (Widmer 1984, 1062).
Metapsychologie – Biologie – Philosophie – Mythos Wir haben bereits angesprochen, dass Freud gemeinsam mit Sandor Ferenczi das »Lamarck-Projekt« verfolgte; ein Projekt mit dem Ziel, Biologie und Psychoanalyse enger miteinander zu verbinden. Besonders im Herbst 1919 tauschten sich die beiden intensiv im Rahmen ihrer »bio-analytischen« Gespräche aus. Ulrike May sieht das VI. Kapitel des Jenseits mit seinen ausführlichen Bezügen auf die Biologen Weismann, Lipschütz und andere als Freuds Versuch einer Umsetzung dieser Überlegungen. – Freuds erster Beitrag zu einer »Urgeschichte« des Psychischen war Totem und Tabu. Er leitete dort die Instanzen des Gewissens und der Moral sowie des magischen Denkens von der Frühgeschichte der Menschheit ab. Auch in seiner Übersicht der Übertragungsneurosen von 1915 versuchte er die klinischen Bilder als Resultat eines mehrstufigen »Kampfes mit der Not der Eiszeiten« zu erklären. Freud übernahm hier Ferenczis historischphylogenetische Überlegungen aus dessen Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinns, in welcher dieser die Entwicklung der menschlichen Psyche als Reaktion auf »geologische Veränderungen der Erdoberfläche« zurückgeführt hatte. Das »Leben« habe auf diese Erfahrungen mit einer »Beharrungstendenz« reagiert, die ein Sträuben gegen jede Veränderung erzeuge. In der Deutung von May stellt Freuds These vom Todestrieb seinen Versuch dar, eine letzte Antwort auf die allgemeinsten Fragen des Lebendigen gegeben zu haben. Diese »biologische« Dimension findet sich schon im I. Kapitel des Jenseits: Sowohl das Trägheitsprinzip als auch das Konstanzprinzip sind primär biologisch-physiologische Konzepte. Freuds ganze Metapsychologie kann insofern als ein Versuch verstanden werden, das Funktionieren der menschlichen Psyche physiologisch zu erklären, ist doch der ökonomisch-quantitative Gesichtspunkt dabei der argumentative Hauptstrang. Für diesen Zugang steht wohl auch Freuds Begriff des Triebes (als Grenzbegriff zwischen dem Somatischen und dem Psychischen). Mit der Thematisierung von Tod und Trauma geht Freud jedoch einen Schritt weiter. Er will psychische Vorgänge als Funktionen eines seelischen Apparates in einer biologischen Struktur einschreiben, die dem universellen Prinzip der Spannungsreduktion unterliegt. Biologische Vorgänge von Strukturverlust und Zerfall können aber das Funktionieren diesen seelischen Apparats gefährden. Indem Freud die Perspektive im V. Kapitel auf »alles organische Leben überhaupt« (Freud 1920b, 38) erweitert, versteht er den Begriff »Trieb« nicht mehr ausschließlich in seiner bisherigen Bedeutung als ein »dem psychischen Apparat auferlegtes Arbeitsmaß«. Er stellt die Frage nach der Entstehung des Lebens und nach dem Verhältnis von Leben und Tod. Und er nimmt eine folgenreiche Erweiterung des Triebbegriffs vor: »Alles, was die Entwicklung eines neuen Organismus bestimmt, ist Trieb« (Picht 2020, 877). Der Triebbegriff ist nicht länger ein physiologischer, weshalb Jenseits auch als »metabiologischer Text« bezeichnet wurde (so etwa von Grubrich-Simitis 1985).
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Unmittelbar nachdem Freud seinen zentralen Satz »Das Ziel alles Lebens ist der Tod« platziert, lässt er eine grundlegende Spekulation über die Entstehung des Lebens folgen: »Irgend einmal wurden in unbelebter Materie durch eine noch ganz unvorstellbare Krafteinwirkung die Eigenschaften des Lebenden erweckt« (Freud 1920b, 40) und damit sei eine »Spannung« entstanden, die sich seitdem »abzugleichen« trachte. Freuds These an dieser Stelle ist also, dass er sich die Entstehung des Lebens als traumatisches Ereignis denkt! Das »Leben« wird damit zum »Ableben« (ebd., 60) dieses Traumas, bis die Ruhe des Leblosen wieder erreicht ist. Anders das Kapitel VI: Freuds Interesse gilt jetzt der experimentellen Biologie und der Frage, ob der Todestrieb sich als biologisches Prinzip argumentieren lässt. Wir sehen im Argumentationsfortgang, dass Freud am Ende diese Perspektive verlässt – mit einem überaus interessanten Argument: »Wenn wir den morphologischen Standpunkt verlassen, um den dynamischen einzunehmen, so kann es uns überhaupt gleichgültig sein, ob sich der natürliche Tod der Protozoen erweisen läßt oder nicht« (ebd., 52). Und Freud landet »unversehens« im »Hafen der Philosophie Schopenhauers« (ebd., 53). Man könnte sagen, seine Suche führt Freud von der experimentellen Biologie zu einer philosophisch fundierten »Metabiologie«. Zur mythologischen Dimension in Jenseits: Johannes Picht erinnert daran, dass »alle klinischen Konzept der Psychoanalyse, allen voran der Ödipuskomplex«, »Mythen« sind (Picht 2020, 879). Es sei also nichts wirklich Neues, dass auch in Jenseits auf mythologische Erzählungen zurückgegriffen wird. Indem Freud an dieser Stelle die Lebenstriebe mit der Sexualität gleichsetzen will, diese aber zugleich dem neu entdeckten Grundsatz, dass sie als Triebe nach Wiederherstellung eines früheren Zustandes streben, unterordnet, scheint ihm die Erzählung vom ursprünglichen Kugelmenschen perfekt zu passen: »Sollen wir … die Annahme wagen, daß die lebende Substanz bei ihrer Belebung in kleine Partikel zerrissen wurde, die seither durch die Sexualtriebe ihre Wiedervereinigung anstreben« (Freud 1920b, 63)? Wir schließen uns hier Pichts abschließender Einschätzung an: »Fassen wir das Bisherige kurz zusammen, so lässt sich Jenseits des Lustprinzips als kühner Versuch interpretieren, den Triebbegriff über klinische Psychologie und Metapsychologie hinaus in die Biologie und die Kosmologie zu erweitern… Das Buch ist Schauplatz eines Ringens mit metaphysischen Denkformen … Wenn wir ihn so lesen, haben wir Freud als den Philosophen ernst genommen, der er eigentlich doch sein wollte« (Picht 2020, 888). Seine »weitausholende Spekulation« kann derart als Versuch gelesen werden, die Spaltung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden, was er eben metapsychologisch, aber wohl auch mittels einer metabiologisch untermauerten Psychoanalyse leisten wollte.
Vom Lustprinzip bis zum Nirwanaprinzip – oder: wem gehört die »Herrschaft«? Das Streben nach einem Zustand vollständiger Erregungslosigkeit beschäftigte Freud schon im Entwurf – und ist so gesehen eine Konstante in seinem Denken. Seine frühen psychobiologisch inspirierten Formulierungen bezeichnen damit eine Tendenz des Organismus, der auf diese Weise seine Herrschaft über die Stimuli sicherstellen will. Später, als es ihm um die wechselvolle Entwicklung des Begehrens geht, setzt er Lust
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und Beendigung der Sexualspannung weitgehend gleich. Im Entwurf versteht Freud unter dem Trägheitsprinzip die »ursprüngliche Tendenz« des neuronalen Systems, »die Absenkung des Spannungsniveaus gegen Null« (Freud 1895c, 389). Das Konstanzprinzip wird hingegen dem Sekundärvorgang zugeschrieben und muss ein Minimum an Besetzung zwingend aufrechthalten.19 In Jenseits nimmt Freud zunächst eine interessante Wendung vor, indem er die beiden Prinzipien zu einem verschmilzt. »Indem er Fechners Konstanzprinzip zur steuernden Kraft erhebt und die Reduzierung der Spannung auf das Nullniveau zum bloßen Unterfall dieses Prinzips erklärt, treibt er die Beziehungen zwischen primär und sekundär einen Schritt weiter voran. Das Konstanzprinzip wird zur Primärfunktion, von der er dann das Lustprinzip ableitet, dem gegenüber das Realitätsprinzip sekundär ist« (Green 1983, 94). – Aber gehen wir langsam vor. Freud spricht ja am Anfang des Jenseits von der »unbedenklichen« metapsychologischen Annahme, dass alle Vorgänge im psychischen Apparat der Tendenz folgen, »unlustvolle Spannung« zu reduzieren. Schon diese Formulierung enthält eine gewisse Doppeldeutigkeit: Geht es hier um das Bestreben, die psychischen Spannungen überhaupt zu eliminieren, oder nur um die Reduktion »unlustvoller« Spannungen? Dieses »Nullprinzip« formulierte Freud schon in seinem Entwurf, wenn er als grundlegende Hypothese seines Trägheitsprinzips als dessen Ziel formulierte, »daß das Neuron sich der Quantität zu entledigen trachtet« (Freud 1895c, 388f). – Im Kapitel VII des Jenseits versuchte Freud diese Doppeldeutigkeit aufzuheben, indem er dem psychischen Apparat die grundlegende Tendenz zuschrieb, Erregung zu binden. Das Lustprinzip wäre dann eine Tendenz, die im Dienste einer Funktion steht, den seelischen Apparat überhaupt erregungslos zu machen. Als Funktion wäre es dem Einfluss der Lebenstriebe unterworfen, obwohl es im »Dienste« der Todestriebe steht; eine interessante dialektische These. Im später verfassten Kapitel VI bezeichnet Freud dann dieses radikalisierte Lustprinzip als Nirwanaprinzip und sieht darin »eines unserer stärksten Motive, an die Existenz von Todestrieben zu glauben« (Freud 1920b, 60).20 Wenn Freud schreibt, das »Lustprinzip scheine geradezu im Dienste des Todestriebes zu stehen« (ebd., 69), so übernimmt er den Gedanken von Fechner, dass es das wesentliche Ziel des Lustprinzips sei, Stabilität zu erreichen. »Lust = Stabilität und Stabilität = Tod = Umwandlung der organischen in anorganische Materie, das sind die theoretischen Gleichungen, die Freud dazu führen, die Konzepte Lustprinzip und Todestrieb (der den Endzustand der irreversiblen Stabilität so rasch wie möglich zu erreichen sucht) in einem Zusammenhang zu denken« (Nitschke 1989, 86). 19
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Dieses Schwanken hat auch André Green bemerkt: »Wir stehen hier am Ursprung der Dualität zweier Prinzipien: in den späteren Schriften Freuds wird mal dem einen, mal dem anderen Vorrang gegeben« (Green 1983, 93). Diesen Ausdruck hat Freud von der englischen Analytikerin Barbara Low übernommen. Sie versteht dieses allerdings anders als Freud: »It is possible that deeper than the Pleasure-principle lies the Nirwana-principle, as one may call it – the desire of the newborn creature to return to the stage of omnipotence, where there are no non-fulfilled desires, in which it existed within the mother’s womb« (Low 1920, 73). Low bezieht dieses Prinzip also auf den Wunsch nach Rückkehr in den Mutterleib, ähnlich wie es Ferenczi schon 1913 geschrieben hatte. Freud hat also das Wort, aber nicht die unterlegte Bedeutung übernommen.
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Und diese neue Konzeption des Lustprinzips wird von Freud nun generalisiert, auf »das Leben überhaupt« übertragen: Leben entstand, so Freuds Spekulation, durch die Einführung spannungsreicher Kräfte in die anorganische Materie. Seither gibt es in der organischen Substanz die Tendenz, diese Spannung wieder abzubauen. Die letztlich angestrebte Rückumwandlung des Organischen ins Anorganische entspricht in Analogie der Aufgabe, die der psychische Apparat bei der Bewältigung jeder Erregung zu leisten hat. Während dieser Apparat aber immer nur einen relativen Stabilitätszustand erreichen kann, zielt der Todestrieb direkt auf einen endgültigen und irreversiblen Stabilitätszustand. Der von Freud so bezeichnete »erste Trieb« will zurück zum verlorenen Urzustand, er ist im radikalen Sinn konservativ. So gesehen ist der Todestrieb früher da als der Eros, sein Gegenspieler, der ja das Leben erhalten will. Aber auch im Eros steckt eine alte Sehnsucht, die infantile Befriedigung und Lust zu wiederholen. Die beiden Triebe unterscheiden sich nur in Bezug auf ihre Ziele, die einmal früh am Anfang des Lebens, das andere Mal vor dem Leben bzw. jenseits des Lebens liegen. – Aber andererseits fragt sich Freud, ob man nicht zwischen Unlust und Spannungsgefühl unterscheiden sollte: »[...] ist die Spannungsempfindung auf die absolute Größe, eventuell das Niveau der Besetzung zu beziehen, während die Lust-Unlustreihe auf die Änderung der Besetzungsgröße in der Zeiteinheit hindeutet« (Freud 1920b, 69)? So ergibt sich im Mit- und Gegeneinander der beiden Triebe der »Zauderrythmus«: Eros sichert also das Leben gegen seinen eigenen Zerfall, wobei die lebenserhaltende, spannungssteigernde Kraft des Eros aus inneren Triebreizen resultiert, die kontinuierlich im Körperinneren entstehen und zu deren lustvoller Bewältigung Wege und Ziele gesucht werden müssen, vor allem in Form der Beziehung zu einem befriedigenden Objekt. – War bis 1920 für Freud Sexualität ein Phänomen, das in Spannung bzw. im Konflikt mit den Ichtrieben, den Selbsterhaltungsinteressen und der gesellschaftlichen Realität stand, so besteht jetzt der Gegensatz zwischen Eros/Sexualität und Todestrieb. Der Status des Lustprinzips, sowohl was sein eigentliches Ziel darstellt als auch in seinem Verhältnis zum Nirwanaprinzip, aber auch zu den beiden neuen Triebgruppen von Eros und Todestrieb, bleibt uneindeutig und schwebend.
Der Wiederholungszwang als stärkstes Argument für den Todestrieb Den Begriff des Wiederholungszwangs hat Freud in Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten eingeführt. Er diskutiert dort die Dialektik von Erinnern und Wiederholen: »[...] so dürfen wir sagen, der Analysierte erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt« (Freud 1914b, 129). Hier wird diese Art der Wiederholung nicht als ein innerpsychischer Akt charakterisiert, sondern als Tat, und zwar als unbewusste Tat. Diese Wiederholung versteht Freud als »seine Art zu erinnern« (ebd.) – und dies erlebt der Analysant als etwas Reales und Aktuelles. – Dieser Wiederholungszwang wird im Rahmen einer Wiederkehr des Verdrängten, so gesehen im Kontext des Lustprinzips verhandelt. Und er versteht hier die Wiederholung als Form der Übertragung: »Die Übertragung ist selbst nur ein Stück Wiederholung und die Wiederholung ist die Übertragung« (ebd., 130).
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In Jenseits beschäftigt Freud eine andere Form von Wiederholung: der Zwang zur Wiederholung von unlustvollen, ja traumatischen Erlebnissen der Vergangenheit – als wiederkehrende »Erinnerung«, aber auch als repetitiver Traum. Und Freuds Frage ist jetzt, wie es sein kann, dass Erlebnisse »ohne Aussicht auf eine Lustmöglichkeit« dennoch wiederholt werden. »Diese Erlebnisse der Vergangenheit, die schlechterdings keine Lustmöglichkeit enthalten, sind einer Repräsentation fähig in der Form des von Freud so genannten Wiederholungszwangs. Die Wiederholung gilt dabei einem unlustvollen unbewußt Gegebenen, das durch seine Aufnahme im Zwang zur Wiederholung aber nicht den Charakter des Bewußten erlangt. Die Wiederholung, so muß formuliert werden, tritt auf anstelle einer Erinnerung« (Haas 1982, 33). Freud bringt jetzt auch die Übertragung in diese Perspektive: Auch diese drückt diesen Zwang zur Wiederholung unlustvoller Erfahrungen aus. Diese ließen sich aber auch als Versuch einer selbsttherapeutischen Bewegung verstehen, als eine nachträgliche Bewältigung eines bisher unbewältigten Affekterlebnisses. Gerade die Übertragung sei der Ort und Ausdruck eines solchen Wiederholungszwanges. Freud diskutiert verschiedene Erklärungsmöglichkeiten: Zum Beispiel jene, wonach die Wiederholung des Traumas die Aufgabe erfüllen solle, die seinerzeit fehlende Angstbereitschaft nachzuholen; aber schließlich die Aussicht auf ein Jenseits des Lustprinzips. Indem er die Durchbrechung des Reizschutzes zum zentralen Moment erklärt, ist es konsequent, dass er als entscheidende Aufgabe des psychischen Systems die der Bindung erklärt: »Es wird eine großartige ›Gegenbesetzung‹ hergestellt, zu deren Gunsten alle anderen psychischen Systeme verarmen« (Freud 1920b, 30). Erst wenn diese Bindung gelungen ist, ist die Ausgangsbedingung für Besetzungen im psychosexuellen Sinn gegeben und das Lustprinzip kann in Funktion treten. Freuds Argumentation ist nun die folgende: Da das Lustprinzip Stabilität anstrebe, ist sein Ziel ident mit jenem des Wiederholungszwanges, der ja ebenfalls einen prekären Zustand der Instabilität in einen stabilen umzukehren suche (auch wenn dies meist misslinge)! Der Wiederholungszwang hat also etwas Triebhaftes an sich. Im nächsten Schritt fragt sich Freud, inwiefern seine Hypothese, wonach der Widerstand immer von der Seite des Ich herkomme, noch richtig sein kann. Bisher war seine Position klar: »Der Widerstand in der Kur geht von denselben höheren Schichten und Systemen des Seelenlebens aus, die seinerzeit die Verdrängung durchgeführt haben… der Widerstand der Analysierten gehe von ihrem Ich aus, und dann erfassen wir sofort, der Wiederholungszwang ist dem unbewußten Verdrängten zuzuschreiben« (Freud 1920b, 17). Aber Freud fokussiert jetzt auf die Wiederholung von Erlebnissen, die »keine Lustmöglichkeit enthalten« (ebd., 18). Und er fragt sich, wie denn dieser Zwang zur Wiederholung mit dem Trieb zusammenhänge. Und an dieser Stelle setzt er eine entscheidende Marke: »Auf welche Art hängt aber das Triebhafte mit dem Zwang zur Wiederholung zusammen? … ein Trieb wäre also ein dem belebten Organismus innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes« (ebd., 38). Für Freud ist damit aber »der erste Trieb« gegeben, nämlich der, die Spannung abzugleichen, »zum Leblosen zurückzukehren« (ebd., 40). Die Wiederholung wird zur entscheidenden Eigenschaft des Triebes, der Wiederholungszwang ist die Äußerungsform des Unbewussten schlechthin. Widerstand ist nicht bloß eine Äußerungsform des Ichs, sondern auch des Unbewussten. Die vom Ich erzwungene Wiederholung hat die Funktion der nachträg-
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lichen Symbolisierung, die aus dem Unbewussten stammende Wiederholung aber ist eine jenseits des Lustprinzips: »Der dämonische Wiederholungszwang ist somit eine reine und unheimliche Wiederholung, eine Wiederholung ohne jedes Ziel, außer dem, sich selbst zu wiederholen« (Hegener 2013, 162). Und es kommt zu einer weiteren Unlustentbindung. Bei den so genannten flashbacks geht es nicht um Erinnerungen, die eine symbolische Verarbeitung voraussetzen, sondern »um reine und gleichsam unmodifizierte Wahrnehmungen, die den psychischen Apparat gewissermaßen autotraumatisch von innen heraus überfallen und in schrecklicher Weise als zeitlos gegenwärtig erlebt werden« (ebd.).21 Halten wir also fest: Die Wiederholung ist nicht Folge eines Traumas, sondern ist auf das Wirken des Triebes selbst zurückzuführen. Das ist die Denkbewegung vom Trauma zum Trieb, auf die schon Grubrich-Simitis (1987) aufmerksam gemacht hat. Man kann diese Entwicklung auch so verstehen, dass für Freud jetzt das Traumatische eine immanente Eigenschaft jedes Triebes ist. Diese Koppelung, ja Identsetzung von Trieb und Trauma bzw. Wiederholungszwang, wie sie Freud in seinem V. Kapitel formuliert, wird aber im später verfassten VI. Kapitel teilweise revidiert: Jetzt lesen wir, die Sexualtriebe unterlägen dem Wiederholungszwang nicht. Das Wesentliche an ihnen sei vielmehr die geschlechtliche Vereinigung, die Fortsetzung des Lebens, die Fähigkeit zu Synthese und Verbindung. Nachdem sich die Biologie als Stütze für Freuds Annahmen letztlich nicht eignet, sucht er zuletzt eine indirekte Bestätigung in Platons Fabel von der Entstehung der beiden Geschlechter aus dem ursprünglichen Kugelwesen. Hier kommt die noch zu differenzierende Formulierung, das Wesen der Sexualtriebe sei deren Streben nach Wiederherstellung eines früheren Zustandes. Und damit wird auch die Definition des Triebes aus dem V. Kapitel nochmals neu gefasst: Gemeinsames Merkmal der Triebe sei nicht der Wiederholungszwang, sondern das regressive »Bedürfnis nach Wiederherstellung eines früheren Zustandes« (Freud 1920b, 62). Damit aber ändert sich der Begriff des Wiederholungszwangs: War er bislang auf Erlebnisse und Reize bezogen, die in unterschiedlicher Weise unlustvoll waren, so ist jetzt von einem »früheren Zustand« die Rede, den es »wiederherzustellen« gelte. Dieser Zustand aber ist der Tod, genauer: der Zustand der Spannungslosigkeit, der NullSpannung. »Aus dem ›Zwang‹, ein traumatisches Geschehen zu wiederholen, um es zu binden, wird der ›Drang‹, zu einem Zustand zurückzukehren, der noch durch keinen ›Einfluß äußerer Kräfte‹ gestört ist. Das einzige, was die beiden Sachverhalte verbindet, ist das ›Wieder‹ von ›Wiederholung‹ bzw. ›Wiederherstellung‹. Wiederholung und Wiederherstellung sind aber ebenso wenig dasselbe wie Zwang und Drang« (Picht 2020, 890). 21
Jacques Lacan unterscheidet in seinem Seminar XI (vgl. Lacan 1964), indem er auf eine Begrifflichkeit von Aristoteles zurückgreift, zwischen zwei Formen von Wiederholung, nämlich zwischen Tyche und Automaton. Letztere versteht er als Wiederholung, die in Erinnerung übersetzt werden kann. Wir könnten sie auch als die Form der Wiederholung verstehen, die vom Ich ausgeht, die eine restitutive Wirkung hat mit dem Ziel, einen Zustand vor dem Trauma wiederherzustellen. Tyche hingegen wäre die Wiederholung der Unmöglichkeit der Wiederholung, die Wiederholung des Traumas, das sich mittels des Realen manifestiert. Das entspräche Freuds Konzept der Ausgesetztheit des Subjekts gegenüber dem Wiederholungszwang.
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Der neue Triebdualismus Wir wollen unsere Aufmerksamkeit auf zwei Fragen beschränken: Was sind Freuds entscheidende Motive, den Zwischenschritt in seiner neuen Trieblehre, der ihn zu einem Triebmonismus gebracht hat, doch wieder »energisch« zu verlassen? Und: Wie können die Todestriebe als Trieb gedacht werden, wo sie doch »stumm« bleiben, ihnen eine echte Repräsentation fehlt? Zur ersten Frage schließen wir uns der Auffassung von André Green an: »Die meisten Kritiker allerdings lassen außer acht, daß die These vom grundlegenden Triebkonflikt bei Freud einer Notwendigkeit entspricht: der Tatsache gerecht zu werden, daß der Konflikt wiederholbar, verschiebbar, umformbar ist und hartnäckig allen Wandlungen des psychischen Apparats widersteht (intersystemische oder intrasystemische Konflikte, Konflikte zwischen narzißtischer und Objektlibido, Konflikte zwischen den Instanzen und der äußeren Wirklichkeit usw.). Diese Feststellung veranlaßte Freud, einen ursprünglichen, fundamentalen und ersten Konflikt theoretisch zu postulieren, der die primitivsten Formen seelischer Aktivität ins Spiel bringt; das erklärt sein starres Festhalten am Triebdualismus« (Green 2001, 871). Zur zweiten Frage: Sowohl in Das Unbewußte als auch in Zeitgemäßes über Krieg und Tod hatte Freud seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass der eigene Tod im Unbewussten keine Repräsentation kennt. Im zweiten Aufsatz bezeichnet er diese Haltung als Verleugnung: Wir glauben einfach nicht an den eigenen Tod; und zwar, weil dieses Verleugnete im Unbewussten gar nicht gefunden werden kann, weil es dort schlicht nicht existiert. – In Jenseits kommt Freud zur Hypothese der Todestriebe, die eine Wirkung entfalten, aber zugleich als stumm charakterisiert werden. Wie lässt sich diese Aporie – fehlende Vorstellung im Unbewussten, aber ein Todestrieb als »Wirkprinzip«, der das Leben in den Tod, ins Leblose treibt – verstehen?22 Christian Kläui bringt dazu eine einleuchtende Erklärung: »So gesehen gleicht der Vorgang demjenigen der Urverdrängung« (Kläui 2017, 25). Urverdrängung bedeutet ja nach Freud, dass das Urverdrängte zwar als Vorstellung prinzipiell nicht zur Verfügung steht, aber durch eine Gegenbesetzung vertreten wird. Kläui folgert: Das Urverdrängte, der Tod, ist psychisch stumm – wie der Todestrieb, übt aber wie dieser einen Sog aus. Der Tod ist eine Fixierungsstelle im Psychischen, von der der Sog des Todestriebes ausgeht. Die Energie, die für diese Gegenbesetzung aufgewendet werden muss, um das Andere des Todes fernzuhalten, nennt Freud Libido. Kläui greift dabei auf Lacans Konzept des Realen zurück: »Oder ist das Urverdrängte … vielmehr ein Rest, der gar nicht repräsentierbar ist, wie jener Teil unseres Empfindens und Erlebens, den wir nie in Worte fassen können? … So verstanden könnte ›Tod‹ sehr wohl urverdrängt sein… In dieser Betrachtung, das ist ihr Fazit, ist der psychische Apparat als solcher gleichsam eine Gegenbesetzung an Stelle des immer schon ausgestoßenen, immer
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Auch Udo Hock ist diese Widersprüchlichkeit in Freuds Auffassung aufgefallen: »Entweder er ist stumm, arbeitet unauffällig und hat keine Repräsentanz. Oder er ist verkörpert in Hass und im Krieg, in Destruktion und Neid, im Sadismus und Masochismus, in Gewalt und Unterdrückung, sprich in all dem ›Lärm des Lebens‹, den Freud an anderer Stelle den Äußerungen des Eros vorbehält. Beides zugleich geht nicht« (Hock 2013, 671).
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schon verdrängten Realen« (ebd., 27). – Im Unbewussten steht also, so die entscheidende Pointe dieser Deutung der freudschen Konzeption, an der Stelle des abwesenden Todes die Überzeugung der eigenen Unsterblichkeit. – Dies ist eine rein sprachliche Begründung, weil im Unbewussten, wie Freud es denkt, die Verneinung fehlt und deshalb die Gegensätze zusammenfallen. Nimmt man den Tod aber nicht als Vorstellung, sondern als Reales, dann ist er zwar aus der Repräsentation ausgeschlossen, aber dennoch wirksam. Es gibt also doch keine Alleinherrschaft der Lebenstriebe. Nicht alles an den Triebäußerungen ist Libido, es gibt einen Rest, einen Rückstand, einen Sog: Es gibt den Todestrieb, der der Herrschaft des Eros entgegensteht. Der Todestrieb hat also keine Repräsentanz. Er hat keine eigene Stimme. Verfehlt er damit eine Definition als Trieb? Elfriede Löchel hat hier eine eindeutige Position: »Nein – so lautet meine These; er ist vielmehr mit jeglicher Repräsentanz aufs engste verknüpft. So wie der Schrei mit der Stille, die Schrift mit dem weißen Blatt und den von ihr ausgestanzten Zwischenräumen. Nach meinem Verständnis hat der Todestrieb etwas mit den Voraussetzungen und Folgen psychischer Repräsentanz zu tun: Man könnte sagen, er ist der Preis, den wir dafür zahlen, daß es psychische Repräsentanz gibt« (Löchel 1996, 709).
Eine neue Strukturtheorie und die Weiterführung der neuen Trieblehre Das Ich und das Es (1923) Überall in Europa und Nordamerika entwickelte sich die analytische Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg zu einer mächtigen Strömung. Durch diese Popularität wuchs auch die Zahl trivialisierender Aneignungen. Freud zog sich von öffentlichen Auftritten zunehmend zurück – so blieb es Sache seiner Schüler, die Lehre in die Welt zu tragen. – Budapest wuchs neben Wien und Berlin zu einem weiteren analytischen Zentrum in Mitteleuropa: Neben Ferenczi waren es Alice und Michael Balint, Geza Roheim, Imre Herrmann und Joseph Eisler, die dort wirkten. In Wien wuchs die Anzahl analytischer Praxen im Laufe der 1920-er Jahre auf über 100. In London hatte Ernest Jones die British Psychoanalytic Society gegründet, deren wichtigste Mitarbeiter neben Jones Joan Riviere, James und Alice Strachey, Edward und James Glover sowie Ella Sharpe waren. Melanie Klein kam ebenfalls 1926 nach London. – Psychoanalytische Sektionen wurden auch in Italien, Spanien, Russland, in Holland und Polen gegründet. Auch in Palästina und Japan begann die Psychoanalyse sich zu etablieren. – In Europa gab es allerdings zwei Ausnahmen: die Schweiz und Frankreich. In der Schweiz war es der Einfluss Jungs, in Frankreich die Dominanz Pierre Janets, die eine Etablierung der freudschen Lehre blockierten. – Für Freud ging es in diesen frühen 1920-er Jahren vor allem darum, seine »umstürzenden« Thesen des Jenseits, die eine starke Polarisierung in seiner Anhängerschaft bewirkt hatten, weiter zu entwickeln und zu begründen.23
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Rudolf Brun hat 1953 in einem Artikel einen Überblick über die Reaktionen der freudschen community auf das Jenseits gegeben. Er fand zwischen 1920 und 1930 16 Arbeiten, die auf diesen Text
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schon verdrängten Realen« (ebd., 27). – Im Unbewussten steht also, so die entscheidende Pointe dieser Deutung der freudschen Konzeption, an der Stelle des abwesenden Todes die Überzeugung der eigenen Unsterblichkeit. – Dies ist eine rein sprachliche Begründung, weil im Unbewussten, wie Freud es denkt, die Verneinung fehlt und deshalb die Gegensätze zusammenfallen. Nimmt man den Tod aber nicht als Vorstellung, sondern als Reales, dann ist er zwar aus der Repräsentation ausgeschlossen, aber dennoch wirksam. Es gibt also doch keine Alleinherrschaft der Lebenstriebe. Nicht alles an den Triebäußerungen ist Libido, es gibt einen Rest, einen Rückstand, einen Sog: Es gibt den Todestrieb, der der Herrschaft des Eros entgegensteht. Der Todestrieb hat also keine Repräsentanz. Er hat keine eigene Stimme. Verfehlt er damit eine Definition als Trieb? Elfriede Löchel hat hier eine eindeutige Position: »Nein – so lautet meine These; er ist vielmehr mit jeglicher Repräsentanz aufs engste verknüpft. So wie der Schrei mit der Stille, die Schrift mit dem weißen Blatt und den von ihr ausgestanzten Zwischenräumen. Nach meinem Verständnis hat der Todestrieb etwas mit den Voraussetzungen und Folgen psychischer Repräsentanz zu tun: Man könnte sagen, er ist der Preis, den wir dafür zahlen, daß es psychische Repräsentanz gibt« (Löchel 1996, 709).
Eine neue Strukturtheorie und die Weiterführung der neuen Trieblehre Das Ich und das Es (1923) Überall in Europa und Nordamerika entwickelte sich die analytische Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg zu einer mächtigen Strömung. Durch diese Popularität wuchs auch die Zahl trivialisierender Aneignungen. Freud zog sich von öffentlichen Auftritten zunehmend zurück – so blieb es Sache seiner Schüler, die Lehre in die Welt zu tragen. – Budapest wuchs neben Wien und Berlin zu einem weiteren analytischen Zentrum in Mitteleuropa: Neben Ferenczi waren es Alice und Michael Balint, Geza Roheim, Imre Herrmann und Joseph Eisler, die dort wirkten. In Wien wuchs die Anzahl analytischer Praxen im Laufe der 1920-er Jahre auf über 100. In London hatte Ernest Jones die British Psychoanalytic Society gegründet, deren wichtigste Mitarbeiter neben Jones Joan Riviere, James und Alice Strachey, Edward und James Glover sowie Ella Sharpe waren. Melanie Klein kam ebenfalls 1926 nach London. – Psychoanalytische Sektionen wurden auch in Italien, Spanien, Russland, in Holland und Polen gegründet. Auch in Palästina und Japan begann die Psychoanalyse sich zu etablieren. – In Europa gab es allerdings zwei Ausnahmen: die Schweiz und Frankreich. In der Schweiz war es der Einfluss Jungs, in Frankreich die Dominanz Pierre Janets, die eine Etablierung der freudschen Lehre blockierten. – Für Freud ging es in diesen frühen 1920-er Jahren vor allem darum, seine »umstürzenden« Thesen des Jenseits, die eine starke Polarisierung in seiner Anhängerschaft bewirkt hatten, weiter zu entwickeln und zu begründen.23
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Rudolf Brun hat 1953 in einem Artikel einen Überblick über die Reaktionen der freudschen community auf das Jenseits gegeben. Er fand zwischen 1920 und 1930 16 Arbeiten, die auf diesen Text
Jenseits des Lustprinzips – ein Gründertext und seine Folgen
Freud eröffnet diesen Text mit der Erklärung, dass er »Gedankengänge« aus dem Jenseits fortführen wolle, dass er aber diesmal keine neuerlichen Ausflüge in die Biologie unternehmen wolle und damit »der Psychoanalyse näher« bleibe (Freud 1923b, 237). Der Text gliedert sich in fünf Abschnitte und verrät mit seinem Titel nur einen Teil seiner Neuigkeiten, deren wichtigste nach dem Urteil vieler Rezipienten die Einführung des Über-Ich darstellt. Der erste Abschnitt, Bewusstsein und Unbewusstes, beginnt mit längst Bekanntem. Die Unterscheidung dieser beiden psychischen Sphären sei die »Grundvoraussetzung« der Psychoanalyse, »das erste Schibboleth« (ebd., 239). Diese zwei Termini sind zunächst deskriptiv gemeint, aber schon bald vor allem dynamisch, ökonomisch. Kräfte wie Verdrängung und Widerstand entscheiden darüber, welche Vorstellungen ins Bewusstsein gelangen können und welche nicht. Dann kommt Freud auf das Ich zu sprechen. Auch hier lesen wir Vertrautes: Diese »zusammenhängende Organisation seelischer Vorgänge« ist für die Abfuhr von Erregungen nach außen zuständig, aber auch für die »Kontrolle über all ihre Partialvorgänge« (ebd., 243); sie ist verantwortlich für die Traumzensur – und ganz wichtig: für die Verdrängung. – Jetzt kommt ein neuer Akzent: Auch innerhalb des Ich gibt es Unbewusstes, und – dass es folglich innerhalb des Ich zwischen seinen bewussten und unbewussten, also verdrängten, Anteilen Konflikte gibt. Freud ergänzt also jetzt seine dynamische Beschreibung durch eine strukturelle, deren wichtigste Erkenntnis ist: »Wir erkennen, daß das Ubw nicht mit dem Verdrängten zusammenfällt; es bleibt richtig, daß alles Verdrängte ubw ist, aber nicht alles Ubw ist auch verdrängt. Auch ein Teil des Ichs, ein Gott weiß wie wichtiger Teil des Ichs, kann ubw sein, ist sicherlich ubw« (ebd., 244). Das ist das Novum: Es soll ein »drittes, nicht verdrängtes Ubw« geben!24 Im zweiten Abschnitt mit dem Titel Das Ich und das Es kommt Freud auf »Empfindungen« in den »tiefsten Schichten des seelischen Apparates« zu sprechen; diese seien (und hier taucht eine der magischen Formeln aus dem Jenseits wieder auf) »ursprünglicher, elementarer« (ebd., 249) als die von außen kommenden Sinnesempfindungen. Diese inneren »Empfindungen« äußern sich als starke Lust bzw. Unlust. – Und jetzt kommt der erste neue Begriff: »Ich schlage vor… indem wir das vom System W ausgehende Wesen, das zunächst vbw ist, das Ich heißen, das andere Psychische aber, in welches es sich fortsetzt und das sich wie ubw verhält, nach Groddecks Gebrauch das Es« (ebd., 251).
Zur Herkunft des Es: ein kurzer Exkurs Georg Groddeck, ein Kurarzt in Baden, der sich intensiv für Psychosomatik interessiert und schon einige Jahre zuvor auf Freuds Schriften gestoßen und als großer Ver-
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reagierten: Die Mehrheit dieser Autoren distanzierte sich von Freuds Thesen. Das spricht für die große Ambivalenz, die dieser Text auslöste (vgl. Brun 1953). Freud spricht in dieser seiner zweiten Topik, die heute zumeist als Strukturtheorie bezeichnet wird, zwar nicht explizit von Strukturen, sondern von den Systemen bzw. neu: von den Instanzen (neben dem Ich das Es und das Über-Ich. »Der Intention nach gehen aber alle metapsychologischen Überlegungen Freuds von der Annahme einer (psychischen) Dynamik aus, die aus der Interdependenz von Trieb- und Strukturvorgängen entsteht und mit diesen beiden Axiomen hinreichend beschrieben werden kann« (Schmidt-Hellerau 2003, 337).
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ehrer in einen teilweise lebhaften Briefverkehr mit Freud getreten ist, hat im selben Jahr 1923 Das Buch vom Es veröffentlicht, worauf sich Freud hier bezieht. In Freuds Fußnote an dieser Stelle (in Das Ich und das Es) erklärt er, Groddeck habe diesen Ausdruck von Nietzsche übernommen. Damit wird die Orginalität von Groddeck auf Nietzsche verschoben. Die Einsicht in Groddecks Buch zeigt aber, dass dort jeder Hinweis auf Nietzsche fehlt. Groddeck selbst schreibt: »Ich bin der Ansicht, daß der Mensch vom Unbekannten gelebt wird. In ihm ist ein Es, irgendein Wunderbares, das alles, was er tut und was mit ihm geschieht, regelt. Der Satz ›ich lebe‹ ist nur bedingt richtig, er drückt ein kleines Teilphänomen von der Grundwahrheit aus: Der Mensch wird vom Es gelebt…. Und nun noch eins. Wir kennen von diesem Es nur das, was innerhalb unseres Bewußtseins liegt. Weitaus das meiste ist unbetretbares Gebiet« (Groddeck 1923, 18). Und später nochmals: »[...]ich solle kurz und bündig sagen, was ich mir unter dem Wort ›Es‹ vorstelle. Ich kann es nicht besser ausdrücken, als ich es schon früher getan habe: Das Es lebt den Menschen, es ist die Kraft, die ihn handeln, denken, wachsen, gesund und krank werden läßt, kurz die ihn lebt« (ebd. 287). Nach der Recherche von Bernd Nitzschke (1983) findet sich der Ausdruck »Es« im Werk von Friedrich Nietzsche nicht. Der Mann aber, dem das Prioritätsrecht bezüglich dieses Begriffs zuzusprechen ist, ist Eduard von Hartmann. Seine Philosophie des Unbewußten von 1869 war ein Bestseller, allseits bekannt und viel diskutiert, sodass es äußerst unwahrscheinlich erscheint, dass Freud ihn und sein Buch nicht gekannt haben soll. Bei Hartmann finden sich Sätze wie: »Daß nicht wir denken, sondern daß es in uns denkt, ist jedem klar, der aufmerksam auf das zu sein gewohnt ist, was in uns vorgeht… Dieses Es liegt aber ... im Unbewußten« (Hartmann 1876, 34). »Der einzige Autor, der das Es als Begriff selbständig und ohne den Zusatz ›es denkt/Es denkt‹ gebraucht, bleibt also Eduard von Hartmann« (Nitzschke 1983, 800, Fn. 10). Nitzschke spricht in seinem Artikel von einem »wissenschaftlichen Skandal« (ebd., 769). – Die Tatsache der Einführung dieses neuen Terminus bei Freud bleibt aber eine wichtige und grundlegende: Der neue Begriff des Es signalisiert einen Paradigmenwechsel innerhalb der Theoriebildung der Psychoanalyse, wird doch jetzt der bislang dominierende topographische Standpunkt durch einen strukturellen erweitert und ersetzt. »Die Instanzenlehre des psychischen Apparats (Es, Ich, Überich) war geboren« (ebd., 770). Wir fahren mit der Lektüre von Freuds Text fort. Freud erstellt im Folgenden eine Skizze, um sein neues Strukturmodell optisch zu veranschaulichen. In seinen Erläuterungen fällt vor allem die Aussage »Das Ich ist vor allem ein körperliches« (Freud 1923b, 253) auf. Dieses Ich hat ja, das kennen wir aus früheren Überlegungen Freuds zum Thema, das System W-Bw als quasi Schaltstelle nach außen. Es sitzt jetzt aber diesem Es auf, das seinerseits die Vermittlungsstelle zum eigenen Körper darstellt. Dann aber wird eine weitere Neuigkeit angekündigt, indem Freud feststellt, dass »es Personen gibt, bei denen die Selbstkritik und das Gewissen … unbewußt sind und als unbewußt die wichtigsten Wirkungen äußern« (ebd., 254). Diese neue Entdeckung hat ihren Kern in dem, was hier als »unbewußtes Schuldgefühl« bezeichnet wird. – Nach dieser Ankündigung sind wir nicht überrascht, dass der folgende Abschnitt III Das Ich und das Über-Ich (Ichideal) heißt. Freud sieht sich veranlasst, »eine Stufe«, eine »Differenzierung innerhalb des Ichs« anzunehmen, die er mit diesem Doppelnamen versieht.
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(Das in Klammer gesetzte Ichideal kennen wir ja seit Zur Einführung des Narzißmus, dort auch als Idealich bezeichnet.) Zur Erklärung für diese Neueinführung greift Freud auf die Melancholie zurück. In Trauer und Melancholie vertrat er die Auffassung, der Melancholiker richte das verlorene Objekt in seinem Ich wieder auf. Warum es nicht zur normalen Trauer komme, hatte Freud sich damit erklärt, dass es, ausgelöst durch den Objektverlust, zu einer Regression auf eine frühe narzisstische Stufe komme. Im neuen Strukturmodell klingt das jetzt so: »Wenn das Ich die Züge des Objekts annimmt, drängt es sich sozusagen selbst dem Es als Liebesobjekt auf« (ebd., 258). Was hat diese Regression aber mit dem Ichideal/Überich zu tun? »Dies führt uns zur Entstehung des Ichideals zurück, denn hinter ihm verbirgt sich die erste und bedeutsamste Identifizierung des Individuums, die mit dem Vater der persönlichen Vorzeit« (ebd., 259).25 Es folgt eine ausführliche Darstellung der Objektbesetzungen und Objektwechsel während der ödipalen Phase. Es wird zwischen dem »einfachen, positiven« und dem »vollständigeren« Ödipuskomplex differenziert; zweiterer umfasst den positiven und den negativen. – Soweit Bekanntes. Aber wozu dient diese Ausführung jetzt im Kontext der Neueinführung der Instanz des Überich? Freuds neue Erkenntnis wird kursiv gesetzt: »So kann man als allgemeinstes Ergebnis der vom Ödipuskomplex beherrschten Sexualphase einen Niederschlag im Ich annehmen, welcher in der Herstellung dieser beiden irgendwie miteinander vereinbarten Identifizierungen besteht. Diese Ichveränderung behält ihre Sonderstellung, sie tritt dem anderen Inhalt des Ichs als Ichideal oder Über-Ich entgegen« (ebd., 262). Wichtig ist jedenfalls auch die Ergänzung: Das Überich enthält nicht nur diese frühen und ödipalen Identifizierungen, sondern auch »energische Reaktionsbildungen gegen dieselben… So (wie der Vater) sollst du sein, sie umfaßt auch das Verbot: So (wie der Vater) darfst du nicht sein« (ebd.). Diese neue Erkenntnis ist Freud wichtig und er wiederholt sie nochmals: »Das Ichideal ist also der Erbe des Ödipuskomplexes und somit Ausdruck der mächtigsten Regungen und wichtigsten Libidoschicksale des Es. Durch seine Aufrichtung hat sich das Ich des Ödipuskomplexes bemächtigt und gleichzeitig sich selbst dem Es unterworfen. Während das Ich wesentlich Repräsentant der Außenwelt, der Realität, ist, tritt ihm das Über-Ich als Anwalt der Innenwelt, des Es, gegenüber« (ebd., 264). Aber Freud versteht das Überich auch als Erbe archaischer phylogenetischer Erfahrungen. Er greift dabei auf Überlegungen aus Totem und Tabu zurück: »Somit beherbergt das erbliche Es in sich die Reste ungezählt vieler Ich-Existenzen, und wenn das Ich sein Über-Ich aus dem Es schöpft, bringt es vielleicht nur ältere Ich-Gestaltungen wieder zum Vorschein, schafft ihnen eine Auferstehung« (ebd., 267). Erst im Abschnitt IV kommt Freud auf die Hauptthematik von Jenseits des Lustprinzips zurück: Es geht um Die beiden Triebarten. Und wir sind gespannt, zu welchen Veränderungen bzw. Klärungen es jetzt kommt. Zur ersten Triebart rechnet Freud den »eigentlichen ungehemmten Sexualtrieb« und auch den »Selbsterhaltungstrieb«. Als Repräsentanten der zweiten Triebart benennt Freud wie schon in Jenseits den Sadismus. Soweit also nichts Neues. Auch die Ziele der beiden Triebe bleiben dieselben: Der Todestrieb will »das organische Leben in den leblosen Zustand zurückführen«, der Eros hingegen »das 25
In der zugehörigen Fußnote korrigiert Freud den Ausdruck des »Vaters« zu »den Eltern«.
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Leben durch immer weitergreifende Zusammenfassung der in Partikel zersprengten lebenden Substanz zu komplizieren, natürlich es dabei zu erhalten« (ebd., 269). Dann kommt aber doch ein neuer Terminus: »[...] der Todestrieb würde sich nun – wahrscheinlich doch nur teilweise – als Destruktionstrieb gegen die Außenwelt und andere Lebewesen äußern« (ebd.). Freud erörtert dann unterschiedliche Formen von Triebmischung und -entmischung und stellt auch das Phänomen der »regulären Ambivalenz« in diesen Kontext: »[...] für den Gegensatz der beidenTriebarten dürfen wir die Polarität von Liebe und Haß einsetzen« (ebd., 271). Ferner beschäftigt Freud die Frage, woher die Energien der beiden Triebe eigentlich stammen. »Plausibel« scheint Freud die Annahme, »daß diese sowohl im Ich und im Es tätige, verschiebbare und indifferente Energie dem narzißtischen Libidovorrat entstammt, also desexualisierter Eros ist« (ebd., 273). Was heißt das? Offenbar, dass Freud nur für einen der beiden Triebe, den Eros, in Form der Libido eine Triebquelle anzugeben weiß. Und diese stünde »im Dienst des Lustprinzips«. Die Frage der Triebquelle der Todestriebe bleibt also offen. Dann kommt Freud auf eine andere offene Frage bezüglich der Todestriebe zurück, wenn er feststellt, »daß die Todestriebe im wesentlichen stumm sind und der Lärm des Lebens meist vom Eros ausgeht« (ebd., 275). Eine Ausnahme wären die neu eingeführten Destruktionstriebe, die aber »durch Vermittlung des Eros« zustandekommen und insofern auch keine befriedigende Antwort darstellen. Der Abschnitt V ist den Abhängigkeiten des Ichs gewidmet. Hier kommt Freud zu einem klinischen Phänomen, das ihm schon in Jenseits als wesentlicher Beleg für seine These des Wiederholungszwangs diente: die negative therapeutische Reaktion. Dieses »stärkste Hindernis der Wiederherstellung« fußt seiner jetzigen Auffassung nach auf einem »moralischen Faktor«, einem unbewussten »Schuldgefühl« mit der Besonderheit, dass dieses »für den Kranken stumm« bleibt: »[...]es sagt ihm nicht, daß er schuldig ist, er fühlt sich nicht schuldig, sondern krank« (ebd., 279). In der Fußnote hebt Freud die Ähnlichkeit dieses hartnäckigen »Schuldgefühls« mit dem »Vorgang bei Melancholie« hervor. Die Gemeinsamkeit dieser beiden klinischen Phänomene erklärt sich Freud jetzt als spezifischen Konflikt zwischen Ich und Überich. Sowohl bei der negativen therapeutischen Reaktion als auch bei der Melancholie und auch bei der Zwangsneurose komme es dazu, dass das Überich unter einen speziellen Einfluss des Es gerate und das Ich entsprechend in Bedrängnis bringe. Freud fragt weiter, wie es kommt, dass das Über-Ich sich als Schuldgefühl und Kritik äußere und dabei »eine so außerordentliche Härte und Strenge gegen das Ich entfaltet« (ebd., 282). Seine Antwort ist vor allem bezüglich der Melancholie eine neue: »Was nun im Über-ich herrscht, ist wie eine Reinkultur des Todestriebes« (ebd., 283). – Also hat sich jetzt doch ein klinischer Beleg für eine direkte Äußerung des Todestriebes gefunden?! Auch die »Gewissensvorwürfe« der Zwangskranken, die Umwandlung der Liebes- in Aggressionsimpulse zeige, dass »der Destruktionstrieb frei geworden« sei. – Aber die Frage bleibt: »Wie kommt es nun, daß bei der Melancholie das Über-Ich zu einer Art Sammelstätte der Todestriebe werden kann« (ebd., 284)? Freud greift zu einer »neuen Annahme«, die ja schon in Jenseits vorbereitet war, jetzt aber für ein Verständnis der Grausamkeit des Über-Ichs genutzt wird, der Triebentmischung: »Die erotische Komponente hat nach der Sublimierung nicht mehr die Kraft, die ganze hinzugesetzte
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Destruktion zu binden, und diese wird als Aggressions- und Destruktionsneigung frei. Aus dieser Entmischung würde das Ideal überhaupt den harten, grausamen Zug des gebieterischen Sollens beziehen« (ebd., 284f). Zum Abschluss kommt Freud auf sein neues Verständnis des Ichs zurück. Er bezeichnet es als »armes Ding«, das Gefahren von drei Seiten her ausgesetzt ist, von der Außenwelt, dem Es und dem strengen Über-Ich. Dem entsprächen drei Formen von Angst. Der zentrale Satz, der eine Vorwegnahme seiner 1926 in Hemmung, Symptom und Angst dargelegten zweiten Angsttheorie ist, lautet: »Das Ich ist ja die eigentliche Angststätte« (ebd., 287). Neben der Gewissensangst beschäftigt Freud hier die Todesangst: Wäre sie vielleicht ein Repräsentant der Todestriebe? Seine Antwort ist eindeutig: Nein. Denn der Tod »ist ein abstrakter Begriff von negativem Inhalt, für den eine unbewußte Entsprechung nicht zu finden ist« (ebd., 288).26 So ordnet Freud die Todesangst als Reaktion auf einen heftigen Verlust oder Entzug von narzisstischer Libido im Ich, speziell sei aber die Todesangst beim Melancholiker: »Die Todesangst der Melancholie läßt aber nur die eine Erklärung zu, daß das Ich sich aufgibt, weil es sich vom Über-Ich gehaßt und verfolgt anstatt geliebt fühlt« (ebd.). Der Schlussgedanke gehört dem Es und der Frage, welche Kräfte dort eigentlich herrschen: »[...]es hat keinen einheitlichen Willen zustande gebracht. Eros und Todestrieb kämpfen in ihm… Wir können es so darstellen, als ob das Es unter der Herrschaft der stummen, aber mächtigen Todestriebe stünde … aber wir besorgen, doch dabei die Rolle des Eros zu unterschätzen« (ebd.). – Trotz aller Klärungsbemühungen bleiben also grundlegende Fragen offen; vor allem jene nach der energetischen Basis bzw. der Repräsentanz der Todestriebe; und damit ja auch die nach dem Status des neuen Triebdualismus. Neu ist jedenfalls die Strukturlehre und die Idee, die Destruktion als mögliche Manifestation der Todestriebe zu denken. Und neu ist auch Freuds Sicht auf das Ich. Hatte er bislang diesen Ausdruck relativ unspezifisch verwendet, so wird daraus jetzt eine Regulationsinstanz der psychischen Kräfte: Das Ich vermittelt zwischen dem Es als dem »Reservoir der Triebe«, dem Überich, das er bisher als kritische Instanz bzw. als Ichideal beschrieben hatte, und den Ansprüchen der Außenwelt. Hinfort wird Freud zahlreiche klinische Phänomene und neurotische Strukturen als dynamische Konflikte zwischen diesen Instanzen begreifen.
Das ökonomische Problem des Masochismus (1924) Das Phänomen des Masochismus erscheint Freud, so bemerkt er einleitend, nach wie vor »rätselhaft« und »unverständlich«. Im Hintergrund aber beschäftigt ihn auch die grundsätzliche Frage nach dem »Verhältnis des Lustprinzips zu den beiden Triebarten« (Freud 1924b, 371). Freud betont, dass er in Jenseits das Lust-Unlustprinzip »unbedenklich« mit dem Nirwanaprinzip identifiziert habe. Demnach würden aber beide Prinzipien »ganz im Dienste der Todestriebe stehen… Allein diese Auffassung kann nicht richtig sein« (ebd., 372). Was spricht also dagegen? Zunächst die Tatsache, dass es unzweifelhaft auch »lustvolle Spannung« und »unlustige Entspannungen« gibt. Die 26
Einmal mehr landet Freud beim Ergebnis, beim Todestrieb handle es sich um einen »Trieb ohne Repräsentanz«. (Dazu mehr im Abschnitt »Kommentare«).
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»Sexualerregung« sei das eindringlichste Beispiel für eine solche »lustvolle Reizvergrößerung« (ebd.). Es geht Freud nun um Aufklärung darüber, wie es komme, dass sich das Nirwanaprinzip zum Lustprinzip wandle. Jedenfalls sei es unumgänglich, die beiden zu unterscheiden: »Wir erhalten so eine kleine, aber interessante Beziehungsreihe: das Nirwanaprinzip drückt die Tendenz des Todestriebes aus, das Lustprinzip vertritt den Anspruch der Libido und dessen Modifikation, das Realitätsprinzip, den Einfluß der Außenwelt« (ebd., 373). Diese Auffassung stellt eine wesentliche Veränderung gegenüber Freuds Position in Jenseits dar. Dort hatte er das Lustprinzip als »Funktion« des Nirwanaprinzips bezeichnet, damit die Auffassung jedenfalls nahegelegt, dass auch das Lustprinzip letztlich im »Dienste« der Todestriebe stünde. Jetzt steht das Lustprinzip aber wieder klar auf der Seite des »Lebens«. Dann kehrt Freud zum Ausgangsthema des Masochismus zurück. Er unterscheidet drei Formen, einen »erogenen, femininen und moralischen Masochismus« (ebd.). Ersteren charakterisiert er durch die Schmerzlust, den dritten durch das in ihm wirkende »meist unbewußte Schuldgefühl«; der feminine imponiert durch seine manifesten Inhalte wie »geknebelt, gebunden, in schmerzhafter Weise geschlagen… zum unbedingten Gehorsam gezwungen, beschmutzt, erniedrigt zu werden« (ebd., 373f). Dann wendet sich der Text dem Verhältnis von Masochismus und Sadismus zu und versucht zugleich eine Verknüpfung mit der neuen Trieblehre: »Die Libido trifft in (vielzelligen) Lebewesen auf den dort herrschenden Todes- oder Destruktionstrieb… Sie hat die Aufgabe, diesen destruierenden Trieb unschädlich zu machen, und entledigt sich ihrer, indem sie ihn zum großen Teil … nach außen ableitet … Er heiße dann Destruktionstrieb, Bemächtigungstrieb, Wille zur Macht. Ein Anteil dieses Triebes wird direkt in den Dienst der Sexualfunktion gestellt … dies ist der eigentliche Sadismus. Ein anderer Anteil … verbleibt im Organismus und wird dort mit Hilfe der erwähnten sexuellen Miterregung libidinös gebunden; in ihm haben wir den ursprünglichen, erogenen Masochismus zu erkennen« (ebd., 376). Zudem könne auch der nach außen gewendete Sadismus oder Destruktionstrieb wieder introjiziert werden, was den sekundären Masochismus ergäbe. Dann kommt Freud auf die dritte Form, den moralischen Masochismus, zu sprechen. Zentral sei bei ihm eine spezielle Form von »Leiden« als Ausdruck des »unbewußten Schuldgefühls«. In der Analyse zeige sich dies als »negative therapeutische Reaktion«, als heftigste Form eines »Krankheitsgewinns«. Strukturell versteht Freud diese Phänomene als Ausdruck der Spannungen zwischen dem Ich und dem Über-Ich: »Gewissen und Moral sind durch die Überwindung, Desexualisierung des Ödipuskomplexes entstanden; durch den moralischen Masochismus wird die Moral wieder sexualisiert, der Ödipuskomplex neu belebt« (ebd., 382). – Abschließend konstatiert Freud: »So wird der moralische Masochismus zum klassischen Zeugen für die Existenz der Triebvermischung. Seine Gefährlichkeit rührt daher, daß er vom Todestrieb abstammt« (ebd., 383). Was ist also das Neue in diesem kurzen Text? Einmal wollen wir die klare Differenzierung von Lust- und Nirwanaprinzip betonen. Zum anderen führt Freud hier Gedanken zur Wirkungsweise des Destruktionstriebes weiter. In den nächsten Jahren bis zu Freuds letztem theoretischen Text, dem Abriß der Psychoanalyse, wird diese Verknüpfung von Aggression, Destruktion und Todestrieb immer enger. Und schließlich wird
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hier mit dem primären Sadismus und Masochismus ein weiterer Versuch unternommen, eine klinische Bestätigung für das Wirken des Todestriebes zu argumentieren.
Hemmung, Symptom und Angst (1926) 1924 begann für Freud die unerwartete Trennung von seinem Lieblingsschüler Otto Rank. Inhaltlich entzündete sich die Differenz an Ranks These vom »Trauma der Geburt«. Im Dezember 1924 erschien dessen Buch mit diesem Titel. Darin behauptete dieser, das ganze weitere Leben bestünde aus chronischen Bemühungen, dieses Geburtstrauma zu überwinden. Darin lag die Konsequenz, dass alle seelischen Konflikte letztlich die Mutter beträfen, womit die zentrale Stellung des Ödipuskomplexes in Frage gestellt war. Ranks therapeutisches Ziel war eine Reproduktion der Urszene der Geburt, was er gemeinsam mit Ferenczi durch eine »aktive Technik« herzustellen gedachte. Es kam rasch zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Karl Abraham und Ernest Jones auf der einen Seite, Rank und Ferenczi auf der anderen Seite. Freud versuchte mit einem Rundbrief vom 15.2.1924 die Wogen zu glätten. Er bewertete darin Ranks Buch als »höchst bedeutsam«, er sei aber noch zu keinem »abschließenden Urteil« gekommen (Freud&Abraham 1965, 322). Abraham antwortete am 21.2. und sah »Anzeichen einer unheilvollen Entwicklung, bei der es sich um Lebensfragen der Psychoanalyse handelt« (ebd., 324) und vermutete Parallelen zur Trennung von Jung. Letztlich waren Freuds Vermittlungsversuche vergeblich und es kam zur endgültigen Trennung von Rank. – Aus dieser Konfliktsituation heraus ergab sich für Freud die Notwendigkeit, den Status der Angst im Psychischen erneut zu überdenken. Dies führte ihn zu seiner »zweiten« Angsttheorie, die 1926 ihren Weg in die Öffentlichkeit fand.27 Freud versucht in dieser längeren Abhandlung die neuen Einsichten aus seiner Trieblehre bzw. seiner überarbeiteten Strukturlehre auf die im Titel dieser Studie genannten klinischen Phänomene anzuwenden und damit deren Verständnis zu vertiefen. Hemmungen werden als »Funktionseinschränkung des Ichs« (Freud 1926a, 116) verstanden, Symptome als »Anzeichen und Ersatz einer unterbliebenen Triebbefriedigung, ein Erfolg des Verdrängungsvorganges« (ebd., 118). Soweit nichts Neues. Anders ist dies bei Freuds Überlegungen zur Angst. Er findet es notwendig, seine frühere und über Jahrzehnte aufrecht erhaltene Auffassung »zurückzuweisen«, die ihren Kern in der Annahme fand, »die Besetzungsvorgänge der verdrängten Regung werden automatisch in Angst verwandelt« (ebd., 120). Freuds erste Annäherung zum Thema der Angst geht über die klinischen Beispiele des »kleinen Hans« und der Ängste des »Wolfsmanns«. Bezüglich der Phobie des »kleinen Hans« fragt sich Freud: »Was ist nun daran das Symptom: die Angstentwicklung, 27
Die meisten Freud-Rezeptienten sehen als Grundlage von Freuds erster Angsttheorie dessen Text über die Aktualneurosen von 1895. Die dort formulierte Auffassung, wonach Angst auf »Störungen der Sexualspannung« zurückgeführt werden müsse, äußerte sich in Freuds paradigmatischem Satz, den er über viele Jahre beibehielt: »Die neurotische Angst ist umgesetzte sexuelle Libido« (Freud 1897, 484). Noch 1920 in der Neuauflage der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie hatte er die These, wonach »die neurotische Angst aus der Libido entsteht, ein Umwandlungsprodukt derselben darstellt«, für »eines der bedeutsamsten Resultate der psychoanalytischen Forschung« gehalten (Freud 1905b, 126, Fn.1).
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die Wahl des Angstobjekts oder der Verzicht auf die freie Beweglichkeit, oder mehreres davon zugleich« (ebd., 129)? Verdrängt habe der »kleine Hans« eine Triebregung, nämlich seine feindseligen Impulse gegen seinen Vater, aber auch die inzestuösen Wünsche bezüglich seiner Mutter. Aber warum kommt es genau zu dieser Verschiebung seiner Kastrationsangst auf das Pferd, auf seine ängstliche Erwartung, das Pferd werde ihn beißen? Jedenfalls gilt: »Was diese zur Neurose macht, ist einzig und allein ein anderer Zug, die Ersetzung des Vaters durch das Pferd. Diese Verschiebung stellt also das her, was auf den Namen eines Symptoms Anspruch hat« (ebd., 131). – Auch beim »Wolfsmann« steht der Wolf als »Angsttier«, als Ersatz für den gefürchteten Vater. Was abgewehrt werde, sei aber komplexer: Es gehe sowohl beim »kleinen Hans« als auch beim »Wolfsmann« um »fast alle Komponenten des Ödipus-Komplexes, die feindliche wie die zärtliche Regung gegen den Vater und die zärtliche für die Mutter« (ebd., 135). Und in beiden Fällen »ist der Motor der Verdrängung die Kastrationsangst« (ebd., 137). Neu und irritierend scheint, dass Freud diese Kastrationsangst als »Realangst, Angst vor einer wirklich drohenden oder als real beurteilten Gefahr« versteht (ebd.). Nochmals stellt Freud klar, dass seine langjährige Annahme, dass es die Libido der verdrängten Triebregung sei, die sich in Angst verwandelt, jedenfalls für die Phobien nicht gilt: »Immer ist dabei die Angsteinstellung des Ichs das Primäre und der Antrieb zur Verdrängung. Niemals geht die Angst aus der verdrängten Libido hervor« (ebd., 138). Die ursprüngliche Beobachtung ist für Freud nach wie vor richtig, aber als metapsychologische Erklärung muss er sie revidieren. Eine Erklärung für die neue Auffassung von der »Realangst« liefert Freud an dieser Stelle nicht. – Er wendet sich der seit Das Ich und das Es neuen Erkenntnis zu, wonach das Ich die eigentliche Angststätte ist – und der Vermutung, dass etwas Wesentliches (und bislang wenig Beachtetes) an der Angst ihre Funktion als Affektsignal ist. »Die Angst der Tierphobien ist also eine Affektreaktion des Ichs auf die Gefahr; die Gefahr, die hier signalisiert wird, ist die der Kastration. Kein anderer Unterschied von der Realangst, die das Ich normalerweise in Gefahrensituationen äußert, als daß der Inhalt der Angst unbewußt bleibt und nur in einer Entstellung bewußt wird« (ebd., 157). Dann kommt Freud auf die Todesangst zu sprechen. Wieder (wie in Das Ich und das Es) versteht er diese »als Analogon der Kastrationsangst« (ebd., 160). Aber interessant ist seine Idee, von wem diese Bedrohung ausgeht: »[...]daß die Situation, auf welche das Ich reagiert, das Verlassensein vom schützenden Über-Ich – den Schicksalsmächten – ist« (ebd.). Dahinter stünde möglicherweise eine »Reaktion auf einen Verlust, eine Trennung«; vielleicht die Trennung von der Mutter (bei der Geburt)? Wenngleich die Geburt »objektiv« eine solche Trennung sei, könne das Neugeborene subjektiv diese Trennung noch nicht erleben. Aber der Gedanke bleibt aufrecht, die Angst »als Symbol einer Trennung« (ebd., 161) weiter zu untersuchen. – Freud sucht im Weiteren nach dem »Wesen der Angst« (ebd., 162). Drei Charakeristika werden festgehalten: »1) einen spezifischen Unlustcharakter, 2) Abfuhreaktionen, 3) Wahrnehmungen derselben« (ebd., 163). Und entsprechend Freuds Überzeugung, wonach basale psychische Reaktionen auf frühe oder gar phylogenetisch vorgezeichnete Erfahrungen zurückgehen müssen, hält er die Angst für »die Reproduktion eines Erlebnisses, das die Bedingungen einer solchen Reizsteigerung und der Abfuhr auf bestimmten Bahnen enthielt… Als solches vorbildliches Erlebnis bietet sich uns für den Menschen die Geburt, und darum sind wir geneigt,
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im Angstzustand eine Reproduktion des Geburtstraumas zu sehen« (ebd.). Gibt Freud damit Otto Rank mit dessen These vom »Trauma der Geburt« (vgl. Rank 1924) Recht? Erst einmal fragt er nach der Funktion der Angst. Sie scheint ihm in ihrer Entstehung eine Reaktion auf den Zustand einer Gefahr zu sein. Was aber ist psychisch gesehen eine Gefahr? Der Geburtsakt kann als solche Gefahr nicht gelten: »Die Gefahr der Geburt hat noch keinen psychischen Inhalt«; soll heißen, das Neugeborene kann noch nichts wahrnehmen außer einer »großartigen Störung in der Ökonomie seiner narzißtischen Libido« (ebd.,165). Jetzt folgt die explizite Kritik an Rank. Freud hält zwei Argumente dagegen: Erstens setze dieser voraus, dass das Neugeborene die Geburtserfahrung bereits wahrnehmen könne; und zweitens führe dieser jede spätere Angst auf diese angebliche Primärangst zurück, »womit der Willkür Tür und Tor geöffnet wird« (ebd., 166). Freud bringt als typische Auslöser für kindliche Ängste das Alleinsein, die Dunkelheit sowie das Auftauchen fremder Personen – diese Ängste seien nicht auf die Geburtserfahrung, sondern auf das »Vermissen der geliebten (ersehnten) Person« (ebd., 167) zurückzuführen. Die gesuchte »Urangst« ist für Freud daher jene, die »bei der Trennung von der Mutter entstand« (ebd.). Dann wendet sich Freud der Frage der »Bedürfnisspannung« zu: Der eigentliche »Kern« einer Gefahr stelle eben eine solche (reale oder erwartete) Reizzunahme dar. Die Angst ist folglich ein »Produkt der psychischen Hilflosigkeit des Säuglings … Das psychische Mutterobjekt ersetzt dem Kinde die biologische Fötalsituation« (ebd., 169). Auch die spätere Kastrationsangst könne als Variante der ursprünglichen Trennungsangst begriffen werden. Später kommen spezifische Über-Ich-Ängste wie Gewissensangst und soziale Ängste hinzu. »Als letzte Wandlung dieser Angst vor dem Über-Ich ist mir die Todes-(Lebens)Angst, die Angst vor der Projektion des Über-Ichs in den Schicksalsmächten erschienen« (ebd.). Ausgehend von der neuen These der Angst als Reaktion auf eine Gefahr unterscheidet Freud Signalangst und automatische Angst: »Der Angst wurden so im späteren Leben zweierlei Ursprungsweisen zugewiesen, die eine ungewollt, automatisch, jedesmal ökonomisch gerechtfertigt, wenn sich eine Gefahrensituation analog jener der Geburt hergestellt hatte, die andere, vom Ich produzierte, wenn eine solche Situation nur drohte, um zu ihrer Vermeidung aufzufordern« (ebd., 195). Der Prototyp der automatischen Angst ist also die Geburtsangst, während die Signalangst diese Reaktion als ein warnendes Zeichen benutzt, das vom Ich ausgeht. – Realangst nennt Freud eine Reaktion auf eine Gefahr, die wir kennen, neurotische Angst eine Reaktion auf eine Gefahr, die wir nicht kennen – und das ist allemal die »Triebgefahr« (ebd., 198). Der neurotisch Ängstliche erwartet also eine Gefahr und antizipiert mit seiner Angst einen Zustand der Hilflosigkeit, sein altes Trauma: »Die Angst ist also einerseits Erwartung des Traumas, andererseits eine gemilderte Wiederholung desselben« (ebd., 199). Zusammenfassend wollen wir festhalten, dass der bislang zentral erscheinende Zusammenhang von Libido und Angst in den Hintergrund tritt. Im Fokus steht jetzt die Frage der so genannten Realangst. Sie stellt eine wichtige psychische Funktion dar, indem sie der Selbsterhaltung dient. Die Angst wird als Affektsymbol verstanden, eine »gemilderte Wiederholung des Traumas«. Sie äußert sich als etwas Drängendes, als anhaltende Angstbereitschaft. Die aktuelle neurotische Angst wird als Relikt, als Wiederkehr einer früheren realen, äußeren Gefahr aufgefasst, sodass Freud in der der Angst
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gewidmeten Vorlesung von 1933 schreiben kann: »Nicht die Verdrängung schafft die Angst, sondern die Angst ist früher da, die Angst macht die Verdrängung! Aber was für Angst kann es sein? Nur die Angst vor einer drohenden äußeren Gefahr, also eine Realangst… Bekennen wir es nur, wir waren nicht darauf gefaßt, daß sich die innere Triebgefahr als eine Bedingung und Vorbereitung einer äußeren, realen Gefahrensituation herausstellen würde« (Freud 1933a, 521).28 Hatte Freud also bisher die äußere Gefahr als abhängig vom inneren Triebgeschehen gedacht, so liegt jetzt das Primat auf der äußeren Gefahr. Dass diese Auffassung von der bisherigen so weit nicht entfernt ist, können wir daran sehen, dass Freud schon in seiner 25. Vorlesung den Gedanken formuliert hatte, dass »innere Gefahren« – und damit ist die Triebgefahr gemeint – nach außen gewendet werden – der Ursprung der Projektion (vgl. Freud 1916/17, 425f). Um was für eine Gefahr, um welche Angst handelt es sich also bei der so bezeichneten »Realangst«: »Freud hat sie als eine notwendig objektlose Angst beschreiben, weil es zu diesem Zeitpunkt noch keine psychischen Objekte geben kann. Es handelt sich dabei also um namenlose, psychisch nicht repräsentierbare und darum unentrinnbare Angst« (Perner 2011, 44). – Neu ist auch, dass nicht mehr die Kastrationsangst als Grundangst gesehen wird, sondern die Angst vor der Trennung vom Objekt bzw. vor dem Objektverlust.
Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933) In der XXI. Vorlesung mit dem Titel Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit erklärt Freud, dass es die Beschäftigung mit der Melancholie war, die ihn zur Annahme eines vom Ich abgetrennten Teils, des Über-Ichs, gebracht hat (vgl. Freud 1933a, 66). Und er wiederholt seine These von 1923, wonach sich die Bildung des Überichs wesentlich dem Niederschlag von Identifizierungen mit den Eltern verdankt: »Man hat die Identifizierung nicht unpassend mit der oralen, kannibalistischen Einverleibung der fremden Person verglichen« (ebd., 69). Und in der Folge spricht Freud tatsächlich von einem »Strukturverhältnis« (ebd., 71). – Als eine weitere wichtige Konsequenz aus der Einführung des Überichs als eigener getrennter Instanz betont Freud, dass es neben den Ich-Widerständen auch Widerstand von Seiten des Überichs gibt. Und ans Ende stellt Freud seine viel diskutierte und kontrovers ausgelegte Aussage: »Wo Es war, soll Ich werden« (ebd., 86).29
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Achim Perner betont den Begriff des »Realen« in dieser Angsttheorie: »Die Angst gehört dann, mit anderen Worten, der Ordnung des Wiederholungszwangs an, und sie hat von daher, in den Worten Lacans, einen Bezug zum Realen. Und weil das Reale prinzipiell unerkennbar ist, ist die ursprüngliche Quelle der Angst für unsere Erfahrung unzugänglich« (Perner 2011, 42). Um hier nur die zwei extremen Pole der Auslegung zu nennen: Einerseits hat die Ichpsychologische Schule, beginnend mit Heinz Hartmann, Freuds Aussage als einen Beleg dafür gelesen, dass er mit seinen späten Schriften eine »Wende« zur Ichpsychologie vollzogen habe. Sie lesen obige Aussage demnach so, dass es in der Analyse um die weitgehende »Trockenlegung der Zuydersee« (Freud, ebd.) gehe; als Ziel einer erfolgreichen Analyse erstreben sie ein »starkes Ich«. Andererseits die an Lacan orientierte Strukturale Psychoanalyse, die als das Ziel der Analyse eine Annäherung des Ich an das Es erachtet: »Ich bin das nur gewesen, um das zu werden, was ich sein kann« (Lacan 1986, 89).
Jenseits des Lustprinzips – ein Gründertext und seine Folgen
In der folgenden Vorlesung Angst und Triebleben positioniert sich Freud wieder klar gegen die Angsttheorie von Rank: Jedes Entwicklungsalter habe spezifische Ängste; am Anfang die Bedrohung der psychischen Hilflosigkeit, dann die Angst vor dem Objektverlust, später die Kastrationsangst und schließlich die Überich-Angst. Und die späteren Ängste könnten nicht auf diese eine Ursache der Geburt zurückgeführt werden (vgl. ebd., 94f). Andererseits sieht Freud im »traumatischen Moment« den entscheidenden Auslöser für die Signalangst: »[...] das Gefürchtete, der Gegenstand der Angst, ist jedesmal das Auftreten eines traumatischen Moments, der nicht nach der Norm des Lustprinzips erledigt werden kann« (ebd., 100). Und hier wirke dann doch wieder »das Geburtsvorbild« (ebd., 101). So resümiert er: »Daß es die Libido selbst ist, die dabei in Angst verwandelt wird, werden wir nicht mehr behaupten. Aber gegen eine zweifache Herkunft der Angst, einmal als direkte Folge des traumatischen Moments, das andere Mal als Signal, daß die Wiederholung eines solchen droht, sehe ich keinen Einwand« (ebd.). Dann kommt Freud auf seine Trieblehre zu sprechen: »Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit« (ebd.). Den neuen Triebdualismus nennt Freud jetzt einen von »Sexualtrieben« (= Eros) und den »Aggressionstrieben, deren Ziel die Destruktion ist« (ebd., 110). Als klinischen Beleg für »die Annahme eines besonderen Aggressions- und Destruktionstriebs« (ebd., 111) beruft sich Freud einmal mehr auf die Phänomene von Sadismus und Masochismus: »Wir meinen also, daß wir im Sadismus und im Masochismus zwei ausgezeichnete Beispiele von der Vermischung beider Triebarten, des Eros mit der Aggression, vor uns haben« (ebd.). – Es fällt jedenfalls auf, dass Freud hier den Ausdruck »Todestriebe« zugunsten eines »Aggressions- und Destruktionstriebs« fallen lässt. Diese anscheinende Identsetzung von Todes- und Destruktionstrieb stellt Cordelia Schmidt-Hellerau berechtigt in Frage: »Nach den vorangehenden Überlegungen können wir sagen: der Todestrieb und der Destruktionstrieb sind nicht vollständig identisch. Der Destruktionstrieb geht – wie der Sadismus-Masochismus, wie der Haß und die Aggression – bereits aus einer ›Triebmischung‹ hervor« (Schmidt-Hellerau 2003, 305). – Abschließend bekennt Freud, dass er die Frage des konservativen Charakters aller Triebe »unbeantwortet lassen müsse« (115). Aber klinische Belege gäbe es – wieder wird die negative therapeutische Reaktion genannt.
Die endliche und die unendliche Analyse (1937) und der Abriß der Psychoanalyse (1940) In Die endliche und die unendliche Analyse kommt Freud auf seine Trieblehre und deren Stellenwert für seine Metapsychologie zurück: »Hier handelt es sich um das letzte, was die psychologische Erforschung überhaupt zu erkennen vermag, das Verhalten der beiden Urtriebe, deren Verteilung, Vermengung und Entmischung« (Freud 1937b, 88). Und dies macht er an der negativen therapeutischen Reaktion fest: »Es gibt keinen stärkeren Eindruck von den Widerständen während der analytischen Arbeit als den von einer Kraft, die sich mit allen Mitteln gegen die Genesung wehrt und durchaus an Krankheit und Leiden festhalten will« (ebd.). Seine Folgerung zeigt, dass er dieses für die
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analytische Arbeit so problematische Phänomen einmal mehr als Beleg für das Wirken des Todestriebes nimmt: »Diese Phänomene sind unverkennbare Hinweise auf das Vorhandensein einer Macht im Seelenleben, die wir nach ihren Zielen Aggressions- oder Destruktionstrieb heißen und von dem ursprünglichen Todestrieb der belebten Materie ableiten« (ebd.).30 Wenn also diese negative therapeutische Reaktion sich als unveränderbar erweist, so deshalb, weil sie ihr eigentliches Motiv im absoluten Charakter des Todestriebs hat. Am 22.7.1938, nach Beendigung des Moses-Projekts, begann Freud seine letzte Zusammenfassung der eigenen Lehre, den Abriß der Psychoanalyse. In wenigen Wochen schrieb er den wesentlichen Teil dieser Arbeit, die allerdings eine Skizze und ein abgebrochenes Buch blieb. Zahlreiche Themen werden in prägnanter Weise erörtert, so die Traumlehre, die Neurosentheorie, die Beziehung von Triebverdrängung und Kulturleistung und schließlich eine sehr dichte Darstellung seiner behandlungstechnischen Grundsätze.31 Wieder finden wir in diesem Text eine Formulierung, die auf eine Gleichsetzung von Destruktions- und Todestrieb verweist, wenn Freud von den »zwei Grundtrieben« schreibt, dem »Eros« und dem »Destruktionstrieb: »Das Ziel des ersten ist, immer grössere Einheiten herzustellen und so zu erhalten, also Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören. Beim Destruktionstrieb können wir daran denken, dass als sein letztes Ziel erscheint, das Lebende in den anorganischen Zustand zurückzuführen. Wir heissen ihn darum auch Todestrieb« (Freud 1940, 71). Der Todestrieb entspreche der »erwähnten Formel, dass ein Trieb die Rückkehr zu einem früheren Zustand anstrebt. Für den Eros (oder Lebenstrieb) können wir eine solche Anwendung nicht durchführen. Es würde voraussetzen, dass die lebende Substanz einmal eine Einheit war, die dann zerrissen wurde und die nun die Wiedervereinigung anstrebt« (ebd.). In der dazugehörigen Fußnote verweist Freud wohl auf den Platonischen Mythos, wenngleich gegenüber der diesbezüglichen Bezugnahme in Jenseits deutlich abgekühlt: »Dichter haben Ähnliches phantasiert, aus der Geschichte der lebenden Substanz ist uns nicht Entsprechendes bekannt« (ebd.). Und auch die Bezugnahme auf das Es entspricht dem, was wir aus den vorausgehenden Texten bereits kennen: »Den Kern unseres Wesens bildet also das dunkle Es, das nicht direkt mit der Aussenwelt verkehrt und auch unserer Kenntnis nur durch die Vermittlung einer anderen Instanz zugänglich wird. In diesem Es wirken die organischen Triebe, selbst aus Mischungen von zwei Urkräften (Eros und Destruktion)… Das einzige Streben dieser Triebe ist nach Befriedigung.« (ebd., 128). – Und dann nimmt 30
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Herbert Rosenfeld, ein prominenter Befürworter von Freuds Todestriebhypothese (freilich in einer Lesart, die mehr an Melanie Klein denn an Freud orientiert ist) schreibt: »Ich stellte fest, daß es selbst bei schwersten klinischen Zuständen der Triebentmischung, die Freuds Beschreibung des Todestriebes in seiner ursprünglichen Form ähneln, der destruktive Aspekt des Todestriebes ist, der die libidinösen Teile des Selbst, die sich vom Lebenstrieb ableiten, lähmt oder psychisch tötet. Ich glaube daher, daß es nicht möglich ist, einen unvermischten Todestrieb in der klinischen Situation zu beobachten« (Rosenfeld 1971, 491f). Wir haben diesen Abschnitt über die »Technik« in unserem entsprechenden Kapitel dargestellt. Hier soll es primär um Freuds metapsychologische Thesen gehen.
Jenseits des Lustprinzips – ein Gründertext und seine Folgen
Freud die Differenzierung zwischen Lust- und Nirwanaprinzip, die er 1924 vorgenommen hat, wieder zurück: »Das Es gehorcht dem unerbittlichen Lustprinzip…. Die Erwägung, dass das Lustprinzip eine Herabsetzung, im Grunde vielleicht ein Erlöschen der Bedürfnisspannungen (Nirwana) verlangt, führt zu noch nicht gewürdigten Beziehungen des Lustprinzips zu den beiden Urkräften, Eros und Todestrieb« (ebd., 129). Damit ist Freud, was diese beiden Prinzipien anbelangt, wieder bei seiner Position von 1920, ja vielleicht sollten wir sagen, bei seiner Position aus dem Entwurf angekommen. Das dort so bezeichnete Trägheitsprinzip, die als ursprünglich angenommene Tendenz des neuronalen Systems auf »Absenkung des Spannungsniveaus gen Null«, in Jenseits dann mit Fechners Konstanzprinzip gleichgesetzt, erscheint hier in Freuds letztem Vermächtnis als »unerbittliches Lustprinzip«, als bestimmende Kraft im Unbewussten.
Resonanzen, Kommentare und Weiterentwicklungen Resonanzen und Kommentare: Freuds späte metapsychologische Texte im Spiegel der Rezeption Elfriede Löchel stellt bezüglich der Reaktionen auf Freuds Todestriebhypothese ein »Alles-oder-Nichts-Prinzip« fest (Löchel 1996, 705). Auf der einen Seite stehen Analytiker wie Rudolf Brun, Ernest Jones oder Max Schur. Sie lehnen Freuds Hypothese ab, primär mit dem Argument, dass sie biologisch nicht begründbar sei bzw. dass sie der persönlichen Verfassung Freuds in diesen Jahren entsprungen sei (vgl. Brun 1953).32 Auf der anderen Seite stehen Analytiker wie Jacques Lacan, der schreibt: »Wer nämlich den Todestrieb aus seiner Lehre wegläßt, verkennt diese total« (Lacan 1975, 177). – Dann gibt es aber auch noch die Gruppe jener, die den Begriff Todestrieb zwar heuristisch akzeptieren, ihn aber mit einem bestimmten Inhalt füllen, der Aggression. Sie können sich durchaus auf Freud berufen, der ja in seinen späteren Schriften vom Aggressionstrieb als »Abkömmling und Hauptvertreter« des Todestriebes sprach (vgl. etwa Freud 1930, 481).33 Dieser Ansatz ist, so unsere Einschätzung, zwar klinisch durchaus fruchtbar, trägt aber wenig zum Verständnis dessen bei, was Freud mit den Todestrieben intendierte. Die wesentlichen Argumente gegen Freud lassen sich so zusammenfassen: 1. Der Todestrieb stehe für eine Biologisierung der Aggression; so werde Gewalt und Grausamkeit verharmlost, indem sie einem angeborenen Trieb zugeordnet werden. 32
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So lehnt Brun etwa Freuds klinische Argumente bezüglich eines primären Masochismus rundweg ab. Für ihn ist der Masochismus Ausdruck desverdrängten und nach innen gewendeten Hasses auf das Objekt und letztlich Ausdruck der Selbsterhaltungstriebe: »Demgemäß gibt es überhaupt keinen primären Aggressionstrieb. Die Aggression gegen Objekte stand ursprünglich immer im Dienste der Selbsterhaltung« (Brun 1953, 103). Diese Haltung fasst Schmidt-Hellerau treffend zusammen: »Die Ablehnung der Triebtheorie von 1920 durch die Analytikerkollegen galt ausschließlich dem Todestrieb, nicht aber einem ›unsittlichen‹ oder ›bösen‹ Aggressionstrieb, der sogleich als längst fällige Ergänzung für die psychoanalytische Theorie akzeptiert wurde« (Schmidt-Hellerau 2003, 310).
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Freud die Differenzierung zwischen Lust- und Nirwanaprinzip, die er 1924 vorgenommen hat, wieder zurück: »Das Es gehorcht dem unerbittlichen Lustprinzip…. Die Erwägung, dass das Lustprinzip eine Herabsetzung, im Grunde vielleicht ein Erlöschen der Bedürfnisspannungen (Nirwana) verlangt, führt zu noch nicht gewürdigten Beziehungen des Lustprinzips zu den beiden Urkräften, Eros und Todestrieb« (ebd., 129). Damit ist Freud, was diese beiden Prinzipien anbelangt, wieder bei seiner Position von 1920, ja vielleicht sollten wir sagen, bei seiner Position aus dem Entwurf angekommen. Das dort so bezeichnete Trägheitsprinzip, die als ursprünglich angenommene Tendenz des neuronalen Systems auf »Absenkung des Spannungsniveaus gen Null«, in Jenseits dann mit Fechners Konstanzprinzip gleichgesetzt, erscheint hier in Freuds letztem Vermächtnis als »unerbittliches Lustprinzip«, als bestimmende Kraft im Unbewussten.
Resonanzen, Kommentare und Weiterentwicklungen Resonanzen und Kommentare: Freuds späte metapsychologische Texte im Spiegel der Rezeption Elfriede Löchel stellt bezüglich der Reaktionen auf Freuds Todestriebhypothese ein »Alles-oder-Nichts-Prinzip« fest (Löchel 1996, 705). Auf der einen Seite stehen Analytiker wie Rudolf Brun, Ernest Jones oder Max Schur. Sie lehnen Freuds Hypothese ab, primär mit dem Argument, dass sie biologisch nicht begründbar sei bzw. dass sie der persönlichen Verfassung Freuds in diesen Jahren entsprungen sei (vgl. Brun 1953).32 Auf der anderen Seite stehen Analytiker wie Jacques Lacan, der schreibt: »Wer nämlich den Todestrieb aus seiner Lehre wegläßt, verkennt diese total« (Lacan 1975, 177). – Dann gibt es aber auch noch die Gruppe jener, die den Begriff Todestrieb zwar heuristisch akzeptieren, ihn aber mit einem bestimmten Inhalt füllen, der Aggression. Sie können sich durchaus auf Freud berufen, der ja in seinen späteren Schriften vom Aggressionstrieb als »Abkömmling und Hauptvertreter« des Todestriebes sprach (vgl. etwa Freud 1930, 481).33 Dieser Ansatz ist, so unsere Einschätzung, zwar klinisch durchaus fruchtbar, trägt aber wenig zum Verständnis dessen bei, was Freud mit den Todestrieben intendierte. Die wesentlichen Argumente gegen Freud lassen sich so zusammenfassen: 1. Der Todestrieb stehe für eine Biologisierung der Aggression; so werde Gewalt und Grausamkeit verharmlost, indem sie einem angeborenen Trieb zugeordnet werden. 32
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So lehnt Brun etwa Freuds klinische Argumente bezüglich eines primären Masochismus rundweg ab. Für ihn ist der Masochismus Ausdruck desverdrängten und nach innen gewendeten Hasses auf das Objekt und letztlich Ausdruck der Selbsterhaltungstriebe: »Demgemäß gibt es überhaupt keinen primären Aggressionstrieb. Die Aggression gegen Objekte stand ursprünglich immer im Dienste der Selbsterhaltung« (Brun 1953, 103). Diese Haltung fasst Schmidt-Hellerau treffend zusammen: »Die Ablehnung der Triebtheorie von 1920 durch die Analytikerkollegen galt ausschließlich dem Todestrieb, nicht aber einem ›unsittlichen‹ oder ›bösen‹ Aggressionstrieb, der sogleich als längst fällige Ergänzung für die psychoanalytische Theorie akzeptiert wurde« (Schmidt-Hellerau 2003, 310).
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Sigmund Freud lesen 2. Dem Todestrieb fehle die Evidenz. Wenn dem Eros die Lust zugeordnet wird, so fehle für den Todestrieb die Entsprechung, denn Lust an der Gewalt ist immer noch Lust. 3. Freud habe mit seiner These ein gnostisches Prinzip formuliert und sei damit in der Naturphilosophie gelandet. Er verfalle damit einem Ursprungsdenken, das der Religion und der Metaphysik eigen ist. Das 20. Jahrhundert habe sich davon verabschiedet.
Als einen renommierten Vertreter der zweiten Position wollen wir Slavoj Zizek anführen. Er hat am 6. Mai 2016 anlässlich von Freuds Geburtstag im Wiener Burgtheater einen Vortrag mit dem Titel »Der göttliche Todestrieb« gehalten. In seinem Erklärungsversuch für diesen kommt er auf die letztlich unfassbare Erfahrung zu sprechen, die Primo Levi und andere Überlebende des Holocaust gemacht haben (vgl. Levi 1976). Sie versuchten, den inneren Zustand zu beschreiben, der sie, die Geretteten, nicht losließ und mit einer tiefen inneren Zerrissenheit erfüllte. Obwohl Levi klar und bewusst war, dass sein und das Überleben der anderen ein kontingentes Ereignis war, dass sie also in keinerlei Weise dafür Verantwortung oder gar Schuld hatten, dass die einzigen Schuldigen doch die Nazi-Täter waren, wurden sie dennoch von einem unbewältigbaren Schuldgefühl geplagt, als hätten sie auf Kosten der anderen überlebt und wären doch irgendwie für deren Tod mitverantwortlich. Tragischerweise hat dieses dämonisch wirkende Schuldgefühl viele der Überlebenden in den Selbstmord getrieben. – Zizek kommentiert diese schreckliche Erfahrung der »Selektion« und ihrer Folgen mit Bezug auf Freuds Todestrieb so: »An diesem Schuldgefühl zeigt sich das Über-Ich in seiner reinsten Form: als obszöne Instanz, die uns so zu manipulieren vermag, dass wir in eine Spirale der Selbstzerstörung hineingeraten« (Zizek 2016, 44). Abschließend wollen wir mit dem Blick auf die aktuelle Psychoanalyse wichtige behandlungstechnische Konsequenzen festhalten, die sich aus den unterschiedlichen metapsychologischen Vorannahmen ergeben. Thomas Pollak differenziert zwischen jenen psychoanalytischen Schulen, die vom Todestriebkonzept und wie die Kleinianer und Neokleinianer von einer grundsätzlichen und primären Aggressivität des Säuglings ausgehen; andererseits Konzepten, die Aggression nicht triebhaft, sondern als »reaktive psychische Bereitschaft zur Aggression annehmen, die mit Selbstbehauptung bzw. mit Reaktionen auf Entbehrung, Kränkung oder Konflikt zusammenhängt« (Pollak 2006, 718). Daraus folge eine unterschiedliche Akzentsetzung in der klinischen Gewichtung von inneren bzw. äußeren Faktoren und dies habe wiederum Folgen für die Behandlungstechnik: »Liegt im einen Fall der Akzent darauf, daß der Analytiker ähnlich dem ursprünglichen Objekt zum bedeutungsvollen Anderen werden kann, so im anderen Fall darauf, daß der Analytiker wesentlich der unabhängige Beobachter und Deuter eines naturhaft dominierten Übertragungsprozesses bleibt, selbst dann, wenn es sich um seine Gegenübertragung handelt« (ebd., 719). – Wir können noch eine andere behandlungstechnische Konsequenz feststellen: Je nachdem, ob der Schwerpunkt der analytischen Theorie auf dem »Trauma« oder aber auf dem »Trieb« liegt, folgt eine Fokussierung der Deutungspraxis auf die »reale Beziehung« oder auf die »Übertragung«.
Jenseits des Lustprinzips – ein Gründertext und seine Folgen
Weiterentwicklungen: Klein – Lacan – Laplanche – Green Melanie Klein und ihre Schule haben eine Fülle von klinischen Phänomenen beschrieben, für die sie den freilich anders als Freud verstandenen Todestrieb verantwortlich machen. – Melanie Klein nimmt im Unterschied zu Freud an, dass es im Unbewussten eine wenn auch diffuse Vorstellung des eigenen Todes gibt und somit eine »Angst vor der Vernichtung des Lebens« (Klein 1948,169). Der Todestrieb ist also »die Urquelle der Angst« (ebd.,168). Der gegen den eigenen Organismus gerichtete Destruktionstrieb wird dann nach außen projiziert und ein das Subjekt verfolgendes Objekt geschaffen. »Ich glaube, daß die primäre Gefahrensituation, die der Aktivität des Todestriebes im Inneren entspringt, von ihm als überwältigender Angriff, als Verfolgung empfunden wird« (ebd., 171). – Eine andere, besonders klare Äußerungsform des Todestriebes ist für Klein der primitive, frühe Neid auf die Mutter. Zudem setzt sich der Todestrieb in Kleins Lesart auch mit dem Narzissmus in Verbindung. Eine narzisstische Objektbeziehung bringt Phantasien mit sich, das Objekt aufzufressen oder zu töten, jedenfalls entlang der Linie eines »destruktiven Narzißmus«, wie ihn etwa Herbert Rosenfeld skizziert hat (vgl. Rosenfeld 1971). Klinisch zeige sich der Todestrieb unter anderem als Attacke gegen den Fortschritt in der Analyse: Bei »pathologischer Organisation« (vgl. Steiner 1998) erweise sich der Todestrieb als »Anti-Lebenstrieb« und bewirke einen Stillstand und eine Entstrukturierung im analytischen Prozess. Rosenfeld beschreibt den von ihm so bezeichneten destruktiven Narzissmus so: »Wenn die destruktiven Aspekte vorherrschen, ist der Neid heftiger und erscheint als Wunsch, den Analytiker als das Objekt zu zerstören, das die wirkliche Quelle des Lebens und des Guten ist. Gleichzeitig erscheinen heftige selbstzerstörerische Impulse…. und es kommt zu einer negativen therapeutischen Reaktion. Meiner Erfahrung nach ist die narzißtische Organisation nicht primär gegen Schuld und Angst gerichtet, sie erscheint vielmehr zu bezwecken, die Idealisierung und überlegene Gewalt des destruktiven Narzißmus aufrecht zu erhalten« (Rosenfeld 1988, 385). Jacques Lacan hat eine ganz andere und in erster Linie sprachtheoretische Begründung für Freuds Todestrieb entwickelt. Der entscheidende Bruch im menschlichen Dasein ist für ihn der von Sprache und nicht-sprachlicher Vorstellung (dem Ding). Ausgehend von Hegels Diktum, wonach das Wort »der Mord an der Sache« sei, versteht Lacan das Fort-Da-Spiel des Kindes als sein Eintreten in die symbolische Ordnung der Sprache. »Das Symbol stellt sich so zunächst als Mord der Sache dar, und dieser Tod konstituiert im Subjekt die Verweigerung seine Begehrens« (Lacan 1986, 166). Damit macht sich das Kind »zum Herrn des Dings genau insofern, als es es zerstört« (Lacan 2015, 223). »Der primäre Masochismus ist um diese erste Negativierung, diesen Mord am Ding zu situieren« (ebd., 222). Wer, so Lacan, vom Leben spricht, muss auch vom Tod sprechen und umgekehrt. Zudem ist der Mensch das Lebewesen, das vom eigenen Tod weiß. Als Teilhaber an der symbolischen Welt der Sprache ist der Mensch der darin wirkenden Kraft des Todestriebes ständig unterworfen. Dieser äußert sich in der unaufhebbaren Differenz zwischen dem Begehren und dessen vollständiger Befriedigung. Er erscheint auch als Wille zur Zerstörung, um an der Stelle des Zerstörten Neues zu ermöglichen. Insofern ist er nicht nur zerstörend, sondern auch schaffend. Seine sepa-
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rierende Kraft setzt der Tendenz des Eros zur totalen Vereinigung und Verschmelzung Grenzen. Mit dem Eintritt des Menschen in die Welt der Sprache stellt sich eine Differenz her, die endgültig ist, die aber auch eine Spannung schafft, die ein Begehren hervorruft, das letztlich darauf zielt, diese Differenz auszulöschen. »Tödlich ebenso wie erotisierend zugleich, ist es die Einbettung der psychischen Erfahrung in die psychische Repräsentation, die einen Abstand erzeugt, einen Verlust an Unmittelbarkeit bedingt, den es auszuhalten gilt« (Küchenhoff 2008,486). Die ursprüngliche »Erfahrung« des Realen geht durch den Eintritt in die Sprache endgültig verloren, das Ziel, dorthin zurückzukehren, setzt zugleich das Begehren und das, was Lacan später (als Wirkmacht des Todestriebes) das Genießen nennt, in Gang. Genießen zielt letztlich auf die Beseitigung von Differenz, Begehren hält Differenz offen. Der Begriff des Genießens steht also für die Überschreitung des Lustprinzips, für eine Lust, die schmerzhaft ist und dem Ziel des Lustprinzips, die Spannung zu senken, nicht mehr folgt, sondern »mehr« will: »Der Todestrieb ist der Name für diesen steten Wunsch danach, das Lustprinzip hin zum Ding und zu einem gewissen Überfluß des Genießens zu durchbrechen. Das Genießen ist also ›der Weg zum Tode‹« (Evans 2002, 115). Jean Laplanche hat es abgelehnt, den Todestrieb als einen originären Begriff anzuerkennen. Er sieht keinen hinreichenden Grund dafür, neben der Sexualität auch der Destruktivität die Dignität eines Triebes zuzubilligen, wie das im kleinianischen Diskurs der Fall ist. Stattdessen handle es sich beim Todestrieb um »einen aus dem Unbewussten selbst hervorgegangenen Ordnungsruf« (Laplanche 1985, 180), in dem sich das Dämonische und Zerstörerische an der Sexualität neu Gehör verschaffe. »Als Begleiterscheinung taucht der Eros auf, jene göttliche Macht, die sich so stark von der Sexualität unterscheidet, also von dem, was die Psychoanalyse primär entdeckt hatte. Eros ist das, was den Zusammenhalt und die synthetische Tendenz des Lebewesens ebenso wie des Seelenlebens aufrechterhalten, bewahren und sogar verstärken will. Während die Sexualität seit den Anfängen der Psychoanalyse ein Prinzip der ›Entbindung‹ war und erst nach Intervention des Ich ›gebunden‹ werden konnte, tritt mit den Eros die gebundene und bindende Form der Sexualität auf, und zwar im Zusammenhang mit der Entdeckung des Narzißmus…. Auf diesen Triumph des Vitalen und Homöostatischen mußte Freud – gemäß der strukturalen Notwendigkeit seiner Entdeckung – in der Weise reagieren, daß er eine Art Anti-Leben postulierte, nicht nur in der Psychoanalyse, sondern auch … in der Biologie. Als solches Anti-Leben erscheinen nun die Sexualität und das Lustempfinden und, negativ, der Wiederholungszwang« (ebd., 183). Der Todestrieb Freuds verkörpere in der Sichtweise von Laplanche genau jene Aspekte, die früher diese ungezähmte und unzähmbare Sexualität innehatte. Laplanche unterscheidet in der Folge zwischen einem Lebens- und einem Todessexualtrieb als zwei Aspekten einer Libido und hält an Freuds früher Konzeption des Sexuellen fest. Zudem ist für ihn der Trieb definitiv nichts Angeborenes, sondern das Resultat von Verdrängung: »Die Versagung der Übersetzung, das ist das, was klinisch ›Verdrängung‹ heißt« (Laplanche 2004, 905). Das Verdrängte wird somit zur Quelle des Triebes und setzt das Begehren in Gang: »Eine Triebtheorie, die die Sexualität vom Anderen her denkt, verschiebt somit auch die Quelle des Triebes entscheidend von den somatischen Reizen zum Unbewussten« (Müller-Pozzi 2008, 58). Auch der Drang zur
Jenseits des Lustprinzips – ein Gründertext und seine Folgen
Wiederholung wird in der Lesart von Heinz Müller-Pozzi, der seine Auffassung ganz an Laplanche orientiert, zunächst zu einem konstruktiven Akt: »Der unaufhörliche Prozess des Neu-Übersetzens und wieder Verdrängens des noch nicht Übersetzbaren lässt ahnen, welche vitale konstitutive Bedeutung der Wiederholung, die Freud (1914) gar einen Zwang genannt hat, im Aufbau und Leben des Subjekts zukommt« (ebd.). Aber daneben anerkennt Müller-Pozzi doch auch Freuds Wiederholungszwang, die traumatische Wiederholung: »Von der Wiederkehr des Verdrängten ist strikt die nackte Wiederholung des Realen des Traumas im Status des Wahrnehmungszeichens zu unterscheiden, das, aus welchen Gründen auch immer, keine Umschreibung in ein anderes System erfahren und keinen Eingang in den Prozess der Übersetzung/Verdrängung gefunden hat. Das Reale ist das, was sich jeder Symbolisierung entzieht, und – wie es Lacan einmal sagt – immer am selben Ort wiederkehrt« (ebd., 59). Kommen wir abschließend zum Versuch von André Green, Freuds Todestrieb für ein Verständnis aktueller psychischer Dispositionen fruchtbar zu machen, insbesondere für schwerwiegende narzisstische Deformationen. – Für Freud war die Neigung zur Selbstzerstörung ein essentielles Zeichen für die Wirkungsmacht des Todestriebes. Green knüpft hier an, indem er schreibt: »Ich selbst schließe mich vollkommen der Hypothese an, daß die Selbstzerstörungsfunktion in bezug auf den Todestrieb eine analoge Bedeutung hat wie die Sexualfunktion in bezug auf den Eros« (Green 2001, 872). Green sucht nach einer »Repräsentanz des Todestriebs« im Psychischen. Während in seinem Verständnis im Lebenstrieb Bindung und Entbindung gleichzeitig auftreten, enthalte der Todestrieb »ausschließlich die Entbindung« (Green 1993, 873), wodurch die Objektbeziehungen angegriffen werden. Die »Stummheit« des Todestriebes zeige sich klinisch als »Abzug der Besetzung«. Und dies bezeichnet Green als »negativen Narzissmus«, als Angriff auf den »Objektalisierungsprozess« und werde so zum »Todesnarzissmus«, was er mit den »attacks on linking« von Bion gleichsetzt (vgl. Bion 1959). Dementsprechend gibt es auch im Narzissmuskonzept Greens diese Differenzierung: Der libidinöse Narzißmus anerkennt die Differenz zum Objekt, der Narzißmus des Einen dagegen sucht die Differenz zu vereinfachen, indem es nur mehr Freund oder Feind gibt, und der Narzißmus des Nichts hebt alle Differenz auf: »Wir vertreten die Hypothese, daß die Lebenstriebe vorrangig danach streben, eine Objektalisierungsfunktion zu erfüllen« (Green 2001, 873). Dies meint nicht nur die Fähigkeit, eine Beziehung zu einem inneren oder äußeren Objekt zu schaffen und aufrecht zu erhalten, sondern auch, »Strukturen in ein Objekt zu transformieren. Der Todestrieb dagegen strebt nach der möglichst weitgehenden Erfüllung einer Desobjektalisierungsfunktion durch Entbindung« (ebd., 874). Dies betrifft nicht nur die Objektbeziehungen selbst, sondern auch ihre Substitute, also auch das Ich »und sogar die Besetzung, sofern sie selbst dem Objektalisierungsprozeß unterworfen waren… Die eigentliche Manifestation des Todestriebs aber ist der Abzug der Besetzung« (ebd.). Und dies nennt Green negativer Narzissmus: »Das hat mich zur Hypothese eines negativen Narzißmus veranlaßt, dessen Ziel die Nullebene ist, als Ausdruck einer Desobjektalisierungsfunktion, die nicht nur auf die Objekte oder deren Substitute, sondern auf den Objektalisierungsprozeß selbst zielt« (ebd., 875). Green sieht diesen Vorgang der Desobjektalisierung in Krankheitsbildern wie der Melancholie, aber auch bei schweren narzisstischen Störungen und Psychosen. Der Abzug der Besetzung zeigt sich »im Verlöschen der Projektionstätigkeit, was sich
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dann auch in ein Gefühl des psychischen Todes übersetzt (negative Ich-Halluzination), manchmal unmittelbar gefolgt vom drohenden Verlust der äußeren und inneren Realität« (ebd., 876). Die eigentliche Leistung der Objektalisierung ist dagegen eine gelingende Symbolisierung: »Diese Leistung sichert die Verflechtung zwischen den beiden großen Triebgruppen, deren Axiomatik meiner Meinung nach für eine Theorie der Seelentätigkeit unverzichtbar ist« (ebd., 877).
Zusammenfassung 1. Freuds Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg führen ihn zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Tötungswunsch und generell dem Thema des Todes. 2. Sein in diesen Jahren nur teilweise realisiertes Projekt einer Metapsychologie bringt ihn letztlich zur radikalen Neufassung seiner Trieblehre und in der Folge auch seiner differenzierteren Fassung des Aufbaus der psychischen Struktur. 3. Die Beschäftigung mit gelingender und scheiternder Trauer in Trauer und Melancholie kann als nächste Ankündigung von Gedanken gelesen werden, die in Jenseits vertieft und radikalisiert werden. 4. Dies gilt noch mehr für den Aufsatz über Das Unheimliche. Insbesondere die Beschäftigung mit dem Wiederholungszwang führt zu einem neuen Blick auf das Wesen des Triebes. 5. Jenseits des Lustprinzips muss, wenn wir die tiefgreifende Wirkung sowohl auf Freuds weitere Theoriebildung als auch auf die Entwicklung der Psychoanalyse bis heute bedenken, als »Gründertext« ähnlich wie Die Traumdeutung verstanden werden. Die fundamentale Neufassung der Trieblehre macht ein Überdenken und Neujustieren so gut wie aller psychoanalytischen essentials notwendig. 6. Freuds Beschäftigung mit der traumatischen Neurose und mit dem Kinderspiel bringen ihn letztlich zu einem neuen Verständnis für den Wiederholungszwang. 7. Das Phänomen des scheiternden Reizschutzes lenkt Freuds Aufmerksamkeit auf das grundlegende Problem der Bindung. 8. Freuds Ausflüge in die Biologie und die Philosophie bringen ihn letztlich zu einem neuen Verständnis des Wesens der Triebe. 9. Die neue Trieblehre versteht die Triebe als grundsätzlich konservativ: Sie unterliegen selbst dem Zwang zur Wiederholung, wollen »zurück«, sind also von einem Ziel determiniert, das jenseits des Lustprinzips liegt. 10. Freud behauptet weiterhin die Unhintergehbarkeit eines Triebdualismus. Jedenfalls für den Todestrieb gilt, dass er dem Nirwanaprinzip folgt; der Eros steht im Zeichen der Libido und damit der Lust. 11. Schon in Jenseits begibt sich Freud auf die Suche nach klinischen Repräsentanten des Todestriebes: Sadismus, Masochismus, Melancholie, Hass, Destruktion und andere Phänomene werden in der Folge diskutiert; das stärkste Argument bleibt für Freud der Wiederholungszwang. 12. In Das Ich und das Es führt Freud das Modell der drei psychischen Instanzen ein. Vor allem das Verständnis des Über-Ichs als Niederschlag früher und ödipaler Identifi-
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dann auch in ein Gefühl des psychischen Todes übersetzt (negative Ich-Halluzination), manchmal unmittelbar gefolgt vom drohenden Verlust der äußeren und inneren Realität« (ebd., 876). Die eigentliche Leistung der Objektalisierung ist dagegen eine gelingende Symbolisierung: »Diese Leistung sichert die Verflechtung zwischen den beiden großen Triebgruppen, deren Axiomatik meiner Meinung nach für eine Theorie der Seelentätigkeit unverzichtbar ist« (ebd., 877).
Zusammenfassung 1. Freuds Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg führen ihn zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Tötungswunsch und generell dem Thema des Todes. 2. Sein in diesen Jahren nur teilweise realisiertes Projekt einer Metapsychologie bringt ihn letztlich zur radikalen Neufassung seiner Trieblehre und in der Folge auch seiner differenzierteren Fassung des Aufbaus der psychischen Struktur. 3. Die Beschäftigung mit gelingender und scheiternder Trauer in Trauer und Melancholie kann als nächste Ankündigung von Gedanken gelesen werden, die in Jenseits vertieft und radikalisiert werden. 4. Dies gilt noch mehr für den Aufsatz über Das Unheimliche. Insbesondere die Beschäftigung mit dem Wiederholungszwang führt zu einem neuen Blick auf das Wesen des Triebes. 5. Jenseits des Lustprinzips muss, wenn wir die tiefgreifende Wirkung sowohl auf Freuds weitere Theoriebildung als auch auf die Entwicklung der Psychoanalyse bis heute bedenken, als »Gründertext« ähnlich wie Die Traumdeutung verstanden werden. Die fundamentale Neufassung der Trieblehre macht ein Überdenken und Neujustieren so gut wie aller psychoanalytischen essentials notwendig. 6. Freuds Beschäftigung mit der traumatischen Neurose und mit dem Kinderspiel bringen ihn letztlich zu einem neuen Verständnis für den Wiederholungszwang. 7. Das Phänomen des scheiternden Reizschutzes lenkt Freuds Aufmerksamkeit auf das grundlegende Problem der Bindung. 8. Freuds Ausflüge in die Biologie und die Philosophie bringen ihn letztlich zu einem neuen Verständnis des Wesens der Triebe. 9. Die neue Trieblehre versteht die Triebe als grundsätzlich konservativ: Sie unterliegen selbst dem Zwang zur Wiederholung, wollen »zurück«, sind also von einem Ziel determiniert, das jenseits des Lustprinzips liegt. 10. Freud behauptet weiterhin die Unhintergehbarkeit eines Triebdualismus. Jedenfalls für den Todestrieb gilt, dass er dem Nirwanaprinzip folgt; der Eros steht im Zeichen der Libido und damit der Lust. 11. Schon in Jenseits begibt sich Freud auf die Suche nach klinischen Repräsentanten des Todestriebes: Sadismus, Masochismus, Melancholie, Hass, Destruktion und andere Phänomene werden in der Folge diskutiert; das stärkste Argument bleibt für Freud der Wiederholungszwang. 12. In Das Ich und das Es führt Freud das Modell der drei psychischen Instanzen ein. Vor allem das Verständnis des Über-Ichs als Niederschlag früher und ödipaler Identifi-
Jenseits des Lustprinzips – ein Gründertext und seine Folgen
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zierungen erweist sich als äußerst fruchtbar für das Verständnis zahlreicher klinischer Phänomene und Dynamiken. Ausgelöst durch die Auseinandersetzung mit Otto Rank gelangt Freud zu einer Neufassung seiner Angsttheorie, die grundlegende Gedanken aus dem Jenseits weiterführt, vor allem die Sicht auf Reizdurchbruch und Trauma betreffend. In Freuds letzten theoretischen Schriften werden Aggression und Destruktion immer stärker als Repräsentanten des Todestriebes verstanden. Liest man Freuds Werk historisch, so erweist sich, dass grundlegende Ideen und Konzepte vom frühen Entwurf bis zum letzten Text des Abriß sich erhalten, modifiziert und ausdifferenziert haben. Der Blick auf die Rezeption der Zweiten Topik und Trieblehre in den letzten einhundert Jahren zeigt, dass Freuds dort formulierte Gedanken bis heute eine intensive und kontroverse, konflikthafte, aber wohl auch fruchtbringende Auseinandersetzung bewirkten und bewirken.
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Freuds Projekt einer Kulturtheorie Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen. (Heinrich Heine) Es gibt keine Psyche ohne Gesellschaft und keine Gesellschaft ohne Psyche. (Johann A. Schülein) So möchte ich denn zum Schlusse dieser mit äußerster Verkürzung geführten Untersuchung das Ergebnis aussprechen, daß im Ödipuskomplex die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst zusammentreffen. (Sigmund Freud)
Freuds Schriften zur Kultur – Addendum oder immanenter Teil der Psychoanalyse? Freuds Psychoanalyse stellt den Versuch dar, ein einheitliches Deutungs- und Konstruktionsmodell für das normale und krankhafte Seelenleben zu geben. Teil dieses Anliegen ist Freuds Bemühen, auch die sozialen und kulturellen Phänomene innerhalb des analytischen Interpretationsmodells mit Hilfe seiner spezifischen Begrifflichkeit zu erfassen. Dies führt ihn dazu, mittels der Bezugnahme auf seine Metapsychologie zumindest Erklärungsansätze für ein Verständnis der Dynamik kultureller Phänomene zu entwickeln. Inwieweit diese Versuche Freuds persönlich motivierte Ausflüge in das Gebiet des Sozialen, der Religion und der Kultur darstellen oder aber immanenter und untrennbarer Teil seiner psychoanalytischen Theorie des Subjekts sind, wollen wir eingangs kurz diskutieren. Wir wissen, dass Freud schon in seiner Studienzeit ein explizites Interesse an allgemein-gesellschaftlichen, insbesondere philosophischen Fragestellungen hatte. So schreibt er 1896 im Rückblick auf diese Zeit an seinen damaligen Freund Wilhelm Fließ: »Ich habe als junger Mensch keine andere Sehnsucht gekannt als die nach philosophischer Erkenntnis, und ich bin jetzt im Begriffe, sie zu erfüllen, indem ich
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von der Medizin zur Psychologie hinüberlenke« (Freud 1986, 190). Und in der Tat lässt sich feststellen, dass Freuds Beschäftigung mit kulturellen Fragestellungen auf die Anfänge seiner psychoanalytischen Theoriebildung zurückgeht. Schon seine ersten Falldarstellungen zeigen uns den Neurotiker zugleich als Opfer seiner selbst und seines kulturellen Umfeldes. Dieses Interesse am Zusammenwirken von individuellen und kulturellen Einflüssen auf das Schicksal des Einzelnen und damit an der Durchleuchtung sozialer und kultureller Prozesse und Institutionen veranlasste ihn dazu, auf allen Entwicklungsstufen seiner Theoriebildung auch entsprechende kulturbezogene Deutungsmuster zu konzipieren. 1935 bemerkt Freud diesbezüglich in seiner Nachschrift zur Selbstdarstellung: »Nach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie war mein Interesse zu jenen kulturellen Problemen zurückgekehrt, die dereinst den kaum zum Denken erwachten Jüngling gefesselt hatten« (Freud 1935, 32). Und in dieser kurzen Ergänzungsschrift gibt Freud auch eine grundsätzliche theoretische Rechtfertigung für die ursächliche Verbindung und Zusammengehörigkeit von Individual- und Kulturgeschichte: »Immer klarer erkannte ich, daß die Geschehnisse der Menschheitsgeschichte, die Wechselwirkung zwischen Menschennatur, Kulturentwicklung und jenen Niederschlägen urzeitlicher Erlebnisse, als deren Vertreter sich die Religion vordrängt, nur die Spiegelung der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich sind, welche die Psychoanalyse beim Einzelmenschen studiert, die gleichen Vorgänge auf einer weiteren Bühne wiederholt« (ebd., 32f). Reimut Reiche resümiert aus heutiger Perspektive: »Der Wunsch, die Psychoanalyse auf die Gesellschaft anzuwenden, ist so alt wie die Psychoanalyse. Dieser Wunsch kann im Extrem die Form annehmen, die Gesellschaft mit der Psychoanalyse zu erklären« (Reiche 2004, 9). Reiche spricht also von einem Wunsch – und von einem Extrem. Was ist damit angesprochen? Vielleicht solche Auswüchse einer Gesellschaftstheorie, die – sich auf Freud berufend – versuchen, innere Befindlichkeiten auf die soziale Welt zu projizieren und dann diese äußere Welt aus jenen psychischen Zuständen zu erklären. Wie auch immer – dahinter verbirgt sich ein komplexes theoretisches Problem. So einleuchtend es zunächst scheint, ist der Übergang und die Grenze zwischen »innen« und »außen« theoretisch schwer zu fassen. Denken wir an die Aussage Freuds am Beginn von Massenpsychologie und Ich-Analyse, wo er erklärt, dass es diese Grenze zwischen Individuum und Kollektiv gar nicht gebe: »Der Gegensatz von Individual- und Sozial- oder Massenpsychologie, der uns auf den ersten Blick als sehr bedeutsam erscheinen mag, verliert bei eingehender Betrachtung sehr viel von seiner Schärfe … Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten aber durchaus berechtigten Sinne« (Freud 1921, 73). Man könnte diese Aussage noch derart weiter radikalisieren, dass es für die Psychoanalyse gar kein Individuum gibt, da dieses sinnvoll doch nur als Knoten sozialer Bindungen zu betrachten ist, als ein Netzwerk von Beziehungen zu den stets schon sozialen Anderen. So gesehen wären Freuds vor allem in seinem späteren Leben angestellte Reflexionen über Gesellschaft und Kultur kein Zusatz, keine »Anwendung« der Psychoanalyse auf ein zusätzliches Forschungsfeld, sondern lediglich eine Entfaltung und Ausdifferenzierung dessen, was bereits von Anbeginn da war. So ließen sich
Freuds Projekt einer Kulturtheorie
auch die zwei Titelbegriffe von Freuds Text – Massenpsychologie und Ich-Analyse – als sich gegenseitig bedingend betrachten. Ist doch eine Massenpsychologie auf eine gewisse Strukturiertheit eines Ichs angewiesen und wird erst durch diese ermöglicht, andererseits impliziert eine Ichanalyse immer schon eine vorausgehende soziale Struktur. »Weder das Individuum noch das Ich oder das Subjekt sind ohne eine Theorie sozialer Bindungen vorstellbar« (Dolar 2007, 17). Aber mit diesen Überlegungen ist der Vorbehalt von Reiche noch nicht erledigt. Das entscheidende theoretische Problem besteht nämlich darin, wie diese »Dialektik« von »innen« und »außen« gedacht und konzipiert werden kann. Können wir einen »Massenwahn« mit den gleichen theoretischen Mechanismen erklären wie die Wahnbildung einer individuellen Psychose, eine gesellschaftliche »Unfähigkeit zu trauern« nach den Modi der Melancholie des Subjekts verstehen und deuten? Auch beim Subjekt ist ja die Frage, wie wir uns die Konstituierung dessen »innerer Realität«, die Freud ja als »psychische Realität« von der »äußeren«, »objektiven« und »materiellen« Realität unterschieden hat, denken können. So schreibt Reiche als Vertreter einer diesbezüglich skeptischen Position: »Die psychoanalytische Deutung der Gesellschaft ist in ihrem Kern immer wilde, d.h. willkürliche Deutung« (Reiche 2004, 21). Wenn wir auf die Resonanz von Freuds »kulturtheoretischen« Schriften in den letzten annähernd 100 Jahren blicken, so lassen sich in der psychoanalytischen community – vereinfacht gesprochen – drei Positionen ausnehmen: 1. Die Haltung, Freuds Stellungnahmen und Analysen von Gesellschaft, Religion und Kultur als dessen »Privatmeinung« zu klassifizieren, die ursächlich nichts mit der Psychoanalyse zu tun hat, die eben eine Theorie des unbewussten Subjekts sei. – Diese Position kann sich dabei durchaus auf Aussagen von Freud selbst berufen. So hat er etwa seinem Freund Oskar Pfister auf dessen kritische Anmerkungen zu seinem Text Die Zukunft einer Illusion am 26.11.1927 geantwortet: »Halten wir fest, daß die Ansichten meiner Schrift keinen Bestandteil des analytischen Lehrgebäudes bilden. Es ist meine persönliche Einstellung, die mit der vieler Nicht- und Voranalytiker zusammentrifft und gewiß von vielen braven Analytikern nicht geteilt wird« (Freud&Pfister 1963, 126). 2. Viele wichtige Pioniere der Freud-Generation wie Sandor Ferenczi oder Karl Abraham aber auch der heutigen Generation teilen Freuds Auffassung, wonach klinische und Kulturtheorie eine Einheit bilden und bilden müssen. So schreibt etwas Elisabeth Bott Spilius zustimmend: »Freud hat seinen kulturellen und literarischen Studien offenkundig ebenso große Bedeutung zugemessen wie der klinischen und theoretischen Psychoanalyse; in seiner Vorstellung war die Psychoanalyse aus einem Guss und nicht in zwei Kategorien, nämlich eine Psychoanalyse im ›eigentlichen‹ Sinn und eine ›angewandte‹ Psychoanalyse, unterteilt« (Bott Spilius 2012, 63). 3. Die Resonanz auf Freuds diesbezügliche Schriften war über Jahrzehnte wesentlich schwächer als die auf seine klinischen Beiträge. Das hat sich interessanter Weise seit den 1970-er Jahren signifikant geändert. Mittlerweile gibt es einen nicht abreißenden Strom von Stellungnahmen und konstruktiven Versuchen, Freuds kulturtheoretische Beiträge weiterzuführen, bemerkenswerter Weise primär nicht von AnalytikerSeite, sondern von Kulturwissenschaftlern unterschiedlichster Provenienz. Stellvertretend wollen wir zwei Autoren aus dieser Gruppe anführen. Einmal den Literaturwissenschaftler Jakob Hessing, der sich anlässlich einer Diskussion über Freuds letztes
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Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion die Frage stellt, was der Psychoanalyse über mittlerweile gut 100 Jahre eine solche Wirkungsmacht verliehen hat. In seiner Antwort verortet er die Psychoanalyse Freuds im Projekt der Aufklärung, die allerdings im späten 19. Jahrhundert in eine Krise geraten war: »Der Glaube an die menschliche Rationalität erwies sich als eine gefährliche Illusion … und die Psychoanalyse war Freuds persönliche, höchst erfolgreiche Antwort auf die Krise« (Hessing 2011, 239). Hessing bezieht sich mit dieser Einschätzung explizit auf Freuds Texte zur Kultur und sein Verständnis der menschlichen Kultur als einer fragilen Kompromissbildung zwischen Trieb und kulturellen Verzichtsforderungen. – Auch der zeitgenössische Philosoph Joel Whitebook ordnet Freud dem »Projekt der Moderne« zu und stellt seine Psychoanalyse als essentiellen Beitrag zu einem interdisziplinären Forschungsanliegen dar – mit dem Ziel einer »kritischen Analyse der krankhaften Züge der modernen kapitalistischen Gesellschaft« (Whitebook 2009, 824). Und er stellt in diesem Aufsatz von 2009 einen expliziten Aktualitätsbezug her: »Tatsächlich sind die politischen Kontroversen, die am 11. September 2001 vor unseren Augen explodierten, und die Fragen, die Freud bezüglich der Moderne, der Wissenschaft, des Säkularismus und der Religion stellte, in vieler Hinsicht ein und dasselbe… Es ist daher an der Zeit, auf das Feld der psychoanalytisch orientierten Gesellschaftstheorie zurückzukehren« (ebd., 823).
Freuds wichtigste Texte zur Kultur und deren Diskussion und Rezeption Zwangshandlungen und Religionsausübungen, 1907 Freuds frühester Artikel zum Thema kam durch einen äußeren Anlass zustande: Ein deutscher Pfarrer, Gustav Vorbrodt, schlug Freud vor, einen Artikel für die von ihm gegründete Zeitschrift für Religionspsychologie zu verfassen. In Wirklichkeit lässt sich Freuds Interesse für diese Thematik bis in die 1890-er Jahre zurückverfolgen. So schrieb er am 12.12.1897 an Wilhelm Fließ: »Kannst Du Dir denken, was ›endopsychische Mythen‹ sind? Die neueste Ausgeburt meiner Denkarbeit. Die unklare innere Wahrnehmung des eigenen psychischen Apparates regt zu Denkillusionen an, die natürlich nach außen projiziert werden und charakteristischerweise in die Zukunft und in ein Jenseits. Die Unsterblichkeit, Vergeltung, das ganze Jenseits sind solche Darstellungen unseres psychischen Inneren. Meschugge? Psycho-Mythologie« (Freud 1986, 311). Im ersten Teil dieses Aufsatzes bringt Freud eine Reihe von Fallbeispielen, die zeigen sollen, dass hinter der Symptomatik der Zwangsneurose verdrängte Erinnerungen an sexuelle Erlebnisse vermutet werden können. Den Fokus legt Freud dann auf das, was er das »Zeremoniell« des Zwangsneurotikers nennt, um es in Parallele zum religiösen Ritual zu bringen: »Es ist leicht einzusehen, worin die Ähnlichkeit des neurotischen Zeremoniells mit den heiligen Handlungen des religiösen Ritus gelegen ist, in der Gewissensangst bei der Unterlassung, in der vollen Isolierung von allem anderen Tun (Verbot der Störung) und in der Gewissenhaftigkeit der Ausführung im kleinen« (Freud 1907b, 131). Wichtig erscheint Freud zudem die Motivierung der Zwänge aus einem Schuldgefühl: »Man kann sagen, der an Zwang und Verboten Leidende benimmt sich so, als stehe er unter der Herrschaft eines Schuldbewußtseins, von dem er allerdings
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Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion die Frage stellt, was der Psychoanalyse über mittlerweile gut 100 Jahre eine solche Wirkungsmacht verliehen hat. In seiner Antwort verortet er die Psychoanalyse Freuds im Projekt der Aufklärung, die allerdings im späten 19. Jahrhundert in eine Krise geraten war: »Der Glaube an die menschliche Rationalität erwies sich als eine gefährliche Illusion … und die Psychoanalyse war Freuds persönliche, höchst erfolgreiche Antwort auf die Krise« (Hessing 2011, 239). Hessing bezieht sich mit dieser Einschätzung explizit auf Freuds Texte zur Kultur und sein Verständnis der menschlichen Kultur als einer fragilen Kompromissbildung zwischen Trieb und kulturellen Verzichtsforderungen. – Auch der zeitgenössische Philosoph Joel Whitebook ordnet Freud dem »Projekt der Moderne« zu und stellt seine Psychoanalyse als essentiellen Beitrag zu einem interdisziplinären Forschungsanliegen dar – mit dem Ziel einer »kritischen Analyse der krankhaften Züge der modernen kapitalistischen Gesellschaft« (Whitebook 2009, 824). Und er stellt in diesem Aufsatz von 2009 einen expliziten Aktualitätsbezug her: »Tatsächlich sind die politischen Kontroversen, die am 11. September 2001 vor unseren Augen explodierten, und die Fragen, die Freud bezüglich der Moderne, der Wissenschaft, des Säkularismus und der Religion stellte, in vieler Hinsicht ein und dasselbe… Es ist daher an der Zeit, auf das Feld der psychoanalytisch orientierten Gesellschaftstheorie zurückzukehren« (ebd., 823).
Freuds wichtigste Texte zur Kultur und deren Diskussion und Rezeption Zwangshandlungen und Religionsausübungen, 1907 Freuds frühester Artikel zum Thema kam durch einen äußeren Anlass zustande: Ein deutscher Pfarrer, Gustav Vorbrodt, schlug Freud vor, einen Artikel für die von ihm gegründete Zeitschrift für Religionspsychologie zu verfassen. In Wirklichkeit lässt sich Freuds Interesse für diese Thematik bis in die 1890-er Jahre zurückverfolgen. So schrieb er am 12.12.1897 an Wilhelm Fließ: »Kannst Du Dir denken, was ›endopsychische Mythen‹ sind? Die neueste Ausgeburt meiner Denkarbeit. Die unklare innere Wahrnehmung des eigenen psychischen Apparates regt zu Denkillusionen an, die natürlich nach außen projiziert werden und charakteristischerweise in die Zukunft und in ein Jenseits. Die Unsterblichkeit, Vergeltung, das ganze Jenseits sind solche Darstellungen unseres psychischen Inneren. Meschugge? Psycho-Mythologie« (Freud 1986, 311). Im ersten Teil dieses Aufsatzes bringt Freud eine Reihe von Fallbeispielen, die zeigen sollen, dass hinter der Symptomatik der Zwangsneurose verdrängte Erinnerungen an sexuelle Erlebnisse vermutet werden können. Den Fokus legt Freud dann auf das, was er das »Zeremoniell« des Zwangsneurotikers nennt, um es in Parallele zum religiösen Ritual zu bringen: »Es ist leicht einzusehen, worin die Ähnlichkeit des neurotischen Zeremoniells mit den heiligen Handlungen des religiösen Ritus gelegen ist, in der Gewissensangst bei der Unterlassung, in der vollen Isolierung von allem anderen Tun (Verbot der Störung) und in der Gewissenhaftigkeit der Ausführung im kleinen« (Freud 1907b, 131). Wichtig erscheint Freud zudem die Motivierung der Zwänge aus einem Schuldgefühl: »Man kann sagen, der an Zwang und Verboten Leidende benimmt sich so, als stehe er unter der Herrschaft eines Schuldbewußtseins, von dem er allerdings
Freuds Projekt einer Kulturtheorie
nichts weiß, eines unbewußten Schuldbewußtseins also« (ebd., 135). Die Zwangshandlung bzw. das Zeremoniell haben also die Funktion einer »Abwehr- oder Versicherungshandlung, Schutzmaßregel« (ebd., 136). Deren Funktion ist die Abwehr bzw. Verdrängung einer Triebregung. Diesem Schuldgefühl entsprechen die Beteuerungen der Frommen, wenn sie sich als »arge Sünder« bezeichnen. Und nun zur Religion: »Auch der Religionsbildung scheint die Unterdrückung, der Verzicht auf gewisse Triebregungen zugrunde zu liegen; es sind aber nicht wie bei der Neurose ausschließlich sexuelle Komponenten, sondern eigensüchtige, sozialschädliche Triebe« (ebd., 137). Zum Ende dieses Aufsatzes holt Freud dann zu einer großen Denkbewegung aus: »Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien könnte man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen. Die wesentlichste Übereinstimmung läge in dem zugrunde liegenden Verzicht auf die Betätigung von konstitutionell gegebenen Trieben… Ein fortschreitender Verzicht auf konstitutionelle Triebe … scheint eine der Grundlagen der menschlichen Kulturentwicklung zu sein. Ein Stück dieser Triebverdrängung wird von den Religionen geleistet, indem sie den einzelnen seine Trieblust der Gottheit zum Opfer bringen lassen« (ebd., 139). Freud legt also in diesem Aufsatz den Akzent noch nicht wie dann später auf die pathologische Natur von Religion, sondern auf deren Beitrag zur Kulturentwicklung: Indem sie die Triebverdrängung installiert, ohne welche keine Kultur denkbar ist, leistet sie einen grundlegenden Beitrag zum Funktionieren dieser.
Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität, 1908 Freud eröffnet diesen Aufsatz mit der begrifflichen Unterscheidung von »natürlicher« und »kultureller« Sexualmoral, wie sie Christian von Ehrenfels in einem sexualkritischen Artikel benutzt. In dieser Entgegensetzung ist eine Kritik der herrschenden Sexualmoral enthalten, insofern diese auf eine grundsätzliche Überforderung hinauslaufe, was den geforderten Triebverzicht betrifft. Freud schließt sich dieser Kritik an, erinnert zunächst an seine These von 1907, wonach jede Kultur, besonders aber die gegenwärtige, auf der Unterdrückung der Triebe aufgebaut sei. Zugleich ist es Freuds erste Arbeit, in welcher er explizit den Antagonismus von Trieb und Kultur in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf die Sexualeinschränkung durch die herrschende Sexualmoral mit ihren Forderungen nach Abstinenz bzw. Monogamie. Es ist einerseits die Kultur an sich, andererseits die gegenwärtige Kultur mit ihrer speziellen »Sexualmoral«, die schädliche Folgen für die in ihr lebenden Menschen zeitigt. Zwar ließen sich die Sexualtriebe wie die Triebe generell ein Stück weit sublimieren – »Ins Unbegrenzte fortzusetzen ist dieser Verschiebungsprozeß sicherlich nicht« (Freud 1908a, 151). Über längere Passagen lässt sich Freud darüber aus, wie triebfeindlich und letztlich gesundheitsabträglich die aktuelle Sexualmoral sei. So schreibt er etwa: »Es ist wirklich für den Uneingeweihten fast unglaublich, wie selten sich normale Potenz beim Manne und wie häufig sich Frigidität bei der weiblichen Hälfte der Ehepaare findet, die unter der Herrschaft unserer kulturellen Sexualmoral stehen« (ebd., 164). Und diese
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Schädigungen betreffe nicht nur die Ehepartner, sondern werde auch an deren Kinder weitergegeben: »Die von ihrem Manne unbefriedigte neurotische Frau ist als Mutter überzärtlich und überängstlich gegen das Kind, auf das sie ihr Liebesbedürfnis überträgt, und weckt in demselben die sexuelle Frühreife« (ebd., 165). In Verbindung mit der »strengen Erziehung, die keinerlei Betätigung des so früh geweckten Sexuallebens duldet« wird die Wahrscheinlichkeit groß, dass dies »zur Verursachung der lebenslangen Nervosität« sich fortschreibt. Und dies ist nicht nur bei Einzelnen der Fall, sondern müsse als kollektives Problem erkannt werden: »Nehmen wir noch hinzu, daß mit der Einschränkung der sexuellen Betätigung bei einem Volke ganz allgemein eine Zunahme der Lebensängstlichkeit und der Todesangst einhergeht, welche die Genußfähigkeit des einzelnen stört« (ebd., 167), was Freud zur abschließenden provokant gemeinten Frage bringt, »ob unsere ›kulturelle‹ Sexualmoral der Opfer wert ist, welche sie uns auferlegt, zumal, wenn man sich vom Hedonismus nicht genug frei gemacht hat, um nicht ein gewisses Maß von individueller Glücksbefriedigung unter die Ziele unserer Kulturentwicklung aufzunehmen« (ebd.). Freud sah es als soziale Ungerechtigkeit an, dass diese Sexualmoral von allen Menschen ein gleiches Sexualleben fordere, ohne Rücksicht darauf, ob es den Einzelnen aufgrund ihrer sexuellen Konstitution gelinge, diese Regeln zu erfüllen oder ob für sie diese Regelkonformität Opfer und neurotisches Leiden bedeute. Wir können diesen frühen kulturkritischen Aufsatz Freuds durchaus in den Kontext der damaligen sexualwissenschaftlichen Bewegung stellen, die auch in den folgenden Jahrzehnten ein starkes Echo vor allem bei den sexualpolitisch orientierten Analytikern hatte. In diesem Sinne schreibt Udo Hock: »Freuds Aufsatz ist eine Abrechnung mit der Sexualmoral seiner Zeit … seit den 1930-er Jahren wurde er insbesondere unter dem Einfluß von Wilhelm Reich und Otto Fenichel zu einem wahren ›Kulttext der Linken‹ … Insofern handelt es sich um einen Aufsatz, der implizit revolutionäre Umwandlungen und radikale Sexualreformen propagiert« (Hock 2013, 150).
Totem und Tabu, 1912/1913 Freuds Text1 Schon seit 1908 gibt es eine ganze Reihe von entsprechenden Publikationen, die »Kulturformen als Niederschlag des Zusammenwirkens zahlloser Einzelseelen« zu erklären suchen (Rank und Sachs 1912, 12). In diesem programmatischen Aufsatz schreiben die beiden: »Dieselben Konflikte, an denen der Neurotiker scheitert und an deren Bewältigung der Normale zeitlebens mit mehr oder weniger Erfolg arbeitet, schaffen sich in Religion, Mythus und Kunst gewaltige Durchbruchsgebilde für die im praktischen Kulturleben unverwertbar gewordenen mächtigen Triebregungen. Diese Gebilde der Völkerphantasie dienen wie Traum und Neurose der Befriedigung aller zur Verdrängung verurteilten Triebe« (ebd., 12f). Zu dieser neuen Tradition gehört auch Karl Abrahams Aufsatz Traum und Mythus von 1909, in dem er eine Verbindung zwischen Traum und Mythus behauptet. »Der Mythus 1
Wir haben diesen Text schon im Narzissmus-Kapitel kurz besprochen; allerdings mit dem Gewicht auf Freuds Überlegungen zum Narzissmus.
Freuds Projekt einer Kulturtheorie
ist ein Stück überwundenen infantilen Seelenlebens des Volkes. Er enthält (in verschleierter Form) die Kindheitswünsche des Volkes«, insbesondere Wünsche, die »aus der Sexualübertragung des Sohnes auf die Mutter« entstanden sind (Abraham 1909, 193). Auch Otto Rank geht in Der Mythus von der Geburt des Helden davon aus, dass man Mythen wie Träume deuten kann, wobei er der Ödipussage eine zentrale Bedeutung zuspricht (vgl. Rank 1909). Freud ist im Vergleich zu diesen Autoren deutlich vorsichtiger. Er verzichtet auf eine Bezugnahme auf Träume. Die Begriffe der Sublimierung, Idealisierung und Projektion, die seine Kollegen benutzen, werden von Freud nicht einmal erwähnt.2 Er konzentriert sich ganz auf die Deutung des Animismus und seiner Analogie zum magischen Denken des Kindes und des Neurotikers. Und er greift seine Überlegungen aus Zwangshandlungen und Religionsübungen wieder auf, indem er diesmal nicht nur die Religion, sondern die Kultur generell als neurotisches Gebilde, als Reaktionsbildung, als Symptom verdrängter Triebregungen versteht. – Die entscheidende Motivierung besteht aber wohl im sich zuspitzenden Konflikt mit C.G.Jung. Entsprechend schreibt er am 13. Mai 1913 an Sandor Ferenczi: »In dem Streit mit Zürich kommt sie ganz rechtzeitig, sie wird uns auseinandersetzen wie eine Säure das Salz« (Freud&Ferenczi 1993, 219). Worin Freuds Gegenposition zu Jungs eben erschienenem Buch Wandlungen und Symbole der Libido bestand, werden wir noch erfahren. Der Untertitel des Buches signalisiert Freuds Zielsetzung mit dieser Arbeit. Er will einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker aufzeigen – und er tut dies, indem er sich intensiv mit der aktuellen ethnologischen Literatur auseinandersetzt. Der Untertitel ist einmal mehr eine Untertreibung, geht es Freud doch um nicht weniger als um eine psychoanalytische Aufklärung über die Entstehung der menschlichen Kultur mit ihren Institutionen von Religion, sozialer Ordnung und zugehöriger Ethik und dem Nachweis, inwiefern diese Gründungsbedingungen auch heute nachwirken. – Das Buch, das wir heute vor uns haben, besteht aus vier Aufsätzen, die ursprünglich in der Zeitschrift Imago 1912 bzw. 1913 erschienen. Der erste Aufsatz trägt den Titel Die Inzestscheu. Ausgehend von der Inzestscheu der australischen Ureinwohner kommt Freud zu dem bei diesen immer noch existierenden System des Totemismus. Und seine rasch gesetzte Definition des Totem macht schon klar, in welche Richtung diese Untersuchung gehen soll: »Fast überall, wo der Totem gilt, besteht auch das Gesetz, daß Mitglieder desselben Totem nicht in geschlechtliche Beziehungen zueinander treten, also auch einander nicht heiraten dürfen. Das ist die mit dem Totem verbundene Exogamie« (Freud 1912/13, 8). Der Totem ist sozusagen der Garant für die Unbedingtheit dieser grundlegenden sozialen Regel. Der zweite Aufsatz Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen geht vom Begriff »Tabu« aus. Freud verweist anfangs darauf, dass dieses Wort auffällige gegensätzliche Bedeutungen habe: »Es heißt uns einerseits: heilig, geweiht, andererseits: unheimlich, gefährlich, verboten« (ebd., 26). Tabus aber seien nach damaliger ethnologischer Sicht die ältesten sozialen Gesetze. Das Tabu verdankt dabei seine Wirkung der Vorstellung
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Erst in Massenpsychologie und Ich-Analyse führt Freud den Begriff der Idealisierung in seine Kulturanalyse ein.
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bzw. der Furcht vor der Wirkung mächtiger dämonischer Kräfte. Freud zieht in der Folge eine starke Parallele zwischen Zwangsneurose und der Institution des Tabus bei den alten Kulturen. Er nennt die Zwangsneurose eine »Tabukrankheit«. »Wir konstruieren die Geschichte des Tabu aber folgendermaßen nach dem Vorbild der Zwangsverbote. Die Tabu seien uralte Verbote … Diese Verbote haben Tätigkeiten betroffen, zu denen eine starke Neigung bestand… Aber aus der Festhaltung der Tabu ginge eines hervor, daß die ursprüngliche Lust, jenes Verbotene zu tun, auch noch bei den Tabuvölkern fortbesteht. Diese haben also zu ihren Tabuvorschriften eine ambivalente Einstellung« (ebd., 41f). Und diese Ambivalenz sei eine starke Gemeinsamkeit mit der Zwangsneurose. – Es folgt eine erweiterte Definition des Totemismus: »Die ältesten und wichtigsten Tabuverbote sind die beiden Grundgesetze des Totemismus: Das Totemtier nicht zu töten und den sexuellen Verkehr mit den Totemgenossen des anderen Geschlechts zu vermeiden« (ebd., 42). Im »Tabugewissen« vermutet Freud die älteste Form eines sozialen Gewissens und er definiert dieses als »die innere Wahrnehmung von der Verwerfung bestimmter in uns bestehender Wunschregungen« (ebd., 85). Die Heftigkeit dieser Abwehr ist demnach ein Zeichen für die Heftigkeit der dahinter liegenden Wünsche. Zwischen Schuld und Verbot müsse es einen dynamischen Zusammenhang geben: »Wo ein Verbot vorliegt, muß ein Begehren dahinter sein« (ebd., 87). Ans Ende dieses Aufsatzes stellt Freud eine weitreichende Verknüpfung von Neurose und kulturellen Prozessen: »Die Neurosen zeigen einerseits auffällige und tiefreichende Übereinstimmungen mit den großen sozialen Produktionen der Kunst, der Religion und der Philosophie, andererseits erscheinen sie wie Verzerrungen derselben. Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems« (ebd., 91). – In den zwei folgenden Aufsätzen wird Freud vor allem die Verbindungen zwischen Zwangsneurose und Religion näher beleuchten. Der Titel des dritten Aufsatzes lautet: Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken. Freud folgt dem geschichtsphilosophischen Modell des Positivisten Auguste Comte, der das System des Animismus als eine der drei großen Weltanschauungen, die die Menschheit im Laufe der Zeiten hervorgebracht hat, versteht: zuerst den Animismus, dann die religiöse und schließlich die wissenschaftliche Weltanschauung. Das wesentliche Prinzip, welches den Animismus und die dazu gehörige Überzeugung der Magie, der »Technik der animistischen Denkweise« prägt, ist »das der ›Allmacht der Gedanken‹« (ebd., 106). In diesem Stadium schreibt der Mensch sich selbst diese Allmacht zu, die er im religiösen Stadium an die Götter abtritt, »aber nicht ernstlich auf sie verzichtet, denn er behält sich vor, die Götter durch mannigfache Beeinflussungen nach seinen Wünschen zu lenken« (ebd., 108). In der Folge kommt Freud auf die individuelle Entwicklung zu sprechen, insbesondere auf die Libidoentwicklung. Er nimmt hier einen Gedanken wieder auf, den wir aus den Drei Abhandlungen, dann aber aus der Schreber-Studie kennen und den er in seinem Narzissmus-Aufsatz weiter ausdifferenzieren wird. Es geht dabei um die Annahme eines dritten Stadiums zwischen dem ursprünglich angenommenen Autoerotismus und der Objektliebe – einem narzisstischen Stadium. Und Freud betont, dass diese narzißtische Organisation nie mehr völlig aufgegeben wird: »Der Mensch bleibt in gewissem
Freuds Projekt einer Kulturtheorie
Sinne narzißtisch, auch nachdem er äußere Objekte für seine Libido gefunden hat; die Objektbesetzungen, die er vornimmt, sind gleichsam Emanationen der beim Ich verbleibenden Libido und können wieder in dieselbe zurückgezogen werden« (ebd., 110). Wozu dieser Einschub? Es geht Freud darum zu zeigen, dass die Stadien der libidinösen Entwicklung den Entwicklungsstufen der Weltanschauung entsprechen: »Es entspricht dann zeitlich wie inhaltlich die animistische Phase dem Narzißmus, die religiöse Phase jener Stufe der Objektfindung, welche durch die Bindung an die Eltern charakterisiert ist, und die wissenschaftliche Phase hat ihr volles Gegenstück in jenem Reifezustand des Individuums, welcher auf das Lustprinzip verzichtet hat und unter Anpassung an die Realität sein Objekt in der Außenwelt sucht« (ebd., 111). Mit dieser Konzeption stellt Freud sich klar gegen Jungs Auffassung: Dieser sah in der Entwicklung von Religion und Kultur eine evolutionäre Tendenz zu Sublimierung, Individualisierung und Befreiung. Freud dagegen versteht die religiöse Weltanschauung als Resultat verdrängter Wünsche, ambivalenter Gefühlsregungen und Konflikte. Entscheidend sei vor allem – wie wir noch lesen werden – die Schuldproblematik. Der vierte Aufsatz, betitelt als Die infantile Wiederkehr des Totemismus, ist wohl der theoretisch wichtigste. Freud versteht, wie wir schon gelesen haben, den Totemismus als religiöses und soziales System. Die Mitglieder eines Stammes glauben an ihr Totem als etwas Heiliges, das sie entsprechend verehren, und sie leiten von dieser Totemvorstellung auch ihre grundlegendsten sozialen Regeln ab: Das Exogamiegebot und die Forderung, die Mitglieder des eigenen Totemclans als Brüder und Schwestern zu verstehen und ihnen gegenüber entsprechend solidarisch zu sein. Freud diskutiert dann die unterschiedlichen ethnologischen, biologischen und psychologischen Theorien seiner Zeit, die den Zusammenhang von Totemismus und Inzestverbot zu erklären suchen. Da für ihn feststeht, dass das Menschenkind keine angeborene oder durch einen Instinkt eingepflanzte Inzestscheu besitzt, stellt er eine Analogie zwischen der Tierphobie und dem Totemismus her: »Was wir neu aus der Analyse des ›kleinen Hans‹ erfahren, ist die für den Totemismus wertvolle Tatsache, daß das Kind unter solchen Bedingungen einen Anteil seiner Gefühle von dem Vater weg auf ein Tier verschiebt« (ebd., 157). So kommt er zu folgender Parallelsetzung: »[...]heben wir jetzt nur als wertvolle Übereinstimmungen mit dem Totemismus zwei Züge hervor: Die volle Identifizierung mit dem Totemtier und die ambivalente Gefühlseinstellung gegen dasselbe« (ebd., 159). Und diese Parallelsetzung mündet in eine zwischen Totemismus und Ödipuskomplex: »Das erste Ergebnis unserer Ersetzung ist sehr merkwürdig. Wenn das Totemtier der Vater ist, dann fallen die beiden Hauptgebote des Totemismus, die beiden Tabuvorschriften, die seinen Kern ausmachen, den Totem nicht zu töten und kein Weib, das dem Totem angehört, sexuell zu gebrauchen, inhaltlich zusammen mit den beiden Verbrechen des Ödipus, der seinen Vater tötete und seine Mutter zum Weibe nahm, und mit den beiden Urwünschen des Kindes« (ebd., 160). Somit ist für Freud klar, dass sich das totemistische System aus den Bedingungen des Ödipuskomplexes ergeben hat. Der nächste Schritt in Freuds Zugang ist eine Analyse der in vielen Religionen verbreiteten Zeremonie einer Totemmahlzeit. Dieses Opfer stellt insofern einen Akt der Wiedergutmachung dar, als er auch Ausdruck des Schuldgefühls derer ist, die sich realiter oder in ihren Wünschen einer Übertretung der Gebote schuldig gemacht haben.
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Die älteste Form des Opfers ist ein Tieropfer – und dieses tatsächlich das heilige Totemtier: »Die älteste Form des Opfers, älter als der Gebrauch des Feuers und die Kenntnis des Ackerbaus, war also das Tieropfer, dessen Fleisch und Blut der Gott und die Anbeter gemeinsam genossen« (ebd., 162). Die gemeinsame Mahlzeit stellt einen Akt der grundlegenden sozialen Bindung dar. »Das heilige Mysterium des Opfertodes rechtfertigt sich, indem nur auf diesem Wege das heilige Band hergestellt werden kann, welches die Teilnehmer untereinander und mit ihrem Gotte einigt« (ebd., 166f). Das Fest, in dessen Rahmen dies geschieht, ist – so Freud auf den Spuren der Ethnologen – »ein gestatteter, vielmehr ein gebotener Exzeß, ein feierlicher Durchbruch eines Verbotes« (ebd., 170). Damit ist für Freud noch evidenter, dass es sich beim Totem- bzw. Opfertier um einen Ersatz des Vaters handelt – und dass sich in diesem Ritual die Ambivalenz gegenüber dem Vater zeigt: Es ist normalerweise verboten, es zu töten; im Rahmen des Rituals wird es aber getötet und zugleich betrauert. An dieser Stelle führt Freud seinen Mythos vom Tötungsakt des Urhordenvaters durch die Brüder ein. Er beruft sich dabei auf Charles Darwins Theorie der »Urhorde«. In diesem hypothetischen »Urzustand« der Gesellschaft besitzt ein Vater alle Frauen und verjagt die Söhne und Konkurrenten; bis diese sich vereinigen und ihn töten und verzehren. »Nun setzten sie im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch, eigneten sich ein jeder ein Stück seiner Stärke an. Die Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen, verbrecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion« (ebd., 172). Die Söhne hassten aber ihren Vater nicht nur, sie liebten und bewunderten ihn auch. Indem sie in einem Akt eines »nachträglichen Gehorsams« ihre Tat als Schuld verstanden, widerriefen sie diese, indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totemtiers, für unerlaubt erklärten. »So schufen sie aus dem Schuldbewußtsein des Sohnes die beiden fundamentalen Tabu des Totemismus, die eben darum mit den beiden verdrängten Wünschen des Ödipus-Komplexes übereinstimmen mußten… Die Totemreligion war aus dem Schuldbewußtsein der Söhne hervorgegangen als Versuch, dies Gefühl zu beschwichtigen und den beleidigten Vater durch den nachträglichen Gehorsam zu versöhnen. Alle späteren Religionen erweisen sich als Lösungsversuche desselben Problems« (ebd., 173f). – Damit hat Freud den Kern seines Erklärungsmodells ans Licht gebracht. Das Urverbrechen des Vatermordes wird in den entsprechenden religiösen Ritualen bis in die Gegenwart wiederholt und das damit verbundene Schuldgefühl stellt das affektive Zentrum dieser »Wiederkehr des Verdrängten« dar. In den späteren Religionen wird das Totemtier durch einen Vater-Gott ersetzt. Es bleibt aber bei der ödipalen Ambivalenz diesem gegenüber als den treibenden Faktoren: dem Schuldgefühl und dem »Sohnestrotz« (ebd., 183). Im letzten Abschnitt kommt Freud auf sein Verständnis der christlichen Religion zu sprechen. Die christliche Erbsünde versteht er als Ausdruck der (verdrängten) Versündigung gegen den Gottvater, für die uranfängliche Mordtat. Durch das Opfer des Sohnes werde diese Tat gesühnt, der Sohn erreicht aber auch sein heimliches Ziel gegenüber dem Vater: »Er wird selbst zum Gott neben, eigentlich an Stelle des Vaters. Die Sohnesreligion löst die Vaterreligion ab. Zum Zeichen dieser Ersetzung wird die alte Totemmahlzeit als Kommunion wiederbelebt«, sie ist also im Grunde eine »neuer-
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liche Beseitigung des Vaters« (ebd., 186). An dieser Stelle bekräftigt Freud seine These, »daß im Ödipus-Komplex die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst zusammentreffen« (ebd., 188). Freuds abschließende Überlegung gilt der Frage, ob diese »Urtat« notwendiger Weise als eine reale zu denken ist oder nicht. Zeigt doch gerade der Zwangsneurotiker, dass seinem tiefen Schuldgefühl keine schuldhafte Tat, sondern entsprechende Gedanken zugrunde liegen, die »psychische Realität« einer »faktischen Realität« gleichgesetzt werde. »Demnach könnten die bloßen Impulse von Feindseligkeit gegen den Vater… hingereicht haben« (ebd., 192). Aber Freud entscheidet sich letztlich anders. Der »Primitive« habe die »scharfe Scheidung« von Denken und Tun noch nicht so vollzogen wie der moderne Mensch, er ist nach Freuds Konstruktion noch ungehemmt, »der Gedanke setzt sich ohneweiters in Tat um«, sodass Freud mit der interessanten Variation eines Bibelzitats seine Abhandlung beschließt: »Im Anfang war die Tat« (ebd., 194).
Diskussion einiger zentraler Fragen Animismus, Tabu, Allmacht der Gedanken – war am »Anfang« wirklich die Tat? Den Begriff »Allmacht der Gedanken« übernahm Freud von seinem »Rattenmann«. Dieser bezeichnete damit seine Überzeugung, dass beim Auftauchen bestimmter Vorstellungen oder Gedanken diese zugleich Wirklichkeit werden könnten. Freud versteht in Analogie dazu den Animismus der menschlichen Frühzeit als eine Vorstellungswelt, die aus der Weigerung resultierte, die Endlichkeit, das Ausgeliefertsein des Menschen an die übermächtige Natur und letztlich die eigene Sterblichkeit zu akzeptieren. Stattdessen glaubten die Menschen an die magische Macht ihrer Gedanken, Wünsche und Worte. »Für Freud war die Magie somit eine Phantasie schrankenloser Macht… Diese Phantasien ließen sich also als eine notwendige Illusion ansehen, die das Leben erträglicher machten. Sie waren – wenn auch trügerische – Versuche, mit der Angst fertig zu werden, mithin eine traumatische Situation zu überwinden« (Brunner 1996, 793). Mit dem Übergang zum religiösen Stadium habe der Mensch – so Freud – auf diese Überzeugung der eigenen Allmacht ein Stück weit verzichtet. Diese Idee hat auch Sandor Ferenczi in seinem ebenfalls 1913 publizierten Aufsatz Glaube, Unglaube und Überzeugung formuliert: »Es entspricht diesem Stadium völkergeschichtlich die religiöse Phase der Menschheit. Der Mensch hat auf die Allmacht der eigenen Wünsche zu verzichten gelernt, nicht aber auf die Idee der Allmacht überhaupt. Letztere wurde einfach auf andere, ›höhere‹ Wesen (Götter) übertragen« (Ferenczi 1913a, 138). Wie uns scheint, hat Freud seine Überlegungen zur Allmacht der Gedanken nicht zufällig mit der Annahme eines dritten Stadiums der Libidoentwicklung, dem narzisstischen Zwischenstadium verknüpft. Steht doch sowohl individual- als auch kollektivgeschichtlich damit die Frage im Raum, inwiefern dieser ursprüngliche Narzissmus jemals überwunden werden kann; individuell mit der Entwicklung zur »reifen Objektliebe«, kulturgeschichtlich mit der Preisgabe der religiösen »Illusionen« zugunsten eines an Vernunft und Wissenschaft orientierten Realitätssinnes. In Freuds Rekonstruktion des Übergangs vom hypothetischen Urzustand der »Urhorde« zur Kultur wird dieser frühe Kulturmensch noch als näher an der Natur, noch als ein den Trieben Ausgelieferter gedacht. So verstehen wir Freuds abschließendes Diktum von der »Tat« als Ausdruck
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seiner Überzeugung, dass die Sublimierungsfähigkeit der »Primitiven« noch begrenzter war als die der »Modernen«, dass für sie die Differenz von Phantasie und Handlung noch eine schwache war. Im archaischen Funktionieren gab es noch keine klare Trennung zwischen Innen- und Außenwelt, Phantasie und Realität, Wort und Tat. Es kannte noch nicht die internalisierte Gewissensfunktion des Kulturmenschen. An dessen Stelle bzw. als dessen Vorläufer spricht Freud vom »Tabugewissen« und einem »Tabuschuldbewußtsein«, die sich nicht intrapsychisch äußern, sondern nach Handlungsoptionen wie dem Totemmahl oder dem Opfer rufen. Joel Whitebook liest Freuds zentrale Botschaft, nicht nur von Totem und Tabu, sondern generell seiner ganzen Psychoanalyse, als einen Kampf gegen die Versuchung der »Allmacht der Gedanken«: »Nach meiner Überzeugung bildet der Kampf gegen die Magie und gegen die Allmacht der Gedanken das Zentrum nicht nur von Freuds Religionskritik, sondern auch seines gesamten Projekts der Psychoanalyse« (Whitebook 2014,1176). Nach Whitebooks Einschätzung geht es Freud in Totem und Tabu darum, sowohl seine Konzeption des Ödipuskomplexes als auch dessen Überwindung aus seiner Allmachtstheorie abzuleiten: »[...]dass das grundlegende Desiderat von Freuds Projekt – im Leben wie in der Analyse – darin besteht, unsere Allmacht zu bewältigen und mit der Realität bzw. mit den Anforderungen der Notwendigkeit ebenso ›fertig zu werden‹ wie mit der Ananke, und zwar in dem Maße, in dem eine solche Resignation endlichen Wesen wie uns möglich ist« (ebd.,1177). Der Mord am Urvater – ein Mythos? Der Urvatermord und die damit vollzogene »Gründungsgewalt« ist der Schlüsselbegriff zum Verständnis der Entstehung der menschlichen Kultur, die entscheidende und grandiose Entdeckung Freuds. Auch Ulrike Brunotte hebt die zentrale Bedeutung dieser »Erzählung« hervor: »Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs trug der Begründer der Psychoanalyse seine Theorie vom unlösbaren Gewaltzusammenhang der modernen christlich geprägten Gesellschaft im Gewand einer Theorie eines Gründungsverbrechens vor: Wie in den Gründungslegenden der Bibel, in den Gründungsmythen der griechischen Mythologie oder in der römischen Gründungserzählung von Romulus und Remus steht am Anfang der phylogenetischen Narration der Psychoanalyse ein Mord« (Brunotte 2012, 219). Mit dieser »erschreckenden und kränkenden Einsicht in die Dialektik von Herrschaft und Gewalt« hat uns Freud, so Karl Stockreiter, eine weitere »tiefe narzißtische Kränkung« zugefügt, hat er doch die Menschheitsgeschichte damit als eine »Mordgeschichte«, als eine »Reihenfolge von Vatermorden« konstruiert (Stockreiter 2000, 22). Eine der zentralen Fragen, die diese Erzählung vom Urvatermord in der Rezeption der letzten 100 Jahre auslöste, ist die nach dem Status dieser Konstruktion: Handelt es sich dabei um einen Ursprungsmythos ähnlich dem biblischen Mythos vom Sündenfall oder dem Gründungsmythos Roms? Oder legt sich hier eine »phylogenetische« Lesart nahe? Oder lässt sich diese »Erzählung« mittels einer psychoanalytischen Lesart auch anders verstehen? Jacques Lacan nennt diese freudsche Erzählung einen Mythos, »vielleicht, wie man gesagt hat, der einzige Mythos, zu dem die Moderne fähig war. Und es ist Freud, der
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ihn erfunden hat« (Lacan 1996, 214). »Freud, und darin besteht eine Kunst, bringt es mit der Vatertötung in Verbindung und identifiziert es mit der Ambivalenz, die hierauf die Verhältnisse des Sohnes zum Vater gründet, das heißt mit der Wiederkehr der Liebe nach vollendeter Tat« (ebd.). Und dieser Mythos konnte, so Lacan, nur in einer Zeit entstehen, »für die Gott tot ist« (ebd., 215). »Wenn aber Gott tot ist für uns, dann ist er es seit jeher, und genau dies sagt uns Freud. Vater war er je nur in der Mythologie des Sohnes, das heißt in derjenigen des Gebots, das ihn zu lieben heißt, ihn, den Vater… Das heißt, daß der Mensch, der den Tod Gottes inkarnierte, immer da ist. Er ist immer da in dem Gebot, das Gott zu lieben befiehlt« (ebd., 216). Derselben Deutungslinie folgt Robert Heim: »Dagegen bleibt die Hypothese vom Urvatermord und der Urhorde Mythologie, weil sie anthropologisch nicht nachweisbar ist. Sie gewinnt ihre argumentative Kraft aber gerade dadurch, daß sie einer Reihenfolge von Konsequenzen auch logisch einen Ursprung und einen Anfang zuweist, der im nachhinein, im Rückblick auf eine Geschichte mit zuweilen katastrophischer Ereignishaftigkeit, stimmig genug wirkt« (Heim 1993, 364). Alternativ zu dieser Sichtweise der freudschen Ursprungsgeschichte als Mythos gibt es bei vielen Interpreten die Ansicht, dass sich in dieser Erzählung Freuds »lamarckistische« Überzeugung ausdrücke. Ein prominenter Vertreter dieser Lesart ist Frank Sulloway: »Als überzeugter Lamarckist setzte er voraus, daß die phylogenetischen Ereignisse von Totem und Tabu durch ungezählte Wiederholungen über die Jahrtausende hinweg den unbewußten Winkeln der Psyche organisch eingeprägt worden seien … Der ontogenetische Erwerb von Gewissen, Schuld- und Moralgefühlen wurde für Freud jetzt als phylogenetischer Niederschlag des Urvater-Komplexes des Frühmenschen vorstellbar« (Sulloway 1982, 513). Diese Interpreten führen Freuds Satz »im Anfang war die Tat« als Beweis dafür an, dass dieser damit von einer faktischen Tötung ausgehe. Aber in Freuds Text findet sich dazu eine bemerkenswerte differenzierende Äußerung, indem er eine Analogie zum tief verankerten Schuldgefühl des Zwangsneurotikers herstellt: »Wenn wir aber bei diesen Neurotikern nach den Taten forschen, welche solche Reaktionen wachgerufen haben, so werden wir enttäuscht. Wir finden nicht Taten, sondern nur Impulse, Gefühlsregungen, welche nach dem Bösen verlangen« (Freud 1912/13, 191f). Und die Neurose sei generell dadurch charakterisiert, »daß sich die psychische Realität über die faktische setzt« (ebd.). Liege es da – so fragt Freud weiter – nicht nahe, dass es sich »bei den Primitiven nicht ähnlich verhalten habe« (ebd.)? Diese Entscheidung, ob die Vorstellung allein ausreiche – oder man doch eine gewaltsame Handlung voraussetzen müsse, fällt Freud schwer. Aber der wichtige produktive Gedanke an dieser Stelle ist ein anderer, nämlich die Feststellung, dass es sich sowohl beim Neurotiker als auch beim »Primitiven« um ein Stück »historischer Realität« handle. Und daran lässt Freud keinen Zweifel: Dabei handle es sich um die für die Ausbildung des unbewussten Schuldgefühls entscheidende und konstitutive »psychische Realität« (ebd., 193). – Aber daran schließt sich die nächste Frage: Wie bildet sich eine solche »psychische Realität« in einer Kultur? Und wie wird sie tradiert?3
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Dies sind Fragen, auf die Freud vor allem in seiner letzten Schrift Der Mann Moses und die monotheistische Religion zurückkommt und um eine Beantwortung ringt.
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Folgen wir noch einer dritten Deutungslinie. Die Literaturwissenschaftlerin Ortrud Gutjahr liest Freuds Gründungserzählung als eine, die in den Kontext einer »Gedächtnisgeschichte« gehört4 : »Freud versuchte, mit dieser Idee kein reales Geschehen zu rekonstruieren, sondern seinen triebfundierten Ansatz von Kultur zu einer Gedächtnisgeschichte auszuweiten. Denn es war sein Anliegen, den epochalen Umbruch vom Naturzustand zur Kultur … in einer szenisch verdichteten Erzählung zu verdeutlichen… Freud bestimmt damit den Beginn von Kultur als Übergang von der freien Triebabfuhr zu einer sozialen Organisationsform, die nur um den Preis der Triebbeschränkung entstehen konnte« (Gutjahr 2013, 240). Die neue Welt nach der Vatertötung ist eine Welt mit einem symbolischen Gesetz. Alle Brüder haben jetzt das gleiche Recht zu genießen, was aber gleichzeitig bedeutet, dass im Hintergrund die abgründige Aggressivität lauert, die zurück zum schrankenlosen Genießen (des Urvaters) will. Die an dieser Stelle wichtige Frage ist, wie sich dieser »Anfang«, dieser Übergang von einer »Urkultur«, die Freud offenbar als »natürlich« konstruiert, zu einer sozialen und kulturellen Ordnung psychoanalytisch denken lässt. Was in der Bibel der Mythos vom Sündenfall ist, ist bei Freud der Mythos des Vatermords, ein Ereignis, das in beiden Fällen zu einer Erkenntnis von Gut und Böse, in Totem und Tabu aber auch die Etablierung eines sozialen Gesetzes ermöglicht. Es handelt sich aber in beiden Fällen um eine Paradoxie, denn es wird vorausgesetzt, was erklärt werden soll. Wenn das Gefühl der Schuld die Folge des Mordes sein soll, dann müsste es ja ein quasi »natürliches« inneres Moralgesetz bereits gegeben haben. Aber dessen Ursprung sollte doch damit erklärt werden. Diese logische Widersprüchlichkeit ist der grundsätzlichen Schwierigkeit geschuldet, einen »Anfang« zu denken: »Der ›Ursprung‹ ist zugleich die Ursache und die Wirkung seiner ›Folge‹, ›Ursache‹ und ›Wirkung‹ bewirken (halten) sich gegenseitig und heben sich dadurch als einfache Ursache und einfache Wirkung auf … Am ›Anfang‹ war die Tat, aber erst das Wort, das richtende und verurteilende Wort ist es, das die Tat zur Tat und als Tat zum Anfang machen kann. Der Anfang bleibt stets nachträglich gegenüber seiner Darstellung« (Lüdemann 1992, 116f). Der Übergang vom Natur- zum Kulturzustand, von der Vorgeschichte zur Geschichte bleibt streng genommen undenkbar in dem Sinne, dass wir von einem »vorher« und einem »nachher« immer erst aus der Nachträglichkeit sprechen können. D.h. dass diese Unterscheidungen schon einer anderen Ordnung, der symbolischen Ordnung (der Sprache) angehören, während sie einen Zustand beschreiben wollen, der vor diesem liegt. Insofern erscheint uns Freuds Konstruktion als eine »nachträgliche« unausweichlich und logisch notwendig.5
Massenpsychologie und Ich-Analyse, 1921 Freuds Abhandlung Freud schrieb diesen Text einerseits unter dem Eindruck des eben beendeten »totalen Krieges«, des Zusammenbruchs der Donaumonarchie und der »alten Ordnung« und
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Auch dieses Konzept einer »Gedächtnisgeschichte werden wir bei der Diskussion der Moses-Schrift noch eingehend diskutieren. Wir werden diese wichtige Frage nochmals bei der Diskussion von Der Mann Moses aufgreifen und vertiefen.
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der Wirren der ersten Jahre nach dem Weltkrieg, die offenkundig machten, dass die Sozialformen und politischen Strukturen, die vor 1914 als unerschütterlich schienen, endgültig der Vergangenheit angehörten; andererseits aus der Notwendigkeit, seine neue Trieblehre des Jenseits in seine kulturtheoretischen Überlegungen zu integrieren. Freud eröffnet diese Abhandlung mit einem klaren Bekenntnis zur inneren Notwendigkeit einer Verknüpfung von klinischer und Kulturtheorie: »Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie« (Freud 1921, 73). Freud geht zunächst von Gustave Le Bon’s Schilderung der »Massenseele« aus und betont diejenigen Aspekte, die ihm grundlegend erscheinen. Als solche nennt er »das Gefühl unüberwindlicher Macht«, »die Ansteckung«, »die Suggestibilität«, den »Schwund der bewußten Persönlichkeit«, die »Vorherrschaft der unbewußten Persönlichkeit« und »die Tendenz zur unverzüglichen Verwirklichung der suggerierten Ideen« (ebd., 78f.). Weitere Charakteristika sind die Regression (»in der Masse ist er ein Barbar, das heißt ein Triebwesen« (ebd., 82), das Denken in Bildern und die Abwesenheit des Zweifels; aber die Masse unterliege auch »der wahrhaft magischen Macht von Worten … Sie fordern Illusionen, auf die sie nicht verzichten können. Das Irreale hat bei ihnen stets den Vorrang vor dem Realen« (ebd., 85). Und was Freud sehr wichtig ist: Das Bedürfnis der Masse nach einem Führer, dem sie einen »starken Glauben« entgegenbringt. Im Abschnitt IV geht Freud über diese Überlegungen seiner Vorläufer dezidiert hinaus, wenn er erklärt: »Anstatt dessen werde ich den Versuch machen, zur Aufklärung der Massenpsychologie den Begriff der Libido zu verwenden, der uns im Studium der Psychoneurosen so gute Dienste geleistet hat« (ebd., 98). Wenn man die Kräfte verstehen wolle, die in einer Masse und in ihrer Bindung aneinander und an einen Führer wirksam sind, müsse man sich dem Phänomen der »Liebe« zuwenden. »Wir werden es also mit der Voraussetzung versuchen, daß Liebesbeziehungen (indifferent ausgedrückt: Gefühlsbindungen) auch das Wesen der Massenseele ausmachen« (ebd., 100). Im Abschnitt V diskutiert Freud Kirche und Heer als zwei prominente Beispiele für das, was er »künstliche Massen« nennt. In beiden Institutionen gebe es »die nämliche Vorspiegelung (Illusion), daß ein Oberhaupt da ist – in der katholischen Kirche Christus, in der Armee der Feldherr, – das alle Einzelnen der Masse mit der gleichen Liebe liebt. An dieser Illusion hängt alles« (ebd., 102). Ferner verweist Freud darauf, dass nicht nur die Liebe, sondern auch der Hass gegen eine Person oder eine Institution ebenso einigend wirken können. »In den unverhüllt hervortretenden Abneigungen und Abstoßungen gegen nahestehende Fremde können wir den Ausdruck einer Selbstliebe, eines Narzißmus erkennen, der seine Selbstbehauptung anstrebt … daß sich in diesem Verhalten der Menschen eine Haßbereitschaft, eine Aggressivität kundgibt, deren Herkunft unbekannt ist, und der man einen elementaren Charakter zusprechen möchte« (ebd., 111). In der zugehörigen Fußnote verweist Freud auf die in Jenseits des Lustprinzips beschriebene Polarität von Lieben und Hassen und ihrer Verbindung zu Lebensund Todestrieben. Er erkennt also den Narzissmus als eine wesentliche Komponente der Massenbindung: »Wenn also in der Masse Einschränkungen der narzißtischen Eigenliebe auftreten, die außerhalb derselben nicht wirken, so ist dies ein zwingender
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Hinweis darauf, daß das Wesen der Massenbildung in neuartigen libidinösen Bindungen der Massenmitglieder aneinander besteht« (ebd., 113). Und Freud will weiter aufklären, »welcher Art diese Bindungen in der Masse sind« (ebd.). Seine schnelle Auskunft an dieser Stelle lautet dann: »Wir haben es hier mit Liebestrieben zu tun, die, ohne damit nicht minder energisch zu wirken, doch von ihren ursprünglichen Zielen abgelenkt sind« (ebd.). Dann folgt ein weiterer Erkenntnisschritt: Neben dieser Bindung der Massenmitglieder durch eine »sublimierte Liebe« gebe es noch einen weiteren Mechanismus, nämlich »die sogenannten Identifizierungen« (ebd.), denen der folgende Abschnitt VII gewidmet ist. Freud erinnert zunächst daran, dass der Vorgang der Identifizierung der Psychoanalyse längst bekannt sei als »früheste Äußerung einer Gefühlsbindung an eine andere Person« (ebd., 115), etwa wenn der kleine Junge seinen Vater als »sein Ideal« nimmt: Im Ödipuskomplex zeige er »zwei psychologisch verschiedene Bindungen, zur Mutter eine glatt sexuelle Objektbesetzung, zum Vater eine vorbildliche Identifizierung« (ebd.). Diese Identifizierung benehme sich »wie ein Abkömmling der ersten oralen Phase der Libidoorganisation« (ebd., 116). Wichtig erscheint Freud die Unterscheidung dieser Identifizierung von einer »Vaterobjektwahl«: »Im ersten Fall ist der Vater das, was man sein, im zweiten das, was man haben möchte« (ebd.). Auch im späteren Leben sei eine Regression auf diese frühe Form der Identifizierung möglich, »die Identifizierung sei an Stelle der Objektwahl getreten, die Objektwahl sei zur Identifizierung regrediert« (ebd., 117). Und diese Identifizierung sei es, die für die Bindung der Einzelnen in der Masse sowohl zueinander als auch gegenüber dem Führer verantwortlich sei. Im Folgenden verweist Freud auf einen weiteren Mechanismus, nämlich den der »Idealisierung«, »daß das Objekt so behandelt wird wie das eigene Ich, daß also in der Verliebtheit ein größeres Maß an narzißtischer Libido auf das Objekt überfließt … daß das Objekt dazu dient, ein eigenes, nicht erreichtes Ichideal zu ersetzen« (ebd., 124). Im Extrem kann das Folgendes bewirken: »Das Objekt hat sich an die Stelle des Ichideals gesetzt« (ebd., 125); oder noch extremer, »nämlich ob das Objekt an die Stelle des Ichs oder des Ichideals gesetzt wird« (ebd., 126). Oder beides?! Freud geht hier zu einem Vergleich der Prozesse, die in der Hypnose bzw. bei der Verliebtheit wirksam werden. Dies führt ihn zur Feststellung, dass – so wie in der Hypnose der Hynotiseur an die Stelle des Ichideals trete, bei der Massenbildung diese Rolle der Führer übernehme. Dies bringt ihn zur abschließenden Definition der Kräfte, die er für die Massenbildung als grundlegend erachtet: »Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben« (ebd., 128). Im Abschnitt X rekurriert Freud auf seine Überlegungen in Totem und Tabu: »Die menschlichen Massen zeigen uns wiederum das vertraute Bild des überstarken Einzelnen inmitten einer Schar von gleichen Genossen, das auch in unserer Vorstellung von der Urhorde enthalten ist… Die Masse erscheint uns also als ein Wiederaufleben der Urhorde. So wie der Urmensch in jedem Einzelnen virtuell erhalten ist, so kann sich aus einem beliebigen Menschenhaufen die Urhorde wieder herstellen … Wir müssen schließen, die Psychologie der Masse sei die älteste Menschenpsychologie« (ebd., 136f). Und weiter: »Der Führer der Masse ist noch immer der gefürchtete Urvater, die Masse will immer noch von unbeschränkter Gewalt beherrscht werden, sie ist in höchsten
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Maß autoritätssüchtig … Der Urvater ist das Massenideal, das an Stelle des Ichideals das Ich beherrscht« (ebd., 142). Nach Freuds Verständnis wirken also in der Psychodynamik der Masse zwei Vorgänge zusammen, eine »doppelte Art der Bindung – Identifizierung und Einsetzung des Objekts an die Stelle des Ichideals« (ebd., 145). Damit es dazu kommt, müsse man eine Regression annehmen, die dazu führt, dass die Differenzierung von Ich und Ichideal (damit meint Freud ja das, was er zwei Jahre später Überich nennen wird) sich zurückbildet und verweist auf kulturelle Gepflogenheiten, bei denen im Rahmen von Festen es zu einem »periodischen Durchbruch der Verbote« komme. Das Ichideal verkörpere ja »die Summe aller Einschränkungen, denen das Ich sich fügen soll, und darum müßte die Einziehung des Ideals ein großartiges Fest für das Ich sein, das dann wieder einmal mit sich selbst zufrieden sein dürfte« (ebd., 147). Durch diese Regression, diese Verschmelzung von Ich und Ich-Ideal stelle sich ein Gefühl von »Triumph« ein, das ansonsten drückende Minderwertigkeitsgefühl bzw. das darunter liegende Schuldgefühl seien vorübergehend suspendiert.
Diskussion Beginnen wir diese Diskussion mit Freuds Bezugnahme auf Le Bons Psychologie der Massen von 1895. Freuds Pointe dabei ist, dass er die Eigenschaften der Masse mit denen des Kindes, des Neurotikers und des Primitiven vergleicht. – Entscheidend für das Verständnis der inneren Dynamik der Masse seien aber die affektiven Vorgänge. Denn: Wie lassen sich die auffälligen Phänomene der Affektsteigerung und der gleichzeitigen Denkhemmung erklären? Die Autoren vor Freud beriefen sich auf die Suggestion, die vom Führer ausgehe. Freud behauptet demgegenüber, es handle sich um »Liebe«. Freilich benutzt er diesen Begriff in seinem analytischen Sinn – als Ausdruck der Libido. D.h. Liebe und Hass sind die entscheidenden Bindekräfte, wobei der Hass meist auf einen Außenfeind projiziert werde. Wichtig ist zudem, was Freud hier mit »Liebe« meint. Es geht ihm nämlich nicht um die »zielgehemmte« reife Objektliebe, sondern um eine primitivere Form von Liebe, einer narzisstischen Liebe, die den Namen »Identifizierung« trägt. Was aber will Freud mit dem Mechanismus der Identifizierung zeigen? Einerseits geht es ihm um die Funktion des Ich-Ideals, denn in der Masse komme es zu einer Verschiebung des Ichideals auf das Objekt. Mittels einer gelungenen Identifizierung hat sich das Ich um die Eigenschaften des Objekts bereichert; es hat sich dasselbe, nach dem Ausdruck Ferenczis »introjiziert«. In der Verliebtheit hingegen ist das Ich ›verarmt‹; es hat sich dem Objekt hingegeben, dasselbe an die Stelle seines wichtigsten Bestandteils gesetzt; das Objekt hat den Platz des Ichideals eingenommen. Das libidinöse Band zum Führer ist insofern ein regressives Band, als diese Wahl des Führers in der frühesten Liebe des Kindes zum Vater begründet liegt, im Bedürfnis des Kindes nach Autorität. Und diese Bindung ist eine primitivere als eine Objektbeziehung. Freud hat also eine gegenüber den reaktionären Zivilisationskritikern wie Le Bon oder Ortega y Gasset, aber auch gegenüber revolutionären Theoretikern wie Karl Marx neue Formel für die libidinöse Bindung einer Masse gefunden. Massenbildung und Zusammenhalt einer Masse sind der Effekt einer doppelten Bindung, in welcher jeder
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Einzelne einerseits an den Führer (dessen Ich und Ich-Ideal) und an die anderen Massenindividuen gebunden ist. Mit dieser Sicht wird ein wahrhaft beunruhigender Aspekt der Masse deutlich, der diese in die Nähe von Zuständen der Manie stellt. Wenn sich nämlich bei Massenvorgängen die Grenzen des Ichs tendenziell auflösen, so können die Folgen dramatisch sein: Die Auflösung der Ichgrenzen, diese Selbstaufhebung des Subjekts kann als Genießen erlebt werden. Karl Stockreiter nennt als Beispiel für eine solche dramatische Entwicklung den Exzess des nationalsozialistischen Terrors: »Man kann sagen, daß die aus dem Bewußtsein verbannte Ambivalenz des Opfers in der Folge der Traumata des 1. Weltkriegs ein solches Ausmaß erreicht hatte, daß jegliches institutionelle ›Auffangorgan‹ versagte. Dieser Einbruch des Unbewußten in die symbolische Ordnung der Kultur entspricht einer Regression in die erste Phase des Kulturbeginns mit ihrer psychotischen Struktur« (Stockreiter 2000, 31). – Auch Otto Kernberg denkt in seiner Replik auf Freuds Massenpsychologie in eine ähnliche Richtung und nimmt Bezug zu seinem Konzept des »malignen Narzissmus«. Indem Freud auf die mangelnde Differenzierung zwischen Ich und Ich-Ideal und die daraus resultierende primitive Identifizierung mit dem Führer verweist, beschreibt er im Grunde die narzisstische Befriedigung durch die Ausübung von Macht, die Freisetzung von Gefühlen der Allmacht und die Befreiung von moralischen Hemmungen: »Durch die libidinöse Befriedigung in Form des primitiven Narzißmus und die aggressive Befriedigung, weil die Größenund Allmachtsphantasien mit Aggression durchdrungen sind, kommen dem Mob Eigenschaften zu, die dem Syndrom des Patienten mit malignem Narzißmus entsprechen« (Kernberg 1992, 26).
Die Zukunft einer Illusion, 1927 Freuds Text Die Form der Darstellung ist die eines fiktiven Gesprächs. Es lässt sich leicht der Schweizer Briefpartner und Freund Oskar Pfister dahinter ausnehmen. Am Beginn steht Freuds Überzeugung, dass jede menschliche Kultur sich auf moralische Werte stützen muss und folglich vom Einzelnen ein hohes Maß an Triebverzicht fordert. Und dies führt zu einer grundsätzlichen Ambivalenz der Kultur gegenüber: »[...] weil jeder Einzelne virtuell ein Feind der Kultur ist … Man hat also mit der Tatsache zu rechnen, daß bei allen Menschen destruktive, also antisoziale und antikulturelle Tendenzen vorhanden sind und daß diese bei einer großen Zahl von Personen stark genug sind, um ihr Verhalten in der menschlichen Gesellschaft zu bestimmen« (Freud 1927b, 326f). Und dann erneuert Freud seine Kulturkritik von 1908, insofern ihm diese Forderungen des Triebverzichts überzogen erscheinen: »Es wird entscheidend, ob und inwieweit es gelingt, die Last der den Menschen auferlegten Triebopfer zu verringern, sie mit den notwendig verbleibenden zu versöhnen und dafür zu entschädigen« (ebd., 328). Interessant ist nun, wie Freud seine neuen Erkenntnisse aus Das Ich und das Es in seine Perspektive auf die Kulturentwicklung überträgt. Er sieht in der Menschheitsgeschichte einen zwar langsamen, aber doch einen Entwicklungsfortschritt, der dazu geführt hat, dass der äußere Zwang zunehmend verinnerlicht wurde: »Diese Erstarkung des Über-Ichs ist ein höchst wertvoller psychologischer Kulturbesitz. Die Personen, bei denen sie sich vollzogen hat, werden aus Kulturgegnern zu Kulturträgern. Je größer
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ihre Anzahl in einem Kulturkreis ist, desto gesicherter ist diese Kultur, desto eher kann sie der äußeren Zwangsmittel entbehren« (ebd., 332). Diese durch eine starkes Überich erreichte Identifizierung mit den Kulturforderungen stellt aber nicht nur einen Triebverzicht dar, sondern gewährt andererseits eine narzisstische Gratifikation: »Die narzißtische Befriedigung aus dem Kulturideal gehört auch zu jenen Mächten, die der Kulturfeindschaft innerhalb des Kulturkreises erfolgreich entgegenwirken« (ebd., 334). Dann kommt Freud zu dem ihm am bedeutsamsten erscheinenden Element des kulturellen Zusammenhalts, nämlich den »Illusionen«. Und er beginnt diesen Abschnitt mit der Frage: »Worin liegt der besondere Wert der religiösen Vorstellungen« (ebd., 335)? Dazu macht Freud einen Exkurs in die Frühgeschichte der Menschheit, wo die übermächtige Natur den oft hilflosen Menschen überfordert und geängstigt hat. Und als frühesten Beitrag der Religion oder ihrer Vorläufer erachtet er das Moment der »Vermenschlichung« dieser bedrohlichen Naturkräfte: »[...] wenn selbst der Tod nichts Spontanes ist, sondern die Gewalttat eines bösen Willens, wenn man überall in der Natur Wesen um sich hat, wie man sie aus der eigenen Gesellschaft kennt, dann atmet man auf, fühlt sich heimisch im Unheimlichen, kann seine sinnlose Angst psychisch bearbeiten« (ebd., 338). So haben schließlich die Götter die »dreifache Aufgabe, die Schrecken der Natur zu bannen, mit der Grausamkeit des Schicksals, besonders wie es sich im Tode zeigt, zu versöhnen und für die Leiden und Entbehrungen zu entschädigen, die dem Menschen durch das kulturelle Zusammenleben auferlegt werden« (ebd., 339). Und weiter: »So wird ein Schatz an Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen« (ebd., 340). Und diese »Vorstellungen« bezeichnet Freud als »Illusionen«. – Am Schluss dieses Abschnitts steht die weiterführende Frage: »… was sind diese Vorstellungen im Lichte der Psychologie, woher beziehen sie ihre Hochschätzung und um schüchtern fortzusetzen: was ist ihr wirklicher Wert« (ebd., 342)? Im folgenden Abschnitt bekommen wir zunächst folgende Antwort: »Es sind die Beziehungen der Hilflosigkeit des Kindes zu der sie fortsetzenden des Erwachsenen, so daß, wie zu erwarten stand, die psychoanalytische Motivierung der Religionsbildung der infantile Beitrag zu ihrer manifesten Motivierung wird« (ebd., 345). Aber in diesen Vatergott, der uns von dieser Hilflosigkeit befreien soll, wird nicht nur Macht und Stärke, sondern auch die kindliche Ambivalenz projiziert: Man fürchtet ihn und fühlt sich ihm gegenüber schuldig. Im folgenden Abschnitt zeigt Freud, dass die »Argumente« für den religiösen Glauben einer vernünftigen Überprüfung allesamt nicht standhalten. Zentral erscheint ihm das credo quia absurdum der Kirchenväter, das auf ein Denkverbot hinausläuft. – Hier erfolgt Freuds Definition dessen, was er unter »Illusionen« versteht: »Diese, die sich als Lehrsätze ausgeben, sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche« (ebd., 352). Und dann bringt er eine wichtige Differenzierung: Illusionen sind nicht dasselbe wie Irrtümer und nicht einmal notwendig Irrtümer. Trotzdem stellt Freud die Illusion in den Kontext von Wahnideen: »An der Wahnidee heben wir als wesentlich den Widerspruch gegen die Wirklichkeit hervor, die Illusion muß nicht notwendig falsch, d.h. unrealisierbar oder im Widerspruch mit der Realität sein« (ebd., 353). Aber einige der
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religiösen Lehrsätze erscheinen Freud so unwahrscheinlich, dass er sie doch in die Nähe von Wahnideen rückt: »sie sind sämtlich Illusionen, unbeweisbar … Einige von ihnen sind so unwahrscheinlich…, daß man sie – mit entsprechender Berücksichtigung der psychologischen Unterschiede – den Wahnideen vergleichen kann« (ebd., 354). Die nächste Frage, die Freud diskutiert, ist, ob nur die Religion auf Illusionen fußt – oder ob auch die säkulare Kultur, die »staatlichen Einrichtungen« gleichfalls auf solchen Illusionen ruhen. Freud stimmt dieser Annahme grundsätzlich zu, ohne sie näher auszuführen – und kommt dann zur Frage, was er mit der Publikation seiner Schrift bewirken wird. »Es taucht dann bei mir die Frage auf, ob die Veröffentlichung dieser Schrift nicht doch jemand Unheil bringen könnte. Zwar keiner Person, aber einer Sache, der Sache der Psychoanalyse… Jetzt sieht man, wird es heißen, wohin die Psychoanalyse führt. Die Maske ist gefallen; zur Leugnung von Gott und sittlichem Ideal, wie wir es ja immer vermutet haben« (ebd., 359). Aber Freud will dieser Gefahr trotzen und er begründet seinen Schritt mit seiner Überzeugung, dass die historische Funktion der Religion überholt sei. Sie sei prinzipiell »antiquiert« – und die Wissenschaft hat Besseres zu bieten und wird zur Emanzipation des freien Denkens mehr beitragen. Die Gefahr, dass die Menschen ohne die Illusionen der Religion jeden Halt verlieren würden und gesellschaftliche Anarchie ausbrechen könnte, verneint Freud: »Es ist richtig, daß man dann auf etwas verzichtet, aber man gewinnt vielleicht mehr und vermeidet eine große Gefahr« (ebd., 363). – Und zur Erläuterung: »Mit der beanspruchten Heiligkeit würde auch die Starrheit und Unwandelbarkeit dieser Gebote und Gesetze fallen. Die Menschen könnten verstehen, daß diese geschaffen sind, nicht so sehr um sie zu beherrschen, sie würden ein freundlicheres Verhältnis zu ihnen gewinnen, sich anstatt ihrer Abschaffung nur ihre Verbesserung zum Ziel setzen« (ebd., 365). Damit wäre also eine gewisse Versöhnung mit der Kultur zu erreichen. Freud tritt hier ganz als Aufklärer und Pädagoge auf: »Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muß endlich hinaus ins ›feindliche Leben‹. Man darf das ›die Erziehung zur Realität‹ heißen« (ebd., 373). Und ganz ähnlich wie Ludwig Feuerbach lautet seine optimistische Prognose: »Dadurch, daß er seine Erwartungen vom Jenseits abzieht und alle freigewordenen Kräfte auf das irdische Leben konzentriert, wird er wahrscheinlich erreichen können, daß das Leben für alle erträglich wird und die Kultur keinen mehr erdrückt« (ebd., 373f). Was wird dann an die Stelle der »Illusionen« der Religion treten? Eben ein rationalerer Zugang zur Welt, eine stärkere Orientierung an der Wissenschaft. Wird diese Orientierung an der Vernunft aber stark genug sein angesichts der grundsätzlichen Triebverfasstheit des Menschen? Dazu schreibt Freud vorsichtig optimistisch: »[...] die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat… Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf« (ebd., 377). Und so beschließt Freud diese polemische Kritik an der Religion fast trotzig: »Nein, unsere Wissenschaft ist keine Illusion. Eine Illusion aber wäre es zu glauben, daß wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht geben kann« (ebd., 380).
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Diskussion Oskar Pfister verfasste eine Antwortschrift auf Freuds Text unter dem Titel Illusion einer Zukunft. Diese zusammenfassend schrieb er am 24.11.1927 an Freud: »Ihr Religionsersatz ist im Wesentlichen der Aufklärungsgedanke des 18. Jahrhunderts in stolzer moderner Auffrischung. Ich muß gestehen, daß ich bei aller Freude an den Fortschritten von Wissenschaft und Technik an die Suffizienz und Tragfähigkeit dieser Lösung des Lebensproblems nicht glaube. Es ist sehr die Frage, ob alles in allem der wissenschaftliche Fortschritt die Menschen glücklicher und besser gemacht hat… Ihre Stellungnahme hat schon Nietzsche charakterisiert mit den Worten: ›Man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich daß es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht –, daß wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat‹« (Freud&Pfister 1980,123). Freuds Antwort vom 26.11.1927 fällt überraschend moderat aus: »Halten wir fest, daß die Ansichten meiner Schrift keinen Bestandteil des analytischen Lehrgebäudes bilden. Es ist meine persönliche Einstellung, die mit der vieler Nicht- und Voranalytiker zusammentrifft und gewiß von vielen braven Analytikern nicht geteilt wird…. Diese Aufklärung zu vertragen, muß man ihm zumuten; er muß es dem Analysanden überlassen, ob er sie nach der Aufklärung überwindet, in religiöser, oder anders sublimierter Weise sättigt« (ebd., 126). Aber am 25.1.1928 bekennt er sich doch wieder zu seinem »Kampf«, in dem die Psychonalyse eine entscheidende Rolle zu spielen habe, indem sie »den letzten Beitrag zur Kritik der religiösen Weltanschauung geleistet hat« (ebd., 136).6 In der Tat haben viele Interpreten diese Schrift Freuds als besonders polemisch empfunden. So etwa Herbert Will, der Freuds Text als »Kampfschrift der Partei der Eroberung der säkularen Option« charakterisiert (Will 2018, 27). Und er erinnert daran, dass Freud die religiöse Weltanschauung mehrfach als den »allein ernsthaften Feind« bezeichnet (Freud 1933a, 173). Und er bezweifelt (wie Pfister) Freuds »Neutralität« in diesem Streit zwischen säkularem Denken und Religion: »Er übernimmt einen Part in einem historischen Konflikt zwischen Religion und ihrer säkularen Kritik, präsentiert diesen Part jedoch als überhistorische Wahrheit« (Will 2014, 3).
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Worin dieser »letzte Beitrag« besteht, beschreibt Freud in seiner letzten Vorlesung der Neuen Folge mit dem Titel Über eine Weltanschauung: »Den letzten Beitrag zur Kritik der religiösen Weltanschauung hat die Psychoanalyse geleistet, indem sie auf den Ursprung der Religion aus der kindlichen Hilflosigkeit hinwies und ihre Inhalte aus den ins reife Leben fortgesetzten Wünschen und Bedürfnissen der Kinderzeit ableitete… Das zusammenfassende Urteil der Wissenschaft über die religiöse Weltanschauung lautet also: Während die einzelnen Religionen miteinander hadern, welche von ihnen im Besitz der Wahrheit sei, meinen wir, dass der Wahrheitsgehalt der Religion überhaupt vernachlässigt werden darf. Religion ist ein Versuch, die Sinneswelt, in die wir gestellt sind, mittels der Wunschwelt zu bewältigen… Aber sie kann es nicht leisten. Ihre Lehren tragen die Gepräge der Zeiten, in denen sie entstanden sind, der unwissenden Kinderzeiten der Menschheit. Ihre Tröstungen verdienen kein Vertrauen. Die Erfahrung lehrt uns: Die Welt ist keine Kinderstube. Die ethischen Forderungen, denen die Religion Nachdruck verleihen will, verlangen vielmehr eine andere Begründung, denn sie sind der menschlichen Gesellschaft unentbehrlich und es ist gefährlich, ihre Befolgung an die religiöse Gläubigkeit zu knüpfen« (Freud 1933a, 180f).
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Freud beschreibt die Funktion der Religion ähnlich wie den Animismus als einen Versuch, mit der Angst vor der Natur fertig zu werden, indem den Naturkräften menschliche Züge zugeschrieben werden, um damit eine wenn auch illusionäre Kontrolle über sie zu gewinnen. Aber – wie wir gelesen haben – setzt er auf eine Weiterentwicklung des Menschen Richtung Realismus und Wissenschaft. Insofern war er ein typischer Aufklärer, der auf die Entzauberung der Welt und die Ersetzung der Illusionen durch instrumentelles Wissen hoffte. Wenn der religiöse Mensch den Naturkräften väterliche Eigenschaften zuschreibt, so tut er das aus einem Motiv der »Vatersehnsucht« heraus, das gegen das Gewahrwerden eigener Ohnmacht auf den Schutz eines allmächtigen Vaters setzt. Und von diesem übermächtigen Vater gilt es sich zu emanzipieren. Jacques Lacan blieb übrigens skeptisch, was die Aussicht betrifft, dass die Psychoanalyse als Teil der Wissenschaft den Kampf gegen die Religion gewinnen kann. Eher müsse sie um ihr eigenes Überleben fürchten. In Der Triumph der Religion schreibt er: »Wenn die Psychoanalyse nicht über die Religion triumphieren wird, dann deshalb, weil die Religion nicht totzukriegen ist. Die Psychoanalyse wird nicht triumphieren, sie wird überleben oder nicht« (Lacan 2006, 69). Ein Aspekt in Freuds Schrift scheint uns noch wichtig. Wie in seinen anderen Texten zur Religion finden sich auch hier Überlegungen zu einer Zusammengehörigkeit von Religion und Wahn. Das Wesen der Religion sei mit der Analogie zur Zwangsneurose nicht hinreichend erkannt. Denn bringt die Religion »einerseits Zwangseinschränkungen wie nur eine individuelle Zwangsneurose, so enthält sie andererseits ein System von Wunscherfüllungen mit Verleugnung der Wirklichkeit, wie wir es isoliert bei einer Amentia, einer glückseligen halluzinatorischen Verworrenheit finden« (Freud 1927b, 367). Insofern gehört Religion ins Reich der Psychose, sei es der individuellen oder der Massenpsychose. So jedenfalls Freuds radikale Sicht. Ob diese Neigung zur Illusion durch eine »Diktatur der Vernunft« überwunden werden könne, müssen wir allerdings nach den Erfahrungen von Holocaust und anderen Massengenoziden in Frage stellen. Vielleicht ist das Illusionsbedürfnis doch ein wesentlicher Teil der menschlichen »Natur« – und die Annahme, Illusionen ließen sich elimieren, ihrerseits eine Illusion.
Das Unbehagen in der Kultur, 1930 Die Positionierungen Freuds Freud eröffnet diese Abhandlung mit einer Stellungnahme zu Romain Rollands Brief an ihn, in dem dieser ihm erklärt, Freud hätte die eigentliche Quelle der Religiosität nicht gewürdigt. Als diese erachtet Rolland ein spezielles Gefühl, eine »Empfindung der ›Ewigkeit‹«, was Freud als »ozeanisch« übersetzt, als »ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt« (Freud 1930, 422). Freud bezieht dieses Gefühl auf Befunde aus der Pathologie, auf, wie er sagt, »eine große Anzahl von Zuständen, in denen die Abgrenzung des Ichs gegen die Außenwelt unsicher wird« (ebd., 423). Dieses unsichere Ichgefühl des Erwachsenen stelle eine Regression dar auf einen frühkindlichen Zustand, in welchem diese Grenze von Ich und Außen noch nicht etabliert ist. Freuds weitere Überlegungen gehen nun dahin, ob dieses »ozeanische Gefühl« tatsächlich als Ursprung der Religiosität angesehen werden
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könne. Und er verneint dies: »Für die religiösen Bedürfnisse scheint mir die Ableitung von der infantilen Hilflosigkeit und der durch sie geweckten Vatersehnsucht unabweisbar, zumal da sich dies Gefühl nicht einfach aus dem kindlichen Leben fortsetzt, sondern durch die Angst vor der Übermacht des Schicksals dauernd erhalten wird« (ebd., 430). Damit verweist Freud das »ozeanische Gefühl« auf etwas Sekundäres, einen, wie er meint, »ersten Versuch einer religiösen Tröstung«, aber auch »wie eine Ableugnung der Gefahr, die das Ich als von der Außenwelt drohend erkennt« (ebd.). Den zweiten Abschnitt beginnt Freud mit einer Replik auf Die Zukunft einer Illusion. Er erinnert an die Verheißungen der Religion, dass es eine Vorsehung gebe, die das Leben der Menschen schütze und ihre Enttäuschungen in einem Jenseits wieder gut mache. Und diese Vorsehung werde mit der Vorstellung eines »großartig erhöhten Vaters« verknüpft (ebd., 431). Freud fragt sich, wie eine Vorstellung, die »so offenkundig infantil, so wirklichkeitsfremd« (ebd.) sei, sich so stabil im Bewusstsein »der großen Mehrheit der Sterblichen« verankern könne. Und seine Erklärung geht zunächst dahin, darauf zu verweisen, wie grundsätzlich enttäuschend und schwer doch das Leben sei – und dass es naheliegend sei, dass die Menschen nach »Linderungsmitteln« verlangen, nach »Ablenkungen« oder »Ersatzbefriedigungen« oder »Rauschstoffen«. Das menschliche Bestreben sei letztlich eines nach Glück, nach Lust. Aber: »Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten« (ebd., 434).7 So seien die Menschen unter dem Druck dieser zahlreichen Leidensoptionen gezwungen, ihren Glücksanspruch, ihr Lustprinzip »zum bescheideneren Realitätsprinzip« umzubilden. Und dies sei nur möglich durch Einschränkung der Triebe bzw. deren Sublimierung.8 Freud hebt hier die intellektuelle Tätigkeit und die Kunst als solche Möglichkeiten hervor; letztere ermöglicht es, Befriedigung aus »Illusionen«, aus Phantasien zu beziehen. Ein anderer Weg sei der Versuch, die Realität als den »einzigen Feind« zu bekämpfen, indem man versucht, der Welt den Rücken zu kehren. Freud denkt dabei an den Eremiten, aber auch den Paranoiker, verweist dann darauf, dass eine Neigung dazu in jedem von uns existiert: »Es wird aber behauptet, daß jeder von uns sich in irgendeinem Punkte ähnlich wie der Paranoiker benimmt, eine ihm unleidliche Seite der Welt durch eine Wunschbildung korrigiert und diesen Wahn in die Realität einträgt… Als solchen Massenwahn müssen wir auch die Religionen der Menschheit kennzeichnen« (ebd., 440). – Damit geht Freud über seine Einschätzung, Religion als universelle Zwangsneurose zu verstehen, hinaus, indem er ihren Kern als wahnhafte Umbildung von wesentlichen Teilen der Realität klassifiziert.
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Freuds Abhandlung sollte ursprünglich Das Unglück in der Kultur lauten, womit sein Pessimismus noch deutlicher zum Ausdruck kam. Als wesentlichen Grund dafür vermuten wir Freuds mittlerweile andere Einschätzung der Natur der Triebe, deren Drang nach Lust er durch den Todestrieb ja konterkariert sah. Wir möchten hier darauf hinweisen, dass etwa zur selben Zeit Norbert Elias zu einer ähnlichen Diagnose kam; verstand dieser doch den »Zivilisationsprozess« als einen Prozess wachsender Impulskontrolle, was in vielen Aspekten dem von Freud entwickelten Interpretationsmuster entspricht (vgl. Elias 1976).
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Im Anschluss diskutiert Freud eine weitere Option, nämlich »jene Richtung des Lebens, welche die Liebe zum Mittelpunkt nimmt, alle Befriedigung aus dem Lieben und Geliebtwerden erwartet« (ebd., 440f). Aber dieser Weg scheint ihm wenig aussichtsreich, sind doch die Menschen »niemals … ungeschützter gegen das Leiden, als wenn sie lieben« (ebd., 441). Aussichtsreicher scheint Freud der Weg der Kunst, der Ästhetisierung des Lebens: »Diese ästhetische Einstellung zum Lebensziel bietet wenig Schutz gegen drohende Leiden, vermag aber für vieles zu entschädigen« (ebd.). – Als letzte »Lebenstechnik« diskutiert Freud »die Flucht in die neurotische Krankheit« bzw. den »verzweifelten Auflehnungsversuch der Psychose«, um diese Wege dann zur Religion in Beziehung zu setzen. »Ihre Technik besteht darin, den Wert des Lebens herabzudrücken und das Bild der realen Welt wahnhaft zu entstellen, was die Einschüchterung der Intelligenz zur Voraussetzung hat. Um diesen Preis, durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn gelingt es der Religion, vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen« (ebd., 443f). Freud sagt hier wohl überdeutlich, was er von dieser »Ersparnis« hält: Es läuft auf dasselbe hinaus – nur auf einem gesellschaftlich akzeptierten Weg. In Abschnitt III kommt Freud auf die Frage der Quellen unseres Leidens zurück, und er nennt drei wesentliche: »[...]die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers und die Unzulänglichkeiten der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln« (ebd., 444). Die dritte Quelle scheint Freud besonders wichtig. Führe sie doch dazu, dass viele Menschen zur Einstellung gelangen, die Schuld am allgemeinen Elend der Kultur geben zu müssen. Daraus resultiere eine grundsätzliche »Kulturfeindlichkeit«.9 Freud fragt sich nun, wie es zu dieser Einstellung kommt. Und wieder sucht er eine Erklärung durch einen Bezug auf die Neurose: »Man fand, daß der Mensch neurotisch wird, weil er das Maß von Versagung nicht ertragen kann, das ihm die Gesellschaft im Dienste ihrer Ideale auferlegt« (ebd., 446). Und diese Versagungen erscheinen Freud in der gegenwärtigen Kultur besonders stark zu sein. Durch die Fortschritte der Technik ist der Mensch »eine Art Prothesengott« geworden (ebd., 451), aber seine Glücksmöglichkeiten sind darüber nicht wirklich größer geworden. Die »Triebopfer« sind größer, die Befriedigungsmöglichkeiten unsicher – und als Folge davon ist die Neigung zur »rohen Gewalt« jedenfalls nicht kleiner als in der Vergangenheit. Im folgenden Abschnitt kommt Freud zurück zur Frage des Ursprungs der menschlichen Kultur. Und er referiert seine Überlegungen aus Totem und Tabu. Durch den Mord am Urvater und den Zusammenschluss der Brüderhorde kam es zur ersten »Kultur« – der totemistischen Kultur mit der Kulturvorschrift der Exogamie. Die weitere Kulturentwicklung führte zur zunehmenden Einschränkung der Triebe auf die heterosexuelle genitale Liebe und dieser nur im Rahmen der Einehe. Diese Einschränkungen werden zur »Quelle schwerer Ungerechtigkeit« (ebd., 464). So erscheint Freud das Sexualleben des Kulturmenschen »doch schwer geschädigt«, was ihn zum prinzipiellen Zweifel bringt: »Manchmal glaubt man zu erkennen, es sei nicht allein der Druck der Kultur, sondern etwas am Wesen der Funktion selbst versage uns die volle Befriedigung und 9
Dieser Ausdruck lässt uns nochmals an Freuds Titel seiner Abhandlung denken: Das »Unbehagen« verstehen wir als abgemilderten Hinweis auf diese grundsätzliche »Kulturfeindschaft«.
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dränge uns auf andere Wege« (ebd., 465). Freud bleibt zweifelnd. Später ergänzt er diese Vermutung durch die Annahme, dass es die so genannte »Trägheit der Libido« sei, die für diese grundsätzliche Unbefriedigbarkeit verantwortlich sei (ebd., 467). Den nächsten Abschnitt eröffnet Freud mit der Feststellung, dass die Kultur noch weitere Opfer als die der Sexualbefriedigung verlange. Durch den Zusammenschluss zu größeren sozialen Einheiten sei es notwendig geworden, die Mitglieder einer Gemeinschaft auch libidinös stärker aneinander zu binden. Diese Identifizierungen seien primär durch »zielgehemmte Libido« zu erreichen, was zur Idealforderung führe: Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst; ein Anspruch, von dem Freud meint, er sei erst in jüngeren Zeiten aufgestellt worden. Wir lesen weiter, dass Freud der Auffassung ist, dass »der Fremde … nicht nur im allgemeinen nicht liebenswert« sei, »ich muß ehrlich bekennen, er hat mehr Anspruch auf meine Feindseligkeit, sogar auf meinen Haß« (ebd., 469). Dieses Liebesgebot gehe sogar noch weiter und laute dann »Liebe deine Feinde«, was Freud als Gipfel an Zumutung erscheint: »Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alldem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, … sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil an Aggressionsneigung rechnen darf … Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten« (ebd., 470f)? – Damit ist klar, was Freud oben mit den weiteren Opfern meinte. Es geht darum, dass die Kultur von den Menschen verlangt, diese ihre Aggressionsneigung, die er auf Basis seiner neuen Triebtheorie als eine primäre ansieht, zu zügeln. Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander ist die Kulturgesellschaft aber chronisch von innerer und äußerer Destruktion bedroht. Dann kommt Freud auf das »kommunistische Experiment« der noch jungen Sowjetunion zu sprechen. Das Versprechen der Kommunisten sei es, dass durch die Abschaffung des Privateigentums auch die Aggressionsneigung beseitigt werden könne. Ob dieses Ziel politisch oder ökonomisch zweckdienlich sei, lässt Freud offen. »Aber seine psychologische Voraussetzung vermag ich als haltlose Illusion zu erkennen« (ebd., 472f). So schreibt er etwas später, dass nach allem, was wir über die Dynamik der Geschichte wissen, es immer einen »Narzißmus der kleinen Differenzen« gebe, und dieser zeige sich sowohl bei den Christen, den Nationalsozialisten und den Kommunisten: »Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußerste Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge geworden … Es war auch kein unverständlicher Zufall, daß der Traum einer germanischen Weltherrschaft zu seiner Ergänzung den Antisemitismus aufrief, und man erkennt es als begreiflich, daß der Versuch, eine neue kommunistische Kultur in Rußland zu errichten, in der Verfolgung der Bourgeois seine psychologische Unterstützung findet« (ebd., 474). In diesem »Narzissmus« verberge sich also die grundsätzliche Destruktivität der Menschen – und ein Teil dieser Destruktion werde gesellschaftlich auf äußere »Feinde« projiziert und abgeleitet. Im Abschnitt VI kommt Freud auf seine letzte Triebtheorie zu sprechen. Im Rückblick fragt sich Freud: »[...]aber ich verstehe nicht mehr, daß wir die Ubiquität der nicht erotischen Aggression und Destruktion übersehen und versäumen konnten, ihr die gebührende Stellung in der Deutung des Lebens einzuräumen« (ebd., 479). Jetzt scheint
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es Freud ganz eindeutig, dass diese primär gedachte Aggression und Destruktion das »stärkste Hindernis« für die Kultur ist. Als Grundlage der Dynamik der Kulturentwicklung sieht Freud jetzt »den Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb« (ebd., 481). – Dies führt ihn zur Frage, welche Mittel die Kultur einsetzt, um diese Aggressionsneigung zumindest zu hemmen. »Etwas sehr Merkwürdiges, das wir nicht erraten hätten und das doch so nahe liegt. Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als ›Gewissen‹ gegen das Ich dieselbe Aggressionsbereitschaft ausübt« (ebd., 482). Das Ich reagiere aber auf diese Forderungen des Über-Ichs vor allem mit einem Schuldgefühl. Den Ursprung dieses Schuldgefühls vermutet Freud einmal mehr im Urvatermord, aber er gibt auch zu bedenken: »Es ist wirklich nicht entscheidend, ob man den Vater getötet oder sich der Tat enthalten hat, man muß sich in beiden Fällen schuldig finden, denn das Schuldgefühl ist der Ausdruck des Ambivalenzkonflikts, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktions- oder Todestrieb« (ebd., 492). Dieser Ambivalenzkonflikt wird also nicht mehr wie in Totem und Tabu auf die ödipalen Gefühle zurückgeführt, sondern auf den Grundkonflikt zwischen den antagonistischen Trieben. Und dieses Schuldgefühl ist für Freud nicht nur »das wichtigste Problem der Kulturentwicklung«, es spielt auch für die Gegenwart eine virulente Rolle: »[...] daß der Preis für den Kulturfortschritt in der Glückseinbuße durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird« (ebd., 494). Die Religionen hätten die Bedeutung des Schuldgefühls nie verkannt. Und sie treten mit dem Anspruch auf, die Menschheit davon zu erlösen. Der Preis ist allerdings ein hoher, nämlich die drückende Last der hohen Ideale, welche die Religion ihren Gläubigen auferlegt. Diese Ansprüche der Religion werden auch von der Kultur erhoben: »[...]daß das Kultur-Über-Ich ganz wie das des Einzelnen strenge Idealforderungen aufstellt, deren Nichtbefolgung durch ›Gewissensangst‹ gestraft wird« (ebd., 502). Die Ethik einer Gesellschaft ist so »als ein therapeutischer Versuch aufzufassen, als Bemühung, durch ein Gebot des Über-Ichs zu erreichen, was bisher durch sonstige Kulturarbeit nicht zu erreichen war« (ebd., 503). Diese Ethiken überfordern aber die »seelische Konstitution des Menschen«, ja »Das Gebot ist undurchführbar… Die sogenannte natürliche Ethik hat hier nichts zu bieten außer der narzißtischen Befriedigung, sich für besser halten zu dürfen, als die anderen sind« (ebd., 504). Und diese grundsätzliche Überforderung bringt Freud zur Annahme, »daß manche Kulturen, – oder Kulturepochen, – möglicherweise die ganze Menschheit – unter dem Einfluß der Kulturstrebungen ›neurotisch‹ geworden sind« (ebd.). Und so kommt Freud abschließend zu seiner »Schicksalsfrage«: »Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressionsund Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung« (ebd., 506). – Dies ist eine zwar düstere, aber für uns Nachfahren der Grauen und Schrecken des Zwei-
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ten Weltkriegs mit seinem massenhaften Genozid durchaus prophetisch anmutende Schlussbemerkung.
Debatte einiger wesentlicher Gesichtspunkte Kommen wir nochmals auf den Titel von Freuds Studie zurück. Der Ausdruck des »Unbehagens« erscheint uns untertrieben, denn Freud ergründet deutlich mehr als ein Unbehagen in und an der Kultur, nämlich die gerade in der mittlerweile technisch so weit entwickelten Kultur sich zuspitzende Möglichkeit eines Rückfalls in die Barbarei. Freuds Analyse zielt wiederum auf die affektiven Grundlagen des Kulturgeschehens. Im Zentrum steht seine These, dass die Kulturentwicklung unausweichlich mit einer Zunahme des (unbewussten) Schuldgefühls verbunden ist. Wobei in dieser Schrift, anders als in den vorausgehenden, der strukturelle Zusammenhang von kulturell bedingtem Triebverzicht, Triebmischung und -entbindung aus der neuen Metapsychologie abgeleitet wird. Die Tatsache der primären Destruktivität – Stichwort primäre Aggression und Todestrieb – begründet die kulturpessimistische Tönung des Textes. Die Schuldproblematik ist also das Kardinalproblem jeder Kultur. Die Neigung zu dieser Schuld wird jetzt aus dem Antagonismus von Eros und Todestrieb abgeleitet und sei daher letztlich verantwortlich für die »verhängnisvolle Unvermeidlichkeit des Schuldgefühls« (ebd., 493). Durch diese gegenüber 1912 bzw. 1921 vertiefte und neue Begründung wird die Hypothese des Urvatermordes sekundär. So schreibt Freud genau an dieser Stelle: »Es ist wirklich nicht entscheidend, ob man den Vater getötet oder sich der Tat enthalten hat, man muß sich in beiden Fällen ›schuldig‹ fühlen« (ebd.). Das Entscheidende ist jetzt die Tatsache eines destruktiven und grausamen Über-Ichs. So schreibt Freud in Das Ich und das Es: »Was nun im Über-Ich herrscht, ist wie eine Reinkultur des Todestriebes« (Freud 1923b, 283). Freuds metapsychologische Erklärung für die unverhältnismäßige Strenge des Über-Ichs ist der Vorgang der Triebentmischung, der die Entbindung tödlicher Aggression zur Folge hat. So liest sich Freuds Genese der Kultur jetzt so: Der Kulturmensch hat gegen ein »drohendes äußeres Unglück – Liebesverlust und Strafe von Seiten der äußeren Autorität – ... ein andauerndes inneres Unglück, die Spannung des Schuldbewußtseins, eingetauscht« (Freud 1930, 487). Dieser Vorgang besiegelt erst einmal sein »Triebschicksal«, wodurch der Mensch der Spätkultur für seinen kulturell-technischen Fortschritt mit einer deutlichen Einbuße an Glück zahlen muss. Als Folge dieser dramatischen Gegebenheiten ist es Freuds persistierende Frage, wie es der Kultur gelingen kann, diese destruktiven Triebe ausreichend zu hemmen. Das wirksamste Verfahren dazu ist seines Erachtens die Verinnerlichung der Aggression, was zur Etablierung dieses strengen Über-Ichs führt, was aber ein gesteigertes Schuldund Strafbedürfnis zur Folge hat. Aber – wie wir gelesen haben – ist dieses Verfahren zutiefst problematisch, indem es einen strukturell zu nennenden Leidensdruck erzeugt, der dazu führen kann, dass sich die latente zu einer offenen »Kulturfeindschaft« auswächst. – Und dieses Dilemma wird Freud noch im letzten Jahrzehnt seines Lebens intensiv beschäftigen. Machen wir an dieser Stelle einen kleinen Exkurs, nämlich zu Freuds Verhältnis zur Philosophie. Meist spricht er mit geringer Wertschätzung darüber. Er kritisiert an
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ihr, dass sie sich zu weit von Beobachtung und Empirie entferne, zu Dogmatismus und Globalinterpretation, Spekulation und einem geschlossenen Denkgebäude neige. So schreibt er etwa am Ende von Hemmung, Symptom und Angst: »Ich bin überhaupt nicht für die Fabrikation von Weltanschauungen. Die überlasse man den Philosophen ... Wir wissen genau, wie wenig Licht die Wissenschaft bisher über die Rätsel der Welt verbreiten konnte; alles Poltern der Philosophen kann daran nichts ändern« (Freud 1926a, 123). Andererseits erkannte und anerkannte Freud, wie viele substantielle Gemeinsamkeiten seine Auffassungen mit denen der Dichter und bestimmter Philosophen wie Platon, Schopenhauer oder Nietzsche hatten. Die Dichter nennt er gar »wertvolle Bundesgenossen«. Und in seiner Selbstdarstellung anerkennt Freud die »weitgehenden Übereinstimmungen der Psychoanalyse mit der Philosophie Schopenhauers« (Freud 1925d, 86). Und als er sich 1920 zu seiner dualistischen Trieblehre durchringt, erkennt er wiederum Schopenhauer als Vordenker und sieht sich »unversehens in den Hafen der Philosophie Schopenhauers eingelaufen« (Freud 1920b, 53). – Freuds kulturpessimistische Überlegungen in Das Unbehagen in der Kultur lassen uns aber an auffällige Ähnlichkeiten zum Denkgebäude eines anderen Philosophen denken, nämlich Thomas Hobbes. Elmar Waibl, der sich intensiv mit dieser Ähnlichkeit beschäftigt hat, geht nicht davon aus, dass Freud Hobbes direkt studiert hat, sondern dass Freud ein auf Hobbes zurückgehendes Denkmuster aufgegriffen hat. Er beschreibt die Parallelen zwischen Hobbes und Freud so: »[...] die Doktrin des Egoismus, der konflikt- und aggressionstheoretische Ansatz, die naturalistische Anthropologie, eine bestimmte pessimistische Geisteshaltung sind Konstruktionselemente eines Denkstils, der sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem allgemeinen wissenschaftlichen Sprachrahmen ausgebildet hat« (Waibl 1980, 19). Zu diesem Denkstil gehörten – so Waibl – die Vorstellung des individuellen Interesses, des Tausches und der Nutzenkalkulation. – Und er weist darauf hin, dass beide Denker durchaus vergleichbare historisch-politische Erfahrungen machten: Hobbes war Zeitgenosse des englischen Bürgerkriegs im 17. Jahrhundert, Freud mit den Schrecken des 1. Weltkrieges konfrontiert. »Die pessimistische Einschätzung des Menschen in welcher Freud mit Hobbes konveniert, gründet sich auf das … Theorem von der ursprünglichen, nicht als Reaktion auf äußere Umstände zurückzuführenden menschlichen Bösartigkeit und Aggressivität« (ebd., 39). Freud greift an dieser Stelle seiner Abhandlung auf das bekannte Hobbes’sche Schlagwort von der Wolfsnatur des Menschen zurück (»Homo homini lupus«). Um diese grundsätzliche »Bösartigkeit« zu bannen, bedarf es starker Gegenkräfte. In der Gesellschaftslehre von Hobbes sind diese verkörpert im absoluten Staat, bei Freud gibt es demgegenüber, wie wir gelesen haben, einen Entwicklungsgedanken: War in der Frühzeit des Menschen die Sanktionsgewalt außen, so ist sie über die weitere psychische Entwicklung zu einer inneren Instanz in Form des Über-Ich geworden. Aber die innere Verfasstheit dieses Über-Ichs macht es problematisch, sodass Freud nach Alternativen Ausschau hält. Eine Alternative sieht Freud in der Triebsublimierung, vor allem durch Arbeit: »Keine andere Technik der Lebensführung bindet den Einzelnen so fest an die Realität als die Betonung der Arbeit, die ihn wenigstens in ein Stück der Realität, in die menschliche Gesellschaft sicher einfügt« (Freud 1930, 438, Fn.1). Eine andere Alternative beschreibt Freud dann in seiner Vorlesung Über eine Weltanschauung. Als »beste Zukunftshoffnung« setzt er dort auf die Kraft des Intellekts, welche »mit der Zeit die Diktatur im mensch-
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lichen Seelenleben erringen wird« (Freud 1933a, 185). Denn »der gemeinsame Zwang einer solchen Herrschaft der Vernunft wird sich als das stärkste einigende Band unter den Menschen erweisen« (ebd.). Und an anderer Stelle spricht er gar von der allmählichen Durchsetzung des »Gottes Logos« (Freud 1927b, 378). – Diese letzte Perspektive stellt auch einen wesentlichen Argumentationsstrang in Freuds Korrespondenz mit Albert Einstein dar, auf die wir jetzt zu sprechen kommen.
Warum Krieg?, 1933 Albert Einstein lädt mit seinem Brief vom 30.7.1932 Freud ein, zu folgender Frage Stellung zu nehmen: »Gibt es einen Weg, die Menschen vom Verhängnis des Krieges zu befreien?« Und eine weitere Frage in diesem Brief lautet: »Wie ist es möglich, daß sich die Masse … bis zur Raserei und Selbstaufopferung entflammen läßt? … Gibt es eine Möglichkeit, die psychische Entwicklung der Menschen so zu leiten, daß sie den Psychosen des Hasses und des Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden« (Einstein in Freud 1933b, 12)? Freud antwortet im September 1932. Der Briefwechsel erschien Anfang 1933, also im historischen Kontext von Weltwirtschaftskrise und der Machtergreifung Hitlers in Deutschland zugleich in deutscher, englischer und französischer Sprache. Freuds erste These bezieht sich auf das Verhältnis von Recht und Macht. »Recht und Gewalt sind uns heute Gegensätze. Es ist leicht zu zeigen, daß sich das eine aus dem anderen entwickelt hat… Das ist also der ursprüngliche Zustand, die Herrschaft der größeren Macht, der rohen oder intellektuell gestützten Gewalt« (ebd., 14f). Und diese Macht kann nur verändert werden »durch die Vereinigung der Schwachen«. Und deren Stabilität hängt vom Ausmaß der wechselseitigen Identifizierung ab: »In der Anerkennung einer solchen Interessengemeinschaft stellen sich unter den Mitgliedern einer geeinigten Menschengruppe Gefühlsbindungen her, Gemeinschaftsgefühle, in denen ihre eigentliche Stärke beruht« (ebd., 16). Das Problem dieser »Interessensgemeinschaften« ist allerdings, dass sie ihrerseits immer aus Ungleichen bestehen, was dazu führt, dass sich eine Gesellschaft herausbildet, in welcher Herrschende Unterworfenen gegenüberstehen. Und daraus resultieren zwei Dynamiken: Herrschende versuchen, ihre Macht weiter auszubauen, Unterworfene versuchen, durch Auflehnung und Bürgerkrieg eine neue, für sie gerechtere Rechtsordnung herzustellen. Interessenskonflikte wurden und werden auch heute – da ist sich Freud sicher – durch Gewalt entschieden. – Aber es gibt, so Freud, noch eine »andere Quelle der Rechtsänderung, die sich nur in friedlicher Weise äußert, das ist die kulturelle Wandlung der Mitglieder des Gemeinwesens« (ebd., 17). In der Gegenwart hat diese kulturelle Entwicklung zur Einrichtung des Völkerbundes geführt, d.h. einer Einrichtung, der zugestanden wird, als übergeordnete Instanz alle Interessenskonflikte friedlich auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Aber diese Institution beruht vorläufig nicht auf Macht, sondern verfügt nur über die Möglichkeit des Appells an »bestimmte ideelle Einstellungen« (ebd., 19). Der aktuell vorherrschende Nationalismus steht – so Freud – dieser Entwicklung allerdings entgegen. Ohne reales Gewaltmonopol – so scheint Freud zu denken – zerfalle jede politische Gemeinschaft früher oder später in
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Partialinteressen – und das bedeute letztlich Krieg. Der Platz des Urvaters kann also nicht leer bleiben, er müsse mehr als nur symbolisch besetzt sein. Und zur Frage Einsteins, warum es so leicht sei, die Masse der Menschen für den Krieg zu begeistern, führt Freud einen kleinen Exkurs in seine Trieblehre von Eros und Thanatos und seine Konzeption von der Triebmischung. »Der Todestrieb wird zum Destruktionstrieb, indem er mit Hilfe besonderer Organe nach außen, gegen die Objekte, gewendet wird. Das Lebewesen bewahrt sozusagen sein eigenes Leben dadurch, daß es fremdes zerstört« (ebd., 22). Die »Aggressionsneigung« gehöre also zum Wesen des Menschen, es gehe darum, diese Neigung »soweit abzulenken, daß sie nicht ihren Ausdruck im Kriege finden muß« (ebd., 23). Dies könne nur gelingen durch eine Stärkung der Gefühlsbindungen unter den Menschen, andererseits durch die Entwicklung der Fähigkeit möglichst vieler Menschen, ihr »Triebleben der Diktatur der Vernunft« zu unterwerfen. Aber Freud schränkt rasch ein: »Aber das ist höchstwahrscheinlich eine utopische Hoffnung« (ebd., 24).10 Hier kommt Freud kurz auf die Utopie des Bolschewismus zu sprechen: »Auch die Bolschewisten hoffen, daß sie die menschliche Aggression zum Verschwinden bringen können dadurch, daß sie die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse verbürgen und sonst Gleichheit unter den Teilnehmern an der Gemeinschaft herstellen. Ich halte das für eine Illusion« (ebd., 23). Die Aggressionsneigung des Menschen könne man überhaupt nicht beseitigen, man könne nur versuchen, diese so weit in andere Bahnen zu lenken, dass es nicht immer wieder zum Krieg kommen müsse. In der Folge greift Freud auf seine Überlegungen aus Das Unbehagen in der Kultur zurück, wenn er bezüglich der Kulturentwicklung schreibt, dass es »zu einer fortschreitenden Verschiebung des Triebziels und Einschränkung der Triebregungen« komme. »Von den psychologischen Charakteren der Kultur scheinen zwei die wichtigsten: die Erstarkung des Intellekts, der das Triebleben zu beherrschen beginnt, und die Verinnerlichung der Aggressionsneigung mit all ihren vorteilhaften und gefährlichen Folgen« (ebd., 26). Und so drückt Freud am Ende die ihm vielleicht doch nicht ganz utopisch erscheinende Hoffnung aus, dass der Einfluß dieser beiden Momente, der kulturellen Einstellung und der berechtigten Angst vor den Wirkungen eines künftigen Krieges mit noch furchtbareren Waffen, dem Krieg in absehbarer Zeit ein Ende setzen wird.
Der Mann Moses und die monotheistische Religion, 1939 Freuds Text – sein psychoanalytisches Testament Machen wir uns zunächst den historischen Kontext dieses Buches bewusst. Noch 1930 hatte Freud den Goethepreis der Stadt Frankfurt a.M. erhalten. Ende Mai 1933 wurden seine Bücher an deutschen Universitäten verbrannt. Und im selben Monat verließ
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Wir vermuten, es ist der Eindruck der aktuellen politischen Lage, der Freud zu einem radikaleren Ton bringt, wenn er das Überleben der Kultur von einer »Diktatur der Vernunft« abhängig macht. Manche Interpreten haben übrigens Freuds Diktum am Ende seiner XXI. Vorlesung »Wo Es war, soll Ich werden« (Freud 1933a, 86) in ähnlicher Weise gelesen, als denke Freud, man könne eine »Heilung« der kranken Kultur nur über den Weg einer Stärkung des »kulturellen Ichs«, der sozialen und politischen »Vernunft« erreichen.
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sein wichtiger Kollege Max Eitingon, der Gründer und Direktor des Berliner Psychoanalytischen Instituts, Deutschland Richtung Palästina. Auch die Liquidation der Psychoanalyse in Österreich erfolgte nach dem »Anschluss« 1938 rasch und gründlich. So war Freud gezwungen, in London Zuflucht zu suchen. Er verglich diesen Verlust seiner Heimat Wien mit der Zerstörung Jerusalems. Zu Freuds Motiven, dieses Buch zu verfassen: Der Ägyptologe Jan Assmann erinnert an Freuds damalige persönliche Lage: »Diese Entstehungsgeschichte ist schon an sich erstaunlich. Freud, in hohem Alter und schwer krebsleidend, wußte sehr wohl, daß dies sein letztes Buch sein würde« (Assmann 1998, 216). – Deutlich werden Freuds motivationale Überlegungen, die alles andere als einfach gelagert sind, in seinen Briefen an Arnold Zweig, mit dem ihn in diesen Jahren eine intensive Freundschaft verbindet. So schreibt er am 30.9.1934 an diesen: »Der Ausgangspunkt meiner Arbeit ist Ihnen vertraut … Angesichts der neuen Verfolgungen fragt man sich wieder, wie der Jude geworden ist und warum er sich diesen unsterblichen Haß zugezogen hat. Ich hatte bald die Formel heraus. Moses hat die Juden geschaffen, und meine Arbeit bekam den Titel: Der Mann Moses, ein historischer Roman« (Freud&Zweig 1968, 102). Dieser Ausdruck »historischer Roman« macht uns stutzig. Wollte Freud jetzt unter die Romanschriftsteller gehen? Ilse Grubrich-Simitis verweist diesbezüglich auf eine interessante Spur: 1933 veröffentlichte Thomas Mann Die Geschichten Jakobs als ersten Teil seiner Josephstrilogie. »Manches spricht dafür, daß Freud sich von Manns Roman hat dazu inspirieren lassen, selbst einen Befreiungsausflug ins Reich der Phantasie zu unternehmen und in entlegenen Epochen, fernen Gefilden imaginative Erquickung zu suchen« (Grubrich-Simitis 1993, 246). Die Entstehung dieses Buches ist jedenfalls eine komplizierte und vollzieht sich in Schüben. 1934 schreibt Freud das als Handschrift erhalten gebliebene, bislang unpublizierte Manuskript »Der Mann Moses. Ein historischer Roman«. Der nächste Anlauf besteht in der schrittweisen Herausgabe der beiden Aufsätze Moses, ein Ägypter zu Beginn des Jahres 1937 und Wenn Moses ein Ägypter war am Ende desselben Jahres in der Zeitschrift Imago. Damit hat es Freud eigentlich bewenden lassen wollen. Doch schließlich sind in einem weiteren Schritt die beiden Aufsätze als zwei von drei Abhandlungen in das 1939 in Amsterdam kurz vor Freuds Tod publizierte Buch eingegangen. – Ein Teil der dritten Abhandlung, das Kapitel Der Fortschritt der Geistigkeit, wurde am 2.8.1938 im Auftrag des Vaters von Anna Freud auf dem Pariser Internationalen Psychoanalytischen Kongress verlesen. Und was ist aus dem Roman-Projekt geworden? Grubrich-Simitis vermutet, dass Freud zur Einsicht kam, doch kein Dichter zu sein. Denn von seiner Endfassung spricht er nicht mehr als Roman, sondern als eine »kleine Abhandlung«, eine »Anwendung der Psychoanalyse«. Aber wir werden noch sehen, was hinter diesem Gesinnungswandel alles steckt. Freud eröffnet sein erstes Kapitel, das den Titel Moses ein Ägypter trägt, mit einer Rechtfertigung: »Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volke angehört« (Freud 1939, 103). Aber er verweist auf seine Verpflichtung gegenüber der »Wahrheit«. – Und er beginnt mit der »Vorfrage«, ob Moses »eine historische Persönlichkeit oder eine Schöpfung der Sage ist« (ebd.); er ver-
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weist auf die Mehrheit der Historiker, die sich dafür ausgesprochen haben, Moses doch als historische Person zu sehen. Als einen ersten Beleg für seine Annahme, dass Moses ein Ägypter war, bringt Freud den Hinweis, dass sein Name ägyptischen Ursprungs sein muss und »das Kind« bedeutet.11 Anschließend beruft sich Freud auf Otto Ranks Buch Der Mythus von der Geburt des Helden von 1909, in dem Rank den Nachweis führt, dass bei zahlreichen Völkern die Geburts- und Herkunftsgeschichten ihrer Helden mit phantastischen Zügen ausgestattet werden. Vor allem die Abstammungsgeschichte scheint Freud von Interesse. So wird dem Vater des Kindes häufig schon vor dessen Geburt eine warnende Vorankündigung gemacht, die diesen veranlasst, das Kind aussetzen zu lassen. Dieses wächst dann bei »geringen Leuten« auf, wächst heran und rächt sich schließlich am Vater, wird schließlich anerkannt und gelangt zu »Größe und Ruhm«. Das wirklich Wichtige an diesen Heldenmythen ist für Freud der darin enthaltene »Familienroman«, der ihn an die ambivalente Vaterbeziehung des Sohnes erinnert: »Die ersten Kinderjahre werden von einer großartigen Überschätzung des Vaters beherrscht … während später unter dem Einfluß der Rivalität und realer Enttäuschung die Ablösung von den Eltern und die kritische Einstellung gegen den Vater einsetzt. Die beiden Familien des Mythus, die vornehme wie die niedrige, sind demnach Spiegelungen der eigenen Familie, wie sie dem Kind in aufeinander folgenden Lebenszeiten erscheinen« (ebd., 109). Die Geburtssage von Moses weicht nun von dieser Erzählung in einem wichtigen Punkt ab. Die erste Familie, sonst die vornehme, ist eine bescheidene – er ist das Kind jüdischer Leviten; und er wächst im ägyptischen Königshaus auf. Freuds Schlussfolgerung ist, dass in diesem Fall die erste Familie eine erfundene ist, die zweite die wirkliche: »… so erkennen wir mit einem Male klar: Moses ist ein – wahrscheinlich vornehmer – Ägypter, der durch die Sage zum Juden gemacht werden soll« (ebd., 112). Die Besonderheit der Mosesgeschichte ist demnach, dass hier ein Held »von seiner Höhe herabsteigt, sich herabließ zu den Kindern Israels« (ebd.). – Soweit dieser erste Abschnitt, der vor allem die Frage noch ganz offenhält, was Freud mit dieser Beweisführung einer ägyptischen Herkunft des jüdischen Heros beabsichtigt. Kommen wir zur zweiten Abhandlung mit dem neugierig machenden Titel Wenn Moses ein Ägypter war… Freuds erste Frage ist: Was sollte einen vornehmen Ägypter dazu bewegen, »sich an die Spitze eines Haufens von eingewanderten, kulturell rückständigen Fremdlingen zu stellen und mit ihnen das Land zu verlassen« (ebd., 115)? Und er betont, dass Moses nicht nur der politische Führer der Juden war, sondern auch ihr Gesetzgeber, Erzieher – und dass er ihnen eine neue Religion gab. Wie aber kann man sich dies vorstellen? Freud eröffnet diesen Argumentationsgang mit dem Hinweis, dass im 14. Jahrhundert v. Chr. in Ägypten der Pharao Echnathon eine neue Religion, einen strengen Monotheismus durchsetzen wollte. Nach seinem Tod wurde diese wieder rückgängig gemacht und es folgte eine lange Phase politischer Unruhe. Wichtig an dieser neuen Religion ist Freud, dass sie alles Mythische und Magische ausschloss. – Und jetzt folgt Freuds nächste Schussfolgerung: »Wenn Moses ein Ägypter war und wenn er den Juden seine eigene Religion übermittelte, so war es die des Ikhnaton, die Atonreligion« (ebd., 11
Jan Assmann bestätigt diese etymologische Herleitung vom heutigen Stand der Ägyptologie.
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123). Und er führt in der Folge aus, wie stark und eindeutig die Parallelen zwischen dieser Atonreligion und der jüdischen mosaischen Religion sind.12 Als nächstes kommt Freud auf die für die Juden zentrale Tradition der Beschneidung zu sprechen: »Es bleibt bestehen, daß es auf die Frage, woher die Sitte der Beschneidung zu den Juden kam, nur eine Antwort gibt: aus Ägypten« (ebd.). Diese Sitte vermittelte den Juden den anderen Völkern gegenüber in der Folge ein Gefühl der Überlegenheit und Reinheit. Und im Folgenden wird Freud diese Tradition als einen wesentlichen Grund für die über Jahrtausende stabil gebliebene jüdische Identität unterstreichen. In der weiteren Argumentation verwendet Freud für seine Darlegung immer wieder den Ausdruck Konstruktion (vgl. ebd., 130). Und das sollte uns zu denken geben. Hat er doch 2 Jahre vorher diesen wichtigen Text Konstruktionen in der Analyse verfasst – und offenbar benützt er jetzt das dort für die klinische Arbeit eingeführte Konzept, um seine Art der historischen Rekonstruktion vom üblichen methodischen Zugang der Historiker abzugrenzen. Als Konstruktion bezeichnet Freud dort eine Aussage des Analytikers, die zum Ziel hat, aus dem ihm zuvor mitgeteilten Material des Analysanten eine Hypothese zu generieren, die den Widerstand überwinden und neues Material in die Analyse bringen soll. So könne ein Stück »historischer Wahrheit« (Freud 1937a, 56) ans Licht gebracht werden, das zuvor verdrängt und unbewusst war. Freud beschreibt in der Folge sein methodisches Vorgehen so: »Der uns vorliegende biblische Bericht enthält wertvolle, ja unschätzbare historische Angaben, die aber durch den Einfluß mächtiger Tendenzen entstellt und mit den Produktionen dichterischer Erfindung ausgeschmückt worden sind« (Freud 1939, 142). Und diese Entstellungen gilt es aufzudecken, um zur historischen Wahrheit« – in diesem Fall der jüdischen Religion und ihrer Genese – zu kommen. – Dieser methodische Zugang über die Analyse von Entstellungen erscheint uns zentral. Freud findet eine erhellende Metaphorik: »Es ist bei der Entstellung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung ihrer Spuren. Man möchte dem Worte ›Entstellung‹ den Doppelsinn verleihen, auf den es Anspruch hat, obwohl es heute keinen Gebrauch davon macht. Es sollte nicht nur bedeuten: in seiner Erscheinung verändern, sondern auch: an eine andere Stelle bringen, anderswohin verschieben. Somit dürfen wir in vielen Fällen von Textentstellung darauf rechnen, das Unterdrückte und Verleugnete doch irgendwo versteckt zu finden, wenn auch abgeändert und aus dem Zusammenhang gerissen. Es wird nur nicht immer leicht sein, es zu erkennen« (ebd., 144). Das also ist Freuds »analytische« Methode, die sich auch bei der Re-Konstruktion der mosaischen Religion als fruchtbringend erweisen soll. So liest Freud als Analytiker das »Material« der Moses-Sage, wie sie in der Bibel erzählt wird. Er beruft sich zunächst auf den Ägyptologen Eduard Meyer, der zum Ergebnis kam, dass die Juden nicht in Ägypten und auch nicht am Berg Sinai, sondern erst
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Jan Assmann würdigt diese Verknüpfung von Moses mit der religiösen Revolution des Echnathon, wenn er schreibt: »Freud hatte zwar Echnaton nicht entdeckt; dieses Verdienst gebührt den Ägyptologen des 19. Jahrhunderts. Aber er hatte die ausschlaggebende Bedeutung dieses Mannes im Kontext jener Debatte entdeckt … Die Entdeckung Echnatons und seiner religiösen Revolution ist eine Sensation in sich selbst« (Assmann 1998, 217f).
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später von den Midianitern deren Jahwe-Gott übernahmen. Und der Vermittler dieser Religion war ein Moses – und Freud nimmt an, dies muss ein zweiter Moses gewesen sein. »Unser ägyptischer Moses ist vom midianitischen Moses vielleicht nicht weniger verschieden als der universelle Gott Aton vom dem auf dem Götterberg hausenden Dämon Jahve« (ebd., 135). – Wie löst Freud nun diese Komplikation? Er beruft sich auf den Religionsforscher Eduard Sellin, der aus der Schrift des Propheten Hosea die Annahme ableitete, dass der Religionsstifter Moses von seinem eigenen Volk erschlagen wurde. Und in der Folge vereinigte sich der aus Ägypten zurückgekehrte Stamm mit anderen in Kanaan lebenden Stämmen und übernahm deren Jahve-Religion. Im Laufe der Zeit gewannen allerdings die Leviten, die Freud als die »Moses-Leute« bezeichnet, immer mehr Einfluss und letztlich wurde aus dem Vulkangott Jahve der mosaische Gott und die Prinzipien der ursprünglichen Moses-Religion setzten sich schließlich durch. Nach Freuds Konstruktion vergingen ca. 800 Jahre zwischen dem Auszug aus Ägypten und der Etablierung der endgültigen Jahve-Religion. Zwar wird der Abfall des Volkes von der neuen Religion im Text der Bibel erzählt (als die Episode vom Goldenen Kalb), verdrängt aber blieb der Mord an Moses. Aber – und das ist ein ganz essentieller Teil von Freuds Konstruktion – das Verdrängte verlor (gerade weil es verdrängt wurde, wie wir noch lesen werden) seine Wirkung nicht: »Es blieb die Tradition davon, und ihr Einfluß erreichte, allerdings erst allmählich im Laufe der Jahrhunderte, was Moses selbst versagt geblieben war« (ebd., 152). – Dieses Konzept der Tradition wird uns noch beschäftigen, ist es doch Freuds wesentliche Innovation, um zu erklären, wie jenseits einer schriftlichen Weitergabe sich verdrängte Erlebnisse und Erinnerungen erhalten und schließlich mit einer ganz speziellen Macht wiederkehren können. Freud beendet dieses 2. Kapitel mit folgender Zusammenfassung: »Um unser Ergebnis in der kürzesten Formel auszudrücken: Zu den bekannten Zweiheiten dieser Geschichte – zwei Volksmassen, die zur Bildung der Nation zusammentreten, zwei Reiche, in die diese Nation zerfällt, zwei Gottesnamen in den Quellschriften der Bibel – fügen wir zwei neue hinzu: Zwei Religionsstiftungen, die erste durch die andere verdrängt und später doch siegreich hinter ihr zum Vorschein gekommen, zwei Religionsstifter, die beide mit dem gleichen Namen Moses benannt werden … Und alle diese Zweiheiten sind notwendige Folgen der ersten, der Tatsache, daß der eine Bestandteil des Volkes ein traumatisch zu wertendes Erlebnis gehabt hatte, das dem anderen fern geblieben war« (ebd., 154).13 Und Freud kündigt an, dass wesentliche Fragen, die in ihm umgehen, noch nicht geklärt sind: »Worin die eigentliche Natur einer Tradition besteht und worauf ihre besondere Macht beruht … all dies am Spezialfall der jüdischen Geschichte zu studieren, wäre eine verlockende Aufgabe … Aber ich traue mir nicht mehr die Kraft zu, dies zu leisten« (ebd., 154f). Schließlich hat Freud – nach Überwindung spezieller äußerer und innerer »Schwierigkeiten« – doch noch zur Umsetzung dieser »Aufgabe« gefunden. An den Beginn dieses wesentlich umfangreicheren dritten Kapitels mit dem Titel Moses, sein Volk und die monotheistische Religion stellt Freud zwei Vorbemerkungen; die erste »vor dem März 1938«, die zweite »im Juni 1938«, also in London geschrieben. In der ersten Vorbemerkung geht Freud auf die damalige politische Lage ein (konkret auf 13
Auch diese Hypothese des Traumas wird uns noch beschäftigen.
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die Sowjetunion, das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland), um dann zu betonen, dass derzeit die »konservativen Demokratien« zu »Hütern des kulturellen Fortschritts« avanciert sind; so auch die katholische Kirche im noch ständestaatlichen Österreich. Und deren politische Rolle ist für Freud entscheidend dafür, dass er von einer Veröffentlichung seiner Ausführungen (immerhin werde darin die Religion auf eine »Menschheitsneurose reduziert«) absehen wolle (Freud 1939, 157f). – Aus der zweiten Vorbemerkung spricht Freuds große Erleichterung über seine erfolgte Emigration und die so freundliche Aufnahme in England. Er darf wieder sagen und schreiben, was er will. Die »äußeren Schwierigkeiten«, die die letzten Jahre gegen eine Veröffentlichung sprachen, sind also beseitigt, sodass er kurz über seine »inneren Schwierigkeiten« schreibt: »Meiner Kritik erscheint diese vom Manne Moses ausgehende Arbeit wie eine Tänzerin, die auf einer Zehenspitze balanciert« (ebd., 160). Was es mit dieser Metapher auf sich hat, werden wir noch erfahren. Dann lesen wir Dinge, die wir aus den ersten beiden Kapiteln schon kennen. Aber es gibt neue Akzente. So verweist Freud auf die Aton-Religion als »vielleicht reinsten Fall einer monotheistischen Religion in der Menschheitsgeschichte« (ebd., 162), die in Ägypten nach dem Tod Echnathons so gut wie keine Spuren hinterließ, von Moses aber den Juden vermittelt wurde. Dann bringt Freud die für ihn offenbar essentielle »Tatsache«14 des Mordes an Moses durch die Juden; und in der Folge das (vorübergehende) Vergessen und Verdrängen dieser religiösen Lehre. »Das Merkwürdige ist nun, daß dem nicht so ist, daß die stärksten Wirkungen jenes Erlebnisses des Volkes erst später zum Vorschein kommen« (ebd., 165). An dieser Stelle hält Freud erst einmal fest, dass es eine zeitliche Zäsur zwischen der Ermordung des Moses, der Verwerfung seiner Lehre und der Wiederbelebung dieser Tradition gab, eine Zäsur, die in der offiziellen Darstellung der jüdischen Religionsgeschichte verleugnet wird. Um dieses Phänomen der Zäsur zu erklären, stellt Freud eine ihm grundlegend erscheinende Analogie her zwischen dem Verlauf einer »traumatischen Neurose«, bei der es zwischen dem traumatischen Ereignis und dem Auftreten der Symptomatik eine »Inkubationszeit« gibt – und der Entwicklung des jüdischen Monotheismus: In beiden gibt es das Phänomen der »Latenz«. – Und Freuds anschließende Frage ist, wie sich über einen so langen Zeitraum eine verdrängte Erinnerung am Leben halten kann – und dies nennt er »Tradition«: »Die Tradition war die Ergänzung und zugleich der Widerspruch zur Geschichtsschreibung. Sie war dem Einfluß der entstellenden Tendenzen weniger unterworfen… Die merkwürdige Tatsache, der wir hier begegnen, ist aber, daß diese Traditionen, anstatt sich mit der Zeit abzuschwächen, im Laufe der Jahrhunderte immer mächtiger wurden« (ebd., 172f). Bei der traumatischen Neurose findet sich immer das Vergessen des ursächlichen Geschehens – andererseits aber eine »Fixierung an das Trauma« sowie ein »Wiederholungszwang«. Es gibt also einerseits die Tendenz, das Trauma wieder zu beleben, andererseits Abwehrreaktionen dagegen. Aber für alle diese Phänomene gilt, dass sie »Zwangscharakter« haben. Sie setzen sich letztlich über die äußere Realität hinweg und zwingen das Individuum dazu, diese innere Realität anzuerkennen, womit »der Weg zur Psychose eröffnet« ist (ebd., 181).
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Was es mit dieser »Tatsache« methodisch auf sich hat, werden wir noch ausführlich diskutieren.
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Nun folgt Freuds berühmt gewordene »Formel«: »Frühes Trauma – Abwehr – Latenz – Ausbruch der neurotischen Erkrankung – teilweise Wiederkehr des Verdrängten« (ebd., 185). Und er lädt den Leser ausdrücklich ein, die Annahme zuzulassen, dass auch »im Leben der Menschenart Ähnliches vorgefallen ist wie in dem der Individuen« (ebd., 186). Und er erinnert an seine Konstruktion aus Totem und Tabu, die er jetzt – 25 Jahre später – pointiert wiedergibt. – Die Erzählung beginnt wieder mit der Herrschaft des »starken Männchens«, den ambivalenten Gefühlen der Söhne ihm gegenüber, weiter dem Vatermord, dem Streit der Söhne – und schließlich deren Einigung, die zur »ersten Form einer sozialen Organisation mit Triebverzicht, Anerkennung von gegenseitigen Verpflichtungen … Inzesttabu und dem Gebot der Exogamie« führte (ebd., 188). Im Totemtier wurde der Vaterersatz verehrt, in der Totemmahlzeit die Identifizierung mit dem Urvater rituell wiederholt. – Freud wiederholt an dieser Stelle seine Überzeugung, dass »jedes aus der Vergessenheit wiederkehrende Stück sich mit besonderer Macht durchsetzt, einen unvergleichlich starken Einfluß auf die Menschenmassen übt und einen unwiderstehlichen Anspruch auf Wahrheit erhebt«, eine Eigenheit, die »sich nur nach dem Muster des Irrwahns der Psychotiker« verstehen lässt (ebd., 190). Und er vergisst nicht, an seine klinische Überzeugung zu erinnern, dass auch in jeder »Wahnidee ein Stück vergessener Wahrheit steckt … Einen solchen Gehalt an historisch zu nennender Wahrheit müssen wir auch den Glaubenssätzen der Religionen zugestehen, die zwar den Charakter psychotischer Symptome an sich tragen, aber als Massenphänomene dem Fluch der Isolierung entzogen sind« (ebd., 191). Es ist also diese »Tatsache« des Mordes am Urvater und dessen psychologische Folgen, die sich als kollektives Trauma in die Kultur- und Religionsgeschichte der Menschheit eingeschrieben haben. Dann kommt Freud zum Christentum. Dessen Entstehung erklärt er als eine weitere Wiederbelebung des Urvatermordes. »Es ist eine ansprechende Vermutung, daß die Reue um den Mord an Moses den Antrieb zur Wunschphantasie vom Messias gab … Wenn Moses dieser erste Messias war, dann ist Christus sein Ersatzmann und Nachfolger geworden ... Das arme jüdische Volk, das mit gewohnter Hartnäckigkeit den Mord am Vater zu verleugnen fortfuhr, hat im Laufe der Zeiten schwer dafür gebüßt. Es wurde ihm immer wieder vorgehalten: Ihr habt unseren Gott getötet. Und dieser Vorwurf hat recht, wenn man ihn richtig übersetzt. Er lautet dann … Ihr wollt nicht zugeben, daß ihr Gott … gemordet habt. Ein Zusatz sollte aussagen: Wir haben freilich dasselbe getan, aber wir haben es zugestanden und wir sind seither entsühnt« (ebd., 196). Damit glaubt Freud die wesentliche Wurzel des christlichen Antisemitismus aufgedeckt zu haben. Hinzu komme, dass »alle diese Völker, die sich heute im Judenhaß hervortun, erst in späthistorischen Zeiten Christen geworden sind, oft durch blutigen Zwang dazu getrieben. Man könnte sagen, sie sind alle ›schlecht getauft‹, unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, was ihre Ahnen waren… Sie haben ihren Groll gegen die neue, ihnen aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam. Ihr Judenhaß ist im Grunde Christenhaß« (ebd., 198). Ein weiteres Motiv für den christlichen Anitsemitismus findet Freud in der Angst vor der Beschneidung, die er als symbolischen Ersatz für die Kastration versteht. Das Christentum hat diesen Ritus aufgegeben zugunsten der Taufe. Damit setzt es aber eine andere Form der genealogischen Bindung der Generationen in Kraft. Im Judentum wird durch die Beschneidung die Trennung des Kindes
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von der Mutter »im Namen des Vaters« vollzogen: »Der Ritus verweist auf den trennenden ›symbolischen Vater‹ (Lacan), der damit zum Repräsentanten eines übergeordneten und immer schon voraus-gesetzten Gesetzes wird… Das Christentum zerstört dieses Band: An die Stelle Gottes setzt sich nun der Sohn und geht eine ideale, rein spirituelle Beziehung zur Mutter ein, aus der der Vater per se ausgeschlossen bleibt« (Hegener 2001, 15).15 Jetzt kommt Freud unter der Überschrift Schwierigkeiten auf das Problem der »Tradition« zurück: Wie, in welcher Form kann man sich das Wirksamwerden und die generationenübergreifende Weitergabe kollektiver historischer Erlebnisse vorstellen? Freud spricht von »unbewußten Erinnerungsspuren« (ebd., 201), in der Folge von einer »archaischen Erbschaft«. Er spricht von einem Wagnis, »die Behauptung aufzustellen, daß die archaische Erbschaft des Menschen nicht nur Dispositionen, sondern auch Inhalte umfaßt, Erinnerungsspuren an das Erleben früherer Generationen« (ebd., 206). Freud weiß, dass die Biologie seiner Zeit »von der Vererbung erworbener Eigenschaften nichts wissen will«, hält aber an dieser Auffassung trotzdem fest: »Es handelt sich zwar in beiden Fällen nicht um das Gleiche, dort um erworbene Eigenschaften, hier um Erinnerungsspuren an äußere Eindrücke, gleichsam Greifbares… Wenn wir den Fortbestand solcher Erinnerungsspuren in der archaischen Erbschaft annehmen, haben wir die Kluft zwischen Individual- und Massenpsychologie überbrückt« (ebd., 207).16 Freud geht davon aus, dass es eine unbewusste Weitergabe solcher traumatischer Ereignisse oder Erlebnisse geben muss – und dass diese unter bestimmten Umständen wieder aktiviert werden – und zwar mit »Zwangscharakter«. Dazu ist aber die vorausgehende Verdrängung eine Bedingung: »Sie muß das Schicksal der Verdrängung, den Zustand des Verweilens im Unbewußten durchgemacht haben, ehe sie bei ihrer Wiederkehr so mächtige Wirkungen entfalten, die Massen in ihren Bann ziehen kann« (ebd., 209). Eine weitere Frage Freuds ist, wie es möglich ist, »daß ein einzelner Mensch eine so außerordentliche Wirksamkeit entfaltet« (ebd., 214); gemeint ist Moses, den Freud in der Folge mehrfach als »großen Mann« bezeichnet. Er beruft sich dabei auf seine Überlegungen aus Massenpsychologie und Ich-Analyse, wo er den Wunsch und das Bedürfnis der Massen nach einer Autorität aus der Sehnsucht des Kindes nach dem starken Vater abgeleitet hat. »Unzweifelhaft war es ein gewaltiges Vatervorbild, das sich in der Person des Moses zu den armen jüdischen Fronarbeitern herabließ, um ihnen zu versichern, daß sie seine lieben Kinder seien. Und nicht minder überwältigend muß die Vorstel-
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Wolfgang Hegener vermutet in dieser Zurückdrängung des Vaters die wesentliche verborgene Botschaft des Mann Moses, lässt sich doch die Entwicklung der Psychoanalyse auf die »vaterlose Gesellschaft« der Zwischenkriegszeit, die im Nationalsozialismus kulminierte, beziehen: »Denn auch die Psychoanalyse wird in den 30er Jahren zunehmend vaterlos, in den Mittelpunkt rückt mehr und mehr die ausschließliche Beziehung zwischen Mutter und Kind/Säugling…In dem Maße, wie die Frau nur noch als eine fertile und asexuelle (Gebär)Mutter gedacht wird, nicht aber mehr als eine sexuelle Frau, die in ihrem Begehren auf einen Mann/Vater bezogen ist, kann es auch keinen Vater mehr geben. Und es gilt auch umgekehrt: Wenn es keinen Vater mehr gibt, kann die Frau nur noch als Mutter vorkommen« (ebd.). Diese Unterscheidung scheint uns wichtig: Besonders Richard Bernstein hat auf Basis dieser Differenzierung eine bemerkenswerte Theorie kollektiver Tradierung entwickelt. Dazu später mehr.
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lung eines einzigen, ewigen, allmächtigen Gottes auf sie gewirkt haben, dem sie nicht zu gering waren, um einen Bund mit ihnen zu schließen« (ebd., 217). Dann kommt Freud unter dem Titel Der Fortschritt in der Geistigkeit zu seiner Charakterisierung der Besonderheit der jüdischen Religion. Da ist einmal das Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen, ein Prinzip, das für eine ganz besondere Einstellung der Juden verantwortlich ist: »Denn es bedeutete eine Zurücksetzung der sinnlichen Wahrnehmung gegen eine abstrakt zu nennende Vorstellung, einen Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit, streng genommen einen Triebverzicht mit seinen psychologisch notwendigen Folgen« (ebd., 220). Dies habe in der jüdischen Kultur zu einer besonderen Wertschätzung des Intellektuellen und der Sprache geführt. Und Freud erinnert an die historische Weichenstellung nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch Titus, als der Rabbi Jochanan ben Sakkai die Erlaubnis erhielt, eine erste Thoraschule zu eröffnen. »Fortan war es die heilige Schrift und die geistige Bemühung um sie, die das versprengte Volk zusammenhielt« (ebd., 223). Wie ist es aber psychodynamisch zu erklären, dass ein so tiefgreifender Triebverzicht eine so nachhaltige Wirkung entfalten kann? Freud verweist darauf, dass dieser besondere Gehorsam gegenüber einem strengen Über-Ich nicht nur die Wirkung des Triebverzichts und damit eine Unlusterfahrung zeitigt, sondern auch eine andere Form von Lustgewinn: »Das Ich fühlt sich gehoben, es wird stolz auf seinen Triebverzicht wie auf eine wertvolle Leistung« (ebd., 224). So wurde die Religion, die mit dem Bilderverbot begonnen hatte, immer mehr zu einer »Religion der Triebverzichte« (ebd., 226). Dann kommt Freud nochmals auf die Sitte der Beschneidung zu sprechen: »Wenn wir hören, daß Moses sein Volk ›heiligte‹ durch die Einführung der Sitte der Beschneidung, so verstehen wir jetzt den tiefen Sinn dieser Behauptung. Die Beschneidung ist der symbolische Ersatz der Kastration, die der Urvater einst aus der Fülle seiner Machtvollkommenheit über die Söhne verhängt hatte, und wer dies Symbol annahm, zeigte damit, daß er bereit war, sich dem Willen des Vaters zu unterwerfen« (ebd., 230). Immer wieder treibt Freud die Frage um, wie es dazu kam, dass die mosaische Religion eine so nachhaltige Wirkung auf das jüdische Volk entfalten konnte. Seine Antwort: »Sie (die Frommgläubigen) sagen, die Idee eines einzigen Gottes habe darum so überwältigend auf die Menschen gewirkt, weil sie eine Stück der ewigen Wahrheit ist, die, lange verhüllt, endlich zum Vorschein kam« (ebd., 237). Und Freud stimmt dieser Einschätzung zu, allerdings mit einer wichtigen Modifizierung: »Wir glauben auch, daß die Lösung der Frommen eine Wahrheit enthält, aber nicht die materielle, sondern die historische Wahrheit. Und wir nehmen uns das Recht, eine gewisse Entstellung zu korrigieren, welche diese Wahrheit bei ihrer Wiederkehr erfahren hat. Das heißt, wir glauben nicht, daß es einen einzigen großen Gott heute gibt, sondern daß es in Urzeiten eine einzige Person gegeben hat, die damals übergroß erscheinen mußte und die dann zur Gottheit erhöht in der Erinnerung der Menschen wiedergekehrt ist« (ebd., 238). Und diese Wiederkehr war eine zweizeitige: »Als Moses dem Volk die Idee des einzigen Gottes brachte, war sie nichts Neues, sondern sie bedeutete die Wiederbelebung eines Erlebnisses aus den Urzeiten der menschlichen Familie«. Und diese »Erlebnisse« haben eben »dauernde Spuren, einer Tradition vergleichbar, in der menschlichen Seele hinterlassen« (ebd.). Freud repliziert nochmals seine Konstruktion der Ermordung des Urvaters aus Totem und Tabu, um die mittlerweile ablehnende Haltung der Ethnolo-
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gie wissend. Seine methodische Rechtfertigung erscheint uns wesentlich: »Ein Widerspruch ist noch keine Widerlegung, eine Neuerung nicht notwendig ein Fortschritt. Vor allem aber, ich bin nicht Ethnologe, sondern Psychoanalytiker« (ebd., 240). D.h. Freud verweist einmal mehr auf seine spezielle methodische Vorgehensweise und die damit verbundene so ungewöhnliche und neuartige Form der historischen Rekonstruktion. – So lautet die abschließende Überschrift Die geschichtliche Entwicklung. Freud erinnert den Leser an seine klinischen Befunde, die ihn dazu gebracht haben, zwischen dem Faktischen (was er in diesem Buch die »materielle Wahrheit« nennt) und dem Erlebten (der »historischen Wahrheit«) zu unterscheiden. Kinder verarbeiten die (ödipalen) Erfahrungen nicht nur nach dem faktisch Erlebten, sondern auch nach Mustern, die Freud hier als »phylogenetischen Erwerb« sich erklären will (ebd., 241). Und diese Form der Tradierung sei auch bei der Etablierung der mosaischen Religion grundlegend: Die Installierung des einzigen allmächtigen Gottes sei nichts anderes als die Wiederherstellung der »Herrlichkeit des Urhordenvaters« (ebd., 242).
Diskussion wesentlicher Gesichtspunkte Biographische Deutungen: Freuds (angebliche) Identifikation mit Moses Eine beträchtliche Anzahl von Interpreten von Yosef Yerushalmi bis Ilse GrubrichSimitis haben dieses letzte Buch Freuds primär biographisch gedeutet. Eine diesbezüglich extreme Position nimmt Marthe Robert ein, wenn sie schreibt: »Kurz vor dem Heimgang zu seinen Vätern, oder, wie es in der Sprache der Bibel heißt, in Abrahams Schoß, erlebt Freud noch einmal einen letzten Sturm der Revolte gegen das unentrinnbare Schicksal der Sohnschaft… Um nicht sterben zu müssen also, erklärt Freud in diesem Buch, das als sein wahres Testament gelten darf, daß er nicht Salomon, der Sohn Jakobs ist und auch nicht Sigmund, der abtrünnig gewordene Sohn, dem schon sein Name ein großes Geschick verheißt. Er ist so wenig Jude wie Moses oder Mosche ein Jude war …. er will nichts sein als der Sohn von Niemand und Nirgendwo, der Sohn einzig und allein seiner Werke und seines Werkes, dessen Identität wie die des ermordeten Propheten über die Jahrhunderte hinweg ein verwirrendes Rätsel bleibt« (Robert 1974, 158). Eine ebenfalls biographisch orientierte, aber differenziertere Position vertritt Ilse Grubrich-Simitis: »Ich meine, daß man der Moses-Studie mit ihrer spezifischen Befremdlichkeit näherkommt, wenn man sie als eine Art Tagtraum liest, zustande gekommen unter traumatischen Bedingungen extremer Not« (Grubrich-Simitis 1991, 31). Dieser »Tagtraum« diente Freud, wie sie vermutet, der Kompensation seiner schweren Lebenskrise: »Worum es ihm in seinem letzten Buch vorrangig ging, war wohl wirklich die Erlangung phantasierter Wunscherfüllung, nämlich Beschwichtigung der zermürbenden Sorge um die Zukunft seines Lebenswerks… Am Schicksal des Mannes Moses und des Monotheismus führte er sich vor Augen, wie eine unbequeme, anspruchsvolle Lehre auch dann nicht untergeht, wenn sie politisch verfolgt und unterdrückt wird, sondern – im Gegenteil – nach langem Intervall aus der Verdrängung wiederkehrt, ja, gerade durch diese Zweizeitigkeit erst ihre ganze Wirkungskraft entfaltet« (ebd., 32). Die These von Freuds Identifizierung mit Moses ließe sich auch mit einer diesbezüglichen Aussage aus einem Brief an Jung vom 17.1.1909 belegen: »So kommen wir doch
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unzweifelhaft vorwärts, und Sie werden als Joshua, wenn ich der Moses bin, das gelobte Land der Psychiatrie, das ich nur aus der Ferne erschauen darf, in Besitz nehmen« (Freud&Jung 1974, 218). Auf dieser Fährte bewegt sich der Freud-Biograph Peter-André Alt: »In der Rolle des Moses sah sich Freud also selbst … Er, der Gründer der Psychoanalyse, fühlte sich von seinen Anhängern verraten, von entlaufenen Adepten wie Adler und Jung. Sein Zorn galt ihrem Ungehorsam, so wie der biblische Moses wütend über die Feier des goldenen Kalbs und die Insubordination seines Volkes war« (Alt 2016, 859). Auch Grubrich-Simitis geht der Frage nach, welche Rolle in Freuds »Selbst« die »Moses-Repräsentanz« gespielt habe. Sie erinnert an seinen Essay Der Moses des Michelangelo von 1914, in welchem Freud einen Moses »sieht«, der anders als in der Bibel auf den Rückfall seines Volkes in den Götzendienst nicht mit Zorn und dem Zerschlagen der Gesetzestafeln reagiert, sondern seinen Zorn sublimierend diese vor der Zerstörung bewahrt. Und diese Identifizierung hätte dann auch sein Schreiben der Moses-Studie gelenkt: »Als Freud unter den Nazi-Terror geriet, war er alt und krank. Mehr noch als während der Jung-Krise scheint er die Moses-Identifizierung zur Stabilisierung seiner Widerstandskraft gebraucht zu haben« (Grubrich-Simitis 1991, 57). Eine andere Idee zu dieser Frage einer bewussten oder unbewussten Identifizierung Freuds mit Moses formuliert Wolfgang Hegener. Er glaubt, dass Freuds Identifikation eigentlich und primär dem jüdischen Rabbi Jochanan ben Sakkai gilt und erst sekundär Moses. »Er sah sich gleichsam nach London ausziehen, und ein neues Jabne zu begründen, wo die neue Thora sich erhalten und gedeihen könne« (Hegener, 2014, 1218). In eine ähnliche Richtung denkt Eli Zaretsky. Die tradierte Lesart des Moses-Buches läuft darauf hinaus, dass Freud die Psychoanalyse nutzte, um das Judentum in seiner Spezifität zu erhellen. Zaretskys These dagegen ist, dass es Freud – auf einer tieferen Ebene – um die Zukunft »seiner« Psychoanalyse ging: »Der Antrieb, dieses Buch zu schreiben, war, auf einer tieferen, womöglich weitgehend unbewussten Ebene, Freuds Sorge um das Überleben der Psychoanalyse. Es entstand, als er im erzwungenen Exil lebte und dem Tod nahe war; ihm war also durchaus bewusst gewesen, dass die Psychoanalyse ebenso schnell und überraschend ausgelöscht werden könnte wie der Monotheismus im alten Ägypten« (Zaretsky 2015, 488). Aus heutiger Sicht plädiert Zaretsky zudem dafür, das Buch als eine Betrachtung zur allgemeinen Krise der westlichen Welt zu lesen, geschrieben angesichts des Aufstiegs des Nationalsozialismus. »Daran, dass sich im Land von Bach und Goethe ein derart schreckliches und barbarisches Beispiel für unausgesetzten Hass und Zerstörungswillen hatte entwickeln können, ließ sich erkennen, wie trügerisch unser Selbstverständnis als fortschrittliche und aufgeklärte Menschen sein kann« (ebd., 488f). Insofern seien Freuds Überlegungen angesichts der heutigen Weltlage aktueller denn je. Nochmals: Deutungsoptionen bezüglich des Urvatermords Gehen wir von folgendem Gedanken aus: Im Zentrum der Psychoanalyse Freuds steht Ödipus, der Sohn, der seinen Vater erschlagen hat. Aber in der Bibel gibt es keinen Ödipus. Und das kann – davon ist Freud überzeugt – nicht die ganze Wahrheit sein. Im Kern jeder Kultur – so Freuds These von Totem und Tabu bis zum Moses – findet sich unweigerlich eine grundlegende und konstituierende Verdrängung. Und in der von der
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jüdischen Religion behaupteten Unantastbarkeit des Vaters glaubt Freud eine Reaktionsbildung zu erkennen, eine Verkehrung ins Gegenteil. Der ermordete Moses ist so verstanden das notwendige Postulat in Freuds Theorie über den Ursprung und das Wesen von Religion. Die Tötung des Urvaters müsse sich über die Jahrtausende hinweg immer wiederholt haben. Nur kraft dieser Wiederholung konnte sie so unauslöschliche Spuren in der menschlichen Psyche hinterlassen und die »archaische Erbschaft« ausbilden. Die entscheidenden psychischen Mechanismen, die eine solche »Erfahrung« in einen bleibenden anthropologischen Besitz, ein »Erbe« umsetzten, waren Wiederholung und Verdrängung. Jan Assmann betont, dass Freud mit dieser Erzählung keinen Beitrag zur Geschichtswissenschaft leistet, was er macht, sei »Psychohistorie«: »Der vergöttlichte Vater ist eine Figur der Erinnerung, nicht der Geschichte. Es ist nur in der Eigenschaft des Erschlagenseins, daß der Vater ›zur Gottheit erhöht in der Erinnerung der Menschen wiedergekehrt ist‹« (Assmann 1998, 233). Der Mord an Moses wiederholt also den Mord am Urvater. Freuds wichtiges Argument an dieser Stelle ist, dass nur durch diese Ermordung Moses zu dem werden konnte, was er für die Juden war und ist, ein »großer Mann«, der »Schöpfer des jüdischen Volkes«. – Diese Denkfigur lässt sich nur im Zusammenhang mit Freuds Theorie der Verdrängung verstehen. »Sie muß erst das Schicksal der Verdrängung, den Zustand des Verweilens im Unbewußten durchgemacht haben, ehe sie bei ihrer Wiederkehr so mächtige Wirkungen entfalten, die Massen in ihren Bann ziehen kann« (Freud 1939, 209). Was für die Verarbeitungsmechanismen der individuellen Psyche gilt, muss auch für die Massenseele gelten: »Der Unterschied zwischen bewusster und verdrängter Erinnerung erscheint auf der kollektiven Ebene als der Unterschied zwischen Tradition und Erinnerung« (Assmann 1998, 235). Das notwendig auslösende Moment für eine solche Verdrängung ist eine traumatische Erfahrung – und der wiederholte Mord ist eine solche. In der Wiederholung werde die verdrängte Erinnerung agiert. Dies nennt Freud »archaische Erbschaft«. Moses’ Monotheismus war also in Freuds Lesart die Wiederkehr des Urvaters. Und diese Erfahrung musste traumatisch sein, um eine entsprechend machtvolle Wiederkehr zu ermöglichen. Also: zuerst Verdrängung, dann Latenz und schließlich Wiederkehr. Das Wesentliche ist also nicht der (faktische oder imaginäre) Mord an Moses, sondern, dass dieser Mord zu einer »traumatischen Erfahrung« für die Juden wurde. Der wichtige Punkt ist also der spezifisch freudsche Begriff von »Trauma« und »traumatischer Reaktion. Zur häufig vorgebrachten Kritik, Freud glaube an einen »faktischen« Mord, wollen wir an Freuds Aussage im Moses erinnern, dass er nicht als Ethnologe, sondern als »Psychoanalytiker« argumentiere (Freud 1939, 240). Was meint er damit? Richard Bernstein schlägt folgende Sichtweise vor: »Anderslautenden Beteuerungen zum Trotz stützt Freud sein Hauptargument nicht auf eine Entdeckung in den realen Begebenheiten der Vergangenheit; vielmehr ist es das gegenwärtige psychoanalytische Verständnis der unbewußten Dynamik der Psyche, aus dem Freud die Beweiskraft für seine ›Entdeckung‹ der ›historischen Wahrheit‹ schöpft« (Bernstein 2008, 118). In einem Postskriptum zu seiner Selbstdarstellung hält Freud fest: »Immer klarer erkannte ich, daß die Geschehnisse der Menschheitsgeschichte, die Wechselwirkungen zwischen Menschennatur, Kulturentwicklung und jenen Niederschlägen urzeitlicher Erlebnisse, als deren Vertretung die
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Religion vordrängt, nur die Spiegelung der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich sind, welche die Psychoanalyse beim Einzelmenschen studiert, auf einer weiteren Bühne wiederholt« (Freud 1935, 32f). Und daraus folgert Bernstein: »Freud erklärt den Charakter der religiösen Tradition des Judentums gerade nicht mit einer Berufung auf die ›historische Wahrheit‹. Er erklärt ihre ›historische Wahrheit‹ vielmehr unter Berufung auf ein zeitgenössisches Verständnis der Dynamik der menschlichen Psyche… Entsprechend sollten wir Der Mann Moses als einen Beitrag zum Verständnis der psychischen Dynamik von Ich, Es und Über-Ich lesen« (Bernstein 2008, 120f). Anders formuliert: »Liegt die eigentliche Ursache des Traumas in einem (datierbaren) Ereignis, oder liegt sie in erster Linie in der Reaktion, im psychologischen Eindruck eines angeblichen, phantasierten Ereignisses« (ebd., 158)?17 Jacques Derrida hebt hier das Entscheidende hervor: »Zweitens, und dieses Mal berücksichtige ich eine psychoanalytische Logik, welchen Unterschied gibt es zwischen einem Mord und einer Absicht zu töten.? Der Mord beginnt mit der Absicht zu töten. Das Unbewußte kennt keinen Unterschied zwischen dem Virtuellen und dem Tatsächlichen, der Absicht und der Handlung« (Derrida 1997, 118f). In der Lesart von Bernstein und Derrida behauptet Freud nicht etwa die Existenz objektiver historischer Beweise, sondern spricht davon, dass eine Bestimmung von Urzuständen immer auch »Konstruktionscharakter« habe. In psychoanalytischer Perspektive ist allein die »psychische Realität« das entscheidende. Und diese setzt nicht einen faktischen Mord, wohl aber die »faktische Realität« von Mordgedanken voraus. In Wolfang Hegeners an Lacan orientierter Konzeption des ermordeten Urvaters erscheint dieser als eine »struktural-anthropologische« Notwendigkeit: »Der Vater wird sozialisierend wirksam und symbolisch mächtig erst in dem Moment, in dem er ermordet wird… Durch diesen Gedanken wird Vaterschaft in einer neuen, nämlich symbolischen Dimension thematisiert… Vaterschaft in diesem Sinne bezeichnet einen durch den Tod geschaffenen Mangel und eine Leerstelle« (Hegener 2001, 81). Dieser Platz verkörpert eine Leerstelle. Kein konkretes Individuum, keiner der Söhne, der späteren Väter kann bzw. darf diesen Platz besetzen. Es ist kein »realer« Platz, sondern ein mythischer: »Anders formuliert, die Kategorie des toten Vaters, des Vaters also, der nicht mehr getötet werden kann … ist nur ein anderer Name für die Wirksamkeit der Funktion der konkreten Väter. In der sozialen Praxis besteht ihr Amt darin, die Idee ins Werk zu setzen, daß niemand, es sei denn bei Strafe des Wahnsinns, Anspruch darauf erheben kann, alles und jeder zu sein« (ebd., 91). – Um es in der Sprache Lacans auszudrücken: Kein Individuum kann den »Phallus« besitzen. Da im kulturgründenden Akt der Installierung eines symbolischen Vaters die Omnipotenz der Brüder durch den Verzicht auf einen neuerlichen Mord und den Inzest eingeschränkt wird, müssen von nun an kulturelle Vereinbarungen aus der Position des »nicht alles«, des grundlegenden Verzichts heraus getroffen und verantwortet werden. Der »Urvater« ist so verstanden nur als Effekt, in seiner Hinterlassenschaft des grundlegenden sozialen Gesetzes präsent. Es ist gerade der Mangel an »faktischer Realität«, der die Kultur und die spezielle Unsicherheit und Ausgesetztheit des Menschen in dieser markiert: »An der Stelle, die 17
Hier zeigen sich übrigens einige Parallelen zur Debatte über die Bedeutung von Freuds Aufgabe der »Verführungstheorie«.
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die Autorität des Vaters begründet, verzeichnet Freud eine Abstraktionsleistung. Die Stelle, die der Vater verkörpert und die vom Vater zeugt, hat die Sicherheit der Materialität des positiv Wahrnehmbaren verlassen, an seiner Stelle gibt es keine Garantien darüber, was Realität und was Wahrheit sei. Das Realitätsmaß der Psychoanalyse geht nach dem Zweifel … Wenn man bedenkt, daß auch die psychoanalytische Praxis nie anders verfuhr, nicht anders verfahren kann, daß sie ebenfalls (nur) Konstruktionen herstellt…, dann können Freuds Vorbehalte und Einschränkungen gegenüber seiner Arbeit des Mann Moses nahezu verwundern« (Seifert 1992, 161). Zum Problem der »Tradition« Eine der zentralen Kontroversen über Freuds Moses dreht sich um die Frage, wie die Weitergabe der von Freud angenommenen »traumatischen Erfahrung« des Urvatermordes gedacht werden kann. Eine Position dabei ist die Berufung auf Freuds Lamarckismus«. Lesen wir dazu Frank Sulloway als prominenten Vertreter dieser Deutungslinie: »Als überzeugter Lamarckist setzte er voraus, daß die phylogenetischen Ereignisse von Totem und Tabu durch ungezählte Ereignisse über die Jahrtausende hinweg den unbewußten Winkeln der Psyche organisch eingeprägt worden seien … Verdrängung ist der phylogenetische Preis für die Evolution von Gesetz, religiösem Glauben, Moral und höherer Zivilisation. Ihrem Wesen nach läuft die Verdrängung auf die Unterdrückung und Auflösung des Ödipuskomplexes hinaus« (Sulloway 1982, 513f). Und er beruft sich dabei auf Aussagen Freuds wie jene in seinen Vorlesungen: »Ich meine, diese Urphantasien – so möchte ich sie und gewiß noch einige andere nennen – sind phylogenetischer Besitz … Es scheint mir sehr wohl möglich, daß alles, was uns heute in der Analyse als Phantasie erzählt wird, die Kinderverführung … die Kastrationsdrohung – oder vielmehr die Kastration –, in den Urzeiten der menschlichen Familie einmal Realität war und daß das phantasierende Kind einfach die Lücken der individuellen Wahrheit mit prähistorischer Wahrheit ausgefüllt hat« (Freud 1916/17, 385f). Für Sulloway ist klar, dass Freud viele seiner theoretischen Schwierigkeiten wie etwa die Zurückführung der Neurosen auf Phantasien statt auf reale Ereignisse oder die Universalität der psychosexuellen Stadien durch diese phylogenetische Hypothese zu erklären gesucht hat. Auch Yosef Yerushalmi glaubt, bei Freud – und besonders in seiner Moses-Studie – einen »Psycholamarckismus« orten zu müssen. Er verweist auf Freuds Überblick der Übertragungsneurosen, in welchem Freud tatsächlich von der Möglichkeit einer phylogenetischen Weitergabe schreibt. Freuds Aussage, »daß die archaische Erbschaft des Menschen nicht nur Dispositionen, sondern auch Inhalte umfaßt, Erinnerungsspuren an das Erlebte früherer Generationen« (Freud 1939, 206), liest Yerushalmi als Bestätigung für »Freuds starres Festhalten am Lamarckismus« und erklärt dieses aus seinem »Judesein«: »Was ist denn, ins Jüdische dekonstruiert, der Lamarckismus anderes als das starke Gefühl, daß man, ob man will oder nicht, im Grunde nie aufhören kann, Jude zu sein« (Yerushalmi 1992, 55). Der Mann Moses sollte demnach Freuds Antwort »auf die so lange unlösbaren Fragen gewesen sein, wieso er bei aller Gottlosigkeit immer noch so jüdisch war« (ebd., 113). Freuds Annahme einer grundsätzlich unbewussten Weitergabe einer Tradition erscheint ihm völlig unplausibel: »Die Grundmodalitäten der Kontinuität einer religiösen Tradition sind Vorschrift und Beispiel, Erzählung, Gestus und
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Zeremoniell, die natürlich alle nicht nur bewußt, sondern auch unbewußt verarbeitet werden« (ebd., 132). Jacques Derrida und Richard Bernstein sind, wie Assmann schreibt, »Freud zu Hilfe geeilt« (Assmann 2004, 4), indem sie versuchten, Freuds Konzept eines phylo- oder ethnogenetischen Gedächtnisses in Richtung auf eine kulturelle Tradierung auszudehnen. Derrida sprach vom »Archiv«, Bernstein von »Tradition«. Beide verwenden diese Begriffe so, dass sie auch und gerade die Möglichkeit unbewusster Weitergabe und Übertragung annehmen. Beide schlagen vor, Freud so zu lesen, als beziehe er sich nicht auf biologische, sondern auf kulturelle Übertragungen (was Assmann »kulturelles Gedächtnis« nennt). »Hier, auf der Ebene der Geschichte, und zwar nicht wie sie sich real zugetragen hat, sondern wie sie kulturell erinnert, geformt und überliefert wurde, lassen sich Begriffe wie Trauma, Latenz und Wiederkehr des Verdrängten anwenden« (Assmann 2004, 13). Anders als Freud schlägt Assmann vor, als auslösende Traumaerfahrungen der Juden nicht die Ermordung von Moses, sondern die Zerstörung des Tempels und die »babylonische Gefangenschaft« anzusehen. »Um diese Katastrophe seelisch verarbeiten zu können, phantasiert die Exilgeneration eine Schuld, durch die die Vätergeneration den Zorn Gottes auf das Volk heraufbeschworen habe« (ebd.). D.h. auch Assmann plädiert dafür, eine psychoanalytische Rekonstruktion der Genese des Monotheismus im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie zu denken: »Warum hat der monotheistische Gedanke gerade bei den Juden entstehen und sich mit solcher Gewalt durchsetzen können? Weil er in der durch die Folge historischer Katastrophen traumatisierten jüdischen Seele auf so besondere Resonanz stieß« (Assmann 2008, 255).18 Der Angelpunkt in Bernsteins Bezugnahme auf Freuds Hypothese der unbewussten Weitergabe ist dessen Verwendung des Ausdrucks »historisch«. Wie wir gelesen haben, geht Freud davon aus, dass eine bewusste, im Falle der Bibel schriftliche Weitergabe immer entstellende Tendenzen aufweise. So schreibt Freud an Andreas -Salomé:
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Einen anderen »Ausweg« aus diesem Dilemma um Freuds »Lamarckismus« schlägt Heinz Henseler vor. Ihn verwundert, dass Freud nicht der Tatsache der ontogenetischen Weitergabe mehr Gewicht beimaß. Schrieb dieser doch schon in Zur Psychopathologie des Alltagslebens: »Ich glaube in der Tat, daß ein großes Stück der mythologischen Weltauffassung, die weit bis in die modernsten Religionen hineinreicht, nichts anderes ist als in die Außenwelt projizierte Psychologie… Man könnte sich getrauen, die Mythen vom Paradies und vom Sündenfall, von Gott, vom Guten und Bösen, von der Unsterblichkeit u. dgl. in solcher Weise aufzulösen, die Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen« (Freud 1901b, 287f). Dazu Henseler: »Statt auf historischen Taten und auf historischen Wunschphantasien zu bestehen, hätte er, wie 1901 schon, annehmen können, daß die ambivalente Beschäftigung mit der Vater-Gott-Gestalt und die damit verbundenen Schuldgefühle dadurch entstanden sind, daß die Konflikte um den Vater aus der individuellen Lebensgeschichte in eine historische Mythologie hineinprojiziert worden sind und auf diese Weise bearbeitet werden … Und diese Tradition wird von den Angehörigen der jeweiligen Religionen gepflegt und weiterentwickelt. Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer historischen Dimension. Die Historie bezöge sich dann aber nicht auf die stammesgeschichtlichen Ereignisse der Erlebnisse der menschlichen Frühzeit, sondern auf den phylogenetischen Umgang mit tatsächlich ontogenetischen Konflikten. Die Vaterreligionen hätten dann eine doppelte Funktion: erstens Lösungsmöglichkeiten anzubieten für den schuldbesetzten Ambivalenzkonflikt mit dem Vater und zweitens ihn ständig bewußt zu halten« (Henseler 2008, 1251).
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»Als halb erloschene Tradition hatte die Religion des Moses sich endgültig durchgesetzt … Die Religionen verdanken ihre zwingende Macht der Wiederkehr des Verdrängten, es sind Wiedererinnerungen von uralten, verschollenen, höchst effektvollen Vorgängen der Menschheitsgeschichte … Was die Religionen stark macht, ist nicht ihre reale, sondern ihre historische Wahrheit« (Freud&Andreas-Salomé 1966, 223f). Dazu bemerkt Bernstein: »Ich sehe nicht, was an diesen Sätzen lamarckistisch sein sollte. Derrida hat richtig bemerkt, daß Freud hier schlicht auf die ›Erinnerungsspuren‹ des mosaischen Ideals in der prophetischen Tradition hinweist« (Bernstein 2008, 90). Und er schlägt in der Folge vor, zwischen einem »strengen« (wie es Yerushalmi behauptet) und einem »schwachen, gemäßigten« Lamarckismus bei Freud zu unterscheiden. Zweiterer mache bei Freud Sinn, nämlich in Bezug auf seine Überzeugung, dass bestimmte (traumatische) Erfahrungen eines Volkes die Psyche späterer Generationen formen können. Freuds entscheidende Entdeckung sei jene von grundlegenden psychischen Dispositionen wie dem Ödipuskomplex. Und diese Dispositionen waren nicht zu allen Zeiten da. Sie haben Geschichte, Herkunft, Genealogie. Aber sind sie einmal zu Tage getreten, werden sie an künftige Generationen weitergegeben. Die Kritiker Freuds würden eine wesentliche Dimension seiner Herleitung solcher Dispositionen übersehen: »Und sie besagt, daß wir von einem ›Fortbestand‹ und einer Überlieferung unbewußter Erinnerungsspuren auszugehen haben … Was in der Erinnerung eines Volkes verdrängt wird, ist niemals ›total‹ verdrängt im Sinne von: hermetisch unserem bewußten Leben entzogen. Es bleiben immer unbewußte Erinnerungsspuren des Verdrängten zurück. Nur so ist dessen Wiederkehr möglich« (ebd., 98 bzw. 101). Dieser Ansatz Bernsteins hat in den letzten Jahren vermehrt Resonanz bei psychoanalytischen Autoren gefunden. Wolfang Hegener vermutet, dass diese verstärkte Sensibilisierung für die Mechanismen unbewusster Weitergabe Effekt der intensiver einsetzenden Beschäftigung mit der »transgenerationellen Tradierung« des Holocaust zu tun hat. Denn auch dort zeige sich eindrücklich das Phänomen der Latenzzeit eines Traumas (vgl. Hegener 2001, 72, Fn.33).19 Hegener bringt ein eindrückliches Beispiel für ein kollektives Trauma und seine Tradierung über Jahrhundert am Beispiel Serbiens: »So wurde etwa für viele Serben das Trauma der Schlacht vom Kosovo auf dem Amselfeld vom 28. Juni 1389, das in der Folge zu einer Okkupation durch die Türken führte, zu ihrem unbewußt gewählten Trauma. Mythologische Geschichten dieser Schlacht wurden von Generation zu Generation weitergegeben und dadurch das traumatisierte Selbstbild der Serben immerwährend verstärkt und fortgeschrieben. Nicht, wie gesagt, die historische Wahrheit, sondern die Funktion dieses Traumas ist wichtig: es dient dazu, die Identität der Serben als ›Opferlamm‹ auszubilden« (ebd., 276). Und solche Traumen haben die Neigung in bestimmten historischen Momenten wieder aktiviert und instrumentalisiert zu werden; so in diesem Fall beim Ausbruch des Ersten
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Hegener weist übrigens darauf hin, dass es in den Biowissenschaften in den letzten Jahrzehnten zu einem bemerkenswerten Wandel der Auffassungen über Vererbung und Evolution gekommen sei. Unter dem Schlagwort der »Epigenetik« werden Vorgänge der Weiterabe von Eigenschaften auf Nachkommen diskutiert, die nicht auf einer Änderung der Gene beruhen, aber trotzdem stattfinden (vgl. Hegener 2008, 272f).
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Weltkrieges und wieder Ende der 1980-er Jahre, als der damalige serbische Ministerpräsident Milosevic mit dieser Erzählung den serbischen Nationalismus schürte. »Der Fortschritt in der Geistigkeit« und seine Deutungen Es ist wohl alles andere als ein Zufall, dass Freud auf der letzten Vorstandssitzung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung vor der durch die nationalsozialistische Okkupation unausweichlich gewordenen Selbstauflösung die Geschichte vom Jochanaan ben Sakkai erwähnte. »In der offenen und kritischen geistigen Bemühung um das Erbe der Psychoanalyse sah er die einzige Überlebenschance der Psychoanalyse, gegen jeden Obskurantismus und dogmatisch-ideologische Festlegungen, am Primat der radikalen Interpretationsbedürftigkeit aller Welt- und Lebenszusammenhänge festzuhalten … Als die europäische Kultur unter den zerstörerischen Schlägen des Nationalsozialismus zusammenbricht, erscheint Freud die ›ödipale‹ Moses- bzw. Vaterreligion des Judentums (im Sinne eines ›Fortschritts in der Geistigkeit‹) als das letzte noch intakte ethische Fundament« (Hegener 2008, 280f). Und auf dem Psychoanalytischen Kongress in Paris im August 1938 ließ er durch seine Tochter Anna den Abschnitt Der Fortschritt in der Geistigkeit aus seinem gerade vollendeten dritten Kapitel des Moses vortragen. Es ist wohl dasjenige Kapitel, in dem Freud eine Art Resümee sowohl seiner Analyse der kulturhistorischen Bedeutung des mosaischen Monotheismus als auch seiner tiefgreifenden Auswirkungen auf das jüdische Volk gibt. Es ist die Stelle, an der Freud mit Nachdruck darauf verweist, dass kein Grundsatz der Mosesreligion größere Bedeutung habe als das Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen. Es ist die wiederholte Mahnung der Propheten, nicht in Idolatrie zurückzufallen. Dies ist die Quintessenz des »Fortschritts in der Geistigkeit«, die Forderung des Bildverzichts und damit auf einen wesentlichen Teil der Sinnlichkeit, als Konsequenz davon die Orientierung an Sprache und Abstraktion. – Interpreten wie Assmann oder Bernstein sehen das als Freuds »Testament«, als seine Botschaft an seine Anhänger, nicht von der Essenz der psychoanalytischen Lehre abzulassen. Die Erzählung von Jochanaan ben Sakkai wird exemplarisch für eine Form der Tradierung aufgrund einer Schrift und nicht aufgrund eines religiösen Kultes. Greifen wir – diesen Gesichtspunkt abschließend – noch auf einen Gedanken von Eli Zaretsky zurück. In ihrer Lektüre des Mann Moses geht es Freud mit dem Hinweis auf den Fortschritt in der Geistigkeit nicht nur um eine spezifische Interpretation der mosaischen Religion, sondern auch um den Versuch einer Rettung der essentials »seiner« Psychoanalyse. Zunächst durch Jung, später durch Ferenczi und Melanie Klein sei es zu einer Verschiebung, einer Zurückdrängung des Vaters und einer Priorisierung der Mutter gekommen, was sich auch in der therapeutischen Praxis mit Ferenczis Idee der »Bemutterung« oder der »holding function« bei David Winnicott gezeigt habe. – Durch die Vertreibung der Psychoanalyse vom europäischen Festland und ihrer Neuentstehung in Großbritannien und den USA kam es zu Tendenzen der Assimilation und der Verwässerung von Freuds ursprünglichen Anliegen. So war Freuds Buch in der Sicht von Zaretsky zugleich eine Analyse des Judentums, der Ursachen und Motive für den gerade grassierenden Antisemitismus, darüber hinaus aber auch eine Analyse der dynamischen Kräfte innerhalb der aktuellen westlichen Kultur, eine »Meditation über den kommenden Krieg« (Zaretsky 2015, 514), zuletzt aber auch eine Beschreibung der tiefe-
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ren und weitgehend unbewussten Kräfte, die die psychoanalytische Bewegung in ihren Konflikten (z.B. um die Frage der Laienanalyse) lenkten und antrieben.
Resümee Versuche einer Weiterführung wesentlicher Gedanken und Konzepte aus Freuds Kulturtheorie Wir wollen hier nur einige exemplarische Beispiele für solche Versuche anführen.20 Als wichtigste Versuche einer solchen Weiterführung freudscher kulturkritischer Konzepte kann man wohl die Schriften der so genannten Freudo-Marxisten wie Wilhelm Reich oder Otto Fenichel, besonders aber die Texte der Vertreter der Frankfurter Schule wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse ansehen. Wir wollen uns auf einige Anmerkungen zu Letzteren beschränken. Im Zentrum des Interesses dieser Sozialphilosophen stand zeitbedingt der Zusammenhang von Kulturentwicklung und Aggression. Die Studien von Horkheimer und Adorno zum »autoritären Charakter« stellten Versuche dar, Freuds massenpsychologische Überlegungen für ein Verständnis der psychodynamischen Kräfte, die zur Entstehung von Faschismus und Nationalsozialismus geführt hatten, fruchtbar zu machen. Die Dialektik der Aufklärung kann zudem als Versuch gelesen werden, die Psychoanalyse selbst als einen Teil eines Aufklärungsprozesses zu sehen, der unerkannt zum »Fortschritt« (eigentlich einer Herrschaft) einer »instrumentellen Vernunft« beigetragen habe. Die utopischen politischen Ziele, die sich mit einer solchen »Anwendung« freudscher Prämissen auf den Kulturprozess verbanden, lassen sich an einer Aussage eines zeitgenössischen Vertreters dieser Art von Kultur- und Gesellschaftsanalyse ablesen: »Eine freie Assoziation gleichgestellter Individuen bedarf nicht mehr des sozialen Kitts aus unterdrückter Sexualität. Libidinös befriedigte Menschen werden imstande sein, ohne religiöse Tröstung zu leben, sofern ihre soziale Wirklichkeit lockend genug ist, um die Aggressionslust (die aus der Zersetzung der Lebenstriebe unterm wachsenden Druck der Verzichtkultur resultierte) und die regressive Todessehnsucht zu entkräften« (Dahmer 1975, 1002). Dieser Denkansatz hat bekanntlich viel Resonanz in der 1968-er Bewegung erfahren, deren wichtigstes philosophisches Idol Herbert Marcuse war. Aber – vor allem mit Blick auf die Amerikanisierung der Psychoanalyse in den 30er bis 50-er Jahren – schreibt Adorno schon Anfang der 50-er Jahre skeptisch: »Je mehr die Psychoanalyse soziologisiert wird, um so stumpfer wird ihr Organ für die Erkenntnis der sozial verursachen Konflikte… Unter ihren Händen wird die Freudsche Theorie zu einem weiteren Mittel, die seelischen Regungen dem gesellschaftlichen status quo anzupassen. Aus der Analyse des Unbewußten machen sie einen Teil der industrialisierten Massenkultur, aus einem Instrument der Aufklärung ein Instrument des Scheins, daß Gesellschaft und Individuum, Anpassung und die allmächtige Realität und Glück sich deckten« (Adorno 1952, 7 bzw. 18). Der ursprünglich subversive Ansatz der Psychoanalyse mit ihrem durch Triebkonflikte charakterisierten Menschenbild und ihrem 20
Die Auswahl dieser Beispiele ist maximal exemplarisch, im übrigen höchst subjektiv.
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ren und weitgehend unbewussten Kräfte, die die psychoanalytische Bewegung in ihren Konflikten (z.B. um die Frage der Laienanalyse) lenkten und antrieben.
Resümee Versuche einer Weiterführung wesentlicher Gedanken und Konzepte aus Freuds Kulturtheorie Wir wollen hier nur einige exemplarische Beispiele für solche Versuche anführen.20 Als wichtigste Versuche einer solchen Weiterführung freudscher kulturkritischer Konzepte kann man wohl die Schriften der so genannten Freudo-Marxisten wie Wilhelm Reich oder Otto Fenichel, besonders aber die Texte der Vertreter der Frankfurter Schule wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse ansehen. Wir wollen uns auf einige Anmerkungen zu Letzteren beschränken. Im Zentrum des Interesses dieser Sozialphilosophen stand zeitbedingt der Zusammenhang von Kulturentwicklung und Aggression. Die Studien von Horkheimer und Adorno zum »autoritären Charakter« stellten Versuche dar, Freuds massenpsychologische Überlegungen für ein Verständnis der psychodynamischen Kräfte, die zur Entstehung von Faschismus und Nationalsozialismus geführt hatten, fruchtbar zu machen. Die Dialektik der Aufklärung kann zudem als Versuch gelesen werden, die Psychoanalyse selbst als einen Teil eines Aufklärungsprozesses zu sehen, der unerkannt zum »Fortschritt« (eigentlich einer Herrschaft) einer »instrumentellen Vernunft« beigetragen habe. Die utopischen politischen Ziele, die sich mit einer solchen »Anwendung« freudscher Prämissen auf den Kulturprozess verbanden, lassen sich an einer Aussage eines zeitgenössischen Vertreters dieser Art von Kultur- und Gesellschaftsanalyse ablesen: »Eine freie Assoziation gleichgestellter Individuen bedarf nicht mehr des sozialen Kitts aus unterdrückter Sexualität. Libidinös befriedigte Menschen werden imstande sein, ohne religiöse Tröstung zu leben, sofern ihre soziale Wirklichkeit lockend genug ist, um die Aggressionslust (die aus der Zersetzung der Lebenstriebe unterm wachsenden Druck der Verzichtkultur resultierte) und die regressive Todessehnsucht zu entkräften« (Dahmer 1975, 1002). Dieser Denkansatz hat bekanntlich viel Resonanz in der 1968-er Bewegung erfahren, deren wichtigstes philosophisches Idol Herbert Marcuse war. Aber – vor allem mit Blick auf die Amerikanisierung der Psychoanalyse in den 30er bis 50-er Jahren – schreibt Adorno schon Anfang der 50-er Jahre skeptisch: »Je mehr die Psychoanalyse soziologisiert wird, um so stumpfer wird ihr Organ für die Erkenntnis der sozial verursachen Konflikte… Unter ihren Händen wird die Freudsche Theorie zu einem weiteren Mittel, die seelischen Regungen dem gesellschaftlichen status quo anzupassen. Aus der Analyse des Unbewußten machen sie einen Teil der industrialisierten Massenkultur, aus einem Instrument der Aufklärung ein Instrument des Scheins, daß Gesellschaft und Individuum, Anpassung und die allmächtige Realität und Glück sich deckten« (Adorno 1952, 7 bzw. 18). Der ursprünglich subversive Ansatz der Psychoanalyse mit ihrem durch Triebkonflikte charakterisierten Menschenbild und ihrem 20
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impliziten Impuls zur Weltveränderung im Sinne einer Stärkung der Kräfte des Rationalen verwandelte sich zusehends in eine mehr oder weniger erfolgreiche medizinische Therapeutik. Reimut Reiche geht in seiner Kritik an diesen Versuchen einer weiterführenden »psychoanalytischen Kulturtheorie« einen wesentlichen Schritt weiter, hält er doch die Versuche, psychoanalytische Konzepte auf gesellschaftliche Entwicklungen anzuwenden, für prinzipiell gescheitert. Mit Blick auf die Sozialisationstheorie von Alfred Lorenzer schreibt er: »[...]daß auch diese Methode ihre Anwender dazu auffordert, ›innere‹ Befindlichkeiten auf Unannehmlichkeiten der ›äußeren‹ Welt zu projizieren und dann diese Welt mit und aus jenen Befindlichkeiten zu verstehen … Sie verteidigen eine verlorene Sache. Diese liegt in der anthropomorphen Sichtweise von Gesellschaft, also der subjektphilosophischen Gewohnheit: Gesellschaft als geschichtlich vergegenständlichten Triebleib zu konzeptualisieren. Sie wollen es nicht lassen, den Trieb im System wiederzufinden« (Reiche 2004, 32). Alexander und Margarete Mitscherlichs Studie Die Unfähigkeit zu trauern, 1963 erschienen, ist vermutlich die wirkmächtigste Publikation einer »politischen Psychoanalyse« und hatte über Jahrzehnte großen Einfluss auf die öffentliche Debatte in Deutschland. »Der Essay traf damals einen Nerv der Zeit« (Brede 2019, 884). Im Zentrum dieser Analyse stand die »Unfähigkeit zu trauern«, die als Reaktion auf den Verlust des IchIdeals bei den Anhängern Hitlers verstanden wurde. Der Verlust des »Führers« und der mit seinem Sieg verknüpften persönlichen Hoffnungen habe bei seinen Anhängern nicht Trauer ausgelöst, sondern eine Melancholie, die von einer tiefen Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls geprägt gewesen sei. Ausdruck dieser Melancholie waren eine weitgehende Derealisierung, Verleugnung und Verdrängung. Insbesondere die eigene Verantwortung und Schuld wurden nach außen projiziert und um den Preis einer Gefühlsstarre erkauft, die dem klinischen Bild der Melancholie entspricht. Die Mitscherlichs argumentierten also ganz auf den Spuren Freuds, indem sie wie dieser davon ausgingen, dass das Verdrängte mit besonderer Macht wiederkehrt. Es war der »Verlust des Vaters«, der laut dieser Analyse die deutsche Nachkriegsgesellschaft zu einer »vaterlosen Gesellschaft« machte. – In einem Rückblick auf Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse schreibt Alexander Mitscherlich 1977: »Die Lebensverhältnisse in der technisierten Industriezivilisation haben sich deutlich in der Richtung einer Entwertung des Vaters als Vorbildfigur ausgewirkt; die Mutter folgt ihm auf dem Fuße… So etabliert sich, wie Herbert Marcuse … gesehen hat, eine weitgehend ›autoritätslose Familie’… Entzieht das nicht Freuds Hypothese der Massenentstehung den Boden? Statt Individuum – soziales Atom« (Mitscherlich 1977, 538). Robert Heim liest die »vaterlose Gesellschaft« der Mitscherlichs als Ursprungsmetapher für die Moderne. Steht doch der »Vater« in dieser als Inbegriff von Macht und Autorität – und die Mitscherlichs fragen, wie eine solche Gesellschaft »ohne Vater« zu einer stabilen sozialen Ordnung finden kann. – Auch im Denken Freuds finden wir diese Perspektive auf den »Vater«: Ist er doch die Instanz, die mittels des Über-Ichs transgenerativ die Weitergabe der grundlegenden »Tradition« garantiert. »Ohne Vater« zu sein bedeutet demnach ohne stabile transzendental verankerte Tradition leben zu müssen. – Heim parallelisiert Freuds Konstruktion mit Nietzsches Rede vom »Tod Gottes«: »Es liegt an dieser Stelle sinnfällig nahe, die Rede von einem Vatermord an
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den Wurzeln der Moderne in Verbindung mit Nietzsches Parabel vom tollen Menschen aus seiner Fröhlichen Wissenschaft zu bringen … Was der tolle Mensch seinen Brüdern ins Gesicht schleudert, daß sie nämlich alle an der Tötung Gottes mitbeteiligt waren und sie nun gemeinsam Konsequenzen und rechtmäßige Schuld auf sich zu nehmen hätten, die historische Wahrheit also: das ist lediglich ein Prozeßmoment in deren langer Geschichte seit dem Urvatermord« (Heim 1993, 356). Diese skeptische Einschätzung bezüglich einer »vaterlosen Gesellschaft« erinnert uns an Freuds Haltung in Warum Krieg?, wo er mit dem Verweis auf die Institution des Völkerbundes die Notwendigkeit einer äußeren Vater-Instanz betont. Eine andere Perspektive zur Frage der Religion hat David Winnicott eröffnet. Er erweiterte Freuds Bild vom schützenden Vater durch den Hinweis auf die »Mutter« als schutzgebende Instanz. Religiöses Erleben verstand er primär aus dem »präödipalen Erleben«, das er in der frühen Mutter-Kind-Beziehung verankert sah. Er postulierte einen »intermediären Erfahrungsbereich« im Zusammenhang mit so bezeichneten »Übergangsphänomenen«. Diese helfen dem Kind, den Druck der »Realität« besser zu ertragen und zu akzeptieren. Winnicott siedelt Religion und Kunst in diesem Bereich an. Die »Illusionen« seien ein Übergangsraum zwischen Realitätsprüfung und Halluzination, »ein intermediärer Bereich von Erfahrungen, in den in gleicher Weise innere Realität und äußeres Leben einfließen« (Winnicott 1974, 23), seien als ein solches Übergangsstadium vorübergehend produktiv und notwendig. Die neue und andere Perspektive auf das Phänomen der Religion ist folglich, dass diese nicht mehr als primär »pathologisch«, sondern als eine bis zu einem gewissen Grad notwendige »Illusion« helfen kann, die Enttäuschungen und Verzichtsforderungen des Lebens besser zu ertragen. Lassen wir zum Abschluss nochmals den Ägyptologen Jan Assmann zu Wort kommen. Er steht für die Einschätzung einer wachsenden Zahl von heutigen Kulturwissenschaftlern, die Freuds Kulturtheorie eine große Aktualität zuschreiben. Assmann weist darauf hin, dass wir in der jüngeren Geschichte Deutschlands (Stichwort Holocaust) einen sehr greifbaren Beleg für Freuds Theorien haben, wonach eine kollektive traumatische Erfahrung zunächst verdrängt und nach einer gewissen Latenzzeit machtvoll wiederkehrt. Erst in den späten 1960-er Jahren im Zusammenhang mit dem EichmannProzess in Jerusalem und den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt gab es einen ersten Erinnerungsschub. Dieser verschärfte sich in den 1968-Jahren, wo die Söhne nunmehr wissen wollten, was ihre Väter in der Nazizeit gemacht hatten. Der wirkliche Durchbruch kam erst in der zweiten Hälfte der 1980-er Jahre mit Claude Lanzmanns Film »Schoah«, dem deutschen Historikerstreit, den Debatten um Goldhagen und Walser. »Nach jahrzehntelanger Latenzphase, so scheint es, kehrt das Verdrängte wieder und zwingt die Welt in seinen Bann. Vielleicht hat uns dieser Prozeß empfänglich gemacht für die Pathologien der kollektiven Erinnerung und insbesondere für das Buch, aus dem diese Begriffe stammen: Trauma, Verdrängung, Latenz und eine die Massen in ihren Bann zwingende Wiederkehr des Verdrängten, ein Buch, das seinerseits, so scheint es, eine gut 50-jährige Latenzphase durchgemacht hat und seit Ende der 80-er Jahre … ein ganz einzigartiges Comeback erlebt. Ich meine Freuds letztes vollendetes Buch, Der Mann Moses und die monotheistische Religion« (Assmann 2004, 2).
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Zusammenfassung 1. Freuds Anliegen einer psychoanalytischen Kultur- und Gesellschaftstheorie hat in zahlreichen Schriften, die sich über gut 30 Jahre seines Schaffens ziehen, einen unübersehbaren Niederschlag gefunden und ist Ausdruck seiner Überzeugung, dass eine nur an der Individualentwicklung orientierte Psychoanalyse »unmöglich« ist. 2. Freuds erster Aufsatz zum Zusammenhang von Religion und Psychopathologie mündet in die These, die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religion, diese aber als universelle Zwangsneurose zu begreifen. 3. Der Aufsatz von 1908 rückt den Zusammenhang von Trieb und Kultur ins Zentrum: Jede Kultur ist auf der Unterdrückung der Triebe aufgebaut. Seine Analyse der aktuell herrschende Sexualmoral charakterisiert diese durch eine besondere Sexualfeindlichkeit, die zu einer Ausbreitung »lebenslanger Nervosität« führe und mündet in die Forderung einer radikalen Sexualreform. 4. In Totem und Tabu formuliert Freud seine These vom kulturgründenden Akt des Urvatermords. Das daraus resultierende unbewusste Schuldgefühl wird als entscheidendes Movens für die grundsätzliche Ambivalenz des Menschen der Kultur gegenüber begriffen und erzeugt eine explosive »Kulturfeindschaft«. 5. Freuds Analyse der Massenkultur von 1921 steht unter dem Eindruck des gerade beendeten »totalen Krieges« und seiner politischen Folgen. Als die ausschlaggebenden psychischen Kräfte, die eine soziale Masse erzeugen und ihre Bindung an einen Führer bewirken, werden Identifizierung und Idealisierung erkannt. 6. Im Mittelpunkt von Freuds Analyse der Religion von 1927 steht der Begriff der »Illusionen«. Diese haben die Funktion, den Menschen ein Überleben angesichts ihrer grundsätzlichen Hilflosigkeit und ihrem Ausgeliefertsein an die »Grausamkeit des Schicksals« zu ermöglichen. Dieser Gewinn wird allerdings um einen hohen Preis erkauft, denn die Illusionen der Religion seien letztlich »Wahnideen« und schwächen damit den Realitätssinn. Freud erhofft für die nahe Zukunft eine Stärkung der »Stimme der Vernunft«. 7. Das Unbehagen in der Kultur stellt den Versuch dar, Freuds bisherige Analyse von Kultur und Religion mit seiner neuen Trieblehre zu verbinden. Die neue Einsicht ist jene in die als primär verstandene Destruktivität als »stärkstes Hindernis« für jede Kultur. So bleibt die entscheidende Herausforderung für die Kultur, diese destruktiven Kräfte ausreichend zu hemmen. Die Verinnerlichung der Aggression führt zu einem entsprechend »grausamen« Über-Ich, was sich als Gefahr erweist, dass die latente Kulturfeindschaft jederzeit in eine »offene« umschlagen kann. 8. Warum Krieg? wiederholt wesentliche Thesen aus Freuds Schrift von 1930 und mündet wieder in die leise Hoffnung, dass die »Erstarkung des Intellekts« und die »Verinnerlichung der Aggressionsneigung« die Gefahr von Krieg und Selbstvernichtung einschränken könnten. 9. Der Mann Moses kann nicht nur als Summe von Freuds Einsichten in den Zusammenhang von Religion und Schuldproblematik, sondern auch als sein psychoanalytisches »Testament« gelesen werden. Die an der Neurose gewonnene »Formel« von der zwingenden Abfolge von Trauma, Abwehr, Latenz und Wiederkehr des Verdrängten wird als Folie für die Analyse der Entstehungsgeschichte der mosaischen
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Religion und ihrer Folgen bis hin zum neuerlichen Erstarken des Antisemitismus argumentiert. Eine essentielle Erkenntnis gilt der Möglichkeit einer unbewussten Weitergabe von »Tradition«. Freuds vorsichtige Hoffnung setzt auf einen »Fortschritt in der Geistigkeit«, auf eine Psychoanalyse, die den Versuchungen der »Bilder« widersteht und sich an der Analyse des »Textes« bewährt.
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Literaturverzeichnis
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