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German Pages [404] Year 2017
BeiträgezuEvangelisationund Gemeindeentwicklung Herausgegebenvon MichaelHerbst/JörgOhlemacher/ JohannesZimmermann
Band23 MalteDetje ServantLeadership
MalteDetje
ServantLeadership AnsätzezurFührungundLeitunginder Kirchengemeindeim21.Jahrhundert
Vandenhoeck&Ruprecht
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Da mihi nunc hodie rite incipere, quia nihil est, quod hactenus feci
Geleitwort von Michael Herbst
Wahlen zu den Kirchengemeinderäten stehen bevor. Kandidatinnen und Kandidaten treffen sich zu einer Tagesveranstaltung über „geistliche Leitung“. Sie wollen herausfinden, was eigentlich ihre Aufgabe ist als Leitungsgremium einer Kirchengemeinde. Sie interessiert besonders die Frage, was an kirchlichen Leitungsaufgaben geistlich ist. Sie bewegt ein wenig die Sorge: Werden wir das schaffen, neben unseren anderen Lebensaufgaben? Und wird unser Leiten überhaupt Raum haben für das „Geistliche“ – oder wird unsere Zeit vollständig durch Verwaltung absorbiert (Gebäude – Finanzen – Personal), wenn nicht gerade die nächste Krise zu bewältigen ist? Was auf den ersten Blick völlig klar zu sein scheint, zeigt bei näherem Hinsehen durchaus einige Komplexität. Auch in der Kirche wird geleitet. Es finden Prozesse sozialer Einflussnahme statt, durch die Führungspersonen die Mitglieder einer Gruppe auf ein Ziel hin steuern (nach Alan Bryman). Wenn es gut geht, wird gut geleitet, weil die, die leiten, etwas von ihrem Handwerk verstehen und obendrein beziehungsfähige Personen sind. Was aber bedeutet es, wenn solches Leiten auch noch „geistlich“ (und nicht nur einfach gut) sein soll? Schlüsselt man diese Frage noch etwas auf, so ist es fast wie bei einer russischen Matrjoschka-Puppe: Unter jeder Figur steckt sofort eine weitere, jede Antwort weckt sofort eine neue Frage. Nehmen wir an, dass geistliche Leitung eine Leitung ist, die etwas mit Gottes Geist zu tun hat, sich also z.B. im eigenen Leitungshandeln von Gottes Geist leiten lässt, dann fangen die Fragen ja erst an: Kann man solches Leiten lernen, handhaben, erkennen, überprüfen? Malte Detje hat dieses Thema wissenschaftlich erkundet. Er hat dazu in seiner praktisch-theologischen Studie zahlreiche Fragestellungen hinsichtlich kirchlicher Leitung identifiziert und bearbeitet. Dazu zieht er Literatur aus unterschiedlichen Wissensgebieten heran: neben theologischen Forschungsfeldern betritt er auch die Felder der Betriebswirtschaftslehre und der Organisationspsychologie, insbesondere der Führungsforschung. Ein erstes Verdienst seiner Studie ist diese vorzügliche tour d’horizon durch diese Forschungslandschaften, die dem Leser und der Leserin einen aktuellen Überblick und zwar in der Zusammenschau der Disziplinen bietet. Malte Detje wurde aber nicht allein für diese „lexikalische“ Leistung promoviert, sondern für das theologische Durchdringen der komplexen Fragen kirchlicher Leitung. Unter ande-
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Geleitwort von Michael Herbst
rem fragt er, ob Leitung ethisch zu legitimieren ist, wie also der Umgang mit Macht zu bewerten ist. Ebenso stellt er sich der Frage, ob Leitung theologisch zu legitimieren ist, also menschliches Leiten gegenüber/unter/in/mit göttlichem Leiten seinen Ort finden kann. Und er macht eigenständige, ebenso nüchterne wie hoffnungsvolle Vorschläge zu einem Dilemma: Ist Leitung überhaupt möglich, wenn wir den systemischen Charakter menschlicher Vergemeinschaftungen ernst nehmen? Auf zwei grundlegende Orientierungen seien die Leserinnen und Leser bereits hier hingewiesen. Malte Detje bearbeitet das Thema mit einer bestimmten theologischen Perspektive, die eine eigenständige und m.E. höchst reizvolle Sicht auf die gestellten Fragen erlaubt. Er beschreibt durchgängig den besonderen Zugang zum Thema, der durch die Rechtfertigungsbotschaft möglich wird. Dies verbindet sich bei ihm mit der im Thema schon anklingenden Vorstellung von guter, wohl auch geistlicher Leitung als „servant leadership“. Dieses, zuerst von Robert K. Greenleaf (also im Kontext säkularer Wirtschaft) entwickelte Konzept ermuntert Führungspersonen, ihre Arbeit als Dienst an der Mündigkeit ihrer Mitarbeiter, an der Entfaltung ihrer Potenziale und am sozialen Gesamtnutzen zu orientieren. Führung und Leitung sind demnach Dienst an den Geleiteten, in der Hoffnung, dass diese wiederum anderen leitend dienen oder andere dienend leiten. Betrachtet man dieses Modell theologisch, dann wird einerseits die Kompatibilität mit biblischen Vorstellungen (wie etwa in Mk 10,35–45) deutlich, andererseits aber auch die grundlegende Überforderung des in sich selbst verkrümmten Menschen als Sünders ansichtig. In der Rechtfertigungsbotschaft vermag Malte Detje beides wieder miteinander zu verklammern. Gute Leitung als Dienst ist möglich, insofern der Sünder Gnade erfährt und darauf mit dem „guten Werk“ der guten Leitung als Dienst antwortet. Was könnte das alles nun den angehenden Kirchengemeinderäten sagen? Bei jener Tagung wurden die Beteiligten besonders durch Simon Sineks „golden circle“ inspiriert. Sinek ist Ökonom, und bei seinem „golden circle“ geht es darum, dass Organisationen und Unternehmen von einem starken „why“ leben, einem „Warum“, also einer anziehenden Vorstellung vom guten Leben, zu dem diese Organisation etwas Wesentliches beizutragen vermag. Erst dann sollte nach dem „what“ und dem „how“ gefragt werden, also den konkreten Produkten und den Prozeduren ihrer Herstellung und ihres Vertriebs. Oftmals dominieren aber das „Was“ und das „Wie“, auch in kirchlichen („Reform“-) Debatten. Dann übernehmen die kirchlichen Strukturfragen das Regiment, und Leitung hat es mit der schmerzhaften Bewältigung der Anpassungszwänge zu tun, in denen sich eine schrumpfende Kirche in einem sich säkularisierenden Kontext vorfindet. Das „Warum“ gerät aus dem Blick. Gute, ja geistliche, also für Gott und sein Wort offene Leitung wird dem gegenüber immer wieder nach dem „Warum“ fragen und von
Geleitwort von Michael Herbst
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Gottes Verheißungen und Aufträgen her die Geschicke einer Gemeinde in den Blick nehmen und lenken. Auch Verwaltungsaufgaben („what“) bekommen so ihren Platz. Wir organisieren in ihnen das Nötige, damit Räume vorhanden sind, in denen das „Warum“ zum Zuge kommen kann. Ebenso spannend war für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung die Idee einer „servant leadership“. Sie erkannten die biblische Handschrift hinter diesem Konzept und erinnerten sich daran, dass Jesus sich selbst als Diener bezeichnete. Und sie sahen darin ein attraktives „Warum“ ihrer eigenen Leitungsaufgabe: den einzelnen Christen und der Gemeinde als ganzer zu dienen, damit möglichst viele Zugang zum Evangelium bekommen, ein mündiges und lebendiges Christsein leben und die Liebe Gottes in ihrem Umfeld in Wort und Tat bezeugen können. Fragen guter und geistlicher Leitung gehören zu den spannendsten Themen im kirchlichen Leben und im theologischen Diskurs unserer Tage. Malte Detje hat mit seiner feinen theologischen Studie nicht nur eine Schneise durch die umfängliche Literatur zum Thema geschlagen, er macht zugleich einen theologisch seriösen Vorschlag zur Gestaltung guter und tatsächlich geistlicher Leitung, der erkennbar auf die Wirklichkeit von Gemeinden in unserer Zeit bezogen ist.
Greifswald, Oktober 2016
Michael Herbst
Vorwort und Dank
Die vorliegende Untersuchung wurde von der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald im Herbst 2015 als Inauguraldissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie nur marginal verändert. Die folgenden Ausführungen basieren auf Forschungsarbeiten, die mir in den Jahren 2011–2014 möglich gemacht wurden. Das war für mich eine intensive Zeit, die mit persönlich hohem Erkenntnisgewinn zum Thema „Führen und Leiten“ verbunden war. Einen Auszug davon hoffe ich nun mit dem geneigten Leser teilen zu dürfen. Dennoch sind mir im Rückblick besonders die Begrenzungen und Schwächen dieser Untersuchung bewusst. Ich bin inzwischen zurückhaltender geworden. Aber wenn mein Beitrag an der einen oder anderen Stelle doch zu einem kleinen Gedankenimpuls führen kann, will ich zufrieden sein. In den Jahren 2013 und 2014 hatte ich das Privileg, als „BogislawStipendiat“ von der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifwald gefördert zu werden. Dieses Stipendium hat diese Arbeit in vielerlei Hinsicht erst ermöglicht. Auch wenn diese Dissertation mit viel „einsamer Schreibtischarbeit“ einherging, wäre sie ohne die vielen Menschen nicht möglich gewesen, die mich auf diesem Weg auf verschiedenste Weise begleitet und unterstützt haben. Ihnen möchte ich danken, ohne dass ich sie alle namentlich erwähnen könnte. Ein großer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Michael Herbst für seine Begleitung und die vielen intensiven wie umfangreichen Rückmeldungen. Er war im Blick auf diese Arbeit stets hoffungsvoller als ich. Das hat mir viel Kraft und Mut gegeben, in den schwierigen Phasen weiterzugehen. Dankbar bin ich ebenfalls Herrn Professor Dr. Roland Rosenstock für die Erstellung des Zweitgutachtens und die zahlreichen weiterführenden Anregungen wie Impulse. Herrn Professor Dr. Steffen Fleßa danke ich für die Erstellung des Drittgutachtens. Als Betriebswirtschaftswissenschaftler hat er mir durch seine Anmerkungen bei der Bearbeitung dieses interdisziplinär ausgerichteten Themas in vieler Hinsicht weitergeholfen. Dankbar bin ich ebenfalls den vielen Menschen, die mein kybernetisches Denken geprägt haben. Das nimmt seinen Anfang bei Pastor Lars Reimann, der in mir das Interesse am Thema bereits als Jugendlicher geweckt hat und bei dem ich vieles über den engen Zusammenhang von Leiten und Dienen lernen durfte. Da sind aber ebenso die unzähli-
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Vorwort und Dank
gen Menschen (besonders aus der ev.-luth. Apostelkirchengemeinde in Kiel), mit denen ich gemeinsam ganz praktisch so vieles über Führen und Leiten entdecken durfte und die mir großherzig den einen oder anderen Fehler verziehen. Darüber hinaus bin ich für den anregenden Austausch mit den Kollegen aus dem Greifswalder Doktorandenkolloquium sowie aus der Theologischen Fakultät der Universität Kiel dankbar. Als ausgesprochen hilfreich empfand ich es ebenso, das Thema „Führen und Leiten“ mit Kieler Studierenden in der einen oder anderen Lehrveranstaltung weiterzudenken und von ihren Geistesblitzen profitieren zu dürfen. Dankbar bin ich auch den unzählig vielen Freunden und Kollegen, die diese Arbeit in verschiedensten Fassung in aller Gründlichkeit korrekturgelesen haben. Für die Aufnahme in die Reihe „Beiträge zur Evangelisation und Gemeindeentwicklung“ danke ich den Professoren Michael Herbst, Jörg Ohlemacher und Johannes Zimmermann sowie Herrn Ekkehard Starke vom Neukirchener Verlag für die freundliche Begleitung bei der Erstellung der Druckfassung. Der größte Dank gilt meiner Frau Teresa. Ich bin dankbar für ihre aufmunternden Worte und ihre empathische Gelassenheit, wenn ich wieder einmal einen Abend am Schreibtisch verbracht habe.
Büchen, September 2016
Malte Detje
Inhalt
Geleitwort von Michael Herbst ........................................................... VII Vorwort und Dank ............................................................................... XI 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4.
Teil I 2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.3. 3.3.4. 3.4. 4. 4.1.
Einleitung .................................................................................. 1 Führen und Leiten auf dem Weg zu einer praktischtheologischen Disziplin ............................................................. 2 Begriffsklärung: Führen, Leiten, Leadership, Management und Kybernetik .................................................... 6 Der gesellschaftswissenschaftliche Horizont: Postoder Spätmoderne? .................................................................. 10 Zur Architektur der Kybernetik und dem Aufbau der Untersuchung .......................................................................... 15 Führen und Leiten in der Praktischen Theologie .................... 19 Zur Methodik........................................................................... 21 Modelle von Führen und Leiten in der Praktischen Theologie ................................................................................. 24 Günther Breitenbach – Gemeinde leiten ................................. 24 Bernhard Petry – Leiten in der Ortsgemeinde ........................ 32 Weitere Ansätze im Überblick ................................................ 37 Friederike und Peter Höher – Handbuch Führungspraxis Kirche ............................................................ 37 Ulrich Müller-Weißner – Chef sein im Haus des Herrn ......... 40 Dieter Pohl – Gemeinde erfolgreich leiten ............................. 43 Christian A. Schwarz – The 3 Colors of Leadership .............. 45 Zwischenfazit – Die systemische Wende in der theologischen Literatur zu Führen und Leiten ........................ 48 Führen und Leiten in Kirchentheorie und Gemeindeaufbau ..................................................................... 51 Michael Herbst – Vom missionarischen Gemeindeaufbau zu Geistlich leiten ....................................... 51
XIV 4.2. 4.3. 4.4. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.6. 5.6.1. 5.6.2. 5.6.3. 5.7. 6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.3.1. 6.3.2. 6.3.3. 6.3.4. 6.3.5. 6.3.6.
Inhalt
Reiner Preul – Kirchentheorie................................................. 65 Jan Hermelink – Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens .............................................................. 72 Zwischenfazit – vorsichtig gesprochen: Erst Kirche, dann Leitung............................................................................ 80 Führen und Leiten in der Pastoraltheologie ............................ 82 Manfred Josuttis – Der Pfarrer als Führer in das Heilige ..................................................................................... 83 Isolde Karle – Der Pfarrberuf als Profession .......................... 88 Christian Grethlein – Pfarrer – ein theologischer Beruf! ...................................................................................... 94 Ulrike Wagner-Rau – Auf der Schwelle ................................. 98 Nikolaus Schneider/Volker Lehnert – Berufen – wozu? .................................................................................... 104 Weitere Ansätze im Überblick .............................................. 110 Albrecht Grözinger – Das Pfarramt als Amt der Erinnerung ............................................................................. 110 Wilhelm Gräb – Der Pfarrer als Religionshermeneut ........... 113 Alexander Deeg – Pastor legens ........................................... 115 Zwischenfazit – ein ambivalenter Befund und das „Mittler-Schema“ .................................................................. 117 Zwischenbilanz ..................................................................... 119 Das leitende Individuum: Der personale Aspekt von Leitung als bisher selten beachtetes Thema .......................... 119 Wie wird der Begriff „Führen und Leiten“ in der kirchlich-theologischen Literatur gefüllt? – Fünf Akzentuierungen ................................................................... 120 Die prinzipielle Ebene – Fundamentalkybernetische Problemstellungen in sechs Fragekomplexen gebündelt ............................................................................... 122 Die normative Grundlage der Gestalt und das „Woher“ kirchengemeindlicher Leitung .............................................. 123 Wer leitet die Gemeinde? Die Subjekte gemeindlicher Leitung .................................................................................. 126 Wer ist die Gemeinde? Die Bindungsformen und das Verhältnis von Christsein und Gemeinschaft ....................... 128 Ist Leitung coram hominibus erlaubt? Die Wahrheitsfrage in der Kybernetik ......................................... 130 Ist Leitung coram deo erlaubt? Gottes- und Menschenhandeln in der Kybernetik .................................... 132 Ist Leitung coram mundo möglich? – Steuerung komplexer Systeme ............................................................... 133
Inhalt
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Teil II Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung außerhalb des kirchlich-theologischen Diskurses ................. 135 7. Was ist Führung? – Ein Überblick zum gegenwärtigen Stand der Theoriebildung ...................................................... 137 7.1. Die Eigenschaftstheorie – Führen als eine Eigenschaft der Führungskraft .................................................................. 139 7.2. Die Skill-Theorie – Führen als eine Fähigkeit ...................... 141 7.3. Die Führungsstil-Theorie – Führung als ein Verhalten ........ 142 7.4. Situative Führung – Die Bedeutung des Geführten für den Führungsprozess ............................................................. 144 7.5. Die Leader-Member Exchange Theorie – Führung als Beziehung .............................................................................. 146 7.6. Die transformationale Führungstheorie – Führen als Veränderung zu einem Ziel ................................................... 147 7.7. Die Kontingenztheorie – die Bedeutung der Situation für den Führungsprozess ....................................................... 151 7.8. Team-Leadership: Von der Dyade zur Gruppe ..................... 152 7.9. Systemische Führung: Führung als ein systemischer Prozess ................................................................................... 153 7.10. Führung und Kultur: Die kontextuell-kulturelle Dimension von Führung ........................................................ 154 8. Systemisch orientierte Zugänge zu Führen und Leiten......... 157 8.1. Systemisch orientiertes Führen und Leiten bei Fredmund Malik .................................................................... 159 8.2. Systemisch orientiertes Führen und Leiten bei Daniel Pinnow ................................................................................... 163 8.3. Zwischenfazit ........................................................................ 167 9. Servant Leadership ................................................................ 170 9.1. Servant Leadership bei Robert Greenleaf ............................. 171 9.2. Die zehn Kennzeichen von Servant Leadership nach Larry Spears .......................................................................... 173 9.3. Anwendungsfelder von Servant Leadership ......................... 175 10. Gegenwärtige Trends und Themen der Führungsforschung ................................................................ 177 10.1. Authentizität .......................................................................... 177 10.2. Ethik und Werte .................................................................... 179 10.3. Die Haltung der Demut sowie das Zeigen von Schwäche ............................................................................... 180 10.4. Vertrauen ............................................................................... 182 10.5. Kompetenz im Umgang mit Mobilität und Flexibilität ........ 184 10.6. Wandel, Komplexität und Netzwerke ................................... 185 10.7. Storytelling ............................................................................ 190 10.8. Generation Y ......................................................................... 192
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Inhalt
10.9.
Kultursensibles Führen und Leiten unter den spezifischen Eigenarten des deutschen Kontextes ................ 196 10.10. Führung und Gender Studies................................................. 199 10.11. Zwischenfazit: Gegenwärtige Trends und Themen der Führungsforschung in einer Zusammenschau ...................... 204 11. Zwischenfazit: Der aktuelle state of the art der Führungsforschung – Leadership im 21. Jahrhundert .......... 206 Teil III Theologische Grundlagen von „Führen und Leiten“ – Prinzipiell-kybernetische Überlegungen ............................... 209 12. Einleitende Bemerkungen zur prinzipiellen Kybernetik....... 211 13. Die normative Grundlage der Gestalt und der Begründungszusammenhang kirchengemeindlicher Leitung .................................................................................. 214 13.1. Leitungsformen im Neuen Testament ................................... 215 13.2. Die Frage der Kirchengestalt in der Confessio Augustana .............................................................................. 216 13.3. Kybernetik und Kontext ........................................................ 217 13.4. Theologische Kriterien für eine Kontextualisierung von Gemeindeleitung ............................................................ 219 13.5. Fazit: Ein Votum für das Lernen von außerkirchlicher Führungs- und Leitungspraxis bei Beachtung theologischer Kriterien .......................................................... 221 14. Wer leitet die Gemeinde? Die Subjekte gemeindlicher Leitung .................................................................................. 222 14.1. Sollen Pfarrerinnen und Pfarrer leiten? ................................. 223 14.2. Das Verhältnis der Leitungssubjekte zueinander .................. 228 15. Wer ist die Gemeinde? Die Bindungsformen und das Verhältnis von Christsein und Gemeinschaft ....................... 231 15.1. Beschreibung der Problematik und ihre Relevanz für die Leitungsfrage ................................................................... 231 15.2. Hat Glaube einen ekklesialen Charakter? – 3 Einwände ............................................................................ 233 15.2.1. Der pistologische Einwand: Der freiheitliche und antinomische Charakter des Glaubens .................................. 234 15.2.2. Der empirische Einwand: Die gegenwärtige Wirklichkeit muss ernst genommen werden ......................... 235 15.2.3. Der historische Einwand: Die Historisierung der kirchlichen Beteiligung ......................................................... 237 15.3. Eine Antwort in Thesen ........................................................ 239 16. Ist Leitung coram hominibus erlaubt? Die Wahrheitsfrage in der Kybernetik ......................................... 247
Inhalt
16.1. 16.2. 16.3. 16.4. 16.5. 17. 17.1. 17.2. 17.3. 17.4. 18. 18.1. 18.1.1. 18.1.2. 18.1.3. 18.2. 18.3. 18.3.1. 18.3.2. 18.3.3. 18.4. 18.4.1. 18.4.2. 18.4.3. 18.4.4. 18.5. 18.5.1. 18.5.2. 18.5.3.
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Von der Unmöglichkeit, nicht zu leiten ................................ 248 Was ist Wahrheit? Auseinandersetzung mit konstruktivistischen Perspektiven ......................................... 250 Leitung durch die Heilige Schrift.......................................... 256 Der Zusammenhang von Liebe und Wahrheit ...................... 261 Eine Zusammenfassung in Form von Thesen ....................... 264 Ist Leitung coram deo erlaubt? Gottes- und Menschenhandeln in der Kybernetik .................................... 265 Fünf Anfragen an gezieltes Leitungshandeln ....................... 266 Erste Antwortversuche: Pragmatismus, Inkarnation und Pneumatologie ................................................................ 269 Vom Glauben und den guten Werken ................................... 273 „Wort und Antwort“ – Bündelung und praktische Konsequenzen ....................................................................... 277 Ist Leitung coram mundo möglich? – Steuerung komplexer Systeme ............................................................... 281 Die Grundsatzfrage – Ist Steuerung möglich? ...................... 282 Systemische Wahrnehmung führt zu einer erhöhten Steuerbarkeit.......................................................................... 282 Systemische Leitung hat eine deutliche personale Dimension ............................................................................. 283 Die Metapher des Segelns ..................................................... 285 Konkret Leiten unter komplexen Bedingungen – Ein erster Überblick anhand der Theorie U ................................. 286 Die erste Aufgabe – Die schnelle Lösung vermeiden und Wahrnehmungsbarrieren aufbrechen ............................. 289 Downloading, sowie die vier Barrieren des Lernens und Veränderns ..................................................................... 289 Technische Lösungen für adaptive Herausforderungen vermeiden .............................................................................. 290 Weitere Wahrnehmungsbarrieren ......................................... 291 Die zweite Aufgabe – Wahrnehmung und Interpretation ......................................................................... 292 Strukturen und Kultur ........................................................... 293 Die beteiligten Personen wahrnehmen .................................. 295 Von der Interpretation und mentalen Modellen .................... 296 Systemische Zusammenhänge erkennen ............................... 297 Die dritte Aufgabe: Grundlagen für Veränderungen schaffen ................................................................................. 298 Veränderungsbereitschaft generieren im Disäquilibrium....................................................................... 299 Das Energielevel einer Kirchengemeinde erhöhen – Von Drachen, Prinzessinnen und dem Bräutigam ................ 301 Weitere Ansatzpunkte zur Erhöhung der adaptiven Kapazität einer Kirchengemeinde ......................................... 302
XVIII
Inhalt
18.5.4. Konflikte komponieren ......................................................... 304 18.6. Die vierte Aufgabe: Gemeinsam zu einer Vision gelangen ................................................................................ 305 18.6.1. Die Vision und das Presencing ............................................. 305 18.6.2. Von der persönlichen zur gemeinsamen Vision – Sinnkopplung ........................................................................ 306 18.6.3. Die Vision und das systemische Denken .............................. 307 18.6.4. Eine christliche Adaption des Presencing ............................. 308 18.6.5. Der Moment des Verdichtens – Die Vision wird konkret ................................................................................... 310 18.7. Die fünfte Aufgabe: Experimentieren und Implementieren ..................................................................... 311 18.7.1. Von Prototypen und Experimenten ....................................... 311 18.7.2. Implementieren und Reduzieren ........................................... 313 19. Zwischenfazit: Überlegungen zu einem prinzipiellkybernetischem Gesamtbild .................................................. 316 Teil IV Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership ............................................................................. 319 20. Was ist Servant Leadership? ................................................. 321 20.1. Die 7 Säulen von Servant Leadership nach Sipe und Frick ...................................................................................... 323 20.2. Das Servant-Leadership-Modell nach Liden, Wayne, Zhao und Henderson ............................................................. 326 20.3. Der Mehrwert dieses Modells von Servant Leadership ........ 330 20.4. Das Proprium von Servant Leadership gegenüber anderen Konzeptionen von Führung und Leitung ................ 331 20.5. Was bewirkt Servant Leadership?......................................... 333 20.6. Mögliche Missverständnisse und Gefahren von Servant Leadership ................................................................ 336 20.7. Zwischenfazit – Was ist Servant Leadership? ...................... 340 21. Servant Leadership als integratives Modell .......................... 343 21.1. Servant Leadership und der mehrschichtige Führungsprozess .................................................................... 344 21.2. Servant Leadership und systemisches Führen und Leiten ..................................................................................... 344 21.3. Servant Leadership und Führung in der Spätmoderne .......... 345 21.4. Servant Leadership und prinzipiell-kybernetische Überlegungen ........................................................................ 346 21.5. Servant Leadership und die praktisch-theologische Diskussion ............................................................................. 348 22. Die Tiefendimension von Servant Leadership ...................... 350
Inhalt
22.1.
XIX
Die Problematisierung des „klassischen“ Dienstverständnisses ............................................................. 351 22.2. Leiten als Dienen in Mk 10,35-45 und die Spätmoderne .......................................................................... 353 22.3. Das Gesetz und Servant Leadership...................................... 357 22.4. Das Evangelium und Servant Leadership ............................. 360 22.5. Konsequenzen aus Gesetz und Evangelium für Servant Leadership ............................................................................. 362 23. Skizzen pastoraltheologischer Implikationen ....................... 365 Literatur ............................................................................................... 368 Abbildungen ........................................................................................ 384
1.
Einleitung
An einem Sonntag im Jahr 2010 saß ich in der Gemeindeversammlung einer ev.-luth. Stadtgemeinde in Kiel. Auf der Tagesordnung standen die neuen Gottesdienstzeiten an den drei Standorten, die sich aufgrund einer Fusion ergeben hatten. In mühevoller Arbeit hatte der Kirchenvorstand ein neues Konzept erstellt und präsentierte dies nun der aufgeregt versammelten Gemeinde, mit allerlei Einzelheiten und Argumenten. Im Anschluss kam es zur Aussprache mit reger Beteiligung. Schnell stellte sich heraus, dass die meisten versammelten Gemeindeglieder das Konzept so nicht wollten. Am Ende des Prozesses wurde ein anderes Modell verabschiedet, das bei nüchterner Betrachtung gegenüber dem ursprünglichen Entwurf keineswegs eine Verbesserung darstellte. Nach meinem Empfinden schien es unterschwellig um etwas anderes zu gehen: um den Entscheidungsfindungsprozess und dass es vielen Gemeindegliedern zuwider war, hier vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Ich beobachtete dieses Geschehen vergleichsweise unbeteiligt, aber dennoch entstanden bei mir neue Fragen, die mein bisheriges Verständnis von Gemeindeleitung ins Wanken brachten. Bisher hatte ich es als die wesentliche Aufgabe von Leitung betrachtet, einen Kurs festzulegen und die Gemeinde auf diesen mitzunehmen. Dieses Bild war stark von der US-amerikanischen Willow Creek Community Church und ihrem Pastor Bill Hybels geprägt gewesen.1 Aber diese Vorstellung von Gemeindeleitung schien an diesem Sonntag an eine Grenze gestoßen zu sein. Auch an anderen Orten gemeindlichen Lebens machte ich ähnliche Beobachtungen, besonders hinsichtlich der jüngeren Generation. Autoritäten wurden mehr und mehr hinterfragt, vorgegebene Lösungen weniger akzeptiert. So entstand bei mir die Ausgangsfrage dieser Dissertation: Wie lässt sich in einer spätmodernen Zeit zunehmender Komplexität, höherem Autonomiebedürfnis, steigender Subjektivität und Individualität theologisch verantwortet in einer Kirchengemeinde führen und leiten?
1
Vgl. Hybels (2002).
2
1. Einleitung
Dieser biographische Einstieg mag einerseits die Motivation für die Beschäftigung mit der eben formulierten Ausgangsfrage verdeutlichen. Er wurde aber ebenfalls gewählt, um zu unterstreichen, wie sehr wissenschaftliches Fragen immer auch lebensgeschichtlich bedingt ist. Eine vollständige wissenschaftliche Neutralität und Objektivität gibt es in letzter Konsequenz nicht, und es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, dies gerade zu Beginn einer Untersuchung zuzugestehen.2 Selbst wenn im weiteren Verlauf auf das „Ich“ verzichtet wird, soll eine gewisse biographische Bedingtheit des Verfahrens nicht verschwiegen werden. Dazu gehört ebenso die Anmerkung, dass die folgende Untersuchung im Anschluss an mein Theologiestudium und vor dem „kirchlichen Dienst“ entstanden ist. „Pastorale“ Erfahrungen mit Gemeindeleitung habe ich nicht, dennoch einige als „Ehrenamtlicher“. Dieser also verhältnismäßig „unvoreingenommene Blick“ ist gleichsam Chance und Begrenzung, wenn wir nun der Frage nachgehen werden, wie Führungs- und Leitungsprozesse in einer Kirchengemeinde unserer Zeit gestaltet werden können. 1.1.
Führen und Leiten auf dem Weg zu einer praktischtheologischen Disziplin
Wie lässt sich in der Spätmoderne theologisch verantwortet eine Gemeinde leiten? Um diese Frage zu vertiefen, legt es sich nahe, das praktisch-theologische Themenfeld von „Führen und Leiten“ zu betreten. Doch hier steht man schon vor einer ersten Herausforderung, welche die Beantwortung jener Ausgangsfrage verkompliziert. Denn wer eine Reise hierher unternimmt, der wird schnell eine gewisse Unübersichtlichkeit wahrnehmen. Das Thema „Führen und Leiten“ erscheint wie ein großer Wollknäuel mit zahlreichen Fäden, die einzeln schwer zu fassen sind. Aber warum ist das so? Dafür lassen sich meines Erachtens vier wesentliche Ursachen benennen. 1) So manche Unklarheit liegt darin begründet, dass „Führen und Leiten“ als eigenständige praktisch-theologische Disziplin noch im Entstehen begriffen ist. Es ist durchaus umstritten, welche Aspekte und Fragestellungen jenes Fach umfassen sollte und wo sinnvolle Abgrenzungen sowie Wechselbeziehungen zu anderen Disziplinen der Praktischen Theologie zu bestimmen sind. Dabei ist es ebenfalls ungewiss, ob das Thema am Ende des Prozesses seiner Genese überhaupt einen Platz im
2
Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 17: „Immer schon haben auch Forscherinnen und Forscher ein Verhältnis zur Kirche, ein bestimmtes Maß an Nähe oder Ferne, bestimmte Erfahrungen oder Nicht-Erfahrungen mit ihr gemacht.“
1. Einleitung
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praktisch-theologischen Kanon erhalten wird.3 Weil es sich bei „Führen und Leiten“ also um eine vergleichsweise junge Disziplin handelt, ist hier vieles noch im Fluss. 2) Eine besondere Problematik besteht darin, dass „Führen und Leiten“ als abgrenzbare Tätigkeit kaum zu fassen ist. Nur schwer lässt sich hier eine Normalsituation bestimmen, wie sie vereinfacht gesagt die gottesdienstliche Rede am Sonntagmorgen für die Homiletik, oder die Unterrichtsstunde für die Religionspädagogik darstellen. Ähnlich beschreibt es auch Ralph Kunz: „Die Steuerung, Leitung und Entwicklung der Kirche lässt sich nur schwer als eigenständiges, klar begrenztes und definierbares Tätigkeitsfeld beschreiben. Im Unterschied zur Predigt-, Seelsorge- und Unterrichtstätigkeit, werden auf den ersten Blick – abgesehen von der kirchenrechtlichen Dimension – keine spezifischen Merkmale eines Handelns, die sich zu einer Lehre bündeln ließen, erkennbar.“4 3) Es ist nicht nur schwierig, „Führen und Leiten“ hinsichtlich einer praktischen Tätigkeit präzise zu bestimmen. Ähnliche Schwierigkeiten liegen vor, wenn man sich dem Thema theoretisch nähert. Denn die Diskussion rund um „Führen und Leiten“ ist oftmals eng verbunden mit anderen praktisch-theologischen Fragestellungen, ohne jedoch mit ihnen deckungsgleich zu sein. Ralph Kunz spricht in diesem Zusammenhang von zahlreichen Verflechtungen.5 So überschneidet sich „Führen und Leiten“ mit Geistlicher Begleitung, Gemeindeentwicklung, berührt die Diskurse der Pastoraltheologie wie jene bezüglich des Ehrenamtes und wird in den letzten Jahren besonders vor einem kirchentheoretischen Horizont verhandelt. Bei letzterem überlagert sich das Themengebiet „Führen und Leiten“ besonders mit der Frage nach den Chancen und Grenzen einer „Ökonomisierung der Kirche“, ihrem organisationalen Charakter und dem Für und Wider des Lernens von der Wirtschaft. Die Frage nach „Führen und Leiten“ ist jedoch nicht mit der Frage nach einer „Ökonomisierung von Kirche“ deckungsgleich und so ist der beobachtbaren Tendenz zu wehren, Gemeindelei3
So bleibt Godwin Lämmermann in seiner „Einleitung in die Praktische Theologie“ skeptisch und behauptet, dass „Organisation und Leitung keine primären und selbstständigen Funktionen kirchlichen und religiösen Handelns sind.“ Lämmermann (2001), 167. 4 Kunz (2007), 654. 5 Vgl. ebd., 613f: „Die Entwicklung der kybernetischen Diskussion zu überblicken und systematisch darzustellen, ist ein entsprechend schwieriges Unterfangen. [...]. Die Verflechtung der Kybernetik mit der Kirchentheorie, der Ämterlehre, dem Kirchenrecht und der Kirchen- wie der Religionssoziologie bringen es mit sich, dass ein erheblicher Teil der Diskussion als Prolegomena zur praktischen oder als Appendix zur systematischen Theologie und somit nicht in einem eigentlichen Fachdiskurs geführt werden.“
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tung nur vor diesem Horizont potentieller „Ökonomisierung“ zu betrachten.6 Denn der Sache nach ist die Aufgabe der Menschenführung in der Kirche älter als die moderne Betriebswirtschaftslehre, war sie doch schon ein wichtiges Motiv bei Gregor dem Großen7 oder in der Regula Benedicti.8 Eine Negierung von „Führen und Leiten“ mit dem Hinweis, Kirche sei nun einmal kein Betrieb, ist deshalb ebenso wenig zielführend, wie Seelsorge im Allgemeinen abzulehnen, nur weil man psychotherapeutische Ansätze im kirchlichen Kontext für schwerlich rezipierbar hält. Der kirchentheoretische Horizont verdeutlicht darüber hinaus noch etwas Zusätzliches: „Führen und Leiten in der Kirche“ geht über das Moment der Gemeindeleitung (im Sinne einer Ortsgemeinde) hinaus und ist auf zahlreichen anderen Ebenen des kirchlichen Lebens relevant: Steuerungsprozesse in Kirchenkreisen, Personalentwicklung in Diensten und Werken, Menschenführung auf Seiten von Bischöfen wie Superintendenten und Leitungsentscheidungen in Synoden. Allein aus forschungspragmatischen Gründen legt die vorliegende Untersuchung ihren Fokus auf „Führen und Leiten“ in der Kirchengemeinde, obwohl sich manche Ergebnisse wohl ebenfalls auf andere Orte kirchlichen Handelns übertragen ließen. 4) Die gewisse Unübersichtlichkeit des Themenfeldes erklärt sich dadurch, dass seitens der Praktischen Theologie bisher relativ wenige Versuche unternommen wurden, die beschriebene Unklarheit zu überwinden. So jedenfalls hört man es immer wieder und es ist fast schon zu einem Ritual praktisch-theologischer Kybernetik geworden, zunächst einmal die eigene Marginalität zu thematisieren. Kybernetik war schon nach Breitenbach ein „vernachlässigtes Fach“.9 Petry beklagte ebenfalls, dass „dem Thema Leitung als Teil der pastoralen Berufsrolle in der praktisch-theologischen Reflexion und in der beruflichen Ausbildung nach wie vor eine untergeordnete Bedeutung“10 zukomme. Ähnliches monierte MüllerWeißner11 und ebenso schließt sich Kunz dieser Kritik an.12 Böhlemann und Herbst erblicken zwar ein „vorsichtiges neues Fragen“13, halten „Führen und Leiten“ aber immer noch für ein in der theologischen Diskussion unterrepräsentiertes Thema. 6 So geschieht es in einem breiten Strom von Literatur. Exemplarisch sei etwa genannt: Perels (1990); Thomé (1998); Becker (2003). Hier sind grundsätzlich auch Böckels Ausführungen zuzuordnen, wonach „die betriebswirtschaftliche Sichtweise diejenige ist, auf der führungstheoretische Überlegungen verortet sind.“ Böckel (2014), 659. 7 Vgl. Müller (2009). 8 So geht etwa Anselm Grün bei seinen Ausführungen zur Menschenführung von der regula benedicti aus. Vgl. Grün (2006). 9 Breitenbach (1994), 27. 10 Petry (2002), 96. Petry (2001). 11 Vgl. Müller-Weißner (2003), 13. 12 Vgl. Kunz (2007), 615. 13 Böhlemann / Herbst (2011), 27.
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Jüngst attestierte Meyns, dass „kybernetische Fragen [...] nur in Einzelfällen Aufmerksamkeit“14 im praktisch-theologischen Diskurs zukommen. Er spricht in diesem Zusammenhang gar von einem „Schattendasein“.15
Man wird inzwischen zu einem etwas differenzierteren Befund kommen können. „Führen und Leiten“ hat als Thema an Relevanz hinzugewonnen, besonders auf der pragmatischen und materiellen Ebene. Manche Handbücher, die diverse Praxistools beinhalten, sind erschienen. Kunz spricht an dieser Stelle von einem „technischen Interesse“, einem „pragmatische[n] Ansatz“ und einer „Akzentverschiebung von der Was- zur Wie-Frage“.16 Spezifisch fachtheologische Reflexionen, die jenen Praxistools einen sinnvollen Rahmen geben, sind jedoch Mangelware. Streng genommen bildeten die inzwischen in die Jahre gekommenen Dissertationen von Petry und Breitenbach die einzigen ausführlicheren fachtheologischen Beiträge bis zum jüngsten Erscheinen der umfassenden Habilitationsschrift von Holger Böckel.17 Ansonsten wird „Führen und Leiten“ in Aufsätzen, praktisch ausgerichteten Handbüchern, empirischen Einzelstudien und als Teil oder Appendix der Kirchentheorie verhandelt. Auch eine „Einführung in die Gemeindeleitung“ im Genre praktisch-theologischer Überblickswerke gibt es nicht. Insgesamt wird man also von einer wachsenden Relevanz des Themas sprechen dürfen, die sich aber noch nicht ganz im praktisch-theologischen Diskurs niedergeschlagen hat.18 Die vorliegende Untersuchung möchte darum einen Beitrag zur Entwirrung des Themenfeldes und zur weiteren wissenschaftlichen Reflexion von „Führen und Leiten“ leisten, während sie der Frage nachgeht, wie in einem spätmodernen Kontext denn in einer Gemeinde geführt und geleitet werden kann. Bisher wurde wie selbstverständlich von „Führen“ und „Leiten“ gesprochen. Doch was ist unter diesen Termini eigentlich genau zu verstehen? Dem werden wir nun näher nachgehen und zu Beginn dieser Untersuchung die für den weiteren Verlauf zentralen Begriffe näher anschauen und sie bestimmen.
14
Meyns (2013), 15. Vgl. ebd., 157. 16 Kunz (2007), 622. 17 Böckel (2014). 18 Ähnlich resümiert auch Hermelink, dass „das Thema ‚Leitung in der Kirche‘ in Publikationen wie in der Aus- und Fortbildung mehr und mehr Beachtung findet“. Gleichzeitig gelte jedoch: „Fachtheologische, auch praktisch-theologische Beiträge spielen dagegen in der gegenwärtigen Debatte eine vergleichsweise geringe Rolle.“ Hermelink (2011), 14f. 15
6 1.2.
1. Einleitung Begriffsklärung: Führen, Leiten, Leadership, Management und Kybernetik
Innerhalb der praktisch-theologischen Diskussion rund um das Thema „Führen und Leiten“ findet eine Vielzahl von Begriffen Verwendung. Jene Begriffe werden mitunter recht unterschiedlich gefüllt, was zu einer gewissen Verwirrung beiträgt. Leider lassen sich jene Termini nicht vollständig präzise definieren. Das soll jedoch nun annäherungsweise versucht werden, ebenfalls um zu verdeutlichen, wie diese Begriffe im weiteren Verlauf verwendet werden. Minimaldefinition Was ist also „Führen und Leiten“?19 Antworten auf diese Frage sind Legion. Oswald Neuberger kann in seinem Standardwerk über 35 mögliche Definitionen benennen.20 Eine allgemein akzeptierte Definition gibt es jedoch nicht, was nicht zuletzt die Komplexität von Führungsund Leitungsprozessen verdeutlicht. Dennoch erblicken weite Teile der Führungswissenschaften21 in „Führen und Leiten“ vor allem den Moment eines zielbezogenen Beeinflussungsprozesses. Ein zielbezogener Beeinflussungsprozess – das könnte m. E. eine Art Minimaldefinition darstellen. Ähnlich wird Führung auch von Johannes Steyrer beschrieben: „Unter Führung wird im Allgemeinen ein sozialer Beeinflussungsprozess verstanden, bei dem eine Person (der Führende) versucht, andere Personen (die Geführten) zur Erfüllung gemeinsamer Aufgaben und Erreichung gemeinsamer Ziele zu veranlassen.“22 Diese Definition beinhaltet drei relevante Momente: 1) Führung ist Beeinflussung.23 2) Führung als Beeinflussung hat einen Prozesscharakter. 3) Führung vollzieht sich intentional, da sie auf die Erreichung eines Zieles gerichtet ist.
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Vgl. zur Bestimmung dieser Begriffe auch: Böckel (2014), 58ff. Vgl. Neuberger (2002), 11-15. 21 Unter den Führungswissenschaften oder der Führungsforschung werden im Folgenden alle Beiträge verstanden, die unter Bezug auf wissenschaftliche Standards der Erforschung des Phänomens Führung dienen. Die Ausgangspunkte für ein solches Fragen sind mitunter äußerst divergent und umfassen unter anderem die Führungspsychologie im weiteren Horizont der Wirtschaftspsychologie, die Betriebswirtschaftslehre und die Organisationssoziologie, was auch die mitunter sehr unterschiedlichen Zugänge zum Thema „Führen und Leiten“ zu erklären vermag. 22 Steyrer (2009), 26. In dieser Definition nach Steyrer scheint allein der Führende das Subjekt des Beeinflussungsprozesses zu sein. Führung unterliegt jedoch in vielerlei Hinsicht wechselseitigen Dynamiken. 23 Vgl. Sipe / Frick (2009), 73. 20
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Diese drei Momente umfasst ebenfalls die Definition von Leadership nach Peter Northouse, welche er seinem Standardwerk für den angelsächsischen Raum zu Grunde legt.24 Diese Minimaldefinition, welche auch dieser Untersuchung zu Grunde gelegt wird, wird in Teilen ebenso im theologischen Raum rezipiert.25 Über diese Minimaldefinition hinaus herrscht jedoch eine gewisse Unsicherheit, was Führungs- und Leitungsprozesse denn im Detail ausmacht. Diese Unsicherheit wird bisweilen dadurch gelöst, dass die einzelnen bereits angeklungenen Begriffe wie etwa Führen, Leiten oder Leadership einander teilweise dichotomisch gegenübergestellt werden. Mitunter wird das ebenfalls mit Wertungen verbunden. Führen und Leiten Nehmen wir beispielsweise nur das Begriffspaar von „Führen und Leiten“ – eine im Übrigen hauptsächlich im kirchlichen Kontext beheimate Redewendung – und fragen: Worin liegt zwischen beiden Termini der Unterschied? Zum einen mutet Führen in der Alltagsverwendung direktiver an als Leiten: Führen als Vorgabe von Richtung und Leiten als unterstützendes „An-Leiten“. Andere sehen einen Unterschied zwischen kurzfristig-spontaner Führung und langfristig-planender Leitung26 oder darin, dass Leitung eine Position und Führung eine Tätigkeit beschreibt.27 In der Regel wird der Unterschied zwischen Führen und Leiten jedoch nicht zu groß bewertet. Es werden eher zwei verschiedene Schwerpunkte gesehen. Führen ist dabei eher personenbezogen, während Leiten sich eher organisationsbezogen vollzieht.28 Müller-Weißner spitzt es so zu: „Vereinfacht ausgedrückt: Während es sich bei ‚Führung‘ vorrangig um eine Interaktionsbeziehung handelt, man also quasi stets ‚unter vier, sechs oder acht Augen‘ führt, nimmt ‚Leitung‘ die Gesamtorganisation in den Blick.“29 Im kirchengemeindlichen Kontext wäre (Personal-)Führung dann eher die Begleitung, An24 Er ergänzt als viertes Moment, dass sich Leadership in Gruppen vollziehe und kommt so zur folgenden Definition: “Leadership is a process whereby an individual influences a group of individuals to achieve a common goal.” Northouse (2013), 5. 25 Vgl. Höher / Höher (1999), 21. Vgl. Hermelink (2011), 223ff. Böckel versteht unter Führung „wirksames Intervenieren“ und ist damit nicht weit davon entfernt. Vgl. Böckel (2014), 385. 26 Vgl. Müller-Weißner (2003), 52f. 27 Vgl. Felten / Petry (2002), 10. In Summe mutet diese Unterscheidung etwas arbiträr an und ist weniger hilfreich. Sie weist jedoch zu Recht darauf hin, dass es bei Führungs- und Leitungsprozessen in der Tat einen Unterschied zwischen offizieller Position und praktischer Handlung gibt, der sich unter anderem auch in der Unterscheidung in eine Positions- und eine Beziehungsmacht niederschlägt. So weist ebenfalls Northouse darauf hin, dass Leadership durch Menschen mit, aber auch ohne eine konkrete Führungsposition geschehen könne. Vgl. Northouse (2013), 9. 28 Vgl. Hermelink (2011), 223ff. 29 Müller-Weißner (2003), 45.
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leitung und Förderung von Haupt-, Neben- und Ehrenamtlichen, während Gemeindeleitung eher die Steuerung und Entwicklung des Gesamtsystems Kirchengemeinde zum Thema hätte. Beides lässt sich aber nur idealtypisch trennen und überschneidet sich in vielem. In diesem Bewusstsein sollen im Folgenden diese beiden benachbarten Termini jedoch so verwendet werden, dass von Führung eher im personenbezogenen Kontext und von Leitung eher im organisationsbezogenen Kontext gesprochen wird.30 Beide Begriffe sollen verwendet werden, wenn auch beide Dimensionen im Blick sind. Leadership und Management Der Diskussion um das Begriffspaar „Führen und Leiten“ entspricht im angelsächsischen Raum die Diskussion um das Begriffspaar von Leadership und Management. Hier fällt die Entgegensetzung mitunter noch stärker aus, wie es etwa in dem wirkmächtigen Ausspruch von Warren Bennis zum Ausdruck kommt: “Managers do things right. Leaders do the right thing.”31 Während Management dabei eher die richtige Verwaltung und Organisation des Ist-Zustandes bezeichnet, umfasst Leadership die innovative Gestaltung der Zukunft.32 Oftmals ist diese dichotome Gegenüberstellung auch mit einer deutlichen Wertung zu Gunsten von Leadership verbunden. Mit ihrer Differenzierung in Verwalten und Gestalten ist sie auch nicht deckungsgleich mit der deutschsprachigen Unterscheidung in personenorientiertes Führen und organisationsorientiertes Leiten.33 Man wird Leadership und Management einander auch nicht zu scharf gegenüberstellen dürfen. So kritisiert etwa Steyrer: „Hinter dieser Unterscheidung steckt letztlich eine tiefer liegende Dualität zwischen Rationalität und Emotion, Verwaltung und In30
Der Sache nach vermag diese Unterscheidung ebenfalls zu verdeutlichen, dass wir uns im Folgenden unter dem Schlagwort von Servant Leadership verstärkt mit dem Aspekt der Führung und weniger mit Leitung beschäftigen. Warum, wird noch zu entfalten sein. Besonders in Kapitel 18 wird dann jedoch auch die Aufgabe der Gemeindeleitung ausführlich besprochen. 31 Bennis / Nanus (1985), 29. 32 Aber auch diese Unterscheidung ist keineswegs allgemein akzeptiert. So verwendet etwa Greenleaf die gleiche inhaltliche Entgegensetzung, verbindet nur das Management mit dem zukunftsorientierten Zielesetzen und grenzt dieses wiederum von einem verwaltenden „Administration“ ab. Vgl. Greenleaf (2002), 107ff. 33 Mitunter werden die Begriffe noch unschärfer, da die Differenz Leadership und Management oftmals auf die Differenz Führen und Leiten übertragen und mit ihr vermischt wird. So wird nach Steyrer oftmals Leadership mit Führung übersetzt und bezeichnet die personale Menschenführung, während Management mit Leiten wiedergegeben wird und die organisationale und institutionelle Dimension bezeichnet. Vgl. Steyrer (2009), 30f. Im kirchlichen Kontext unterscheiden Höher und Höher dann im Anschluss an die angelsächsische Diskussion wie folgt: „Manager machen die Dinge richtig (analysieren, planen, Ziele setzen, controllen etc.), Führende machen die richtigen Dinge (initiieren, motivieren, coachen etc.).“ Höher / Höher (1999), 20.
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novation, Kontrolle und Vision.“34 Sinnvoller ist es also, auch hier den Unterschied eher in der Schwerpunktsetzung zu sehen.35 Wir halten darum fest: Eine kirchliche Kybernetik hat es demnach mit komplexen Steuerungsprozessen zu tun, die sowohl einzelne Personen (tendenziell Führung) als auch das gesamte Sozialsystem Kirchengemeinde (tendenziell Leitung) umfassen und die Organisation des IstZustands (tendenziell Management) wie das innovative, wie zukunftsbezogene Denken (tendenziell Leadership) implizieren. Kybernetik Damit ist bereits ein weiterer Begriff gefallen, der in seiner Bedeutung ähnlich unscharf ist: Kybernetik. Dieses griechische Wort lässt sich ins Deutsche als „Steuermannskunst“ übersetzen.36 In diesem Begriff Kybernetik verbinden sich gegenwärtig verschiedene Linien. Da ist zum einen die ältere, auf 1Kor 12,28 beruhende, genuin theologische Verwendung, wo der Begriff nicht zuletzt seit Schleiermacher die Auseinandersetzung mit Fragen der Kirchenverfassung und des Kirchenregiments beschreibt.37 Davon zu unterscheiden ist der „säkulare“ Kybernetikbegriff, der im Wesentlichen auf Norbert Wiener zurückgeht und Steuerungs- und Regelungsprozesse im Bereich von Maschinen, in der Natur, besonders aber von sozialen Systemen bezeichnet.38 Über die Rezeption systemischer Ansätze in der Praktischen Theologie gelangte dieses Verständnis von Kybernetik als Lehre von der Steuerung sozialer Systeme auch in den kirchlichen Kontext. Eine dritte Spur führt in die Gemeindeaufbau-Diskussion der 1970er und 1980er Jahre, in der etwa Manfred Seitz und Michael Herbst Kybernetik eng mit dem missionarischen Gemeindeaufbau verbanden.39 Diese drei Anläufe markieren gleichsam wichtige Kontexte, in denen Fragen der Gemeindeleitung zu verorten sind. Sie lassen sich nicht von Fragen der Kirchenverfassung, Steuerung sozialer Systeme, Gemeindeentwicklung oder Kirchentheorie trennen. Dennoch bietet sich aus Gründen der Klarheit eine Beschränkung auf die Kerndimension an, die sich auch mehr und mehr durchzusetzen scheint. Im Folgenden wird darum unter Kybernetik die Lehre von der Kirchen- und Gemeindeleitung verstanden.40 Das ge34
Steyrer (2009), 31. Auch Northouse äußert sich hier warnend. Vgl. Northouse (2013), 14. 35 So auch Pinnow. Vgl. Pinnow (2012), 196: „Die beiden Handlungsmuster Management und Führung sind für mich keine Gegensätze, sondern müssen sich sinnvoll ergänzen, wobei beim Management der Schwerpunkt auf betriebswirtschaftlichen Aufgaben und beim Leadership auf Menschen, Visionen und Emotionen liegt.“ 36 Für einen geschichtlichen Überblick: Vgl. Kunz (2007), 613-661. 37 Vgl. Petry (2001), 176. 38 Vgl. Meyer-Blanck (2007), 507. 39 Vgl. Seitz (1991), 49; Herbst (2010), 72. 40 Vgl. auch: Breitenbach (1994), 27; Belz (2009), 46.
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schieht in dem Bewusstsein, dass sich die damit verbundene Frage nach dem „Wie“ von Gemeindeleitung“ niemals trennen lässt von der Frage nach dem „Was“ oder „Wohin“ von Kirche und Gemeinde, also von Kirchentheorie und Gemeindeentwicklung.41 Hermelink schlägt deshalb vor, Kybernetik in einem engeren Sinne (Führen und Leiten) von Kybernetik im weiteren Sinne (Kirchentheorie) zu unterscheiden. 42 Vor dem Horizont dieser Differenzierung ist also der engere Sinn gemeint, wenn wir im Folgenden von Kybernetik reden und der weitere Sinn mit dem Begriff Kirchentheorie. Damit sind die wesentlichen Termini und ihre folgende Verwendung in Grundzügen beschrieben.43 Kehren wir nun zurück zur Ausgangsfrage, wie in einer Kirchengemeinde theologisch verantwortet unter spätmodernen Bedingungen geführt und geleitet werden kann. Um diese Forschungsfrage nun weiter zu präzisieren, gilt es zu Beginn dieser Untersuchung nun noch genauer zu bestimmen, was unter jenen „spätmodernen Bedingungen“ denn zu verstehen ist. 1.3.
Der gesellschaftswissenschaftliche Horizont: Post- oder Spätmoderne?
Führen wir uns noch einmal das eingangs angeführte Beispiel der Gemeindeversammlung vor Augen und fragen erneut: Wie sind „gezielte Beeinflussungsprozesse“ im Angesicht des gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontextes zu gestalten? Für diesen Kontext sind nun verschiedenste Bezeichnungen en vogue, Postmoderne und Spätmoderne werden dabei aber überdurchschnittlich häufig verwendet. Aber was ist darunter genau zu verstehen? Die Frage ist an anderen Orten der Praktischen Theologie schon in aller Ausführlichkeit diskutiert worden,44 so dass wir an dieser Stelle dort gemachte Einsichten rezipieren und uns auf einführende Bemerkungen beschränken können. Inwiefern sich die 41 So sieht es etwa auch Thorsten Latzel als eine wesentliche Aufgabe „geistlicher Leitung“, die Frage zu beantworten, „was wir als Kirche eigentlich tun sollen“. Vgl. Latzel (2012), 9. Damit ist mit „geistlicher Leitung“ ein weiterer schillernder Begriff gegeben. Im Wesentlichen versucht dieser Terminus das Proprium kirchlichen Führungs- und Leitungshandelns einzufangen und gibt Antwort auf die Frage: „Inwiefern leitet Kirche eigentlich anders?“ Zu dem Begriff: Vgl. Böhlemann / Herbst (2011), 20-23. 42 Vgl. Hermelink (2011), 27f. 43 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass im Folgenden der Geschlechtergerechtigkeit sprachlich vor allem dadurch Rechnung getragen werden soll, dass weibliches und männliches in der Regel alternierend verwendend werden. 44 Grundlegend für die folgenden Überlegungen ist: Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 55-116; Pohl-Patalong (2005); Grözinger (1998), 11-48; Giebel (2009), 2164; Der folgende Gedankengang wurde ausführlicher schon an einem anderen Ort dargelegt: Vgl. Detje (2013).
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gegenwärtige gesellschaftliche Situation explizit in dem Führungs- und Leitungsverständnis niederschlägt, verhandeln wir später (ա10). Was ist die Postmoderne und wie lässt sie sich abgrenzen? Beginnt sie mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90, der philosophischen Postmodernediskussion der späten 1970er und 1980er Jahre, den gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen, die mit der Jahreszahl 1968 verbunden sind45 oder gar mit der Ablösung des „newton‘schen Weltbildes“ durch die Relativitätstheorie im Jahr 1916? Die Postmoderne lässt sich also nur schwerlich präzise definieren und das hat eine recht trivial anmutende Ursache: Es gibt sie nicht. Der Terminus „Postmoderne“ gehört zur Gattung der „Epochenbezeichnungen“ und diese sind nun einmal ganz im nominalistischen Sinne erst nachträglich-konstruierte Beschreibungen für eine nahezu unendliche Vielzahl einzelner Phänomene. Zwei Zeitpunkte in der Geschichte lassen sich also hinsichtlich einzelner Phänomene miteinander vergleichen. Man wird dabei entweder zu der Beobachtung kommen können, dass das Phänomen a) unverändert fortbesteht, b) nicht mehr existiert, c) dass sich das Phänomen intensiviert oder d) vermindert hat. Es hängt also ganz von den betrachteten Phänomenen ab, wie viel Konstanz oder Umbrüche man in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage zu erkennen vermeint.46 Vereinfacht gesagt, wird man bei beobachteter Konstanz epochaltypischer Phänomene weiterhin von Moderne, bei einem hohen Maß an Intensivierung von Spätmoderne, sowie bei verstärkten Umbrüchen von Postmoderne sprechen.47 Diese Anmerkungen lassen sich nun an fünf Beispielen explizieren, welche die gegenwärtige gesellschaftliche Situation beschreiben. 1) Da ist zunächst einmal das sogenannte „Ende der großen Erzählungen“ zu nennen, eine Wendung, die auf den französischen Philosophen Jean-François Lyotard zurückgeht.48 Eine „große Erzählung“ sei wie ein Koordinatensystem, in das die vielen kleinen Begebenheiten des Lebens eingezeichnet werden können, um von dort aus einen Sinn zu 45
Richard Hamm folgt diese Spur und kann die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die kybernetische Situation in den USA plausibilisieren. Vgl. Hamm (2007), xi. 46 Diese Spannung von Konstanz und Umbruch spiegelt auch John Finneys Bild vom „quaint bird“ wieder, wonach die gegenwärtige Zeit gleichsam einen postmodernen wie einen (vor)modernen Flügel besitzt. Vgl. Finney (2004), 37f. 47 Der Begriff der Postmoderne ist auch deshalb diffus, da es sich bei ihm lediglich um einen Abgrenzungsbegriff handelt, der aussagt, was nicht mehr ist: Moderne. Vgl. Hamm (2007), 101: “But the term ‚postmodern‘ itself reveals our confusion. We do not know what this era is, we just know it is no longer the modern era. It is a period of transition, that is for certain; but we do not know if it will last for decades or for centuries, and we do not know what we are transitioning to.” 48 Vgl. Lyotard (1994). Eine Zusammenfassung, an der sich das Folgende orientiert, findet sich bei Grözinger. Vgl. Grözinger (1998), 23-29.
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erhalten. Sie sind wie Brillen, mit denen die Wirklichkeit wahrgenommen wird. Während die Moderne durch konkurrierende Metaerzählungen geprägt gewesen war, hat die Postmoderne keine großen Erzählungen mehr, sondern nur noch viele kleine. Beispiele für solch große Erzählungen sind Kommunismus und Kapitalismus, Fortschrittsoptimismus, aber auch religiöse Wertsysteme wie das Christentum. All diese Geschichten sind nach Lyotard nicht vollständig verschwunden, haben jedoch ihren Anspruch auf alleinige explanatorische Kraft eingebüßt. Sie sind zerbrochen, da sie die Komplexität des Lebens nicht mehr plausibel erklären können. Nur die kleinen Geschichten seien übriggeblieben. Mit dem Ende der Metaerzählung geht ebenso ein Abschied von einem einheitlichen Wahrheitsverständnis einher, was sich in Teilen auch in Theologie und Kirche niedergeschlagen hat. Deutlich begegnet dieser Abschied etwa im religionstheologischen Pluralismus.49 Hier veranschaulicht bspw. das berühmte Elefantengleichnis,50 dass jeder Mensch nur einen Teil der Wahrheit, nie jedoch das Ganze erfassen könne. Dabei wird allerdings oftmals die Kategorie der Wahrheit nur epistemologisch, aber nicht ontologisch aufgegeben.51 Darüber hinaus wird in der philosophischen Postmodernediskussion die Konstruktion von Wahrheit von manchen besonders deshalb problematisiert, da sie stets mit einer bestimmten Intention, genauer mit einem Machtanspruch geschehe. Wahrheitsansprüche werden erhoben, um zu unterdrücken. In seinen Grundzügen geht dieser Argumentationsduktus wohl auf Friedrich Nietzsche zurück.52 In der Natur des Menschen liege der „Wille zur Macht“, der dann mit Hilfe von Wahrheitsansprüchen durchgesetzt werden soll. Deshalb müsse jedem Wahrheitsanspruch nach einer Formulierung Ricœurs mit einer „Hermeneutik des Verdachts“ begegnet werden.53 Hinsichtlich dieses Phänomens des „Endes der großen Geschichten“ wird man insgesamt durchaus von Postmoderne sprechen können, da es hier in den letzten Jahrzehnten in der Tat zu einem alltagspraktischen Umbruch im Wahrheitsverständnis gekommen ist. 49
Vgl. Hick (2002). Vgl. Glasenapp (1963), 385. 51 Vgl. Schmidt-Leukel (1998), 314: „Demgegenüber geht pluralistische Religionstheologie von einer gemeinsamen, alle Menschen umgreifenden Wirklichkeit aus, die jedoch so verschieden erfahren werden kann wie Menschen verschieden sind.“ 52 Vgl. Nietzsche (1999a), 149. 53 Vgl. Ricœur (1974), 44. Gianni Vattimo spricht im Zusammenhang von absoluten Wahrheitsansprüchen von einer Philosophie des Terrorismus: „Es gibt eine Philosophie des Terrorismus, und zwar jene, die die Idee, menschliche Geschichte habe eine absolute Norm, ein endgültiges zu verwirklichendes Ziel, bis an deren äußerste Grenze treibt.“ Vattimo (1986), 14. Nach Foucault sind Wahrheitsansprüche zugleich immer auch Machtansprüche. Bekannt ist sein Ausspruch: „Die Wahrheit selbst ist Macht.“ Foucault (1978), 54. 50
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2) Die Rede vom Ende der Metageschichten erscheint auch deshalb plausibel, weil sie auf soziologischer Ebene mit dem nun zweitens zu nennenden Phänomen der Pluralisierung verbunden ist. Das Zerbrechen von Einheit vollzieht sich also nicht nur epistemologisch, sondern ebenso alltäglich. Lebensentwürfe haben sich pluralisiert.54 Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ist pluraler geworden, bspw. hinsichtlich ethnischer Herkunft und Kulturen, aber auch bezüglich Lebensentwürfen und -einstellungen. Zwischen diesen verschiedensten Lebensmodellen muss das spätmoderne Individuum nun wählen. 3) Damit wiederum ist eng der Begriff der Individualisierung verknüpft, der vor allem vom Soziologen Ulrich Beck in seiner Rede von der „Risikogesellschaft“ als sogenannte „Individualisierung der Lebenswelten“ hervorgehoben wurde.55 Fragen nach Identität und der eigenen Lebensgestaltung wurden einst von Traditionen oder gesamtgesellschaftlichen Leitvorstellungen vorgegeben, spätmoderne Individuen müssen diese Fragen jedoch für sich selbst beantworten.56 Beruf und Familienmodell etwa sind zu einem Gegenstand der Wahl geworden. Individualisierung meint nach Beck darum nicht – wie die alltägliche Verwendung vielleicht suggerieren vermag – dass das Individuum von heute keine Bindungen mehr eingehen würde, sondern, dass jene Bindungen zu einem Gegenstand der Wahl geworden sind. Das Leben ist zu einem Projekt geworden. Es muss selbst erfunden werden. Der österreichisch-amerikanische Soziologe Peter L. Berger spricht in diesem Zusammenhang vom „häretischen Imperativ“57, einem „Zwang zur Wahl“. Aus der Normalbiographie sei die Wahlbiographie geworden. 4) Das Zerbrechen von Einheitlichkeit kommt ebenso in der Rede von der „Ausdifferenzierung der Gesellschaft“ zum Ausdruck, die im Wesentlichen auf Niklas Luhmann zurückgeht.58 Während die mittelalterliche Gesellschaft noch weitestgehend einheitlich geprägt und von einer christlichen Universalkultur bestimmt war, differenziert sich die Gesellschaft mit dem Beginn der Neuzeit mehr und mehr aus, was sich besonders an der Spezialisierung von Berufen verdeutlichen lässt. Jene Spezialisierung betrifft nach Luhmann jedoch keineswegs nur das Wirtschaftssystem, sondern die Gesellschaft als Ganzes. So bildeten sich verschiedenste Funktionssysteme heraus: Beispiele sind Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft oder auch Religion. Mit dem Fortschreiten 54
Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 64f. Beck (1986), 205ff. 56 Vgl. Beck (1995), 32. 57 Vgl. Berger (1980), 39-45; Berger (1994), 95: „Aufs Ganze gesehen gilt jedoch, daß das Individuum unter den Bedingungen des modernen Pluralismus nicht nur auswählen kann, sondern daß es auswählen muß.“ 58 Vgl. Luhmann (1997), 625ff. Ein knapper Überblick aus praktisch-theologischer Perspektive findet sich bei: Karle (2001), 33-36. 55
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der Moderne entwickeln diese einzelnen Funktionssysteme nun aber eine gewisse Eigendynamik, unabhängig von anderen Systemen. Sie generieren Binnenlogiken, die sich mitunter jedoch widersprechen. Das Resultat ist eine gewisse „Schizophrenie“. Da Menschen in verschiedensten Funktionssystemen zugleich leben, nehmen sie in ihnen divergierende Rollen ein und operieren nach unterschiedlichen Logiken, die mitunter unverbunden nebeneinander stehen bleiben. Es ist kein Widerspruch mehr, am Arbeitsplatz streng rationalistisch zu denken und in der Freizeit in einem Yoga-Kurs auch für „Übersinnliches“ offen zu sein. Hinsichtlich dieser Ausdifferenzierung ist der Begriff der Postmoderne eher nicht angebracht, denn es ist in den letzten Jahrzehnten diesbezüglich weniger zu Abbrüchen als vielmehr zu Intensivierungen gekommen, die den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung markieren, die bereits seit Jahrhunderten voranschreitet. Womöglich ist es jedoch neuartig, dass spätmoderne Individuen mehr und mehr vor der Aufgabe kapitulieren, die diversen Logiken und Rollen der einzelnen Systeme in Einklang zu bringen und man der Komplexität eher dadurch Rechnung trägt, dass man mit einem gewissen Maß an „Schizophrenie“ zu leben gelernt hat. 5) In mancherlei Hinsicht kulminiert das bisher Beschriebene zuletzt in dem Phänomen der Subjektivierung. Subjektivierung meint, dass das „Ich“ zum Mittelpunkt des eigenen Lebens und der eigenen Weltdeutung wird. Mit Nietzsche gesprochen heißt Subjektivierung: „Das Individuum ist etwas Absolutes.“59 Das ist nur logische Konsequenz, denn manch „Externes“, das einst Sicherheit versprach, ist weggebrochen: die großen Erzählungen und die Biographie bestimmenden Traditionen. Dass das Ich in den Mittelpunkt gerät, ist aber in der Tat keineswegs spezifisch postmodern, sondern Charakteristikum der Neuzeit im Allgemeinen.60 So stammt das berühmte Bild des vitruvianischen Menschen da Vincis bereits aus dem 15. Jahrhundert. Betrachten wir das Ende der großen Erzählungen, Pluralisierung und Individualisierung, die gesellschaftliche Ausdifferenzierung, sowie die Subjektivierungstendenzen, so zeigen sich in Summe manche Konstanten zur „klassischen Moderne“, aber auch manche Intensivierungen sowie Umbrüche. Darum haben sowohl der Begriff der Spät- als auch jener der Postmoderne ihre Berechtigung und werden darum im Folgenden beide verwendet. Jene Phänomene haben ebenfalls relevante Implikationen für die Aufgabe der Gemeindeleitung, wie bereits an dem eingangs erwähnten Beispiel der Gemeindeversammlung und der sich hier manifestierenden Autoritätsproblematik deutlich geworden sein sollte. Diese Phänomene werden auch den weiteren Fortgang der Untersuchung begleiten, etwa 59 60
Nietzsche (1999b), 663. Vgl. Keller (2012), 381.
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wenn wir das Wahrheitsproblem der Kybernetik erörtern (ա 16.), die ekklesiologischen Konsequenzen von Pluralisierung diskutieren (ա15.) oder den Zusammenhang von Gemeindeleitung und einer spätmodernen Relativierung des Machbarkeitsdenkens61 betrachten (ա 17. und 18.). Denn die veränderte gesellschaftliche Situation hat erhebliche Konsequenzen für die Frage nach „Führen und Leiten“ in Kirche und Gemeinde, wie es etwa Michael Herbst zur Sprache bringt: „Zum einen sehen wir die durchschlagende Wirkung der Individualisierung auf alle Lebensbereiche. Und das bedeutet eine grundsätzliche Skepsis gegenüber autoritären Vorgaben. Postmoderne bedeutet: ‚Das Individuum ist etwas Absolutes‘ (F. Nietzsche). Führung und Leitung scheinen aber prima vista meine absolute Selbstbestimmung einzuschränken.“62
Lassen sich Führungs- und Leitungsprozesse unter dem Diktum „absoluter Selbstbestimmung“ überhaupt noch gestalten? Hinzu kommt, dass die Welt, in der wir leben, immer komplexer, schneller und damit auch immer weniger kontrollierbar wird. In vielerlei Hinsicht stellt die Leitphilosophie der Postmoderne hierauf eine Reaktion dar. Menschen kapitulieren vor der Herausforderung, die Wirklichkeit zu steuern und vereinheitlichen zu müssen. Wie sich kybernetisches Handeln in einer Kirchengemeinde unter diesen Bedingungen noch gestalten lässt, ist die damit gestellte Aufgabe. 1.4.
Zur Architektur der Kybernetik und dem Aufbau der Untersuchung
Architektur der Kybernetik In diesem letzten einleitenden Abschnitt soll der Aufbau der Untersuchung dargestellt werden. Dieser Aufbau der Untersuchung wird in mancherlei Hinsicht dem Aufbau des Faches Kybernetik als „Lehre von Führen und Leiten in Kirche und Gemeinde“ entsprechen. Deshalb soll an dieser Stelle zunächst einmal eine Skizze des Aufbaus dieses Faches vorgestellt werden. Wir fragen darum: Wie lässt sich die Architektur dieser Disziplin beschreiben? Um diese Frage zu beantworten, könnte sich eine Anlehnung an die Homiletik als hilfreich erweisen, die sich nach Alexander Schweizer in drei Ebenen unterteilen lässt: Alexander Schweizer (1808-1888) unterschied eine prinzipielle von einer materia63 len und einer formalen Homiletik. Auf der prinzipiellen Ebene wird die Frage nach dem „Warum“ und dem Wesen der Predigt gestellt. Hier wird besonders im Austausch mit der Systematischen Theologie eine Grundlegung vorgenommen. 61 62 63
Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 72f. Herbst (2008), 227. Zum Folgenden: Vgl. Müller (1996), 171-176; Rössler (1986), 344-355.
16
1. Einleitung
Auf der materialen Ebene wird das „Was“ thematisiert. Es wird gefragt: Was ist der Inhalt, der gepredigt werden soll? Es geht also um den Gehalt der Predigt. Auf der formalen Ebene wird die Frage nach dem „Wie“ der Predigt verhandelt. Auf welche Art und Weise wird die Predigt formal gestaltet? Die formale Ebene beinhaltet dabei ebenfalls den Austausch mit Referenzwissenschaften, besonders der Rhetorik. In vielerlei Hinsicht finden sich diese Ebenen auch in der kybernetischen Diskussion wieder. So kennt auch die Kybernetik eine prinzipielle Ebene. Mit Kunz, der an 64 dieser Stelle von einer „prinzipiell-kritische[n] Ebene der Kybernetik“ spricht, 65 handelt es sich hierbei um die „Grundsätze der Steuerung der Kirche“ , die für alles Folgende einen Deutehorizont abstecken. Breitenbach identifiziert ebenfalls eine prinzipielle Kybernetik, die er dann von einer praktischen Kybernetik abhebt. Sie habe die Aufgabe, „das Leitbild von Leitung in der Kirche praktisch66 theologisch zu beschreiben“ . Indem wir Breitenbachs Ansatz nuanciert weiterentwickeln, ließe sich jenes „Leitbild von Leitung“ weniger als Gegenstand, sondern vielmehr als Zielpunkt der prinzipiellen Kybernetik beschreiben. Die diversen prinzipiellen Überlegungen kulminieren idealiter in einem praktisch-handlungsleitenden „Leitbild von Leitung“. Gehen wir zur materialen Ebene über, so stellen wir fest, dass auch „gezielte Beeinflussungsprozesse“ einen gewissen Inhalt besitzen. Anders als in der Homiletik ist die Frage hierbei jedoch weniger das „Was?“ als vielmehr das „Wohin?“ Wohin sollen Kirche und Gemeinde beeinflusst werden? Damit wird einmal mehr deutlich, wie sehr kybernetische Fragen nach Kirchen- und Gemeindeleitung mit jenen nach Gemeindeentwicklung und Kirchentheorie verbunden sind. Denn die Leitung der Kirche lässt sich nicht trennen von dem Ringen um ihre zukünftige Gestaltung. Die formale Ebene der Homiletik korreliert in vielerlei Hinsicht mit Breitenbachs „praktischer Kybernetik“ und dem, was Kunz 67 die „material-konkrete Ebene“ nennt. Hier geht es um die praktische Gestaltung und die Regeln für den Führungs- und Leitungsvollzug. In der Homiletik markiert diese Ebene besonders den interdisziplinären Austausch. Dieser ist ebenso für die Kybernetik geboten, etwa mit der Organisationssoziologie und -psychologie, systemtheoretischen Ansätzen oder den Führungswissenschaften, um nur einige Beispiele zu nennen.68 Man wird diesen Austausch jedoch nicht auf eine Ebene beschränken können, stellt er doch vielmehr eine relevante Dimension auf allen Ebenen dar. Ähnlich betont auch die Homiletik die bleibende Verbundenheit von Form 69 und Inhalt.
Aufgrund dieser Überlegungen ergibt sich der folgende Vorschlag für eine Architektur des Faches Kybernetik als „Lehre von Führen und Leiten in Kirche und Gemeinde“.70 Auf der prinzipiellen Ebene werden die Grundsatzfragen verhandelt und fundamentale Problemstellungen bearbeitet. Die hier gefundenen Antworten bilden das Fundament für 64
Kunz (2007), 666. Ebd. 66 Breitenbach (1994), 43. 67 Kunz (2007), 66. 68 So interpretierte Kunz bereits in seiner Architektur der Theorie des Gemeindeaufbaus die formale Ebene besonders als Ort des Dialogs mit den Sozialwissenschaften. Vgl. Kunz-Herzog (1997), 69f. 69 Vgl. Müller (1996), 176. 70 Sprachlich und in Teilen auch inhaltlich schließen wir damit an Kunz und Petry an. Vgl. Kunz (2007), 666; Petry (2001), 44-49. 65
1. Einleitung
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alle weiteren kybernetischen Überlegungen. Auf der anschließenden konzeptionellen Ebene bündeln sich die Einsichten der prinzipiellen Ebene brennglasartig in einem „Leitbild von Führung und Leitung“. Diese Ebene hat insofern auch eine personale Dimension, als dass die prinzipiellen Entscheidungen hier in einem kybernetischen Selbstverständnis zusammenlaufen. Beispiele für solche Leitbilder oder Selbstverständnisse wären etwa: Moderatorin, systemische Betrachterin und heilsame Verstörerin, Visionärin, Organisatorin, Unternehmerin usw. Ein solches Leitbild, wie auch immer es aussehen mag, hat erhebliche Implikation für die Gestaltung der nun anschließenden praktischen Ebene. Das kybernetische Selbstverständnis wird nun konkret. Die Themen der praktischen Ebene sind etwa: Konfliktmanagement, Selbstmanagement, Zeitmanagement, Sitzungsleitung, Teamentwicklung, Gesprächsführung, Projektmanagement usw.71 Neben diesen drei Ebenen beinhaltet die Lehre von der Kybernetik vor allem noch zwei wichtige Horizonte, die auf allen Ebenen eine gewichtige Rolle spielen. Da ist zum einen der sozialwissenschaftliche Horizont. Hier wird gefragt, wie „Führen und Leiten“ jenseits von Kirche und Theologie gedacht wird, etwa in soziologischen, psychologischen oder betriebswirtschaftlichen Diskursen. Dieser Horizont wird dann aber auch ergänzt um einen praktisch-theologischen Horizont. Natürlich sind alle drei Ebenen genuin praktisch-theologischer Natur, dieser Horizont verdeutlicht jedoch, wie sehr alle Ebenen vor dem größeren Horizont der Praktischen Theologie zu verorten sind. Das „Wie“ von Gemeindeleitung bleibt verbunden mit der Kirchentheorie, der Reflexion von Gemeindeentwicklung und ebenso der Pastoraltheologie. Aufbau der Untersuchung Die folgende Untersuchung orientiert sich an dieser Architektur, selbst wenn sie nicht alle Ebenen gleich ausführlich behandeln kann. In einem ersten Schritt (ա Teil I) schreiten wir dazu den bisherigen Stand der Praktischen Theologie zum Thema „Führen und Leiten“ ab, benennen die verschiedenen Vorstellungen und ermitteln die wesentlichen Grundsatzfragen. Im Anschluss an diese ausführliche Orientierung betrachten wir den sozialwissenschaftlichen Horizont. In unserem Fall suchen wir den Dialog mit den Führungswissenschaften (աTeil II). Wir diskutieren den aktuellen „state of the art” der Führungsforschung und gehen der Frage nach, welche Veränderungen sich aus dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext für „Führen und Leiten“ ergeben. Es schließen prinzipiell-kybernetische Überlegungen an (ա Teil III). Die ermittelten Grundsatzfragen werden hier präzisiert und Lösungsversuche werden unternommen. Die Untersuchung wird durch den Vor71
Dieser Ebene widmen sich zahlreiche „Handbücher“. So etwa auch der zweite Teil von „Geistlich Leiten“ nach Böhlemann und Herbst. Vgl. Böhlemann / Herbst (2011), 121-205.
18
1. Einleitung
schlag eines „Leitbildes von Führung und Leitung“, sprich der konzeptionellen Ebene abgeschlossen (ա Teil IV). Hier verdichten sich die gemachten Erkenntnisse in dem Vorschlag eines sowohl zeitgemäßen wie auch theologisch verantworteten Selbstverständnisses personaler Führung als Servant Leadership. In einem gewissen Sinne handelt es sich dabei um eine doppelte Verdichtung. Denn das Leitbild von Servant Leadership will sowohl die getroffenen prinzipiell-kybernetischen Entscheidungen integrieren, als auch dem gegenwärtigen Stand der Führungswissenschaft entsprechen. In mancher Hinsicht kommt darin auch ein Wechselspiel von Dogma und Wirklichkeit, von normativdeduktivem und empirisch-induktivem Denken zum Ausdruck. Am Ende wird damit ein „Leitbild von Führung und Leitung“ stehen: Servant Leadership. Angestrebter Mehrwert der Untersuchung Worin soll jedoch in all dem der Mehrwert der vorliegenden Untersuchungen liegen? Im Wesentlichen dient sie der Beantwortung der Ausgangsfrage: Wie lässt sich unter spät- und postmodernen Bedingungen in einer Kirchengemeinde theologisch verantwortet führen und leiten? Doch es lassen sich am Ende dieser ersten Orientierung noch weitere potentielle Erträge benennen: ̶
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Es soll ein Beitrag zur weiteren Genese und Architektur der Disziplin Kybernetik, verstanden als „Lehre von Führen und Leiten in Kirche und Gemeinde“, geleistet werden. Es sollen die wesentlichen Themen einer „prinzipiellen Kybernetik“ ermittelt und bearbeitet werden. Es soll der gegenwärtige Stand der Führungsforschung dargestellt werden. Es soll deutlich werden, wie die Führungswissenschaften auf postund spätmoderne Veränderungsprozesse hinsichtlich des Führungsund Leitungsverständnisses eingehen. Es soll ein „Leitbild von Führung und Leitung“ entstehen, das die wesentlichen Einsichten bündelt und handlungsleitend wirkt. Es sollen in Teilen auch kirchentheoretische und pastoraltheologische Konsequenzen dieses kybernetischen Ansatzes deutlich werden.
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Mit diesem Programm setzen wir jedoch keineswegs bei „Null“ an. Manches wurde in der Praktischen Theologie bereits über „Führen und Leiten“ gedacht und vieles kann hiervon gelernt werden. Deshalb wenden wir uns nun dem gegenwärtigen Forschungstand praktischtheologischer Kybernetik zu.
Teil I Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
2.
Zur Methodik
Bevor nun zahlreiche Publikationen zu „Führen und Leiten“ untersucht werden, soll hier in angemessener Kürze auf die Methodik eingegangen werden, nach der sich jene Untersuchung vollzieht. Prinzipiell folgt die Analyse eher einem induktiven als einem deduktiven Schema. Ein deduktives Vorgehen gestaltete sich in etwa wie folgt: Zunächst würde mit Hilfe biblischer und systematisch-theologischer Argumentationsgänge ein wie auch immer ausfallendes normatives Bild von Führung und Leitung erarbeitet werden. Dieses normative Bild von Führung und Leitung würde dann als Beurteilungskriterium an alle bisherigen Veröffentlichungen angelegt werden.1 Ein solch deduktives Vorgehen hat in der Praktischen Theologie ebenfalls Nachteile.2 Die wesentliche Gefahr bestünde wohl darin, dass ein solches Verfahren an der Wirklichkeit vorbeizugehen drohte. Denn um normative kybernetische Aussagen überhaupt treffen zu können, muss erst einmal der Kontext eruiert werden, für welchen diese formuliert werden sollen. Deshalb erscheint ein induktives Vorgehen an dieser Stelle plausibler. Darum wird nun zunächst einmal so unvoreingenommen wie möglich wahrgenommen, wie „Führen und Leiten“ in der gegenwärtigen Praktischen Theologie aufgefasst wird. Erst im Verlauf dieses Wahrnehmungsprozesses wird sich dann mehr und mehr herauskristallisieren, welche die Grundsatzfragen sind, mit denen sich „Führen und Leiten“ beschäftigen muss. So ist es das Ziel dieses Kapitels, die Grundsatzfragen auf der prinzipiellen Ebene zu eruieren, die jede Theologie bzgl. „Führen und Leiten“ für sich beantworten muss. Bei der Vorstellung und Analyse der diversen Konzepte werden dem Leser dabei bereits verschiedenste Antwortmöglichkeiten auf jene Grundsatzfragen begegnen. Eine eigene Antwort wird ebenfalls geben werden (ա Teil III), woraus sich dann Konsequenzen ableiten lassen (աTeil IV). Dennoch soll eine gewisse Zirkelhaftigkeit des Verfahrens zugestanden werden, die sich m. E. auch 1
So in Grundzügen etwa bei Bernhard Petry. Petry entwickelt zunächst sein normatives ekklesiologische Bild von der Ellipse mit den beiden Brennpunkten „Amt“ und „Allgemeines Priestertum“. Anschließend werden verschiedenste Konzepte hinsichtlich der Frage analysiert, ob sie jenem normativen Bild von der Ellipse entsprechen. Vgl. Petry (2001), 178. 2 So von Fritz Lienhard dargelegt. Vgl. Lienhard (2012), 201f, 201f.
22
Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
nicht vermeiden lässt. Denn sowohl ein induktives wie auch ein deduktives Verfahren setzten idealtypisch eine lineare Argumentationsstruktur voraus. Selbst wenn die prinzipielle Grundlegung (ա Teil III) erst im Anschluss an die Wahrnehmung (աTeil II) geschehen wird, gibt es zwischen beiden Prozessen zahlreiche systemische Wechselwirkungen. Ganz konkret vollzieht sich die nun folgende Analyse in einem Viererschritt. 1) Im ersten Arbeitsschritt wird danach gefragt, welche Theologischen Grundentscheidungen dem jeweiligen Konzept sowohl explizit als auch implizit zugrunde liegen. Dieser Arbeitsschritt ist der Beobachtung geschuldet, dass kybernetisches Denken in der Regel zahlreiche Interdependenzen zum theologischen Denken im weiteren Sinne aufweist. Besonders offensichtlich wird dies bei Entscheidungen, die hinsichtlich eines Konzeptes auf der kirchentheoretischen Ebene getroffen werden. 2) In einem zweiten Arbeitsschritt wird anschließend das spezifische Bild von „Führen und Leiten“ analysiert, das aus dem jeweiligen Konzept hervorgeht. In welchen Tätigkeiten wird Führung sowie Leitung hier konkret? Von welchem Leitbild her sollen Führungs- oder Leitungsprozesse gestaltet werden? Oder: Über welche Rolle werden Leitende und Führende definiert? 3) In einem dritten, quantitativ etwas schmaler ausfallenden Analyseschritt wird nach der kontextuellen Verortung des jeweiligen Konzepts gefragt. Zunächst wird beobachtet, ob der gegenwärtige kulturelle Kontext mit seinen spät- und postmodernen Phänomenen überhaupt verhandelt wird. Ist die Beobachtung hier positiv, wird weiter gefragt, was genau unter Post- oder Spätmoderne verstanden wird und drittens ob und wie dieses dann auf Führung und Leitung bezogen wird. Die Leitfrage lautet konkret: „Wie müssen Führungs- und Leitungsprozesse angesichts der Herausforderungen, welche die Spätmoderne mit sich bringt, gestaltet werden?“ Diese Frage impliziert bereits, dass Kybernetik hinsichtlich des gegenwärtigen kulturellen Kontextes anders gestaltet werden muss als bspw. noch vor 50 Jahren. Gelingendes Führen und Leiten ist also nicht zeitlos gültig, sondern ist stets auf den Kontext ausgerichtet, in welchem sie sich vollzieht. Auch wenn also in einem Konzept Führung oder Leitung nicht mit Blick auf spätmoderne Entwicklungen entworfen wird, so kann dennoch danach gefragt werden, ob und wie denn der Kontext wahrgenommen und adaptiert wird. Deshalb ist dieser Arbeitsschritt mit kontextueller Verortung überschrieben. 4) In dem letzten und vierten Arbeitsschritt soll das in den drei vorhergehenden Analyseschritten Beobachtete in einer kritischen Würdigung gebündelt werden. Jene kritische Würdigung vollzieht sich besonders
2. Zur Methodik
23
nach drei Gesichtspunkten. Erstens: Welche Impulse aus dem jeweiligen Konzept sind für den weiteren Verlauf der Arbeit hilfreich oder besonders markant? Zweitens: Welche Fragen bleiben offen? Und drittens: Was ist bzgl. des Konzeptes kritisch anzumerken? Gerade bei diesem letzten Arbeitsschritt ist offensichtlich, dass die Grenze eines rein wahrnehmend-induktiven Verfahrens überschritten zu werden droht. Deshalb muss eine ausgeprägte Bewertung auch entfallen. Selbst wenn also kein normatives Leitbild von Führung und Leitung an das jeweilige Konzept herangetragen werden soll, so kann bspw. dennoch danach gefragt werden, ob das jeweilige Konzept in sich stimmig und stringent ist, oder ob etwa Spannungen innerhalb eines Konzepts erkennbar sind. Der Wert eines Höchstmaßes an Objektivität3 wird damit angestrebt, gleichermaßen gilt jedoch der hermeneutische Grundsatz, dass das den Gegenstand betrachtende Subjekt stets den Interpretationsvorgang beeinflusst. In dem Bewusstsein dieser Spannung ist der folgende Teil des Buches verfasst. Wir fokussieren uns im Angesicht der Fülle an Veröffentlichungen zu dem Themengebiet „Führen und Leiten“ in diesem Teil auf bestimmte Publikationen. Hinsichtlich der Auswahl der Literatur liegen dabei die folgenden Kriterien zu Grunde: Es werden nur Veröffentlichungen aus dem deutschsprachigen Kontext berücksichtigt. Damit entfällt für diesen Teil die im angelsächsischen Raum um den Begriff Leadership kreisende Literatur. Dennoch sollen hier gewonnene Erkenntnisse im weiteren Verlauf der Arbeit an angemessener Stelle integriert werden, was besonders unter dem Stichwort Servant Leadership sichtbar werden wird. Zweitens beschränken wir uns auf kirchlich-theologische Literatur. Die betriebswirtschaftliche Managementliteratur ist damit nicht Untersuchungsgestand. Dennoch erfolgt der Diskurs auch hier punktuell im weiteren Verlauf der Arbeit (ա Teil II). Drittens wird nur die evangelische Literatur aufgenommen. Die katholische Diskussion um „Führen und Leiten“ verläuft doch besonders aufgrund einer divergierenden ekklesiologischen Grundlegung oftmals in anderen Bahnen. Viertens sollen im weitesten Sinne nur Monographien berücksichtigt werden. Die Darstellung erfolgt dann im Wesentlich auch chronologischen Gesichtspunkten, orientiert sich also am jeweiligen Publikationsdatum. Darüber hinaus erfolgte die Untersuchung in Jahren 2011-2013, so dass jüngere Publikationen im Themengebiet hier keine ausführliche Aufnahme finden konnten. Nachdem nun das im Folgenden ausgeführte Verfahren methodisch in seinen Grundzügen skizziert worden ist, sollen nun jene Veröffentlichungen in einem ersten Schritt analysiert werden, die sich innerhalb der Praktischen Theologie explizit mit dem Feld von „Führen und Leiten“ beschäftigen. 3
Vgl. ebd., 189f.
3.
Modelle von Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
Im Folgenden sollen nun sechs theologische Publikationen analysiert werden, welche sich explizit mit „Führen und Leiten“ beschäftigen. Im Kontext der „Praktischen Theologie“ sind das die beiden Dissertationen von Breitenbach und Petry.1 Hinzu kommen noch vier weitere Handbücher, die insgesamt deutlich praxisorientierter angelegt sind. Entgegen der oben getroffenen Entscheidung, nur deutschsprachige Literatur zu verwenden, wird hier das Werk „The 3 colors of leadership“ von Christian A. Schwarz“ bedacht. Diese Ausnahme ist deshalb naheliegend, da Christian A. Schwarz‘ Wurzeln in der deutschen Gemeindeaufbaubewegung der 1980er Jahre liegen. 3.1.
Günther Breitenbach – Gemeinde leiten
Im Rahmen seiner Tätigkeit als Leiter der Ev.-Luth. Gemeindeakademie Rummelsberg legte Günter Breitenbach 1994 seine Dissertation „Gemeinde Leiten“ vor. Dieser „praktisch-theologischen Kybernetik“ kommt ein besonderer Stellenwert zu, da hier erstmals das Thema von „Führen und Leiten“ innerhalb der Praktischen Theologie als eigenständige Fragestellung verhandelt wurde. 3.1.1. Theologische Grundentscheidungen Die Überlegungen Breitenbachs zur Gemeindeleitung gründen in spezifischen ekklesiologischen wie kirchentheoretischen Annahmen, welche wiederum auf zwei tragenden Säulen aufbauen. Die erste Säule sind Grundgedanken der ökumenischen Bewegung. Diese haben für Breitenbach vor allem die Funktion der theologischen Legitimierung des Modells inne. Bei der zweiten Säule handelt es sich um einen systemischen Denkansatz, der gleichsam das Moment des interdisziplinären Dialogs beinhaltet. 1
Die Habilitationsschrift von Holger Böckel „Führen und Leiten. Dimensionen eines evangelischen Führungsverständnisses“ erschien nach der hier vorgenommenen Analyse und konnte deshalb nicht in Gänze Berücksichtigung finden. Die hier gemachten Einsichten werden jedoch punktuell aufgenommen.
3. Modelle von Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
25
Von den ökumenischen Dokumenten des 20. Jahrhunderts stellt Breitenbach vor allem das „Lima-Papier“ und das Konzept der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ in den Vordergrund.2 Besonders aus der Analyse des „Lima-Dokuments“ gewinnt er ein Verständnis von Kirche als Volk Gottes. Die Kirche wurde von Gott mit verschiedenen Charismen ausgestattet. Dabei steht Leitung nicht im Amt der Gemeinde gegenüber, sondern ist eines unter vielen Charismen des Volkes Gottes, das diesem hilft, seine Sendung in diese Welt zu erfüllen. Der eigentliche Leiter ist Christus selbst durch Wort und Sakrament. Für Breitenbach ist es dabei entscheidend, dass Lima die Amtslehre in den Horizont einer weiten Ekklesiologie einzeichnet, konkret bei der Rede von der Kirche als Volk Gottes seinen Ausgangspunkt nimmt. Dem Volk Gottes wird das Amt dann in einem zweiten Schritt erst funktional zugeordnet.3 Das vor allem von lutherischen Ökumenikern entwickelte Modell der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ hingegen dient Breitenbach primär zu einer theologisch begründeten Bejahung der Pluralität in der Volkskirche. Denn mit diesem Modell sollten innerhalb der Ökumene die positiven Aspekte der notwendig bleibenden Differenz gegenüber allzu schnellen Einheitsbemühungen betont werden. Verschiedenheit und Pluralität werden begrüßt. Für Leitung zieht Breitenbach daraus die Konsequenz: „Leitung kann der Einheit in der Kirche nur dienen, wo sie Anwalt ihrer Vielgestaltigkeit ist.“4 Diese Bejahung der Verschiedenheit hängt eng mit einem weiteren zentralen Begriff zusammen: der Konziliarität. Dieser aus der ökumenischen Diskussion hervorgegangene Begriff möchte die Spannung zwischen Einheit und Vielfalt bewusst nicht auflösen und konkret alle Lebensprobleme der Kirche durch einen konziliaren Prozess gemeinsam und gleichberechtigt beantworten. Durch jenen Prozess leitet Gott seine Kirche als konziliare Weggemeinschaft selbst. Des Weiteren schließt sich Breitenbach seinem damaligen Rummelsberger Kollegen Herbert Lindner an, der jenes ökumenische Modell auf die Gemeinde übertragen hat und 2
Vgl. Breitenbach (1994), 83-91.103-118. Die „Lima-Erklärung“ oder „Konvergenzerklärung zu Taufe, Eucharistie und Amt“ wurde 1982 von der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK herausgegeben. In ihr wird von evangelischer, katholischer und orthodoxer Seite eine gemeinsame Stellungnahme zum Tauf-, Abendmahls- und Amtsverständnis gegeben. „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ ist ein primär von Seiten lutherischer Kirchen in den 1970er Jahren entstandenes Modell zum Umgang mit der Pluralität von Konfessionen. Gegenüber zu schnellen Einheitsbemühungen wird hier der Wert einer eigenen konfessionellen Identität betont. Einheit im ÖRK bedeute eben nicht Einheitlichkeit, sondern begrüße bewusst die konfessionelle Unterschiedlichkeit. 3 Deswegen sieht Breitenbach es kritisch, dass die Amtslehre im Lima-Papier später doch ihre „eigene Dynamik“ (Vgl. ebd., 86) entwickle, so z.B. in der Vorstellung, das Amt selbst repräsentiere Christus. Vgl. Ebd., 89. 4 Ebd., 103.
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Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
diese als konziliare Lerngemeinschaft innerhalb der offenen Volkskirche beschreibt. Leitung durch einen konziliaren Prozess meint konkret: Auf allen Ebenen der Gemeinde sollen partizipative Strukturen ermöglicht werden. Pluralität von Glaubensüberzeugungen und divergierende Bindungen an das kirchliche Leben werden als Vielfalt bewusst begrüßt. Breitenbach selbst resümiert: „Die ökumenische Diskussion hat deutlich gemacht: Leitbild der Kirche ist die vielfältige, konziliare Gemeinschaft der Hausgenossinnen und Hausgenossen Gottes.“5 Mit jenem Begriff der Hausgenossenschaft unternimmt er dann den Brückenschlag zum systemischen Denkansatz, indem er den von Philipp Potter in den ökumenischen Diskurs eingebrachten Begriff vom oi=koj aufnimmt.6 Dieses Leitbild zeichnet die Kirche als einen Haushalt mit zahlreichen komplexen Vernetzungen untereinander und zur Umwelt. Komplexität und Netzwerk sind auch zwei zentrale Gesichtspunkte in Breitenbachs Verständnis vom systemischen Denken. 7 Ein Ereignis wird hier nicht mehr linear von einem Input-Output-Schema hergeleitet, vielmehr wird seine Genese innerhalb eines komplexen Systemzusammenhanges, oder auch Netzwerkes, verortet. Auch Kirchen sind solche sozialen Systeme, die wiederum zahlreiche Subsysteme enthalten und durch ihren Bezug zu ihrer Umwelt wiederum Teil des Systems Gesellschaft sind. Dabei ist ein weiterer zentraler Gedanke, dass ein System stets mehr ist als die Summe seiner Teile, sprich ein gewisses Eigenleben führt und eine Eigendynamik gewinnt. Der Begriff der Autopoiesis bezeichnet in diesem Zusammenhang dann, dass Systeme in erster Linie nicht gesteuert werden, sondern sich selbst steuern. Breitenbach fasst es selbst so zusammen: „Systeme werden gesteuert oder sie steuern sich selbst. Systemsteuerung geschieht über Austausch von Information. Dieser Austausch erfolgt in ineinander verschachtelten Regelkreisen, die sich zu einem Netzwerk verbinden. Die Systemtheorie fragt nach den Gesetzmäßigkeiten, die das Verhalten der Systeme regulieren. Zur Beschreibung der Austauschprozesse im System und zwischen System und Umwelt bedient sie sich der Steuerungsmodelle aus der Kybernetik. Das Regelkreismodell und die Netzwerktheorie spielen dabei eine wesentliche Rolle.“8
5
Vgl. ebd., 212. Breitenbach schreibt über das Bild vom oi=koj: „Systematisch-theologisch bedeutet dieser Ansatz eine erhebliche Horizonterweiterung, einen Übergang vom linearen zum systemischen Denken, von christozentrisch-geschichtstheologischen Denken hin zu einer umfassenden trinitarischen Sichtweise.“, in: ebd., 124f. 7 Seine Ausführungen zum systemischen Denken entfaltet er von S. 129-211, wobei er hier auch Impulse aus der Organisationssoziologie (Vgl. ebd., 174-198) und der Betriebswirtschaftlehre (Vgl. Ebd., 198-211) aufnimmt. Interessanterweise stellt Breitenbach eine Geistesverwandtschaft zwischen der Kybernetik des 19. Jh. und der modernen Systemtheorie fest. Vgl. Ebd., 68. 8 Ebd., 133. 6
3. Modelle von Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
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Kybernetik meint hier also als die Wissenschaft, welche die (Selbst-) Steuerung sozialer Systeme reflektiert. Analoges gilt für ihr praktischtheologisches Pendant hinsichtlich der „Frage der Leitung als Selbststeuerung kirchlicher Praxis.“9 Zugespitzt kann Breitenbach deshalb kybernetisches Denken mit systemischem Denken gleichsetzen: „In weitgefaßten Definitionen kann die Kybernetik geradezu mit der allgemeinen Systemtheorie identifiziert werden.“10 Für ein Verständnis von Gemeinde beinhaltet der systemische Denkansatz dann folgende Aspekte: Damit Gemeinde als „offenes System“ ihre Lebensfähigkeit erhalten kann, muss sie sich öffnen und mit ihrer Umwelt produktiv interagieren, andererseits aber ihre Identität um einen gemeinsamen Kern herum stärken.11 Auch werden Beziehungsmuster in der Kirche verstärkt in der Form von Rollentheorien gedeutet. Der Analyse von Rollenbildern und Rollenkonflikten kommt eine zentrale Bedeutung zu. Zusammengefasst steht das systemische Denken nach Breitenbach für eine „spezifische Sichtweise von Wirklichkeit“12, deren Attraktivität vor allem darin besteht, dass sie mit ihrem komplexen Weltbild gerade hinsichtlich von Leitung Abschied nimmt von einer „Illusion der Machbarkeit“13. 3.1.2. Führen und Leiten Gerade weil Breitenbach auf jene „Illusion der Machbarkeit“ oder „Illusion zentraler Steuerbarkeit der Kirche“14 verzichten möchte, schätzt er im Gegensatz zu traditionellen Bildern von „Führen und Leiten“ die Relevanz personaler Leitung deutlich niedriger ein. „Und die Vorstellung, Wandel ließe sich von den Verantwortlichen steuern, ist gerade dann, wenn er wirklich tiefgreifend ist, eine verständliche, aber nicht aufrechtzuerhaltende Illusion der Exponenten des alten Gleichgewichts.“15
Im Wesentlichen leitet und erneuert sich das System Gemeinde selbst.16 Personale Leitung heißt hier somit nicht, ein System zentral zu steuern, 9
Ebd., 34. Ebd., 137. Ähnlich auch: „Unsere Ausgangsthese lautet: Kybernetisch Denken heißt, ein Verständnis gewinnen für das Zusammenspiel steuernder Impulse im Netzwerk des Lebens.“ Ebd., 45. 11 Vgl. ebd., 157: „Systemorientierte Gemeindearbeit zielt auf Öffnung und zugleich auf Grenzbildung durch wachsende Deutlichkeit.“ Allerdings tendiert Breitenbach zwischen den Polen Öffnung und Grenzbildung deutlich mehr zur Öffnung. 12 Ebd., 131. 13 Ebd., 213. Dabei warnt Breitenbach jedoch auch davor, dass dieser Ansatz auch lähmend wirken könne, wenn die Komplexität der Realität auf Seiten der Akteure zu Passivität führe. Vgl. Ebd. 215. 14 Ebd., 232. 15 Ebd., 296. 10
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Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
sondern vielmehr die Fähigkeit der Selbststeuerung des Systems zu fördern.17 Personale Leitung agiert zwar im Ganzen, ist aber nicht für das Ganze verantwortlich. Sie soll nicht das Ziel vorgeben, sondern dafür sorgen, dass Gottes Volk seinen Weg findet. Sie ist kein Energiezentrum für die Gemeinde, sondern sieht die Energiequelle im System Gemeinde selbst.18 Aus dieser Perspektive wird verständlich, warum Breitenbach Führen im Sinne auf wenige Personen beschränkte Interaktionsbeziehung faktisch nicht verhandelt, sondern nur von Leiten im Systemzusammenhang sprechen kann. Pastorinnen bleiben zwar Leiterin und kybernetische Kompetenz gehört zu ihren wichtigsten Qualifikationen, aber dennoch lehnt Breitenbach konsequenterweise ein Leitbild vom Pastor als Hirten ab.19 Als inadäquat erscheint ihm ebenfalls das Modell, wonach der Pastor als Steuermann das Schiff Gemeinde lenkt. Zentrale Steuerung dürfe es in der Gemeinde nur bei den kleinsten Tätigkeiten geben. Darum ist es konsequent, dass Breitenbach nach dieser Kritik nicht konstruktiv-kreativ zu einem eigenen einheitlichen Leitbild von personaler Leitung in der Gemeinde gelangt. Am ehesten ließe sich noch das von ihm geforderte Zusammenspiel von episkopaler, presbyterialer und kongregationaler Leitung aus dem ökumenischen Kontext als eine Art Leitbild von Gemeindeleitung bezeichnen. Damit meint er, dass in der Gemeinde die Leitung gemeinsam auf den Schultern von Einzelpersonen, Teams und der Basis ruht, wobei alle Formen einander brauchen. Wie ein solches Zusammenspiel konkret aussieht, bspw. im Konfliktfall, bleibt jedoch unklar. Die konkrete Tätigkeit personaler Leitung beschreibt Breitenbach mit Hilfe des von ihm entwickelten „kybernetischen Dreiecks“.20 Dabei stellen die drei Eckpunkte des Dreiecks die Aufgaben von Leitung dar. Die erste Aufgabe ist die hermeneutische Leitung, sprich die geistliche Arbeit an Sinn und Identität von Gemeinde. Faktisch bedeutet dies: Die gemeinsame Arbeit an Leitbildern. Dahinter steht die Grundannahme, dass Gemeinden im Wesentlichen durch bewusste oder unbewusste Bilder gesteuert werden, die für die Gemeinde klären, wer sie im Vergleich zur Umwelt ist. In diesen leitenden Bildern verdichten sich bisher gemachte Erfahrungen. Die hermeneutische Aufgabe personaler 16
Vgl. ebd., 172: „Das umfassende und primäre Bild von Leitung in der Kirche bietet das Modell der Selbsterneuerung und Selbstorganisation. Jedes andere Bild von Leitung würde der inneren und äußeren Komplexität des Sozialsystems Kirchengemeinde nicht gerecht.“ Vgl. auch: ebd., 212. 17 Vgl. ebd., 231-234. 18 Diese Ausführungen stehen bei Breitenbach noch im Kontext der Gemeindeaufbaudebatte der 1980er Jahre und sind implizit auch als Kontrast zu Modellen aus dem Bereich des missionarischen Gemeindeaufbaus formuliert. 19 Historisch erarbeitet sich Breitenbach diese Position in der Auseinandersetzung mit W. Löhe. Vgl. ebd., 59-60. Auch: ebd., 21: „Pfarrer/innen wollen keine Hirt/innen mehr sein, Gemeindeglieder keine Schafe.“ 20 Vgl. ebd., 272-282.
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Leitung ist es deshalb, konstruktive Bilder in der Gemeinde zu vergewissern und manch hinderliche, vertraute Bilder zu stören. Breitenbach schreibt selbst: „Geistliche Gemeindeleitung ist Arbeit an der Klärung und an der Entwicklung, an der Heilung und an der Erneuerung der Leitbilder.“21 Den zweiten Eckpunkt des kybernetischen Dreiecks bildet die kommunikative Leitung. Das heißt für personale Leitung nicht, selbst mehr zu kommunizieren oder einzelne Beziehungen zu stärken, sondern die Voraussetzungen für Kommunikation im System Gemeinde als Ganzem zu verbessern.22 Jene Arbeit an der Kommunikationskultur umfasst praktisch v.a. die Reflexion von und Arbeit an Rollenund Verhaltensmustern. Die organisatorische Leitung bildet den letzten Eckpunkt, welcher die Klärung von Zielen, Mitteln und Zuständigkeiten umfasst. Alle drei Eckpunkte sind gleich wichtig. Sie sind zwar getrennt voneinander zu behandeln und doch kreativ aufeinander zu beziehen.23 3.1.3. Die kontextuelle Verortung Die Frage, wie sich „Führen und Leiten“ unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen der Spät- und Postmoderne in der Gemeinde vollziehen kann, wird von Breitenbach nicht verhandelt, was u.a. daran liegen dürfte, dass jene Frage 1994, als seine Dissertation erschien, in der praktisch-theologischen Diskussion noch längst nicht in solchem Maß aktuell war. Dennoch kann gefragt werden, inwiefern hier einzelne Variablen des Führungs- und Leitungshandelns auf den gesellschaftlichen Kontext hin reflektiert und womöglich modifiziert werden. Dabei lässt sich grundsätzlich bemerken, dass der systemische Ansatz hinsichtlich der Leitungsfrage dem Kontext einen hohen Stellenwert beimisst. Die Lebensfähigkeit eines „offenen Systems“ ist ja gerade darin begründet, dass es mit Veränderungen in seiner Umwelt konstruktiv umgeht und sich auf diese hin modifiziert. Von daher legt dieser Denkansatz grundsätzlich nahe, dass die Kriterien für „richtige Leitung“ un21 Ebd., 243. Breitenbach verwendet in diesem Zusammenhang die Begriffe von geistlicher und hermeneutischer Leitung nicht trennscharf, weshalb auch kritisch anzumerken ist, dass dabei der Eindruck entsteht, allein die Arbeit an Leitbildern sei in der Gemeinde als „geistliche Leitung“ zu bezeichnen. Dagegen lassen sich sicherlich auch in kommunikativen oder organisatorischen Tätigkeiten geistliche Dimensionen ausmachen. 22 Breitenbach kommt zu einer positiven Bewertung von Bäumlers kommunikativer Gemeindepraxis (Vgl. ebd., 79f). Auch eine implizite Nähe zu dessen Leitbild vom Pastor als Moderator lässt sich hierbei ausmachen. 23 Der Vollständigkeit halber soll noch erwähnt werden, dass Breitenbach neben diesem kybernetischen Dreieck noch einen kybernetischen Regelkreis (Vgl. ebd., 282-294), der anders als das Dreieck einen linearen Prozess bspw. in der Projektplanung impliziert, und ein kybernetisches Dreistufenmodell (Vgl. Ebd., 294-304), das die Berücksichtigung unterschiedlicher Phasen in der Organisationsentwicklung beinhaltet, vorstellt.
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ter postmodernen Bedingungen am Ende des 20. Jh. andere sind als bspw. in der Nachkriegszeit der 1950er Jahre. Und dennoch entwirft Breitenbach sein Leitungsmodell kaum im Zusammenspiel mit jenen sich verändernden kulturellen Rahmenbedingungen, sondern stellt es weitgehend als allgemeingültig dar. Grundsätzlich orientiert sich Breitenbach im Rahmen seiner Gesellschaftsanalyse an Ulrich Becks „Risikogesellschaft“. 24 Dabei beschreibt er weitgehend allgemein, wie sich Lebensentwürfe pluralisieren. Es folgen Gesichtspunkte wie die Diskrepanz zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre oder die ökologischen Herausforderungen unserer Zeit bis hin zu der Suche nach einer neuen Wirtschaftsethik. Vergleichsweise diffus werden hier gesamtgesellschaftliche Herausforderungen beschrieben, allerdings wird eine Transferleistung kaum erbracht. Die Frage, ob daraus Veränderungen für Leitungsprozesse oder Führungsverhalten in der Kirche resultieren, wird weder gestellt noch implizit beantwortet.25 Der Gesellschaftsbezug wird also kaum kybernetisch, sondern eher kirchentheoretisch eingeordnet. Nicht die Frage, wie sich der Modus von Führung und Leitung, sondern wie sich das Gestalten von Kirche auf den veränderten Kontext einstellen soll, wird verhandelt.26 3.1.4. Kritische Würdigung Es ist ein Verdienst Günther Breitenbachs, das Thema von „Führen und Leiten“ erstmals als eine eigenständige Fragestellung in den praktischtheologischen Diskurs eingebracht und damit Pionierarbeit geleistet zu haben. Besonders der erste Teil seiner Dissertation überzeugt, da hier fachkundig und detailliert die Führungs- und Leitungsfrage – auch historisch27 – aufgearbeitet wird. Ebenso lässt sich sein Einbringen der systemischen Sichtweise in diese Fragestellung grundsätzlich als ein Fortschritt gegenüber der Diskussion der Führungs- und Leitungsfrage in der Gemeindeaufbaudebatte der 1980er Jahre bewerten. So erscheint etwa der Übergang vom linearen zum vernetzten und systemischen Denken zur Beschreibung gemeindlicher Realität in vielem angemessener. Doch bleiben gen Ende einige Fragen offen. So könnte angefragt werden, ob der systemische Denkansatz zur alleinigen Perspektive auf die 24
Vgl. ebd., 22-27. Das geschieht nur in Ansätzen. Bspw. auf S. 24, wo beschrieben wird, dass die Entscheidungsmöglichkeiten für Menschen größer, aber die daraus hervorgehenden Folgen stets unübersichtlicher werden. In diesem Falle ginge es Leitung darum, überhaupt Steuerungsfähigkeit zu erhalten und Handlungsoptionen zu gewinnen. 26 Vgl. ebd., 301-304. Ähnlich auch auf S. 116, wo Gemeindeleitung als Teil des Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung beschrieben wird. 27 Vgl. ebd., 46-69. 25
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Führungs- und Leitungsfrage gemacht werden muss. Dies geschieht bei Breitenbach, wenn er Kybernetik einerseits mit Leitung gleichsetzt,28 anderseits auch mit dem systemischen Denken, denn dann wird Leitung darauf reduziert, das Geschehen in einer Kirchengemeinde unter dem systemischen Blickwinkel zu betrachten. Wird Leitung jedoch weitgehend mit einer systemischen Sichtweise identifiziert, so gerät die Reflexion der Bedeutung der am Leitungsprozess beteiligten Individuen tendenziell in den Hintergrund. Denn wenn Leiten heißt, dass sich das System primär selbst leitet, dann wird dem einzelnen leitenden Subjekt eine geringere Einflussmöglichkeit zugesprochen. Im weiteren Verlauf der Arbeit muss deshalb geklärt werden, ob damit möglicherweise die Bedeutung personaler Führung in der Gemeinde unterbestimmt wird.29 Bernhard Petry formuliert an gleicher Stelle eine ähnliche Anfrage, wenn er moniert, dass die Rolle des leitenden Individuums bei Breitenbach tendenziell unklar bleibt.30 Auch bezüglich der zweiten Säule der Konzeption Breitenbachs, der ökumenischen Theologie, lassen sich Anfragen formulieren. So ist es bspw. fraglich, ob der Impuls aus der ökumenischen Theologie – so bereichernd er auch sein mag – als alleinige theologische Basis für das Führungs- und Leitungsthema ausreicht. Der stark ausgeprägte interdisziplinäre Dialog mit der Systemtheorie wird zuungunsten einer Beschäftigung mit biblisch-theologischen Grundlegungen oder auch mit der Amtstheologie geführt.31 Auch bei seinen drei Leitungsformen, der Arbeit an Leitbildern, an der Kommunikation und der Organisation, fehlt tendenziell das genuin theologische Element, denn ob das hermeneutische Arbeiten an Leitbildern schon mit dem „geistlichen“ Element in Leitung gleichzusetzen ist, ist zumindest diskussionswürdig. Die dritte und letzte Anfrage bezieht sich darauf, dass Breitenbach zahlreiche Einzelfragen mit einem „sowohl als auch“ beantwortet. Zum Beispiel soll die konziliare Kirche gleichsam profiliert und plural sein.32 Damit beschreibt er oftmals in einer Sachfrage richtigerweise 28
Vgl. ebd., 27: „Kybernetik ist innerhalb der Praktischen Theologie die Lehre von der Kirchen- und Gemeindeleitung.“ 29 Vielleicht ist jene Gegenüberstellung von linearem und systemischem Denken in ihrer Reinkultur auch zu dualistisch gedacht. Es ließe sich wohlmöglich ein konzeptioneller Mittelweg, zwischen der Vorstellung zentraler Steuerbarkeit (Steuermann/Hirte) und dem Negieren jeglicher Steuerung gehen. So tut es bspw. Eddie Gibbs mit seinem Leitbild vom Leiter als Gärtner, der dem Garten grundsätzlich seiner Eigendynamik überlässt und dennoch regelmäßig bewässert, schneidet, pflanzt, etc. Vgl. Gibbs (2005), 63. (ա18.) 30 Vgl. Petry (2001), 224: Er „[...] versäumt es aber, ein deutlich umrissenes neues Leitbild für diese Rolle zu entwerfen.“ 31 Etwas polemisch kommt Abromeit deshalb zu dem folgenden Ergebnis: „Man hat den Eindruck, dass er stärker von der 68-Bewegung als von theologischer Argumentation bewegt wird.“ In: Abromeit (2001), 12. 32 Vgl. besonders: Breitenbach (1994), 224ff. Hier unternimmt Breitenbach zahlreiche solcher Gegenüberstellungen.
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die beiden Pole einer Skala, ohne sich jedoch punktiert auf jener Skala zu positionieren. Dadurch entsteht faktische Unklarheit. So will Breitenbach, dass Einzelpersonen, Teams und die Basis in einem Spannungsdreieck konstruktiv miteinander die Gemeinde leiten. Wie hier jedoch die Machtverteilung, bspw. im Konfliktfall, aussieht, wird damit nicht beantwortet und bleibt unklar. Mit seiner Betonung des systemischen Denkansatzes für die Frage von „Führen und Leiten“, den Gedanken von Konziliarität und Pluralität von der Ökumene her, sowie seinem kybernetischen Dreieck hat Breitenbach einen profilierten Beitrag vorgelegt. Offen bleibt die Frage nach dem Verhältnis von Systemtheorie und dem personalen Aspekt von Führung und Leitung. Auch ist nun die Frage gestellt, inwiefern im Angesicht der Systemtheorie Steuerbarkeit prinzipiell noch möglich ist. Und wie lässt sich „Führen und Leiten“ in der Kirche genuin theologisch begründen? 3.2.
Bernhard Petry – Leiten in der Ortsgemeinde
Der nächste nun zu beleuchtende Entwurf stammt von Bernhard Petry, der – wie einst Breitenbach – an der Gemeindeakademie in Rummelsberg tätig war. Dabei handelt es sich um seine Dissertation, welche den Titel „Leiten in der Ortsgemeinde. Allgemeines Priestertum und kirchliches Amt – Bausteine einer Theologie der Zusammenarbeit“ trägt.33 3.2.1. Theologische Grundentscheidungen Auch bei Petry bilden ekklesiologische Überlegungen die Grundlage seines Entwurfes. Dabei nimmt er zentrale Kategorien der reformatorischen Ekklesiologie auf, welche seiner Ansicht nach ihren Ausgangspunkt eben nicht im Amt, sondern im Allgemeinen Priestertum nimmt. Das Amt wird hier dann erst in einem zweiten Schritt aus dem Allgemeinen Priestertum heraus entwickelt. Zwar sei die Existenz des Amtes für die Gemeinde notwendig, aber dennoch gebe es das Amt nicht um seiner selbst willen, sondern nur in seiner Funktion und seinem Dienst auf die Gemeinde der Getauften bezogen. Er schreibt: „Dieses kirchliche Amt wird aber ausdrücklich als Dienst an der Gemeinde konzipiert. Ihm wird weder ein besonderer geistlicher Status zuerkannt, noch wird ihm eine geistliche Machtposition gegenüber anderen Christinn/en eingeräumt.“ 34
Petry vertritt damit also im Anschluss an seine exegetischen und dogmatischen Überlegungen ein funktionales Amtsverständnis. Seine In33 34
Eine knappe Zusammenfassung des Ansatzes findet sich bei Petry (2002). Petry (2001), 29-30.
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terpretation der reformatorischen Ekklesiologie bündelt er in dem griffigen Bild einer Ellipse. Für diese Ellipse gilt: „Allgemeines Priestertum und kirchliches Amt stellen dabei die beiden Brennpunkte dar, um die herum sich das Leben der Gemeinde entfaltet.“35 Die Gemeinde braucht also beide Brennpunkte, das Allgemeine Priestertum und das kirchliche Amt in einem kreativen Zusammenspiel, wobei keiner der beiden Brennpunkte stärker sein sollte als der andere, damit die Ellipse nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Doch genau jenes geschah in der Kirchengeschichte und manifestiert sich nach Petry auch in der heutigen Situation.36 Aus der reformatorischen Ellipse wurde faktisch die „pastorale Betreuungskirche“, in deren symbolischer Darstellung sich das Amt im Zentrum befindet, welches von der Gemeinde als Kreis umschlossen wird. Dieser Zustand wird auf Seiten der Theologie zwar oftmals problematisiert, aber trotz zahlreicher Reformversuche dominiert die Betreuungskirche noch immer gegenüber der Beteiligungskirche. Petry resümiert: „Aus dem Amt inmitten des allgemeinen Priestertums wird das Amt im Gegenüber zur Gemeinde.“37 Somit gibt es hinsichtlich der Verwirklichung des Allgemeinen Priestertums nach Petry eine Diskrepanz zwischen dem Soll-Zustand (Ellipse) und dem IstZustand (pastorale Betreuungskirche). Um jene Diskrepanz produktiv zu bearbeiten, tritt Petry nun in einem nächsten Schritt in den Dialog mit der Organisationstheorie,38 von wo aus er Merkmale einer Organisation beschreibt und entwirft. Diese Merkmale vergleicht er mit dem Wesen der Kirche und kommt zu dem Ergebnis, dass die Kirche auch eine Organisation sei. Deshalb lassen sich nach kritischer Prüfung auch grundsätzlich Erkenntnisse aus der Organisationssoziologie für die Kirche fruchtbar machen. Bei jenem Dialog mit der Organisationstheorie stehen hier bei Petry systemische Denkansätze im Hintergrund: „Zur Analyse der Vorgänge in der Organisation Kirche haben sich Denkansätze bewährt, die auf der Systemtheorie gründen [...] Dem systemischen Ansatz fühlen sich auch die hier vorgetragenen Überlegungen verpflichtet.“ 39
Wie jede Organisation verfolgt die Kirche Ziele, mehr noch: Wie jede Organisation wird auch die Kirche von diesen Zielen gesteuert, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Petry benennt jene Zielebenen nun mit semantischer Abwandlung gegenüber der Organisationstheorie auch für die Kirche:40 Auf der prinzipiellen Zielebene werden Werte und Grundsätze festgelegt, welche die Organisation leiten. Auf der konzeptionel35 36 37 38 39 40
Ebd., 35f. Vgl. ebd., 31-34. Ebd., 32. Vgl. ebd., 38-49. Ebd., 54. Vgl. ebd., 45f.
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len Zielebene werden diese Werte dann zu Konzepten konkretisiert. Zuletzt markiert die materiale Zielebene den Übergang von Konzepten zu Aktivitäten und Handlungen. Wird dieses Modell nun auf das Problem der Verwirklichung des Allgemeinen Priestertums übertragen, stellt es sich nach Petry so dar, dass zwar auf der prinzipiellen Ebene das Allgemeine Priestertum als Ziel ausgegeben wird, aber die einzelnen Aktivitäten auf der materialen Zielebene mit diesem prinzipiellen Ziel nicht mehr übereinstimmen. Deshalb widmet Petry seine Aufmerksamkeit der konzeptionellen Zielebene, die jene beiden Ebenen verbindet, und begibt sich auf die Suche nach Konzeptionen in den Bereichen von Pastoraltheologie und Gemeindeaufbau, die das prinzipielle Ziel der Ellipse adäquat adaptieren. Die Ellipse wird somit zum Beurteilungskriterium für seine Analyse von deutschsprachig-evangelischen, theologisch-wissenschaftlichen Konzepten aus Gemeindeaufbau und Pastoraltheologie ab 1970.41 Eine Ekklesiologie, die in einem Zusammenspiel von Allgemeinem Priestertum und kirchlichem Amt, sowie in systemischen Grundüberzeugungen wurzelt, ist somit der theologische Ausgangspunkt der Führungs- und Leitungskonzeption Petrys. 3.2.2. Führen und Leiten In dem letzten Abschnitt der Dissertation stellt Petry seine eigene Konzeption zur Gemeindeleitung dar.42 Führen und Leiten hält er dabei für einen integralen Bestandteil des Pastorenberufs, der nicht einfach zu den anderen Aufgaben hinzuaddiert werden sollte.43 Deshalb bedarf es einer umfassenden Reflexion des Führungs- und Leitungsthemas im Kontext von Pastoraltheologie und Gemeindeentwicklung, die aber in der Praktischen Theologie noch weitgehend aussteht. Dass der Pfarrer auch Leiter in der Gemeinde sein soll, begründet Petry systemisch.44 Dennoch betont er ebenso, dass der Pfarrer nicht allein in der Gemein41
Die Ergebnisse dieser Analyse können hier nicht vorgestellt werden. Grundsätzlich kommt er zu dem Resultat, dass pastoraltheologische Entwürfe dort am besten die Ellipse zur Geltung bringen, wo der Pfarrberuf nicht um seiner selbst willen, sondern funktional auf den Gemeindeaufbau hin verstanden wird. Vgl. ebd., 160. Dies sei aber zu selten der Fall. Hinsichtlich des Gemeindeaufbaus kommt er nach einem Vergleich der Konzepte von Michael Herbst und Günther Breitenbach zu einer deutlichen Präferenz für letzteren. 42 Vgl. ebd., 271-283. 43 Vgl. ebd., 282. 44 Vgl. ebd., 274f. Der Argumentationsgang läuft wie folgt: I) Leitung ist eine für das System Kirchengemeinde lebensnotwendige Funktion. II) Damit die Ausführung von Leitung gewährleistet wird, soll sie endindividualisiert und institutionalisiert sein. III) Ein institutionalisierter Funktionsträger (Hauptamtlicher) sollte deshalb die Gemeinde leiten. IV) Der Pfarrer ist der einzige Hauptamtliche, der zur minimalen Mitarbeiterausstattung einer Gemeinde gehört. Folglich sollten Pfarrer leiten. (ա14.)
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de eine leitende Funktion innehat.45 Deshalb sei die Rede von der Pfarrerin als Leiterin auch nicht ohne ihren Kontext einer umfassenden Mitarbeitertheologie zu denken.46 Ein eigenes Leitbild der pastoralen Berufsrolle, welches die Führungsund Leitungsfunktion integriert, legt Petry mit dem Leitbild der Pfarrerin als „Helfer zur Freude“ vor, welches von 2Kor 1,24 herkommt. Der „Helfer zur Freude“ stellt sich folgendermaßen dar: „Pfarrer/innen helfen zu dieser Freude. Sie helfen dabei, die eigene Berufung zu finden, zu leben und zu entwickeln. Sie helfen dabei, die verschiedenen Berufungen zu einem funktionierenden Ganzen zusammenzuführen und die dabei entstehenden Konflikte zu bearbeiten. Deshalb helfen Pfarrer/innen auch dabei, den geeigneten Ort zu finden, an dem die je eigene Berufung gelebt werden kann.“ 47
Petrys Leitbild von Führung orientiert sich somit am Gegenüber. Ihm soll geholfen werden, seine Berufung in Freude zu finden und sie zu entwickeln.48 Führung ist für Petry damit hauptsächlich Personalentwicklung. Das hat Petry mit zahlreichen Ansätzen aus dem Gemeindeaufbau gemeinsam. Ausdrücklich will er dabei aber nicht die hier mitunter vorfindliche Asymmetrie zwischen Pfarrern und Mitarbeitern übernehmen. Diese erblickt er bspw. im Modell von Michael Herbst nach dem Grundsatz von „Der Pfarrer für die Mitarbeiter – die Mitarbeiter für die Gemeinde“, wo das Hierarchiemodell nur als Dienstmodell getarnt sei und somit die Ellipse in ein pfarrzentriertes Modell mit konzentrischen Kreisen umschlage.49 Der Knackpunkt liegt hierbei nach Petry in einer epistemologischen Frage. Wenn jemand Wahrheit nicht als ein Produkt von Interaktion und Diskurs verstehe (Konstruktivismus), sondern bspw. Wahrheit von einem göttlichen Auftrag her denkt, müsse es zwangsläufig zu einer Asymmetrie im Verhältnis von Führungskraft und Geführtem kommen.50 Diese soll mit dem Leitbild des „Helfers zur Freude“ aber vermieden werden. Neben der Orientierung am Gegenüber hat Leitung nach Petry die Aufgabe der Orientierung am Ganzen. Hier sind theologische wie auch sys-
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Vgl. ebd., 278. Vgl. ebd., 279: „Die solchermaßen skizzierte pastorale Leitungsrolle ist in ein Gemeindeentwicklungskonzept integriert. Pastoraltheologie wird auf diese Weise Teil einer umfassenderen Mitarbeitertheologie. Als solche entspricht sie der ekklesiologischen Basiskategorie vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen.“ 47 Ebd., 277. 48 Im Hintergrund steht hier die Grundannahme, ehrenamtliche Mitarbeit vollziehe sich heute nicht mehr primär aus altruistischen Motiven, sondern um selbst aus der Tätigkeit Gewinn zu ziehen, kurz gesagt: daran Freude zu haben. Vgl. Petry (2002), 95f. 49 Jenen Kritikpunkt übernimmt er i. W. von Breitenbach. Vgl. Petry (2001), 191. 50 So kritisiert es Petry bei Josuttis. Vgl. Petry (2002), 99. 46
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temische Dimensionen von Leitung verankert.51 Leitung stellt dann den Rahmen zur Verfügung, damit Gemeinde sich entwickeln kann. Mit dem Bild vom Pfarrer als „Helfer zur Freude“ steht Petry zusammenfassend in der Linie des konziliaren und systemischen Entwurfes von Breitenbach. Allerdings präzisiert er die dort vorhandenen Grundgedanken in einem Leitbild von personaler Leitung. „Damit stimme ich dem konziliaren Konzept von Kybernetik, das Breitenbach vorgelegt hat, zu, versuche aber, die Rolle des kirchlichen Amtes im Zusammenspiel der Leitungsformen dadurch ein Stück weit zu präzisieren, daß ich ein Leitbild für pastorales Leitungshandeln zur Verfügung stelle und ausdeute.“52
Der Pastor ist nach Petry also ein Personalentwickler, ein Helfer zu Freude. Wie sich das in der Praxis vollziehen könnte, macht Petry gemeinsam mit Armin Felten in einem Praxisbuch mit dem Titel „Gut geführt“53 deutlich. In drei Tätigkeitsbereichen wird das Modell konkret. Personalentwicklung in der Kirche heißt: a) Wahrnehmen und Wertschätzen: das könne sich vor allem mit der Methode der Appreciative inquiry54 verbinden. Führungskräfte hören also wertschätzend zu, sehen Potentiale, reden aber nicht alles schön. b) Fördern und Fordern: Das realisiert sich praktisch vor allem in einem gut gestalteten Mitarbeiterjahresgespräch, in dem gemeinsame Ziele vereinbart werden. c) Begleiten und Unterstützen: Hier betonen die Autoren, wie wichtig ein situativer Führungsstil sei, der situativ an den „Entwicklungsstand“ des Geführten angepasst werden soll, oder besser: gemeinsam mit ihm vereinbart werden soll. 3.2.3. Die kontextuelle Verortung Die Frage, inwiefern sich Leitungsaufgabe und Führungsstil unter spätmodernen Bedingungen oder grundsätzlich von Veränderungen im gesellschaftlichen Kontext ausgehend modifizieren, wird von Petry nicht verhandelt, es sei denn, man möchte schon die Übernahme eines systemischen Denkansatzes und eine organisationstheoretische Perspektive als solches werten.
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Vgl. Petry (2001), 275: „Leitung trägt Sorge für die konzeptionelle Zusammenführung der Aktivitäten in der Gemeinde und ihre Rückbindung an die Botschaft des Evangeliums.“ 52 Ebd., 278 (Fußnote 19). 53 Vgl. Felten / Petry (2002). 54 Cooperrider und Whitney bringen den Ansatz so auf den Punkt: “Appreciative Inquiry is the cooperative, coevolutionary search for the best in people, their organizations, and the world around them. It involves systematic discovery of what gives life to an organization or a community when it is most effective and most capable in economic, ecological in human terms.” Vgl. Cooperrider / Whitney (2011), 397.
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3.2.4. Kritische Würdigung Mit seiner Verdichtung reformatorischer Ekklesiologie im Bild der Ellipse ist Bernhard Petry ein markanter Beitrag zur Kirchentheorie wie zur Kriteriologie ordnungsgemäßer Leitung in der Kirche gelungen. Auch dass er Führung stark über die Gegenüberorientierung definiert und somit als Mitarbeiterentwicklung versteht, ist bedenkenswert. Eine Anfrage lässt sich jedoch hinsichtlich des Verhältnisses von Führung und Asymmetrie stellen. Mit dem Leitbild der Pfarrerin als „Helferin zur Freude“ möchte Petry eine Asymmetrie zur Gemeinde vermeiden. Zwar ist jenes Leitbild defensiv formuliert, dennoch ist fraglich, ob es die bei anderen Konzepten monierte Asymmetrie von Pfarrer und Gemeinde überwindet. Denn auch das Bild des Helfers setzt Zweierlei voraus: Es gibt einen, der hilft, und einen, dem geholfen werden muss, welcher also der Hilfe des Pfarrers bedarf. So ist im Leitbild der Pfarrerin als „Helferin zur Freude“ die Intensität der Asymmetrie reduziert, jedoch nicht strukturell überwunden.55 Damit bleibt die Frage offen, ob Führung in der Tiefe ohne eine strukturelle Asymmetrie – und mag sie auch noch so gering ausfallen – auskommt. Eng damit verbunden wird bei der Lektüre von Petrys Modell deutlich, dass „Führen und Leiten“ stets mit der epistemologischen Frage nach Wahrheit verknüpft ist. Denn implizit stellt Petry die These auf, dass eine spezifische Epistemologie stets mit einem spezifischen Führungsstil korrespondiert. Auch diese Frage wird im weiteren Verlauf noch zu diskutieren sein. 3.3.
Weitere Ansätze im Überblick
3.3.1. Friederike und Peter Höher – Handbuch Führungspraxis Kirche Das „Handbuch Führungspraxis Kirche“ von Friederike und Peter Höher aus dem Jahr 1999 entfaltet zahlreiche praktische Fragestellungen, denen „Führen und Leiten“ im kirchlichen Kontext begegnet. Materielle Themen wie die Gestaltung von Mitarbeitergesprächen, Selbst- und, Sitzungsleitung, Moderation, Präsentation, Konfliktmanagement und Leitbildentwicklung werden äußerst praxisnah entfaltet. a) Theologische Grundentscheidungen Die getroffenen theologischen Grundentscheidungen machen die Autoren in der Regel nicht transparent.56 Ausgangspunkt ist die Beobach55
Ähnlich beschreibt Hentschel den Zusammenhang von Helfen und Macht. Vgl. Hentschel (2013), 38: „Helfen setzt in der Regel eine asymmetrische Beziehung voraus.“ 56 Insgesamt liegt dem Werk keine Verhältnisbestimmung zwischen Managementtheorien und Theologie zugrunde. Gewinnbringend werden viele Managementme-
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tung, dass nun auch für die Kirche als einer Non-Profit-Organisation professionelles Managementhandeln gefragt sei.57 Von Pastoren und anderen kirchlichen Mitarbeitern werden zunehmend Führungsaufgaben verlangt. Führung wird dabei wie folgt definiert: „Obwohl es etliche, stark differierende Definitionen von Führung gibt, stimmen die meisten in einem überein: Führung gilt als zielbezogene Einflußnahme.“58 Wir halten fest: Führung wird hier per definitionem mit Einflussnahme verbunden. Doch dieser Gedanke wird von den Autoren gleich wieder systemisch relativiert: „Doch diese ‚zielbezogene Einflußnahme‘, die Führung in komplexen Systemen ausmacht, läuft nicht linear von ‚A‘ nach ‚B‘ ab.“59 Führung vollzieht sich also nicht linear, sondern ist deutlich komplexer. Deshalb gilt: „Führung ist hier eingebettet in das Konzept einer Unternehmenskultur.“60 Die Kultur – oder das System – ist also für gelingende Leitungsprozesse zu beachten. Deshalb gebe es nicht den einen, universal gültigen Führungsstil, sondern ein guter Führungsstil sei situationsabhängig. Eine gute Führungskraft beachtet das System und passt dann seinen Führungsstil an. Auf der grundsätzlichen Ebene61 ist für Friederike und Peter Höher aber nicht nur hinsichtlich der Einflussnahme auf eine lineare zugunsten einer komplexen Sichtweise zu verzichten. Analoges gelte eben auch für die Wahrheitsfrage. Das wird besonders im Abschnitt über die Bearbeitung von Konflikten deutlich. Eine der wichtigsten Prinzipien zur erfolgreichen Konfliktbearbeitung ist: „Es gibt mehrere Wahrheiten.“62 Oder auch: „Wir wissen, daß es nicht die einzige Lösung, sondern nur eine Annäherung an sie gibt.“63 Der Führungs- und Leitungstheorie der Autoren liegt also mitunter ein gewisser Wahrheitspluralismus zu Grunde.
thoden skizziert, aber nach einem theologischen Proprium innerhalb einer Methode wird kaum gefragt. Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Wenn die Autoren ausführlich Methoden zur Stressbewältigung vorstellen, verzichten sie vollständig auf geistliche Übungen. Gebet oder Bibel bleiben gänzlich unerwähnt (Vgl. Höher / Höher (1999), 64ff). Da überrascht es beinahe, wenn die Autoren hinsichtlich des Konfliktmanagements schreiben: „Bis jetzt wurde noch nicht ausprobiert, welchen Gewinn Bibeltexte beim kreativen Problemlösen bringen können, doch warum eigentlich nicht?“ (ebd., 155). 57 Vgl. ebd., 17. 58 Ebd., 21. 59 Ebd. Oder: „Dieses Verständnis warnt vor der Vorstellung, daß mit Hilfe einiger Sozialtechniken […] Führung beherrschbar, ein komplexes System steuerbar sei.“ (Ebd., 22). 60 Ebd. 61 Zusätzlich wäre hier zu erwähnen, dass die Autoren des Öfteren auf Einsichten aus den Bereichen von klientenorientierter Gesprächspsychotherapie und Themenzentrierter Interaktion verweisen. 62 Ebd., 162. 63 Ebd., 171.
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b) Führen und Leiten Fragen wir nun weiter: Welches Bild von Führen und Leiten steht implizit hinter den Ausführungen der Autoren? Für Friederike und Peter Höher ist Führung als Einflussnahme auf der praktischen Ebene in erster Linie eine Kommunikationsaufgabe: „Das ‚Hauptgeschäft‘ von Führungskräften ist die Kommunikation […] Professionell zu kommunizieren ist daher ein wesentliches Kriterium erfolgreicher Führung.“64 Das lässt sich aber noch weiter präzisieren. Führung als Kommunikation heißt für die Autoren primär Moderation. Die Moderationsmethode ist eine spezifische Art, Sitzungen zu gestalten. Doch für die Autoren ist sie mehr als das: Moderation sei „Charakteristikum eines bestimmten Rollenverständnisses in der Führung“65. Die Aufgabe des Moderators wird hier wie folgt beschrieben: „Die moderierende Person ist für den Prozeß verantwortlich, nicht für das Ergebnis. Sie versteht sich als Helferin und Dienerin der Gruppe.“66 Die Annahme hierbei ist also, dass die Lösungskompetenz auf Seiten der Gruppe liegt. Die Aufgabe des moderierenden Leiters sei es dabei, diese Kompetenz freizulegen. Liegt nach dem bisher Beschriebenen ein vergleichsweise defensives Leitungsverständnis vor, so muss jedoch ebenso gesagt werden, dass die Autoren einer Führungskraft prinzipiell auch zugestehen, ihr Gegenüber überzeugen zu dürfen.67 c) Die kontextuelle Verortung Nirgends wird in dem Werk ein Zusammenhang von Führungsverhalten und aktuellen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen hergestellt. Implizit sind mit den Fragen nach einer systemischen Sichtweise und der „einen Wahrheit“ jedoch solche gestellt, die auch im Fragehorizont der Postmoderne-Diskussion begegnen. d) Kritische Würdigung: Wie andere Veröffentlichungen um die Jahrtausendwende nehmen Friederike und Peter Höher den wirtschaftlichen Führungskontext auf und stellen gewinnbringende Führungs- und Leitungsmethoden vor. Das geschieht jedoch fast vollständig ohne theologischen Bezug. Damit bleibt die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und wirtschaftlichen Führungs- wie Leitungskontext offen. Das Leitbild von Führung wird hier stark von der Rolle der Moderatorin bestimmt. Insgesamt lie64
Ebd., 35. Ebd., 108. 66 Ebd., 110. Ähnlich auch: „Sein Part beim Erzielen möglichst hochklassiger Teamergebnisse besteht darin, die Gruppe in optimaler ‚Spielstärke‘ zu halten.“ (Ebd., 108). Oder: „Führen heißt nicht, Entscheidungen für das Gremium zu treffen und Macht über es auszuüben, sondern seine Leitungskompetenz zu entwickeln.“ (Ebd., 81). Die Moderatorin bringt sich inhaltlich selbst nicht ein. Allerdings merken die Autoren auch an, dass man als Moderatorin auch nicht nicht wirken könne. 67 Vgl. ebd., 50. 65
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gen dem Werk ein vergleichsweise defensives Führungsverständnis und ein systemischer Denkansatz zugrunde. 3.3.2. Ulrich Müller-Weißner – Chef sein im Haus des Herrn Ulrich Müller-Weißner veröffentlichte 2003 mit „Chef sein im Haus des Herrn“ eine Praxishilfe zum Themenfeld „Führen und Leiten“. Das Werk enthält zahlreiche nützliche Impulse für die Praxis, hier soll es uns jedoch nur um die Grundsatzfragen gehen, die jene spezifische Praxis begründen. a) Theologische Grundentscheidungen Was die Theologische Grundlegung angeht, so erschließt sich MüllerWeißner die Frage nach „Führen und Leiten“ primär über eine systemische Sichtweise. Die Führungs- und Leitungsliteratur sei bisher stark von Mythos des linearen Denkens68 geprägt. So nützlich das Denken im einfachen Ursache-Wirkungsprinzip bspw. in technischen Berufen wie etwa beim Bau einer Maschine auch sei, so problematisch sei es jedoch, dieses Prinzip auf Menschen anzuwenden. Der Mensch sei eben keine Maschine und lasse sich nicht linear steuern. Menschliches Verhalten werde von einer nicht zu überblickenden Anzahl unterschiedlicher Faktoren beeinflusst. Es steht also in einem systemischen Zusammenhang. Gleiches gelte auch für die Wahrnehmung. Der Mensch kann die Wirklichkeit nicht objektiv-unbeteiligt wahrnehmen, weil er selbst Teil des Systems ist, das er betrachtet.69 Weil demnach kein Mensch die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist, wahrnehmen kann, muss auch in Leitungsprozessen grundsätzlich jedem Menschen prinzipiell zugestanden werden, dass seine Wahrnehmung der Wirklichkeit für ihn plausibel ist. Das führt zu der Grundannahme: Hinter jedem Verhalten stecke eine positive Absicht, auch wenn diese nur im abstrusen Sinnzusammenhang des Individuums plausibel erscheine.70 Diese Wertschätzung gegenüber einem jeden Menschen kommt auch in den beiden Stichworten zum Ausdruck, die Müller-Weißners Menschenbild bestimmen: 68
Vgl. Müller-Weißner (2003), 88: „Diese Mythen sind nichts anderes als Versuche, komplexe Zusammenhänge auf einfache, in sich stimmige Erklärungszusammenhänge zu reduzieren.“ 69 Vgl. ebd., 32: „Diese Theorie verneint die erkenntnistheoretische Annahme, dass ein Betrachter eine vorfindliche Wirklichkeit völlig objektiv betrachten und auch beschreiben könne, d.h., so als habe sie mit ihm und er mit ihr überhaupt nichts zu tun.“ Hierzu passt ebenfalls die vergleichsweise defensive Hermeneutik, die Müller-Weißner seinem Werk zugrunde legt. Vgl. Ebd., 17: „Es gibt keine biblisch oder andersartig begründete umfassende Theologie des Führens und Leitens! Sehr wohl der theologischen Reflexion zugänglich sind jedoch die Prämissen, Wertsetzungen, Auswirkungen und Folgen des individuellen Führens und Leitens.“ 70 Vgl. ebd., 61. Dennoch gelte es zu beachten, dass die divergierende Meinung des Gegenübers jedoch in dessen eigenem System als plausibel erscheint.
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Menschenwürde (im Anschluss an I. Kant) und die Gottesebenbildlichkeit, welche erstere begründet. b) Führen und Leiten Neben dieser systemischen Betrachtungsweise, die in den Grundzügen den Ausführungen Breitenbachs ähnelt, rezipiert Müller-Weißner aber gleichsam den wirtschaftlichen Führungs- und Leitungskontext. Hier übernimmt er viel, wenn es etwa ganz praktisch um Personal- und Teamführung oder Mitarbeitergespräche geht. Denn auch ein anderer Mythos sei nicht angemessen, nämlich die Vorstellung, Kirche sei ein machtfreier Raum und bedürfe weder Führung noch Leitung. Deshalb hält Müller-Weißner hinsichtlich von „Führen und Leiten“ zunächst fest: „Kirchliche Führungskräfte müssen führen und leiten.“71 Manche biblische Bilder, wie etwa vom Leib und den vielen Gliedern (1Kor 12) oder dem Weinstock und den Reben (Joh 15), tendieren dazu den Mythos vom machtfreien Raum in der Kirche zu nähren.72 Dennoch wird nach Müller-Weißner Macht in der Kirche ausgeübt. Es gehe jedoch darum, als kirchliche Führungskraft – worunter er vor allem den Pfarrer versteht73 – Macht verantwortlich auszuüben.74 Verantwortliche Machtausübung müsse sich so unter anderem daran messen lassen, ob sie den Menschen als Gottesebenbild einbezieht, ob die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Menschen gewährleistet bleibt oder ob gegenseitige Wertschätzung das Führungsverhalten prägt. Damit werden wieder zentrale Begriffe aufgenommen, die oben bereits als für Müller-Weißners Menschenbild kennzeichnend beschrieben wurden. Das entscheidende Führungsprinzip ist für Müller-Weißner somit die Wertschätzung. „Sie bezeichnet den ethischen Bezugsrahmen jeglicher Kommunikation und Interaktion im Führungshandeln.“75 Im systemischen Ansatz bedeutet Wertschätzung, das Weltbild des Gegenübers grundsätzlich für genauso plausibel zu halten wie das eigene. Dahinter steht ein ontologischer Grundsatz: Es gibt kein richtiges Weltbild! Dennoch ist es wichtig, das Gegenüber auf die Konsequenzen seines Handelns und Denkens aufmerksam zu machen und so auch zum 71
Ebd., 14. Das wird wie folgt begründet: „Zum anderen stellen die organischen Körper und Körperteile – die womöglich noch einem metaphysischen Bauplan entstammen – einen scheinbar funktionalen, also sinnvollen Zusammenhang dar. In ihm arbeitet man kooperativ zusammen, Macht und Führung sind unnötig.“ ebd., 27. 73 Dass vor allem Pastoren in der Kirche führen, scheint hier primär von der Rollenzuschreibung her begründet. Von Pastoren wird erwartet, dass sie führen, dementsprechend sollten sie es grundsätzlich auch tun. Zwar gesteht Müller-Weißner zu, dass auch ehrenamtliche Mitarbeit Führungsdynamiken unterliegt, für ihn können dennoch Führungsverantwortliche in der Kirche nur Hauptamtliche sein. Vgl. ebd., 46. 74 Vgl. ebd., 141f. 75 Ebd., 48. 72
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Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
Überdenken zu bewegen. So ist es stringent, wenn Müller-Weißner konstatiert: „Menschenführung ist vor allem eine Kommunikationsaufgabe.“76 Auch hinsichtlich der Frage nach einem angemessenen Führungsstil kommt Müller-Weißners systemischer Ansatz zum Ausdruck. Unter einem Führungsstil versteht er „ein mehr oder weniger konsistentes Muster des Führungshandelns.“77 Nachdem er verschiedene Führungsstile vorgestellt hat, entfaltet er den von ihm präferierten sogenannten neuen 3-K-Stil.78 Dieser Stil binde ganze Beziehungssysteme in die Führungsaufgabe ein. Die drei „Ks“ meinen hier: Kontext, Kultur und Kräfte. Mit Kontext ist gemeint, dass der Mensch in all seinen Vernetzungen wahrgenommen werden soll. Bei Problemen solle deshalb im Systemzusammenhang geforscht werden. Zeigt beispielsweise ein Mitarbeiter ein unerwünschtes Verhalten, so kann u.a. überprüft werden, ob jenes Verhalten womöglich nur in einer ganz bestimmten Personenkonstellation auftritt. Mit Kultur ist die Grundstimmung einer Organisation gemeint oder implizite Glaubenssätze, Einstellungen und Werte, die jene Organisation prägen (Bsp.: „Wir schaffen alles!“). Diese Kultur bestimmt die Arbeitsfähigkeit einer Organisation erheblich und sollte deshalb von der Führungskraft reflektiert werden. Zuletzt bezeichnen die Kräfte die Selbststeuerungselemente eines Systems (Autopoiese), also die Einsicht, dass eine Organisation bestimmten Eigendynamiken unterliegt. Insgesamt beinhaltet der neue 3-K-Stil somit weniger Handlungsweisen als vielmehr spezifische Sichtweisen. c) Die kontextuelle Verortung Die Frage, wie sich Führungs- und Leitungsprozesse vor dem gegenwärtigen spätmodernen Hintergrund zu gestalten haben, wird von Müller-Weißner nicht aufgenommen. Allerdings ist mit der auch hier stark ausgeprägten systemischen Sichtweise eine inhaltliche Herausforderung für Leitung in der Postmoderne impliziert. Ebenso hält er fest, „dass sich der einzelne Protestant als vollkommen unabhängig von jeder Organisation oder Institution Kirche erlebt – sich abgrenzend gegen jeden realen oder nur vermuteten institutionellen Herrschaftsanspruch.“79 Damit ist zumindest die Frage stellt, wie Führungs- und Leitungsprozesse im Angesicht von Menschen gestaltet werden können, die jene „institutionellen Herrschaftsansprüche“ ablehnen.
76
Ebd., 146. Was das genau meint, macht Müller-Weißner deutlich, wenn er die – wohl weitgehend bekannten – Ausführungen von Paul Watzlawick und Friedemann Schulz von Thun vorstellt. Vgl. Ebd., 148ff. 77 Ebd., 115. 78 Vgl. ebd., 124ff. 79 Ebd., 37.
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d) Kritische Würdigung Für Ulrich Müller-Weißner ist es kennzeichnend, dass er seinen Ausganspunkt bei der systemischen Sichtweise auf Führungs- und Leitungsprozesse nimmt. Das hat er bspw. mit Breitenbach gemeinsam. Anders als dieser jedoch nimmt er stärker den betriebswirtschaftlichen Führungs- und Leitungskontext auf, wie es für zahlreiche Publikationen um die Jahrtausendwende kennzeichnend war. 3.3.3. Dieter Pohl – Gemeinde erfolgreich leiten Dieter Pohl – lange Zeit tätig als Leiter der Gemeindeberatung / Organisationsentwicklung der Evangelischen Kirche im Rheinland – legte 2011 ein Praxisbuch mit dem Titel „Gemeinde erfolgreich leiten“ vor.80 Ganz praktisch soll hier Menschen, die in einem Presbyterium oder Kirchenvorstand leitend tätig sind, Hilfsmittel an die Hand gegeben werden. Vor allem der Frage, wie mit verschiedensten Methoden gelingend Entscheidungen in einem Presbyterium getroffen werden können, wird hier viel Platz eingeräumt.81 a) Theologische Grundentscheidungen Auf der grundsätzlichen Ebene vergleicht Pohl die Leitungstätigkeit in einer Gemeinde mit der eines Piloten in einem Cockpit. Zweierlei habe die Pilotin hier vor Augen. Zum einen ein Sichtfenster mit einem weiten Horizont und zum anderen direkt vor sich eine Messtafel mit einer Steuersäule. Am Horizont erscheinen nun die Theologischen Grundentscheidungen – von Pohl „theologische Perspektiven“ genannt –, denen kirchliches Führungs- und Leitungshandeln Rechenschaft tragen muss.82 Führung wie Leitung sei einem spezifischen Gottesbild verpflichtet. Gott sei stets der menschlichen Wirklichkeit vorzuordnen. Daraus folgt nach Pohl eine Absage an jeden menschlichen „Machbarkeitswahn“83, wie er mehrfach betont. Positiv folgt bei Pohl daraus aber auch, dass Presbyteriumssitzungen mit einem geistlichen Input begonnen und mit einer Form von Segen oder Gebet beschlossen werden. Am Horizont erscheint nach Pohl ebenso ein spezifisches Menschenbild, das Führungs- und Leitungsprozessen zu Grunde liegen soll. Im Vordergrund steht dabei die Menschenwürde. „Leitung und Führung achtet die Würde des Menschen.“84 Praktisch folgt daraus, dass Führung niemanden bevormunden darf, sondern auf partnerschaftliche Kommunikation ausgelegt sein muss. Andererseits dürfe man auch nicht ein idealistisches Menschenbild voraussetzen. Menschen seien 80 81 82 83 84
Vgl. Pohl (2011). Vgl. ebd., 33ff. Vgl. ebd., 16ff. Ebd., 16. Ebd., 17.
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nun einmal für Machtmissbrauch anfällig, deshalb müsse Macht stets begrenzt werden. Des Weiteren sei einem jeden Menschen ein besonderes Charisma gegeben, mit welchem er sich in die Gemeinde einbringen dürfe. Als eine weitere Perspektive am Horizont erscheint das Thema Geschlechtergerechtigkeit.85 b) Führen und Leiten Aus dem Steuerinstrument, welches das leitende Presbyterium im Cockpit vor sich hat, leitet sich nun ein spezifisches Bild von Führen und Leiten ab, von Pohl „strategische Perspektiven“ genannt.86 Hier hebt Pohl nun drei zentrale Aspekte hervor, wodurch eine gewisse Ähnlichkeit zum „kybernetischen Dreieck“ nach Breitenbach entsteht. Das ist zum einen der Aspekt „Leitbild“ mit allem, was dazugehört, wie die Arbeit an Visionen und Zielen. Hinzu kommt zweitens der Aspekt der Organisation. Hier werden bspw. auch Fragen wie die nach einer sinnvollen Arbeitsstruktur verhandelt. Der letzte Aspekt ist der der Kultur mit zahlreichen Unterthemen aus dem Bereich Kommunikation, Bearbeitung von Konflikten und Anerkennung für gemeindliche Mitarbeit. Damit entspricht Pohls Bild von Leitung weitgehend dem kirchlichen Mainstream. In diesem Sinne liest sich auch seine grundsätzliche Definition von Leitung: „Leiten heißt, eine Organisation mit ihren Subsystemen und ihrem Kontext wahrzunehmen und durch geeignete Steuerungsmaßnahmen ihrem Daseinszweck Zukunft zu ermöglichen.“87 Leiten ist hier also erstens mit systemischer Wahrnehmung verbunden und zweitens an einem spezifischen Ziel orientiert. Ebenfalls kann Pohl Leitung in einem Moderationsprozess als Gegenüberorientierung verstehen: „Die Kompetenz der Leitung zeigt sich darin, dass sie sich an denen orientiert, die geleitet werden, Leitung ist eine Dienstleistung für die Geleiteten. Sie kreist nicht um sich selber.“88 c) Die kontextuelle Verortung Die Führungs- und Leitungsfrage wird auch hier nicht im engeren Sinne auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse hin reflektiert. Im weiteren Sinne weist Pohl jedoch auf die Milieu-Thematik hin und darauf, dass Leitung milieuspezifisch agieren müsse.89 85 Ein spezifisches Gottes- und Menschenbild hat Führung und Leitung damit stets vor Augen. Von hier aus ist es auch konsequent, wenn Pohl die Aufgabe der Leitung in der Kirche sowohl von Gott als auch den Menschen her legitimiert sieht. Konkret geschehe dies durch die Orientierung an der Schrift und die Wahl durch die Gemeinde: „Die Legitimation des Presbyteriums besteht im Hören auf das verkündigte Wort der Schrift und in der Wahl durch die Gemeinde. Diese zweifache Legitimation gilt für alle kirchlichen Leitungsorgane.“ Vgl. ebd., 10. 86 Vgl. ebd., 20ff. 87 Ebd., 10. 88 Ebd., 42. 89 Vgl. ebd., 28-31.
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d) Kritische Würdigung Auffällig ist erstens, dass Pohl mit seinem Titel „Gemeinde erfolgreich leiten“ nicht die Pfarrerschaft, sondern das Presbyterium oder den Kirchenvorstand vor Augen hat. Damit positioniert er sich deutlich hinsichtlich der grundsätzlichen Frage, wer denn in der Gemeinde Leitungsverantwortung zu übernehmen habe. Zweitens: Das Menschenbild Pohls deckt sich besonders in dem Topos der Menschenwürde stark mit dem von Müller-Weißner. Als letztes fällt auf, dass die Frage der Steuer- und Machbarkeit von Leitungsprozessen hier primär nicht systemisch, sondern theologisch kritisiert wird, weil die Gefahr bestehe, die Wirksamkeit Gottes zu übergehen. 3.3.4. Christian A. Schwarz – The 3 Colors of Leadership90 Zu einigen Themen – wie etwa Liebe und Spiritualität – sind in der „3 Farben-Reihe“ von Christian A. Schwarz bereits Titel erschienen. 2012 kam nun ein Band zum Themenfeld von „Führen und Leiten“ hinzu. a) Führen und Leiten Das zugrunde liegende Leitbild von „Führen und Leiten“ ist hier das von Empowering Leadership. Empowering ist ein Begriff der im Deutschen nur unzureichend meist mit „bevollmächtigen“ übersetzt wird. Was Schwarz jedoch inhaltlich mit bevollmächtigender Führung meint, wird schnell deutlich. Eine bevollmächtigende Führungskraft benutzt nicht andere Menschen, um die eigenen Ziele zu erreichen und selbst erfolgreich zu sein. Das wäre mit Jim Collins vielmehr das Modell des „Genies mit 1000 Helfern“. Im Gegenteil: Eine bevollmächtigende Führungskraft rüstet andere Menschen zu.91 In diesem Sinne nutzt eine solche Führungsperson ihre Macht. Deshalb habe sich eine Führungskraft bzgl. Macht die folgende Frage zu stellen: “Do they use it to achieve their own goals, or to build their own empires, or do they 92 use it to empower others? That is the question of all questions in leadership.”
Diese Grundfigur einer bevollmächtigenden Führungsperson, die nicht auf den eigenen Erfolg, sondern auf den seines Gegenübers fokussiert ist, präzisiert Schwarz nun in ein konkretes Modell hinein.93 Gelingende Führung habe nach Schwarz zwei Flügel, die beide vorhanden sein müssen: der bevollmächtigende Flügel einerseits und der 90
Schwarz (2012). Vgl. ebd., 4ff. Deshalb die folgende Leitfrage: “Are you looking primarily for helpers to fulfill your own vision, or are you committed to help others fulfill their vision?” ( ebd., 8). 92 Ebd., 14. Die Eigenschaften, an denen sich dieses Grundprinzip ablesen lasse, sind dann: Offenheit, Ehrlichkeit und Verletzlichkeit. Vgl. ebd., 142. 93 Vgl. ebd., 21ff. 91
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leitende Flügel andererseits. Vereinfacht gesagt betont der bevollmächtigende Flügel die Beziehungsdimension von Führung, während der leitende Flügel eher auf das Erreichen von Zielen bezogen ist. Weiterhin beschreibt Schwarz sechs Attribute einer Führungsperson, oder Themenbereiche, denen Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Es handelt sich dabei um die sechs Bereiche Vision, Experimentieren, Strategie, Fortschritt, Begabung und Training. In jedem dieser Bereiche gibt es nun wiederum einen leitenden und einen bevollmächtigenden Flügel. Damit werden die zwei Flügel auf die sechs Attribute bezogen, so dass dementsprechend zwölf Prinzipien hervortreten, die eine Führungskraft nach Schwarz haben sollte. Dazu kann im Internet ein Test gemacht werden, um die eigenen Schwächen wie Stärken zu identifizieren. 1) Vision: Die beiden Prinzipien im Bereich Vision sind einerseits a) eine eigene Vision zu entwerfen, welche den Geleiteten vor Augen gemalt wird (Leiten) und b) die spezifische Vision anderer freizusetzen (Bevollmächtigen). Das Thema Visionsentwicklung gehört damit in das Zentrum von Schwarz Leitungsverständnis. 2) Experimentieren: In diesem Bereich gibt es die zwei Prinzipien a) aus Fehlern lernen (Leiten) und b) Fehler erlauben (Bevollmächtigen). Leitung muss damit eine Kultur kreieren, in der in gewisser Hinsicht „gerne“ Fehler gemacht werden. Denn wer Fehler macht, der ist der Problemlösung einen Schritt näher. Andererseits muss Führung aber ebenfalls sicherstellen, dass aus den gemachten Fehlern auch gelernt wird. Beide Prinzipien braucht es in einem ausgeglichen Verhältnis. 3) Begabung: Hinsichtlich des Themenfeldes von Begabung arbeitet Schwarz die beiden Prinzipien a) Auf Stärken konzentrieren (Leiten) und b) Schwächen aufspüren (Bevollmächtigen) heraus. Beides ist wichtig. Allerdings: Wird sich nur auf Schwächen fokussiert, soll also ein Alleskönner produziert werden, so sei das der beste Weg in die Mittelmäßigkeit. Deshalb: Nur wenige Dinge tun, die aber richtig! 4) Strategie: Der vierte Bereich beschäftigt sich mit der Strategie und hat die beiden Prinzipien a) Ziele setzen (Leiten) und b) den IstZustand analysieren (Bevollmächtigen). Bei der Strategie geht es nun darum, aus der Vision einen Plan zu machen. Der Plan ist dann die Verbindung von der gegenwärtigen Situation hin zum Ziel. Beides ist aber wichtig: Die aktuelle Situation zu verstehen und Ziele für die Zukunft zu setzen. 5) Fortschritt: Die beiden Prinzipien dieses Bereichs sind: a) kühne Schritte forcieren (Leiten) und b) stetes Wachstum unterstützen. Das Stetige und das Abrupte – beides sei von Zeit zu Zeit notwendig. Allerdings sticht heraus, dass Schwarz diesbezüglich auch die küh-
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nen Schritte gegen den Widerstand von Menschen mit anderer Meinung fordert. Wer darauf warte, dass alle ihm zustimmen, der würde seine Organisation in die Bedeutungslosigkeit führen. 6) Training: Der letzte Themenbereich widmet sich dem Training. Hier geht es um: a) Prinzipien lehren (Bevollmächtigen) und b) Prinzipien vorleben (Leiten). Führungskräfte müssen anderen allgemeingültige, bewiesene Prinzipien vermitteln und diese dann auch vorleben. b) Theologische Grundentscheidungen Besonders an den letzten beiden Themenfeldern werden einige Theologische Grundentscheidungen deutlich, die von Schwarz getroffen worden sind. So gebe es nach Schwarz universell gültige und beweisbare Prinzipien hinsichtlich von Leitung und Gemeindeaufbau.94 Damit ist er weit weg von jeglichem Wahrheitspluralismus. Vereinfacht: Es gibt die eine Wahrheit, die es zu entdecken und dann zu lehren gilt. Nun gibt es die eine Wahrheit bei Schwarz nicht nur in genuin theologischen Dingen, wie in Fragen des Evangeliums, sondern offensichtlich auch in Fragen der Kirchenordnung und des Gemeindeaufbaus. Natürliche Gemeindeentwicklung halte sich an acht Prinzipien. In diese Linie passt auch, dass Schwarz die Rede von der „bevollmächtigenden Leitung“ nicht für einen spezifischen Führungsstil hält, sondern für ein universell gültiges Prinzip von gelingender Leitung.95 Dass es so etwas wie „das Richtige“ gibt, wird auch vorausgesetzt, wenn Schwarz mitunter nach „kühnen Schritten“ ruft, die per definitionem nicht den Konsens der Gruppe suchen. Wahrheit ist hier eben nicht etwas, auf das sich die Gruppe einigt. Weiterhin fällt auf, dass Schwarz Wachstumsprozesse in der Kirchengemeinde prinzipiell für mess- und steuerbar hält. “Now it is possible to analyze with precision the quality of a church, to set qualitative goals, and to monitor to what degree those goals have been reached.”96 c) Die kontextuelle Verortung Kybernetische Überlegungen werden auch bei Schwarz nicht vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen verhandelt. d) Kritische Würdigung: Christian A. Schwarz‘ Konzept basiert auf der Vorstellung von „Leitung durch Vision“. Allerdings hat sich bei Schwarz über den im Vordergrund stehenden Begriff des Empowerment der Fokus vom Führenden hin zu dem Geführten verschoben. Ihr Erfolg steht hier im Vordergrund. Kritisch und offen bleiben auf der prinzipiellen Ebene letzten 94 95 96
Vgl. ebd., 85. Vgl. ebd., 17. Vgl. ebd., 78.
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Endes die Fragen, a) inwiefern Leitung mit einer grundsätzlichen Steuer- und Messbarkeit von Prozessen rechnen kann und b) inwiefern es „das Richtige“ gibt, das Leitung dann mit „kühnen Schritten“ zu forcieren habe.97 3.4.
Zwischenfazit – Die systemische Wende in der theologischen Literatur zu Führen und Leiten
Welches Zwischenfazit lässt sich nun im Anschluss an die sechs bisher analysierten Modelle ziehen? Zum einen hat die Analyse auf der prinzipiellen Ebene zahlreiche Grundsatzfragen zutage gefördert, wie zum Beispiel die Frage nach dem Subjekt von Leitung. Leitet in der Gemeinde die Pastorin, der Kirchenvorstand oder gar beide? Man denke auch an die Frage nach der Wahrheit, deren Beantwortung für Führungs- und Leitungsprozesse ein erhebliches Gewicht zukommt. In welchen Dingen gibt es die eine Wahrheit oder ist Wahrheit insgesamt nur ein Konstrukt, sodass in Leitungsfragen besser ganz auf Wahrheitsansprüche verzichtet werden sollte? Es hat sich auch gezeigt, dass diese Grundsatzfragen innerhalb der bisher untersuchten Literatur mitunter ganz unterschiedlich beantwortet werden. So sieht etwa MüllerWeißner hinsichtlich der Frage nach dem Subjekt der Leitung primär den Pfarrer gefragt, während Pohl Leitung verstärkt als eine Aufgabe des ehrenamtlichen Presbyteriums versteht. Auch hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Leitung und Wahrheit kommen Petry und Schwarz zu unterschiedlichen Ergebnissen. Zum anderen hat die bisherige Analyse gezeigt, dass sich – mit Ausnahme von Christian A. Schwarz – alle bisher dargestellten Konzepte im Wesentlichen einem systemischen Denkansatz verpflichtet wissen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Insgesamt könnte dafür das folgende Zitat von Breitenbach als Überschrift dienen. „Ein neues Leitbild von Leitung zeichnet sich ab: Das Nachdenken über Steuerungsprozesse steht heute im weiten Horizont systemischen Denkens.“98
So ist insgesamt zu konstatieren, dass die theologische Literatur zu „Führen und Leiten“ in den letzten 20 Jahren den interdisziplinären Dialog primär mit dem systemischen Denkansatz gesucht hat. Dabei war 97
Interessant ist ein Vergleich dieses 3 Farben-Modells mit jenem von Böhlemann und Herbst (ա 4.1.2.). Neben manchen Gemeinsamkeiten ist der wohl entscheidende Unterschied, dass nach Herbst und Böhlemann die verschiedenen Dimensionen von Leitung in keiner Person ganz vorhanden sind und es deshalb immer ein sich ergänzendes Leitungsteam brauche. Schwarz hingegen malt ein Bild von einer Leitungsfigur, die zwar ihre Stärken hat, aber dennoch in allen von ihm skizzierten zwölf Dimensionen kompetent sein sollte. 98 Breitenbach (1994), 43.
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vor allem die Organisationssoziologie die prägende Referenzwissenschaft. Mit jenem systemischen Denken verschob sich der Fokus damit weg von den am Leitungsprozess beteiligten Individuen hin zum ganzen System. Damit vollzieht die kirchliche Führungs- und Leitungsliteratur einen Schritt, der in Teilen ebenfalls von der entsprechenden betriebswirtschaftlichen Literatur gegangen wird. Als Beispiel hierfür kann Oswald Neuberger dienen, der insgesamt die These aufstellt, dass sich die Leitungsfrage mehr und mehr von einem „Wie führe(n) ich/wir ein Unternehmen?“ hin zu einem „Wie führt sich ein Unternehmen?“ verschiebt.99 Insgesamt hat jener systemische Ansatz den Horizont für Leitungsprozesse deutlich erweitert. Die Komplexität von Steuerungsprozessen und die oftmals unbewusst verlaufenden Abhängigkeiten werden mit Hilfe dieser Sichtweise deutlicher. Die Früchte dieser „systemischen Wende“ in der Kybernetik sind mit den Händen zu greifen. Insgesamt neigt der systemische Ansatz jedoch dazu, durch die Fokussierung auf das gesamte System das einzelne Individuum weniger zu beachten.100 Es ist die logische Konsequenz, dass dem einzelnen leitenden Subjekt eine geringere Einflussmöglichkeit zugesprochen wird, wenn betont wird, dass sich soziale Systeme im Wesentlichen selbst steuern (Autopoiese). Damit gerät die Kategorie von Führung als zwischenmenschliches Interaktionsgeschehen tendenziell in den Hintergrund. Halten wir uns noch einmal die Differenzierung Müller-Weißners hinsichtlich „Führen“ und „Leiten“ vor Augen, wonach es sich bei Führung um eine Interaktionsbeziehung handle, Leitung hingegen eher die Gesamtorganisation im Blick habe, so ist es naheliegend, dass die „systemische Wende“ hin zu einer einseitigen Prioritätensetzung auf das Leiten zusteuert. Führung gerät dann in den Hintergrund. Es scheint so, als wäre das Pendel in der Kybernetik durch die „systemische Wende“ zur anderen Seite geschlagen, weg von der alten „Pas99
Vgl. Neuberger (2002), 635. Ähnlich schon Lindner. Vgl. Lindner (2000), 24: „Die Elemente sozialer Organisationen sind Personen im Blick auf ihr systembezogenes Handeln, nicht etwa die Person als Ganzes. Personen werden deshalb unter dem Blickwinkel der Organisation auch nicht als Individuen betrachtet, sondern insoweit sie systembezogene Handlungen ausführen.“ Ähnlich kritisierte jüngst auch Böckel die seiner Auffassung nach noch immer weit verbreitete handlungstheoretische Sichtweise auf Führung mit der ihr inhärenten „Fokussierung auf personale Interaktion“. Vgl. Böckel (2014), 52. Er kommt dabei zu dem folgenden Ergebnis: „[...] die systemische Sichtweise [verlagert] die Frage nach der Steuerung von Einzelhandlungen auf die Frage der Steuerung von psychischen und sozialen Systemen. Ausgangspunkt dabei ist weder die Person der Führungskraft oder ihr Verhalten noch die Frage nach der Gestaltung einer führungsadäquaten Beziehung zwischen Führenden und Geführten oder die wie auch immer klassifizierte Führungssituation, sondern das für das jeweilige System konstitutive kommunikative Koordinationsprinzip und seine Regeln.“ Vgl. ebd., 57.
100
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toralkybernetik“101 mit ihrer Fokussierung auf den leitenden Pfarrer, hin zu einer systemischen Perspektive. Wohlmöglich müsste jenes Pendel aber wieder zentriert werden. Denn es kann gefragt werden, ob ein Alleinstellungsmerkmal der systemischen Betrachtungsweise für kybernetisches Handeln angemessen ist. Zu der Beobachtung, dass eine systemische Perspektive mitunter die personale Dimension von Führung und Leitung auszublenden droht, kommt auch Jan Hermelink. „Auch die Leitungsaufgabe [ist] in der Gemeindeorganisation komplexer geworden; vor allem die systemische Reflexion dieser Aufgabe hat dazu zahlreiche hermeneutische und methodische Einsichten erbracht. Im Hinblick auf die einschlägigen Werke fällt allerdings auf, dass die Rolle der personalen Gemeindeleitung, also die spezifische Aufgabe der Pfarrperson, hier – im Unterschied zur Gemeindebewegung des 19. Jahrhunderts – nur ganz am Rande thematisch wird. Je stärker ein moderner, auf systemische Eigendynamik und Selbstverantwortung setzender Organisationsbegriff sich durchsetzt, desto entbehrlicher, ja dysfunktionaler erscheint offenbar die Vorstellung einer mit umfassenden Kompetenzen ausgestatteten Person an der Spitze.“102
Auch bei Anja Tetzlaff stehen ähnliche Einsichten Pate. Sie resümiert über die theologische Führungs- und Leitungsliteratur: „Die wenigen vorliegenden Arbeiten, die sich mit der Leitung der Gemeinde befassen, basieren vorwiegend auf einer systemtheoretischen Betrachtung der Gemeinde [...].“103 Sie selbst legt deshalb in ihrer eigenen empirisch angelegten Arbeit den Schwerpunkt auf die Akteurssicht der in Führungsprozessen beteiligten Personen. Womöglich sind aber eine personale und eine systemische Sichtweise auf Führungs- und Leitungsprozesse keine einander ausschließenden Alternativen, so dass nach personaler Leitung in komplexen Systemen gefragt werden kann.104 Wie denn aber nun genau von „Führung und Leitung in komplexen Systemen“ vor einem spätmodernen Hintergrund gesprochen werden kann, ist damit eine dringliche Frage, der im weiteren Verlauf der Arbeit noch ausführlichere Aufmerksamkeit wird zukommen müssen.
101
Zum Terminus: Vgl. Seitz (1982), 157. Hermelink, Kirchliche Organisation, 253. Hier wird allerdings auch „personale Gemeindeleitung“ mit der „Pfarrperson“ identifiziert, eine Gleichsetzung, die alles andere als zwingend ist. 103 Tetzlaff (2005), 243. 104 So weist auch Meyer-Blanck darauf hin, dass eine Beschäftigung mit dem personalen Aspekt von Leitung den Vorteil habe, dass jener leichter handhabbarer und veränderbarer sei. „Dennoch ist die personenbezogene Dimension von Leitung für die Praxisvollzüge in einer Gemeinde insofern am interessantesten, weil die Veränderung des eigenen Leitungsstiles am ehesten erreichbar ist, während die Veränderung von Strukturen ein langwieriger Prozess mit vielen Unwägbarkeiten ist.“ Meyer-Blanck (2007), 511. 102
4.
Führen und Leiten in Kirchentheorie und Gemeindeaufbau
Ursprünglich bezeichnete der Begriff Kybernetik die Steuermannskunst. Der Begriff wird in der Praktischen Theologie jedoch nicht einheitlich benutzt. Mal wird er äquivalent zu „Führen und Leiten“ verwendet, mal wird er mit Gemeindeaufbau identifiziert1 oder in die Nähe der Kirchentheorie2 gerückt. So sind folgende Fragen über den gemeinsamen Begriff der Kybernetik eng miteinander verbunden: „Was soll die Gemeinde/Kirche sein?“ Und: „Wie soll die Gemeinde/Kirche geleitet werden?“ Deshalb sollen nun Konzepte aus dem Bereich des Gemeindeaufbaus und der Kirchentheorie auf das ihnen inhärente Verständnis von Leitungs- und Führungsprozessen hin analysiert werden. Aus forschungspragmatischen Gründen muss die herzugezogene Literaturauswahl einen eklektischen Charakter haben. Deshalb wird sich auf drei Ansätze zu beschränken sein. Kirchentheoretische Entwürfe gemeinsam mit einem Ansatz aus dem Bereich des Gemeindeaufbaus zu verhandeln, mag manchem Leser arbiträr anmuten. Dennoch ist die Zusammenstellung für unsere Fragestellung sinnvoll, da beides auf seine Weise die ekklesiologische Perspektive für die Praktische Theologie fruchtbar macht, mal eher auf die einzelne Kirchengemeinde fokussiert, mal eher die Kirche im umfassenderen Sinne betrachtend. Ebenso sind beide Themenfelder über die Kybernetik miteinander verbunden. Beginnen wir dazu nun mit dem Beitrag von Michael Herbst. 4.1.
Michael Herbst – Vom missionarischen Gemeindeaufbau zu Geistlich leiten
Der Beitrag des Greifswalder Praktischen Theologen Michael Herbst zum Themenkomplex „Führen und Leiten“ lässt sich vereinfacht in drei Etappen unterteilen. Jede Etappe ließe sich mit einer Veröffentlichung verbinden. Den Grundstein legt die 1987 erschienene Dissertation „Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche“. Mit dem 2001 1
Vgl. Herbst (2010), 72. Vgl. Preul (1997), 1-17. Vgl. zum Begriff der Kirchentheorie: Hauschildt / PohlPatalong (2013), 49ff. 2
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veröffentlichen „Spirituellen Gemeindemanagement“3 geriet verstärkt der Diskurs mit dem Marketing in den Fokus und das 2011 erschienene „Geistlich leiten“4 kann vor dem Hintergrund einer intensiveren Auseinandersetzung mit der Postmoderne eingeordnet werden. Zwischen jenen drei Etappen gibt es weitgehende Übereinstimmungen, aber ebenso Akzentverschiebungen, die im Folgenden auch kenntlich gemacht werden sollen. Die gewissermaßen ekklesiologische Grundlage ist aber mit dem „Missionarischen Gemeindeaufbau“ gelegt.5 Sie soll nun näher skizziert werden, um Herbsts Ausführungen zu „Führen und Leiten“ vor diesem Hintergrund stimmig einordnen zu können. 4.1.1. Theologische Grundentscheidungen Der ekklesiologischen Argumentation im „Missionarischen Gemeindeaufbau“ liegt eine spezifische Hermeneutik zu Grunde. Diese nimmt bei der Heiligen Schrift und der Barmer Theologischen Erklärung, besonders an deren dritten These, ihren normativen Ausgangspunkt.6 Während in weiten Teilen des Luthertums Fragen der Kirchenordnung, zu der auch der Gemeindeaufbau gezählt werden kann, als Adiaphora betrachtet werden, behandelt Herbst die Frage der Gestalt des Gemeindeaufbaus mit Barmen III keinesfalls als den Glaubensgrundsätzen nachgeordnete Frage. Vereinfacht gesagt: Was Gemeinde von der Bibel her ist, hat für Herbst deshalb auch heute für Gemeinde zu gelten.7 Herbsts Bild von Gemeinde steht in pietistischer Denktradition. So ist es für Herbst kennzeichnend, dass er Christsein und Gemeinde eng aufeinander bezieht. Christsein ohne Gemeinde lässt sich für ihn nicht denken.8 Gemeinde ist für Herbst vor allem „Gemeinde von Brüdern“. 3
Abromeit (2001b). Böhlemann / Herbst (2011). 5 So hält Herbst auch 2010 fest, „dass die Grundentscheidungen, die 1987 publiziert wurden, aus meiner Sicht immer noch gelten.“ Herbst (2010), 483. 6 Vgl. ebd., 36: „Diese Orientierung an der Heiligen Schrift ist mit der dritten These der Barmer Theologischen Erklärung gerade für den Gemeindeaufbau bindend.“ 7 So entwirft Herbst vom NT her ein normatives Bild von Gemeinde(aufbau), das er dann als kritischen Maßstab an gegenwärtige Konzepte anlegt (Vgl. ebd., 74ff.). Insgesamt folgt Herbst damit weniger der eher genuin lutherischen Sichtweise, wonach das satis von CA VII bewusst Freiheit in Fragen der Kirchenorganisation eröffnen möchte, wie bspw. Preul. Nach Herbst sei CA VII eben keine vollständige Definition von Kirche und müsse deshalb durch Barmen III ergänzt werden. Vgl. ebd., 58: „Auch will CA VII nicht vollständig beschreiben, was eine christliche Gemeinde ist“. 8 Vgl. ebd., 135: „Nein, die Sache muß beim Namen genannt werden: Wer hier fernbleiben kann, wer hier lautlos gehen kann, wer hier feststellen muß, daß er in Distanz lebt zur Gemeinde, ihrer Versammlung unter Wort und Sakrament, damit wohl auch ihrem Herrn, von dem muß wohl in der Regel gelten, daß er noch nie eine Grundentscheidung für Jesus Christus, eine ganzheitliche Umkehr zu ihm und seinem Leib, der Gemeinde, erlebt hat.“ 4
4. Führen und Leiten in Kirchentheorie und Gemeindeaufbau
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Damit wird der gemeinschaftliche Aspekt besonders betont.9 Dieses enge Zusammendenken von Christsein und Gemeinde ist nun für das Thema „Führen und Leiten“ relevant, denn es ist als eigenständiges Thema damit erst gegeben. Steht die Gemeinschaft der Christen im Fokus, stellt sich verstärkt die Frage, wie diese Gemeinschaft denn organisiert und damit auch geleitet sein will. Legt Herbst sein Bild von Gemeinde als Maßstab an die Realität des kirchlichen Lebens (von 1987) an, so kommt er zu folgendem Ergebnis: „Von einer stabilen Kirche, von aufgebauten Gemeinden kann keine Rede sein.“10 Kann von aufgebauten Gemeinden nicht die Rede sein, so ist die Aufgabe des missionarischen Gemeindeaufbaus dringend geboten. Gemeindeaufbau ist für Herbst nun mit Gemeindewachstum verbunden, allerdings in zwei Dimension: Intensiv und extensiv.11 Intensiv im Glauben und extensiv in der Zahl der Gemeindeglieder. Nun könnte man Herbst vorwerfen, eine Fokussierung auf den Gemeindeaufbau führe verstärkt zu einer Abkapselung der „Frommen“ von der Welt. Das Leben in der Gemeinde gerate in den Vordergrund, nicht das Christsein in der Welt. Deshalb ist Herbst besonders das Adjektiv „missionarisch“ im missionarischen Gemeindeaufbau wichtig, denn es ordnet den Gemeindeaufbau in einen weiteren Horizont ein. Die aufgebaute Gemeinde ist zum Dienst in die Welt gesandt. Die darin angedeutete Bewegung kommt in den sogenannten drei „kybernetischen Grundentscheidungen“ zum Ausdruck, die gewissermaßen das Herz von Herbsts Ausführungen bilden. Er bezeichnet sie als eine Art „Basisformel“12 für den missionarischen Gemeindeaufbau. Jede der drei Grundentscheidungen orientiert sich an einer Gruppe. Die drei Gruppen sind erstens die Pfarrer, zweitens die Mitarbeiter und drittens die Fernstehenden. Die erste Grundentscheidung Die erste Grundentscheidung bezieht sich auf die geistliche Erneuerung und kybernetische Ausbildung des Pfarrerstandes.13 Der missionarische Gemeindeaufbau setzt mit dieser ersten Grundentscheidung somit bei der Pfarrerin an. Geistlich erneuert wird sie selbst zum Motor des Ge9
Eine Zusammenfassung von Herbst Bild von Gemeinde findet sich: ebd., 65: „Die ekklesiologische Grundaussage von Barmen kennzeichnet die Gemeinde als von Christus, ihrem Haupt, zusammengerufene und zusammengeführte ‚Gemeinde von Brüdern‘, deren Leben und Zusammenleben einerseits durch Wort und Sakrament, andererseits durch gegenseitiges Dienen in der Fülle der Gaben geprägt wird, und deren Existenz in der Welt durch umfassendes Zeugnis und Einladung zum Glauben an alles Volk zum Ziel kommen soll.“ 10 Ebd., 159. Vgl. auch: Ebd., 151. 11 Vgl. ebd., 70. 12 Ebd., 307. Hier heißt es auch: „Sie gelten im Bereich der ganzen Volkskirche, wie sie sich zur Zeit darstellt.“ 13 Ebd., 311ff.
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meindeaufbaus. Sie nutzt die gegenwärtige Pfarrzentrierung, um einen Prozess in Gang zu setzen, an dessen Ende die mündige Gemeinde steht, die keinen Pfarrer im Mittelpunkt mehr kennt. Es lässt sich grundsätzlich feststellen, dass sich der Gedanke der Mündigkeit der Gemeinde wie ein roter Faden durch die Publikationen von Michael Herbst zieht. Im ersten Schritt müssen also die Pfarrer zum Gemeindeaufbau befähigt werden. Die zweite Grundentscheidung Die zweite Grundentscheidung nun bezieht sich auf die Laien.14 Als Ideal zeichnet Herbst das Bild des Allgemeinen Priestertums. Doch von dessen Realisierung sei die Gegenwart noch weit entfernt. Deshalb sei es nun die Aufgabe der geistlich erneuerten Pfarrerin, der Gemeinde zu helfen, ihr Priestertum wiederzuentdecken, oder anders gesagt: zur Taufe zurückzukehren. Im Anschluss an Luthers Vorrede zur Deutschen Messe, sollen nun die, die „mit Ernst Christ sein wollen“, sich zu geistlichen Zellen verbinden. Aus diesen Zellen nun soll mit der Zeit ein Mitarbeiterkreis in der Gemeinde aufgebaut werden. Die Gemeindeglieder entdecken ihre Gaben und werden zum Dienst befähigt. Jener Dienst ist eng mit der nun anschließenden dritten Grundentscheidung verknüpft. Die dritte Grundentscheidung Die dritte Grundentscheidung betrifft die Fernstehenden.15 Ging es bisher um Erneuerung – sprich Buße16 – für Pfarrer und Laien – so wird Analoges nun für die der Gemeinde Fernstehenden entfaltet. Herbst macht hier noch einmal deutlich, dass man das Fernbleiben von der (Kern-)Gemeinde theologisch nicht durch eine Trennung von Christlichkeit und Kirchlichkeit legitimieren dürfe. Deshalb bedarf es nun der Evangelisation. Damit ist jedoch nicht nur eine einmalige Evangelisationsveranstaltung gemeint, vielmehr soll Evangelisation ein Grundzug der gesamten Gemeindearbeit sein. Damit ist das Modell des missionarischen Gemeindeaufbaus von Michael Herbst in seinen wesentlichen Grundzügen skizziert. Dieses Modell rief in der Rezeption in weiten Teilen Widerspruch hervor. Exemplarisch sei auf Bernhard Petry verwiesen.17 Nach Petry liege bei Herbst das Modell der Entscheidungskirche vor. Damit ist gemeint, dass bei Herbst die Gemeinde in konzentrischen Kreisen um Jesus Christus angeordnet sei, wobei die Deutlichkeit der Glaubensentscheidung über die Nähe bestimme. Für Petry ist deshalb das Merkmal der 14 15 16 17
Vgl. ebd., 339ff. Vgl. ebd., 373ff. Vgl. ebd., 317. Vgl. Petry (2001), 182-185.
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Grenze für Herbsts Ekklesiologie ausschlaggebend. In dieser Analyse wird Petry zu folgen sein, denn es lässt sich feststellen, dass Herbst den Unterschied zwischen Glaube und Unglaube deutlicher betont, als Petry oder auch Breitenbach, welche eher dazu tendieren, jene Unterscheidung zu nivellieren. Diese – gewissermaßen „donatistische“ – Frage hat eine hohe Relevanz für Leitungsprozesse. Denn wie die Frage beantwortet wird, ob Kategorien wie „Glaube und Unglaube“, „Wahrheit und Unwahrheit“ oder „Richtig und Falsch“ prinzipiell existieren, hat weitreichende Konsequenzen. Gibt es ein „Richtig“, so gilt es als Leitungsverantwortliche das „Richtige“ zu identifizieren und umzusetzen. Ist dies nicht der Fall, kann Leitung – stark vereinfacht gesprochen – nur als Moderation von Verständigungsprozessen verstanden werden. Gesondert soll nun noch die Rolle des Pfarrers bei Michael Herbst betrachtet werden. Durch die verschiedensten Veröffentlichungen hindurch18 zeichnet Herbst den Pfarrer als eine Person mit zwei Aufgaben. Als erstes ist der Pfarrer ein Diener des Wortes. Pfarrer sind Menschen, denen das Wort Gottes anvertraut wurde. Dieser Dienst am Wort realisiert sich – wenn auch nicht nur – in der Predigt. Pfarrer sind also zum einen Prediger. Die zweite Aufgabe einer Pfarrerin ist Leitung. Theologisch argumentiert Herbst diesbezüglich von Eph 4 her.19 Hiernach sind die Ämter der Gemeinde gegeben, damit durch sie die Heiligen zugerüstet werden. Dieses wiederum geschehe nicht zwecklos, sondern zur Erbauung der Gemeinde. Führung ist demnach primär Zurüstung der Mitarbeiter zum Dienst.20 Das wird im Folgenden noch weiter zu entfalten sein. Im „Missionarischen Gemeindeaufbau hat der Pfarrer insgesamt die Rolle des Motors: „Der Pfarrer ist die Schlüsselperson. Das bedeutet auf der positiven Seite auch, daß er die besten Möglichkeiten hat, Veränderungsprozesse in Gang zu bringen.“21 Insgesamt folgt Herbst bezüglich des Amtsverständnisses einer Konvergenzdefinition. Der Pfarrer ist beides: Er ist einerseits Laie und Teil des Allgemeinen Priestertums. Er ist aber ebenso als Pfarrer der Gemeinde gegenübergestellt und repräsentiert so die Vorgegebenheit des Evangeliums. Das heißt dennoch nicht, dass er die vielen Begabungen des Allgemeinen Priestertums behindern, sondern ihm vielmehr dienen solle, damit es besser zur Entfaltung komme. 18
Besonders markant zu dieser Fragestellung: Herbst (2011b). Diese Beschränkung auf nur zwei Tätigkeiten versteht sich auch als Reaktionen gegenüber den langen Aufgabenkatalogen, die gegenwärtig in so mancher Pastoraltheologie vorgelegt werden. Jene Reduktion soll die Überforderung von Pfarrern mindern. 19 Vgl. ebd., 201-203. 20 Diesen Aspekt kann Petry bei Herbst wertschätzen. Er fasst treffend zusammen: „Mitarbeiterpflege würde zur hervorgehobenen pastoralen Leitungsaufgabe. Das kirchliche Amt diente so im Sinne der Reformation dem allgemeinen Priestertum.“ Petry (2001), 191. 21 Herbst (2010), 314.
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Im „Spirituellen Gemeindemanagement“ werden knapp 15 Jahre später weitere allgemein-theologische Fragen verhandelt, die für „Führen und Leiten“ von Relevanz sind und über den Horizont des „Missionarischen Gemeindeaufbaus“ hinausgehen.22 Der Ausgangspunkt wird hier bei folgender Beobachtung genommen: Die Kirche wurde stets analog zur staatlichen Behörde geleitet. Mit dem Ende des Konstantinischen Zeitalters habe sich jedoch die Situation der Kirche in Deutschland grundlegend verändert. Sie befinde sich nun in einer Marktsituation und stehe in Konkurrenz zu anderen Sinnanbietern. Diese neue Situation erfordere für die Theologie neue Dialogpartner. Die Marktsituation lege dabei den Dialog mit dem Marketing besonders nahe. Für die Kirche gilt deshalb: „Sie muss ihren ‚Behördencharakter‘ ablegen und sich einem ‚Unternehmens-Charakter‘ öffnen.“23 Nun werden Erkenntnisse aus dem Bereich des Marketings für die Gestaltung des kirchlichen Lebens übernommen. Dieser Dialog mit dem Marketing wird auf kirchlicher Seite teilweise als Unterwerfung unter ein dem christlichen Glauben fremdes Paradigma aufgefasst. Auf drei Ebenen setzt Herbst deshalb an, um diesen Vorwurf zu entkräften. Erstens gehe es um Spirituelles Gemeindemanagement. Das Adjektiv ist entscheidend, denn (Non-Profit-)Marketing und Spiritualität werden sehr eng aufeinander bezogen. Zweitens legt Herbst eine spezifische Definition von Marketing zu Grunde. Marketing orientiere sich im Anschluss an Heribert Meffert doppelt: zum einen an den Bedürfnissen des Kunden, zum anderen jedoch an der Verwirklichung des Unternehmenszieles. Der zweite Punkt ist gegenüber den Kritikern entscheidend. Marketing sei deshalb nicht bloß auf Bedürfnisbefriedigung fokussiert, sondern beachtet den genuinen Auftrag der Kirche: die Verkündigung des Evangeliums, selbst wenn diese einmal den Bedürfnissen des Menschen auf den ersten Blick widersprechen sollte. Drittens beschäftigt sich Herbst mit dem Vorwurf, eine marktwirtschaftliche Perspektive auf die Kirche verfalle einem untheologischen Machbarkeitsdenken. Demgegenüber verweist Herbst auf Bohrens Konzept der „theonomen Reziprozität“.24 22 Herbst (2006). In diesem Aufsatz fasst Herbst die Grundlinien des Spirituellen Gemeindemanagements zusammen und macht sich diese ganz zu Eigen, obwohl sie ursprünglich von einem breiten Verfasserkreis stammen. Der Einfachheit halber wird im Folgenden nur von Herbst gesprochen. 23 Herbst (2001), 83. 24 Der Begriff der „theonomen Reziprozität“ wird in der Homiletik eng mit Rudolph Bohren verbunden. Hier liegt eine grundlegende Unterscheidung von Christologie und Pneumatologie zugrunde. Während in der Christologie jede Mitwirkung des Menschen Häresie sei, werde diese Mitarbeit des Menschen in der Pneumatologie geradezu gefordert. Der Geist benutzt den Menschen für sein Wirken. Diese Mitarbeit des Menschen am Werk Gottes vollziehe sich zwar reziprok, aber eben dennoch theonom gesteuert. Für Herbst ergibt sich hieraus die Konsequenz, dass man einerseits die Einsicht, dass Gott selbst seine Kirche leite, und anderer-
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Was bleibt? Die Beschäftigung mit den Veröffentlichungen von Herbst zeigen auf der prinzipiell-theologischen Ebene, dass die folgenden Fragestellungen für „Führen und Leiten“ von Relevanz sind: a) Der Zusammenhang von Christsein und Gemeinde, b) die Unterscheidung von Glaube und Unglaube und c) Die Verhältnisbestimmung von Theologie und betriebswirtschaftlichen Erkenntnissen. 4.1.2. Führen und Leiten Für jede einzelne „Etappe“ soll Herbsts Bild von „Führen und Leiten“ eigens herausgearbeitet werden. Auch wenn es zwischen den Etappen zahlreiche Kontinuitäten gibt, ist es so einfacher, das jeweilige Proprium zu beachten: a) Missionarischer Gemeindeaufbau: befähigende Leitung durch Predigt Ausführlich wird die Führungs- und Leitungsthematik im Missionarischen Gemeindeaufbau nicht verhandelt,25 dennoch entsteht ein deutliches Bild. Erstens konkretisiert Herbst die leitende Tätigkeit primär in die Predigt hinein.26 Durch das Predigtamt werde die Gemeinde sine vi, sed verbo geleitet. Die Predigt sei gar die „vornehmlichste Leitungstätigkeit“27. Leitung und Predigt werden dadurch einander sehr ähnlich. Damit liegt bei Herbst tendenziell eine lutherische Diktion vor, ein Ansatz, wie er sich später auch bei Grethlein zeigen wird. Dabei ist jedoch die Gefahr gegeben, dass Leitung als eine eigenständige Tätigkeit nicht mehr erkennbar ist. Die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Leitung und Verkündigung ist somit gestellt. Zweitens wird Leitung im Missionarischen Gemeindeaufbau von Eph 4,11f. her als Befähigung verstanden. Leitung heißt dann Charismen in der Gemeinde zu entdecken. Gegenüber den Mitarbeitern wird der führende Pfarrer so zum Ausbilder. Leitung ist somit „Stimulierung und Koordination“28 des Allgemeinen Priestertums. Führung hilft den Gemeindegliedern also dazu, sich zu entwickeln.29 seits menschliches Bemühen für die Gestaltung von Gemeinde nicht gegeneinander ausspielen dürfe. (ա17.) 25 Insofern ist der folgenden Kritik Petrys rechtzugeben: „[...] obwohl also die Bedeutung der Leitungsfrage für den Gemeindeaufbau hervorgehoben wird [...] kommt es nicht zu einer wirklichen Klärung der Leitungsthematik und der damit zusammenhängenden Frage von Macht und Einfluß in der Gemeinde.“, in: Vgl. Petry (2001), 195. Allerdings muss betont werden, dass Leitung nicht das Thema des Werkes ist, sondern Gemeindeaufbau. 26 Vgl. Herbst (2010), 334f. 27 Ebd., 335. 28 Ebd. 29 So hält es Herbst auch 2010 fest, wenn er schreibt: „Leitung soll Menschen helfen, sich zu entwickeln.“, in: ebd., 493.
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Drittens lässt sich beobachten, dass Herbst Führung hier eng mit dem zusammendenken kann, was gegenwärtig unter „Geistlicher Begleitung“ verhandelt wird. So wird der Pfarrer bspw. als Spiritual der Gemeinde bezeichnet.30 Führung hieße dann Anleitung zur Spiritualität. Dieser Aspekt wird 2011 von Böhlemann und Herbst erneut unterstrichen: „Nach unsrem Verständnis ist ‚Geistliche Begleitung‘ strukturell gesehen nichts anderes als Geistliche Leitung, nur ist sie nicht auf eine Organisation oder Gruppe bezogen, sondern auf eine einzelne Person.“31 Hier kann jedoch auch kritisch angefragt werden, ob bei dieser Ineinssetzung nicht Führung auf den Aspekt der Anleitung zur Spiritualität beschränkt wird. Die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Leitung und Geistlicher Begleitung ist damit gestellt. b) Spirituelles Gemeindemanagement: visionäre Leitung durch Management Im Spirituellen Gemeindemanagement geschieht Leitung vor allem über die Vermittlung einer Vision. Plakativ hält Herbst fest: „Leiten in der Kirche kann […] nur, wer selbst weiß, wohin er will, und wohin er andere mit auf den Weg nehmen möchte.“32 Vereinfacht: Die Pfarrerin malt der Gemeinde eine Vision der Zukunft vor Augen, welche diese dann zum Handeln motiviert.33 Praktisch geschieht dies dann durch Methoden aus den Bereichen von Management und Marketing: Gemeindeanalyse, das Setzen von Zielen und Strategien etc. Das Paradigma ist die Leitung der Kirchengemeinde wie ein Non-ProfitUnternehmen, nicht wie eine Behörde. Gemeinde sei zwar kein Unternehmen, habe aber eine unternehmerische Dimension. Das Leitungskonzept des „Spirituellen Gemeindemanagements“ kommt gut in dem folgenden Zitat von Klaus-Martin Strunk, einem der Mitautoren, zum Ausdruck: „Führungspersönlichkeiten sind in erster Linie solche, die eine Entwicklung initiieren können und gleichzeitig in der Lage sind, diese auch gegen Widerstände voranzutreiben. […] Führen ist die Kunst, andere dazu zu bringen, freiwillig und gern 34 das Richtige zu tun.“
30
Vgl. ebd., 337f. Böhlemann / Herbst (2011), 134. 32 Herbst (2001), 71. 33 Das hängt auch eng mit dem Paradigma einer transformationalen Führung (ա 7.6.) zusammen. In der US-amerikanisch-kirchlichen Literatur findet sich dieses Muster besonders ausgeprägt bei Bill Hybels. Vor dem Hintergrund der Postmoderne lassen sich nach Herbst demgegenüber jedoch auch manche kritische Anfragen formulieren. Vgl. Herbst (2008), 231. Auch im Spirituellen Gemeindemanagement deuten die Autoren schon an, dass die Vision im Idealfall eine gemeinsam entdeckte und geteilte Vision ist. Dennoch scheint hier die Leitungsfigur die treibende Kraft zu sein. 34 Strunk (2001), 69. 31
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Hier werden vier Aspekte deutlich. 1) Im Idealfall setzt Leitung auf einen Konsens. Die Geleiteten sollen „freiwillig und gern“ agieren. Das Modell ist also konsensorientiert. 2) Es ist aber durchaus möglich, dass es sich bei Leitung um ein Konfliktgeschehen handeln kann, denn mitunter müssen auch Widerstände überwunden werden. Damit liegt ein grundsätzlicher Unterschied gegenüber dem ausschließlich konsensorientierten Ansatz von Breitenbach vor. 3) Es wird vorausgesetzt, dass es so etwas wie das Richtige gibt, das erreicht werden soll. Dass diese Aussage keineswegs unproblematisch ist, wurde oben bereits ausgeführt. 4) Die Leiterin initiiert die Entwicklung. Sie ist ein Macher-Typ. Selbst wenn im Spirituellen Gemeindemanagement durchaus damit gerechnet wird, dass die Geleiteten Prozesse initiieren, so wird der Ausgangspunkt doch in der Regel bei der Leiterin gesehen. Wie geht Leitung mit Konflikten um? Wie verhält sich Leitung, wenn Menschen divergierende Auffassungen bezüglich des weiteren Vorgehens haben? Diese Frage markiert für die Kybernetik den Scheideweg. Herbst votiert am Ende des Tages dafür, im Konfliktfall „das Richtige“ auch gegen Widerstände durchzusetzen. Bereits 1987 formulierte er: „Aber der missionarische Gemeindeaufbau bleibt geboten, auch wenn der Kirchenvorstand sich dagegen sträubt.“35 An diesem Punkt setzt die Kritik von Breitenbach und Petry ein. Petry macht hieran die faktische Pfarrerzentrierung bei Herbst fest36 und spricht davon, dass hier das Hierarchiemodell von Leitung nur als Dienstmodell getarnt werde. Auch nach Breitenbach sei Herbsts Modell zwar gemeinschaftlich gemeint, aber de facto immer noch hierarchisch.37 Damit sind wir wieder zurückgeworfen auf die bereits oben skizzierten prinzipiellen Grundentscheidungen hinsichtlich der Frage von „Richtig“ und „Falsch“. c) Geistlich leiten: dienende Leitung im Team In „Geistlich leiten“38 gehen Böhlemann und Herbst zunächst der Frage nach, worin sich Geistliche Leitung denn von „normaler“ Leitung unterscheide. Ihre Antwort: Der Unterschied liege in der Tiefendimension. Genauso wie sich geistliche und weltliche Musik kaum über formale Kriterien unterscheiden lassen, sondern die Differenz im Bereich der Intention von Musiker und Hörer liegt, so liegt auch der Unterschied zwischen „weltlicher“ und „geistlicher“ Leitung in dieser Tiefendimension.39 Im Anschluss wird die folgende Definition vorgestellt: „Geistliche Leitung ist Leitung durch den Göttlichen Geist, vollzogen in der Gemeinschaft der Heiligen durch die vom Geist eingesetzte Leitung.“40 35 36 37 38 39 40
Herbst (2010), 356. Vgl. Petry (2001), 197-203. Vgl. Breitenbach (1994), 74-76. Eine bündige Zusammenfassung findet sich hier: Herbst (2011a). Vgl. Böhlemann / Herbst (2011), 19f. Ebd., 22.
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Zu dieser Definition lassen sich drei Beobachtungen machen: 1) Leitung ist eine göttliche Stiftung. Das Leitungsamt ist von Gott eingesetzt (Vgl. Eph 4,11). In diesem Zusammenhang sei bereits an die oben erwähnte Konvergenzdefinition erinnert. 2) Leitung wird in Gemeinschaft vollzogen, geschieht also nicht allein, sondern im Team. 3) Das primäre Subjekt der Leitung ist der Geist, der seine Kirche selbst leitet. Damit wird die Frage nach der spirituellen Dimension von Leitung aufgeworfen, denn es muss geklärt werden, wie eine Leitungsperson zu jenem leitenden Geist in Beziehung tritt. Letzteres gilt es nun weiter auszuführen. Geistliche Leitung ist hier zunächst einmal die Bereitschaft, sich selbst von Gott leiten zu lassen. Das gilt für alle Lebensbereiche. Spiritualität beziehe sich nicht nur auf einen bestimmten Sektor im Leben, sondern auf das ganze Leben und präge darum auch das Führungs- und Leitungshandeln.41 Dieser Aspekt wird bereits im „Spirituellen Gemeindemanagement“ betont.42 Wenden wir uns nun Herbsts These zu, dass sich Leitung in der Gemeinde im Team zu vollziehen habe. Dieser Gedanke prägt das 2011 erschienene „Geistlich leiten“. Aber bereits 1987 formulierte Herbst: „Im Spannungsfeld von Miteinander und Gegenüber wird der Pfarrer im missionarischen Gemeindeaufbau – eingebunden in den Kreis der Ältesten – am Dienst der Leitung beteiligt.“43 Im „Spirituellen Gemeindemanagement“ tritt der Gedanke eher in den Hintergrund. Hier gibt der Pfarrer als Leiter der Gemeinde die Vision vor, auch wenn hier schon angedeutet wird, dass die Entwicklung einer Vision besser gemeinsam geschehen solle. Es lässt sich trotzdem konstatieren, dass der Gedanke der Leitung im Team 2011 deutlicher ausgeprägt ist. Die These, Leitung habe im Team zu geschehen, wird bei Herbst mithilfe einer spezifischen Pneumatologie begründet. Weil der Heilige Geist plural wirke, habe sich die vom Geist geleitete Leitung plural zu vollziehen.44 Dieser Ansatz wird nun von Peter Böhlemann und Michael Herbst zu einem „3-Farben-Modell“ konkretisiert.45
41
Vgl. ebd., 25: „Spiritualität trennt Gott und Welt nicht voneinander, sondern stößt in allen weltlichen Bereichen auf Gott als deren tiefsten Grund.“ 42 Vgl. Herbst (2001), 92: „Wir sehen in der überfluteten KirchenmarketingLiteratur viel unspirituelles Management; wir erblicken in unserer Kirche aber auch viel planloses, hilfloses Herumwurschteln. Beides schadet der Gemeinde Jesu und ihrem Zeugnis. Unsere Absicht ist die Integration von geistlichem Leben, Gemeindeaufbau und Marketing im Spirituellen Gemeindemanagement.“ 43 Herbst (2010), 334. Vgl. auch: ebd., 373. 44 Vgl. Herbst (2011a), 10-13. 45 Vgl. Böhlemann / Herbst (2011), 43ff.
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Dimensionen Geistlicher Leitung
Abbildung 1: Dimensionen Geistlicher Leitung nach Böhlemann / Herbst (2011), 90.
So wie der Heilige Geist im Neuen Testament sowohl gemeinschaftsstiftend (grün), als auch lehrend (blau) und richtungsweisend (rot) wirke, so zeigen sich all diese Dimension auch in gelingender Leitung. Leitung habe deshalb nach dem Neuen Testament gleichsam eine pastoral-diakonische Funktion (grün), eine prophetisch-lehrende Funktion (blau) und eine charismatisch-visionäre Funktion (rot). Gelingende Leitung sei gleichsam personenorientiert (grün), sachorientiert (blau) und zielorientiert (rot).46 Die Grundidee dieses Farbenmodells ist es nun, dass keine Person in allen drei Dimensionen gleichermaßen befähigt ist. Deshalb ist jede Leitungsperson der Ergänzung bedürftig. Darum könne sich gelingende Leitung nur in einem sich ergänzenden Team vollziehen. Eine geistliche Leiterin weiß darum um die eigenen Grenzen und sucht die anderen „Farben“ als Ergänzung. Zum Ende sei noch ein Aspekt erwähnt, der in den neueren Veröffentlichungen von Herbst zu „Führen und Leiten“ deutlich heraussticht: Leitung sei dienende Leitung. Der Gedanke klingt bereits 1987 an,47 46 Dieses Farbenmodell kann einen gewissen Schematismus nicht entbehren. So wird bspw. die Liebe mal der grünen und mal der roten Kategorie zugewiesen (Vgl. ebd., 48f). Diese Reduktion der Komplexität von Wirklichkeit ist der offensichtliche Nachteil solcher Modelle, führt jedoch gleichsam zur leichteren Verständlichkeit und ist damit von hohem praktischem Nutzen. 47 Vgl. Herbst (2010), 334: „Im Blick auf die Gefährdungen der menschlichen Leitung schlechthin und der pfarramtlichen Leitung im besonderen ist auf den
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wird aber in den jüngeren Publikationen mit dem Bezug auf Robert K. Greenleafs Konzept von Servant Leadership (ա 9.) noch einmal stärker entfaltet. Geistliche Leitung als Dienst fördert andere und lässt sie wachsen. Sie hilft Menschen, sich zu entfalten. Das Anliegen Greenleafs fasst Herbst so zusammen: „Es geht um einen Move und zwar from people-using to people-building.“48 Dienende Führung benutzt nicht andere Menschen für die eigenen Ziele, sondern baut diese auf. 4.1.3. Die kontextuelle Verortung Was grundsätzlich die Bedeutung des gegenwärtigen Kontextes für die praktisch-theologische Theoriebildung angeht, vertritt Herbst eine Position zwischen ausschließlicher Anpassung und offenbarungstheologischer Nivellierung. Gegenüber der biblischen Vorgabe hält Herbst die Betrachtung der gegenwärtigen Situation für eine „zweite, und das heißt nachgeordnete und gleichwohl auch wichtige Aufgabe“49. Dennoch gilt für Leitung: „Geistliche Leitung soll situativ angemessen sein.“50 Für Herbst hat nun die gegenwärtige Situation, die mit dem Begriff Postmoderne beschrieben werden kann, zahlreiche Implikationen für „Führen und Leiten“. Diese nimmt er ernst: „[Wir sehen] die durchschlagende Wirkung der Individualisierung auf alle Lebensbereiche. Und das bedeutet eine grundsätzliche Skepsis gegenüber autoritären Vorgaben. Postmoderne bedeutet: ‚Das Individuum ist etwas Absolutes‘ (F. Nietzsche). Führung und Leitung scheinen aber prima vista meine absolute Selbstbe51 stimmung einzuschränken.“
In der Postmoderne setze sich das Individuum also absolut. Damit werde jeder fremde Führungsanspruch problematisch.52 Das trifft besonders deutlich auf das noch im „Spirituellen Gemeindemanagement“ dominierte Modell von Führung durch das Vorgeben von Visionen zu. Denn das postmoderne Individuum fragt kritisch: Woher hat die Führungsperson die „wahre“ Vision? – zumal der Begriff der Wahrheit im Dienstcharakter der Leitungsfunktionen im Neuen Testament hinzuweisen. Das Leitungsamt ist keine Herrschaft. Es ist ein Dienst an den Schwestern und Brüdern […] Alles Leiten, ist nur eine Variante des Diakonats als des Grundamtes im Neuen Testament, das am dem Dienen Christi für uns zu orientieren ist. Leitungsverantwortung gehört zum Hirtenamt der Pfarrer.“ 48 Böhlemann / Herbst (2011), 71. Herbst hält dieses Modell für zukunftsweisend. Vgl. Herbst (2010), 492: „Geistliche Leitung als Servant Leadership ist als Perspektive des Pfarrberufs ebenso attraktiv wie realistisch.“ 49 Ebd., 104. 50 Böhlemann / Herbst (2011), 12. 51 Herbst (2008), 227. 52 Dennoch kann es auch in der Postmoderne zu einer neuen Sehnsucht nach Führung kommen, wenn etwa das Individuum mit den zahlreichen Entscheidungsmöglichkeiten und -zwängen überfordert ist. Vgl. Böhlemann / Herbst (2011), 31.
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Kontext postmoderner Weltdeutung ohnehin äußerst problematisch ist. Ebenfalls gilt: „Je stärker Menschen postmodern geprägt sind, desto zurückhaltender werden sie gegenüber […] der vollen Identifikation mit seiner Vision sein, die eben nicht ihre, selbst entdeckte Vision ist.“53 Doch angesichts der Postmoderne stelle nicht nur diese Verabsolutierung des Individuums eine Herausforderung dar, sondern zweitens auch die massive Komplexität, der sich Leitungsprozesse ausgesetzt sehen. Diese Einsicht in die hohe Komplexität der Wirklichkeit hat sich bereits als ein Kennzeichen des systemischen Denkansatzes – etwa bei Breitenbach – gezeigt. Die Einschätzung teilt Herbst grundsätzlich auch: Leitung sei komplex. Er gehe „von der Einsicht aus, dass wir die Hoffnung auf lineare Leitung ‚top down‘ getrost beerdigt haben.“54 Insgesamt habe die Postmoderne also vieles hinsichtlich von „Führen und Leiten“ verändert. Zusammengefasst: Es gebe einen „unhintergehbaren Rollenwandel geistlicher Führung“55. Nach dieser Problemanalyse schlägt Herbst nun einige Maßnahmen zum Umgang mit jenen postmodernen Phänomenen hinsichtlich von „Führen und Leiten“ vor. Zwar hält Herbst grundsätzlich das Modell von linearer Steuerung für eine Illusion, allerdings will er auch nicht das Umgekehrte denken, wonach Leitung gar nichts mehr bewegen könne. Für ihn gilt: „Geistliche Leitung ist ein Mitleiten in komplexen Systemen.“56 Dabei setze postmoderne Führung mehr auf Verständigung als auf Durchsetzung.57 Sie sei insgesamt auch stärker beziehungsorientiert. An dem befähigenden Aspekt von Führung nach Eph 4,11f hält Herbst auch angesichts der Postmoderne fest. Ebenfalls an der Leitung durch Visionen, nur sollen diese Visionen nun noch stärker mit anderen zusammen entdeckt werden. Insgesamt erscheint also das Modell „Leitung durch ein Leitungsteam“ die einschneidendste Verschiebung in Herbsts Leitungsparadigma. Ein Letztes noch: Als ein wesentliches Problem für „Führen und Leiten“ in der Postmoderne hat sich bisher die Frage nach der „Wahrheit“ herauskristallisiert. So bei Herbst hinsichtlich der ekklesiologischen Frage nach der Unterscheidung von Glaube und Unglaube oder dem Umgang mit Konfliktsituationen. Die Problematik wird von Herbst grundsätzlich angenommen und er schlägt als Respons einen Gedanken vor, der sich an der psychologischen Figur der Triangulierung orientiert.58 Das meint: Die Leiterin besitzt gegenüber dem Geleiteten nicht „die Wahrheit“ und setzt sie ihm gegenüber durch. Stattdessen sind 53 54 55 56 57 58
Herbst (2008), 231. Herbst (2011a), 13. Herbst (2008), 242. Herbst (2011a), 14. Vgl. Herbst (2008), 242-246. Vgl. ebd., 236f.
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beide, Leiter und Geleiteter, auf ein Drittes bezogen, und zwar auf Christus und das Zeugnis von ihm in der Schrift. Der Leiter muss seine Entscheidung gegenüber dem Geleiteten vor diesem Dritten verantworten und der Geleitete hat damit auch ein Kriterium, die Sachgemäßheit von Leitungsentscheidungen zu prüfen. Damit ist ein interessanter Impuls gegeben, der überraschende Ähnlichkeiten zu dem noch unten zu entfaltenden Leitungsparadigma Preuls hat. Preul spricht davon, dass die Kirche durch die Auslegung ihrer eigenen Lehre geleitet wird. 4.1.4. Kritische Würdigung Dreierlei soll diesen Abschnitt nun abschließen: a) Welche prinzipiellen Fragestellungen ergeben sich aus der Betrachtung des Beitrags von Michael Herbst? b) Welche kritischen Anmerkungen sind zu machen? c) Welche weiterführenden Impulse zum Thema „Führen und Leiten“ sind zusammenfassend hervorzuheben? a) Offene prinzipielle Fragestellungen Es haben sich die folgenden Themenkomplexe aufgetan: 1) Der Zusammenhang von Christsein und Gemeinde. Herbst denkt beides eng zusammen und misst deshalb auch dem Thema Leitung eine hohe Relevanz zu. 2) Die Unterscheidung von Glaube und Unglaube oder Richtig und Falsch. Das betrifft vor allem Leitung in Konfliktsituation. Grundsätzlich behält Herbst hier die Unterscheidung bei, versucht jedoch über Ansätze wie den der Triangulierung auf den postmodernen Kontext einzugehen. 3) Die Verhältnisbestimmung von Führen und Leiten und der Betriebswirtschaftslehre. Herbst votiert grundsätzlich für diesen Dialog und begründet dies mit dem Rekurs auf Bohrens Konzept der „theonomen Reziprozität“. 4) Das Verhältnis von Leitung und Predigt. Hier gibt es bei Herbst eine Tendenz beides eher eng zusammenzudenken. 5) Das Verhältnis von Führung und geistlicher Begleitung. b) Kritische Anmerkungen Hinsichtlich des Konzepts „Leitung im Team“ bleiben manche Fragen offen: Ist dieses Konzept für die Gesamtleitung der Gemeinde durch den Kirchenvorstand plausibel, bleibt es jedoch fraglich, ob gleiches auch für die Leitung von kleinen Gruppen in der Gemeinde gilt. Praktisch: Soll also der vierköpfige Besuchsdienst auch im Team geleitet werden? Ein weiterer Einwand hierzu ist von prinzipieller Natur: Das postmoderne Problem mit Macht bezieht sich wesentlich auf das idealiter dualistische Gegenüber von Leiter und Geleitetem. Wird dieses Gegenüber durch das Konzept „Leiten im Team“ gelöst? Auf der einen
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Seite wird Leitung pluralisiert, weil mehrere Personen in die Leitung einbezogen werden. Andererseits bleibt jedoch ein Gegenüber zur geleiteten Gemeinde vorhanden, nur ist es jetzt ein Gegenüber von mehreren Leitern und vielen Geleiteten. Die Frage, wie z. B. die Geleiteten in Entscheidungsprozesse einbezogen werden können, bleibt damit immer noch unbeantwortet. Weitere kritische Anmerkungen betreffen den Themenkomplex der Verhältnisbestimmung von Theologie und Marketing. Ist das Marketing die geeignete Partnerwissenschaft für „Führen und Leiten“ in der Kirche? Das ist zu bezweifeln. Marketing mag zwar eine geeignete Partnerwissenschaft für die Gemeindeentwicklung sein, weniger aber für „Führen und Leiten“. Das lässt sich schon an der zentralen Metapher von der Kirche auf dem Marktplatz der Sinnanbieter zeigen. Denn hier geht es um die Außenorientierung und Gestaltung von Gemeinde, weniger um interne Steuerungsprozesse. Das Marketing hilft womöglich die Frage zu beantworten, wie eine Kirchengemeinde in Zukunft aussehen soll (Vision). Es geht dann allerdings weniger um den Stil der Leitung (Wie?) als um das Ziel von Gemeinde (Was?).59 c) Weiterführende Impulse Herbst legt ein profiliertes Bild vom Pfarramt vor, das auch der Aufgabe der Leitung Rechnung trägt. Damit wird implizit auch die personale Dimension von Leitung verhandelt. Auch der Frage, wie sich „Führen und Leiten“ im Angesicht der Postmoderne zu vollziehen haben, geht Herbst nach. Er legt eine Problemanalyse vor und gibt bspw. mit Servant Leadership, Leitung im Team und der Triangulierung Antworten. 4.2.
Reiner Preul – Kirchentheorie
1997 erschien die „Kirchentheorie“ des Kieler Praktischen Theologen Reiner Preul, in welcher auch grundsätzliche Fragen zur Leitung der Kirche verhandelt werden. Zum Verständnis jener Ausführungen ist erst eine Skizze des generellen Gedankenganges Preuls von Nöten. 4.2.1. Theologische Grundlegung Preul beobachtet skeptisch ein Auseinanderfallen der Praktischen Theologie in ihre einzelnen Subdisziplinen, die dann unverbunden nebeneinander stehenzubleiben drohen. Demgegenüber möchte er an einem „System der Praktischen Theologie“ festhalten. Praktische Theo59
Ein gutes Beispiel findet sich dafür auch im Handbuch „Geistlich leiten“ von 2011. Auf S. 12 heißt es hier: „Geistliche Leitung soll situativ angemessen sein.“ Deshalb erfolgt im Anschluss eine Situationsanalyse. Doch es werden im Folgenden dann keine genuin spezifischen Herausforderungen für Leitung in der Gegenwart skizziert, sondern Herausforderungen für Gemeinde und Kirche im Ganzen.
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logie könne aber nur dann den Charakter eines Systems haben, wenn sie sich selbst mit einem System beschäftigt. Dieses System nun, mit dem sich die Praktische Theologie im Ganzen zu beschäftigen habe, sei die Institution Kirche. Auf die Kirche sind also alle Subdisziplinen der Praktischen Theologie nach Preul bezogen. Sind die Subdisziplinen aber nur indirekt auf die Kirche zu beziehen, so ist die Gestalt der Kirche der direkte Reflexionsgegenstand der sogenannten „Kirchentheorie“, ein Begriff, den Preul selbst einführt. Kirchentheorie ist so das „Verbindungsstück zwischen Systematischer und Praktischer Theologie“60, in dem Sinne, dass sie die Ergebnisse der Ekklesiologie (Systematische Theologie) auf den gegenwärtigen Zustand der Kirche bezieht. Darüber hinaus ist für Preul eine weitere Unterscheidung wichtig. Nach ihm lässt sich alles Handeln der Kirche in „disponierendes“ und „kommunikatives Handeln“ unterteilen.61 Das kommunikative Handeln, die Kommunikation des Evangeliums, also des „christlichen Wirklichkeitsverständnisses“62, ist der eigentliche Auftrag der Kirche. Er realisiert sich in Gottesdienst, Predigt, Seelsorge, Unterricht etc. Damit diese einzelnen kommunikativen Akte nicht auseinanderfallen, braucht es ein disponierendes Handeln, das dem kommunikativen Handeln einen stimmigen Rahmen gibt. Dieses disponierende Handeln ist nach Preul die Kybernetik. Sie koordiniert in der Theoriebildung die einzelnen praktisch-theologischen Arbeitsfelder.63 Sie hat also eine steuernde Wirkung. Die Praktische Theologie gliedert sich damit nach Preul in Kirchentheorie, Kybernetik und die einzelnen Subdisziplinen. Die Kirchentheorie reflektiert demnach darüber, was die Kirche aus praktisch-theologischer Sicht ist, darauf aufbauend entwickelt die Kybernetik Konzepte für die Zukunft der Kirche, was anschließend in den einzelnen praktisch-theologischen Subdisziplinen konkretisiert wird.64 60
Preul (1997), 4. Diese Unterscheidung übernimmt Preul i. W. von C.I. Nitsch, der schon in ordnendes und erbauendes Handeln unterschied und im Grundansatz bis auf Schleiermacher zurückgeht. 62 Die Rede von der „Kommunikation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses“ als Beschreibung des kirchlichen Auftrages nimmt bei Preul eine wichtige Stellung ein. Vgl. ebd., 12. 63 Damit liegt also ein sehr weiter Begriff von Kybernetik vor. So gilt nach Preul: „Kybernetik als Theorie des Gemeindeaufbaus oder der Gemeindeleitung zu verstehen, ist viel zu eng“, in: ebd., 6f. Des Weiteren unterscheidet Preul in Kybernetik ersten und zweiten Grades. Dabei meint zweiten Grades die disponierende Festlegung von Konzepten von Seiten der Kybernetik. Kybernetik ersten Grades meint, dass die Kybernetik die Entscheidungsstrukturen, nach denen Konzepte entstehen und beschlossen werden können, erst festlegen muss. Vgl. Preul (2008), 3f. 64 Preul differenziert jedoch nicht trennscharf zwischen Kybernetik und Kirchentheorie, was vor allem die Frage betrifft, ob nicht auch die Kirchentheorie selbst schon programmatische Impulse für die Zukunft der Kirche geben soll. So scheint die Praktische Theologie bei Preul mal mehr zwei-, mal mehr dreigeteilt. 61
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Kybernetik beschäftigt sich also mit Fragen der Gestaltung von Kirche. Dabei bedürfe es in Zukunft „einer solchen Gestalt von Kirche, in der die Fähigkeiten und Talente aller Kirchenmitglieder so zum Einsatz kommen und honoriert werden, dass sie der einheitlichen Aufgabe der Kirche, der Kommunikation des Evangeliums, in jeweils bestmöglicher Weise dienen können.“65 Kybernetik entwickelt demnach Konzepte. Welches Konzept oder leitendes Bild von Kirche entwickelt Preul nun selbst in seiner Kirchentheorie/Kybernetik? Er unterstreicht mehrfach die große Relevanz der reformatorischen Ekklesiologie, vor allem der einschlägigen CA-Artikel. Die „Dürftigkeit“ des mit CA 7 gegebenen evangelischen Kirchenbegriffs sei jedoch kein Mangel, sondern eine große Stärke. Weil zur Einheit der Kirche eben nur die reine Verkündigung des Evangeliums und die dem gemäße Darreichung der Sakramente konstitutiv sei, ist die Kirche in allen Fragen ihrer Ordnung nicht festgelegt und damit flexibel.66 Diese Knappheit begründet also einen immensen Gestaltungsspielraum. Deshalb habe nun die Kybernetik ein hohes Maß an Freiheit bei der Entwicklung von Konzepten. Nur an zwei Kriterien gilt es sich zu halten. Zum einen muss jede kybernetische Entscheidung „sachgemäß“ sein. Zum anderen muss sie grundsätzlich „Ordnung ermöglichen“. Das gelte z.B. für die kybernetische Gestaltung des Pfarramtes, das sachgemäß dem Allgemeinen Priestertum zu dienen habe.67 Mit dieser sich aus dem reformatorischen Kirchenbegriff ergebenden Freiheit für Gestaltungsfragen der Kirche auf prinzipieller Ebene verbinden sich noch vier für Preul wichtige Begriffe, die das Wesen der Kirche weiter spezifizieren: Institution, Kommunikationssystem, Volkskirche und Organisation. In weiten Teilen sind die Ausführungen hierzu deskriptiv, in zwei Punkten jedoch deutlich programmatisch. Da ist zum einen die Einordnung der Kirche in das Spektrum der Bildungsinstitution: „Der Ausdruck wurde gewählt, um die Kirche einer Gruppe von Institutionen zuzuordnen, die sich an das Bewußtsein, das Gefühl und das Erleben der Menschen wenden und somit in irgendeinem Sinne zu ihrer Bildung beitragen.“68 Kirche ist gemeinsam mit Kunst, Schule, den Medien etc. eine Bildungsinstitution. Der zweite entscheidende Begriff bei Preul ist der der Volkskirche. An dem Anspruch, Volkskirche zu sein, müsse festgehalten werden. Kirche dürfe nicht auf die re65
Ebd., 10. Vgl. Preul (1997), 87: „Die Evangelische Kirche ist somit von ihrer Grundidee her das Musterbeispiel einer zur flexiblen Selbststeuerung fähigen Institution. Die außerordentliche kybernetische Leistungsfähigkeit des reformatorischen Kirchenbegriffs besteht darin, daß er geistliche Identität mit einem Höchstmaß an Freiheit in der Gestaltung von Ämtern, Organisationen, Ordnungen und Veranstaltungsformen zu verbinden in der Lage ist.“ 67 Vgl. Preul (2008), 28: „Aber auch dieses minsterium verbi ist nach Gesichtspunkten der Zweckdienlichkeit zu gestalten und zu verändern.“ 68 Preul (1997), 141. Eine Affinität zu Schleiermacher ist hier deutlich erkennbar. 66
68
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duziert werden, „die mit Ernst Christen sein wollen“, sondern müsse prinzipiell für alle offen sein. Das ist der mit dem Begriff Volkskirche verbundene Anspruch einer prinzipiellen Offenheit. Nachdem wir nun betrachtet haben, wie bei Preul der Begriff der Kybernetik gefüllt wird und was sein ekklesiologisches Anliegen ist, lassen sich jetzt die daraus resultierenden Konsequenzen für das Thema „Führen und Leiten“ beschreiben. 4.2.2. Führen und Leiten Was ist Leitung? Wenn Reiner Preul von Leitung – genauer von Kirchenleitung – spricht, dann verwendet er diesen Begriff im Anschluss an Schleiermacher. Zunächst einmal könne der Begriff in einem weiten Sinne verstanden werden: „‚Kirchenleitung‘ ist eine Funktion, die von jedem wahrgenommen wird, der in irgendeiner Weise bemüht ist, einen förderlichen Einfluß auf die Gemeinschaft der Christen – sei es auf die einzelne Gemeinde, sei es auf den Verband der Gemeinden 69 – auszuüben und der sich dabei auf theologische Kenntnisse stützen kann.“
In diesem Zitat kommt zweierlei zum Ausdruck: Zum einen wird Leitung in großer Weite als jede Form von Einflussnahme verstanden. Zum anderen wird mit den „theologischen Kenntnissen“ der Legitimationsgrund für „rechte Leitung“ benannt. Neben dieser weiten Füllung verwendet Preul den Begriff der Kirchenleitung für das, was Schleiermacher als „Kirchenregiment“ bezeichnet. In diesem engen Sinne bezeichne Kirchenleitung nicht die „freie Geistesmacht“, sondern die gebundene und verfasste Leitung, sprich: die verfassten kirchenleitenden Organe wie Synoden, Kirchenvorstände etc. Wer leitet die Kirche?70 Nach Preul tut das erst einmal Gott selbst, denn die Kirche ist als creatura verbi sein Geschöpf. Diesen Aspekt betont Preul vor allem gegen alle gegenwärtigen Reformversuche der Kirche, die ihm nach unangemessen davon ausgingen, dass die Zukunft der Kirche allein vom menschlichen Handeln abhinge. Zweitens werde die Kirche aber auch von Menschen geleitet, deren disponierendem und kommunikativem Handeln sich Gott bediene. Wie wird die Kirche geleitet? Nach Preul sind hier zwei Aspekte hervorzuheben: 1) Die Kirche steuert sich selbst. 2) Sie wird durch ihre eigene Lehre gesteuert. Beides kommt im folgenden Zitat zum Ausdruck: „Da die Evangelische Kirche von ihren Anfängen an die Konzeption eines autoritativen mit besonderer Amtsgnade ausgestatteten Lehramtes […] verworfen hat, kann sie sich nur durch die immer erneute Auslegung ihrer eigenen Lehrgrundlage
69 70
Ebd., 212. Vgl. hierzu: Preul (2008), 18ff.
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selbst steuern. Das ist die kybernetische Grundthese unserer Kirchentheorie: Die Evangelische Kirche wird durch die Auslegung ihrer eigenen Lehre geleitet.“71
Der Aspekt der Selbststeuerung meint in erster Linie, dass die Kirche nicht fremdgesteuert wird, bspw. durch den Staat. Mit Autopoiese wird außerdem ein zentraler Begriff des systemischen Denkens verwendet, das dem Ansatz Preuls insgesamt zugrunde liegt. Spezifischer steuert sich die Kirche aber durch die Auslegung ihrer eigenen Lehre selbst. Diese Lehre ist nicht als eine irgendwie geartete theologische Schulmeinung zu verstehen, sondern in Form ihrer Quellen: Bibel und Bekenntnis. Hieran müssen sich alle Entscheidungen der Kirchenleitung messen lassen können. Des Weiteren erarbeitet Preul fünf Grundsätze, die jedem kirchlichen Leitungshandeln zugrunde liegen sollen:72 1) „Die Beschlüsse der Kirchenleitung dürfen die Kompetenzen des ordinierten Amtes nicht [...] behindern, sondern müssen ihm dienen.“ Hierin kommt die zentrale Stellung zum Ausdruck, die Preul dem Pfarramt zugesteht. 2) Das Allgemeine Priestertum soll durch die Kirchenleitung nicht behindert, sondern entfaltet werden. So sind die „Laien“ an allen Formen der Kirchenleitung zu beteiligen. Auch das heißt Volkskirche: Alle dürfen prinzipiell mitleiten. Weil alle Christen, sofern sie vere credentes sind, prinzipiell gleichen Standes sind, könne die Kirche nur nach dem Grundsatz der Gleichheit geleitet werden. 3) Kirchenleitung beschränkt sich also darauf, „lediglich Regeln für das kirchliche Leben und für das Zusammenwirken der einzelnen Positionen im Kommunikationssystem Kirche zu fixieren“. Diese Regeln sollen vor Ort Freiheit und Selbstständigkeit ermöglichen. Dieser oben bereits herausgearbeiteten Freiheit der Kirche in Gestaltungsfragen muss deshalb das kirchenleitende Handeln gegenüber den Gemeinden Rechnung tragen. 4) Zur Durchsetzung der Regeln muss primär auf Einsicht, nicht auf Sanktionen gesetzt werden. Deshalb ist die Plausibilität der Regeln zu vermitteln. Hierzu passt, dass nach Preul weniger die Strukturen als die Glaubwürdigkeit der mit ihnen verbundenen Personen für den Erfolg von Leitung ausschlaggebend sind: „Wer sich in einem leitenden Amt, nicht durch es, persönliches Ansehen erwirbt, eine Autorität, die auf erwiesene Integrität und Kompetenz beruht, hat auch berechtigterweise einen größeren Einfluß auf die Meinung der Mitglieder. Diese auch in der Evangelischen Kirche wünschenswerte Art von Kreditwürdigkeit und entspre71 72
Preul (1997), 43. Vgl. ebd., 220-222. Alle folgenden Zitate finden sich dort.
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chender Gefolgschaft entsteht aber nicht durch ein Amt als solches, sondern dadurch, daß sich jemand einem Amt gewachsen zeigt.“73
5) Bei Leitung geht es nie um einen hierarchischen, sondern nur um einen funktionalen Unterschied. Das ist das Verhältnis von disponierendem und kommunikativem Handeln in der Kirche: „Das disponierende Handeln hat keinen anderen Zweck als dem kommunikativen Handeln zu dienen.“74 Wenn Preul von Kirchenleitung spricht, bleibt er fast durchgängig auf der Ebene der Landeskirche. Leitung in der Gemeinde bleibt bei ihm jedoch unterbelichtet.75 Aber es wäre spannend, Preuls kybernetische Gedanken indirekt auf die Ebene der Kirchengemeinde zu übertragen. Das kybernetische Handeln dient bei Preul dem kommunikativen Handeln, ja es ermöglicht es. Leitung ist damit primär eine ermöglichende Tätigkeit. Gemeindeleitung ermöglicht damit, dass in der Gemeinde die Charismen zur Geltung kommen. Sie schafft für deren Einsatz den stimmigen Rahmen. So ließe sich das bereits angeführte Zitat über die gewünschte zukünftige Gestalt der Kirche nach Preul auch auf die Gemeindeleitung übertragen: Es bedürfe danach einer Gemeindeleitung, „in der die Fähigkeiten und Talente aller Kirchenmitglieder so zum Einsatz kommen und honoriert werden, dass sie der einheitlichen Aufgabe der Kirche, der Kommunikation des Evangeliums, in jeweils bestmöglicher Weise dienen können.“76
4.2.3. Die kontextuelle Verortung Preul spricht nicht von der spät- oder postmodernen, sondern von der modernen Gesellschaft. Inhaltlich qualifiziert er diese jedoch als eine pluralistische Gesellschaft. Grundsätzlich möchte Preul das kybernetische Handeln stark mit dem gesellschaftlichen Kontext verbunden sehen.77 So fordert er, dass die Kirche auf die Pluralisierung der Lebens73
Ebd., 239. Preul (2008), 21. 75 Dem mag entgegengehalten werden, dass bei Preul ja eine „Kirchentheorie“ und kein Konzept zum „Gemeindeaufbau“ vorliegt und deshalb die Ebene der Gemeinde natürlicherweise nicht verhandelt wird. Das ist aber insofern nicht stimmig, als dass Preul ein Werk vorlegen möchte, das gewissermaßen disponierend die kirchlichen Tätigkeitsfelder verbindet. Warum es aber die Ebene der Landeskirche, nicht die Ebene der Kirchengemeinde ist, die Predigt, Seelsorge etc. disponierend verbindet, bleibt ungeklärt. Nicht umsonst legt Hermelink bei seiner Kirchentheorie auf der Ebene der Gemeinde einen deutlich größeren Schwerpunkt (ա4.3.). 76 Ebd., 10. 77 Vgl. ebd., 19: „Unsere derzeitigen Reformprogramme […] kranken weiter daran, dass sie die Probleme von Kirche und Gemeinde zu wenig im Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Prozessen, Strukturveränderungen und Wandlungen der Mentalität erörtern.“ 74
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welten auch mit einer Pluralisierung des kirchlichen Angebotes zu reagieren habe.78 Die Frage nach dem Modus von „Führen und Leiten“ oder von „Kirchenleitung“ unter spätmodernen Bedingungen wird jedoch bei Preul explizit nicht verhandelt. Implizit mag man den Hinweis auf die große Freiheit in Gestaltungsfragen, die These der Selbststeuerung vom systemischen Denken her und die Anmerkung zum Erfolg von Leitung über den Charakter als Beitrag hierzu werten. 4.2.4. Kritische Würdigung Zusammenfassend kann nun gefragt werden, inwiefern Preuls Kirchentheorie für die Frage nach „Führen und Leiten“ in der Kirchengemeinde weiterhilft. Aber auch einige Anfragen lassen sich jetzt formulieren. Grundsätzlich scheinen bei Preul zwei Stränge miteinander verbunden: Der eine wirkt vergleichsweise konservativ und fordert einen starken Bezug aller kybernetischen Entscheidungen zur reformatorischen Theologie, macht weiterhin die Volkskirche stark und stellt Pfarramt und Gottesdienst in den Mittelpunkt des kirchlichen Lebens. Der andere Strang ist dann eher dem systemischen Ansatz verpflichtet und spricht von der Selbststeuerung der Kirche sowie von der Kirche als offenem Kommunikationssystem. Lernen lässt sich von Preul vor allem von seinen Ausführungen über die prinzipielle Ebene der Kybernetik: Seine Grundunterscheidung von disponierendem und kommunikativem Handeln in der Kirche kann – wie gezeigt – auch für die Gemeindeleitung fruchtbar gemacht werden. Des Weiteren ist Preuls mehrfaches Insistieren auf die mit der CA gegebene Offenheit gegenüber Gestaltungsfragen in der Kirche auf der prinzipiellen Ebene hilfreich. Ähnliches gilt für den Hinweis, dass Leitung sich stets an Bibel und Bekenntnis zu orientieren habe.79 Nun bräuchte es jedoch über Preul hinaus auf der konzeptionellen Ebene kybernetische Modelle, die diese prinzipiellen Erkenntnisse auf die Frage hin übertragen, wie sich denn nun Leitung konkret zu vollziehen habe. Nach Preul ist es die Aufgabe der Kybernetik ein steuerndes Leitbild von Kirche vorzugeben. Damit ist Preul hier über den systemischen Gedanken indirekt nah bei Breitenbach, wenn Kybernetik zur Beschäftigung mit dem System Kirche und seiner zukünftigen Gestalt wird. Die sich aus dem systemischen Denken ergebenden Probleme für die Leitungsfrage wurden bereits bei Breitenbach dargelegt und werden noch ausführlicher zu verhandeln sein.
78
Vgl. Preul (1997), 198. Hier entsteht natürlich die Frage, wie denn in einer Konfliktsituation zu verfahren sei, in welcher alle Konfliktparteien ihre Position biblisch und reformatorisch begründen. (ա16.) 79
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4.3.
Jan Hermelink – Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens
4.3.1. Theologische Grundentscheidungen Mit „Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens“80 legte der Göttinger Praktische Theologe Jan Hermelink 2011 einen Beitrag zur aktuellen kirchentheoretischen Debatte vor. Es ist zunächst einmal wichtig zu verstehen, wie Hermelink Kybernetik und Kirchentheorie definiert, denn er verwendet beide Begriffe etwas anders als Preul. Zunächst einmal nimmt er hinsichtlich des Begriffes Kybernetik eine Differenzierung vor. Er unterscheidet zwischen Kybernetik im impliziten und weiteren Sinne – der Kirchentheorie – und einer Kybernetik im expliziten und engeren Sinne – Leitung.81 Dabei beschäftigt er sich in seinem Werk zunächst mit der Kirchentheorie (Kybernetik im weiteren Sinne), um ein Bild von dem zu erarbeiten, was die Kirche ist und sein soll. In einem zweiten Schritt setzt er sich dann mit der Leitungsfrage (Kybernetik im engeren Sinne) auseinander. Der Zweierschritt lautet vereinfacht also: 1. Was ist die Kirche? 2. Wie soll die unter 1. beschriebene Kirche gestaltet und geleitet werden? Jener ersten Frage, welches Bild Hermelink von der Kirche entwickelt, soll nun nachgegangen werden. Welches Bild von Kirche ist für Hermelink also normativ? Eine präzise Antwort auf diese Frage gibt Hermelink nicht, denn der gesamte Duktus seines Ansatzes ist deskriptiv. Ihm geht es weniger darum, ein Idealbild von Kirche zu zeichnen, als vielmehr den gegenwärtigen IstZustand zu beschreiben und dessen Genese zu erklären. Hermelinks Bild vom Ist-Zustand der Kirche lässt sich wohl am ehesten mit den Begriffen „Komplexität“ und „Mehrschichtigkeit“82 zusammenfassen. Die kirchliche Realität sei eben durch ein Ineinander von ganz verschiedenen Leitbildern geprägt, die sich gegenseitig ergänzen, aber auch kritisch korrigieren und so faktisch zur Mehrschichtigkeit führen. Dieses Ineinander von verschiedensten Paradigmen ist nach Hermelink sowohl auf systematische als auch auf historische Weise plausibilisierbar. Hinsichtlich der systematischen Frage arbeitet Hermelink heraus, dass in der gegenwärtigen Debatte vier Paradigmen diskutiert werden: 1) Organisation, 2) Institution, 3) Interaktion und 4) Inszenierung. Nach Hermelink werde in der Kirche mitunter ein wirtschaftlicher Organisations83 begriff rezipiert, der klare Ziele, Pläne und Strukturen kenne. Demgegenüber vo80 81 82 83
Hermelink (2011). Vgl. ebd., 27ff. Ebd., 123. Vgl. ebd., 89-103.
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84
tiert er für einen „systemisch-dialektischen Organisationsbegriff“ . Kirche als Organisation zeichne sich durch ein Wechselspiel aus Festem und Fluidem, Formellem und Informellem aus. So steht etwa der in Bekenntnissen fixierte Glaube dem persönlichem Glauben oder die offizielle Agende der individuellen Andacht gegenüber. Der Sinn der Organisation vom Festem und Formellem liegt nach Hermelink aber weniger darin, die informelle Praxis gezielt steuern zu können, sondern sie sichtbar und reflektierbar zu machen. Kirchliche Organisation erlaubt also „jener Praxis eine reflektierte Selbstbeobachtung und damit auch eine theologisch verantwortete Selbstkorrektur“85. Vereinfacht gesagt: Indem Organisation die Praxis zur Darstellung bringt, macht sie jene indirekt korrigierbar. 86 Die Leistung des inzwischen nicht mehr so populären Institutionsbegriffes erkennt Hermelink vor allem darin, dass sie auf eine notwendige „Selbstbeschränkung der Kirche“87 aufmerksam mache. Im Anschluss an Rendtorffs Verständnis von Kirche als „Institution der Freiheit“ sei das nichtkirchliche Christentum, also die plurale Volkskirche, die eigentliche Grundlage der Institution Kirche. Ebenso gehe damit einher, dass jedes Individuum einen eigenständigen und auch kritischen Bezug zur sichtbaren Kirche entwickle. Im Angesicht volkskirchlicher Vielfalt folge daraus für die Kirche eine „Relativierung ihrer normativen Ansprüche wie ihrer organisatorischen Grenzen“88. Kirche als Institution wird Mitgliedschaft also möglichst offen halten und nicht zu stark organisieren wollen. 89 Demgegenüber stehe ein Verständnis von Kirche als Interaktion , als Gemeinschaft, wie es etwa Josuttis („Gemeinschaft der Heiligen“) oder Karle („Kommunikation unter Anwesenden“) vertreten. Dieses Kirchenverständnis erkennt in einer Gemeinde stets eine Art Kontrastgesellschaft, die sich kritisch gegenüber Autoritäten, gesellschaftlichen Verhältnissen oder dem bloß organisatorischen oder volkskirchlichen Charakter von Kirche verortet. Hermelink betont, dass solche Gemeinschaftsbildungen jedoch nur funktionieren können, wenn es auch entsprechende organisatorische Rahmenbedingungen gebe. 90 Eine wichtige Funktion misst Hermelink dem Begriff Inszenierung zu. In ihm komme zum Ausdruck, dass Kirche einen Zeichencharakter habe und an unterschiedlichsten Orten auf das Evangelium und das „Jenseits des Glaubens“ verweise. Besonders deutlich wird das am darstellenden Charakter des Gottesdienstes, aber indirekt ebenso an den organisatorischen Strukturen von Kirche. Durch diese Inszenierung wird „die Eigenart des christlichen Glaubens selbst für alle Beteilig91 ten erkennbar“ und man kann sich nun zu ihr verhalten. Die Pointe von Hermelinks Inszenierungsbegriff ist damit der seines Organisationsbegriffs nicht ganz unähnlich. Auch hier wird Unverfügbares zur Darstellung gebracht.
Alle vier Paradigmen haben nach Hermelink eine kirchentheoretische Berechtigung. Dennoch stellt er besonders den Aspekt der Inszenierung oder genauer einen in gewisser Hinsicht inszenierenden Organisationsbegriff in den Vordergrund. Der Organisationscharakter von Kirche be84 85 86 87 88 89 90 91
Vgl. ebd., 95ff. Ebd., 102. Vgl. ebd., 103-110. Ebd., 109. Ebd. Vgl. ebd., 110-115. Vgl. ebd., 116-122. Ebd., 120.
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stehe eben nicht in der betriebswirtschaftlichen Perspektive,92 sondern liege in der „Inszenierungsleistung der Organisation“93 begründet. Die Organisation Kirche bringe so das Jenseits, das Nicht-Steuerbare und nur Schwer-Greifbare zu Darstellung und macht es beobachtbar. Deshalb sind für Hermelinks Kirchentheorie die Begriffe der „Selbstbeobachtung oder Reflexivität“94 so zentral. Kirche sei zusammengefasst „eine Organisation zur öffentlichen Inszenierung des Glaubens“95. Aber nicht nur systematischer Ebene, sondern ebenfalls auf historischer Ebene lasse sich die gegenwärtige Mehrschichtigkeit der Kirche verständlich machen. Denn in der Gegenwart sei die Kirche von fünf Kirchenmodellen geprägt, die alle historisch gewachsen sind:96 a) die Parochie,97 b) die Landeskirche, c) die Vereinskirche mit Ursprung im 19. Jh., d) die Konventskirche, die sich in der Zeit des Nationalsozialismus entwickelte und eine gemeinschaftliche und gottesdienstlich-liturgische Prägung des Alltags in den Mittelpunkt stellte, e) die Funktionskirche mit Sitz im Leben in den 1960er Jahren, die auf eine sich ausdifferenzierende Gesellschaft mit einer sich ausdifferenzierenden kirchlichen Arbeit reagierte. Zahlreiche gegenwärtige Konflikte innerhalb der Kirche lassen sich nun als Konflikte zwischen diesen Organisationsformen verstehen, da sie sich in ihrem Verständnis von Kirche erheblich unterscheiden. Auch zeigt diese Betrachtungsweise, dass sich kirchliche Organisationsformen historisch stets in kritischer Auseinandersetzung mit der jeweiligen gesellschaftlichen Lage entwickelt haben. Kirchliche Modelle sind demnach massiv kontextuell geprägt. Hermelink zeichnet damit sowohl auf der systematischen als auch auf der historischen Ebene ein komplexes Bild von Kirche. Jenes Bild ist mit Hermelinks eigenen Worten „mehrschichtig“, was allerdings an mancher Stelle diffus und uneindeutig wirkt. Das liegt sicherlich auch darin begründet, dass hier eben sehr viel integriert werden soll. Hauschildt spricht deshalb zu Recht von einem „schwebenden Charakter“98, der diesem Werk zugrunde liege. Dennoch lässt sich beobachten, dass das Werk trotz seines prinzipiell integrativen und pluralen Charakters, an mancher Stelle doch bestimmte normative Tendenzen aufweist. 92 So verhandeln etwa Hauschildt und Pohl-Patalong unter dem Organisationsbegriff weitgehend den „Unternehmenscharakter“ von Kirche. Vgl. Hauschildt / PohlPatalong (2013), 185ff. 93 Hermelink (2011), 122. 94 Ebd., 123. 95 Ebd., 89. 96 Vgl. ebd., 125-173. 97 Nach einer historischen und differenzierten Darstellung kommt Hermelink für die Gegenwart zu einer Bejahung des Parochialprinzips, mitunter aber mit m.E. nicht sachgemäßen Argumentationen. So markiere das Parochialprinzip die Vorgegebenheit des Evangeliums. Wie die Gnade Gottes dem Menschen vorausgehe, so gehe das Parochialprinzip der menschlichen Gestaltung voraus. Vgl. ebd., 126ff. 98 Hauschildt (2012), 439.
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Das lässt sich zum Beispiel an Hermelinks Verständnis des Organisationsbegriffes festmachen. Kirche steuere sich nach Hermelink eben nicht nur durch Ziele und Handlungsprogramme, wie ein ökonomischer Organisationsbegriff suggeriert. Ein solcher ökonomischer Organisationsbegriff laufe geradezu Gefahr, das göttliche Handeln durch menschlichen Aktivismus zu verdecken. In dieser Spur übt Hermelink dann an Wolfgang Huber Kritik, zu dessen kirchentheoretischem Anliegen er Folgendes anmerkt: „Die für die lutherische Kirchentheorie entscheidende Differenz zwischen der menschlichen Präsentation des Evangeliums und dem – allein Gott zuzuschreibenden – Gelingens der ‚Weitergabe‘ wird durch solche Formulierungen tendenziell verdeckt. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Werk wird denn auch im Blick auf kirchliche Reformen recht aktivistisch akzentuiert. […] Die ‚Zusage‘, dass die Kirche das Werk Gottes ist, erscheint weniger als Entlastung oder Unterbrechung der menschlichen Reformarbeit, sondern sie wird zur ‚Zuversicht‘: zur mentalen Ressource jener angestrengten Bemühung.“99
Diese ekklesiologische Auseinandersetzung, die Hermelink hier mit Huber führt, hat für das Thema Leitung weitreichende Konsequenzen. Denn hier wird von Hermelink implizit eine grundsätzliche Anfrage an die Thematik von „Leitung in der Kirche“ gestellt: Gibt es eine Form von kirchlichem Leitungshandeln, die unangemessen menschliches mit göttliches Handeln zueinander in Beziehung setzt? Hermelinks Werk durchzieht eine latente Skepsis gegenüber kirchlichen Reformbemühungen, die er, wenn auch längst nicht so ausgeprägt, mit Isolde Karle teilt. So hält Hermelink insgesamt – und das kann als Fazit dieses Abschnittes gelten – den beschriebenen kirchlichen Ist-Zustand für normativ, oder wie Hauschild es zusammenfasst: „das Buch [...] verströmt eine distanziert-kritische Atmosphäre, was kirchliche Veränderungen angeht, vertraut mehr der kirchlichen Tradition.“100 Das hängt sicherlich damit zusammen, dass das von Hermelink in den Vordergrund gestellte Moment von Selbstbeobachtung und Reflexion eher mit Passivität als mit Aktion einhergeht. In Summe steht bei Hermelink zwar formal der Organisationsbegriff im Vordergrund, beinhaltet jedoch eine ausgeprägte institutionslogische Füllung. Denn der Organisationsbegriff weist hier so viele systemtheoretische Implikationen auf, dass er faktisch das umfasst, was in der kirchentheoretischen Diskussion in der Regel eher dem Institutionsbegriff zugeordnet wird. Nachdem nun Hermelinks Bild von Kirche (Kybernetik im weiteren Sinne) skizziert wurde, kann nun auf sein Bild von Leitung (Kybernetik im engeren Sinne) weiter eingegangen werden.
99
Hermelink (2011), 78f. Diese Beobachtung übernehme ich von Hauschild. Vgl. Hauschildt (2012), 439. 100 Ebd.
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4.3.2. Führen und Leiten Die Begriffe „Führen“ und „Leiten“ weisen nach Hermelink eine hohe Bedeutungsbreite auf. Ihren semantischen Kern erblickt er jedoch im „Einfluss auf soziale Verhältnisse“, genauer als aktives Gestalteten, also als intentionaler und nicht zufälliger Einfluss.101 Leitung ist also bewusst gestalteter Einfluss. Doch wie sollen sich „Führung und Leitung“ in der Kirche vollziehen? Hermelink nimmt hier seinen Ausgangspunkt, wie schon Breitenbach, bei dem Begriff der Konziliarität. „Das Prinzip der Konziliarität kann als Basiskriterium kirchlicher Leitung gelten […].“102 Dieses „Prinzip der Konziliarität“ wird nun anhand von vier Kriterienpaaren näher entfaltet. 1) Leitung muss dem Grundsatz der „Freiheit des Glaubens“ Rechnung tragen. Deshalb sei kirchlicher Leitung jede absolute Gehorsamsforderung verwehrt. Jenes hohe Gut der Freiheit sei aber nicht absolut zu verstehen, weil Kirche eben auch Gemeinschaft sei. So ist also ebenfalls eine Selbstbegrenzung dieser individuellen Freiheit von Nöten. 2) Kirchliche Leitungsprozesse sollen ein Maximum an Partizipation ermöglichen. Aus Gründen der Ordnung bedarf es jedoch der Delegation. 3) Leitung muss inhaltlich eine klare Verbindung zum bestehenden Grundkonsens der Kirche wahren und dennoch muss eine Offenheit für den Diskurs bleiben. 4) Verlässliche Strukturen sind von Nöten, allerdings muss ebenso deutlich werden, dass diese Strukturen immer nur vorläufig und prinzipiell überholbar sind. Diese vier Kriterienpaare beinhalten jeweils zwei Pole, zwischen denen sich kirchliche Leitungspraxis im Vollzug orientieren soll. Das umfasst allerdings eine so große Spanne an Möglichkeiten, so dass der handlungsleitende Impuls dieser vier Kriterienpaare undeutlich bleibt. Wie das „Prinzip der Konziliarität“ mit jenen vier Kriterienpaaren in der Praxis realisiert wird, entfaltet Hermelink nun anhand verschiedener Bereiche innerhalb der Kirche: Kirchenrecht und kirchliche Verwaltung, Gremienarbeit und Synoden, Kirchenvorstandsarbeit, Projektgruppen und das episkopale Amt. Die religiöse Dimension einer Kirchenvorstandsarbeit stellt Hermelink anhand des Begriffs der Konziliarität dar, indem er die sich hier vollziehenden Beratungs- und Entscheidungsprozesse pneumatologisch in101 102
Vgl. Hermelink (2011), 223-227. Ebd., 227.
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terpretiert.103 Die ausgetragenen Konflikte, die Konsenssuche und die Entscheidungsfindung können als Wirken des Geistes verstanden werden. So hat diese konziliare Arbeit theologisch gesehen vor allem einen darstellenden (Schleiermacher) und inszenierenden Charakter, denn die vielfältige Wirkung des Geistes kommt in den unterschiedlichen Positionen der Teilnehmer zum Ausdruck. Aber auch das Zustandekommen eines Konsenses sei ein Ergebnis der Wirkung des Geistes. Hinsichtlich der Frage, wie sich die leitende Tätigkeit im Pfarramt gestalten sollte, gibt Hermelink eine Antwort, die auf der Linie einer klassisch lutherischen Kirchentheorie liegt:104 Pfarrerinnen leiten primär durch die Predigt. Er vertritt mit eigenen Worten eine „Konzeption einer pastoralen Leitung allein durch (gemeinde-)öffentliche Verkündigung“105. Durch die Predigt vergegenwärtigt der Pfarrer der sich selbst leitenden Gemeinde das Evangelium. Hierin liegt ein kritischer Impetus gegenüber visionären Leitungsstilen, wie er sie bspw. im „Spirituellen Gemeindemanagement“106 erblickt. Denn die Predigt wolle nicht wie eine visionäre Leitung eine neue Situation programmatisch konstruieren, sondern sie setzt beim vorgegebenen Evangelium und der vorgegebenen gegenwärtigen Situation an.107 Gegenüber der Gemeinde ist es dann die leitende Aufgabe des predigenden Pfarrers – mit Josuttis – die Sünde aufzudecken. Oder allgemeiner in der Sprache der Systemtheorie ausgedrückt: Der Pfarrer irritiert die Gemeinde gezielt. „Die spezifische, durch kein Gremium und keinen Mitarbeiterkreis zu ersetzende pastorale Leitungskompetenz dürfte in einer arbeitsteilig, zielorientiert organisierten Gemeinde in der Präsentation solcher verstörenden Einsichten bestehen.“108 Hier ist das Pfarramt also weniger Teil der Gemeinde, sondern eher ein irritierendes Gegenüber im positiven Sinne. Pastorales „Management“ habe seinen Ort nicht in der Organisation, sondern habe eine „organisationstranszendente Funktion“109. Deshalb kann Hermelink auch Wagner-Rau folgen, wenn sie das Pfarramt „auf der Schwelle“ am Rand der Gemeinde verortet. Die Kirchentheorie von 2011 ist jedoch nicht der einzige Beitrag, den Hermelink zum Thema „Führen und Leiten“ geleistet hat. Bereits 1998 legt er mit „Pfarrer als Manager?“110 einen programmatischen pastoral103
Vgl. ebd., 240ff. Vgl. ebd., 251-265. 105 Ebd. 106 Kritisch wird u.a. angemerkt, dass hier von einer unangemessen ständigen Veränderungs- und Reformbedürftigkeit ausgegangen wird, die mit Josuttis auch gesetzlich genannt werden könnte. 107 Es sei angedeutet, dass dieser Argumentationsweg sich schon aus genuin homiletischen Gründen nicht halten lässt. Denn auch die Predigt hat einen kreatorischen Charakter, der performativ Neues schafft. 108 Ebd., 260. 109 Ebd., 254. 110 Hermelink (1998). 104
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theologischen Ansatz in Grundzügen vor. Manche der hier vertreten Gedanken finden sich in der Kirchentheorie wieder. Es gibt jedoch auch signifikante Unterschiede. Der Ansatz sei in Grundzügen vorgestellt. Die sich durchziehende These ist, dass der Beruf des Pfarrers vieles mit einem Manager gemeinsam habe und deshalb beide sinnvoll miteinander verglichen werden können. Beide sind durch Fragmentierung geprägt, ihr Alltag ist zergliedert in eine Fülle von Einzelaktivitäten. Beide haben eine hohe Dichte von persönlichen Begegnungen, wobei die entscheidenden oftmals „nebenbei“ geschehen (dialogische Netze). Auch sind beide letztendlich für alle Belange der Organisation verantwortlich (Allzuständigkeit). Ähnlich wie Manager haben Pfarrer eine „interne Koordinationsfunktion“111 inne. Gemeinsam ist ihnen ebenso ein gewisser „Kundenkontakt“, wenn etwa Pfarrerinnen bei (bspw. bei Kasualien) auf Kirchendistanzierte treffen. Ebenfalls kennzeichne eine nicht zu vermeidende Doppelrolle, sowohl Vorgesetzter und Seelsorger zu sein, das Leben von Managern und Pastoren. Fazit: Pfarrer sind Manager, weil sie leiten.112 „Die Pfarrerin ist einer Managerin vergleichbar, weil sie eine leitende Position innerhalb der kirchlichen Organisation einnimmt.“113 Bereits 1998 zeigt Hermelink schon Sympathien für ein konziliares Verständnis von Leitung im Anschluss an Breitenbach, obwohl er diesem auch vorhält, dass die „personale Verantwortung für die Gemeindeleitung“114 zu wenig in den Blickt kommt. Zwei markante Unterschiede lassen sich jedoch zwischen 1998 und 2011 hinsichtlich des Leitungsverständnisses von Hermelink ausmachen. Erstens scheint Hermelink 1998 dem Dialog mit der Betriebswirtschaftslehre noch mehr zuzutrauen, seine Kirchentheorie von 2011 ist dann eher systemtheoretisch orientiert. Das hat auch Implikationen für das Leitungsverständnis. Denn zweitens kommt 1998 dem Pfarrer noch die Aufgabe des Personalmanagements zu, gerade auch im Hinblick auf das Ehrenamt.115 2011 wird die leitende Tätigkeit dann im Wesentlichen auf das Predigtamt konzentriert.
111
Ebd., 553. Allerdings weist Hermelink auch auf die Grenzen der Analogie hin. Erstens gebe es zunehmend Situationen, in denen es in einer Gemeinde neben dem Pfarramt keine weiteren zu leitenden hauptamtlichen Mitarbeiter gebe. Diesen Kritikpunkt lässt er aber nicht gelten, da er gerade in der Koordination der ehrenamtlichen Mitarbeit ein Proprium des Pfarramtes erkennt. Der zweite Kritikpunkt: Für die beiden im Zentrum des pastoralen Dienstes stehenden Tätigkeiten Predigt und Seelsorge greife die Analogie nicht. Vgl. ebd., 560f. 113 Ebd., 560. 114 Ebd., 543. 115 „Denn bei aller Kritik am Leitbild der ‚Pastorenkirche‘ läßt sich nicht bestreiten, daß es im ‚Unternehmen Kirche‘ eben die Pfarrerin und der Pfarrer sind, die die Aufgabe des Personalmanagements in erster Linie übernehmen.“ ebd., 545. 112
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Fazit: (1) Hermelinks Leitbild von Leitung ist das in den vier Kriterienpaaren entfaltete „Prinzip der Konziliarität“. (2) Leitung im Pfarramt wird über eine systemtheoretische Begründung summa summarum vollständig mit der Predigt identifiziert. (3) Das Verhältnis von Pfarramt und Gemeinde ist in der Leitungsfrage eher von Distanz geprägt. (4) Dem Lernen von betriebswirtschaftlichen Gesprächspartnern traut Hermelink immer weniger zu. 4.3.3. Die kontextuelle Verortung In seinen historischen Abschnitten zeigt Hermelink auf, dass sich alle Gestaltungsformen des kirchlichen Lebens als Reaktion auf einen spezifischen gesellschaftlichen Kontext hin entwickelt haben. Das gilt auch für die Gegenwart. So ist jede Kirchentheorie immer mit einer Gesellschaftstheorie verbunden. Er selbst orientiert sich an einer systemorientierten Soziologie, von der er i. W. drei zentrale Stichworte übernimmt:116 a) funktionale Differenzierung, b) kulturelle Pluralisierung und c) strukturelle Individualisierung. Auch die Kybernetik im engeren Sinne möchte Hermelink vor dem zeitgenössischen Kontext verhandelt wissen. Es gelte hinsichtlich von Leitungsformen darauf zu achten, „wie sich diese Formen angesichts des gegenwärtigen Wandels der kirchlichen Sozialität und ihrer gesellschaftlichen Lage beschreiben – und theologisch verantworten lassen.“117 Allerdings gelingt es ihm nur punktuell, jenes Anliegen anzudeuten. So argumentiert er gerade deshalb für einen konziliaren Leitungsstil, weil dieser durch die Beteiligung zahlreicher Personen die Vielfalt des sozialen Wandels abbilden könne. Auch könne die Predigt offener und flexibler auf den gesellschaftlichen Wandel reagieren, Leitbilder hingegen sind oftmals starr und daher als Leitungsinstrument kritisch zu betrachten. Letztendlich lässt sich feststellen, dass Hermelink der Frage, wie ein Leitungs- und Führungsstil in der Kirche unter spätmodernen Bedingungen aussehen könnte, nicht nachgeht. Das ist insgesamt aber auch nicht Thema seines Werkes. Er weist jedoch mehrfach darauf hin, dass diese Frage alles andere als unwichtig sei. 4.3.4. Kritische Würdigung Hermelink legt mit seiner Kirchentheorie eine Arbeit vor, die dem Thema „Führen und Leiten“ innerhalb der Praktischen Theologie einen hohen Stellenwert beimisst und mit der Differenzierung in eine implizite und explizite Kybernetik Kirchentheorie und Leitung sinnvoll aufeinander zu beziehen weiß. Die besondere Stärke liegt sicherlich im deskriptiven Bereich und vermag die gegenwärtige Situation der ev. Kir116 117
Vgl. Hermelink (2011), 82ff. Ebd., 287.
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che nachvollziehbar zu erklären, indem – auch historisch – einer Vielzahl von Einflussfaktoren nachgegangen wird. Anfragen lassen sich hingegen an die handlungsleitenden Impulse Hermelinks stellen. So wirken bspw. die vier Kriterienpaare, die Leitungshandeln in der Kirche prägen sollen, unpräzise und arbiträr. Dialektisch werden stets die Extreme beschrieben, zwischen denen Leitung stattfinden soll, dann findet in diesem Zwischenraum jedoch keine genaue Verortung statt. Bezüglich der prinzipiellen Ebene des Themenfeldes „Führen und Leiten“ haben sich bei Hermelink folgende Fragen herausarbeiten lassen: (1) Wie verhalten sich menschliches und göttliches Handeln bei kirchlichen Veränderungsprozessen zueinander? Das folgende Problem wurde als Anfrage deutlich: Wer Kirche mit klar definierten Vision und konkreten Zielen leitet, steht potentiell in der Gefahr, menschliches und göttliches Handeln einander problematisch zuzuordnen. (2) Wie verhalten sich Kybernetik und Homiletik zueinander? Ist Leitung gleich Verkündigung? (3) Leitet das Pfarramt durch Verkündigung „von außen“, ja, welchen Ort nimmt das Pfarramt überhaupt im Verhältnis zur Gemeinde ein? (4) Inwiefern kann kirchliche Leitungspraxis von der Betriebswirtschaftslehre lernen? 4.4.
Zwischenfazit – vorsichtig gesprochen: Erst Kirche, dann Leitung
Im Gegensatz zum ersten Zwischenfazit, das von einer „systemischen Wende“ in der theologischen Literatur zu „Führen und Leiten“ sprach, wird das Zwischenfazit am Ende dieses Abschnittes weniger präzise und einheitlich ausfallen dürfen. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Die drei hier besprochenen Konzepte unterscheiden sich zu stark voneinander, um ihnen allen eine gemeinsame Stoßrichtung attestieren zu können. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der theologischen Prägung, ihrer zeitlichen Entstehung und ihrer spezifischen Fragestellung. Die Frage „Welches Bild von Führung und Leitung wird in Gemeindeaufbau und Kirchentheorie gezeichnet?“ lässt sich also nicht einheitlich beantworten. Hinzukommt, dass die Auswahl der Literatur zur Beantwortung jener Frage zu eklektisch war und – wie oben beschrieben – auch sein musste. So kann hier nun nicht von dem Gemeindeaufbau (Gemeindeentwicklung) oder der Kirchentheorie gesprochen werden. Unter Berücksichtigung dieser Vorbehalte lässt sich m.E. dennoch ein Fazit andeuten. Allen drei Konzepten liegt in der jeweiligen Architektur der Arbeiten eine grundsätzlich ähnliche Verhältnisbestimmung von Ekklesiologie und Leitung zugrunde. Vereinfacht gesprochen wird in einem ersten Arbeitsschritt ein bestimmtes, mehr oder weniger normatives Leitbild von Kirche oder Gemeinde entworfen. Leitung hat in einem zweiten Schritt die Aufgabe jene Zielvorstellung von Kirche oder Gemeinde zu realisieren. Leitung heißt hier, ein zuvor erarbeitetes Bild
4. Führen und Leiten in Kirchentheorie und Gemeindeaufbau
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von Kirche zu verwirklichen. Erst kommt die Beschäftigung mit dem, was Kirche ist und sein soll, im Anschluss erst die Leitungsfrage. Das (implizite) ekklesiologische Leitbild von Kirche geht der Konzeption von Leitung sachlich voraus. Bei Hermelink lässt sich das eben beschriebene Schema schon an seiner Unterscheidung von impliziter und expliziter Kybernetik deutlich machen. Denn hier geht die implizite der expliziten Kybernetik voraus. Vor der Frage nach der Leitung steht die Frage nach der Kirche. Auch bei Preul hat sich gezeigt, dass hier die Aufgabe von Kybernetik primär darin besteht, ein leitendes Bild von Kirche zu entwickeln. Bei Herbst trifft das insgesamt weniger auf das gesamte Werk, wohl aber mitunter auf den „Missionarischen Gemeindeaufbau“ zu. Hier wird erst ein Bild von Gemeinde und Gemeindeaufbau entwickelt. Leitung heißt dann, dieses in die Tat umzusetzen. Dass die Frage, was Gemeinde oder Kirche sei, eine für die Leitungspraxis ungemein wichtige ist, soll in keinster Weise bestritten werden. Beides gehört eng zusammen. Wird jedoch „Führen und Leiten“ ausschließlich als ein Teil von Gemeindeentwicklung oder Kirchentheorie verstanden, dann entsteht die Gefahr, dass „Führen und Leiten“ als ein für die kirchliche Praxis eigenständiges Tätigkeitsfeld keine Konturen bekommt. Leitung kann eben nicht in den weiten Horizont von Gemeindeentwicklung oder Kirchentheorie aufgelöst werden. Dem mag man nun berechtigterweise entgegenhalten, dass dieses Zwischenfazit keineswegs zu überraschen vermag, da es ja im untersuchten Gegenstand selbst begründet liege. Wer untersucht, wie Führen/Leiten in Gemeindeentwicklung/Kirchentheorie verhandelt wird, den darf es nicht verwundern, dass zweites den Horizont bildet, in den ersteres dann in einem folgenden Schritt eingezeichnet wird. Dieser Einwand ist korrekt. Das Problem besteht nur darin, dass beides über den Begriff der Kybernetik so eng miteinander verbunden ist, beides eben als Kybernetik bezeichnet wird und damit der Eindruck entstehen kann, dass beides identisch sei. Hier ging es nur darum aufzuzeigen, dass die Frage, was Kirche und Gemeinde sei, wichtig für die Frage nach Leitung ist, allerdings für die Gestaltung von kirchlicher Leitungspraxis noch keinesfalls suffizient ist; unter anderem – und hier liegt eine Übereinstimmung mit dem ersten Zwischenfazit vor – weil auch hier die Beschäftigung mit dem leitenden Individuum tendenziell in den Hintergrund gerät. Deshalb soll nun in einem dritten Anlauf mehr auf ein leitendes Individuum geschaut werden. Es wird nun gefragt, wie „Führen und Leiten“ in der gegenwärtigen Pastoraltheologie verstanden wird.
5.
Führen und Leiten in der Pastoraltheologie
Bisher wurde herausgearbeitet, dass in der theologischen und kirchlichen Literatur zu „Führen und Leiten“ der personale Aspekt oftmals unterbestimmt wurde. Deshalb wird nun ein Blick in die gegenwärtige Pastoraltheologie gewagt, da diese sich per definitionem mit einem personalen Aspekt beschäftigt: Der Pfarrperson. Es soll nun also untersucht werden, ob und wie das Thema „Führen und Leiten“ in der Debatte um das Pfarrbild Gestalt gewinnt.1 Die pastoraltheologische Auseinandersetzung, der die Suche nach einem neuen Pfarrbild gemein ist, hat sich in den letzten Jahren intensiviert, was an der Fülle der Publikationen abzulesen ist. Über die Ursache hierfür besteht weitestgehend Einigkeit. Zum einen stellen Veränderungsprozesse in Gesellschaft und Kirche die „traditionelle“ Rolle der Pfarrperson in Frage. Das führt auf Seiten der Pfarrerschafft zu Unsicherheit. Pastorinnen fragen sich: „Wer bin ich eigentlich?“ Zur Beseitigung dieser Unsicherheit wollen die vielfältigen pastoraltheologischen Entwürfe partiell beitragen. Schneider und Lehnert weisen zudem darauf hin, dass es ebenso andersherum beschrieben werden kann: Die Vielfalt der Entwürfe ist Ausdruck der Unsicherheit. „Diese Vielfalt spiegelt eine gewisse Verunsicherung wider [...] Ein wirklich neuer, integrierender und allgemein akzeptierter Begriff zur Kennzeichnung des Pfarrdienstes ist zurzeit nicht erkennbar.“2 Neben der Unsicherheit über die eigene pastorale Identität tritt das Moment der vielerorts wahrnehmbaren Überlastung von Pfarrerinnen hinzu.3 Wir halten 1
Auf eine Problematik, die im Untersuchungsgegenstand begründet liegt, sei hingewiesen. Von der Notwendigkeit einer Untersuchung des personalen Aspektes von Führung und Leitung direkt zu einer Untersuchung der Rolle des Pfarrers zu schließen, setzt ja implizit voraus, dass es primär die Person des Pfarrers ist oder sein sollte, welche in der Kirche führt und leitet. Eine Gleichsetzung von personaler Leitung und Pfarrperson soll hiermit aber nicht erfolgen. Die Entscheidung zur Untersuchung von „Führen und Leiten“ in der Pastoraltheologie und nicht etwa in der Diskussion um das Ehrenamt hat viel eher forschungspragmatische Gründe, so ist z.B. die Literatur zu ersterem deutlich ausgeprägter vorhanden. Eine Untersuchung, wie „Führen und Leiten“ in der Literatur um das Ehrenamt vorkommt, bleibt damit gleichsam wichtig und noch ausstehend. 2 Schneider / Lehnert (2011), 30. 3 So z.B. auch Lindner: „Wenn es über den Beruf von Pfarrerinnen und Pfarrern eine übereinstimmende Aussage gibt, dann wohl die, daß es sich bei ihrem Beruf,
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fest: So sehr auf der einen Seite mit den Stichworten Unsicherheit und Überlastung in gewisser Hinsicht ein Konsens hinsichtlich der Ursache des Problems besteht, so weit ist der Diskurs auf der anderen Seite von einem Konsens hinsichtlich der Lösung entfernt. Wenn nun pastoraltheologische Konzepte analysiert werden sollen, so liegt es auf der Hand, dass sich dabei auf die für die Führungs- und Leitungsfrage relevanten Aspekte beschränkt werden muss. Innerpastoraltheologische Diskussionen können deshalb in der Regel nicht geführt werden. Es wird also nur um die Schnittstelle zwischen Pastoraltheologie und „Führen und Leiten“ gehen.4 Für jene Schnittstelle stellt Jürgen Belz das folgende Kriterium auf: „Eine kybernetische Theorie muss beschreiben, wie das geistliche Amt (Pfarrer, Pastoren, Bischöfe) so geordnet werden kann, dass es dazu dient, die Geistesgaben (Charismen) der Gemeindeglieder zum Wohle aller zur Geltung kommen zu lassen.“5 Wird das Pfarramt in den nun zu untersuchenden Konzepten so geordnet, wie von Belz gefordert? Trägt die gegenwärtige Pastoraltheologie dem Rechnung, was Belz für die Kybernetik als Beurteilungskriterium nennt? Das wird sich nun zeigen müssen. 5.1.
Manfred Josuttis – Der Pfarrer als Führer in das Heilige
Manfred Josuttis hat in seiner bisherigen Schaffenszeit mehrere pastoraltheologische Anläufe unternommen, die sich in ihrer Schwerpunktsetzung deutlich voneinander unterscheiden. Im Folgenden beschäftigen wir uns nur mit dem jüngsten seiner Entwürfe,6 der deshalb für das Thema „Führen und Leiten“ von hoher Relevanz zu sein scheint, weil hier der Pfarrer als „Führer“ verstanden wird. Dieser jüngste Entwurf erschien 1996 und trägt den Titel „Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität“. 5.1.1. Theologische Grundentscheidungen Das pastoraltheologische Leitbild bei Josuttis ist der „Führer in das Heilige“. Dieses Leitbild entwirft er in einer doppelten Abgrenzung.7 bei all seiner Wichtigkeit und Schönheit um eine Tätigkeit handelt, die von Zersplitterung und zeitlicher Überlastung bedroht ist.“, in: Lindner (2000), 93. 4 Auch Kunz bezieht Kybernetik und Pastoraltheologie aufeinander. Vgl. Kunz (2007), 665f: „In der Volkskirche obliegt die Hauptverantwortung für die Gemeindeleitung dem Pfarramt. [...] Auf der reflexiv-theoretischen Ebene hat die besondere Beachtung der didaktischen Schnittstelle u.a. zur Konsequenz, dass die Disziplinen Kybernetik und Pastoraltheologie aufeinander bezogen bleiben müssen.“ 5 Belz (2009), 48f. 6 Für eine ausführliche Analyse des pastoraltheologischen Beitrags Josuttis sei auf die Ausführungen von Petry verwiesen: Vgl. Petry (2001), 102-121; 144-159. 7 Vgl. ebd., 12-17.
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Da ist zum einen die Dialektische Theologie. Sie verstand den Pfarrer primär als Prediger und darum alle Handlungsfelder der Gemeinde von der Verkündigung her. Zum anderen grenzt sich Josuttis von dem in den 1970er Jahren aufkommenden Leitbild des Helfers ab. Hier kam es zu einer Konzentration auf die Seelsorge. Die damit einhergehende Fokussierung auf die Psychologie führte zu einer weitgehenden Ausblendung des transzendenten Horizonts. Den Paradigmen von Verkündiger und Seelsorger setzt Josuttis nun entgegen: „Pfarrer und Pfarrerin werden in Zukunft Führer/in sein. Sie begleiten Menschen in eine spezifische Wirklichkeit.“8 Diese spezifische Wirklichkeit nennt Josuttis die Zone des Heiligen. In sie führt die Pfarrerin. Was genau unter dem Heiligen zu verstehen sei, möchte Josuttis nicht dogmatisch vorgeben, sondern phänomenologisch beschreiben. So gilt für Josuttis grundsätzlich, dass weder Dogmatik noch Tiefenpsychologie, sondern die Religionsphänomenologie den Referenzrahmen bildet. Das kam bereits in der Ablehnung der Leitbilder vom Prediger (Dogmatik) und Helfer (Tiefenpsychologie) zum Ausdruck. Es ist offensichtlich, dass Josuttis mit dem Leitbild des „Führers“ einen problematischen Begriff gewählt hat.9 Er geht deshalb auf zahlreiche dieser Probleme ein, hält jedoch an dem Begriff fest. Da ist vor allem die Machtproblematik, denn mit dem Gegenüber von Führer und folgender Masse entsteht ein problematisches Abhängigkeitsverhältnis. Das gesteht Josuttis auch prinzipiell zu, verweist jedoch darauf, dass auch die führende Pfarrerin immer in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Gemeinde stehe, etwa wenn sie sich von deren Anerkennung abhängig mache. Das Machtproblem ist nach Josuttis eben nicht dadurch zu lösen, dass man es verschleiere. Führer haben soziale Macht, sind aber nicht allmächtig. Des Weiteren sei der Begriff natürlich um der nationalsozialistischen Vergangenheit willen ambivalent. Auf diese und weitere Probleme mit dem Bild vom Pfarrer als Führer reagiert Josuttis, indem er das Bild vom Pfarrer auf seine eigene Art und Weise füllt, und zwar über den Begriff des Mystagogen. Die Mystagogin ist wörtlich übersetzt die Führerin in das Geheimnis. Hier knüpft Josuttis an Paul Zulehner an.10 Religiöse Führerschaft sei eben nicht Herrschaft über die Gemeinde, sondern die Einführung des Menschen in ein Geheimnis. Nach Zulehner sei das dann das Geheimnis des Lebens eines jeden Menschen, an dem das Geheimnis Gottes teilhabe. Josuttis geht nun aber über Zulehner hinaus. Der Mystagoge führt die Menschen nicht primär in ihr eigenes Leben ein, sondern in eine andere Wirklichkeit. Es geht eben in erster Linie nicht um Selbsterkenntnis. 8
Ebd., 189. „Führung enthält die sozialpsychologische Problematik der Macht, die religionssoziologische Frage nach dem Kontakt mit dem Numinosen und die theologische Schwierigkeit im Verhältnis zur Christologie.“ ebd., 29. 10 Vgl. ebd., 31-33. 9
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Also: „Pfarrer und Pfarrerin führen in die verborgenen und verbotenen Zonen des Lebens.“11 Pfarrerinnen führen damit über die Grenze vom Profanen hin zum Heiligen. Josuttis bezeichnet sie als Grenzgänger. Das gelte nicht nur im religionsphänomenologischen Sinne, sondern ebenso soziologisch: Der Pfarrer habe es mit Menschen aus verschiedenen Milieus zu tun, überschreite also Milieugrenzen. Auch psychologisch lasse sich dieses Bild vom Grenzgänger füllen: In Grenzsituationen des Lebens werden Menschen von der Pfarrerin seelsorgerlich begleitet. Welche Tätigkeiten soll nun dieser Pfarrer als Führer in der Form des Mystagogen und Grenzgänger ausüben? Vor allem für fünf Tätigkeitsfelder buchstabiert Josuttis seine mystagogische Grundthese durch: Gottesdienst, Predigt, Seelsorge, Unterricht und Spiritualität. Dabei kommen dem ersten und dem letzten Punt die Bedeutung des Josuttischen Propriums zu. Es entsteht das Bild vom Pfarrer als Liturgen. Petry analysiert: „Damit [...] rückt Josuttis den Gottesdienst ins Zentrum der pastoralen Tätigkeit.“12 Ebenfalls fordert Josuttis vom Pfarrer eine ausgeprägte eigene Spiritualität. Denn nur wer selbst mit dem Heiligen Erfahrungen macht, kann andere in das Heilige führen.13 Diese anderen, also die Gemeinde, qualifiziert Josuttis als Gemeinde der Heiligen. Von ihr ist die Pfarrerin als Mystagogin beauftragt. Das bisher Gesagte kommt bündelt sich in dem folgenden Zitat: „Pfarrer und Pfarrerin führen in die verborgene Zone des Heiligen. Sie feiern die heilige Handlung des gottesdienstlichen Rituals. Sie formulieren das heilvolle Wort der evangelischen Predigt. Sie vollziehen den heilsamen Austausch im seelsorgerlichen Gespräch. Und sie vermitteln in den verschiedensten Formen Elemente der Tradition, in denen sich das Geheimnis des Heiligen konkretisiert hat.“14
Gottesdienst, Predigt, Seelsorge und Bildung – dem sorgfältigen Beobachter wird nicht entgangen sein, dass hier von „Führen und Leiten“ als eigenständiger Tätigkeit nicht die Rede ist. 5.1.2. Führen und Leiten Auf den ersten Blick räumt Josuttis dem Thema Führung durch die Verwendung des Terminus „Führer“ einen großen Raum ein. Schon früh macht er jedoch deutlich, dass er damit weniger eine kybernetische Dimension in Blick hat. Er sieht es kritisch, wenn die Führungsaufgabe „zum Problem der Gemeindeleitung“15 vereinfacht wird. Oftmals treten Pfarrer als Manager und/oder als Animatoren auf. Als Manager organisieren sie bürokratisch das Gemeindeleben. In die Organisation Kirche 11 12 13 14 15
Ebd., 34. Petry (2001), 148. Josuttis (1996), 48: „Pastorale Praxis benötigt eine spirituelle Basis.“ Ebd., 135. Ebd., 26.
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eingebunden müssen sie Verwaltungsaufgaben übernehmen und Personalentscheidungen treffen. In der Ortsgemeinde ist der Manager aber nicht wirklich beliebt, hier wird eher der Animator geschätzt. „Im Milieu der Ortsgemeinde haben Pfarrer und Pfarrerin andere Aufgaben wahrzunehmen. Führung vollzieht sich hier in der Regel als Animation. Nicht die Vorgesetzten, sondern die Moderatoren und Kommunikatoren sind wirklich beliebt.“16 Als Animatorinnen sind Pfarrerinnen große Kommunikatorinnen und sorgen in der Gemeinde für Harmonie, was besonders dem harmoniebedürftigen Integrationsmilieu, das oft die Kerngemeine präge, entgegenkomme. Diesen Ist-Zustand bewertet Josuttis kritisch. Führung meint für ihn weder Verwaltung noch Moderation von Prozessen, sondern: Ich nehme jemand anderes mit auf eine Expedition in das Heilige. Verwaltung und Moderation wird als pfarramtliche Tätigkeit nicht ganz zu vermeiden sein, allerdings sei das hier zu investierende Engagement zu begrenzen.17 „Vom Zwang der bürokratischen oder kommunikativen Werke befreit, können Pfarrer und Pfarrerin sich verstärkt ihrer eigentlichen Führungsaufgabe widmen. Das Ziel besteht nicht in der Direktion oder der Animation, sondern in der Expedi18 tion: Menschen in die verborgenen und verbotenen Zonen des Lebens begleiten.“
Führung meint bei Josuttis also primär eine spirituelle Tätigkeit. Pfarrer leiten die Expedition in das Heilige an. Führung ist Anleitung zur Spiritualität. Damit gerät der Begriff von Führung in die Nähe zur „Geistliche Begleitung“. Das macht einmal mehr deutlich, in welch großer Bedeutungsbreite die Begriffe von „Führen“ und „Leiten“ in der Praktischen Theologie verwendet werden. Denn Führungstätigkeiten wie die Begleitung ehrenamtlicher Mitarbeiter, Personalentwicklung oder die Leitung von Sitzungen – um nur ein paar Beispiele zu nennen – haben bei Josuttis keinen Platz. Bei den von ihm benannten Tätigkeitsfeldern kommt nichts davon vor. Implizit ist dieser faktisch führungs- und leitungskritische Impetus bei Josuttis seinem latenten Enthusiasmus und einer Vorliebe für das Spontane geschuldet. Das lässt sich am Beispiel seiner „energetischen“ Homiletik deutlich machen.19 Beim Betreten der Kanzel soll die Pastorin keinen ausformulierten Text vorliegen haben, sondern nur ein grobes Manuskript mitnehmen. Für uns entscheidend ist, dass vor allem das Ende noch nicht festzustehen habe, denn die Predigt sei eine Expedition in das Unbekannte. Diese Theologie, die positiverweise mit der Wirksamkeit Gottes rechnet und deshalb der Spontanität Raum geben 16
Ebd., 78. Ebd., 79. 18 Ebd., 79f. 19 Vgl. hierzu: ebd., 102-118. Das hier Ausgeführte bedeutet bei Josuttis aber keine knappere Vorbereitung, sondern eine wesentlich intensivere, denn Vorbereitung ist bei ihm weniger Vorbereitung der Predigt als Vorbereitung des Predigers. 17
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will, ist deshalb kritisch gegenüber einer jeden Organisierbarkeit des Glaubens eingestellt. Dieses organisierungskritische Element ist auch implizit leitungskritisch. Organisation ist nicht das Eigentliche, denn das ist die Begegnung mit dem Heiligen. Als Letztes ist hier der in der Forschung oftmals vertretene Kritikpunkt anzuführen, dass bei Josuttis ein starkes Gegenüber von Amt und Gemeinde vorliege. Das betrifft natürlich auch die Führungs- und Leitungsfrage. So kommt Wagner-Rau zu dem Ergebnis, dass bei Josuttis der Pfarrer einsam dastehe.20 Bei ihm liege ein Leitungsmodell ohne Kooperation und Team vor. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Petry, der seine Kritik an Josuttis früherem Leitbild vom Pfarrer als Propheten deutlich macht: „Der Prophet im Besitz der Wahrheit bleibt im Gegenüber zur Gemeinde, die er belehren muß.“21 An dieser Führungskonzeption könne aber nicht mehr festgehalten werden. Es bleibt also fraglich, ob Josuttis pastoraltheologischer Entwurf dem Grundgedanken des Allgemeinen Priestertums Rechnung zu tragen vermag. Denn hier wird der Pfarrer, wenn auch nicht beabsichtigt, zum Mittler zwischen dem Heiligen und der Gemeinde. Da ist der Weg zu einem priesterlichen Amtsverständnis nicht mehr weit. 5.1.3. Die kontextuelle Verortung Das Konzept von Manfred Josuttis ließe sich insofern als postmodern bezeichnen, als es an neuere oft als postmodern bezeichnete religiöse Suchbewegungen anknüpft. Dazu passt der zurzeit populäre Spiritualitätsbegriff, dem Josuttis einen hohen Stellenwert einräumt. Auch ist sein Begriff des Heiligen vergleichsweise pluralismusfähig, weil er ihn nicht spezifisch christlich-dogmatisch herleitet, sondern religionsphänomenologisch. Seine Fokussierung auf das religiöse Erleben könnte zu Schulzes Rede von der Erlebnisgesellschaft passen. Dennoch steht die Auseinandersetzung mit kirchlichen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen bei Josuttis insgesamt deutlich im Hintergrund.22 Übertrüge man seinen spezifischen Begriff von Führerschaft nun auf das Themenfeld von „Führen und Leiten“, so käme man zu einem modern anmutenden Führungsverständnis, mit einer erheblichen Asymmetrie zwischen Führendem und Geführtem. Für die Frage, wie sich „Führen und Leiten“ unter spätmodernen Bedingungen zu vollziehen habe, ist Josuttis somit wenig hilfreich, höchstens in dem Punkte, dass er auf die in der Postmoderne womöglich gewünschte spirituelle Dimension von Führung hinweist.
20
Wagner-Rau (2004), 450ff. Petry (2001), 120. 22 Dieser Kritikpunkt wird auch von Wagner-Rau vorgetragen. Vgl. Wagner-Rau (2004), 450ff. 21
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5.1.4. Kritische Würdigung In Auseinandersetzung mit Josuttis’ Entwurf wird erstens deutlich, dass Führung nicht immer gleich Führung ist. Damit wird die Praktische Theologie implizit vor die Aufgabe gestellt, die Tätigkeiten von „Führen und Leiten“ und „Geistlicher Begleitung“ sachlich und semantisch voneinander zu unterscheiden. Zweitens definiert Josuttis den Pfarrer über die spirituelle Dimension und unterstreicht damit den Punkt, der diesen Beruf am stärksten von anderen abhebt. Hierin ist sicherlich ein wesentlicher Grund für die breite Rezeption zu sehen. Damit ist der Themenbereich „Führen und Leiten“ vor die Aufgabe gestellt, deutlich zu machen, wo hier die spirituelle Dimension zum Ausdruck kommt. Worin besteht also das „Geistliche“ in der „Geistlichen Leitung“, worin der spezifisch christliche Charakter? Drittens kommt Josuttis immer wieder auf die Machtproblematik zu sprechen, die mit der Führungsthematik stets verbunden sei. Die Schwierigkeit wird benannt, jedoch nicht zufriedenstellend gelöst. Die Aufgabe, Leitung und Macht einander zuzuordnen, bleibt bestehen. Der vierte und letzte Punkt verweist in eine ähnliche Richtung. Mit Wagner-Rau liegt bei Josuttis ein priesterliches Amtsverständnis vor, das den Pfarrer zum Mittler zwischen dem Heiligen und der Gemeinde macht. Hier führt einer und die anderen folgen. Daraus ergäbe sich ein massiv asymmetrisches Führungsverständnis, das spätmodern wenig anschlussfähig ist. Auch damit ist wieder die Frage nach „Macht, Leitung und Spätmoderne“ gestellt. 5.2.
Isolde Karle – Der Pfarrberuf als Profession
5.2.1. Theologische Grundentscheidungen Karle entwirft ihr pastoraltheologisches Professionsmodell in Abgrenzung zu pastoralpsychologisch orientierten Ansätzen, denen sie eine Subjektivierung des Pfarramtes vorwirft.23 Das habe zu einer Überlastung von Pfarrern, aber ebenso zu einer Verunsicherung von Gemeinden geführt. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt deshalb nicht bei der Psychologie, sondern bei der Soziologie. Karle orientiert sich „in soziologischer Hinsicht an der Professionstheorie von Rudolf Stichweh, an der Gesellschafts- und Kommunikationstheorie von Niklas Luhmann und an der Interaktionstheorie von Erving Goffman, die Luhmann im Zusammenhang seiner Kommunikationstheorie rezipiert.“24 Nach Luhmann zeichne sich die Moderne dadurch aus, dass die Gesellschaft nicht mehr einheitlich sei, sondern sich in Funktionssysteme ausdifferenziert habe. Der moderne Mensch partizipiere an verschiede23 24
Vgl. Karle (2001), 11ff. Ebd., 25.
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nen Teilsystemen, die ihm jeweils eine spezifische Sachthematik vermitteln: Die Medizin Gesundheit, das Bildungssystem Bildung und das Religionssystem eben den Glauben. Nun sei es dazu gekommen, dass manche Funktionssysteme die Vermittlung ihrer Sachthematik über die Ausbildung von Professionsberufen gelöst haben, so vor allem die Medizin über den Allgemeinmediziner, das Rechtssystem über den Juristen oder die Religion über den Pfarrberuf. Das sind die klassischen drei Professionen, deren Sachthematiken mit „Krankheit, Schuld und Seelenheil“25 eine besondere gesellschaftliche Relevanz haben. Der Pfarrberuf, nun als Profession bestimmt, zeichnet sich nach Karle durch zwei spezifische Eckpunkte aus: die Vermittlung einer Sachthematik und eine besondere Interaktionsbeziehung zum Gegenüber. Der Pfarrer vermittelt die Sachthematik Glaube. Das ist dogmatisch bewusst offengehalten. Dennoch plädiert Karle dafür, dass Kirche sich wieder mit ihrem Proprium beschäftigen soll und nicht in die Sachthematiken anderer Professionen ausweiche. Religion sei in der Linie von Schleiermachers26 Reden nicht Metaphysik und Moral. Der zweite Eckpunkt ist die Interaktion. Die „Interaktion wird systemtheoretisch als eine bestimmte Form der Kommunikation verstanden, nämlich als Kommunikation unter Anwesenden.“27 Für das Gelingen jener pfarramtlichen Kommunikation mit den Mitmenschen ist für Karle vor allem das Entstehen von Vertrauen zentral. Dieses Vertrauen entstehe nun vor allem durch die Erwartbarkeit von Verhalten.28 Deshalb fordert Karle für den Pfarrberuf eine spezifische Professionsethik ein. Menschen sollen bei ihrer Kommunikation mit unterschiedlichen Pfarrern so prinzipiell ein stets gleiches Verhalten erwarten können. In Analogie zum Allgemeinmediziner zeichnet Karle insgesamt das Bild vom Pfarrer als Generalisten. Professionalisierung meint nicht Spezialisierung, sondern die Ausbildung der Rolle eines Allgemeinpraktikers als Kernrolle.29 Er muss nicht alles tun, ist aber prinzipiell zuständig und ansprechbar. Wird das Bild vom Pfarrer als Professionellem in Analogie zum Allgemeinmediziner entworfen, so fällt auf, dass mit diesem Leitbild Asymmetrien in den Beziehungsmustern einhergehen, wie es z.B. an dem Verhältnis von Arzt und Patient deutlich wird. Das gesteht Karle auch zu: „Alle Funktionssysteme haben für die Teilnahme am jeweiligen Funktionssystem Rollenasymmetrien ausdifferenziert.“30 Mit der Professionstheorie geht also ein Gegensatz zwi25
Ebd., 31. Schleiermacher ist für Karle prägend. Das gilt schon für die Herleitung der Professionstheologie, denn Karle kann an seiner Definition der Theologie als positive Wissenschaft gemeinsam mit Jura und Medizin anknüpfen. Vgl. ebd., 180-192. 27 Ebd., 52. 28 Es sei angemerkt, dass damit einseitig nur einer von mehreren Faktoren, welche die Bildung von Vertrauen fördern, benannt wird (ա 10.4.). 29 Vgl. ebd., 236. 30 Karle (2000), 509. 26
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schen Leistungs- und Publikumsrolle einher. Das steht offensichtlich in erheblicher Spannung zur Lehre vom Allgemeinen Priestertum. Deshalb beschäftigt sich Karle ausführlich mit diesem Problem. So weist sie z.B. darauf hin, dass die evangelische Kirche „in besonders hohem Maße Ausgleichs- und Überbrückungstendenzen entwickelt [hat], die die Schärfe des Gegensatzes von Leistungs- und Publikumsrolle abschwächen und das Bewußtsein dafür lebendig halten, daß es sich bei der Unterscheidung Pfarrer/Pfarrerin und Gemeinde tatsächlich nur um eine funktionale Differenzierung handelt.“31 Ebenso unterstreicht Karle in ekklesiologischer Hinsicht die Bedeutung der Ortsgemeinde als Parochie32 und betont die Relevanz von Kasualien als typische Situation eines Professionellen.33 Ebenso unterstreicht Karle mit Begriffen wie Interaktion oder „Kommunikation unter Anwesenden“ den grundlegenden Gemeinschaftsbezug des Christentums, welcher praktisch-theologisch durchaus umstritten ist (ա 15.). 5.2.2. Führen und Leiten Welche Implikationen hat jener professionstheoretische Ausgangspunkt nun für das Thema „Führen und Leiten“ bei Karle? Dass Pfarrerinnen führen und leiten, wird hier nicht verneint, tritt aber in den Hintergrund.34 So findet im Rahmen ihres Buches „Kirche im Reformstress“35 im Gegensatz zu Grethlein keine Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern das Pfarramt ein leitendes Amt sei, statt. Dabei wäre das naheliegend gewesen, da sich Karle hier mit dem EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ auseinandersetzt und dort die These vom Pfarramt auch als leitendem Amt vertreten wird. Karle bringt allerdings ihre Vorstellung zum Ausdruck, wie sie sich Führung seitens der Kirche gegenüber der Pfarrerschaft vorstellt, so dass sich daraus indirekt ableiten lässt, was Karle unter Führung und Leitung innerhalb einer Gemeinde verstehen könnte. Hier herrscht nun der Grundtenor einer Leitungsskepsis vor, der sich in einer Reserviertheit gegenüber einer Steuer- und Organisierbarkeit von überkomplexen Prozessen in der Kirche ausdrückt.36 Daraus folgt die Konsequenz, dass man die Kirche am besten dadurch leite, dass man sie nicht zu viel leiten will.37 31
Karle (2001), 44. Vgl. ebd., 243-247. 33 Vgl. Karle (2004), 626f. 34 Ein Indiz dafür ist bspw. das Fehlen der Führungs- wie Leitungstätigkeit bei mancher Aufzählung der allgemeinen pastoralen Aufgaben bei Karle, so z.B. in: Karle (2001), 215-223. Hier werden Konfirmanden- und Religionsunterricht, Gottesdienst, Predigt, Musik, Seelsorge und Kasualien benannt. 35 Karle (2011). 36 Karle (2003): „In überkomplexen Zusammenhängen sind der Nachprüfbarkeit von Ergebnissen und Zielen prinzipiell Grenzen gesetzt.“ 37 Vgl. Karle (2011), 189. 32
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Im Hintergrund steht hier das hohe Maß von Eigenverantwortung für die Pfarrerschaft, die Karle aus dem Professionsmodell herleitet, und die sie nun gefährdet sieht. So gilt: „Personalführung ist Minimalführung, die sich auf einige ganz eng umgrenzte Funktionen beschränken sollte, alles, was darüber hinausgeht, verletzt die Würde des Professionellen.“38 Führungsskeptisch ist ebenfalls Karles scharfe Kritik an jeglichen Formen von Motivationstechniken durch Führungskräfte in der Kirche. Sie stellt hier die These auf, dass sich die entscheidende intrinsische Motivation eines Menschen „nicht von außen steuern oder erzeugen, allerdings beeinträchtigen oder zerstören“ lässt. Menschen lassen sich danach nicht motivieren, lediglich kann ihre bereits vorhandene intrinsische Motivation zerstört werden.39 Es wurde bereits erwähnt, dass nach Karle für die Professionsethik die Stabilisierung von Erwartungen einen hohen Stellenwert einnimmt. Hieraus ergeben sich indirekt Konsequenzen für das Thema „Führen und Leiten“. Denn ist es eine Aufgabe des Amtes, Erwartungen zu stabilisieren, dann erschwert dies ein Leitungsverständnis, das kreativprogressiv neue Schritte in eine Kirche der Zukunft gehen möchte. So impliziert die tendenziell konservative Grundhaltung, die sich durch die bisherigen Arbeiten Karles zieht, eine gewisse Distanz zu Leitungsfragen. Gleiches gilt auch für die Ekklesiologie, welche dem Professionsmodell inhärent ist. Denn die mit Professionsberufen einhergehende Differenzierung in eine Leistungs- und eine Publikumsrolle macht es schwierig, Gemeinde selbst als einen aktiven Moment zu denken. Das wird an der Analogie zum Allgemeinmediziner deutlich: Hier gibt es i.d.R. keine Gemeinde der Kranken. Gibt es jedoch keine zu leitende Gemeinde, dann tritt die Frage nach dem leitenden Amt automatisch in den Hintergrund. So verringert die implizite Ekklesiologie des Professionsmodells die Relevanz von Leitungsfragen.40 Die bisherigen Ausführungen lassen sich gut mit den Worten von Hermelink zusammenfassen, wonach es bei Karle zu einer „Marginalisierung der Gemeindeleitung“ komme.41 Dennoch greifen diese Worte 38
Ebd., 216. Ihr Fazit lautet: „Alle Motivationstechniken sind letztlich paternalistisch.“ ebd., 213. Karle ist bei ihrem Rekurs auf die Motivationsforschung leider einseitig und fokussiert sich hauptsächlich auf die Rezeption von Reinhard K. Sprenger, der ob seiner motivationskritischen Einseitigkeit umstritten ist. In Summe hat das Motivieren von Mitarbeitern gleichsam Chancen und Grenzen. Zwar kann Mitarbeiterinnen nicht von außen vollständig ein „Sinn vermittelt“ werden. Dennoch gibt es so etwas wie „Sinnkopplung“, also eine Verbindung der intrinsischen Motivation eines Mitarbeiters mit einer externen Vision. Mit Sylvia Jumpertz geht es dann eher um „Sinnentfaltung“ statt um „Sinnstiftung“. Vgl. Jumpertz (2015). 40 Dagegen muss gesagt werden, dass Karle ausdrücklich der Ortsgemeinde einen hohen Stellenwert zuweist. Die hier angedeuteten ekklesiologischen Implikationen der Professionstheorie möchte sie ausdrücklich vermeiden. Ob das jedoch gelingt, kann bezweifelt werden. 41 Hermelink (2011), 252. 39
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meines Erachtens zu kurz, denn bei Karle finden sich ebenfalls Spuren einer Hochschätzung von Leitung. Denn Karle kann ihr professionelles Verständnis des Pfarramtes als ein „Dienst am Wohl und Heil der Gemeinde“42 explizieren. Die Pfarrerin als Leiterin wirkt dann stimulierend und koordinierend auf das Allgemeine Priestertum ein. Nicht durch die Etablierung von Hierarchien, sondern gerade durch die Stabilisierung von Erhaltenserwartungen, die nach Karle die Basis für ehrenamtliches Engagement erst schafft. Anregend ist dabei vor allem ihre systemtheoretisch motivierte Kritik an der verbreiteten Vorstellung einer Machtsummenkonstanz. Danach wäre mehr Macht für das Ehrenamt nur durch weniger Macht auf Seiten des Pfarramtes möglich. Nach Karle sei aber gerade das Gegenteil der Fall: Ein starkes Ehrenamt brauche ein starkes Pfarramt. Beides schließe sich nicht aus, sondern bedinge sich gegenseitig.43 Deshalb kann das Leitbild vom Pfarrer als Generalisten auch eine leitende Funktion auf das Ganze der Gemeinde hin implizieren. „Generalistenrolle meint [...] als Professionelle und theologisch Gebildete das Ganze im Blick zu behalten und möglichst besonnen und umsichtig mit anderen zusammen zu leiten.“44 In diesem Duktus schließt sie bereits 2001 fazitartig: „Idealiter leiten professionelle Pfarrerinnen und Pfarrer die Gemeinden stimulierend, impulsgebend und koordinierend und fördern gerade so die Selbständigkeit von Gemeindegliedern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.“45 Diese Bandbreite unterschiedlicher Aussagen zum Thema „Führen und Leiten“ erscheint bei Karle unverbunden und wird auch als eigenes Thema nicht explizit reflektiert. Man wird insgesamt jedoch beobachten können, dass eine Tendenz zur Leitungsskepsis vorherherrscht. 5.2.3. Die kontextuelle Verortung Summa summarum ist Karles pastoraltheologische Professionstheorie eher ein modernes als ein postmodernes Modell, was sicherlich im spezifischen soziologischen Referenzrahmen begründet liegt. Hierzu passt auch die erinnernd-erhaltende Funktion, die Karle der Religion zumisst. Religion halte – in positiver Aufnahme von Assmanns Theorie des „kulturellen Gedächtnis“ – das Gestern wach.46 Als Beispiel für diese modernen Züge kann der Umgang mit Unsicherheiten und Schwächen gelten. Nach Karle hat der Professionelle die Kommunikation seiner Unsicherheiten gegenüber der Gemeinde zu unterlassen, damit kein Vertrauen erschüttert wird.47 Eine spätmoderne Sichtweise 42 43 44 45 46 47
Karle (2001), 165. Vgl. hierzu: ebd., 165-168. Karle (2011), 161. Ähnlich auch 159. Karle (2001), 328. Ähnlich auch 168. Oder auch: Karle (2009), 197. Vgl. Karle (2001), 223ff. Vgl. ebd., 207.
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sieht Vertrauen und Einfluss jedoch eher dort entstehen, wo Schwächen explizit offengelegt werden (ա 10.4.). Möglichweise ließe sich die bei Karle vorhandene Skepsis gegenüber Steuer- und Organisierbarkeit und Autorität als spätmodern bezeichnen. Dieser Gedanke stammt von der Systemtheorie und ist Karle bspw. mit Breitenbach gemein. Der spezifisch soziologische Referenzrahmen, der Karles Professionstheorie zu Grunde liegt, trägt eher modern/spätmoderne als postmoderne Züge. Konkrete Impulse für Führungs- und Leitungsprozesse unter spätmodernen Bedingungen finden sich bei ihr jedoch kaum. 5.2.4. Kritische Würdigung Karle gelingt es mit ihrer Professionstheorie die gegenwärtige Wahrnehmung der Rolle von Pfarrern plausibel zu erfassen. Pfarrerinnen werden als Professionelle wahrgenommen. Dieses hohe Maß an Plausibilisierungskraft erklärt die breite Rezeption ihres Ansatzes. Zu fragen ist allerdings, ob daraus handlungsleitend ein Leitbild vom Pfarrer als Professionellen abgeleitet werden muss, denn das kommt strukturell einem „naturalistischen Fehlschluss“ gleich, da vom Sein auf das Sollen geschlossen wird. Es hat sich gezeigt, dass das Professionsmodell hinsichtlich der Frage nach „Führen und Leiten“ die Gefahr einer Asymmetrie zwischen Pfarramt und Allgemeinem Priestertum birgt und damit indirekt auch zwischen Führendem und Geführtem. Deshalb wird jenem Professionsmodell auch der Vorwurf der Pfarrzentrierung gemacht. Diese Kritik trifft Karle aber so nicht, denn sie betont ausdrücklich die Bedeutung des Allgemeinen Priestertums. Es muss deshalb differenzierter formuliert werden. Für Karle gelten die folgenden 5 Sätze, wobei sich jeder vom vorhergehenden ableiten lässt: 1) Alle Christen sind Priester. 2) Alle Christen sind Prediger. 3) Das Pfarramt ist eine Sonderform des Predigtamtes. 4) Es ist funktional als Dienst auf die Gemeinde hin konzipiert. 5) Diesen Dienst versieht es als Generallist/Profession. Karle kann deshalb nicht vorgeworfen werden, dass sie 1)-4) nicht teilt, sondern nur, dass es eine Spannung zwischen 1)-4) und 5) gibt. Die mit 5) einhergehende Einteilung in Leistungs- und Publikumsrolle steht zu 1)-4) in einem Spannungsverhältnis. Insgesamt scheint das Leitbild vom Professionellen für die Frage nach Leitung in der Gemeinde unter postmodernen Bedingungen weniger weiterzuhelfen. Allerdings – und das hat Karle in Ansätzen auch gezeigt – lässt sich das Bild von Generalisten auch mit dem Gesichtspunkt einer das Ganze leitenden Tätigkeit füllen. Darüber hinaus zeigt sich hier einmal mehr die Dringlichkeit, mit der die kybernetische Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit von Steuerungs- und Organisationsprozessen zu bearbeiten ist.
94 5.3.
Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
Christian Grethlein – Pfarrer – ein theologischer Beruf!
5.3.1. Theologische Grundentscheidungen 2009 schaltete sich Christian Grethlein mit „Pfarrer – ein theologischer Beruf!“48 in die pastoraltheologische Diskussion ein. Bei seinem Verständnis des Pfarrberufs dominiert vor allem ein historischer Zugang. So zeichnet er ausführlich die Genese dieses Berufes von den Anfängen hin zur heutigen Situation nach. Jene historische Dimension hat dabei für Grethlein normative Implikationen für die Frage des Pfarrberufes. An die Augustana anschließend unterscheidet er bei den Aufgaben von Pfarrern in das ius divinum und das ius humanum.49 Mit dieser Unterscheidung in „menschliches Recht“ und „göttliches Recht“ unterteilt Grethlein die pastoralen Aufgaben in solche, die konstitutiv dazugehören und in solche, die kontextabhängig sind und von Epoche zu Epoche variieren können. Zu jenen konstitutiven Aufgaben gehören im Anschluss an die CA Predigt und Sakramentsverwaltung.50 Zu den Aufgaben „menschlichen Rechts“ zählte einst z.B. die geistliche Schulaufsicht, heute sind es Tätigkeiten wie Seelsorge oder Leitung. Ekklesiologisch betont Grethlein die Bedeutung des Allgemeinen Priestertums. Die Pfarrer sind eben keine „priesterlichen Heilsmittler; sie haben vielmehr vor allem die Aufgabe den Bezug christlichen Lebens zur biblischen Tradition zu bewahren und zu aktualisieren.“ 51 Das christliche Leben mit der biblischen Tradition in Verbindung zu setzen – das ist die genuin theologische Aufgabe des Pfarrberufes, die, wie der Titel schon sagt, bei Grethlein die zentrale Aufgabe von Pfarrerinnen ist. Das geschehe vor allem in der expliziten Kommunikation des Evangeliums (Predigt) und in der Feier der Sakramente.52 In dieser Linie sieht er in der Öffentlichkeit („publice docere“, CA XIV) das Spezifikum des Amtes gegenüber dem Allgemeinen Priestertum.53 Diese öffentliche Dimension, die über das Gemeindeleben hinausgeht, möchte Grethlein heute im Pfarrberuf enthalten wissen, weshalb er mehrfach vor einer „Verkirchlichung“ des Amtes warnt.54 48
Grethlein (2009). Vgl. ebd., 73f. 50 Vgl. ebd., 80: „Die grundlegenden Aufgaben von Kirche, wie sie Artikel VII der Confessio Augustana formuliert, die Lehre des Evangeliums und die Darreichung der Sakramente, sind zugleich die Grundfunktionen des Pfarrberufs in den evangelischen Kirchen.“ 51 Ebd., 104. 52 Vgl. ebd.. 53 Vgl. ebd., 73. 54 So schon 2001: Vgl. Grethlein (2001), 393. 2001 positionierte sich Grethlein zwischen Josuttis und Grözinger. Das Pfarramt sei eine rituelle (Josuttis) und eine intellektuelle Aufgabe (Grözinger). Bemerkenswert ist ebenso, dass Grethlein 2001 vom „christlichen Beruf“, 2009 dann vom „theologischen Beruf“ spricht. 49
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Für den theologischen Beruf des Pfarrers ist nun theologische Bildung von Nöten, weshalb er die Notwendigkeit einer universitärtheologischen Ausbildung von Pfarrern unterstreicht.55 Dabei merkt er jedoch an, dass die universitäre Theologie sich nicht nur durch den Gegenstandsbezug auszeichnen dürfe. Dieses geschehe leider zu oft. Sie brauche ebenfalls den Berufsbezug. Theologie ist – und das ist entscheidend – für Grethlein eben primär eine Vermittlungsaufgabe. Dementsprechend partizipiert der Pfarrberuf als theologischer Beruf an jener Vermittlungstätigkeit, indem er den Bezug des christlichen Lebens zur biblischen Tradition wahrt und aktualisiert. Die theologische Dimension des Pfarrberufs sieht Grethlein des Weiteren in dem Impulspapier „Kirche der Freiheit“ bedroht. Mit dem hier vorhandenen pastoralen Leitbild des „Geistlichen Leiters“ setzt er sich kritisch-konstruktiv auseinander. Denn Grethlein sieht auch Verbindungslinien zwischen Leitung und Theologie. Das kommt in dem folgenden Zitat zum Ausdruck: „Schließlich erfordert die in ‚Kirche der Freiheit‘ empfohlene ‚leitende‘ Tätigkeit der Pfarrer mit ihren erheblichen pädagogischen Implikationen eine klare inhaltliche Ausrichtung. Pfarrersein ist dann – wie die traditionelle Ausbildung nahe legt – vor allem ein theologischer Beruf. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Zeitbudget der Pfarrer erfordern Reduktionen bei den im Lauf der Zeit zugewachsenen Tätigkeiten. Denn theologische Arbeit benötigt Zeit für Lesen, Nachdenken, Meditation und Gebet sowie kollegiales Gespräch. Hier kann die demographische Entwicklung eine Hilfe sein. Denn dadurch vergrößert sich die Zahl von Menschen, die keiner Erwerbsarbeit mehr nachgehen, aber durchaus noch leistungsfähig und -bereit sind. Vor allem hinsichtlich der Verwaltungsaufgaben könnte ihre Mitarbeit zur notwendigen Entlastungen der Pfarrer (und nicht selten zu 56 Qualitätssteigerungen) beitragen.“
An diesen Worten wird zum einen deutlich, wie sich Grethlein den Pfarrberuf als „theologischen Beruf“ praktisch vorstellt. Der Pfarrer soll mehr Raum haben zum theologischen Arbeiten, von anderen Aufgaben (ius humanum) müsse er entlastet werden. Zum anderen zeigen sich hier zahlreiche Aspekte seines Führungs- sowie Leitungsverständnisses. Dem soll nun weiter nachgegangen werden. 5.3.2. Führen und Leiten Grundsätzlich wird „Führen und Leiten“ in „Pfarrer – ein theologischer Beruf!“ vergleichsweise oft thematisiert. Das war 2001 so noch nicht der Fall. Da unterstrich Grethlein auch schon die „theologische Dimension“ des Pfarrberufs, aber hauptsächlich als „Konzentration auf biblische Texte und liturgische Formen“57. 2009 hingegen sieht er eine enge 55 56 57
Vgl. Grethlein (2009), 106-112. Ebd., 129f. Grethlein (2001), 395.
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Verbindung zwischen der leitenden und der theologischen Dimension.58 Dies ist der kritischen Auseinandersetzung mit „Kirche der Freiheit“ geschuldet. Wenn Pfarrer leiten, dann nicht im Sinne der Verwaltung – hier sollen sie entlastet werden – sondern in einem theologischen Sinne. Leitung heißt Entscheidungen treffen und dafür werden Kriterien benötigt. Diese Kriterien liefert nun wiederum die Theologie. Pfarrer brauchen also eine theologische Urteilsfähigkeit, um leiten zu können. Da Kirche insgesamt vor der Herausforderung steht, Einsparungen vorzunehmen, müssen Pfarrer vor Ort Prioritäten und Posterioritäten für kirchliches Handeln festlegen.59 Was ist zu tun und was zu lassen? Hier treffen nach Grethlein Leitung und Theologie als Vermittlungsaufgabe zusammen. Leiten heißt für Grethlein also Theologe sein. In Grethleins Grundschema von ius divinum und ius humanum ist die Führungs- und Leitungstätigkeit auf die Seite des ius humanum einzuzeichnen. Allerdings nicht in einem additiven Sinne, sondern an Stelle von anderen Aufgaben. Er schreibt über geistliche Leitung: „Sie ist – wie früher die standesamtliche oder schulaufsichtliche Tätigkeit der Pfarrer – eine zu den konstitutiven Funktionen des Pfarrberufs hinzutretende weitere Aufgabe. Allerdings darf sie realistischer Weise nicht einfach zu den bestehenden Anforderungen hinzugefügt werden. Vielmehr ist diese neue Aufgabe nur erfüllbar, 60 wenn sie an die Stelle bisheriger Tätigkeiten tritt.“
Grethlein führt jedoch nicht weiter aus, was er genau unter der Führungs- und Leitungsaufgabe versteht. Er unterstricht zwar das „Dass“ der Leitung, füllt jedoch das „Wie“ nicht weiter aus. Allerdings erhält (Personal-)Führung bei Grethlein kaum Beachtung. 5.3.3. Die kontextuelle Verortung Bereits den Grundgedanken, Leitung als theologische Aufgabe zu verstehen, gewinnt Grethlein in Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen kulturellen Veränderungen. Denn jene „Veränderungen in Kultur und Gesellschaft“61 bringen ja erst die Notwendigkeit mit sich, dass in der Kirche nicht alles beim Alten bleiben kann und vor Ort Prioritäten und Posterioritäten festgesetzt werden müssen. Dass Leitung eine Aufgabe für Pfarrerinnen ist, wird also bei Grethlein nicht als gegeben vo58
In seiner „Praktischen Theologie“ findet das Thema „Führen und Leiten“ jedoch keine Berücksichtigung. Vgl. Grethlein (2012). 59 Vgl. Grethlein (2009), 129. 60 Ebd., 112. Dabei ist die Gegenwart keineswegs die erste Zeit, in der Leitung auf Seiten des ius humanum Teil der pastoralen Aufgabe ist: „Auf Grund der Bildungsdifferenz zwischen Pfarrer und Gemeindegliedern war der Pfarrer lange Zeit in einer gleichsam natürlichen Leitungsfunktion. Sie schlug sich u.a. institutionell in seiner Aufsichtsfunktion über die Schule – und je nach konfessioneller Tradition auch in Aufgaben der Kirchenzucht – nieder.“ Vgl. Grethlein (2001), 377. 61 Grethlein (2009), 126.
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rausgesetzt, sondern in Auseinandersetzung mit dem Kontext erarbeitet. Das kommt schon bei der Verortung auf Seiten des ius humanum zum Ausdruck. Wie Leitungshandeln angesichts der gegenwärtigen spät- wie postmodernen Herausforderungen modifiziert geschehen könnte, wird von Grethlein jedoch nicht thematisiert. Schon in der Zweiteilung von ius divinum und ius humanum kommen die beiden Pole zum Ausdruck, zwischen denen Grethlein seine Pastoraltheologie entwirft. Einerseits möchte er der historisch gewachsenen Gestalt des Pfarrberufes Rechnung tragen, andererseits auch die gegenwärtigen Herausforderungen ernst nehmen. Einerseits bedarf es in einer religiös pluralisierten Zeit der „klaren Orientierung am Evangelium“62, andererseits muss dieser Pluralität auch Rechnung getragen werden. Dazu ist eine Theologie als Vermittlungsaufgabe notwendig, um mit jener Pluralität kompetent umzugehen. Es lässt sich hierbei jedoch feststellten, dass Grethlein stärker die Bedeutung des historisch Bestehenden betont. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch PohlPatalong, wenn sie konstatiert, dass Grethlein zwar den Wandel des historisch gewachsenen Pfarrbildes ernstnimmt, aber im Vergleich zu Wagner-Rau diesem Wandel mit mehr Skepsis begegnet.63 5.3.4. Kritische Würdigung Die Ausführungen von Grethlein sind insofern für das weitere Vorgehen gewinnbringend, als dass hier ein pastoraltheologischer Entwurf vorliegt, der die Aufgabe von „Führen und Leiten“ als Teil pastoraler Praxis prinzipiell bejaht. Mit dem Grundschema von ius divinum und ius humanum gelingt es auch, das „Dass der Leitung“ theologisch zu begründen. Die enge Verzahnung von theologischer und leitender Arbeit im Pfarrberuf klingt attraktiv, weil sie einen Konsens zu bilden scheint. Diese Verzahnung bejaht die universitär-theologische Ausbildung von Pfarrern und trägt gleichsam den gegenwärtigen Herausforderungen über den Leitungsbegriff Rechnung. Doch ob diese Gleichsetzung von leitendem und theologischem Handeln sinnvoll ist, ist eine offene Frage. Anfragen lassen sich hier andeuten: Grethleins Leitungsverständnis birgt die Gefahr einer Unterbestimmung der reformatorischen Ekklesiologie. Denn wenn hier von Leitung gesprochen wird, scheint das Allgemeine Priestertum in den Hintergrund zu geraten. Wie oben beschrieben brauche der Pfarrer Freiraum zum eigenen theologischen Arbeiten. Was er in diesem Freiraum für sich selbst theologisch erarbeitet hat, bringt er dann in Form von Kriterien über Leitung in die Gemeinde ein. Diese Form von Leitung als Theologie ließe sich als ein „Input-Schema“ bezeichnen. Als theologischer Experte (Vermittlungsaufgabe!) leitet der Pastor die Ge62 63
Ebd. Vgl. Pohl-Patalong (2010), 509.
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meinde. Zu diesem Input-Schema passt auch, dass Leitung nach Grethlein „erhebliche pädagogische Implikationen“64 habe. Wenn Grethlein davon spricht, dass Ehrenamtliche das Pfarramt entlasten könnten, kommt darin ein Muster zum Ausdruck, wonach das Ehrenamt eher um des Pfarramtes willen existiert als umgekehrt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich im Anschluss an Grethlein gut plausibilisieren lässt, dass Führung und Leitung gegenwärtig eine wichtige Aufgabe im Pfarrberuf darstellt, das wie – gerade unter spätmodernen Bedingungen – jedoch unkonkret bleibt. 5.4.
Ulrike Wagner-Rau – Auf der Schwelle
5.4.1. Theologische Grundentscheidungen Die pastoraltheologischen Impulse von Ulrike Wagner-Rau kreisen im Wesentlichen um die beiden Stichworte der „Schwelle“ und der „Gastfreundschaft“.65 Ausdrücklich legt sie damit aber kein detailliert ausgearbeitetes Modell oder einen konkreten Strukturvorschlag vor, sondern möchte vielmehr eine orientierende Perspektive vorstellen. Hinzu kommt, dass die Autorin den Ausgangspunkt bei den Veränderungsprozessen nimmt, denen kirchliches Handeln zurzeit insgesamt unterliegt. Damit unternimmt sie den „Versuch, pastoraltheologische und kirchentheoretische Überlegungen miteinander zu verschränken“.66 Kirchentheorie und Pastoraltheologie korrespondieren also bei Wagner-Rau miteinander. Die (Tür-) Schwelle ist der erste zentrale Begriff. Pfarrer befinden sich auf der Schwelle. Das ist einerseits deskriptiv gemeint, denn der Pfarrberuf befindet sich in einer Übergangszeit von alten Leitbildern hin zu der Entwicklung von neuen Profilen. Hier meint die Schwelle also die Übergangssituation, in der vieles in Bewegung ist.67 Andererseits impliziert der Schwellen-Begriff eine konzeptionelle Dimension für den Pfarrberuf. Denn Wagner-Rau siedelt den Pfarrer „auf der Schwelle“ zwischen der (Kern-) Gemeinde und der Gesellschaft an. Diese beiden 64
Grethlein (2009), 130. Grethlein kann jedoch auch betonen, dass sich der Pfarrer als Theologe in einen „symmetrischen Kommunikationsprozess der Interpretationsgemeinschaft der Getauften einzubringen“ habe. Vgl. Grethlein (2012), 478. Das Verhältnis zwischen dem „theologischen“ Verständnis von Pfarramt und der gewünschten Begegnung von Gemeinde und Pfarrdienst auf Augenhöhe ist also in gewisse Hinsicht spannungsreich. 65 Diesen Entwurf hatte Wagner-Rau bereits 2004 in einem Aufsatz skizziert (Vgl. Wagner-Rau (2004)). 2009 erfolgte dann eine umfangreichere Konkretisierung (Vgl. Wagner-Rau (2009)). 66 Pohl-Patalong (2010), 507. Vgl. auch: Wagner-Rau (2009), 13. 67 Vgl. ebd., 32: „Mit der Transformation der Kirche gerät auch der Pfarrberuf in eine Schwellensituation.“
5. Führen und Leiten in der Pastoraltheologie
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Räume, jener der Gemeinde und jener der Gesellschaft, gelte es miteinander in Beziehung zu setzen. Das sei die öffnende Funktion des Pfarramtes. Und dies geschieht „auf der Schwelle“, die damit eine gleichsam verbindende, aber auch unterscheidende Funktion zwischen „Innen“ und „Außen“ hat. Ausdrücklich spricht sich die Autorin damit gegen eine vereinsmäßige Verkirchlichung von Pfarrerinnen aus.68 Sie sind eben nicht nur für die Kerngemeinde da. Der Schwellenbegriff biete für Pfarrerinnen deshalb die Chance, die Entwicklungen „innen“ aus einer „gewissen Distanz“69 zu betrachten. Auf dieser Linie betont Wagner-Rau deshalb konsequenterweise, dass sich das Pfarramt gegenüber dem Allgemeinen Priestertum nur durch den Aspekt der Öffentlichkeit70 unterscheide. Das Pfarramt verkündigt das Evangelium öffentlich, so wie es jeder Christ im Privaten tut. Die Öffentlichkeit ist also jener Raum der Schwelle zwischen Gemeinde und Gesellschaft. Von Jan Hendriks inspiriert führt Wagner-Rau nun den Gedanken der Schwelle zum Leitbild71 der „Gastfreundschaft“ weiter. Das ist die ekklesiologische Vision der Autorin. Gemeinde sei ein Ort der Gastfreundschaft. Menschen, die nicht dem kerngemeindlichen Leben angehören, sind hier als Gäste willkommen. Der Gastbegriff impliziert damit ebenfalls eine große Freiheit, denn man darf auch wieder gehen. „Man kann eintreten, und es besteht keine Erwartung, dass man bleibt.“72 WagnerRau betont dabei aber ebenfalls, dass Gast-Sein keineswegs mit PassivSein zu verwechseln sei. Der Gast wird nicht von der bestehenden Gemeinde missioniert, vielmehr bringt er sich selbst ein und bereichert so die Gemeinschaft. Der Begriff der Gastfreundschaft impliziert damit eine durchaus spätmodern zu nennende Ablehnung von exklusivabsolutem Denken von Gemeinde gegenüber einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft. An einem Ort der Gastfreundschaft können dann plural Differenzen stehen gelassen werden. Keiner muss zwangsläufig überzeugt werden, obwohl das auch geschehen könne. Hinter all dem steht der theologische Grundgedanke, dass Gott im Fremden begegnet, wie es bspw. an der Emmaus-Geschichte abzulesen sei.73 Wie ist nun die Aufgabe des Pfarrers in diesem Leitbild der Schwelle und Gastfreundschaft zu verstehen? „Die Kontakte auf der Schwelle zu pflegen, ist in besonderer Weise die Aufgabe der Pfarrerinnen und Pfarrer […] Dadurch wächst ihnen eine Vermittlungsaufgabe zwischen Innen und Außen zu. Denn von außen kommen Menschen auf sie zu, de68
Das Modell der Gastfreundschaft impliziert immer auch eine grundsätzliche Absage an vereinskirchliches Denken in der Kirchentheorie und Gemeindeentwicklung. Vgl. Wagner-Rau (2004), 458. 69 Vgl. Wagner-Rau (2009), 119. 70 Vgl. ebd., 120-122. 71 Vgl. ebd., 97. 72 Vgl. ebd., 99. 73 Vgl. ebd., 115-18.
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nen Glaube und kirchliches Leben in vieler Hinsicht fremd sind, aber die dennoch Erwartungen und Wünsche an die Kirche haben. Von Seiten engagierter Gemeindeglieder hingegen werden die Pfarrerinnen und Pfarrern nicht selten zu klaren Entscheidungen und Abgrenzungen gedrängt.“74
Der Pfarrer inszeniert also jene Begegnung zwischen Innen und Außen, den Ort der Gastfreundschaft. Das ist etwas anderes, als selbst Gastgeber zu sein. Denn die Rolle eines Gastgebers soll dem Pfarrer hier ausdrücklich nicht zukommen. Allein Gott sei der Gastgeber, was sich zeichenhaft in der Feier des Abendmahls zeige.75 Pfarrer sind selbst Gäste, aber nicht nur in der Gemeinde, sondern auch im gesellschaftlichen Leben, wo sie Begegnungen mit anderen Räumen suchen. In der Gemeinde jedoch kommt dem Pfarrer die Aufgabe zu, „die theologische und geistliche Qualität der Räume der Begegnung zu hüten.“76 Damit betont Wagner-Rau die theologische Aufgabe des Pfarrberufes. Was das in der pastoralen Praxis ganz konkret bedeuten könnte, führt sie jedoch nicht aus. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im pastoraltheologischen Entwurf Wagner-Raus das Bild der Pfarrerin als Vermittlerin implizit hervortritt. Das Bild der Schwelle macht dies deutlich. Die Tätigkeit des Vermittelns zwischen Innen und Außen ist somit für das Pfarramt zentral. 5.4.2. Führen und Leiten Es lässt sich erstens nüchtern konstatieren, dass dem Thema „Führen und Leiten“ in Wagner-Raus Pastoraltheologie nur eine marginale Bedeutung zukommt. „Führen und Leiten“ tritt als Teil des pastoralen Handelns eher in den Hintergrund. Zweitens lässt sich in Wagner-Raus Ansatz eine gewisse Distanz zwischen Pfarrerin und dem „vereinskirchlichen“ Teil der (Kern-)Gemeinde beobachten. Vor eine Vereinnahmung der Pastoren durch vereinskirchliche Gemeindegruppen warnt sie ausdrücklich und ordnet das Pfarramt in einem gewissen Abstand zu ihnen zwischen dem Gemeindeleben und der Gesellschaft an. Da stellt sich die Frage, ob es womöglich zwischen diesen beiden Beobachtungen einen Zusammenhang gibt. Also: Korrespondiert das Leitbild von Kirche als Herberge und vom Pfarramt auf der Schwelle und der damit verbunden Distanz zum vereinskirchlichen Teil des Gemeindelebens einerseits mit der Marginalität von „Führen und Leiten“ anderseits? Dieser Verdacht legt sich besonders nahe, wenn man Wagner-Raus Ausführungen mit jenen noch zu entfaltenden von Schneider und Lehnert (ա 5.5.) vergleicht, wo gerade die Zurüstung der Gemeindegruppen zum Dienst in der Welt ein großes Gewicht im pastoralen 74 75 76
Ebd., 95. Vgl. ebd., 101-104. Wagner-Rau (2004), 462.
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Aufgabenspektrum erhält. Hier treten die Unterschiede zu Wagner-Rau besonders deutlich hervor. Worin könnte nun ein möglicher Zusammenhang begründet liegen? Die meisten Führungs- und Leitungsmodelle setzen in irgendeiner Form die Gestaltung längerfristiger Beziehung voraus. Das Bild von der Herberge legt jedoch nicht den Aufbau von langfristen Beziehungen nahe, wenn sich hier auch die Gemeinschaft der Gäste kurzzeitig intensivieren kann. Darum ist es nur konsequent, wenn „Führen und Leiten“ in den Hintergrund tritt. Wo das Bild von losen Bindungsformen gegenüber dem Ideal vom Christen als engagiertem Ehrenamtlichen im Dienst an Gemeinde und Welt präferiert wird, da gerät Führung als Förderung und Begleitung ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen oder Leitung als Teamentwicklung ehrenamtlicher Gruppen leichter aus dem Blick. Darüber hinaus hält Wagner-Rau jenes „vereinskirchliche“ Christentum, auf das sich das Pfarramt nicht zu stark beziehen solle, nicht für zukunftsweisend. „Die Struktur der im Wesentlichen vereinskirchlich orientierten christlichen Gemeinde, wie sie sich in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhundert entwickelt hat und die das normierende Bild einer sehr verbindlichen, aktiven Zugehörigkeit in sich trägt, ist vorüber.“
Hier wird deutlich, dass Wagner-Rau „Vereinskirche“ mit „verbindlicher aktiver Zugehörigkeit“ gleichsetzt, wenigstens in dem Sinne, dass mit dem Ende des Gemeindemodells „Verein“ auch das Ende der „aktiven Zugehörigkeit“ gekommen sei. Da zahlreiche Leitungsmodelle jedoch eine Form von Aktivität und Zugehörigkeit voraussetzen, ist die Marginalität des Themas Leitung bei Wagner-Rau nur konsequent.77 Ist im Bild von der Gemeinde als Herberge „Führen und Leiten“ als Teil des pastoralen Handelns deshalb unmöglich? Man wird diese Frage nicht einfach verneinen können. Auch wenn Wagner-Rau dies selbst nicht weiter thematisiert, lassen sich jedoch Grundzüge von „Leitung in der Herberge“ andenken. Denn in der Herberge soll es ja durchaus zur Aktivität und Beteiligung verschiedenster Akteure kommen, die dann auch koordiniert, gestaltet und geleitet werden wollen. Eine solche Leitung müsste mit einer hohen Fluktuation der Beteiligten rechnen und sich darum etwa an den Grundzügen eines agilen Projektmanagements78 orientieren, wo für Produkte nur mit kurzen Entwicklungszyklen, sogenannten „sprints“, gerechnet wird. An einem Punkt äußert sich Wagner-Rau nun doch konkreter zum Leitungsthema. Sie widmet ihm einen kurzen Abschnitt mit dem Titel „Leitendes Amt“,79 wo sie grundsätzlich feststellt: „Pfarrer und Pfarrerinnen haben – je nach Struktur ihres Arbeitsfeldes verschiedene – Lei77 78 79
Ebd., 458. Vgl. Bittelmeyer (2011). Vgl. Wagner-Rau (2009), 130-132.
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tungsaufgaben.“80 Allerdings scheint diese Leitungsaufgabe weniger dem Pfarramt genuin anzugehören. Vielmehr ist Leitung eine Aufgabe, die dem Pfarramt durch die aktuelle Kirchenkrise zugewachsen ist. Im Angesicht der knapper werdenden Ressourcen müssen Pfarrer Einsparungen vornehmen, die Arbeit neu strukturieren und Perspektiven für die Zukunft entwickeln. Leitung hieße hier also, kirchliches Handeln den neuen Herausforderungen anzupassen. Es steht demnach weniger die Dimension personeller Führung im Vordergrund als vielmehr Leitung im Sinne von „geschäftsführenden und verwaltenden Aufgaben“.81 Hierbei begrüßt Wagner-Rau solche Vorschläge, die das Pfarramt von diesen Aufgaben entlasten wollen. Dennoch bleibt, „dass Pfarrerinnen und Pfarrer als Leitende die Transformationen der kommenden Jahre wesentlich gestalten und verantworten werden.“82 Was den Modus von Leitung betrifft, so kommt hier auch das plurale Grundverständnis Wagner-Raus zum Ausdruck. Der Pfarrer ist Vermittler, der die Begegnungen auf der Schwelle inszeniert und er tut dabei gut daran, „nicht zu viel regeln und ordnen zu wollen“83. Aber auch das Leitbild der Schwelle mit seiner implizierten Distanz beeinflusst den Modus von Leitung. Denn die Chance jener Distanz für den Leitenden auf der Schwelle ist, dass diese „Atempausen am Rand“84 den Raum für neue kreative Ideen freisetzen. 5.4.3. Die kontextuelle Verortung Ulrike Wagner-Rau kommt in ihrer Gesellschaftsanalyse ohne den Begriff der Postmoderne aus. Sie betont allerdings auch, dass es wichtig sei, das eigene pastoraltheologische Leitbild in der Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen kirchlichen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu entwickeln. Diesen kontextuellen Aspekt vermisst sie bspw. bei Josuttis und Karle.85 In ihrer eigenen Gesellschaftsanalyse orientiert sie sich am amerikanischen Soziologen Richard Sennett, der vor allem betont, dass heute von einer Arbeitnehmerin ein hohes Maß an Flexibilität verlangt wird.86 Für Bindungen gilt daraus folgend, dass sie „eine kurze Verfallszeit“87 haben. Aus dieser Beobachtung ergeben sich für Wagner-Rau ekklesiologische Konsequenzen, die vor allem in ihrer Absage an dauerhafte Bindungen im Leitbild der Gastfreundschaft zum Ausdruck kommen. 80 81 82 83 84 85 86 87
Ebd., 130. Ebd. Ebd., 131. Ebd. 129. Ebd. 132. Vgl. Wagner-Rau (2004), 454. Vgl. Wagner-Rau (2009), 35ff. Ebd., 36.
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„Ein solches Bild der Gemeinde als eines offenen Ortes der Gastfreundschaft […] verabschiedet sich von der Perspektive des Gemeindeaufbaus, jedenfalls insoweit es um das Ziel geht, dauerhafte Bindungen an die Kirchengemeinde herzustellen.“88
Das Leitbild der Gastfreundschaft ist damit implizit als spätmodern zu bezeichnen, insofern es der Skepsis gegenüber langfristigen Bindungen, also Phänomenen wie Subjektivierung und Individualisierung, Rechnung trägt. Aber auch explizit ist es postmodern, weil sich Wagner-Rau hierbei auf den Postmodernen Philosophen Jacques Derrida und sein „Gesetz der absoluten Gastfreundschaft“ bezieht. 89 Des Weiteren diskutiert sie mit den Fragen nach einer sich zunehmend pluralisierenden Religiosität90 und der Ausdifferenzierung der jeweils kirchlichen Situation vor Ort91 zwei weitere postmoderne Phänomene. Die Frage, wie „Führen und Leiten“ sich unter postmodernen Bedingungen kontextuell vollziehen soll, wird bei Wagner-Rau nicht gestellt. Hier ließen sich nur implizite Antworten geben. Bspw. kritisiert sie an Josuttis und Karle, dass bei ihnen der Pfarrer einsam da stehe und dass sie ein Leitungsmodell ohne Kooperation und Team vertreten.92 5.4.4. Kritische Würdigung Es ist erfreulich, dass Wagner-Rau ihre pastoraltheologischen Überlegungen kontextuell, von den gegenwärtigen kirchlichen Herausforderungen her, entwirft. Ebenfalls zu begrüßen ist, dass sie dabei einen Zusammenhang zu kirchentheoretischen Überlegungen herstellt. Auch die deskriptive Beschreibung der gegenwärtigen Situation des Pfarrberufes „auf der Schwelle“ bringt die verbreitete Rollenunsicherheit vieler Pfarrer zum Ausdruck. Wagner-Rau betont mehrfach, dass die Rede von der Schwelle und der Gastfreundschaft Leitbild sein will und kein detailliert ausgearbeitetes Modell. Diese Offenheit des Leitbildes hat als Stärke, vor Ort situativ und kontextuell angepasst werden zu können. Aber mit jener mangelnden Konkretion geht auch an mancher Stelle eine große Unklarheit einher. Am deutlichsten zeigt sich dies an der Frage, wie denn praktisch und konkret die Aufgabe der Pfarrerin im Leitbild der Gastfreundschaft zu bestimmen sei. Was heißt es konkret, „die theologische Qualität“ auf der Schwelle zu hüten? Auch die kirchentheoretischen Grundentscheidungen Wagner-Raus werfen einige Fragen auf, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit ausführlicher zu thematisieren sind (ա 15.). Ihren Ausführungen sind von 88 89 90 91 92
Wagner-Rau (2004), 460. Vgl. Wagner-Rau (2009), 117. Vgl. ebd., 41ff. Vgl. ebd., 50ff. Vgl. Wagner-Rau (2004), 454.
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großer Skepsis und Distanz zur vereinskirchlich organisierten (Kern-) Gemeinde geprägt, vor deren Vereinnahmung sich der Pfarrer schützen müsse. Damit geht einher, dass die Autorin ihren Ausgang eher bei der Pastoraltheologie als bei der Kirchentheorie nimmt, denn die Meditation der Schwelle, die die Situation des Pfarramtes (deskriptiv und normativ) beschreibt, wird vor der Leitbild der Gastfreundschaft, welches dann eine kirchentheoretische Vision entwirft, entfaltet. Auch ob die Absage an dauerhafte Bindungen und aktive Zugehörigkeit eine notwendige kirchentheoretische Konsequenz im Angesicht der spätmodernen Herausforderungen ist, wird noch kritisch zu diskutieren sein. Es ist zusammenfassend zu konstatieren, dass die Ausführungen Wagner-Raus für die Frage, wie „Führen und Leiten“ in der Kirchengemeinde unter postmodernen Bedingungen zu gestalten ist, wenig konkrete Hinweise bietet, allerdings eine wichtige kirchentheoretische Frage mit Relevanz für die Leitungsfrage aufwirft (ա 15.). 5.5.
Nikolaus Schneider/Volker Lehnert – Berufen – wozu?
Nikolaus Schneider legte 2009 gemeinsam mit dem ebenfalls rheinischen Kirchenrat Volker Lehnert einen pastoraltheologischen Entwurf vor. Dieser trägt den Titel „Berufen wozu?“93. 5.5.1. Theologische Grundentscheidungen Mit dem Titel „Berufen wozu?“ ist die Leitfrage des Buches gestellt. Zu welcher Aufgabe sind Pfarrer – und im weiteren Sinne alle hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeiter – berufen? Die Antwort der Autoren ist in erster Linie eine ekklesiologische: „Pfarrerinnen und Pfarrer sind berufen in ein besonderes Amt zur Entfaltung, Förderung und Koordination des Allgemeinen Priestertums.“94 Die Arbeit Pfarrerinnen ist also primär auf die Gemeinde ausgerichtet. Damit ist das Verhältnis von Pfarrdienst95 und Allgemeinem Priestertum so bestimmt, dass der Pfarrdienst um des Allgemeinen Priestertums willen existiert, also funktional auf die Gemeinde ausgerichtet ist. Damit lehnen die Autoren entschieden Positionen ab, die andersherum das Allgemeine Priestertum um des Pfarramtes willen konstruieren. Das erblicken sie bspw. in der EKD-Veröffentlichung „Kirche der Freiheit“ hinsichtlich der Mitwirkung von Ehrenamtlichen am pfarramtlichen Dienst.96 93 Eine knappe Zusammenfassung findet sich in dem folgenden Aufsatz: Lehnert (2012). 94 Schneider / Lehnert (2011), 136. 95 Die Autoren präferieren die Bezeichnung Pfarrdienst. Vgl. ebd., 40f: „Das ‚Amt‘ ist im Grundsatz nichts anderes als eine spezielle Form des ‚Dienstes‘, weshalb die EKiR den Terminus ‚Pfarrdienst‘ dem Begriff ‚Pfarramt‘ vorzieht.“ 96 Vgl. ebd., 7.
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Eine große Bedeutung kommt dem „Dienst“-Begriff zu. In den Dienst am Nächsten und an dieser Welt ist jeder Christ in seiner privaten Lebensführung gerufen. Diese „Nachfolge muss jedes Glied der Gemeinde selber leben“97. Entsprechendes gilt auch für die sich im Gemeindehaus treffenden Kerngemeindegruppen, die nicht um ihrer selbst willen existieren, sondern um des Dienstes an den Menschen willen bestehen.98 Die Aufgabe des Pfarrdienstes ist es nun, die Gemeinde zu diesem Dienst zuzurüsten und zu schulen. Das geschieht ganz im Sinne von Eph 4,11-16, welcher der zentrale biblische Text für die Autoren ist. Im Anschluss an Bernhard Petrys Modell des „Helfer zur Freude“ formulieren Schneider und Lehnert die Aufgabe des Pfarrdienstes wie folgt: „Im Bild gesprochen: Die Gemeinde beauftragt keinen Stürmer, sie beauftragt Trainer. Das führt zu einer Beteiligungskirche. Das Amt ist ein Dienstbefähigungsdienst, ein geistlich und gabenorientierter Leitungsdienst, der das Allgemeine Priestertum aktiviert, fördert und entfaltet, indem er sowohl zur christlichen Lebenspraxis als auch zum Ehrenamt motiviert.“99
Der Pfarrdienst ist hier ein Dienstbefähigungsdienst. Er befähigt die Gemeinde zum Dienst an den Menschen. Es geht damit um die „Initiierung eines Multiplikationseffektes“100, da der Pfarrdienst eine „katalysatorische Funktion“101 auf das Allgemeine Priestertum ausübe. Die Autoren fassen diesen Grundansatz so zusammen: „Daraufhin hat das Amt katalysatorisch zu wirken. Es wirkt nach innen, damit das Allgemeine Priestertum nach außen geht. Nach diesem Konzept würden die Gemeindehäuser gewissermaßen zu Trainingslagern zur Vorbereitung auf den Außen102 dienst und Gottesdienste zur Vollversammlung der Mitarbeitenden.“
Während bei Wagner-Rau das Pfarramt auf der Schwelle im Wesentlichen das Bindeglied zwischen Kerngemeinde und Gesellschaft herstellt, scheint bei Schneider/Lehnert grundsätzlich eher die Gemeinde das Bindeglied zwischen Pfarrdienst und Gesellschaft zu sein. Gleichzeitig betonen die Autoren jedoch, dass die zentrale Besonderheit im Dienst eines Pfarrers gegenüber „normalen“ Gemeindegliedern gerade in der Öffentlichkeit besteht. Die Verkündigung des Evangeliums ob97
Ebd., 55. Vgl. ebd., 139. Ausdrücklich wehrt sich Lehnert auch gegen eine kerngemeindliche Verengung des Dienstbegriffes. So heißt es in Lehnert, Facetten, 159: „Der ‚Dienst der Heiligen‘ bezieht sich eben nicht nur auf das Ehrenamt im Sinne des Kerngemeindemodells, sondern ebenso auf den Dienst in und an der Welt im Sinne des ‚Sauerteig-Modells‘ (Mt 13,33).“ 99 Ebd., 58. 100 Ebd., 61. 101 Ebd., 63. 102 Ebd., 139. 98
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liegt einem jeden Christen im Privaten, jedoch in der Öffentlichkeit geschieht das in geordneter Weise über den Pfarrdienst. An der bisher deutlich gewordenen starken Betonung des Allgemeinen Priestertums gegenüber dem Pfarrdienst zeigt sich auch die zentrale Bedeutung einer eher genuin reformierten Ekklesiologie, bei welcher die Autoren ihren Ausgangspunkt nehmen. Der Pfarrdienst sei eben selbst Teil der Gemeinde. Aber dennoch gestehen die Autoren den eher katholisch oder lutherisch geprägten Entwürfen der Amtstheologie ihr Wahrheitsmoment zu. Denn in gewisser Hinsicht muss der Pfarrdienst der Gemeinde gegenüberstehen, in dem Sinne, dass Gemeinde ein Gegenüber braucht, weil sie sich das Evangelium nicht selbst verkündigen kann.103 Diese Spannung und Doppelpoligkeit des Pfarrdienstes, sowohl Teil der Gemeinde zu sein als auch ihr Gegenüber, nennen Schneider und Lehnert den „Zwei-Naturen Charakter des Amtes“104. Jener „Zwei-Naturen-Charakter“ zeige sich auch in der Frage, wo denn der Pfarrdienst seinen Ursprung nimmt. Auch hier gilt beides: Gott setzt den Pfarrer in das Amt ein (Stiftungstheorie) und gleichsam geschieht die Einsetzung durch die Gemeinde (Übertragungstheorie).105 Die Autoren unternehmen damit den Versuch, in ihrer Amtstheologie eine möglichst große Breite evangelischer Positionen aufzunehmen. Analoges lässt sich für ihre Beschreibung der benötigten Kompetenzen von Pfarrerinnen sagen. Sie benennen fünf zentrale Kompetenzen, die im Wesentlichen die klassischen Felder pastoraler Tätigkeiten beschreiben.106 Da ist zunächst die theologische Kompetenz, welche vor allem das Feiern von Gottesdiensten und die Schriftauslegung umfasst. Hierhinter steht ein Grundsatz, der das ganze Buch durchzieht: Der Pfarrberuf ist in erster Linie ein theologischer Beruf. Nicht zufällig wird dabei öfters auf Grözinger und sein „Amt der Erinnerung“ rekurriert. Die zweite Kompetenz ist die missionarische und meint missionarische Verkündigung zwischen Fundamentalismus und postmoderner Totalrelativierung. Als dritte Kompetenz kommen Seelsorge und Diakonie in den Blick, was für die Autoren auch die liebevolle Gestaltung von Kasualien umfasst. Die apologetische Kompetenz wird als viertes benannt und impliziert vor allem religionspädagogische Handlungen. Zuletzt wird die interdisziplinäre Kompetenz benannt, worunter besonders die Kooperationen mit anderen gesellschaftlichen Kräften, mit denen sich gemeinsam für eine menschenfreundliche Gestaltung der Welt eingesetzt werden soll, zu verstehen sei. Damit ist der pastoraltheologische Entwurf von Schneider und Lehnert zusammenfassend als ein Mittelweg zwischen klassischer Pastoraltheo103 104 105 106
Vgl. ebd., 57. Ebd., 43. Vgl. ebd., 49f. Vgl. ebd., 79-91.
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logie einerseits und einem pointierten pastoraltheologischen Eigenentwurf anderseits, der aus dem katalysatorischen Dienstbefähigungsdienst-Modell nach Eph 4 besteht, zu bezeichnen. 5.5.2. Führen und Leiten Der Ansatz von Schneider und Lehnert gehört zu den wenigen pastoraltheologischen Entwürfen, welche die Führungs- und Leitungsaufgabe als integralen Bestandteil der pastoralen Berufsrolle verstehen.107 Dabei gehen die Autoren nicht nach einem substituierenden, sondern nach einem additiven Muster vor. Denn zu den klassischen pastoralen Aufgaben wird die Führungstätigkeit im Sinne des katalysatorischen Dienstbefähigungsdienstes hinzuaddiert. „Geistlich leiten“ definieren Schneider und Lehnert grundsätzlich wie folgt: „beten, planen, aufspüren, aktivieren, trainieren oder – immer in kollegialer Gemeinschaft mit der Gemeindeleitung – dafür zu sorgen, dass all dies geschieht.“108 Aber gerade dies soll additiv geschehen, nämlich mit Worten der Autoren „unbeschadet der übrigen vielfältigen Aufgaben des Pfarrberufes“109. Auch lässt sich feststellen, dass Schneiders und Lehnerts Ansatz tendenziell eher die Aufgabe der Führung umfasst als die Aufgabe der Leitung (ա1.2.), auch wenn die Autoren selbst von beidem sprechen. Denn anders als die Entwürfe von bspw. Breitenbach oder Petry steht hier die personale Dimension stärker im Vordergrund. Es geht weniger um die systemische Betrachtung der Dynamiken in der Gemeinde, als vielmehr um die Entwicklung, Motivation und Unterstützung von konkreten ehrenamtlichen Mitarbeitern. Hierhinter lässt sich ein Leitbild von Führung erkennen, dass die Führungsperson verstärkt als Personalentwickler versteht. Die Aufgabe „geistlicher Leitung“ impliziert hier also vor allem die Dimension der Personalentwicklung und nicht betriebswirtschaftliches Managementhandeln. Weiterhin ist zu konstatieren, dass Schneider und Lehnert ein verhältnismäßig defensives Verständnis von Führen und Leiten haben. „Zur Kybernetik, der Steuerung der Charismenkoordination sind grundlegende Leitungs- und Führungskompetenzen erforderlich – und eine dialektische Grundeinsicht. Sie lautet: Wenn Leiten heißt, anderen Gliedern am Leibe Christi Raum zu geben, dann ist Leitung in erster Linie als wahrnehmende Koordination (Dienst) und nicht als autoritäre Bevormundung (Macht) zu beschreiben.“110
Diese Grundeinsicht kam bereits in dem Begriff Dienstbefähigungsdienst zum Ausdruck. Führen heißt eben nicht Machtausübung sondern Dienst, oder konkret: Charismen aufspüren und koordinieren, Ehren107 108 109 110
Vgl. ebd., 97; 100. Ebd., 63. Ebd. Ebd., 100.
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amtliche befähigen und motivieren. Menschen sollen durch Führung nicht bevormundet werden, sondern im Gegenteil aufgebaut werden. Dazu passt, dass der Leitungsdienst die Menschen eben nicht primär mit der Leitungsfigur selbst verbinden soll, sondern direkt mit Christus.111 Andererseits heißt das aber nicht, dass es damit die Aufgabe des Pfarrers sei, sich selbst überflüssig zu machen. Die Stärkung des Allgemeinen Priestertums mache den Pfarrdienst eben nicht überflüssig. In der Sportmetapher gesprochen: Je mehr Spieler es gibt, desto mehr Trainer sind notwendig.112 5.5.3. Die kontextuelle Verortung Ihr siebtes Kapitel widmen die beiden Autoren der Frage, inwiefern die sogenannte Postmoderne den Pfarrdienst beeinflusst. Zu Beginn verstehen Schneider und Lehnert die Postmoderne im Anschluss an PohlPatalong als eine durch Subjektivierung, Individualisierung, Differenzierung und Pluralisierung geprägte Zeit.113 Das hat für den Pfarrdienst erhebliche Konsequenzen. Da wäre z. B. das Phänomen der Subjektivierung. Zwar treffe der Grundsatz, dass das Amt die Person trage, prinzipiell immer noch zu, allerdings führe die Subjektivierung dazu, dass die Pfarrperson gegenüber dem Amt mehr und mehr in den Vordergrund gerate. Verstärkt trage nun also auch die Person das Amt. Damit kommt aber auch gleichsam die Gebrochenheit der Pfarrperson verstärkt ins Rampenlicht, weshalb es notwendig sei mit Klessmann auch die Fragmenthaftigkeit der Pfarrperson zu betonen.114 Das Phänomen der Pluralisierung der Weltanschauungen verbunden mit dem Ende der „großen Geschichten“ habe ebenfalls Konsequenzen für den Pfarrdienst. Er muss jener Pluralisierung insofern Rechnung tragen, als dass er in seiner Gemeinde nicht mehr den Alleindeutungsanspruch des Evangeliums haben darf. Nach diesen doch vergleichsweise allgemeinen Anmerkungen zum pastoralen Dienst in der Postmoderne brechen die Ausführungen der Autoren zu diesem Thema jedoch schon nach wenigen Seiten im siebten Kapitel eigenartig ab. Schneider und Lehnert beginnen nun, die Aufgabe des Pfarrers als katalysatorischer Dienstbefähigungsdienst nach Eph 4 breit vorzustellen. Das wirkt wie ein thematischer Bruch, der Fragen aufwirft. Ist das Thema Postmoderne nun aus Sicht der Autoren ausreichend verhandelt, so dass mit einem neuen Thema begonnen werden kann, oder aber soll das Dienstbefähigungsdienst-Modell gerade das postmoderne Element im Spektrum der pastoralen Aufgaben sein? Dass jenes Eph 4-Modell gerade in diesem siebten Kapitel mit der 111 112 113 114
Vgl. ebd., 101. Vgl. ebd., 100. Vgl. ebd., 92. Vgl. ebd., 93f.
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Überschrift „Der pfarramtliche Dienst auf dem Hintergrund der Postmoderne“ verhandelt wird, legt Letzteres nahe. Andererseits aber wird nirgends explizit ausgeführt, inwiefern sich das Eph 4-Modell zur Postmoderne verhält, vielleicht sogar eine Antwort auf genuin spätmoderne Herausforderungen sein könnte. Da also unklar ist, inwiefern die Autoren ihren eigenen Ansatz (katalysatorischer Dienstbefähigungsdienst) auf dem postmodernen Hintergrund verorten, lässt sich konsequenterweise die Frage schwer beantworten, inwiefern ihr Verständnis von „Führen und Leiten“ den postmodernen Herausforderungen Rechnung trägt. Explizit beantworten Schneider und Lehnert diese Frage nicht. Implizit lassen sich jedoch zahlreiche Elemente dieses eher „defensiv“ geprägten Führungsverständnisses als postmodern geprägt verstehen. Zum Beispiel passt die Aversion der Autoren gegenüber dem Machtbegriff zur tendenziell machtkritischen Grundhaltung in der Postmoderne. 5.5.4. Kritische Würdigung In zahlreicher Hinsicht tritt der Ansatz von Schneider und Lehnert aus der gegenwärtigen pastoraltheologischen Diskussion hervor. Erstens beschäftigen sie sich weniger mit der Rolle der Pfarrerin an sich, sondern zeichnen ihre Aufgabe funktional in den größeren ekklesiologischen Horizont ein. Der Pfarrdienst existiert also funktional um des Allgemeinen Priestertums willen. Damit soll ein Übergang von der pastoralen Betreuungskirche hin zur Beteiligungskirche fokussiert und eine Pfarrzentrierung überwunden werden. Zweitens wird hier mit dem impliziten Leitbild der Personalentwicklung die Führungsaufgabe als zentraler Bestandteil der pastoralen Berufsrolle verstanden. Beide Aspekte bedingen einander und geben Impulse, die im weiteren Verlauf wieder aufgenommen werden sollen. Doch lassen sich auch einige Anfragen bezüglich der inneren Stimmigkeit des Konzeptes von Schneider und Lehnert formulieren. Denn an manchen Stellen schaffen die Autoren Unklarheiten. Das liegt vor allem in dem konsensorientierten Grundsatz begründet, der die verschiedensten Positionen miteinander verbinden möchte. Dadurch entstehen oft Doppelpoligkeiten, teils Spannungen und auch Widersprüche. Am deutlichsten tritt dies an der Beschreibung der pastoralen Kompetenzen zutage. Während das dritte Kapitel die zentrale Bedeutung des Allgemeinen Priestertums betont und das Pfarramt mit dem Dienstbefähigungsdienst-Modell vor allem Führungs- und weniger Ausführungshandlungen umfasst, setzen die fünf Kompetenzen aus Kapitel sechs einen ganz anderen Schwerpunkt. Diese Kompetenzen umfassen wieder primär Ausführungshandlungen. Dabei scheint das Allgemeine Priestertum an den Rand zu rutschen. Damit korrespondiert auch die doppelte Beschreibung des Pfarrdienstes als Führungsaufgabe einerseits und als genuin theologischer Beruf („Amt der Erinnerung“) ande-
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rerseits. Beides schließt sich nicht prinzipiell aus, führt aber zu einer doppelten Schwerpunktsetzung. Dieses „additive Grundmuster“ impliziert zusammenfassend, dass doch wieder tendenziell alles von der Pfarrerin erwartet wird. Die gegenwärtige Unsicherheit über die pastorale Berufsrolle kann damit nur schwerlich gemindert werden. 5.6.
Weitere Ansätze im Überblick
5.6.1. Albrecht Grözinger – Das Pfarramt als Amt der Erinnerung a) Die kontextuelle Verortung Beim Baseler Praktischen Theologen Albrecht Grözinger ist Analyse der Postmoderne gewissermaßen der Ausgangspunkt seiner Überlegungen für die zukünftige Gestalt von Kirche und in Besonderem dem Pfarramt. Nach Grözinger ist die Postmoderne im Unterschied zur Moderne vor allem durch drei wesentliche Kennzeichen geprägt: „Diese Conditio postmoderna ist m.E. vor allem durch drei Entwicklungen bestimmt, nämlich durch die Individualisierung der Lebenswelten, durch den Verdacht gegen die großen Erzählungen und durch den Zwang zur Erfindung des ei115 genen Lebens.“
Nun sei nach Grözinger die Individualisierung an sich kein spezifisch postmodernes Phänomen, kennzeichne sie doch die Neuzeit von Anfang an. Doch sei im Anschluss an Ulrich Beck nun von einer „Individualisierung der Lebenswelten“ zu sprechen. Damit ist gemeint, dass viele Fragen der Lebensgestaltung früher von Traditionen und Institutionen vorgegeben waren, heute aber als Aufgabe an das Individuum delegiert werden.116 So müssen bspw. Paare selbst definieren, wie sie ihre Beziehung verstehen. Rollenverteilungen stehen nicht von der Tradition her fest, sondern es muss sich bewusst für ein bestimmtes Beziehungsbild entschieden werden. Das zweite Kennzeichen des Verdachtes gegen die großen Erzählungen ist ein Gedanke, den Grözinger von Lyotard übernommen hat.117 Er bezeichnet die Beobachtung, dass die großen Narrationen wie z.B. Marxismus, Kapitalismus, aber auch das Christentum in der Postmoderne als einheitlich-tragende Meta-Erzählungen zerfallen sind. Nun gebe es nur noch die vielen kleinen Geschichten. Das dritte Kennzeichen der Erfindung des eigenen Lebens korrespondiert eng mit dem ersten. Heute gebe es keine Normalbiographien mehr, sondern nur noch Wahlbiographien. Das Leben ist im Anschluss an Peter Berger zu einem zu gestaltenden Projekt geworden.118 115 116 117 118
Grözinger (1998), 16. Vgl. ebd., 19. Vgl. ebd., 23ff. Vgl. ebd., 30-33.
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b) Theologische Grundentscheidungen Nach dieser Analyse kommt hinsichtlich der Theologischen Grundlagen bei Grözinger dem Traditionsbegriff eine entscheidende Bedeutung zu. Einerseits sei die Postmoderne durch ihren Verdacht gegenüber den großen Erzählungen notorisch traditionskritisch. Andererseits könne der postmoderne Mensch aber auch nicht von der Tradition lassen. Denn er muss sich ja projektartig selbst sein Leben bauen. Dazu kann er quasi steinbruchartig traditionelle Bruchstücke verwenden. Tradition erscheint dann als spannend. Damit hat sich ebenfalls die Rolle der (biblischen) Tradition verändert: „die Sicherungsfunktion von Traditionen wird abgelöst durch eine Funktion der Innovation durch Traditionen.“ 119 An dieser Stelle setzt Grözinger für seine Bestimmung der Aufgabe der Kirche in der Postmoderne an. Sie bringt innovativ die biblische Tradition in einer erinnernden Art und Weise ins Spiel. Es sei die Aufgabe der Kirche, „den Menschen in der postmodernen kulturellen Vielfalt durch innovatorische Vergegenwärtigung den biblisch-christlichen Traditionsbestand zu erhalten und stets aufs neue in seinem Erfahrungsgehalt und seiner Plausibilitätsstruktur ansichtig zu machen.“120 Kirche hat eine erinnernde Funktion. Das gilt in gleicher Weise ebenso für das Pfarramt, denn der Auftrag der Kirche ist bei Grözinger auch der Auftrag des Pfarramtes.121 Das Pfarramt sei nach Grözinger ein Amt der Erinnerung.122 Der Pfarrer bringt innovativ die biblischchristliche Tradition für die postmodernen Individuen ins Spiel.123 Der Pfarrer ist damit eben nicht – wie im Anschluss an Ernst Lange gedacht – der große Kommunikator, sondern eher der Lehrer. Er pflegt durch Lehre und Seelsorge, den beiden Hauptaufgaben, die biblische Tradition. Das Pfarramt sei damit als ein „intellektuelles Amt“ und in Analogie zum jüdischen Rabbinat zu bestimmen. c) Führen und Leiten Die bisher gemachten Ausführungen haben natürlich Auswirkungen für Grözingers Verständnis von Führen und Leiten. So kommt dieses Themenfeld etwa in Grözingers großem Kapitel über die „Kirchliche Praxis in der Postmoderne“ neben Homiletik, Gottesdienst, Poimenik und Diakonik und mit Ausblickcharakter auch Pastoraltheologie nicht 119
Ebd., 81. Ebd., 83. Vgl. auch: Ebd., 135. 121 Das zeigt sich bei Grözinger auf den Seiten 135-136. Es lässt sich ironischerweise beobachten, dass Grözinger dieses Verfahren gerade bei der Rezeption von Ernst Lange kritisiert, wo aus dem Auftrag der „Kommunikation des Evangeliums“ als Auftrag der Gemeinde ein Auftrag des Pfarramtes geworden ist. 122 Vgl. ebd., 136. 123 Vgl. ebd., 137: „Das Pfarramt wäre dann der institutionelle Ort des biblischchristlichen Gedächtnisses.“ 120
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vor.124 Besonders profiliert ist nun aber Grözingers These, dass die Leitungsaufgabe vollständig vom Pfarramt auf die Gemeinde überzugehen habe.125 Das sei dann einerseits eine Aufwertung der Gemeinde, andererseits eine Entlastung des Pfarramtes. Der Pfarrer sei nämlich in der Postmoderne kein Kommunikator und kein Manager mehr. Dieser Schritt wird nun bei Grözinger gerade angesichts der postmodernen Herausforderungen gegangen, vor denen die Kirche gegenwärtig steht. Das ist bei Grözinger primär in der Macht-Frage begründet. Denn die Postmoderne ist machtkritisch. Und mit dem Ende der Leitungsfunktion durch den Pfarrer verliere nun auch das Pfarrbüro seine Rolle als Machtzentrum der Gemeinde. Der nicht-leitende Pfarrer ist hier ein wichtiger Schritt hin zu einer nicht-hierarchischen Kirche. Er schreibt: „Insofern stellt das Pfarramt als Amt der Erinnerung einen wichtigen Baustein dar auf dem Weg hin zu einer nicht-hierarchischen Kirche, derer die Postmoderne so dringend bedarf.“126 d) Kritische Würdigung: Wie kaum ein anderer denkt Grözinger kirchliches Handeln von den gegenwärtigen postmodernen Herausforderungen her. Gerade seiner Analyse der Postmoderne kann weitgehend zugestimmt werden. Nun müsste die bei ihm vorfindliche Lücke geschlossen werden, nämlich wie „Führen und Leiten“ im Angesicht der Postmoderne zu gestalten sind. Es lässt sich ebenfalls feststellen, dass sich bei Grözinger eine eigentümliche Vermischung von Innovation und Rückwärtsgewandtheit findet. Letzteres kommt vor allem durch die Betonung des Traditionsbegriffes und der erinnernden Funktion von Kirche und Amt zum Ausdruck. Dieser These, dass Kirche in der Postmoderne vor allem eine erinnernde und damit eher rückwärtsgewandte Erinnerungsfunktion zukomme, ließe sich auch widersprechen. Zuletzt hat Grözinger eine weitere wichtige Frage gestellt: Soll der Pastor auf die postmoderne Machtskepsis durch ein Verzicht auf die Leitungsaufgabe reagieren? Grözingers Ja zu dieser Frage wird noch kritisch zu diskutieren sein (ա 14.).
124
Unter Kybernetik versteht Grözinger auch nicht die Frage nach „Führen und Leiten“, sondern im Wesentlichen die Frage nach Ökonomie und Marketing, wie die Kirche mit dem gegenwärtigen Reformdruck umzugehen habe. Vgl. Grözinger (2003), 483. 125 Vgl. Grözinger (1998), 141: „Vor allen Dingen wird der Pfarrer, die Pfarrerin nicht mehr in der Weise wie bisher Leitungsfunktionen haben. [...] Nun gilt es, den nächsten Schritt zu machen und die Gemeindeleitung ganz den gewählten Laiengremien zu übertragen.“ 126 Ebd.
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5.6.2. Wilhelm Gräb – Der Pfarrer als Religionshermeneut a) Theologische Grundentscheidungen Gräbs Leitbild vom Pfarrer als Religionshermeneut findet sich in dessen 1998 vorgelegtem Werk „Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen“127. Seine Ausführungen nehmen ihren Anfang bei einem spezifischen Religionsbegriff: Religion als Deutung des eigenen Lebens und der eigenen Lebensgeschichte. Jeder Mensch habe eine gewisse Lebensphilosophie, eine bestimmte Deutung für sein Leben.128 Nur ist ihm diese Lebensphilosophie oftmals gar nicht bewusst, so dass es nun die Aufgabe der Religionshermeneutik wäre, diese implizite Lebensphilosophie mit dem Menschen zu reflektieren. Der Mensch deutet sein Leben selbst, dennoch kann ihm die christliche Religion weitere Deutungsangebote unterbreiten, vor allem dort, wo die normalen gesellschaftlichen Deutemuster nicht mehr greifen, in den Brüchen und Kontingenzen des Lebens. Religion hilft dem Menschen auf der Suche, der Frage nachzugehen, wer er als Mensch ist. Das spezifisch Religiöse bei dieser Suche nach Selbstdeutung ist, dass der Mensch dabei einen tragenden Grund entdeckt, ein Gefühl des Gehaltenseins, ein Grundvertrauen.129 Nach Gräbs Ekklesiologie ist es nun die Aufgabe der Kirche, der Ort für diesen Deutungsprozess zu sein. Hierfür kann sie die Rahmenbedingungen schaffen. Den sich religiös selbstdeutenden Menschen begleitet sie, indem sie weitere religiöse Deutungsangebote erbringt.130 Ekklesiologisch bedeutend ist ebenfalls, dass Gräb seinen weiten Religionsbegriff eben nicht auf die Kirche und das Christentum beschränkt, sondern dass jene gelebte Religion vor allem jenseits des kirchlichen Lebens stattfindet.131 Der Pfarrer verkörpert bei Gräb den eben beschriebenen Auftrag der Kirche. Er ist Kultur- und Religionshermeneut. Er gestaltet den Raum der Kirche als einen „Ort offener Sinnreflexion“132. Dazu ist weniger das Amt entscheidend, sondern die eigene Subjektivität, die Pfarrer verstärkt einbringen sollen. Sie müssen authentisch sein, das heißt fragmentarisch und nicht perfekt. Im Anschluss an Lämmermann stehen Pfarrerinnen so für „exemplarisch ethisch-religiöse Subjektivität“133. Der Pfarrer braucht damit hermeneutische Kompetenz und lebt jene Selbstdeutung subjektiv auch vor.
127
Gräb (2000). Vgl. ebd., 48-61. 129 Vgl. ebd., 66f. 130 Vgl. ebd., 17; 79; 94. 131 Deshalb ist Praktische Theologie für Gräb auch nicht primär Kirchentheorie sondern Theorie der gelebten Religion in Kultur und Gesellschaft. 132 Ebd., 328. 133 Ebd., 331f. 128
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b) Führen und Leiten Gräb geht ebenfalls der Frage nach, wie sich diese „lebensgeschichtliche Sinndeutung“ nun in den einzelnen Arbeitsfeldern kirchlicher Praxis realisiert. Als Tätigkeiten erscheinen hier im Wesentlichen Gottesdienst, Predigt, Kasualien, Seelsorge, Konfirmanden- und Religionsunterricht. Führen und Leiten wird dabei von Gräb nicht thematisiert und erscheint somit nicht als eine relevante Tätigkeit, weder von Gemeinde noch vom Pfarramt. Dieser Befund wird auch damit zu erklären sein, dass sich der Pfarrer nicht in die „Kuschelatmosphäre des binnengemeindlichen Milieus einzugraben“134 habe. Vereinfacht gesagt: Er ist eher Kulturhermeneut als Gemeindehermeneut. Da Führen und Leiten aber eine gemeindebezogene Tätigkeiten sind, treten sie konsequenterweise in den Hintergrund. Hierzu passt auch Gräbs Präferenz für eine Orientierung kirchlicher Praxis am Leitbild der Kasualkirche, das nur noch mit einem lebenszyklischen Kontakt der Menschen zur Gemeinde rechnet.135 c) Die kontextuelle Verortung Hinsichtlich der kontextuellen Verortung ist zu konstatieren, dass Gräbs Ausführungen zur Frage, wie sich „Führen und Leiten“ angesichts gesellschaftlicher Veränderungsprozesse zu vollziehen haben, nichts beitragen. Für das Wie von Führung und Leitung findet sich hier nichts. Allerdings zeichnet Gäb mit seiner starken Betonung der Subjektivität des Pfarramtes ein Bild vom Pfarrer, das in vielerlei Hinsicht dem von Isolde Karle gegenübersteht. Der authentische, auch gebrochene Pfarrer ließe sich dabei als spätmodern anschlussfähig bezeichnen (ա10.1). d) Kritische Würdigung Wilhelm Gräb zeichnet das Bild einer Pfarrerin, dem zwar nicht explizit, aber implizit die Aufgabe von „Führen und Leiten“ abgesprochen wird. Aber anders als bei Grözinger wird diese Aufgabe dann auch nicht auf Seiten der Gemeinde verortet. Sie bleibt gar nicht bedacht. Interessant ist aber die direkte Linie, die bei Gräb vom Religionsbegriff über die Ekklesiologie zur Pastoraltheologie führt. Der Pfarrer verkörpert hier den zentralen Auftrag der hermeneutischen Kirche als Hermeneut. Strukturell liegt hier also nicht ein Modell vor, bei dem der Pfarrer durch Leitung die Gemeinde befähigt, ihren hermeneutischen Auftrag wahrzunehmen, sondern er führt diese hermeneutische Tätigkeit selbst aus.
134
Ebd., 318. Für das Thema“ Führen und Leiten“ ist es auch relevant zu erwähnen, dass Gräb allen Ansätzen, „klerikale Führungsansprüche zu erneuern“, kritisch gegenübersteht. Vgl. ebd.
135
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5.6.3. Alexander Deeg – Pastor legens a) Theologische Grundentscheidungen Albrecht Grözinger hatte vorgeschlagen, den Pfarrer verstärkt in Analogie zum Rabbiner zu verstehen. Alexander Deeg nimmt diese Anregung 2004 in einem Aufsatz auf und entfaltet ein Leitbild vom Pastor als einem lesenden Pastor – pastor legens.136 Hinsichtlich der theologischen Grundlagen nimmt Deeg seinen Ausgangspunkt bei der Analyse des Berufs des Rabbiners. In der gegenwärtigen innerjüdischen Debatte um das Rabbinat scheine sich zunehmend das Leitbild eines lesenden und lehrenden Lehrers herauszubilden (rabbi legens et docens).137 Für dieses Leitbild sind nun nach Deeg vor allem vier Perspektiven kennzeichnend: Erstens ist der Rabbiner zwar ein Lehrer, aber auch sein ganzes Leben über immer auch Lernender. Deshalb brauche er auch Zeit, um lernen zu können. Er braucht Zeit zum Lesen. Zweitens liest er die Thora midraschisch. Das heißt, er entdeckt in der Thora das Leben und geht mit dem Text hinaus in die Welt, sodass es zwischen beiden – Thora und Welt – zur Interaktion komme. Drittens unterstreicht Deeg, dass das Lesen, Lehren und Lernen immer in Gemeinschaft geschehe. Viertens macht Deeg auch deutlich, dass man sich jenes Lesen und Lehren nicht als einen verkopften Prozess vorstellen soll, denn er finde in einer gelebten Spiritualität seine Gestalt. Nach diesen Ausführungen über das Rabbinat zeichnet Deeg nun den Pfarrer als einen pastor legens.138 Dabei finden sich die gerade skizzierten vier Perspektiven auch wieder an: „Entscheidend wird es dann, dass der Pastor legens in seinem Lesen den Zusammenhang von Lehren und Lernen wahrt, midraschartig und in Gemeinschaft liest und nicht zuletzt die Spiritualität des Lesens im Blick behält.“139 b) Führen und Leiten Deegs Leitbild vom Pfarrer als pastor legens hat auch einige mehr oder weniger explizite Implikationen für das Thema Führen und Leiten. Da der pastor legens viel Zeit zum eigenen Studium benötige, müsse er auch von Aufgaben der Gemeindeleitung entlastet werden. Auch diesen Gedanken übernimmt Deeg von Grözinger, auch wenn er diese Forderung weniger forciert als Grözinger. „Führen und Leiten“ wird damit als Teil des pfarramtlichen Aufgabenspektrums abgelehnt. Es lässt sich jedoch auch beobachten, dass Deegs pastoraltheologisches Leitbild ei136
Deeg (2004). Für das Rabbinat sind in der Gegenwart nach Deeg vor allem zwei historische Paradigmen prägend. Da wäre einerseits der Chacham, der mit der Thora lebende Gelehrte. Diesem Gegenüber steht das Leitbild von einem predigenden Rabbiner, das im 19. Jh. in Anlehnung an das protestantische Pfarramt entstand. Beide Paradigmen stünden oftmals unverbunden nebeneinander. 138 Vgl. ebd., 423. 139 Ebd., 424. 137
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Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
nige Nähen zu dem aufweist, was gegenwärtig als „Geistliche Begleitung“ bezeichnet wird. Das gilt vor allem für die oben beschriebene dritte Perspektive über das Lernen in Gemeinschaft. Und hier wird von Deeg über die Spiritualität auch wieder die Leitungsfrage tangiert. So haben die „Rabbiner ihre Funktion auch darin [zu] zusehen, die Gemeinde dazu zu befähigen, selbst als Lernende zu Lehrern ihrer Lehrer zu werden.“140 Hier geht es um Empowerment. Im Anschluss an Meir Ben-Horin liege die rabbinische Autorität in der eines „search leaders“. Auch den Pfarrer könne man als einen solchen suchenden Leiter denken: „Vielleicht wird er zum ‚search leader‘, der ausgebildet ist, Expeditionen in die Weltwirklichkeit Gottes, wie sie die Schrift bezeugt, anzuleiten.“141 Das hat deutliche Nähen zu Josuttis, ist aber über den Aspekt des „selbst Suchens“ bewusst defensiver konzipiert als bei Josuttis, denn der suchende Leiter werde auch „anderen den Vortritt“142 lassen.143 c) Die kontextuelle Verortung Deeg entwirft das Leitbild vom pastor legens eher weniger von gegenwärtigen Herausforderungen, sondern stärker von einem historischen Paradigma her.144 Allerdings bietet die Rede vom „search leader“ durch seine defensive Füllung ein überraschend postmodern anschlussfähiges Potential für die Frage nach einem geeigneten Modus von „Führen und Leiten“ in der Spät- und Postmoderne. Das wird vor allem im Vergleich zu Josuttis deutlich. d) Kritische Würdigung: Erstens steht Deegs Leitbild des pastor legens für ein pastoraltheologisches Modell, dass die Bedeutung von „Führen und Leiten“ für den Pfarrer explizit negiert. Das ist natürlich auch darin begründet, dass mit der Analogie des hauptsächlich in der Thora studierenden Chacham grundsätzlich eine Distanz zwischen Amt und Gemeindeleben einhergeht. Das gilt auch wenn Deeg mehrfach betont, pastor legens meine eben nicht „Zurückgezogenheit“, sondern Lernen in Gemeinschaft. Zweitens bietet das Motiv des „search leaders“ jedoch eine spannende Anregung für die Frage, wie Führung in der Spätmoderne geschehen könnte. Dazu müsste dieses Motiv vielleicht über seine Verortung im Bereich von „Geistlicher Begleitung“ hinaus gedacht werden. 140
Ebd., 422. Ebd., 426. 142 Ebd. 143 Dafür, dass Deeg „Führen und Leiten“ nicht ganz unter den Tisch fallen lässt, spricht auch die Beobachtung, dass sich in dem von ihm herausgegebenen „Module der Theologie: Praktische Theologie“ ein Kapitel zur Kybernetik im Sinne von Leitung findet. Dieses ist allerdings von Jürgen Belz verfasst worden. 144 Deeg schreibt ironisierend selbst, all das könne als eine „pastoraltheologische Rolle rückwärts“ erscheinen. ebd., 423. 141
5. Führen und Leiten in der Pastoraltheologie
5.7.
117
Zwischenfazit – ein ambivalenter Befund und das „MittlerSchema“
Nachdem nun erfolgten Durchgang durch einige zurzeit prominentere Pfarrbilder, werden wir m. E. zu einem gleichsam differenzierten wie auch pointierten Fazit kommen können. Von einem grundsätzlichen Desinteresse der Pastoraltheologie an der Führungs- und Leitungsthematik wird in dieser Schlichtheit so nicht zu sprechen sein. Explizit abgelehnt wird die Leitungsaufgabe für das Pfarramt nur bei Grözinger und Deeg. Von einer impliziten Ablehnung wird man wohl bei Gräb und womöglich bei Wagner-Rau sprechen können, da beide das Thema „Leitung“ für das Pfarramt nur sehr marginal reflektieren oder schlicht übersehen. Differenzierter ist der Befund schon bei Karle, Grethlein und Josuttis, die Begriffe wie Führen und Leiten jeweils positiv aufnehmen können, diese dann aber eigenständig füllen und sich gleichsam gegen andere Facetten der Begriffe entschieden abgrenzen. Das geschieht primär dann, wenn Leitung mit Management zusammengedacht wird. Lediglich bei Schneider und Lehnert wird Leitung nicht nur als ambivalenter Aspekt des pastoralen Aufgabenbereichs gesehen, sondern über den Begriff des „Dienstbefähigungsdienstes“ ausdrücklich in den Mittelunkt der pastoralen Identität gestellt. Insgesamt scheint die Führungs- und Leitungsaufgabe in dem derzeitigen Diskurs um das Pfarrbild also immer noch eine gewisse Sperrigkeit zu besitzen. Auch wenn es nicht zur kybernetischen Fokussierung dieser Arbeit gehört, die Unsicherheit der pastoralen Identität zu lösen, so kann doch von der Kybernetik her womöglich ein hilfreicher Impuls für diesen Diskurs skizziert werden. Zunächst einmal ist es meines Erachtens wenig weiterbringend, die faktische Pluralität der von der Theologie diskutierten Pfarrbilder uneingeschränkt zu begrüßen. Nach dem Motto: Jeder Pfarrer sollte sich den für ihn passenden pastoraltheologischen Entwurf heraussuchen. Der eine wäre ein Religionshermeneut, der nächste ein Dienstbefähiger und ein weiterer gestaltet den Raum der Gastfreundschaft. Sicherlich ist es uneingeschränkt zu begrüßen, dass Pastoren unterschiedlich sind, aber wer den Pfarrer potentiell alles sein lässt, der erklärt ihn in letzter Konsequenz für unnötig. Wenn das pastorale Leitbild beliebig sein darf, dann gibt es offensichtlich für nichts wirklich eine Notwendigkeit. Nichts wäre Pflicht, alles wäre Kür. Also: Es ist gut, dass Pastorinnen und Pastoren unterschiedliche Stärken und Schwächen haben, aber alle pastoraltheologischen Entwürfe können deshalb nicht unvermittelt nebeneinander stehenbleiben. Einen anderen Weg bestreitet hier Volker Lehnert, der in gewisser Hinsicht für eine Synthese der meisten oben skizzierten Pfarrbilder votiert, indem er bei seinem Leitbild vom Dienstbefähiger Aspekte der anderen
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Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
Bilder aufnimmt.145 Das ist in mancherlei Hinsicht und für einige Facetten möglich, löst aber das Problem nicht grundsätzlich, da sich zwischen den einzelnen Entwürfen doch erhebliche Divergenzen befinden, die mitunter gar im kontradiktorischen Widerspruch zueinander stehen. Ausgehend vom Thema „Führen und Leiten“ könnte womöglich ein dritter Weg hilfreich sein. Dafür ist zunächst einmal die Beobachtung wichtig, dass zahlreiche pastoraltheologische Entwürfe nach einem Muster vorgehen, das ich gerne als „Mittler-Schema“ bezeichnen möchte. In dem „Mittler-Schema“ ist es die Aufgabe des Pfarramtes das zentrale Anliegen des Christentums oder der Kirche an die Gemeinde und Gesellschaft zu vermitteln. Im „Mittler-Schema“ verkörpert das Pfarramt den Auftrag der Kirche. Konkret: Josuttis bestimmt die Erfahrung des Geheimnisses als Mittelpunkt des Christentums. Im Anschluss ist es dann die Pfarrperson, die andere als Mystagoge in dieses Geheimnis einführen soll. Sie vermittelt dieses Geheimnis in gewisser Hinsicht. Gräb sieht in der religionshermeneutischen Deutung von Lebensgeschichten die entscheidende Aufgabe von Kirche. Auch bei ihm ist es die Pfarrperson, die jene Aufgabe ausführen soll. Bei Wagner-Rau ist es der Pastor, der das ekklesiologische Leitbild des Gasthauses realisieren soll. Bei Karle vermitteln Pfarrer die religiöse Sachthematik, und auch bei Grethlein wurde oben ein solches „MittlerSchema“ in Ansätzen herausgearbeitet. Eine Konsensbildung in der Pastoraltheologie ist nach diesem Schema kaum möglich, denn zu unterschiedlich sind die Auffassungen, was denn nun den Kern von Christentum/Gemeinde ausmache. Ist es die Mystik, die Gegenwartsdeutung oder die Gastfreundschaft? Einen Kritikpunkt an diesem „Mittler-Schema“ haben bereits Peter Böhlemann und Michael Herbst formuliert: „Wir haben in der Theologie den Fehler gemacht, fast alle im Neuen Testament genannten Charismen strukturell im Pfarramt zu verankern.“146 Die Funktionen, die eigentlich die ganze Gemeinde erfüllen soll, werden also strukturell im Pfarramt verankert. Sonst wäre die Gemeinde ein Ort, an dem das Geheimnis erfahren, Lebensgeschichten gedeutet und Gastfreundschaft gewährt werden würde, ohne dass der Pfarrer selbst dies alles vermitteln müsse. Die Aufgabe des Pfarramtes wäre es dann, die Gemeinde zu diesen unterschiedlichen Tätigkeiten zu befähigen. Das entspräche am ehesten dem von Schneider/Lehnert skizzierten Leitbild vom Dienstbefähiger. Wir halten fest: Weite Teile der pastoraltheologischen Diskussion können die Lücke, dass sich kaum mit dem leitenden Individuum beschäftigt wird, nur eingeschränkt schließen. Sie legt zwar einen Fokus auf das pastorale Individuum, aber weit weniger auf seine leitende Funktion. 145 146
Vgl. Lehnert (2012), 157-160. Böhlemann / Herbst (2011), 52.
6.
Zwischenbilanz
Am Ende dieses Abschnittes, der sich mit der Analyse der für das Thema relevanten Literatur beschäftigt hat, sollen nun die bisher gemachten Beobachtungen gebündelt werden. 6.1.
Das leitende Individuum: Der personale Aspekt von Leitung als bisher selten beachtetes Thema
Drei Themenfelder wurden bisher analysiert. Vereinfacht gesagt weist jedes Themenfeld trotz seiner Diversität in Summe doch auf einen wichtigen Aspekt hin, der in kirchlichen Steuerungsprozessen beachtet werden sollte. Die im ersten Schritt betrachteten genuinen Modelle zu „Führen und Leiten“ weisen auf die wichtigen Erkenntnisse hin, die eine systemische Perspektive auf Steuerungsprozesse mit sich bringt. Die Modelle aus Kirchentheorie und Gemeindeaufbau zeigen, dass es für Leitungsfragen ungemein relevant ist, sich mit dem Leitbild von Kirche und Gemeinde auseinandergesetzt zu haben, um zu wissen, wohin denn Kirche und Gemeinde geleitet werden sollen. Auch der Gang durch die gegenwärtige Pastoraltheologie hat einige wichtige Impulse zu „Führen und „Leiten offengelegt. Auffällig ist nun aber, dass zwischen den drei genannten Themenfeldern ein Raum liegt, der bisher noch wenig bearbeitet wurde. Es handelt sich dabei um den personalen Aspekt, sprich um das leitende Individuum. Es wäre lohnenswert jenen Zwischenraum näher auszuleuchten und dabei Perspektiven der genannten Themenfelder miteinander zu verschränken.1 Die Arbeit an einem handlungsleitenden Bild von personaler Leitung könnte beim Schließen jener Lücke helfen. Dabei handelt es sich um ein Thema, dem in der praktisch-theologischen Diskussion bisher nur eine untergeordnete Aufmerksamkeit zugekommen ist. Um diesen Aspekt weiter zu verdeutlichen, kann ein Blick auf die grundlegende Unterscheidung von Jürgen Belz hilfreich sein.2 Belz unterscheidet drei Dimensionen von Kybernetik: 1
Pohl-Patalong konstatiert, „dass die kybernetischen und die pastoraltheologischen Forschungen gegenwärtig weitgehend unverbunden nebeneinander laufen.“ Pohl-Patalong (2006), 224. 2 Vgl. Belz (2009), 46-53.
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Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
a) Die institutionelle, b) die personelle und c) die systemische Dimension von Kybernetik. Vergleichen wir diese drei Dimensionen von Belz nun mit den drei bisher untersuchten Themenfeldern, so lässt sich festhalten, dass die systemische Dimension in den genuinen Modellen zu „Führen und Leiten“ zur Geltung kommt. Die institutionelle Dimension kommt in einer weiten Verwendung dieses Begriffs in der kirchentheoretischen Perspektive zum Ausdruck. Die personelle Dimension von Kybernetik hingegen kann mit einem Blick in die Pastoraltheologie nicht ausreichend erfasst werden, da hier zwar der Fokus auf der Reflexion der pastoralen Rolle liegt, kaum jedoch auf deren kybernetischer Dimension. Als Fazit kann deshalb festgehalten werden: Die Beschäftigung mit dem personellen Aspekt von Leitung ist in Ergänzung nicht Substitution zu den bisher bereits eingebrachten Perspektiven eine ausstehende Aufgabe für die kybernetische Theoriebildung. 6.2.
Wie wird der Begriff „Führen und Leiten“ in der kirchlichtheologischen Literatur gefüllt? – Fünf Akzentuierungen
Eine wesentliche Erkenntnis der Analyse von siebzehn verschiedenen Konzeptionen unterschiedlichster praktisch-theologischer Subdisziplinen ist, dass „Führen und Leiten“ sehr verschiedenen akzentuiert werden kann. So kann die Führungs- und Leitungsaufgabe in verschiedensten Tätigkeiten konkret werden. Die Frage, was „Führen und Leiten“ also eigentlich meint, wird explizit, aber auch oftmals implizit, sehr divergent beantwortet. Dieser Befund soll mit der beistehenden Grafik in einer elementarisierten Form verdeutlicht werden. Die jeweiligen Spezifikationen von Führung und Leitung lassen sich im Wesentlichen in fünf verschiedene Felder clustern. Dabei lassen sich jedoch nur Tendenzen und Schwerpunktsetzungen erfassen, denn in der Regel gibt es zwischen den verschiedenen Dimensionen zahlreiche Überschneidungen, so dass bei einer zu starren Kategorisierung Vorsicht geboten ist. Denn oftmals sind in einer Konzeption mehrere dieser Akzentuierungen in verschiedenen Ausprägungen vorhanden. Dennoch haben sich im bisherigen Verlauf der Untersuchung fünf Tendenzen herauskristallisiert, was unter „Führen und Leiten in einer Kirchengemeinde“ verstanden wird. Beginnen wir mit dem ersten Feld, der Systemtheorie oder dem systemischen Denken. In Teilen der Literatur meint das Leiten einer Gemeinde primär, diese mit einer systemischen Sichtweise zu betrachten. Das trifft etwa für Breitenbach zu, der Kybernetik geradezu mit der allgemeinen Systemtheorie identifizieren kann.3 3
Vgl. Breitenbach (1994), 137.
6. Zwischenbilanz
121
Abbildung 2: Fünf Akzentuierungen von „Führen und Leiten“
Aber auch eine Identifizierung von gemeindlicher Leitungstätigkeit und der Übernahme einer betriebswirtschaftlichen Perspektive hinsichtlich gemeindlicher Prozesse findet sich in der Literatur wieder. Das wird unter dem Schlagwort „Von der Wirtschaft lernen“ mitunter positiv konnotiert, findet aber ebenso in einem negativen Kontext Verwendung. Das ist unter anderem der Fall, wenn sich gegen ein Zuviel an „Führung und Leitung“ ausgesprochen wird, weil damit eine Ökonomisierung der Kirche verbunden wäre.4 Drittens kann die Leitungsfunktion von Pastoren mit der Predigt identifiziert werden. Diese Vorstellung, Leitung sei auf der Seite der Pastorinnen vor allem der Predigtdienst, der sich im Anschluss an CA 28 sine vi sed verbo zu vollziehen habe, findet sich tendenziell eher in einem lutherisch geprägten Kontext und wird in den Grundzügen etwa 4
Besonders deutlich ist diese Gleichsetzung bei Perels, der unter dem Titel „Wie führe ich eine Kirchengemeinde?“ vor allem die Übernahme von betriebswirtschaftlichen Managementmethoden, speziell ein Verständnis von Gemeinde als einer Non-Profit-Organisation fasst. Vgl. Perels (1990). Auch das „Spirituelle Gemeindemanagement“ von Abromeit u.a. liegt tendenziell in dieser Spur, wenn Leitung primär mit der Verwendung von Marketing-Methoden identifiziert wird. In negativer Aufnahme findet sich diese Gleichsetzung bei Karle, da bei ihr eine gewisse Leitungsskepsis mit einer Warnung vor einer Ökonomisierung der Kirche Hand in Hand geht. Anders unterscheidet etwa Klessmann das „Pfarramt als Leitungsamt“ und die damit verbundene organisationssoziologische Sicht vom „Pfarramt als verwaltendes Amt“ und die hiermit verbundene betriebswirtschaftliche Sicht. Vgl. Klessmann (2012), 88-94.
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Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
von Jan Hermelink vertreten.5 Hier wird zumindest der pastorale Aspekt von Leitung weitgehend auf die Predigtaufgabe reduziert.6 Die Spezifizierung, Führung sei primär die Förderung Mitarbeitern (Personalentwicklung), stammt in vielerlei Hinsicht aus der Gemeindeaufbauliteratur der 1980er Jahre7 und wird auch von Schneider/Lehnert entfaltet. Für sie sind Pastoren Trainer der Gemeinde.8 Ein Verständnis von Führung als geistlicher Begleitung hat sich oben vor allem bei Josuttis ausmachen lassen. Menschenführung und Anleitung zur Spiritualität liegen hier nah beieinander.9 Auch Alexander Deeg kann Leitung in eine enge Beziehung zur „geistlichen Begleitung“ stellen, wenn er von der Pastorin als search leader spricht.10 Insgesamt lässt sich konstatieren, dass bei dem Begriff von „Führen und Leiten“ im kirchlichen Kontext verschieden Assoziationen geweckt werden und sich verschiedenste Tätigkeiten verbinden lassen. 6.3.
Die prinzipielle Ebene – Fundamentalkybernetische Problemstellungen in sechs Fragekomplexen gebündelt
Vergegenwärtigen wir uns, dass sich hinsichtlich des Themenfeldes „Führen und Leiten“ drei Ebenen unterscheiden lassen: die prinzipielle, die konzeptionelle und die materiale Ebene (ա1.4.). Im bisherigen Verlauf wurde sich primär mit Literatur beschäftigt, welche sich eher den beiden letztgenannten Ebenen zuordnen ließe. Dabei hat sich gezeigt, dass manchem kybernetischem Leitbild (konzeptionelle Ebene) und 5
Vgl. Hermelink (2011), 254. Er vertritt eine „Konzeption einer pastoralen Leitung allein durch (gemeinde-)öffentliche Verkündigung.“ Herbst bezeichnet ebenfalls die Predigt als „vornehmlichste Leitungstätigkeit“. Vgl. Herbst (2010), 335. Im evangelikalen Raum findet sich diese Spezifikation von Leitung bei Johannes Reimer wieder. Vgl. Reimer (2008). Allerdings fasst Reimer den Begriff der Verkündigung deutlich weiter als die sonntägliche Predigt. 6 M. E. haben viele Aktivitäten kirchlichen Lebens eine leitende Dimension, sind aber nicht im engeren Sinne Leitung. Ähnlich auch Meyer-Blanck: „So gesehen geschieht Leitung der Gemeinde nebenbei in allen gemeindlichen Tätigkeiten. Man kann dies neben der im Folgenden zu beschreibenden intentionalen Leitung die funktionale Gemeindeleitung nennen.“ Meyer-Blanck (2007), 508. 7 Dieser besonders von Eph 4 her entwickelte Gedanke findet sich ausgeprägt im „Missionarischen Gemeindeaufbau“ von Michael Herbst wieder. 8 Vgl. Schneider / Lehnert (2011), 58. 9 So bezieht Wegner „geistliche Leitung“ und Frömmigkeit, respektive die Anleitung anderer zur Frömmigkeit, eng aufeinander. Vgl. Wegner (2007), 191. Damit rückt er „geistliche Leitung“ in eine enge Beziehung zur Seelsorge. Vgl. ebd., 199: „Meine Überlegungen führen im Unterschied zum häufig anzutreffenden Common Sense dazu, geistliche Leitung ausdrücklich als Einheit von (äußerlichem) Leitungshandeln und Seelsorge (im engeren Sinne) zu verstehen.“ 10 Vgl. Deeg (2004), 426: „Vielleicht wird er [die Pfarrperson] zum ‚search leader‘, der ausgebildet ist, Expeditionen in die Weltwirklichkeit Gottes, wie sie die Schrift bezeugt, anzuleiten.“
6. Zwischenbilanz
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mancher Leitungspraxis (materiale Ebene) Weichenstellung auf der prinzipiellen Ebene zugrunde liegt. Diese kybernetischen Grundsatzfragen wurden bei der Analyse der Konzepte eruiert und sollen nun zusammenfassend dargestellt werden. Dabei fokussieren wir uns auf sechs Themenkomplexe. Die Rede von Themenkomplexen bietet sich auch deshalb an, weil unter diesen Überschriften oftmals mehrere miteinander in Beziehung stehende Einzelfragen gefasst werden können. Im Folgenden sollen die einzelnen Konzepte nun in diesen jeweiligen prinzipiellen Themenkomplexen verortet werden. Dazu soll hinsichtlich jeder Fragestellung eine Skala zwischen zwei Polen aufgespannt werden. Ausgewählte Konzepte sollen dann auf dieser Skala eingeordnet werden. Die Beschränkung auf eine Auswahl geschieht dabei zum einen aus Gründen der Übersichtlichkeit, zum anderen aber auch deshalb, da sich nicht jedes Konzept in der jeweiligen Frage verorten lässt. Ebenso vollzieht sich die Darstellung in elementarisierter Form.11 6.3.1. Die normative Grundlage der Gestalt und das „Woher“ kirchengemeindlicher Leitung In diesem Themenkomplex werden all jene Verhältnisbestimmungen gebündelt, welche um die Frage kreisen, woher sich eine spezifische Leitungspraxis herleiten lässt. Woher bezieht also eine kirchliche Steuerungs- und Leitungspraxis gegebenenfalls ihren normativen Anspruch? Woran orientiert sie sich? Welche Funktion kommt dabei etwa der Heiligen Schrift oder der eigenen theologischen Tradition zu? Wie vollzieht sich der Diskurs mit anderen Themenfeldern, wie etwa der Betriebswirtschaftslehre oder der Führungsforschung? Dass hinsichtlich dieser Fragen verschiedenste Verortungen möglich sind, soll anhand zweier Aspekte, den Verhältnisbestimmungen zur Bibel und zum kulturellen Kontext, exemplarisch aufgezeigt werden. Beginnen wir mit der Verhältnisbestimmung von Leitung und Bibel: Inwiefern wird die biblische Überlieferung für kybernetische Fragen direkt-normativ fruchtbar gemacht?
Abbildung 3: Die normative Grundlage kirchengemeindlicher Leitung 11
Die folgende Zusammenfassung vollzieht sich also im Bewusstsein, dass eine solche Darstellungsform die Komplexität der mit den jeweiligen Konzepten verbundenen Positionen nicht erfassen kann. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird sich dennoch für jene elementarisierte Darstellungsform entschieden.
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Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
Auf der linken Seite werden nun Positionen angeordnet, die aus der Bibel ein normatives Leitbild von Leitung ableiten. Auf den rechten Pol zugehend nehmen Ausmaß und Normativität biblisch-theologischer Figuren für die Gestaltung von Gemeindeleitung mehr und mehr ab.12 In den meisten Konzepten werden biblisch-theologische Figuren nicht sonderlich ausgeprägt für die Herleitung des kybernetischen Konzeptes verwendet. Lediglich bei Schwarz findet sich ein Konzept, dass von universellen (biblischen) Prinzipien von Leitung spricht.13 Auf der anderen Seite finden sich Breitenbach und Höher wieder, da hier der biblische Bezugsrahmen nur marginal ausfällt. Auch rechts einzusortieren ist Müller-Weißner, der es explizit ablehnt, sein Leitungsbild von der Bibel her zu entwickeln.14 Er verzichtet dennoch nicht vollständig auf biblische Begründungsfiguren, da Führungsprozesse sich nach ihm dennoch in einem ethischen Bezugsrahmen zu vollziehen haben, konkret sich an der in der Gottesebenbildlichkeit begründeten Menschenwürde orientieren müssen. Ähnlich ist für Pohl Leitung nicht spezifisch biblisch zu begründen, hat sich jedoch theologisch an Werten wie Menschenwürde und Geschlechtergerechtigkeit zu orientieren.15 Preul und Petry argumentieren nun gemeinsam mit einer bestimmten Auslegung von CA VII dafür, Leitungsfragen nicht primär von der Bibel her zu denken. Das satis wird hier so interpretiert, dass Fragen der Kirchengestalt von Zeit zu Zeit flexibel gehandhabt werden können. Zu jenen Fragen der Kirchengestalt wird nun auch die Leitungsthematik gezählt.16 Grethlein erteilt einem normativ-biblischen Bild von Leitung ebenfalls eine Absage, indem er Leitungsfragen nicht beim ius divinum, sondern auf der Seite des ius humanum verortet.17 Herbst selbst nimmt keine explizite Verhältnisbestimmung zwischen Leitung 12
Damit ist in keinem Falle gesagt, dass Positionen, die eher am rechten Pol zu verorten sind, die biblische Tradition gering schätzen. Sie bildet hier nur nicht eine unvermittelt-normative Grundlage für die Entwicklung des jeweiligen kybernetischen Leitbildes. (ա 13.) 13 Vgl. Schwarz (2012), 85. Leitung streng von der Bibel her zu entwickeln, wird mitunter im „evangelikalen Raum“ betrieben. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist: Driscoll (2011). In der Einführung markiert er als Ergebnis seines Suchprozesses nach einem Leitungsmodell: „Am Ende kam dabei ein Leitungsmodell heraus, das biblisch orientiert und praktisch war.“ ebd., 12. 14 Vgl. Müller-Weißner (2003), 17: „Es gibt keine biblisch oder andersartig begründete umfassende Theologie des Führens und Leitens! Sehr wohl der theologischen Reflexion zugänglich sind jedoch die Prämissen, Wertsetzungen, Auswirkungen und Folgen des individuellen Führens und Leitens.“ 15 Vgl. Pohl (2011), 16f. 16 Im Anschluss an Roloff formuliert Petry deshalb auch, dass es kein einheitliches biblisches Bild von Leitung gebe. Petry (2001), 28: „Mehr als das ‚Grundprinzip des Dienens‘ zur Regelung ihres bleibenden Miteinanders hinterläßt er [Jesus] ihnen nicht.“ Weil Führungs- und Leitungsfragen flexibel zu handhaben sind, votiert Petry dann auch für einen situativen Führungsstil. 17 Vgl. Grethlein (2009), 73f.
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und Bibel vor. Dennoch steht Herbst eher in der Tradition von Barmen III. So zeichnet er bspw. auch für den Gemeindeaufbau ein deutliches von der Bibel her entwickeltes Leitbild. Jedoch betont Herbst ebenfalls, dass Leitung situativ angemessen sein muss, sodass er den postmodernen Kontext für die Leitungsfrage einbezieht. Deshalb wird er in der Mitte angeordnet. Hier finden sich ebenfalls Schneider/Lehnert wieder, deren Leitungskonzept sich in vielerlei Hinsicht als eine Entfaltung vor allem von Eph 4 liest und damit Leitung explizit, aber nicht ausschließlich von der Bibel her gedacht wird. Die hier vorhandenen Divergenzen machen deutlich, dass es hilfreich ist, wenn eine praktisch-theologische Kybernetik herausstellt, wie sie sich auf biblische Aussagen zur Gemeindeleitung beziehen möchte und in welcher Art und Weise sie deren Normativität aufnimmt. Diese Verhältnisbestimmung ist im Bereich der Ekklesiologie ausführlich diskutiert, eine Konkretion jener Verhältnisbestimmung explizit für die Frage der Gemeindeleitung steht jedoch noch aus. Es wurde in der Analyse ebenfalls gefragt, ob gesellschaftliche Veränderungsprozesse auch für die Gestaltung von Führung und Leitung in einem Konzept berücksichtigt wurde oder nicht. Die Frage laute: Wie ausgeprägt ist die Korrelation der Analyse des spät- oder postmodernen kulturellen Kontextes einerseits und der Gestaltung von Führungs- und Leitungsprozessen in Kirche und Gemeinde anderseits?
Abbildung 4: Kontext und Leitung
Die Untersuchung hat ein deutliches Ergebnis gezeigt. Fast alle bisher analysierten Konzepte gehen nicht auf die Frage ein, wie sich Führungs- und Leitungsprozesse vor einem spätmodernen Hintergrund zu gestalten haben. Die sieben auf der rechten Seite angeordneten Modelle stehen hierfür exemplarisch. Mancherorts werden durchaus die mit dem Stichwort „Postmoderne“ verbundenen Veränderungsprozesse in der Praktischen Theologie reflektiert – man denke an Grözinger – potentielle Konsequenzen für die Art und Weise, wie Führungs- und Leitungsprozesse zu gestalten wären, werden daraus aber nicht entwickelt. Andere weisen hingegen darauf hin, dass ein gelingendes kybernetisches Handeln aktuelle gesellschaftliche Veränderungsprozesse berücksichtigen muss – man denke hier an Preul – aber die spezifisch postmodernen Veränderungsprozesse werden dann nicht auf das kybernetische Handeln übertragen. Ebenso wird die Frage in den einschlägi-
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Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
gen Beiträgen zu „Führen und Leiten im kirchlichen Kontext“, etwa bei Breitenbach, Petry, Müller-Weißer, Höher oder Pohl, nicht in der Tiefe behandelt. In einer weitaus größeren Ausführlichkeit wird bei Herbst auf das Verhältnis von Postmoderne und Leitung eingegangen. Auch werden hier mit Stichworten wie Triangulierung, gemeinsame Visionsentwicklung oder Leitung im Team Konsequenzen gezogen. Lediglich auch bei Schneider/Lehnert werden Postmoderne und Führung unter dem Schlagwort Dienstbefähigungsdienst zusammengedacht. Allerdings hat die Analyse oben auch manche Unklarheiten an eben jener Stelle ergeben. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Verhältnisbestimmung von Führungs- sowie Leitungspraxis und gegenwärtigem spätmodernen Kontext eine weiterhin gebotene Aufgabe für die praktisch-theologische Kybernetik darstellt. 6.3.2. Wer leitet die Gemeinde? Die Subjekte gemeindlicher Leitung In diesem Fragekomplex wird die Frage nach den Subjekten von kirchengemeindlicher Leitung gestellt. Wer leitet eigentlich in Kirche und Gemeinde? Und wie verhalten sich die verschiedenen am Geschehen der Gemeindeleitung beteiligten Subjekte in ihrem Leitungsverhalten zueinander? Exemplarisch soll das an dieser Stelle an zwei Personengruppen verdeutlicht werden: 1. Leiten Pfarrerinnen und Pfarrer? 2. Leiten Ehrenamtliche?18 Die Beantwortung beider Fragen hängt nicht zwangsläufig zusammen. Denn wer sagt, dass Pastorinnen leiten, trifft damit noch nicht den Umkehrschluss, dass Ehrenamtliche nicht auch eine Leitungsfunktion ausüben sollen. Schauen wir uns nun die Skala für die erste Frage an: Sollen Pfarrer führen und leiten oder gehört Führung wie Leitung nicht zu ihren Aufgaben?19
Abbildung 5: Leitung und Pfarramt
18 Das ist natürlich stark vereinfacht, da es noch diverse weitere Führungs- und Leitungssubjekte gibt, wie z.B. weitere Haupt- und Nebenamtliche. 19 Die Frage ist in ihrer Schlichtheit auch deshalb nicht exakt zu beantworten, weil – wie oben bereits gezeigt – kein Konsens in der Frage besteht, was „Führen und Leiten“ denn eigentlich ist. Deshalb ließe sich diese Frage wohl präziser für verschiedene Dimensionen des Leitungsgeschehens beantworten. In Summe zeigen sich aber dennoch Tendenzen.
6. Zwischenbilanz
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Auf der rechten Seite wird Grözinger platziert. Er beantwortet die Frage explizit negativ. Die Leitungsaufgabe habe vollständig vom Pfarramt auf die Gemeinde überzugehen.20 Dieser Forderung schließt sich Deeg an. Er kann jedoch auch positiv von der Pastorin als search leader sprechen.21 Aus einer reformierten Tradition kommend sieht Pohl bei der Aufgabe der Gemeindeleitung eher das Presbyterium als den Pfarrer gefragt. Eher rechts wird auch Gräb zu verorten sein, denn in seinem pastoraltheologischen Entwurf ist von Leitung als einer pastoralen Tätigkeit nicht die Rede. Das ist natürlich eine argumentum e silentio, aber m.E. dennoch sprechend. Gewissermaßen in der Mitte finden sich Josuttis und Grethlein, da sie vereinzelte Aspekte von Leitung und Führung aufnehmen, die Mehrzahl der Dimensionen jedoch ablehnen. So soll nach Grethlein der Pfarrer zwar im theologischen Sinne leiten, von Verwaltungsaufgaben jedoch entlastet werden. Als mystagogischen Führer kann Josuttis den Pfarrer fassen, von Managementtätigkeiten will er ihn aber befreit wissen. Auf der linken Seite finden sich nun vier Positionen, die dem Pfarrer explizit eine Führungs- wie Leitungsfunktion zuschreiben. MüllerWeißner begründet das vor allem von Rollenzuschreibungen her. Da von Pastoren erwartet wird, dass sie führen, sollen sie auch führen.22 Auch für Herbst ist klar, dass Pfarrer leiten, aber idealiter gemeinsam im Team mit dem Kirchenvorstand. Ebenfalls als integralen Bestandteil der pastoralen Berufsrolle sieht Petry die Leitungsaufgabe.23 In dieser Linie ist für Schneider und Lehnert der Pfarrdienst als Dienstbefähigungsdienst ebenso eine Führungsaufgabe. Damit stehen Kybernetik wie Pastoraltheologie vor der Aufgabe, zu präzisieren, inwiefern das pastorale Amt auch eine Leitungsamt ist, welche Dimensionen von Führung und Leitung es umfasst und wie diese sich zu anderen Akteuren gemeindeleitenden Handelns ins Verhältnis setzen lassen. Dieser Spur soll im weiteren Verlauf nachgegangen werden. Die anschließende zweite Frage lautet: Sollen Ehrenamtliche in der Kirche eine leitende Tätigkeit ausüben?
Abbildung 6: Leitung und Ehrenamt
20 21 22 23
Vgl. Grözinger (1998), 141. Vgl. Deeg (2004), 426. Vgl. Müller-Weißner (2003), 46. Vgl. Petry (2001), 282.
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Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
In weiten Teilen der untersuchten Literatur wird diese Frage positiv beantwortet. So soll nach Grözinger die Gemeinde nur durch Ehrenamtliche geleitet werden. Auch nach Pohl wird die Gemeinde primär durch das Presbyterium geleitet. Herbst sieht aufgrund des pluralen Wirkens des Geistes nur eine plurale Leitung, also eine Leitung im Team als angemessene Leitungsform.24 Ehrenamtliche leiten hier gemeinsam mit der Pfarrerin die Gemeinde. Nach Breitenbach sind hinsichtlich der Gemeindeleitung nicht nur episkopale, sondern auch kongregationale und presbyteriale Leitungsformen zu berücksichtigen.25 Nach ihm sollen also auch Ehrenamtliche leiten. Rechts angeordnet werden Josuttis und Müller-Weißner. Bei ersterem kommt durchaus ein Leitungsmodell ohne Kooperation und Team zum Ausdruck.26 Müller-Weißner konstatiert, dass seines Erachtens in der Kirche Führungsverantwortliche nur Hauptamtliche sein können.27 Insgesamt fällt auf, dass die beiden hier gestellten Fragen nach den Leitungssubjekten unterschiedlich miteinander korrelieren können. Mitunter tritt die Gemeindeleitung durch Ehrenamtliche anstelle der Leitung durch das Pfarramt, mitunter leiten auch beide Personengruppen miteinander gemeinschaftlich. Dass Ehrenamtliche in irgendeiner Form am gemeindlichen Leitungsgeschehen zu beteiligen sind, ist weitestgehend Konsens. Ob und inwiefern Pastorinnen und Pastoren jedoch Leitungsverantwortung übernehmen sollen und wie ihr spezifisches Leitungshandeln dann mit anderen Personengruppen zusammenspielen könnte, ist bei weitem undeutlicher und wird im Folgenden näher zu klären sein. 6.3.3. Wer ist die Gemeinde? Die Bindungsformen und das Verhältnis von Christsein und Gemeinschaft Die bisherige Analyse hat an mehreren Stellen gezeigt, dass die kirchentheoretische Verhältnisbestimmung von Christsein und Gemeinschaft einen erheblichen Einfluss auf die Frage hat, ob „Führen und Leiten“ ein für die Gemeindearbeit relevantes Thema ist und wenn ja, wie es sich zu vollziehen hat. Damit steht die Thematik der Bindungsformen der Kirchenmitglieder zu ihrer Kirche und der damit verbundenen Kategorien von Beteiligung wie Engagement zur Diskussion. Hier kann etwa gefragt werden: Inwiefern ist für das Christsein eine regelmäßige Partizipation an einer Sozialgestalt des Glaubens konstitutiv? Kirchentheoretisch steht damit die Frage nach den gemeinschaftlichen Bezügen des christlichen Lebens im Sinne der Interaktions- wie Bewegungslogik im Raum. Präzisiert fragen wir deshalb:
24 25 26 27
Vgl. Herbst (2011a), 10-13. Vgl. Breitenbach (1994), 320-333. Wagner-Rau (2004), 450ff. Vgl. Müller-Weißner (2003), 46.
6. Zwischenbilanz
129
Wie ausgeprägt wird der gemeinschaftliche Charakter des christlichen Glaubens im engeren Sinne der Institutions- und Bewegungslogik in dem jeweiligen Konzept artikuliert?28
Abbildung 7: Leitung und Bindungsformen
Beginnen wir auf der linken Seite. Hier sind Positionen angeordnet, die Christsein auch in Distanz zur Bewegungs- wie Interaktionslogik von Kirche denken können. So argumentiert etwa Wilhelm Gräb. Pate steht hier ein Modell von Kirche, die sich auf die Unterbreitung religiöser Deutungsangebote konzentriert und mit einem lebenszyklischen Kontakt der Menschen zu einer Kasualkirche rechnet.29 Auch Wagner-Rau bringt mit ihrem Leitbild vom Gasthaus zum Ausdruck, dass eine Struktur von Gemeinde, „die das normierende Bild einer sehr verbindlichen, aktiven Zugehörigkeit in sich“30 trägt, vorüber sei. Das Bindungsbild der Kirchenmitglieder ist hier das des Gastes. Etwas weiter in der Mitte ist Preul anzusiedeln. Auch wenn er kein vergleichsweise distanziertes Idealbild von Kirchenmitgliedschaft zeichnet, so unterstreicht er doch die mit dem Begriff der Volkskirche gegebene prinzipielle Offenheit. Kirche dürfe eben nicht auf die reduziert werden, die mit Ernst Christ sein wollen. Eine Titulierung anderer als „Namenschristen“ verbiete sich deshalb.31 Hermelink betont, dass verschiedenste Gemeindemodelle und entsprechende Bindungsformen historisch gewachsen sind, was zu der gegenwärtig vielfältigen Situation geführt hat. Jene Pluralität wird von ihm indirekt begrüßt. Eng zusammen gehören die beiden „Rummelsberger Modelle“ von Breitenbach und Petry. Im Hintergrund steht hier eine konziliar organisierte, aktive und sich beteiligende Gemeinde, was bei Petry an der ausdrücklichen Betonung der Relevanz des Allgemeinen Priestertums deutlich wird. Aber selbst wenn Beteiligung erwünscht ist, so werden ebenfalls sogenannte „distanziertere Bindungsformen“ zur Kirche nicht geringgeschätzt, sondern in Teilen auch begrüßt. Etwas weiter rechts 28 Damit verbindet dieser Themenkomplex zahlreiche Kategorien miteinander, wie etwa: Anwesenheit/Abwesenheit und Passivität/Beteiligung. Diese Kategorien der Frequenz und der Intensität sind zwar nicht deckungsgleich, korrelieren jedoch in vielerlei Hinsicht miteinander. 29 Überhaupt orientiert Gräb die Praktische Theologie gar nicht an einer Kirchentheorie, sondern an einem über die Kirche hinausgehenden, allgemeinen Religionsbegriff. Das unterscheidet ihn bspw. von Preul. Vgl. Gräb (2000), 23ff. 30 Wagner-Rau (2004), 458. 31 Zu Preuls Begriff von Volkskirche: Vgl. Preul (1997), 178-203.
130
Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
ließe sich Karle anordnen, denn sie stellt ausdrücklich bei aller Bejahung der Kasualkirche vor allem die Ortsgemeinde in den Fokus.32 Sie betont die Kommunikation unter Anwesenden, also die Interaktionslogik von Kirche. Sie gesteht wohl verschiedene Bindungsformen zu, begrüßt aber die Anwesenheit der Christen in der Ortsgemeinde. Schneider und Lehnert zeichnen das Ideal einer beteiligten Gemeinde. Die Gemeinde ist hier das Trainingslager, der Ort, an dem die Christen für den Dienst in der Welt zugerüstet werden.33 Ganz rechts ist schließlich Herbst zu verorten. Unter dem aus der Barmer Theologischen Erklärung übernommen Stichwort der „Gemeinde von Brüdern“ werden Christsein und die Bewegungslogik von Kirche sehr eng aufeinander bezogen, sodass er in Abgrenzung auch formulieren kann: „Wer hier fernbleiben kann, [...], wer hier feststellen muß, daß er in Distanz lebt zur Gemeinde, [...], von dem muß wohl in der Regel gelten, daß er noch nie eine Grundentscheidung für Jesus Christus, eine ganzheitliche Umkehr zu ihm und seinem Leib, der Gemeinde, erlebt hat.“34 Insgesamt lässt sich eine Korrelation zwischen der jeweiligen Auffassung des „ekklesiale[n] Charakter des Glaubens“35 und der kybernetischen Konzeption konstatieren. Deshalb wird die Frage nach dem Gemeinschaftsbezug des christlichen Glaubens mit den sich daraus ergebenden kybernetischen Konsequenzen weiter zu vertiefen sein. 6.3.4. Ist Leitung coram hominibus erlaubt? Die Wahrheitsfrage in der Kybernetik In diesem Themenkomplex sammeln sich Fragen, die um das epistemologische Problem des Wahrheitsverständnisses kreisen. Die hier subsummierten Fragestellungen sind äußerst mehrschichtig, sodass dieser Themenkomplex weniger einheitlich ist als andere. Dennoch weisen sie in vielerlei Hinsicht eine gemeinsame Stoßrichtung auf. Einige Beispiele: „Wenn es bei einem Entscheidungsprozess mehrere Auffassungen gibt, kann dann in richtige und falsche Auffassungen unterschieden werden? Und wenn ja, ist die Leitungsperson dazu imstande, diese Unterscheidung vorzunehmen?“ Oder: „In welchen Fällen muss in Leitungsfragen in richtig und falsch unterschieden werden und in welchen Fällen gibt es verschiedene Wahrheiten?“ Oder: „Selbst wenn die Leitung ‚das Richtige‘ erkannt hat, darf sie dieses dann gegen den Widerstand Andersdenkender durchsetzen?“ Fragen wie diese sind im Detail durchaus divergent, dennoch kreisen sie gemeinsam um die grundsätzliche Anfrage an Leitungsprozesse, ob Leitung als gezielte Einflussnahme gegenüber anderen Menschen erlaubt ist. Gefragt wird also: 32
Vgl. Karle (2011), 131ff. Vgl. Schneider / Lehnert (2011), 139. 34 Herbst (2010), 135. 35 Vgl. Hermelink (2000), 101. 33
6. Zwischenbilanz
131
Kann und darf Leitung zwischen Richtig/Wahr unterscheiden und dann das als richtig Erkannte auch gegen Widerstand umsetzen oder ist Leitung nur Moderation, weil es die eine Wahrheit eben nicht gibt?
Abbildung 8: Leitung und Wahrheit
Rechts sind Positionen angeordnet, die eine solche Unterscheidung ablehnen und für die Leitung eher die Aufgabe der Moderation verschiedener Sichtweisen darstellt. So verkündigt nach Gräb die Kirche nicht die Wahrheit, sondern unterbreitet Deutungsangebote. Für Breitenbach gibt es in den meisten Fällen kein richtig und falsch, sondern ein „sowohl – als auch“. Von der Ökumene herkommend gelangt er zu einer bewussten Bejahung der Pluralität. Diesem Ansatz folgt i. W. auch Petry. Für ihn ist Wahrheit i.W. ein Produkt des Diskurses. Da die Führungskraft nicht im Besitz der Wahrheit sei, darf sie nicht in einem asymmetrischen Verhältnis zum Geführten stehen. Sie ist Helferin zur Freude. Müller-Weißner folgt den Grundeinsichten des Konstruktivismus. Wahrheit sei ein Konstrukt und abhängig von der Wahrnehmung jedes einzelnen. Wagner-Rau möchte, dass im Gasthaus die Differenzen stehen gelassen werden. Keiner soll hier missioniert werden. Eher rechts anzuordnen ist auch der Ansatz von Friederike und Peter Höher. Ihr Leitungsverständnis wird vom Paradigma der Moderation bestimmt. Es gebe stets mehrere Wahrheiten. Dennoch gestehen sie der Führungskraft auch zu, ihr Gegenüber überzeugen zu dürfen. Eine Mittelposition nimmt Josuttis ein. Der Führer in das Heilige gibt einerseits einen klaren Weg vor, allerdings ist sein religionsphänomenologischer Ansatz auch deutlich plural. Weiter links erscheint Herbst. Bei ihm bleibt der missionarische Gemeindeaufbau auch dann geboten, wenn er sich gegen den Widerstand des Kirchenvorstandes vollziehen muss. Allerdings betont Herbst, dass es „die“ Wahrheit eben nur in letzten Dingen gebe. Ganz links ist schließlich Schwarz einzusortieren. Nach ihm muss es auch kühne Schritte gegen den Widerstand anderer geben. Eine Leitungsperson dürfe nicht immer auf die Zustimmung aller warten. Für den weiteren Verlauf steht damit eine ausführliche Reflexion des Verhältnisses zu den besonders mit systemischen Ansätzen verbundenen konstruktivistischen Grundannahmen aus, vor allem in einem epistemologischen Horizont. Die damit verbundenen Problematiken betreffen etwa die Rede von der Wahrheit in kybernetischen Kontexten, den normativen Rückbezug von Leitungsentscheidungen wie auch den Umgang mit der Diversität von Meinungen und Positionen.
132
Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
6.3.5. Ist Leitung coram deo erlaubt? Gottes- und Menschenhandeln in der Kybernetik Bei diesem Fragekomplex geht es um die Verhältnisbestimmung von göttlichem und menschlichem Handeln in Leitungsprozessen. Wie lassen sich menschliches und göttliches Handeln im kybernetischen Kontext gedanklich aufeinander beziehen?
Abbildung 9: Ist Leitung coram deo erlaubt?
Auf der rechten Seite der Skala befinden sich Entwürfe, die gegenüber menschlichen Steuerungsprozessen in der Kirche skeptisch sind, weil befürchtet wird, dass hier dem Menschen eine Aufgabe zugeschrieben wird, die nur Gott ausführen kann. Diese Befürchtung wird vor allem von Karle und Josuttis geäußert. Bei Josuttis eher implizit, denn für ihn ist der Glaube nicht organisierbar. Bei Karle wird der Vorbehalt dann explizit entfaltet. Die gegenwärtigen kirchlichen Steuerungsprozesse setzten ein atheologisches Machbarkeitsdenken voraus. Indem Kirchenreformpapiere mit einem hohen Maß an Steuer- und Machbarkeit rechnen, vermischen sie göttliches und menschliches Handeln. Als Konsequenz bleiben beide gegenüber dem Thema Leitung in der Kirche skeptisch. Den gleichen Vorbehalt artikuliert ebenfalls Hermelink. Insgesamt wird er aber auf der Skala etwas weiter links angeordnet, da er „menschliche“ Leitungsprozesse noch mehr wertschätzt. Bei Pohl wird mehrfach vor einem „Machbarkeitswahn“36 gewarnt, der entstehe, wenn Gott nicht der menschlichen Wirklichkeit vorgeordnet wird. Er gewinnt in Summe dennoch einen konstruktiven Zugang zu diversen Leitungstools und deren kirchlicher Rezeption. Auch Preul macht die kritische Beobachtung, dass manche Reformversuche der Kirche unangemessen davon ausgingen, dass die Zukunft der Kirche allein vom menschlichen Handeln abhinge. Wir erinnern uns, dass einer seiner Ausgangssätze war, dass Gott selbst seine Kirche leite. Dennoch spielt Preul beides prinzipiell nicht gegeneinander aus. „Gott bedient sich des Handelns menschlicher Subjekte, die grundsätzlich eine zweifache Aufgabe haben: die Kirche zu gestalten und die Botschaft der Kirche auszurichten, also eine kybernetische und eine kommunikative Aufgabe.“37 Eine vergleichsweise ähnliche Verhältnisbestimmung findet sich auch bei Herbst, der in Anlehnung an Bohrens Modell der „theonomen Reziprozität“ menschliche Mitarbeit an der Leitung der 36 37
Pohl (2011), 16. Preul (2008), 19.
6. Zwischenbilanz
133
Kirche theologisch bejaht. Aber Herbst weist ebenso darauf hin, dass dazu die Verantwortung tritt, sich in kirchlichen Leitungsprozessen von Gott selbst leiten zu lassen. Bei Friederike und Peter Höher wird die Problemstellung gar nicht verhandelt. Selbstverständlich werden Erkenntnisse aus dem betriebswirtschaftlichen Kontext für die kirchliche Praxis übernommen. Kirchliche Steuerungsprozesse werden hier ganz und gar „menschlich“ gedacht.38 Links auf der Skala wird Müller-Weißner einzuordnen sein. Er warnt explizit davor, mithilfe von biblischen Bildern die Kirche als machtfreien Raum zu zeichnen und sich deshalb nur auf Gottes Leitungshandeln zu verlassen. Im weiteren Verlauf wird deshalb zu klären sein, wie sich menschliches und göttliches Handeln gedanklich so aufeinander beziehen lassen, dass kybernetisches Handeln einerseits die Gefahren von lähmender Passivität wie grundsätzlicher Skepsis gegenüber gezieltem menschlichem Handeln vermeidet, andererseits aber auch nicht einer unreformatorischen Werkgerechtigkeit wie einer Ausblendung göttlichen Wirkens zu erliegen droht. 6.3.6. Ist Leitung coram mundo möglich? – Steuerung komplexer Systeme Jene grundsätzliche Anfrage an Steuerungsprozesse ist nicht zuletzt auch aufgrund der in jüngerer Zeit weit verbreiteten systemischen Perspektive deutlich geworden. Sie lautet: Inwiefern ist gezielte Einflussnahme oder Steuerung gerade im Angesicht der Komplexität von Systemen möglich?
Abbildung 10: Ist Leitung coram mundo möglich?
Rechts angeordnet wurden Positionen, welche die Wirklichkeit für so komplex halten, dass bewusste und gezielte Steuerung für nicht oder nur eingeschränkt möglich gehalten wird. Links finden sich dann Ansätze, die auch lineare Steuerungsmomente prinzipiell bejahen. Ganz rechts findet sich Breitenbach. Nach ihm leiten weniger einzelne Individuen ein System, sondern das System leitet sich selbst. Auf eine „Illusion der Machbarkeit“ oder „Illusion zentraler Steuerbarkeit der 38
Wobei das ein argumentum e silentio ist, da die Aussage, dass auch Gott selbst die Kirche leite, nicht explizit negiert wird.
134
Teil 1: Führen und Leiten in der Praktischen Theologie
Kirche“39 möchte er verzichten. Dieser Kritikpunkt wird strukturell ähnlich auch von Karle vorgebracht. Besonders markant entfaltet sie ihre Kritik am Aspekt der Motivation, wonach sich die entscheidende intrinsische Motivation eines Menschen „nicht von außen steuern oder erzeugen, allerdings beeinträchtigen oder zerstören“40 lässt.41 Auch Petry weiß sich dem systemischen Gedanken verpflichtet, er selbst polarisiert jedoch nicht gegen einen „Mythos zentraler Steuerbarkeit“. Müller-Weißner erblickt in einem Großteil der Führungsliteratur den Mythos des linearen Denkens.42 Der Mensch sei jedoch keine triviale Maschine, vielmehr sei menschliches Verhalten von einer nicht zu überblickenden Anzahl unterschiedlicher Faktoren beeinflusst. Auch für Friederike und Peter Höher vollzieht sich Führung „nicht linear von ‚A‘ nach ‚B‘ “43, sondern sei komplex und „eingebettet in das Konzept einer Unternehmenskultur“44. In der Mitte kann der Entwurf von Herbst angeordnet werden. Stand das „Spirituelle Gemeindemanagement“ noch in mancherlei Hinsicht in der Tradition des linearen Denkens, so spricht er mittlerweile davon, dass „wir die Hoffnung auf lineare Leitung ‚top down‘ getrost beerdigt haben.“45 Allerdings will er nicht das Umgekehrte denken, wonach Leitung nichts mehr bewegen könne. „Geistliche Leitung ist ein Mitleiten in komplexen Systemen.“46 Ganz links wird Schwarz zu verorten sein. Nach ihm sind gemeindliche Wachstumsprozesse mess- und steuerbar. Im weiteren Verlauf wird deshalb zu klären sein, inwiefern Gemeindeleitungsprozesse unter komplexen Bedingungen gestaltet werden können und wie überhaupt noch von gezielter Einflussnahme im kybernetischen Kontext gesprochen werden kann. 39
Breitenbach (1994), 232. Karle (2011), 212. 41 Ähnlich formuliert es Meyns: „Die Handlungsspielräume der Kirche sind begrenzt, es gibt keine einfachen Lösung, jede organisierbare Lösung produziert mehr Probleme, als sie löst.“ Vgl. Meyns (2013), 211. Vgl. auch: Ebd., 214. 42 Vgl. Müller-Weißner (2003), 88: „Diese Mythen sind nichts anderes als Versuche, komplexe Zusammenhänge auf einfache, in sich stimmige Erklärungszusammenhänge zu reduzieren.“ 43 Höher / Höher (1999), 22. 44 Ebd. 45 Herbst (2011a), 13. 46 Ebd., 14. Eine interessante Mittelposition nimmt in bestimmter Hinsicht jüngst auch Holger Böckel ein. Er bleibt, was Steuerung anbelangt, grundsätzlich systemisch zurückhaltend. „Führung sollte die Selbststeuerung des Systems fördern“, was mit einer gewissen „Zurückhaltung im Blick auf die eigenen Regelungsansprüche“ einherzugehen habe. Vgl. Böckel (2014), 138. Das bedeutet für ihn im Umkehrschluss jedoch keinen Verzicht auf gezieltes und intentionales Handeln, so dass er summa summarum im systemischen Kontext zu einem positiven Verhältnis zur Arbeit mit Zielen gelangt. Vgl. Ebd., 687: „Führen geschieht als gezielte, nicht planlose, als bewusste, nicht inflationäre Intervention in die gewohnten und eingeübten Steuerungsaktivitäten.“ Dazu müsse die „sensible Mitte zwischen Über- und Untersteuerung“ gefunden werden. 40
Teil II Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung außerhalb des kirchlichtheologischen Diskurses
7.
Was ist Führung? – Ein Überblick zum gegenwärtigen Stand der Theoriebildung
Was ist „Führen und Leiten“? Bisher sprachen wir im Sinne einer Minimaldefinition von einem „zielbezogenen Beeinflussungsprozess“, haben jedoch nicht ausgeführt, worin dieser besteht. Darüber hinaus ergab die Analyse der theologischen Literatur nur vereinzelt Antworten auf diese Frage. Nun verlassen wir jedoch den Raum der Theologie und fragen noch einmal. So ist es das Ziel dieses zweiten Teils des Buches, über den gegenwärtigen Stand der Führungsforschung zu informieren. Dieser „Durchgang“ durch die zeitgenössische Führungsliteratur vollzieht sich jedoch mit einem gewissen Fokus. Wir fragen sowohl „Welche Entwicklungen hat es auf dem Gebiet der Führung in jüngerer Zeit gegeben?“ als auch „Welche Aspekte von Führung müssen sich unter spät- oder postmodernen Bedingungen verändern?“. Allerdings zeigt ein Blick in die Literatur zur Führungsforschung, dass jene Begriffe der Spät- oder Postmoderne dort nur marginal verwendet werden. Sie werden deshalb im Folgenden als Begriffe nur eine untergeordnete Rolle spielen, allerdings nicht der Sache nach. Denn inhaltlich gibt es zahlreiche Entsprechungen. Denn die die Frage, wie sich gesellschaftliche Veränderungsprozesse auf Führung auswirken, ist auch im außerkirchlichen Kontext durchaus en vogue. Natürlich finden bei dem folgenden „Durchgang“ auch manche jener Fragen Berücksichtigung, die am Ende des letzten Kapitels herausgearbeitet wurden und offen geblieben sind. Das gilt besonders für die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Führungshandeln und systemtheoretischen Konzeptionen (ա 3.4). Wir fragen, ob in der aktuellen Führungsforschung hierzu weiterhelfende Perspektiven eröffnet werden. Hin und wieder wird bei dem folgenden Verfahren auch deutlich gemacht werden, wo ein jeweiliges Konzept auf theologischer Seite rezipiert wurde. Das geschieht zwar in der Regel selektiv, eröffnet jedoch auch neue Sichtweisen auf die praktisch-theologische Kybernetik, wenn Artverwandtschaften zu außerkirchlichen Modellen deutlich werden. Darüber hinaus wird nun gehäuft von „Führen“ und weniger von „Leiten“ die Rede sein. Es hat sich bereits herausgestellt, dass die eher personenorientierte Dimension des Führens in der theologischen Kybernetik gegenüber dem Leiten in mancher Hinsicht ein Schattendasein
138
Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
führt. Deshalb soll diese Dimension jetzt besonders beleuchtet werden. Darum ist der vornehmliche Diskussionspartner an dieser Stelle in erster Linie die eher psychologisch geprägte Führungsforschung und Leadership-Literatur, weniger jedoch die verstärkt soziologisch geprägte Organisationssoziologie oder ökonomisch bestimmte Betriebswirtschaftslehre. Deren Relevanz soll dadurch nicht geschmälert werden, aber der Zugang über die Führungswissenschaften ist in der Praktischen Theologie bislang eher selten gegangen worden. Deshalb betreten wir in gewisser Hinsicht Neuland. Dennoch wird bei all dem kein Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben sein. Manche durchaus gewichtige und relevante Themen werden nicht entfaltet werden können, weil sie nicht zur Fragestellung im engeren Sinne passen. Maria Stippler unterteilt das weite Feld der Führungstheorien in einem aktuellen Überblick in mindestens drei Gruppierungen. Da wären erstens die „klassischen Ansätze“ zum Thema Führung, zweitens die systemische Perspektive und drittens Entwürfe, die Führung verstärkt als ein Beziehungsphänomen verstehen.1 Solche Einteilungen haben zwar immer ihre Ambivalenzen, können aber dennoch die unterschiedlichen Tendenzen verdeutlichen. Deshalb orientieren sich auch die folgenden Ausführungen an dieser Clusterung. In einem ersten Schritt, der aus dem vorliegenden Kapitel besteht, wird gezeigt, wie die verschiedensten klassischen Führungstheorien ein Gesamtbild von Führung als einem mehrschichtigen Prozess ergeben. Anschließend soll zweitens nach der systemischen Perspektive auf Führungsprozesse gefragt werden (ա 8.). In einem dritten Schritt kommt mit Servant Leadership exemplarisch ein beziehungsorientiertes Führungsmodell zur Sprache (ա 9.). Den Abschluss bildet eine Betrachtung diverser Trends und Themen der Führungsforschung (ա10.) Es ist weder notwendig noch sinnvoll, im Folgenden eine Vielzahl von Führungstheorien en détail vorzustellen. Dazu sei auf die einschlägigen Standardwerke verwiesen, auf die sich auch ein Großteil der nun anschließenden Ausführungen bezieht.2 Dennoch ist es unerlässlich, den mehr oder minder breiten Konsens der Führungsforschung nun gewissermaßen als einen Ausgangspunkt zu skizzieren, hinter den dann auch alles Weitere nicht mehr zurückgehen wird. Wenn wir uns also später der Frage zuwenden werden, wie denn nun in unserem gegenwärtigen „spätmodernen“ Kontext „anders“ zu führen sei, dann wird jenes „anders“ einen einzelnen Aspekt von Führung womöglich neuartig fassen, 1
Vgl. Stippler (2011), 12. Verwiesen sei auf die Einführung von Johannes Steyrer. Vgl. Steyrer (2009). Ein Überblick über den gegenwärtigen Stand mit besonderer Berücksichtigung der Situation in Deutschland wurde gemeinsam von Maria Stippler, Sadie Moore, Seth Rosenthal und Tina Dörfer vorgelegt. Vgl. Stippler (2011). Ein Standardwerk im angelsächsischen Raum ist: Northouse (2013). 2
7. Was ist Führung?
139
damit jedoch nicht gleichsam die in den knapp letzten hundert Jahren3 gemachten Erkenntnisse hinsichtlich Führung obsolet machen. Deshalb nun die Leitfrage: Welches Bild von Führung wird in der gegenwärtigen Führungsforschung gezeichnet? Die Antwort fällt im Groben so aus: Wird Führung als „zielbezogener Beeinflussungsprozess“ zu verstehen sein, dann impliziert das einen komplexen Prozesscharakter, der eine Vielzahl von Aspekten beinhaltet.4 Gelingende Führung wird nun möglichst alle diese Aspekte berücksichtigen müssen. Die Führungsforschung hat eine Vielzahl von Theorien hervorgebracht. Vereinfacht gesagt, beleuchtet jede Theorie einen oder mehrere Aspekte des Führungsprozesses. In der Schärfung der Wahrnehmung für die jeweiligen einzelnen Aspekte liegt jeweils ihre Stärke, aber auch ihre Begrenzung. Betrachtet man die divergierenden Theorien jedoch zusammen und lässt die Aspekte sich gewissermaßen ergänzen, dann ergibt sich ein vergleichsweise vollständiges Bild von Führung als einem komplexen Prozess.5 Nach diesen einleitenden Worten kann nun weitergefragt werden: „Was sind jene einzelnen Theorien und welchen Aspekt des komplexen Prozesses von Führung beleuchten sie?“ 7.1.
Die Eigenschaftstheorie – Führen als eine Eigenschaft der Führungskraft
Der Grundgedanke diverser Führungsansätze, die explizit oder implizit der Eigenschaftstheorie verpflichtet sind, lautet: (Erfolgreiche) Führung hängt von den „richtigen“ Eigenschaften der Führungskraft ab. Steyrer 3
Nach Francis Yammarino markiert in etwa das Jahr 1900 den Beginn der systematisch-wissenschaftlichen Erforschung von Führung. Vgl. Yammarino (2013), 150. 4 “Leadership theories are more and more acknowledging the complex process that leadership actually is.” Vgl. van Dierendonck (2011), 1234, 1234. 5 Damit wird grundsätzlich der Ansatz einer Synthese verschiedenster Führungstheorien verfolgt. Bei einem solchen synthetischen Verfahren besteht grundsätzlich die Gefahr a priori Spannungen und Widersprüche zwischen den einzelnen Konzeptionen zu nivellieren. Der Fall ist hier jedoch anders gelagert. Die Möglichkeit einer Synthese diverser Führungsansätze war keineswegs die Prämisse der Analyse, die der folgenden Darstellung zugrunde liegt. Wohl zeigte sich aber aus der Retroperspektive, dass die hier genannten Modelle eher ergänzende als sich ausschließende Perspektiven auf das Phänomen Führung bieten. Es sei dennoch darauf hingewiesen, dass insofern keine Gleichwertigkeit zwischen jenen Ansätzen besteht, insofern sie nicht alle über die gleiche explanatorische Kraft verfügen, gleichermaßen plausibel sind und gegenwärtig nicht gleichermaßen stark rezipiert werden.
140
Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
bezeichnet es so: „Es gibt geborene Führungspersönlichkeiten, die in allen Situationen erfolgreich führen.“6 Mit Stippler ist die Eigenschaftstheorie so zu verstehen: „Führende wurden als einzigartige, besondere Persönlichkeiten angesehen, ausgestattet mit angeborenen Qualitäten und Charaktereigenschaften, die sie auf natürliche Weise zur Führung befähigten bzw. prädestinierten.“7 Dieses Modell prägte über weite Strecken des 20. Jahrhunderts die Führungsforschung. Der Ansatz korrespondierte auch mit einem gewissen Geschichtsverständnis. Die Weltgeschichte entspricht den Biographien großer Männer.8 Wenn erfolgreiche Führung von den Eigenschaften der Führungskraft abhängt, dann hat diese Theorie für die Praxis folgende Konsequenz: Es wird darum gehen müssen, die richtige Führungskraft als eine solche zu identifizieren und sie in eine Führungsposition zu bringen.9 Es wurden zahlreiche Anläufe unternommen, eine Liste mit jenen Eigenschaften zu erstellen, die eine Führungskraft benötigt.10 Ein Konsens konnte bei der Identifizierung jener Eigenschaften jedoch nicht erreicht werden. Einige Beispiele seien dennoch genannt. Im Anschluss an eine Metastudie von Judge, Bono, Ilies und Gerhard resümiert Steyrer, „dass Führung aus einer Kombination aus sozialer Anpassungsfähigkeit, Dominanz, Ambitioniertheit, Integrität und Selbstvertrauen hervorgeht bzw. damit auch Erfolgsvoraussetzungen verknüpft sind.“11 Die meisten dieser Listen zeichnen sich jedoch durch ein hohes Maß an Subjektivität und Dependenz zu kulturellen Vorstellungen ihrer Entstehungszeit aus, was beispielsweise dort evident wird, wenn Richard Mann 1959 Maskulinität als eine notwendige Führungseigenschaft identifiziert.12 In der Spur der Eigenschaftstheorie wurde in jüngerer Zeit auch über den Zusammenhang von Persönlichkeitstypologien und Führung ge6
Steyrer (2009), 42. Stippler (2011), 16. 8 Vgl. Steyrer (2009), 42. 9 Vgl. Northouse (2013), 29. 10 Besonders im evangelikalen Raum wird die Eigenschaftstheorie öfters rezipiert. Bill Hybels identifiziert Einfluss, Charakter, soziale Kompetenz, Tatendrang und Intelligenz als für Führungskräfte notwendige Eigenschaften. Vgl. Hybels (2002), 144-147. John Stott nennt Vision, Fleiß, Beharrlichkeit, Dienstbereitschaft und Disziplin. Vgl. Stott (1988), 131-148. Aber auch bei Volker Lehnert findet dieser Ansatz in Teilen Aufnahme. So ist nach Lehnert das „Alpha-Tier-Sein“ eine notwendige Eigenschaft von Führungskräften. Hierzu gilt: „Alphaeigenschaften können zwar trainiert, aber kaum erlernt werden. Alphaeigenschaften hat man oder man hat sie nicht.“ Vgl. Lehnert (2005), 78. 11 Steyrer (2009), 44. Ähnlich und doch anders kommt Northouse zu dem Ergebnis, dass intelligence, self-confidence, determination, integrity und sociability die Eigenschaften sind, die verschiedenste Listen gemeinsam haben. Vgl. Northouse (2013), 23-26. 12 Vgl. Stippler (2011), 17. 7
7. Was ist Führung?
141
forscht. Zahlreichen Studien lag dabei das „Big 5 Persönlichkeitsmodell“ zugrunde.13 In diesen kam man im Wesentlichen zu folgendem Ergebnis: „Extraversion, Offenheit und emotionale Stabilität [...] begünstigen demnach sowohl das Erreichen einer Führungsposition (Emergent Leader) als auch den Führungserfolg (Effective Leader).“14 Man ist sich einig, dass die Eigenschaftstheorie in erster Linie kritisch zu sehen ist.15 Führung wird unsachgemäß auf den Aspekt der Eigenschaften der Führungskraft reduziert, die Lernbarkeit von Leitung unterschätzt und die Dependenzen zu sozialen Systemen übersehen. Ebenso ist es nicht gelungen, eine zeit- und kulturunabhängige Liste von Führungseigenschafte zu erstellen. Einheitlich negativ wird man die Eigenschaftstheorie jedoch nicht beurteilen dürfen,16 da hier durchaus ein wichtiger Aspekt erfolgreicher Führung gesehen wird. Bestimmte Eigenschaften, wie beispielsweise Extraversion und Intelligenz, korrelieren in der Regel, wenn auch nicht immer, mit Führungserfolg. In Ergänzung mit anderen Führungskonzeptionen haben die hier gewonnenen Erkenntnisse also durchaus ihren Platz. 7.2.
Die Skill-Theorie – Führen als eine Fähigkeit
In der Skill-Theorie wird (erfolgreiche) Führung auf bestimmte Fähigkeiten der Führungskraft zurückgeführt.17 Die Skill-Theorie ist damit gewissermaßen eine Modifikation der Eigenschaftstheorie und hat deshalb mit ihr zahlreiche Gemeinsamkeiten. So reduziert auch sie Führung auf die Person der Führungskraft. Der entscheidende Unterschied ist hier jedoch, dass Führung nicht als eine angeborene und unveränderbare Eigenschaft, sondern als eine erlernbare Fähigkeit verstanden 13 In diesem inzwischen sehr gut validierten Persönlichkeitsmodell wird die Persönlichkeit eines Menschen anhand von fünf Faktoren, den sog. big five, bestimmt, die entweder stark oder schwach ausgeprägt sein können. Ein stark ausgeprägter Neutrotizismus wird mit Attributen wie ängstlich und unsicher beschrieben, also dem Gegenteil von emotionaler Stabilität. Der Faktor Extraversion geht mit einer hohen Geselligkeit einher. Offenheit (für Erfahrungen) wird mit Neugier und Kreativität assoziiert. Ein ausgeprägter Faktor Verträglichkeit (engl. Agreeableness) beschreibt eine Person, die ihre Mitmenschen annimmt, ihnen vertraut und sie fördert. Der letzte Faktor Gewissenhaftigkeit lässt sich mit Begriffen wie organisiert oder kontrolliert beschreiben. Vgl. Northouse (2013), 26f. 14 Steyrer (2009), 46. 15 Vgl. Northouse (2013), 30-32. 16 So hält es bei grundsätzlicher Ablehnung auch Steyrer fest: „Die Eigenschaftstheorie der Führung stand lange Zeit in Misskredit. In den vergangenen Jahren lässt sich allerdings in der Forschung eine gewisse Re-Personalisierung feststellen.[...] Die GLOBE-Studien zeigen, wiederum, dass es einen Kern von Persönlichkeitsmerkmalen zu geben scheint, die weltweit mit herausragender Führung verbunden werden.“ Steyrer (2009), 52. 17 Vgl. Stippler (2011), 18. Vgl. Northouse (2013), 43-74.
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Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
wird. Die praktische Konsequenz daraus ist, dass man nicht als eine Führungskraft geboren wird, sondern Führen lernen kann, aber eben auch muss. Den Anfangspunkt der Skill-Theorie markierte Robert Katz mit einem 1955 im Harvard Business Review publizierten Artikel.18 Katz identifizierte für erfolgreiche Führung drei Fähigkeiten oder besser gesagt: drei Cluster von Fähigkeiten. Da sind erstens bestimmte technische Fähigkeiten, also das Beherrschen einer spezifischen Maschine oder die Fähigkeit zu verkaufen. Diese sind natürlich von Berufsfeld zu Berufsfeld unterschiedlich. Zweitens nennt Katz soziale Fähigkeiten, also etwa die Fähigkeit mit Menschen arbeiten zu können. Drittens identifiziert er noch die Fähigkeit, konzeptionell zu denken. Nach Katz gilt auch der Grundsatz: Je höher die Leitungsebene, desto wichtiger werden konzeptionelle und desto unwichtiger technische Fähigkeiten. Als ein zeitgenössischer Vertreter dieser Konzeptionierung von Führung kann mit Einschränkungen Fredmund Malik gelten.19 Er lehnt die Eigenschaftstheorie mit aller Deutlichkeit ab und möchte Management eher als ein Handwerk verstanden wissen. Führung ist als Handwerk damit wie jeder andere Beruf auch erlernbar.20 Man wird Malik aber nicht vollständig der Skill-Theorie zuordnen können, vielmehr kommt sein Konzept vom systemischen Ansatz her. Das macht deutlich, dass die meisten Konzepte von Führung sich keinem der hier beschriebenen Modelle in Reinkultur zuordnen lassen, sondern eher einzelne Aspekte bestimmter Modelle übernehmen, so wie es Malik mit dem Grundgedanken tut, dass Führung erlernbar sei. Die Skill-Theorie weist darauf hin, dass gelingende Führung auch den Aspekt von erlernbaren Fähigkeiten enthält. Führung sollte aber keineswegs darauf reduziert werden, denn die Schwächen dieser Theorie ähneln sehr denen der Eigenschaftstheorie.21 So existiert beispielsweise kein Konsens über eine Liste mit „universellen Fähigkeiten“ einer erfolgreichen Führungskraft. 7.3.
Die Führungsstil-Theorie – Führung als ein Verhalten
Bei der Führungsstil-Theorie geht es nicht um Eigenschaften oder Fähigkeiten, sondern um den Aspekt des richtigen Führungsverhaltens, respektive des richtigen Führungsstils. Für erfolgreiche Führung ent18
Vgl. Katz (1955). Malik (2006). 20 Vgl. ebd., 59. Mit der Verwendung des Begriffes Handwerk nutzt Malik einen Begriff auf der Grenze von Skill und dem im Folgenden noch zu entfaltenden Führungsaspekt des Verhaltens, was deutlich macht, dass auch die in diesem Kapitel vorgenommene Gruppierung der Führungsaspekte die Komplexität der Wirklichkeit nicht vollständig erfassen kann. 21 Vgl. Stippler (2011), 18. 19
7. Was ist Führung?
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scheidend ist nicht, wie eine Führungskraft ist oder was sie kann, sondern wie sie sich verhält.22 Die Grundlagen für die FührungsstilTheorie wurden durch Studien von Kurt Lewin in Iowa,23 durch die Ohio-State-Studien und Studien an der Universität von Michigan gelegt. Das Ergebnis war, dass sich prinzipiell ein personenorientiertes von einem aufgabenorientierten Führungsverhalten unterscheiden lässt.24 Offen hingegen blieb die Frage, wie beide Dimensionen einander zuzuordnen sind. Die Ohio-State-Studien eruierten in ihren Untersuchungen zwei voneinander unabhängige Faktoren: - Aufgabenorientierung (initiating structure) - Mitarbeiterorientierung (consideration) Steyrer hält hierzu fest: „Ein zentrales Ergebnis der Ohio-Studien: Aufgaben- und Mitarbeiterorientierung schließen einander nicht aus, sondern sind voneinander unabhängig.“25 Da beide Dimensionen voneinander unabhängig sind, kann eine Führungskraft also gleichsam aufgaben- und personenorientiert führen. An der Universität von Michigan wurde eine ähnliche Zweiteilung ermittelt:26 - Aufgabenorientierung (production orientation) - Mitarbeiterorientierung (employee orientation) Anders als bei den Ohio-State-Studien wurden hier beide Dimension jedoch als Bestandteil des gleichen Kontinuums gesehen, sodass eine Führungskraft sich also zwischen einem aufgabenorientierten und einem personenorientierten Verhalten entscheiden muss. Die meisten Folgestudien belegten jedoch die Sichtweise der OhioState-Studien.27 Sind nun beide Dimensionen im Führungsverhalten ausgeprägt, ist der Führungserfolg am größten.28 Allerdings weisen 22
Vgl. ebd., 19-22. Vgl. Steyrer (2009), 52-59. Vgl. Northouse (2013), 75-98. Hier wurde in den 1930er Jahren der Erfolg von drei Führungsstilen untersucht: demokratisch, autoritär und laissez-faire, wobei sich der demokratische Stil als der erfolgreichste und der laissez-faire Stil als der am wenigsten erfolgreiche herausstellte. Vgl. Steyrer (2009), 52f. 24 Bekannt und anschaulich spiegelt diese Unterscheidung das sogenannte Leadership-Grid von Blake und Mountain wieder. Hier handelt es sich um ein Koordinatensystem mit den beiden Achsen Sachorientierung und Menschenorientierung. Erfolgreiche Führung zeichnet sich hier durch eine hohe Punktzahl auf beiden Achsen aus. Vgl. Northouse (2013), 80. 25 Steyrer (2009), 53. 26 Vgl. Stippler (2011), 20. 27 Vgl. ebd. 28 So hält auch Steyrer im Anschluss an eine Metastudie von Judge, Piccolo und Ilies aus dem Jahr 2004 fest: „Kurz zusammengefasst besagt die Metaanalyse so23
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zahlreiche Studien ebenfalls darauf hin, dass sich diese Aussage nicht uneingeschränkt generalisieren lässt, sondern die Anwendung der Stile situationsabhängig ist. Ergo: Es gibt also nicht den universal passenden Führungsstil.29 Insgesamt handelt es sich beim Führungsstil-Modell um keine fertig ausgereifte Führungstheorie, sondern vielmehr um eine bestimmte Sichtweise auf Führung, die mit dem Aspekt des Verhaltens einen relevanten Faktor herausstellt.30 Die Tatsache, dass Führungsverhalten jedoch stets auf eine bestimmte Situation bezogen sein muss, markiert jedoch auch die Ergänzungsbedürftigkeit dieses Ansatzes. 7.4.
Situative Führung – Die Bedeutung des Geführten für den Führungsprozess
Bisher wurden drei Aspekte des Führungsprozesses betrachtet, die sich ausschließlich auf die Person der Führungskraft beziehen (Eigenschaften, Fähigkeiten, Verhalten). Das Konzept der „situativen Führung“ weitet den Blick und identifiziert die Person des Geführten als einen relevanten Faktor. Jenes Modell der „situativen Führung“ wurde gemeinsam von Kenneth Blanchard und Paul Hersey entwickelt.31 Das Konzept baut auf der bei der Verhaltenstheorie erläuterten Unterscheidung in einen personenund einen aufgabenorientierten Führungsstil auf. Hersey und Blanchard sprechen hier von direktivem Verhalten und unterstützendem Verhalten. Nur soll dieser Führungsstil nun dem Mitarbeiter – genauer dessen Reifegrad – angepasst werden. Wie ist nun aber die Reife des Geführten zu bestimmen? Nach den Autoren setzt sich die Reife eines Mitarbeiters zum einen aus der Fähigkeit, eine Aufgabe durchführen zu können, und zum anderen aus der Bereitschaft, eine Aufgabe durchführen zu wollen, zusammen. Bei einem reifen Mitarbeiter seien beide Dimensionen stark ausgeprägt. Es ist nun die Aufgabe der Führungskraft, diesen Entwicklungsstand des Mitarbeiters zu identifizieren und den eigenen Führungsstil demmit, dass beide in den Ohio-State-Studien identifizierten Führungsdimensionen, Mitarbeiterorientierung und Aufgabenorientierung, sowohl mit Zufriedenheit- und Motivations- als auch mit Leistungsindikatoren positiv korrelieren, wobei der Zusammenhang für Mitarbeiterorientierung und Zufriedenheits- und Motivationsindikatoren besonders deutlich ist.“ Vgl. Steyrer (2009), 57. 29 Vgl. Stippler (2011), 22: „Damit wurde deutlich, dass das eigentliche Ziel der Führungsstilforschung, ein allgemeingültiges, immer erfolgreiches Führungsverhalten zu formulieren, nicht erreicht werden konnte.“ 30 Vgl. Northouse (2013), 83. 31 Vgl. ebd., 99-122. Stippler (2011), 22f. Steyrer (2009), 71-74. Es ist hervorhebenswert, dass Kenneth Blanchard auch gemeinsam mit dem Pastor Bill Hybels zum Thema Leadership gearbeitet hat. Vgl. Blanchard / Hybels / Hodges (1999).
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entsprechend anzupassen. Der Grundgedanke ist nun, dass das direktive Führungsverhalten mit zunehmender Reife des Geführten mehr und mehr abnimmt. Das unterstützende Führungsverhalten nimmt mit zunehmender Reife erst zu, dann jedoch wieder ab. Insgesamt ermitteln Hersey und Blanchard vier Führungsstile: Telling, Selling, Participating und Delegating.32 Der Führungsstil Telling wird bei mangelnder Fähigkeit und Bereitschaft auf Seiten des Geführten verwendet und zeichnet sich durch eine hohe Aufgabenorientierung und eine niedrige Mitarbeiterorientierung auf Seiten der Führungskraft aus. Beim Selling (wachsende Fähigkeit und vorhandene Bereitschaft auf Seiten des Geführten) bleibt die Aufgabenorientierung hoch, aber auch die Mitarbeiterorientierung steigt an. Beim Participating (mangelnde Bereitschaft, vorhandene Fähigkeit) tritt der Beziehungsaspekt in den Vordergrund, die Aufgabenorientierung sinkt. Der letzte Stil ist das Delegating (vorhandene Bereitschaft und Fähigkeit). Jetzt kann sowohl die Mitarbeiter- als auch die Aufgabenorientierung reduziert werden.
Der Mehrwert dieser Führungstheorie gegenüber den bisher genannten besteht darin, dass hier die Person des Geführten ein entscheidender Bestandteil des Führungsprozesses ist. Das Modell hebt den Aspekt der Mitarbeiterentwicklung hervor.33 Allerdings sind auch hier manche Aspekte zu problematisieren. Zum einen ist der Begriff „situative Führung“ tendenziell irreführend, da hier ja weniger die Situation, in der sich ein Führungsprozess vollzieht, betrachtet wird, als vielmehr die Person, mit der sich der Führungsprozess vollzieht. Darüber hinaus konnte das Konzept bisher nicht eindeutig empirisch untermauert werden.34 Hinzu kommt, dass der Geführte hier auf den Aspekt der Reife reduziert wird.35 Es sind sicherlich noch weitere Faktoren, beispiels-
32
Vgl. Steyrer (2009), 72. Vgl. ebd., 73. 34 Vgl. ebd., 74. Northouse (2013), 106. Northouse nennt als einen weiteren Kritikpunkt, dass in dem Modell die Bereitschaft des Geführten, eine Aufgabe auszuführen, bei den mittleren Reifegraden abnimmt. Warum das aber so sein soll, kann nicht hinreichend erklärt werden. 35 Andere Führungsmodelle betonen weitere Aspekte auf Seiten des Geführten und können so als eine sinnvolle Ergänzung betrachtet werden. Ein Beispiel dafür wäre die Weg-Ziel-Theorie (Vgl. ebd., 137-160; Stippler (2011), 26f; Steyrer (2009), 74-76). Das von Evans, House, Dessler und Mitchell entwickelten Modell „berücksichtigt als erste Theorie die Motivation der Geführten im Sinne einer Situationsvariablen.“ (Stippler (2011), 26). Der Name der Theorie markiert den Grundgedanken. Führungskräfte helfen Mitarbeitern ein Ziel zu erreichen und die möglichen Hindernisse auf dem Weg auszuräumen. Auch die Persönlichkeitsstruktur des Geführten hat auf diesen Prozess einen wichtigen Einfluss. Obwohl hier der Geführte stärker in den Mittelpunkt gerückt wird, bleibt auch hier die Eindimensionalität von Führung problematisch. „Der wechselseitige interaktive Beeinflussungsprozess zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter bleibt unberücksichtigt.“ (Steyrer (2009), 76). 33
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weise demographische wie Alter, Geschlecht oder der Bildungsstand, zu berücksichtigen.36 Die Stärke des Konzeptes liegt in der Hervorhebung der Person des Geführten für den Führungsprozesses. Seine Begrenzung liegt in der Reduktion auf den Moment der Reife und – das sei zuletzt noch erwähnt – dass Führung hier als eine Einbahnstraße gedacht wird. Der Führungsprozess geht trotz Berücksichtigung des Geführten immer noch einseitig von der Führungskraft aus.37 7.5.
Die Leader-Member Exchange Theorie – Führung als Beziehung
An dieser Stelle setzt nun die Leader-Member Exchange (LMX) Theorie an, denn sie versteht Führung primär als einen Prozess, der aus der Interaktion von Führendem und Geführtem besteht.38 Führung geht hier also nicht einseitig von der Führungskraft aus, sondern ist Beziehung. Der Ansatz gehört zu den in der Fachliteratur gegenwärtig am ausführlichsten diskutierten Führungsmodellen. Die hier zugehörigen Forschungsarbeiten ermittelten zwei Arten von Beziehungsmustern. Führungskräfte neigen unbewusst dazu, ihre Mitarbeiter in zwei Gruppen einzuteilen. Manche Mitarbeiter befinden sich in der in-group, andere hingegen in der out-group.39 Die Beziehung eines Mitarbeiters aus der out-group zur Führungskraft beschränkt sich auf das im Arbeitsvertrag Geregelte. Mitglieder der in-group jedoch haben zum Vorgesetzten eine Austauschbeziehung (Leader-Member Exchange), die darüber hinausgeht. Der Geführte zeigt hier mehr Einsatz, erhält aber auch mehr von dem Führenden (Informationen, Bestätigung etc.). In weiteren Studien wurde eruiert, dass sich Mitglieder der in-group besser fühlen, sie mehr erreichen und damit auch ganze Organisationen40 erfolgreicher werden.41 36
Vgl. Northouse (2013), 108. Northouse folgert aus einer Studie von Vecchio und Boatwright, dass Menschen mit höherem Bildungsstand in der Regel weniger direktives Führungsverhalten benötigen. Auf eine ähnliche Problematik weisen Woolley, Caza und Levy hin, die den Zusammenhang von Authentic Leadership und Geschlecht untersucht haben. Eines ihrer Ergebnisse lautet: “Furthermore, our results highlight the need to consider the influence of follower characteristics in understanding leadership outcomes.” Woolley / Caza / Levy (2011), 444. 37 Dennoch erfreut sich die Konzeption einer gewissen Beliebtheit im kirchlichen Raum. Beispielsweise wurde das Konzept der situativen Führung von Felten und Petry rezipiert und liegt ihrem Führungsverständnis zugrunde. Vgl. Felten / Petry (2002), 87-103. 38 Vgl. Northouse (2013), 161-185; Stippler (2011), 50-52; Steyrer (2009), 69f. 39 Vgl. Northouse (2013), 163f. 40 Wenn wir hier und im Folgenden innerhalb des führungswissenschaftlichen Diskurses von „Organisationen“ sprechen, verstehen wir darunter jede Form von „Sozialsystem“, also auch Bewegungen, Institutionen, usw. Das Gegenüber von
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Mit der Zeit erhielt diese eher deskriptive Theorie zunehmend auch präskriptive Elemente. So sollte es Ziel einer Führungskraft sein, zu möglichst allen Geführten eine in-group Beziehung aufzubauen, sprich Geführten anbieten, neue Rollen einzunehmen und mehr Verantwortung zu übernehmen.42 Problematisch ist hier mitunter, dass die Offenlegung einer unbewussten Unterscheidung von Geführten in Mitglieder der in-group oder der out-group eine solche Unterteilung noch verschärfen kann. Auf einen weiteren kritischen Aspekt weist Northouse hin: ”A [...] criticism of the theory is that researchers have not adequately explained the contextual factors that may have an impact on LMX relationships. [...] For example, workplace norms and other organizational culture variables are likely to influence leader-member exchange.”43 Auch diese Theorie hat also ihre blinden Flecken. So vollzieht sich die Gestaltung einer Beziehung von Führendem und Geführtem nicht im luftleeren Raum, sondern ist abhängig vom Kontext und der Organisationskultur, sprich dem System. Die Stärke des Ansatzes liegt in der Betonung des Beziehungscharakters von Führung. Denn in der Tat nehmen auch Geführte auf den Führungsprozess Einfluss. So können Mitarbeiter etwa nur selektiv Informationen weitergeben, Entscheidungsfindungsprozesse mit gestalten und damit ebenso „nach oben“ leiten. Die Ergänzungsbedürftigkeit des LMX resultiert dennoch aus einer mangelnden systemischen Wahrnehmung des Führungsprozesses. 7.6.
Die transformationale Führungstheorie – Führen als Veränderung zu einem Ziel
Die transformationale44 Führungstheorie basiert – wie es der Begriff bereits ausdrückt – auf Veränderung.45 Der Führungsprozess soll auf eine Veränderung beim Geführten, aber auch bei der Führungskraft selbst abzielen. Diese Transformation vollzieht sich keineswegs ziellos, sondern hin zu einer Vision, welche die Führungskraft mit dem Geführten teilt. Die Theorie selbst geht auf James Burns‘ 1978 erschienene Monographie Leadership zurück46 und wurde dann in den 1980ern vor Organisationslogik und Institutionslogik, wie es in der Praktischen Theologie diskutiert wird, kennt die Führungsforschung so nicht. 41 Vgl. ebd., 164f. 42 Vgl. ebd., 165-168. 43 Ebd., 172. 44 Die Begriffe transformativ und transformational als Übersetzung des englischen transformational werden im Folgenden synonym verwendet. 45 Vgl. ebd., 185-218; Stippler (2011), 54-60; Steyrer (2009), 59-69. 46 Burns (1978).
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allem von Bernard Bass weiterentwickelt.47 Inzwischen ist sie weit verbreitet und gehört zu den am besten erforschten Führungstheorien.48 Dabei erscheint das Modell der transformationalen Führung auch in zahlreichen Modifikationen. So machen beispielsweise neuere Konzepte wie Authentic Leadership oder Servant Leadership zahlreiche Anleihen bei der transformationalen Führungstheorie, respektive kommen mitunter sogar von dieser her. Der Grundgedanke dieser Theorie ist nach Burns die Unterscheidung in ein transaktionales und ein transformationales Führungsverhalten. Transaktionale Führung basiert auf einer Tauschbeziehung.49 So erhält der Geführte für die Zeit, die er dem Unternehmen zur Verfügung stellt, eine Bezahlung. Transformationale Führung jedoch basiert nicht auf einem Austausch. Sie basiert auf einer sinnstiftenden Vision, welche die Geführten an ein höheres Ziel bindet.50 Ebenfalls wichtig ist das Element des Empowerment. Die Geführten sollen befähigt werden, die Vision auch verwirklichen zu können. Nach den Vertretern dieser Theorie ist die transformationale Führung der transaktionalen deutlich überlegen. Die bekannteste Variante dieses Modells wurde von Bernard Bass entwickelt, welche vier Faktoren transformationaler Führung beinhaltet:51 1) Idealized influence: Hier geht es um das Charisma der Führungskraft. Sie ist ein Vorbild, sodass sich die Geführten mit ihr und ihrer Vision identifizieren. 2) Inspirational motivation: Die Führungskraft inspiriert durch Motivation und teilt mit den Geführten eine Vision. 3) Intellectual stimulation: Die Geführten werden so stimuliert, dass sie kreative und innovative Leistungen hervorbringen. 4) Individualized consideration: Führungskräfte bauen ein Klima der Unterstützung für die Geführten auf und hören diesen aufmerksam zu.52 47
Vgl. Northouse (2013), 186f. Der Begriff der transformationalen Führung geht jedoch auf James Downton zurück. 48 Vgl. ebd., 185. So hält Northouse im Anschluss an eine Studie von Lowe und Gardner aus dem Jahr 2001 fest, dass ein Drittel der Forschungsbeiträge einen Bezug zur transformationalen Führung aufweisen. Nach Antonakis (2012) wachse die Literatur zu diesem Thema auch weiterhin an. Über die gewachsene Verbreitung resümiert Steyrer: „In der Forschung hat das Konzept der transformationalen/transaktionalen Führung seit den 1990er Jahren mehr oder weniger die Führungsdimension Mitarbeiter- und Aufgabenorientierung abgelöst.“ Vgl. Steyrer (2009), 64. 49 Vgl. Stippler (2011), 55. Sie spricht an dieser Stelle von einer „rationalen Austauschbeziehung“. 50 Vgl. ebd. 51 Vgl. Northouse (2013), 191-195.
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Das Modell der transformationalen Führung wird auch in der kirchlichen und theologischen Führungsliteratur vergleichsweise ausgeprägt rezipiert. Das gilt besonders für den angelsächsischen Raum, wo das Modell insgesamt weiter verbreitet ist als in Deutschland.53 So fordert zum Beispiel Eddie Gibbs im Anschluss an Lipman-Blumen: ”We need to move from a transactional to a transformational leadership model.”54 Richard Osmer hingegen identifiziert in seiner Einleitung in die Praktische Theologie drei Formen von Führung: aufgabenorientierte, transaktionale und transformationale Führung.55 Alle drei seien für gemeindliches Führungshandeln wichtig und dennoch gelte: ”But today, especially in mainline congregations, it is transforming leadership that is most needed, leadership that can guide a congregation through a process of deep change.”56 In der deutschsprachigen Theologie erfolgte eine partielle Übernahme beispielsweise bei Peter Böhlemann und Michael Herbst. Beide weisen bei grundsätzlicher Bejahung auch auf kritische Aspekte transformationaler Führung hin, so dass „ein guter Schuss transaktionaler Führung“57 eine notwendige Ergänzung sein müsse.58 Auf einige Kritikpunkte sei deshalb nun hingewiesen. Kritisch wird besonders die Nähe des Modells zur charismatischen Führung gesehen.59
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Weitere Beispiele für Varianten dieses Modells wären zum einen die vier Strategien transformationaler Führung nach Bennis und Nanuns (1. eine klare und konkrete Vision. 2. Arbeit als sozialer Architekt. 3. Aufbau von Vertrauen. 4. Selbstkenntnis/ Kenntnis der eigenen Stärken und Schwächen.) oder die fünf Führungspraktiken nach Kouzes und Posner: 1) Model the way. 2) Inspire a shared vision. 3) Challenge the process. 4) Enable others to act. 5) Encourage the heart. Vgl. ebd., 196-199. 53 Auf kritische Aspekte einer solchen Rezeption besonders im evangelikalen Kontext weist Volker Kessler hin. Vgl. Kessler (2013). Als ein Negativ-Beispiel verweist Kessler auf Leighton Fords „Leiten wie Jesus“, wo Jesus Christus als bestes Beispiel für eine transformationale Führungskraft in Reinkultur angeführt wird. 54 Gibbs (2005), 33. Auch bei den Activities of Leadership nennt Gibbs so manches, das seinen Ursprung im Kontext transformationaler Führungstheorien hat, wie beispielsweise die Aufgabe, das Große und Ganze zu sehen und dafür mit dem Team eine Vision zu erstellen. Gibbs unterstreicht auch die hohe Relevanz von Inspiration, Motivation und Einbeziehung. Vgl. ebd., 148-162. 55 Osmer (2008), 176-183. Für eine Zusammenfassung des Ansatzes Osmers: Vgl. Grethlein (2012), 128-130. 56 Osmer (2008), 178. 57 Böhlemann / Herbst (2011), 67. 58 Vgl. ebd., 64-68. Die Autoren weisen darauf hin, dass eine Vision, für die begeistert werden soll, auch theologisch verantwortbar sein muss. Auch könne es bei transformationaler Führung zur Überidentifikation kommen. Ebenso spricht sich Böckel für eine kritische Rezeption im kirchlichen Kontext, vor allem auf Gemeindeebene, aus. Vgl. Böckel (2014), 204. 59 Eine enge Verbindung von transformationaler Führung und Charisma wurde vor allem von House fokussiert. Vgl. Northouse (2013), 187f.
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Über den Begriff des Charismas60 scheint eine große Nähe zur Eigenschaftstheorie zu bestehen, die ja in weiten Teilen als unzureichend gelten kann. So kann transformationale Führung zur Heldenverehrung führen, was besonders vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte problematisch erscheint. Fredmund Malik fragt kritisch: „War nicht das vergangene Jahrhundert die Epoche der charismatischen Führer schlechthin, und hießen sie nicht Hitler, Stalin und Mao?“61 Allerdings sei auch darauf hingewiesen, dass transformationale Führung nicht mit charismatischer Führung gleichgesetzt werden muss. Zu einer besseren Unterscheidung führte Bass die Rede von der pseudo-transformationalen Führung ein. Hier werden die Geführten nur ausgenutzt. Authentische transformationale Führung sei jedoch am Gemeinwohl orientiert.62 Ebenfalls kritisch muss angemerkt werden, dass hier die Einflussmöglichkeiten der Führungskraft in der Regel überbewertet werden.63 So hält Northouse fest: “Researchers have not established that transformational leaders are actually able to transform individuals and organizations [...] There is evidence that indicates that transformational leadership is associated with positive outcomes, such as organizational effectiveness; however, studies have not yet clearly established a causal link between transformational leaders and changes in followers or organizations.”64 Diese offene Frage wurde ja bereits im ersten Teil dieser Arbeit im Anschluss an die Erkenntnisse des systemischen Denkansatzes benannt: Inwiefern ist die gezielte Steuerung eines sozialen Systems überhaupt möglich?
60 In diesem Zusammenhang sind auch die wegweisenden Arbeiten von Max Weber gerade zur sogenannten „charismatischen Herrschaft“ zu nennen. Vgl. Weber (1980 [1921]), 140-144. 61 Malik (2007), 19. Insgesamt scheint bei Malik eine Ablehnung gegenüber dem Konzept transformationaler Führung durch. Vgl. Malik (2006), 25: „Wer das Handwerk von richtigem und gutem Management beherrscht, wird zu der Erkenntnis kommen, dass man vieles nicht braucht, was allgemein als nötig angesehen wird. Zum Beispiel braucht man, um als Führungskraft wirksam zu sein, weder Begeisterung noch Visionen, weder Leadership noch Charisma. Was hingegen nötig ist, sind Professionalität, Sachverstand und Erfahrung.“ 62 Vgl. Northouse (2013), 187: “Socialized transformational leaders transcend their own interests for the sake of others.” In diesem Kontext sei auch auf das sogenannte New Leadership hingewiesen, wo das Konzept transformationaler Führung durch demokratische Ideale ergänzt wird. Vgl. Stippler (2011), 59. 63 Vgl. Steyrer (2009), 68. Auch hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen transformationaler Führung und Führungserfolg besteht noch manche Unklarheit. Während zum Beispiel eine 2007 in Deutschland durchgeführte Studie einen Zusammenhang zwischen transformationaler Führung und Arbeitsleistung erblickt (Vgl. Northouse (2013), 194), bleibt Steyrer im Anschluss an eine Metaanalyse deutlich skeptischer. Vgl. Steyrer (2009), 62. 64 Northouse (2013), 203.
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Deshalb bleibt das Modell der transformationalen Führung ergänzungsbedürftig, beispielsweise durch eine systemische Perspektive. Dennoch weist es auf wichtige Aspekte des Führungsprozesses hin, auf den Aspekt der Veränderung und des Ziels von Führung.65 7.7.
Die Kontingenztheorie – die Bedeutung der Situation für den Führungsprozess
Es ist sicherlich ein Verdienst der von Fred Edward Fiedler entwickelten Kontingenztheorie, die Relevanz der Situation für den Führungsprozess in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt zu haben.66 Zwar umfasst die Situation, in der sich Führung vollzieht, mehr Elemente als die von der Kontingenztheorie erfassten. Dennoch kann die Kontingenztheorie hier exemplarisch für jene Modelle stehen, welche die Bedeutung der Situation unterstreichen. Die Hauptaussage der Kontingenztheorie ist: Nicht jede Führungskraft ist in jeder Situation effektiv. Deshalb müssen Führungskraft und Situation zusammenpassen.67 Fiedler unterscheidet grob in zwei Arten von Führungskräften, in solche, die eher aufgabenorientiert und solche, die eher beziehungsorientiert führen.68 Diese Unterscheidung ist bereits aus der Führungsstilforschung bekannt. Bei der Betrachtung der Situation achtet Fiedler nun auf die sogenannte Günstigkeit. Eine Situation kann also für eine Führungskraft eher günstig oder eher ungünstig sein. Ein Beispiel dafür ist die Komplexität der Aufgabe, die Führungskraft und der Geführte gemeinsam ausführen sollen.69 Je komplexer die Aufgabe, desto ungünstiger ist die Situation. Werden nun Führungskraft und Situation zusammengedacht, ergibt sich die praktische Konsequenz der Kontingenztheorie. In besonders günstigen und ungünstigen Situationen, also in den beiden Extremen, sind aufgabenorientierte Füh65
Auf eine interessante Verbindung von transformationaler Führung zur Genderfrage sei noch verwiesen. So wenden Frauen häufiger als Männer Elemente transformationaler Führung an. Vgl. Hoyt (2013), 352. 66 Vgl. Northouse (2013), 123-136. Stippler (2011), 24f. Steyrer (2009), 84-88. 67 Vgl. Northouse (2013), 123: “In short, contingency theory is concerned with styles and situations. It provides the framework for effectively matching the leader and the situations.” 68 Zur Unterscheidung führte Fiedler die Least Preferred Coworker Scale ein. Hier wird nach dem Mitarbeiter gefragt, mit dem man am unliebsten zusammenarbeitet. Findet man diesen immer noch vergleichsweise sympathisch, ist man nach Fiedler eher beziehungsorientiert, wenn nicht, eher aufgabenorientiert. Vgl. Stippler (2011), 24. 69 Die anderen beiden Situationsvariablen der Kontingenztheorie sind zum einen die Beziehung zwischen Führendem und Geführtem und zum anderen die Positionsmacht, sprich die Macht, die der Führungskraft durch die Situation zugeschrieben wird. Vgl. ebd., 25.
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rungskräfte erfolgreicher. In mittelmäßig günstigen Situationen hingegen agieren beziehungsorientierte Führungskräfte effektiver. 70 Sicherlich erfasst die Kontingenztheorie nicht alle für den Führungsprozess relevanten Situationsvariablen und auch die Unterscheidung in beziehungsorientierte und aufgabenorientierte Führungskräfte hat eine kritisch zu betrachtende Nähe zur Eigenschaftstheorie.71 Dennoch markiert die Kontingenztheorie eine Wende in der Führungsforschung “from focusing on only the leader to focusing on the leader in conjunction with the situation in which the leader works.”72 7.8.
Team-Leadership: Von der Dyade zur Gruppe
In so gut wie allen bisher skizzierten Modellen wurde Führung als eine dyadische Beziehung gedacht. Führung wurde als ein Prozess zwischen der Führungskraft und dem einen Geführten verstanden. Der vergleichsweise junge, jedoch wachsende73 Forschungszweig des TeamLeadership hilft hier dabei, die Perspektive zu erweitern, denn in der Realität betrifft ein Führungsprozess oftmals eine ganze Gruppe oder ein Team.74 Die einzelnen Teilaspekte von Team-Leadership müssen hier nicht im Detail erläutert werden. Wichtig ist es jedoch, den Wechsel von klassischen leader-subordinate (leader-centric) interactions hin zu leaderteam interactions (team-centric) wahrzunehmen.75 Damit gehen ebenfalls Veränderungen hinsichtlich der Aufgabe einer Führungskraft einher. Wichtig sei nun eine Analyse der Gruppendynamik.76 Darüber hinaus ist die Führungskraft „für das Ergebnis bzw. den Erfolg der Zusammenarbeit verantwortlich.“77 Die Effektivität eines Teams wird in der Regel anhand der beiden bereits bekannten Dimensionen von Be-
70
Eine aktuellere Variante der Kontingenztheorie stellt in gewisser Hinsicht das Cynefin framework nach Snowden und Boone dar. In den beiden Extremen, im einfachen und chaotischen Kontext, bedarf es einer autoritären Leitung, während es bei komplizierten und komplexen Kontexten eher eines defensiveren Ansatzes bedarf. Vgl. Snowden / Boone (2007). 71 Vgl. Steyrer (2009), 88. Steyrer bezieht sich hier auch auf die Ohio-State Studien, die gezeigt haben, dass man auch gleichzeitig aufgaben- und beziehungsorientiert führen kann. 72 Northouse (2013), 135. 73 Vgl. ebd., 287: “Leadership in organizational work teams has become one of the most popular and rapidly growing areas of leadership theory and research.” 74 Vgl. ebd., 287-318; Stippler (2011), 52; Pinnow (2012), 296-298. 75 So Northouse im Anschluss an Zaccaro, Heinen und Shuffler. Vgl. Northouse (2013), 288. 76 Vgl. Stippler (2011), 52. 77 Ebd.
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ziehungs- und Aufgabenorientierung gemessen.78 Ist eine der beiden Dimensionen unterwickelt, sollte die Führungskraft diesem Aspekt ihre Aufmerksamkeit zukommen lassen. Dabei kommt die Aufgabe der Führung in einem Team nicht nur der nominellen Führungskraft zu, vielmehr können verschiedenste Führungsaufgaben von einzelnen Teammitgliedern übernommen werden.79 Der Forschungszweig Team-Leadership weitet also die klassisch dyadische Sicht auf Führung. Kritisch geben jedoch Sunstein und Hastie zu bedenken, dass in Gruppen und Teams mitunter wesentlich schlechtere Entscheidungen getroffen werden können als von Individuen. 80 So neigen Gruppenmitglieder etwa dazu, die Fehler ihrer Kollegen nicht zu korrigieren, sondern zu verstärken. Eine zu optimistische Zeitplanung wird noch optimistischer oder die Teammitglieder bestärken sich gegenseitig darin, an einem gescheiterten Projekt festzuhalten. Diese Tendenz gehe oftmals mit Kaskadeneffekten (zuerst geäußerte Meinungen entfalten einen überproportional großen Einfluss) und Gruppenpolarisationen (Gruppenmitglieder polarisieren sich gegenseitig) einher. Nicht immer wird in Gruppen also eine bessere Entscheidung getroffen als wenn ein Einzelner sie träfe. Darüber hinaus ist auch zu bedenken, dass Teams nicht in einem Vakuum agieren. Es gilt auch den Einfluss der Umwelt und des Systems zu beachten. Deshalb bleibt auch die hier eröffnete Perspektive ergänzungsbedürftig. 7.9.
Systemische Führung: Führung als ein systemischer Prozess
Was unter einer systemischen Perspektive auf „Führen und Leiten“ verstanden werden kann, wurde im bisherigen Verlauf bereits mehrfach skizziert, beispielsweise beim kybernetischen Ansatz von Günther Breitenbach oder etwa von Ulrich Müller-Weißner. Auch im Folgenden wird der systemischen Sichtweise auf Führung noch weitere Aufmerksamkeit zukommen. Deshalb reicht es an dieser Stelle aus, den Mehrwert der systemischen Perspektive gegenüber den bisher erwähnten Modellen anzudeuten. 78
Vgl. Northouse (2013), 299: “Two critical functions of team effectiveness are listed: performance (task accomplishment) and development (maintenance of team).” Pinnow spricht davon, dass eine Führungskraft innerhalb eines Teams sowohl Aufgaben- als auch Erhaltungsrollen einnimmt. Erhaltungsrollen beziehen sich auf die Erhaltung des Teams, Aufgabenrollen auf die Erfüllung der Aufgabe. Vgl. Pinnow (2012), 296-298. 79 Vgl. Northouse (2013), 289: “Much of the early work on teams has focused on the traditional role of the formally appointed leader of the team; future research needs to focus more on the distributed or shared leadership within the team.” 80 Vgl. Sunstein / Hastie (2014).
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Nicht nur die Führungsperson und die Geführten, sondern das gesamte System der Organisation, in der sich der Führungsprozess vollzieht, wirkt sich mit all seinen Subsystemen auf den Führungsprozess aus und hat somit selbst eine steuernde Wirkung. Maria Stippler bringt es wie folgt auf den Punkt: „Allen [...] systemischen Ansätzen zu Führung ist gemeinsam, dass sie die Organisation als soziales System betrachten, dass sich durch Selbstorganisation (Autopoiese) selbst reguliert und nicht von außen direkt steuerbar ist.“81 Führung ist eben komplexer als es ein lineares Führungsmodell, welches ausschließlich die Dyade von Führungskraft und Geführtem enthält, suggeriert. Das System entwickelt, da es als Ganzes mehr ist als die Summe seiner Teile, eine Eigendynamik, was eine lineare Steuerung in der Regel unmöglich macht. 7.10. Führung und Kultur: Die kontextuell-kulturelle Dimension von Führung Mit wachsender Globalisierung wird zunehmend deutlich, dass die Berücksichtigung von kulturellen Unterschieden für den Prozess gelingender Führung von erheblicher Bedeutung ist.82 Gelingende Führung vollzieht sich eben nicht in jedem kulturellen Kontext gleich.83 Diese Einsicht gewinnt trotz mancher Widersprüche84 mehr und mehr an Zustimmung und kann als einer der wichtigsten Schwerpunkte der Führungsforschung der nächsten Jahre gelten.85 Aber was ist genau unter dem Begriff „Kultur“ zu verstehen? Hinsichtlich Führung verwendet Northouse den Begriff so: “For our purpose culture is defined as the learned beliefs, values, rules, norms, symbols, and traditions that are common to a group of people. It is these shared qualities of a group that make them unique.”86 Im Verlauf der Forschungsgeschichte wurden verschiedene Modelle zur Differenzierung der Kulturen entwickelt. So unterschied zum Bei81
Stippler (2011), 33. Vgl. Northouse (2013), 383-422. Vgl. Meyer (2014). 83 Für Führung in Kirche und Gemeinde wird die Relevanz dieses Aspektes u.a. von Volker Kessler unterstrichen. Er weist auch darauf hin, dass die kirchliche Rezeption von Führungskonzeptionen zahlreiche kulturelle Dependenzen aufweist. Vgl. Kessler (2013), 1: “Our culture and our concept of leadership go hand in hand. Whether we perceive different types of leadership as positive or negative is mainly influenced by the culture in which we were socialized. The only question is whether we are aware of this fact or not.” 84 Vgl. Malik (2006), 23: „Etwas vom Wichtigsten ist, dass richtiges und gutes Management überall gleich ist. Es hat globale und universelle Gültigkeit und ist unabhängig von Kulturen.“ 85 Vgl. Yammarino (2013), 152. 86 Northouse (2013), 384. 82
7. Was ist Führung?
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spiel Hall 1976 individualistische von kollektivistischen Kulturen.87 Wesentlich feingliedriger ist hingegen die Unterteilung, die im Vollzug der sogenannten GLOBE-Studie erarbeitet wurde.88 Bei diesem äußerst umfangreichen Projekt, das den Einfluss von Kultur auf Führung untersuchte und dessen Ergebnisse 2004 publiziert wurden, wurde auf insgesamt neun Dimensionen geachtet, in denen sich verschiedene Kulturen unterscheiden. Darunter fallen Dimensionen wie beispielswiese Unsicherheitsvermeidung. Hier ist die Leitfrage: Wie wichtig sind einer Kultur soziale Normen, Rituale etc., um Unsicherheit zu vermeiden? Eine andere Dimension wäre zum Beispiel die Machtdistanz: Wie sehr wird in einer Kultur eine ungleiche Verteilung von Macht akzeptiert?89 Anhand dieser Dimensionen unterteilt die Studie nun die Welt in insgesamt 10 Cluster.90 Eine Erkenntnis der Studie war, dass Führung in den verschiedenen Kultur-Clustern unterschiedlich wahrgenommen wurde. So ließ sich für jedes Cluster ein eigenes Profil erstellen. An einem Beispiel sei das verdeutlicht. Ein Ergebnis der Studie war, dass die charismatische Dimension von Führung im angelsächsischen Raum als deutlich relevanter empfunden wurde als in anderen Kultur-Clustern.91 Das ist sicherlich ein erklärender Faktor für das in diesem Kultur-Cluster weit verbreitete Modell einer transformationalen Führung. Auch wenn manche Aspekte der GLOBE-Studie kritisch diskutiert werden,92 so zeigt die Studie doch grundsätzlich den wichtigen Einfluss von Kultur auf Führung auf. Diese Einsicht hat auch eine nicht zu unterschätzende Relevanz für die hier vorliegende Arbeit, bei der u. a. danach gefragt wird, wie sich kirchliche Führung in der „Postmoderne“ gelingend vollziehen könne. Denn diese Frage impliziert ja bereits die These, dass sich kulturelle Rahmenbedingungen auf den Führungsprozess auswirken.
87
Vgl. ebd., 386. House (2004). GLOBE steht dabei für „Global Leadership and organizational Behavior Effectiveness research program“. 89 Vgl. Northouse (2013), 387-389. Die neun Dimensionen sind: Uncertainty avoidance, institutional collectivism, in-group collectivism, gender egalitarianism, assertiveness, future orientation, performance orientation, humane orientation. 90 Vgl. ebd., 390-394. Die Cluster sind: Southern Asia, Confucian Asia, Latin America, Nordic Europe, Anglo, Germanic Europe, Latin Europe, Sub-Saharan Africa, Eastern Europe und Middle East. 91 Vgl. ebd., 399f. 92 Vgl. ebd., 405f. 88
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Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
Abbildung 11: Der mehrschichtige Führungsprozess
Damit kommt nun das Verfahren, ein gleichermaßen greifbares und dennoch angemessen komplexes Bild vom Führungsprozess zu zeichnen, zu einem Abschluss. Dabei hat sich gezeigt, dass verschiedenste Modelle innerhalb der Theoriebildung unterschiedliche Aspekte des einen Führungsprozesses beleuchten. In vielerlei Hinsicht ergänzen sich hierbei die Perspektiven. Die hier gewählten zehn Aspekte sind womöglich nicht die einzigen, die hier genannt werden könnten, wenngleich sie vielleicht die wichtigsten sind. Deshalb bleibt das hier gezeichnete Bild auch grundsätzlich ergänzungsfähig. Wenn die folgenden drei Kapitel nun jedoch im Besonderen nach systemischer Führung, Servant Leadership und neusten Trends innerhalb der Führungsforschung fragen, dann bauen sie auf den hier gewonnen Erkenntnissen auf und gehen nicht hinter sie zurück.
8.
Systemisch orientierte Zugänge zu Führen und Leiten
Eine Auseinandersetzung mit systemisch orientierten Führungskonzeptionen ist an dieser Stelle vor allem aus zwei Gründen geboten. Zum einen hat der erste Teil der Arbeit gezeigt, dass die meisten Entwürfe einer kirchlichen Kybernetik bei einem systemischen Ansatz ihren Ausgangspunkt nehmen. Damit einhergehend wurde die prinzipielle Frage aufgeworfen, ob und inwiefern Veränderungsprozesse überhaupt steuerbar sind. Diese Frage gilt es nun in die gegenwärtige systemischorientierte Führungsliteratur mitzunehmen und zu schauen, wie sie dort zurzeit beantwortet wird. Womöglich ergibt sich ein weitaus komplexeres Bild, als es die verbreitete Ablehnung des Gedankens von Steuerbarkeit suggeriert. Ähnlich wird mit der Frage zu verfahren sein, ob ein systemischer Zugang zur Führung mit einer Fokussierung auf das System automatisch der Gefahr erliegen muss, die Dimension der am Führungsprozess beteiligten Personen auszublenden. Der zweite Grund für die im Folgenden stattfindende Beschäftigung mit systemischen Führungskonzeptionen liegt im kulturellen Kontext Deutschlands begründet. Denn systemische Ansätze erfreuen sich hier einer besonders weiten Verbreitung. Ähnlich resümiert Maria Stippler: „Die systemische Führungstheorie kann als die wichtigste Entwicklung in der Führungsforschung im deutschsprachigen Raum angesehen werden.“1 Nach Stippler wurde eine systemische Konzeption von Führung und Leitung im deutschsprachigen Raum vor allem in vier Schulen erarbeitet. Es handelt sich dabei um die Ansätze aus St. Gallen, Witten, München und Wien.2 Doch was ist der gemeinsame Ausgangspunkt all dieser Schulen, so dass sie allesamt als systemisch bezeichnet werden können? Stippler gibt die folgende Antwort: „Allen beschriebenen systemischen Ansätzen zu Führung ist gemeinsam, dass sie die Organisation als soziales System betrachten, das sich durch Selbstorganisation 1 Stippler (2011), 29. Hier liegt auch ein wesentlicher Unterschied zur angloamerikanischen Führungsliteratur. Vgl. ebd., 101: „[Es] zeigt sich im deutschen Sprachraum ein besonderer Trend hin zu den systemischen Ansätzen, die wiederum im angloamerikanischen Raum kaum von Bedeutung zu sein scheinen.“ Bezeichnenderweise findet sich im umfangreichen Lehrbuch von Northouse kein Hinweis auf eine systemisch orientierte Konzeption von Führung. 2 Vgl. ebd., 34.
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Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
(Autopoiese) selbst reguliert und nicht von außen direkt steuerbar ist. [...] In den systemischen Ansätzen wird der Undurchschaubarkeit und der Unberechenbarkeit von Organisationen Rechnung getragen. Organisationen werden nicht länger als triviale Maschinen angesehen; Führung bedeutet dementsprechend, steuerbaren Einfluss auf nicht steuerbare Systeme auszuüben, indem entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden und auf die Eigendynamik vertraut wird.“3
Hier kommt die grundlegende Spannung klassisch-systemischer Leitungstheorien zum Ausdruck. Wie können nicht-steuerbare Organisationen gesteuert werden? Und weiterhin zeigt sich: Die Geschichte der systemischen Leitungsliteratur ist eine Geschichte, die um den rechten Umgang mit eben dieser Spannung aus Nicht-Steuerbarkeit und Steuerbarkeit ringt und jene Spannung äußerst verschieden akzentuieren kann. So wird der Steuerungsmöglichkeit der Leitungsperson in den vier Schulen unterschiedlich viel Platz eingeräumt. Jene Geschichte lässt sich mit Stippler nun grob in drei Phasen unterteilen: „Betrachtet man sie in zeitlicher Abfolge, so zeigt sich, dass sie sich von einer stark technokratischen Orientierung (St. Gallen) über die Betonung der Selbstorganisation in unterschiedlichem Ausmaß und damit der Unmöglichkeit der gezielten Steuerung (Witten, München, Wien) hin zu einer wieder ausgeprägteren Personenorien4 tierung (Pinnow) entwickelten.“
Die erste Phase markiert damit das Modell systemischer Leitung, wie es in der St. Gallener Schule entwickelt wurde. Der Ansatz hier wird im Allgemeinen als technokratisch bezeichnet. Die oben beschriebene Spannung zwischen Nicht-Steuerbarkeit und Steuerbarkeit wird hier durch spezifische technische Methoden zur Entscheidungsfindung usw. überbrückt.5 Auch steht beim St. Gallener Ansatz die Leitungsperson noch mehr im Mittelpunkt.6 In der zweiten Phase werden die Möglichkeit zur Steuerung und der Einfluss des Leitenden deutlich geringer verortet. Hierfür stehen die Schulen aus Witten, München und Wien. Der Wittener Ansatz zeichnet sich insgesamt durch einen stärkeren Bezug auf Luhmann aus.7 Hier gilt, „dass es keine Rezepte und Ratschläge wirksamer Führung geben kann, die sich situationsunabhängig umsetzen lassen. Vielmehr geht es 3
Ebd., 33. Eine weitere Gemeinsamkeit all jener Ansätze ist eine Rezeption der Systemtheorie nach Niklas Luhmann. 4 Ebd., 46. 5 Vgl. ebd., 37: „Im St. Galler Management-Modell scheint dieses Paradoxon durch die technokratische Systemsteuerung, durch Entscheidungsmethodik, Systemmethodik und Methodik der Mitarbeiterführung überbrückt zu werden. Das Unternehmen wird unter dem Leitbild der Ganzheitlichkeit von oben rationalisiert und harmonisiert.“ 6 Vgl. ebd., 35: Im Mittelpunkt steht (auch bei allen Weiterentwicklungen des Modells) „die Führungskraft als Handlungsträger im Kontext komplexer Systeme“. 7 Vgl. ebd., 40f.
8. Systemisch orientierte Zugänge zu Führen und Leiten
159
darum, die Reflexionsfähigkeit eines Systems zu fördern.“8 Im Münchner Ansatz werden – in Rezeption von Habermas und Lyotard – Organisationen als zu komplex gedacht, „als dass sie durch Management steuerbar sind.“9 Auch im Wiener Modell stehen nicht die Personen im Zentrum, sondern die Relationen und die Autopoiese des Systems.10 Die dritte und jüngste Phase steht insgesamt für eine ausgeglichenere Verhältnisbestimmung von Personenorientierung und Systemorientierung. Nach Stippler können hierfür exemplarisch Fredmund Malik und Daniel Pinnow angeführt werden.11 Diese beiden Ansätze sollen deshalb nun ausführlicher dargestellt werden, da hier die Pole von Personen- und Systemorientierung einerseits und jene von Steuerungsfähigkeit und Steuerungsunmöglichkeit andererseits divergent gegenüber der klassisch-systemischen Diktion akzentuiert werden. Darum sind gerade hier neue Perspektiven auf die Problemstellungen zu erwarten, die systemisches Denken für Führungs- und Leitungsprozesse beinhalten. 8.1.
Systemisch orientiertes Führen und Leiten bei Fredmund Malik
Fredmund Maliks systemisch orientierter Zugang zur Führungslehre stammt grundsätzlich von der St. Gallener Schule her12, lässt sich in Summe dennoch der „dritten Phase“ zuordnen. Sein Führungs- und Leitungsverständnis kommt besonders deutlich in seiner Monographie „Führen. Leisten. Leben“ zum Ausdruck. Es braucht hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden.13 Einführend sei noch einmal erwähnt, dass Malik Management für ein prinzipiell von jedem erlernbares Handwerk hält. Es könne auch eindeutig zwischen richtigem und falschem Management unterschieden werden und jenes gute Management sei auch überall auf der Welt gleich und richtig.14 Darüber hinaus zeichnet sich Maliks Ansatz durch eine ausgesprochene Resultatorientierung aus. Allein die Wirksamkeit zählt.15 Jene Resultatorientierung bringt Malik 8
Ebd., 41. Ebd., 42. 10 Vgl. ebd., 42f. 11 Vgl. ebd., 46. 12 Vgl. ebd., 34. 13 Ein Überblick findet sich bei: ebd., 39f; Pinnow (2012), 52-78. 14 Vgl. Malik (2006), 20-27. Der Managementansatz Maliks zeichnet sich also durch eine ausgesprochene Universalität aus, die mitunter auch nur für sich Richtigkeit beansprucht. Vgl. ebd., 374: „Wer anders führt, führt falsch.“ Damit geht leider eine gewisse Arroganz und Nicht-Beachtung weiter Teile der Führungsforschung einher. Vgl. ebd., 41: „Die Managementliteratur selbst ist in so hohem Maße wertlos, dass es sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, praktisch nicht lohnt, sie zu verarbeiten.“ 15 Vgl. ebd., 36: „Ich schlage eine andere Frage vor: Nicht: Was ist eine ideale Führungskraft? sollte gefragt werden, sondern: Was ist eine wirksame Führungskraft?“ 9
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Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
auch gegen die Auffassung ins Spiel, dass Arbeit Spaß machen müsse. Das sei nach ihm nicht der Fall. Allein Ergebnisse zählen. Womöglich könne aber das Erreichen dieser Ergebnisse Freude bereiten.16 Nach diesen einführenden Worten fragen wir uns nun: Wie ist das Verhältnis Maliks zum systemischen Ansatz zu beschreiben? Zunächst einmal fällt auf, dass Malik bei den Grundlagen des systemischen Denkens seinen Ausgangspunkt nimmt. So will er sein Modell als „kybernetisches Management“17 verstanden wissen. Doch was versteht Malik unter Kybernetik? „Kybernetik und richtiges Management sind Wissenschaft und Praxis des erfolgreichen Funktionierens hochkomplexer Systeme. Es geht um ihre wirksame, richtige und gute Steuerung, Regulierung, Lenkung und Entwicklung. […] Ihre Steuerung muss wegen ihrer Komplexität weitgehend Selbststeuerung sein, ihre Regulierung Selbstregulierung, ihre Lenkung Selbstlenkung und ihre Entwicklung muss Evolution sein. Das Grundprinzip für richtiges und gutes, also kybernetisches Management heißt: Organisiere ein hochkomplexes System so, dass es sich weitge18 hend selbst organisieren, selbst regulieren und evolvieren kann.“
Hier kommt vieles zum Ausdruck. Erstens denkt Malik in Systemen. Zweitens hält Malik die Komplexität jener Systeme für einen wichtigen Faktor. Drittens ergibt sich aus jener Komplexität die Notwendigkeit, auf die Autopoiese dieser Systeme zur vertrauen. Viertens ist es deshalb Aufgabe von Management, respektive Leitung, jenes System so zu organisieren, dass es sich selbst organisieren kann. Aber wie viel Potential zur Steuerung misst Malik nun dem Leitenden innerhalb eines solchen komplexen Systems zu? Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass sich bei Malik Autopoiese von Systemen und die Einflussmöglichkeit der Leitungsperson nicht gegenseitig ausschließen. Malik teilt einerseits die Problembeschreibung des systemischen Ansatzes – hohe Komplexität –, zieht jedoch eine andere Konsequenz als die systemischen Modelle der „zweiten Phase“.19 Er hält es nun wieder 16
Vgl. ebd., 46: „Organisationen hingegen brauchen nicht Erlebnisse, sondern Ergebnisse.“ Nach Malik ergibt sich also nicht Leistungsfähigkeit aus Zufriedenheit, sondern umgekehrt Zufriedenheit aus Leistungsfähigkeit. Darüber hinaus ist der Grundsatz der Resultatorientierung implizit auch eine Absage an den Gedanken, dass der Weg so wichtig sei wie das Ziel. 17 Ebd., 27. 18 Ebd., 28. 19 Vgl. ebd., 79: „Das muss deshalb gesagt werden, weil eine der Strömungen im Management besonders die Komplexität von Organisationen und somit der Situation von Führungskräften betont und unter Hinweis darauf die Nützlichkeit einfacher Grundsätze bezweifelt oder bestreitet. Damit bin ich insofern einverstanden, als ich die Grundannahme hoher Komplexität teile und diese als eines der Hauptprobleme von Management ansehe. Die Meinungen gehen dann allerdings stark auseinander, wenn es um Lösungen für das Problem oder besser um geeignetes, vernünftiges oder richtiges Verhalten im Bereich hoher Komplexität geht.“
8. Systemisch orientierte Zugänge zu Führen und Leiten
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für möglich, ein sich selbst steuerndes System zu einem spezifischen Ziel hin zu steuern. Aufschlussreich – besonders für eine theologische Perspektive – sind Maliks Ausführungen über die Kontrollierbarkeit eben jener Ziele. Besonders problematisch ist es ja, dass die Erreichung vieler Ziele nicht messbar und damit auch nicht kontrollierbar sei. Als Theologe denke man hier an ein kaum messbares Ziel wie „wachsender Glaube“. Interessanterweise steht nach Malik ein „säkulares“ Management vor der gleichen Herausforderung. Es müssen Dinge gemessen werden, für die es keine objektiven Messkriterien gibt. Hierzu führt Malik aus: „Wenn und solange man messen kann, braucht man eigentlich gar kein Management und keine Manager für die Aufgabe des Kontrollierens. Dort könnten ja auch Computer eingesetzt werden. Gerade dann, wenn man nicht mehr messen kann, muss durch Manager kontrolliert werden, aber mittels eines anderen Verfahrens: Nicht durch Messen, sondern durch Beurteilen und letztlich durch Urteilen. Das führt unvermeidlich in das ganze Gestrüpp von Objektivität, Subjektivität, Zuverlässigkeit, Relevanz, Wiederholbarkeit, Rechtfertigung und so weiter. Nach meinem Kenntnisstand sind diese Fragen bis heute nicht gelöst und vielleicht sind sie im strengen Sinne des Wortes überhaupt unlösbar. [...] Vom Messen kann man dann sprechen, wenn – nach Etablierung eines Verfahrens – unerfahrene Personen zum annähernd selben Ergebnis kommen, wenn sie sich an das Verfahren halten. Von Urteilen spricht man, wenn erfahrene Menschen zum annähernd selben Er20 gebnis kommen, wenn sie sich an die Regeln halten.“
Dem Messen stellt Malik hier das Beurteilen gegenüber, wofür eine Person vor allem Erfahrung benötigt und sich an Regeln halten muss. Leitung in komplexen Systemen vollzieht sich nach Malik also primär durch Erfahrung und die Orientierung an allgemeingültigen Grundsätzen. Darum widmet Malik der Darstellung jener Grundsätze den größten Teil seiner Ausführungen. Damit ist die Frage nach dem Umgang mit Zielen in Bereichen ohne klare Messkriterien allerdings noch nicht befriedigend beantwortet, weshalb sie uns im Folgenden auch weiter beschäftigen wird. In diesem Zusammenhang weist Malik ebenfalls darauf hin, dass hinter der Frage nach der Messbarkeit von Zielen – die ja ein Teil jener größeren Frage nach der Steuerbarkeit von Prozessen ist – eine philosophische Frage, besser: die Frage nach einer spezifischen philosophischen Rezeption steht. Denn oftmals geht eine Ablehnung von Steuerbarkeit eben einher mit der Aufnahme eines „subjektivistischen und relativistischen Konstruktivismus“21. Malik hingegen bevorzugt hier eher einen Lösungsansatz aus dem Bereich des kritischen Rationalismus. Offenbar scheint die Frage, wie viel Steuerbarkeit man in einer Organisation für möglich hält, mit bestimmten erkenntnistheoretischen Grundannahmen zusammenzuhängen. Diese Spur soll im weiteren Verlauf ausführlicher 20 21
Ebd., 238f. Ebd., 238.
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Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
verfolgt werden, indem eine kritische Auseinandersetzung mit konstruktivistischen Elementen hinsichtlich von Steuerbarkeit erfolgen wird (ա 16.). Es lässt sich festhalten: Malik hält also die Steuerung zur Selbststeuerung komplexer Systeme prinzipiell für möglich und damit einhergehend auch das Setzen von Zielen.22 Bisher konnte gezeigt werden, dass Maliks Ansatz für mehr Steuerbarkeit und Personenorientierung steht als es bei vielen älteren systemischen Leitungskonzeptionen der Fall ist. Das teilt er mit dem im angelsächsischen Raum populären Modell transformationaler Führung. Dennoch geht Malik auch zu diesem Führungsmodell auf Distanz und lehnt wesentliche Elemente dieses Ansatzes entschieden ab. Malik kritisiert Leitungsmodelle, die auf Begeisterung und Motivation, Vision und Empowerment aufbauen.23 Ebenfalls lehnt Malik den transformierenden/verändernden Aspekt von Führung ab. Die Führungskraft solle nicht versuchen, die Geführten zu verändern.24 Als gänzlich ablehnend wird man Maliks Verhältnis zur transformationalen Führung jedoch nicht beschreiben dürfen, denn indirekt finden die oben kritisierten Elemente in modifizierter Form auch bei Malik ihren Platz. Trotz Ablehnung des Visionsbegriffs sei es dennoch die Aufgabe einer Führungskraft, für klare und terminierte Ziele zu sorgen.25 Wenn Menschen auch nicht verändert werden sollen, so sollen sie dennoch entwickelt und gefördert werden. Zuletzt sei noch skizzenhaft angedeutet, dass Malik zahlreiche Begriffe in den Mittelpunkt rückt, die auch in der aktuellen Führungsliteratur eine wichtige Rolle spielen (ա 10.). Dabei handelt es sich um die Termini Vertrauen,26 Authentizität, Integrität27 und Verantwortung. 22
Dennoch steht auch bei Malik nun nicht einfach die Führungskraft im Zentrum. Vgl. ebd., 57. Hier bezeichnet Malik sich als einen Vertreter eines konstitutionellen Denkens. Dazu gehört auch die Einsicht, „dass die Geschicke einer Organisation vom Grundsatz her nicht von einzelnen Personen abhängig sein dürfen.“ 23 Vgl. ebd., 25: „Zum Beispiel braucht man, um als Führungskraft wirksam zu sein, weder Begeisterung noch Visionen, weder Leadership noch Charisma. Was hingegen nötig ist, sind Professionalität, Sachverstand und Erfahrung.“ 24 Vgl. ebd., 128: „Alles, was ich bisher sagte, ist ein Plädoyer gegen die Veränderung von Menschen, vor allem gegen die Veränderung ihrer Persönlichkeit.“ Deshalb soll eine Führungskraft auch nicht die Schwächen der Mitarbeiter eliminieren, sondern die bereits vorhandenen Stärken nutzen. 25 Vgl. ebd., 176: „Die erste Aufgabe wirksamen Managements ist es, für Ziele zu sorgen.“ Als Schüler von Peter Drucker ist auch Malik dem Ansatz des management by objectives verpflichtet. Auch ist es nach Malik eine Aufgabe der Führungskraft, den Mitarbeitern den Bezug ihrer Arbeit zum Ganzen zu verdeutlichen. Vgl. ebd., 103 „[...] als Führungskraft gehört es zu den erste Aufgaben, den Mitarbeitern die Ganzheit vor Augen zu führen, es ihnen leicht zu machen, die Ganzheit zu erkennen.“ Das wiederum ist ja auch ein Aspekt der Arbeit mit Visionen. 26 Vgl. ebd., 141: „Worauf es in letzter Konsequenz ankommt, ist das gegenseitige Vertrauen! Es ist das Vertrauen, das zählt, und gerade nicht all die anderen, so oft
8. Systemisch orientierte Zugänge zu Führen und Leiten
163
Fazit: Fredmund Maliks Führungs- und Leitungsverständnis bleibt in der Tradition des systemischen Denkens, steht aber für ein gewisses Mehr an Personenorientierung und Steuerungspotential. Auch wenn er hier grundsätzlich skeptisch ist, werden gewisse Aspekte transformationaler Führung implizit rezipiert. 8.2.
Systemisch orientiertes Führen und Leiten bei Daniel Pinnow
Der systemische Führungs- und Leitungsansatz von Daniel Pinnow lässt sich keiner der vier oben genannten Schulen zuordnen. Vielmehr zeichnet sich sein Ansatz dadurch aus, bei verschiedensten Konzeptionen Teilaspekte zu übernehmen und jene dann zu verbinden. So steht Pinnow im Vergleich zu Malik sowohl dem klassisch-systemischen Ansatz, aber auch dem Modell transformationaler Führung näher. Pinnow selbst bringt sein Führungsverständnis in einem Satz auf den Punkt: „Gute Führung bedeutet für mich, eine Welt zu gestalten, der andere Menschen gern angehören wollen.“28 Deutlich verortet sich Pinnow selbst beim systemischen Ansatz, wenn er formuliert: „Die Antwort auf die Herausforderungen und Entwicklungen des 21. Jahrhunderts ist die systemische Führung.“29 Was Pinnow nun genau unter systemischer Führung versteht, lässt sich an seinem „Eisberg-Modell“ illustrieren.30 Ihm zufolge ist die Realität eines Unternehmens mit einem im Wasser schwimmenden Eisberg vergleichbar. Oberhalb der Wasseroberfläche befinde sich die Sachebene (Strategien, Pläne etc.). Unterhalb der Oberfläche befinde sich jedoch die deutlich größere Beziehungsebene. Hier geht es etwa um Macht, Gefühle, Gruppendynamiken, Werte und die Kultur. „Erkennt man diesen verborgenen Teil nicht, oder unterschätzt man ihn in seiner vollen Größe und Ausprägung, kann man als Führungskraft trotz aller Fachkenntnisse sehr schnell Schiffbruch erleiden.“31 Gelingende Führung beachtet nun beide Ebenen, die Sach- und die Beziehungsebene. Systemische Führung setzt nach Pinnow aber primär auf der Beziehungsebene an. Dabei lenkt Pinnow im Vergleich zu anderen systemischen Konzeptionen den Fokus verstärkt auf den personalen Aspekt beschriebenen und geforderten Dinge wie Motivation, Führungsstil und die üblichen Versionen von Unternehmenskultur.“ 27 Vgl. ebd., 149: „Noch wichtiger vielleicht als alles bisher Gesagte ist Charakter oder präziser, charakterliche Integrität.“ Nach Malik bedeutet Integrität, dass man auch das meinen soll, was man sagt und dann dementsprechend handelt. 28 Pinnow (2012), 175. Schon in diesem Leitzsatz kommt bereits die prinzipielle Bejahung einer Gestaltungsmöglichkeit der Führungs- und Leitungsperson zum Ausdruck. 29 Ebd., 160. 30 Vgl. ebd., 161. 31 Ebd.
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Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
von Führung.32 So geht er der Frage nach, wie eine Führungskraft systemisch zu leiten habe. Bei systemischer Führung müsse eine Führungskraft sich selbst und die anderen Personen des Systems beobachten und reflektieren können. So heißt systemische Führung zunächst einmal Beobachten und Verstehen.33 Dazu sei es wichtig, den Menschen verstärkt aktiv zuzuhören. Dann gilt es zu verstehen, in welchen Rollen Menschen agieren und welche „inneren Drehbücher“ sie prägen. Dabei werden bestimmte Leitsätze oder „innere Antreiber“ offenbar. Man denke nur an einen Satz wie „Du musst immer perfekt sein.“ Führung heißt für Pinnow zunächst einmal Beobachten, Zuhören und Verstehen. Damit steht er ganz in der Linie „klassischer“ systemischer Führungs- und Leitungsansätze. Ein solch defensiv formuliertes Führungs- und Leitungsverständnis könnte nun einen Verzicht auf Steuerung suggerieren. Doch diese Konsequenz zieht Pinnow gerade nicht. Im Gegenteil: Ein systemisches Verständnis führe sogar zu einem größeren Steuerungspotential. Da zum Beispiel jene „inneren Antreiber“ einen Menschen immer wieder zu ähnlichen Verhaltensmustern treiben, führt ihre bewusste Offenlegung zu einer Erhöhung von Handlungsoptionen.34 Denn nun kann sich auch bewusst für ein Handeln gegen jene Antreiber entschieden werden. Damit sind wir nun bei der Frage angekommen, wie viel Steuerungspotential Pinnow Leitenden zumisst. Hierzu muss angemerkt werden, dass Pinnow Luhmann prinzipiell zustimmt, dass Systeme nicht von außen steuerbar sind, sondern sich selbst steuern (Autopoiese), indem sie Inputs der Umwelt konstruktiv verarbeiten.35 Die Autopoiese mache eine Organisation erfolgreich, nicht die einzelne Leitungsperson. Auch wenn Pinnow damit ganz im systemischen Sinn nicht von der Möglichkeit linearer Steuerbarkeit ausgeht, so hält er Steuerbarkeit damit noch keineswegs für unmöglich. Er redet vielmehr von der „Möglichkeit der indirekten Steuerung“36: „Systemisch führen heißt also nicht, geschehen zu lassen, was man sowieso nicht steuern kann, sondern zu steuern, was möglich ist. Systemisch führen heißt, dem 32 Vgl. ebd., 175: „Der systemische Ansatz der Akademie für Führungskräfte betrachtet Führung als ganzheitliches Phänomen, richtet den Blick dabei aber noch gezielter auf eine Größe, die bei anderen systemischen Ansätzen ein blinder Fleck im Auge des Betrachters bleibt: die Führungskraft selbst.“ 33 Vgl. ebd., 162: „Im Sinne der Systemtheorie sind Führungskräfte Beobachter.“ Als ein Beispiel für ein Beobachtungsinstrument führt Pinnow die bekannten 4Seiten einer Botschaft von Friedemann Schulz von Thun an. Ebenfalls weist Pinnow darauf hin, dass jenes Beobachten nicht nur ein rezipierender, sondern auch ein konstruierender Prozess sei. Vgl. ebd., 163: „Was eine Führungskraft sieht und worauf sie reagiert, offenbart, wie sie die Wirklichkeit ordnet.“ 34 Vgl. ebd., 178. 35 Vgl. ebd., 162. 36 Ebd., 163.
8. Systemisch orientierte Zugänge zu Führen und Leiten
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System Regeln und Grenzen vorzugeben und indirekt, aber gezielt Veränderungen anzuregen.“37
Die systemische Führungskraft ist selbst Teil des Systems und steuert also indirekt aus dessen Mitte heraus.38 Die Führungskraft gibt dem System gezielte Anstöße und bringt mitunter durch kräftige Impulse das System ins Wanken. Das System entscheidet dann selbst, wie es mit jener Anregung umgeht. Durch gezielte Anstöße fördert die Führungskraft also das „Selbstentwicklungspotential einer Organisation“39. Im ersten Teil der Arbeit war im Anschluss an den systemischen Ansatz nicht nur die Frage aufgeworfen worden, ob Steuerung möglich ist – dieser Frage sind wir nun bei Pinnow nachgegangen –, es wurde ebenfalls die Frage virulent, ob Steuerung anderen Menschen gegenüber erlaubt und vertretbar sei. Auch zur Bearbeitung jener zweiten Frage gibt Pinnow Impulse. So meint systemisches Führen und Leiten bei Pinnow bei aller prinzipiellen Bejahung von demokratischen Führungsprinzipien keinesfalls einen Verzicht auf Macht- und Autoritätsausübung40 in Konfliktsituationen. Eher gelte: „Führung beginnt eigentlich erst da, wo der Konsens aufhört.“41 Auch flache Hierarchien seien nicht mit machtfreien Zonen deckungsgleich. Schauen wir nun darauf, welche Art von Macht Pinnow nun einer systemischen Führungskraft zuschreibt: „Die traditionellen Machtquellen versiegen und Gutsherren-Autorität ist nicht mehr gefragt und auch nicht mehr durchsetzbar. Neben der formalen Macht gibt es jedoch noch andere Formen von Macht, die man nicht verliehen bekommt, sondern die man sich verdienen oder die man verkörpern muss: Macht durch Visionskraft, Ausstrahlung und Kontaktstärke, mit anderen Worten: Macht durch Sinn. Sie ist personengebunden und entsteht durch die Persönlichkeit. Sie ist die Macht der modernen Führungskraft.“42
Die Macht der systemischen Führungskraft ist somit weniger die Positionsmacht als vielmehr die Beziehungsmacht. Darüber hinaus nennt Pinnow in diesem kurzen Auszug mit „Vision“ und „Sinn“ zwei Ter37
Ebd., 164. Vgl. ebd., 239: „Dabei geht es nicht um direktes Steuern oder Kontrollieren, sondern vielmehr darum, Impulse zur Entwicklung des Einzelnen und der gesamten Organisation zu geben. Es geht darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen die Mitarbeiter die Freiheit haben, ihre Potenziale zu entfalten, und gerne ihr Bestes geben. Es geht darum, eine einfache, verständlich formulierte Mission und eine auf ihr aufbauende Vision zu schaffen.“ Hier zeigt sich ebenfalls, wie Pinnow systemisches und visionäres Denken aufeinander bezieht. 39 Ebd. 40 Vgl. ebd., 229: „Um es ganz deutlich und unmissverständlich zu sagen: Auch systemische Führung basiert auf Macht, denn ohne Macht lässt sich kein Führungsanspruch und keine Entscheidung durchsetzen und nichts gestalten.“ 41 Ebd., 212. 42 Ebd., 230. 38
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Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
mini, die auch im Kontext transformationaler Führung von einer gewissen Bedeutung sind. So lässt sich insgesamt bei Pinnow eine positivere Haltung gegenüber Elementen transformationaler Führung ausmachen, als dies bei Malik der Fall ist. Da wäre zum einen die besondere Relevanz von Visionen zu nennen. Nach Pinnow sind gute Führungskräfte Geschichtenerzähler. „Das heißt, dass sie ihre Vision durch Worte, Bilder und Symbole in den Köpfen und Herzen ihrer Zuhörer lebendig werden lassen können.“43 In dieser Spur ist es auch Aufgabe einer Führungskraft Sinn zu stiften.44 Das bedeutet für Pinnow jedoch nicht, dass die Führungskraft den Mitarbeitern ihre „absolute Wahrheit“ aufzwingt. Vielmehr gilt: „Wenn ich sage ‚Sinn stiften‘, dann meine ich damit nicht, eine absolute Wahrheit zu postulieren und sie allen anderen überzustülpen. Sinn kann man nicht verordnen und auch nicht einimpfen. Sinn muss von jedem Menschen selbst gefunden werden.“45 Deshalb kann eine Führungskraft nur Rahmenbedingungen schaffen, in denen Mitarbeiter Sinn bei ihrer Arbeit finden. Zuletzt sei hierzu noch erwähnt, dass auch weitere Aspekte transformationaler Führung – wie etwa Inspiration46, Motivation47 oder der Blick für das Ganze48 – bei Pinnow Gewicht erhalten. Neben all dem bisher Gesagten nehmen auch zahlreiche Aspekte, die bei Führung unter „postmodernen Bedingungen“ wichtig sind, bei Pinnow Raum ein. So unterstreicht Pinnow die Relevanz von Authentizität49 und einem moralischen inneren Kompass. Auch das Moment des Führens durch Geschichtenerzählen wäre in diesem Kontext zu nennen.50 Was bleibt? Daniel Pinnow – der für die dritte Phase systemischer Führungs- und Leitungskonzepte in Deutschland steht – legt einen Ansatz vor, der Elemente verschiedenster Führungs- und Leitungsmodelle miteinander kombiniert. Sein systemischer Ansatz nimmt zahlreiche Elemente transformationaler Führung auf. Er steht für eine Verbindung von harten und weichen Faktoren,51 von „Gefühle[n] und Unterneh43
Ebd., 185. Vgl. ebd., 223: „Wer Leistung fordert, muss Sinn anbieten.“ 45 Ebd. Hier zeigt sich eine gewisse Nähe Pinnows zu einem konstruktivistischen Weltbild. 46 Vgl. ebd., 205. 47 Vgl. ebd., 240: „Herausragende Führungspersönlichkeiten zünden etwas in anderen Menschen an. Sie geben die Leidenschaft, die in ihnen für eine Sache brennt, weiter, und sie entfachen auch in anderen durch ihre Worte und ihre Taten Begeisterung und Engagement.“ 48 Vgl. ebd., 197. 49 Vgl. ebd., 183: „Authentizität ist eine Grundvoraussetzung gelungener Führung.“ 50 Vgl. Stippler (2011), 86f. Hier nennt Stippler Storytelling als einen wesentlichen Aspekt von „Leadership heute“. 51 Vgl. Pinnow (2012), 157. 44
8. Systemisch orientierte Zugänge zu Führen und Leiten
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mensziele[n]“,52 wie es das Eisberg-Modell deutlich macht. Pinnow betont sowohl die Bedeutung der Personen des Führenden und des Geführten und ihrer Beziehung, als auch den Einfluss des Systems auf den Führungsprozess. Einem Leitenden misst er zwar kein lineares, dennoch ein vorhandenes Steuerungspotential zu.53 8.3.
Zwischenfazit
„[Es] zeigt sich im deutschen Sprachraum ein besonderer Trend hin zu den systemischen Ansätzen, die wiederum im angloamerikanischen Raum kaum von Bedeutung zu sein scheinen. Diese systemischen Ansätze betonen die Eigendynamik des Systems, die Unberechenbarkeit und damit die Unmöglichkeit einer einzelnen Führungskraft, gezielt zu steuern. […] Eine Beschreibung des Verhaltens bzw. der Fähigkeiten, die effektive Führungspersonen häufig zeigen, kommt erst in einigen neueren Ansätzen wie beispielsweise bei Pinnow oder Malik vor.“54
In der Tat hat die Analyse der Ansätze von Pinnow und Malik ergeben, dass ein systemisches Leitungsverständnis wohl auf eine linear-gezielte Steuerbarkeit, nicht aber auf eine indirekt gezielte Steuerbarkeit verzichten muss. So weist etwa Pinnow darauf hin, dass ein systemisches Verständnis der komplexen Dynamiken einer Organisation sogar den Handlungsspielraum der Leitenden erweitert. Denn wer Beziehungsdynamiken, Gruppenprozesse, Rollenkonflikte, die Organisationskultur usw. wahrnimmt und adäquat zu interpretieren vermag, der kann diese auch in Teilen gestalten. Wie sich das konkret vollziehen kann, wird zu einem späteren Zeitpunkt entfaltet (ա 18.). Insgesamt zeigt sich also, dass ein systemisches Verständnis von Führung und Leitung in der aktuellen „dritten Phase“ erheblich differenzierter ist, als es teilweise in der Praktischen Theologie rezipiert wird. Das gilt sowohl für die Relevanz der am Führungsprozess beteiligten Personen als auch für die Frage nach der Steuerbarkeit. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Maliks Beobachtung, wonach in der Frage nach Steuer- und Messbarkeit auch erkenntnistheoretische Problemstellungen verborgen sind. Das gilt besonders für kybernetische Verhältnisbestimmungen zu konstruktivistischen Grundannahmen (ա16.). Nach Pinnow ist ein weiterer Steuerungsfaktor der systemischen Führungskraft die Vermittlung von Sinn. Damit implementiert er in seinen systemischen Ansatz ein wesentliches Element der transformationalen Führungstheorie. Überhaupt zeichnet sich in der jüngeren Führungsfor52
Ebd., 168. Vgl. auch das Resümee von Stippler: „Er fokussiert stärker auf die Person der Führungskraft. Außerdem vereint er, als zeitlich jüngster Vertreter, die Elemente der systemischen Ansätze mit anderen Einflüssen wie z.B. der Forderung nach Authentizität.“ Vgl. Stippler (2011), 34f. 54 Ebd., 101. 53
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schung die Tendenz ab, hilfreiche Aspekte verschiedenster Führungstheorien zu integrieren, was bei Malik und Pinnow in unterschiedlicher Ausprägung deutlich wird. Auch die obige Darstellung des „mehrschichtigen Führungsprozesses“ hatte schon ergeben, dass sich manche Facetten unterschiedlicher Führungsmodelle zusammendenken lassen (ա7.). Gerade für die Fragen nach der Möglichkeit von Steuerung und dem personalen Charakter von Führung könnte sich dieser Weg als fruchtbar erweisen. Ein grundsätzlich systemischer Ansatz ließe sich mit transformationalen Aspekten sowie weiteren führungstheoretischen Einsichten verbinden.55 Interessanterweise gehen einige Leitungsmodelle aus dem angelsächsischen kirchlich-theologischen Bereich, genauer innerhalb der Emerging-Missional conversation56, diesen Weg, nur dass sie entsprechend ihres kulturellen Kontextes weniger bei einer systemischen als vielmehr bei der transformationalen Führungstheorie ihren Ausgangspunkt nehmen. Besonders angesichts der „postmodernen“ Herausforderungen werden hier zunehmend systemische Einsichten übernommen. So ist beispielsweise Eddie Gibbs auf der einen Seite noch eindeutig im Modell transformationaler Führung verhaftet.57 Andererseits möchte Gibbs die Gemeinde auch nicht mehr vom Paradigma der Hierarchie, sondern des Netzwerkes, welches organisch wächst, her verstehen. Dementsprechend sei die Aufgabe einer Führungskraft mit einem Gärtner zu vergleichen, der nicht kontrolliert, sondern kultiviert.58 Ebenfalls erteilt Gibbs über eine Rezeption des Chaos-Begriffes dem Gedanken linearer Steuerbarkeit eine Absage.59 Des Weiteren votiert Richard Hamm für eine systemische Sichtweise auf Kirche und Gemeinde. Den systemischen Gedanken nutzt Hamm unter anderem, um zu illustrieren, warum Veränderungsprozesse in der Kirche so schwierig zu gestalten sind. Im Wesentlichen liege die Ursache darin, dass die Kirche als ein System prinzipiell zur Homöostase tendiere.60 Dennoch bleibt auch Hamm – etwa über den Visionsbegriff – prinzipiell im Paradigma transformationaler Führung. 55
So tut es Hartmann mitunter hinsichtlich Führen und Leiten in der Diakonie. Auch wenn er auf den Begriff der transaktionalen Führung verzichtet, kommt bei ihm eine systemische Perspektive mit einem Lernen von amerikanischen Leadership zusammen. Er formuliert es so: „Ohne die deutsche und die amerikanische Fokussierung gegeneinander ausspielen zu wollen, lässt sich festhalten, dass sich im Sinne eines ‚best of both worlds‘ von amerikanischen Managern in Bezug auf ‚Leadership‘ einiges lernen lässt.“ Hartmann (2013), 194–195, 194f. 56 Zur Verwendung dieses Begriffes: Vgl. Doornenbal (2012), 6. 57 Gibbs (2005), 33. 58 Vgl. ebd., 62f.; 103-105. 59 Vgl. Ebd., 92f. 60 Vgl. Hamm (2007), 1-7; 65: “Never underestimate the tendency of a system to use its own structures to maintain homeostasis nor its capacity to use even good leaders to do so.”
8. Systemisch orientierte Zugänge zu Führen und Leiten
169
Am deutlichsten fällt eine systemische Rezeption innerhalb der Emerging-Missional conversation bei Alan Roxburgh und Fred Romanuk aus. Hier werden klassische systemische Einsichten und Begriffe übernommen.61 Eine „missionale Führungskraft“ arbeite dann weniger an Strukturen und Programmen, sondern präge eine missionale Organisationskultur.62 Es wird also – ähnlich wie in Pinnows Eisberg-Modell – davon ausgegangen, dass der steuernde Einfluss der Organisationskultur weitaus größer ist als jener der Strukturen, Pläne und Visionen. Aber Roxburgh und Romanuk halten jene Organisationskultur nun durchaus für durch die Leitende veränderbar, womit auch sie der Leitenden Möglichkeiten indirekter Steuerung zumessen. In diesem Zusammenhang sei auch auf den Praktischen Theologen aus Princeton, Richard Osmer hingewiesen. Seine Einführung in die Praktische Theologie beschäftigt sich ausgiebig mit kirchlicher Leitung und nimmt dabei ihren Ausgangspunkt unter anderem im Paradigma transformationaler Führung.63 Dennoch integriert Osmer in das von ihm vorgelegte Führungsverständnis auch die Theorie offener Systeme.64 Ein offenes System sei abhängig von einer kontinuierlichen Interaktion mit seiner Umwelt, weshalb kirchliche Leitungspersonen verstärkt die Umwelt in ihre Überlegungen einbeziehen müssen. Sie müssen lernen, kontextuell zu denken.65 Formulieren wir ein Zwischenergebnis: In einem ersten Schritt wurde gezeigt, dass Führung ein komplexer Prozess ist, zu dessen Erhellung verschiedenste Theoriebildungen unterschiedlichste Aspekte betonen (ա 7.). In dieser Spur ließe sich ein systemischer Ansatz mit anderen Modellen, wie etwa der transformationalen Führungstheorie, verbinden. Malik, Pinnow und manche Leitungsmodelle aus dem angelsächsischen kirchlich-theologischen Bereich haben hier erste Impulse gegeben. Ein eigener konkreter Vorschlag soll später vorgelegt werden (ա 18.). Zunächst einmal gilt es jedoch, weitere entscheidende Entwicklungen der jüngeren Führungsforschung auszuleuchten, angefangen bei Servant Leadership. 61
Das gilt etwa für die Einsicht, dass Leitung nicht linear verlaufen könne oder dass das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile. Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 61f: “The Missional Change Model requires some understanding of systems, by which we mean any group of two or more interconnected and interdependent parts that interact and function as a whole. This interconnectedness makes the whole greater than the sum of its parts.” 62 Vgl. ebd., 21: “Instead we need leaders with the capacity to cultivate an environment that releases the missional imagination of the people of God.” 63 Vgl. Osmer (2008), 175-178; 196-198. 64 Vgl. ebd., 199: „I give special attention to theories that portray organizations as open systems.” 65 Vgl. ebd., 199-201; 201: “If congregations are organizational systems interacting with other systems, then the congregation's mission will take shape in relation to its context.”
9.
Servant Leadership
Maria Stippler unterteilt das weite Feld der verschiedenen Führungsmodelle in drei Kategorien. Da sind zuerst die älteren Ansätze, welche die Person der Führungskraft in das Zentrum stellen, zweitens die systemischen Konzepte und drittens jene Modelle, welche Führung als ein Beziehungsphänomen verstehen.1 In der bisher erfolgten Analyse der Führungsforschung kamen (ա 7.) alle drei Kategorien überblicksartig zur Sprache. Im vorhergehenden Kapitel (ա 8.) wurden exemplarisch systemische Konzeptionen thematisiert. An dieser Stelle soll nun ein besonderer Entwurf eines beziehungsorientierten Führungsmodells entfaltet werden: Servant Leadership. Servant Leadership ist dabei ein gegenwärtig besonders stark rezipiertes Modell und fand so auch mit einer ausführlichen Darstellung Eingang in die neuste Auflage von Northouse‘ Standardwerk „Leadership“.2 In vielerlei Hinsicht ist Servant Leadership ein vergleichsweise altes Modell. Es geht in seiner Grundform auf diverse Veröffentlichungen von Robert Greenleaf in den 1970er Jahren zurück. Dennoch fand der Entwurf in der wissenschaftlichen Führungsforschung kaum Aufnahme.3 Das änderte sich jedoch in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren. Bereits 2002 identifizierte Schuster die Schattenseiten der New Economy als eine wesentliche Ursache für die steigende Verbreitung von Servant Leadership,4 was sich in den letzten Jahren durch die Weltwirtschaftskrise seit 2008 noch verstärkt haben dürfte. Im selben Jahr prophezeite auch Stephan Covey: “I’m convinced that its greatest influence is yet to come.“5
1
Vgl. Stippler (2011), 12. Vgl. Northouse (2013), 219-251. 3 Vgl. ebd., 219. 4 “Servant-leadership, in its many forms, is the force for education that can stem the catastrophe. And just what is the catastrophe? The catastrophe is the dark side of the New Economy.” Schuster (2002), 333. Nach Schuster liegt der positive Effekt von Servant Leadership nun u.a. darin, dass hier das Wohlergehen der Menschen wichtiger ist als materieller Gewinn. Vgl. ebd., 346. 5 Covey (2002), 1. Er verbindet mit dem Führungskonzept gleichsam große Hoffnungen. Vgl. ebd., 12: „[It] could heal our country.“ Auch Peter Senge, Vertreter eines systemischen Führungs- und Leitungsverständnisses, hält das Konzept für zukunftsweisend. Vgl. Senge (2002), 343: „Moreover, I expect the impact of Serv2
9. Servant Leadership
9.1.
171
Servant Leadership bei Robert Greenleaf
Da das Modell in den Veröffentlichungen von Robert Greenleaf seinen Ausgangspunkt nimmt, ist hierauf nun etwas detaillierter einzugehen. Robert K. Greenleaf (1904-1990) arbeitete 40 Jahre beim USamerikanischen Telekommunikationskonzern AT&T, wo er unter anderem für die Ausbildung von Führungskräften zuständig war.6 Nach seinem ersten Ruhestand gründete er 1964 das Center for Applied Ethics, welches 1985 in das „Greenleaf-Center“ umbenannt wurde. In dieser Zeit seiner zweiten Karriere setzte er sich für die Verbreitung der Grundsätze von Servant Leadership ein. Greenleaf selbst sieht die Ursache für die Entstehung des Konzeptes in den mit dem Jahr 1968 verbundenen Veränderungen im gesellschaftlichen Leben, die seiner Meinung nach ein neues Verständnis von Führung nötig machten.7 Die Idee für Servant Leadership selbst kam Greenleaf bei der Lektüre von Hermann Hesses „Die Morgenlandfahrt“.8 Hier ist eine Reisegruppe gemeinsam auf einer mystischen Expedition. Die Gruppe wird dabei von dem Diener Leo begleitet. Doch eines Tages verschwindet Leo und die Reisegruppe beginnt deshalb mehr und mehr zu zerfallen. Am Ende stellt sich heraus, dass Leo selbst der Leiter des religiösen Ordens war, der jene Reise finanziert hatte. Der Diener Leo war also im Verborgenen eigentlich der Leiter. Greenleaf schlussfolgert: Ein guter Leiter ist zuerst Diener.9 Wie sieht nun die Führungstheorie Servant Leadership genau aus? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn Greenleaf selbst hat kein systematisches Modell entworfen. Greenleaf selbst assoziiert mit Servant Leadership verschiedenste Gedanken, welche aber zusammen kein kohärentes Modell darstellen. Deshalb haben diverse GreenleafRezipienten den Versuch unternommen, aus den Skizzen Greenleafs ein solches kohärentes Modell zu generieren. Diese Modelle unterscheiden sich aber voneinander ebenfalls erheblich, so dass es in der Führungsforschung gegenwärtig keine einheitliche, allgemein anerkannte Theorie von Servant Leadership gibt. Dennoch nehmen fast alle Varianten von Servant Leadership bei einem bestimmten Zitat Greenleafs ihren Ausgangspunkt, so dass jenes am ehesten als Zentrum des ant Leadership to be greater in the next twenty-five years than the past twenty-five years.” 6 Vgl. Spears (2002), 3. 7 Vgl. Greenleaf (2002), 17: “The servant-leader concept emerged after a deep involvement with colleges and universities during the period of campus turmoil in the late 1960s and early 1970s.” 8 Vgl. ebd., 21f. 9 Spears fasst Greenleafs Beobachtungen so zusammen: “After reading this story, Greenleaf concluded that the central meaning of it was that the great leader is first experienced as a servant to others, and that this simple fact is central to his or her greatness.” Spears (1996), 33.
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Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
Modells gelten kann. Es handelt sich dabei um die folgenden Ausführungen:10 “The servant leader is servant first – as Leo was portrayed. It begins with the natural feeling that one wants to serve, to serve first. Then conscious choice brings one to aspire to lead. That person is sharply different from one who is leader first, perhaps because of the need to assuage an unusual power drive or to acquire material possessions. For such, it will be a later choice to serve – after leadership is established. The leader-first and the servant-first are two extreme types. Between them there are shadings and blends that are part of the infinite variety of human nature. The difference manifests itself in the care taken by the servant-first to make sure that other people’s highest priority needs are being served. The best test, and difficult to administer, is this: Do those served grow as persons? Do they, while being served, become healthier, wiser, freer, more autonomous, more likely themselves to become servants? And, what is the effect on the least privileged in society? Will 11 they benefit or at least not be further deprived?”
Vier Beobachtungen zum Kern dienender Führung lassen sich hier machen. 1) Servant Leadership zeichnet sich durch eine ausgesprochene Orientierung am Gegenüber aus.12 Dienende Führung orientiert sich an den Bedürfnissen des Gegenübers. Servant Leadership ist nach dem best test dann erfolgreich, wenn das Gegenüber wächst.13 Damit ist der Geführte hier nicht nur ein Mittel, welches dem Führenden bei der Erreichung seines Zieles helfen soll, sondern in seiner Entwicklung selbst das Ziel des Führungsprozesses. Kurz: Es geht um einen „Turn“ von people-using zu people-building.14 2) Greenleaf legt den Schwerpunkt bei dem dialektischen Paar von „Dienen und Leiten“ nicht auf das Leiten, sondern auf das Dienen. 10
Ein zweites weit rezipiertes Zitat von Greenleaf lautet: “A new moral principle is emerging, which holds that the only authority deserving one’s allegiance is that which is freely and knowingly granted by the led to the leader in response to, and in proportion to, the clearly evident servant stature of the leader.” Greenleaf (2002), 23–24. 11 Ebd., 27. 12 So definiert auch Northouse Servant Leadership. Vgl. Northouse (2013), 220: “Servant leaders place the good of followers over their own self-interests and emphasize follower development.” 13 Greenleaf führt das an anderer Stellte so aus: “Servant-leaders are healers in the sense of making whole by helping others to a larger and nobler vision and purpose than they would be likely to attain for themselves.” Greenleaf (2002), 240. 14 Vgl. ebd., 53. Diese Orientierung am Gegenüber markiert schon nach Bonhoeffer den entscheidenden Unterschied zwischen Führung und Führertum. Vgl. Bonhoeffer (1997), 251: „Bei der Führung geht es wesentlich um das ‚Was‘, beim Führertum wesentlich um das ‚Wer‘, das Ziel der Führung ist der Geführte, die Blickrichtung geht von oben nach unten, das Ziel des Führertums ist der Führer selbst, die Blickrichtung geht von unten nach oben.“
9. Servant Leadership
173
Der Moment des Dienens steht als Motiv im Vordergrund. Das markiert die idealtypische Unterscheidung in einen Servant-First und einen Leader-First. 3) Damit einhergehend warnt Greenleaf davor, den Dienst nur als Mittel zum Zweck zu sehen. Dienst könne immer auch bloße Tarnung von Macht sein. So könne auch der Leader-First dienen. Er tut es aber, um damit seine eigenen Machtansprüche durchzusetzen. Dagegen soll der Dienst in Servant Leadership primär um der Entwicklung des Gegenübers willen motiviert sein. 4) Servant Leadership soll einen Prozess auslösen, der in Form einer Kettenreaktion weit über die Person des Geführten hinausgeht. Das Fernziel ist ein positiver Einfluss auf die Gesellschaft. Servant Leadership hat somit eine deutliche sozialethische Dimension.15 Damit wurde der Kern von Servant Leadership beschrieben. Nun können in einem nächsten Schritt weitere Elemente dienender Leitung um jenen Kern herum angeordnet werden. Dazu bietet sich grundsätzlich eine Orientierung an den von Larry Spears verfassten „Ten Characteristics of the Servant-Leader“16 an. 9.2.
Die zehn Kennzeichen von Servant Leadership nach Larry Spears
Die von Spears aufgestellten zehn Kennzeichen von Servant Leadership helfen dabei, Ordnung in die vergleichsweise unsystematischen Ausführungen Robert Greenleafs zu bringen. Diese zehn Kennzeichen basieren auf einer umfassenden von Spears vorgenommenen Literaturanalyse der Veröffentlichungen Greenleafs. Sie lauten folgendermaßen: 1) Listening: Eine dienende Führungskraft hört zunächst einmal zu.17 Das Zuhören zielt auf ein Verstehen ab: “The servant-leader seeks to identify the will of a group and to help clarify that will.”18 Zuhören bezieht sich jedoch nicht nur auf die anderen, sondern auch auf sich selbst und meint dann ein Hören auf die eigene innere Stimme.
15
Vgl. Beazley / Beggs (2002), 57, 57: “The goal of servant-leadership is to create a more caring and just society where ‘the less able and the more able serve each other with unlimited liability’” 16 Spears (2002), 4-8. Vgl. Northouse (2013), 221ff. 17 Vgl. Greenleaf (2002), 30f; “[...] a true natural servant automatically responds to any problem by listening first. [... ] It is because true listening builds strength in other people.” ebd., 31. 18 Spears (2002), 5.
174
2)
3)
4)
5)
6)
7)
Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
Insgesamt geht es beim Zuhören weniger um eine Technik, sondern vielmehr um eine Haltung.19 Empathy: Empathie meint bei Greenleaf Einfühlungsvermögen, aber auch deutlich mehr. Empathie steht bei Greenleaf auch dafür, das Gegenüber anzunehmen und ihm mit Akzeptanz zu begegnen.20 Healing: Servant Leadership ist ein Heilungsprozess, der sowohl die Geführten als auch die Führungskraft selbst einschließt und auch von beiden Seiten ausgeht. Dienende Führungspersonen helfen Menschen, ganz zu werden.21 Awareness: Wahrnehmung meint einerseits die Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion einer Führungsperson, bezieht sich aber andererseits auf den größeren Kontext. Die dienende Führungskraft erkennt eine Situation in all ihrer Komplexität und kann sie in den größeren Kontext einordnen. Hier gibt es eine Nähe zum systemischen Denken. Persuasion: Führen durch Beeinflussung ist bei Greenleaf der Gegenentwurf zur Führung durch Zwang. Diese vergleichsweise defensive Ausrichtung meint, dass die Führungskraft die Aufgabe hat, einen Konsens zu bilden. Praktisch geht damit bei Greenleaf auch die Aufforderung an die Führungskraft einher, Macht zu teilen.22 Conceptualization: Eine dienende Führungskraft träumt große Träume und legt visionäre Konzepte vor. Jenseits des Tagesgeschäftes wird das große Ganze gesehen. Hierin besteht am ehesten die Verbindung zum visionären Element der transformationalen Führung. Foresight: Gemeint ist die Fähigkeit, durch Intuition zukünftige Entwicklungen erahnen zu können.23
19 “Listening, as Greenleaf pointed out many times, is an attitude. It is rooted in a genuine interest in the viewpoints and perspectives of those served.” Burkhardt / Spears (2002), 229, 229. 20 Vgl. Greenleaf (2002), 33–35. 21 Vgl. Northouse (2013), 222. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei auch, dass der Weg zur Kundenorientierung nur über die Mitarbeiterorientierung gehen kann. “Admittedly, it is difficult, but no individual or organization can create for its customers, clients, and constituents what it cannot create for itself.” Showkeir (2002), 165, 165. 22 “If one is going to meet the ‚best test‘ for servant-leadership, then it is essential to actively and intentionally distribute organizational power.” ebd., 154. 23 Greenleaf führt das so aus: “The leader needs two intellectual abilities that are usually not formally assessed in an academic way: the leader needs to have a sense for the unknowable and be able to foresee the unforeseeable.” (Greenleaf (2002), 35). Diese Fähigkeit sei aufgrund einer einfachen Beobachtung notwendig: “There usually is an information gap between the solid information in hand and what is needed. The art of leadership rests, in part, on the ability to bridge that gap by intui-
9. Servant Leadership
175
8) Stewardship: Die dienende Führungskraft ist ein Haushalter und trägt Verantwortung. Diese Verantwortung besteht letzten Endes auch darin, dass die Institution, in welcher die Führungskraft dient, einen positiven Beitrag zum Allgemeinwohl leisten soll. 9) Commitment to the growth of people: Dieser Aspekt wurde oben bereits an dem ausführlichen Zitat von Greenleaf deutlich. Spears formuliert es so: It is the “responsibility to do everything within his or her power to nurture the personal, professional, and spiritual growth of employees.”24 10) Building community: Die Arbeit einer dienenden Führungskraft zielt auf den Aufbau von Gemeinschaft ab. Nach Greenleaf soll eine Führungskraft eine Institution in der Form beeinflussen, dass in jener Institution Gemeinschaft entstehen und sich das Wachstum der Menschen vollziehen kann.25 So bringen die zehn Charakteristika dienender Führung nach Spears die wesentlichen Gedanken Greenleafs auf den Punkt und spiegeln in weiten Teilen auch die oben am Greenleaf-Zitat gemachten Beobachtungen wieder. Kritisch wird jedoch immer wieder angemerkt, dass seine zehn Charakteristika von Servant Leadership ausschließlich auf der Literatur Greenleafs basieren und kein wissenschaftlich-empirischer Bezug vorliegt.26 9.3.
Anwendungsfelder von Servant Leadership
Peter Northouse weist darauf hin, dass seit knapp 30 Jahren in diversen Organisationen und Institutionen nach den Prinzipien von Servant Leadership gearbeitet wird.27 Der Ansatz ist in der Praxis also durchaus weit verbreitet. Zu jener Verbreitung trägt zu einem großen Teil die
tion.” (ebd., 36). David Young beschreibt Foresight noch etwas ausführlicher. Foresight bestehe aus vier Komponenten. Vgl. Young (2002). 24 Spears (2002), 8. 25 “If a better society is to be built [...] then the most open course is to raise both the capacity to serve and the very performance as servant of existing major institutions.” (Vgl. Greenleaf (2002), 62). Und: “The only real justification for institutions, beyond a certain efficiency (which, of course, does serve), is that people in them grow to greater stature than if they stood alone.” ebd., 116. 26 “Spears’ (1995) identification of ten characteristics of servant leadership [...] is based solely on his readings of Greenleaf essays, and is not grounded in solid research studies.” Sendjaya / Sarros (2002), 57, 57. 27 Vgl., Northouse (2013), 236. Zu weiteren Anwendungsfeldern von Servant Leadership: Vgl. Spears (2002), 8–13.
176
Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
Arbeit des Greenleaf-Centers28 bei. Beispiele für Unternehmen, welche sich am Leitbild von Servant Leadership orientieren, sind u. a. Starbucks und The Toro Company.29 Weitere Beispiele für die Anwendung von Servant Leadership sind die an zahlreichen US-amerikanischen Universitäten und Colleges entstandenen Servant-Leadership-Häuser,30 das Militär31 oder die Kreativitätsforschung.32 Damit wurde Servant Leadership nun in Grundzügen dargestellt, sodass ein erster Überblick gegeben ist. Innerhalb der verschiedensten Führungskonzeptionen zeichnet sich jenes beziehungsorientierte Modell durch seine deutliche Fokussierung auf den Geführten und dessen Entwicklung aus. Das Modell soll später (ա 20.) noch weit ausführlicher entfaltet werden, da es in vielerlei Hinsicht vielversprechend ist und Möglichkeiten bietet, die im Verlauf der gesamten Arbeit generierten Ergebnisse vergleichsweise kohärent zu bündeln. So wurden auf der Grundlage eines mehrdimensionalen Führungsprozesses (ա7.) nun zwei m.E. relevante Führungs- und Leitungsmodelle – systemisches Führen und Leiten (ա8.) und Servant Leadership (ա9.) – besprochen. Bevor dieser Arbeitsabschnitt aber nun zu einem Ende kommen kann, sollen in einem letzten Schritt aktuelle Themen der Führungsforschung betrachtet werden. Dieser Schritt ist für unsere Leitfrage, wie Gemeinde in spät- oder postmoderner Zeit zu führen und zu leiten sei, von hoher Relevanz, da es nun darum geht, wie außerhalb des kirchlich-theologischen Diskurses auf spät- oder postmoderne Herausforderungen hinsichtlich des Führungs- und Leitungsverständnisses reagiert wird.
28 “The Greenleaf Center is an international, not-for-profit, educational organization. Our vision is to encourage the worldwide, understanding and practice of servant-leadership.” Spears (1996), 35. 29 Vgl. Hartmann (2013), 41–49. 30 Vgl. Beazley / Beggs (2002). Hier lebt eine Art Mentor mit den Studenten zusammen und bildet diese im Verlauf von drei Jahren in Servant Leadership aus. Dies geschieht sowohl durch gemeinsame Lektüre als auch durch dienende Praxis. 31 Vgl. Brayce (2002). Da auch beim Militär mehr und mehr eine Abkehr vom Modell des strikten Gehorsams vollzogen wird, wächst auch hier die Relevanz von Servant Leadership. 32 Auf den Zusammenhang von Servant Leadership und Kreativität hat schon Greenleaf selbst hingewiesen. Freemann, Isaksen und Dorval ergänzen, dass in Unternehmen bei Kreativität oft nur auf das Ergebnis, die Profitabilität geschaut wird. Servant Leadership ergänze hier die Perspektive der am Kreativitätsprozess beteiligten Personen. Vgl. Freemann / Isaksen / Dorval (2002). Jones fügt hinzu: “[…] I believe that servant-leaders are also called to be leaders of the aesthetic and, as such, leaders of the imaginative and sensing heart.” Jones (2002), 45.
10. Gegenwärtige Trends und Themen der Führungsforschung
Der folgende Abschnitt kreist um die Frage, wie sich gelingendes Führen und Leiten im beginnenden 21. Jahrhundert unter spätmodernen Bedingungen vollzieht. Dazu fragen wir etwa: „Mit welchen Phänomenen muss sich Führungs- und Leitungshandeln gegenwärtig auseinandersetzen?“ Oder: „Was sind aktuelle Trends und Themen der Führungsforschung?“ Und: „Wie sehen gegenwärtig besonders geeignete Führungstools aus?“ Um auf diese Fragen eine Antwort geben zu können, werden im Folgenden neun relevante Aspekte diskutiert. Es ist nicht so, dass jene Aspekte erst eine Erfindung oder Entdeckung der letzten Jahre wären, viele dieser Themen haben eine lange Traditionsgeschichte. Es ist nur so, dass diese Aspekte in jüngerer Zeit besonders in den Fokus der Führungsforschung gekommen sind. Man wird sich also auch hier die Veränderung zwischen „klassischer Moderne“ und „Spätmoderne“ nicht zu abrupt vorstellen dürfen. Es handelt sich eher um Tendenzen. Diese sind jedoch deutlich wahrnehmbar. Auch sind die folgenden neun Aspekte keineswegs alle, die hier genannt werden könnten. Wir beschränken uns aus forschungspragmatischen Gründen auf die Phänomene mit der höchsten Relevanz. 10.1. Authentizität Zahlreiche jüngere Publikationen zum Thema Führung betonen die hohe Relevanz von Authentizität auf Seiten der Führungskraft.1 Mit Authentic Leadership ist hier sogar ein weitgehend eigenständiges Füh1 Das unterstreichen auch die oben bereits dargestellten Ansätze von Pinnow und Malik. Vgl. Pinnow (2012), 183: „Authentizität ist eine Grundvoraussetzung gelungener Führung.“ Vgl. Malik (2006), 145f. Aber auch in der kirchlichen Führungsliteratur kommt dem Thema mehr und mehr Relevanz zu. In der EMC heben Roxburgh und Romanuk den hohen Stellenwert von Authentizität hervor und verstehen darunter Folgendes: “The authentic leader is one whose actions and words are coherent and internally consistent.” Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 131. Nach Gibbs sei die postmoderne Skepsis gegenüber Wahrheitsansprüchen ein gewichtiger Grund, warum von Führungskräften ein hohes Maß an Authentizität gefordert sei. Sie sollen nicht auf alles eine Antwort haben, sondern Schwächen und Unzulänglichkeiten im eigenen Leben eingestehen. Vgl. Gibbs (2005), 60-62.
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rungsmodell im Begriff zu entstehen.2 Eine Ursache dafür liegt wohl in dem erschütterten Vertrauen in traditionelle Führungsmodelle im Zuge der weltweiten Finanzkrise von 2008. Was ist nun Authentizität? Eine einheitliche Definition von authentischer Führung gibt es nicht.3 Dennoch realisiert sich authentische Führung in der zugehörigen Literatur m. E. primär in drei Momenten. Erstens zeichnet sich eine authentische Führungskraft durch ein hohes Maß an Selbstwahrnehmung und -reflexion aus. Zweitens ist die Führungsperson transparent und gibt gegenüber den Geführten etwas von sich preis. Drittens handelt sie mit einer starken Orientierung an moralischen Wertvorstellungen. Sie orientiert sich an einem inneren moralischen Kompass. Diese drei Momente kommen im Bereich der praktisch orientierten Führungsratgeber besonders bei Bill George und Peter Sims zum Ausdruck.4 Der Moment der Selbstreflexion meint hier u.a. auch ein Reflektieren der eigenen Lebensgeschichte. Eine authentische Führungskraft reflektiert diese und findet hier Motivatoren und Ursachen für das eigene Führungsverhalten. Neben den praktischen Führungsratgebern gibt es in jüngerer Zeit aber auch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen hinsichtlich der Auswirkung von Authentizität auf den Führungsprozess. Am meisten verbreitet ist wohl das u.a. von Fred Walumbwa entwickelte Modell.5 Bei ihm besteht Authentic Leadership aus vier Faktoren, in denen sich auch die oben beschriebenen drei Momente wiederspiegeln. ̶
Self-awareness: Die Führungskraft kennt ihre eigenen Stärken und Schwächen, seine Grundsätze und Gefühle. Er kennt sein eigenes Selbstbild, weiß aber auch um das Bild, das die Geführten von ihm haben. Relational transparency: Die Führungskraft teilt ihren Mitarbeitern die eigenen Gedanken und Gefühle mit. Internalized moral perspective: Auch in herausfordernden Situationen gibt die Führungskraft nicht dem äußeren Druck nach, sondern orientiert ihr Handeln an den eigenen inneren Werten. Balanced Processing: Bevor eine Entscheidung getroffen wird, holt sich die Führungskraft alle verfügbaren Informationen ein, um eine möglichst objektive und transparente Entscheidung treffen zu können. ̶ ̶
̶
2
Vgl. Northouse (2013), 253-285. Vgl. ebd., 254: “Among leadership scholars, there is no single accepted definition of authentic leadership.” 4 George / Sims / McLean / Diana (2007), 130. 5 Vgl. Walumbwa / Avolio / Gardner / Wernsing / Peterson (2008). 3
10. Gegenwärtige Trends und Themen der Führungsforschung
179
Eine Reihe neuester Studien belegen außerdem den positiven Einfluss einer so handelnden authentischen Führungskraft auf das Arbeitsumfeld und die Mitarbeiter. So führt Authentizität zu einem erhöhten Engagement der Mitarbeitenden.6 Darüber hinaus bewirkt Authentizität ein besseres Arbeitsklima und gibt damit den Mitarbeitenden ein erhöhtes psychologisches Kapital.7 Summa Summarum besteht Authentizität im Führungsprozess primär aus den drei Momenten der Selbstreflexion, der Transparenz und der Orientierung an einem moralischen Kompass. Dennoch muss auch darauf hingewiesen werden, dass jener positive Einfluss von Authentizität zu einem bestimmten Grad kulturspezifisch ist. So haben Rosh und Offermann darauf hingewiesen, dass das Zeigen von Gefühlen auf Seiten der Führungskraft bspw. im asiatischen Raum weitaus weniger gewinnbringend ist.8 10.2. Ethik und Werte Der Aspekt Ethik ist bei der Rede vom „moralischen Kompass“ bereits angeklungen und soll nun weiter entfaltet werden. Insgesamt lässt sich attestieren, dass in den letzten Jahren der Ruf nach ethischem Verhalten von Führungskräften ebenfalls medienwirksam lauter geworden ist. Das hat auch in der Theoriebildung Aufnahme gefunden.9 So gibt ebenso Northouse der Verhältnisbestimmung von Führung und Ethik Raum.10 Führungskräfte müssen nach Northouse tagtäglich zahlreiche Entscheidungen treffen und stehen damit stets vor der Herausforderung „das Richtige“ zu tun. Damit sei eine ethische Frage aufgeworfen. “In any decision-making situation, ethical issues are either implicitly or 6
In der Führungsforschung wird dazu der Begriff Organizational Citizenship Behavior (OCB) verwendet. Er steht für das Engagement eines Mitarbeiters, das über die im Arbeitsvertrag festgeschriebene Arbeitsleistung hinausgeht. Authentic Leadership führt zu einem erhöhten OCB. Vgl. Walumbwa, Fred / Wang, Peng / Wang, Hui / Schaubroeck, John / Avolio, Bruce (2010), 910: “Overall, the pattern of results reported here suggests that the more leaders are seen authentic, the more employees identify with them, feel psychologically empowered, are more engaged in their roles and demonstrate more citizenship-rated behaviors.” 7 Vgl. Woolley / Caza / Levy (2011), 444. Psychologisches Kapital besteht nach den Autoren aus den vier Elementen Selbstvertrauen, Optimismus, Hoffnung und Resilienz. Vgl. ebd., 439: “This set of positive psychological states comprise individuals’ confidence (self-efficacy), their belief that they will succeed (optimism), their willingness to commit to and accomplish goals (hope), and their ability to withstand and bounce back from setbacks encountered along the way (resiliency).” 8 Vgl. Rosh / Offermann (2013), 137. 9 Vgl. Stippler (2011), 61f. Stippler führt hier die Arbeit von Joanne Ciulla an, die deutlich macht, dass der Erfolg einer Führungskraft zuletzt auch an deren ethische Orientierung gebunden ist. 10 Vgl. Northouse (2013), 423-451.
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explicitly involved.”11 Die ethische Dimension von Führung gehe aber noch weit über die Problematik der Entscheidungsfindung hinaus und betreffe in letzter Konsequenz die gesamte Organisationskultur. Denn Führungskräfte üben auch indirekt einen ethischen Einfluss aus, indem sie durch ihr Verhalten ein bestimmtes „ethisches Klima“ prägen.12 Mit der erhöhten Wahrnehmung der ethischen Dimension von Führung geht darüber hinaus eine erhöhte Sensibilität für die Kehrseite, sprich der Abwesenheit von Ethik einher. Hier kann dann von Toxic Leadership gesprochen werden.13 Auf einer praktischen Eben äußert sich das gesteigerte Interesse an einer ethisch orientierten Führung darin, dass vor allem bei der jüngeren Generation der ab 1980 geborenen Führungskräfte das Thema Social Entrepreneurship mehr und mehr Gewicht erhält.14 Wirtschaftliches Agieren und die Übernahme sozialer Verantwortung werden hier eng aufeinander bezogen. Aus theologischer Perspektive ist hierbei jedoch auch auf eine gewisse Problematik hinzuweisen. Denn sowohl eine an Ethik orientierte Führung wie auch schon die Forderung nach Ausrichtung an einem moralischen Kompass bei Authentic Leadership setzen in der Regel selbstverständlich voraus, dass es so etwas wie „das Richtige“ gibt und dieses allen am Prozess Beteiligten auch verhältnismäßig deutlich bewusst sei. Bei Northouse klingt jedoch das dabei offensichtliche Problem an. Er fragt: “How do you choose what a better set of moral values is?”15 Die Problematik liegt zuletzt darin, dass sich diese Frage gar nicht mit den empirischen Methoden der Führungsforschung beantworten lässt. Denn die Frage nach dem ethisch Richtigen, nach dem Normativen, entzieht sich dem Bereich empirischer Untersuchung. Höchstens kann empirisch beschrieben werden, was Menschen als ethisch wahrnehmen. Damit muss die Frage nach „dem Richtigen“ im Führungsprozess in der Tiefe offen bleiben. Eine theologische Reflexion dieser Problematik, wie sie im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch in Ansätzen zu erbringen ist (ա16.), könnte hier einen weiterführenden Beitrag leisten. 10.3. Die Haltung der Demut sowie das Zeigen von Schwäche Das Thema Demut gewinnt in der Führungsforschung seit geraumer Zeit an Bedeutung.16 Einen gewichtigen Beitrag zu jenem steigenden 11
Ebd., 424. Vgl. ebd., 428. 13 Vgl. Stippler (2011), 62. 14 In diesem Kontext ist auch auf den wachsenden Einfluss von NGO‘s hinzuweisen. Vgl. Scharmer (2011), 104. 15 Northouse (2013), 411. 16 Das gilt auch für den kirchlich-theologischen Bereich. In der pastoraltheologischen Diskussion unterstreicht Karle die Relevanz von Demut. Vgl. Karle (2011), 12
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Interesse hat der US-amerikanische Führungsforscher Jim Collins mit “Good to Great”17 geleistet. Dem Werk liegt eine Studie zugrunde, in welcher Collins mit seinem Forschungsteam ermittelte, was mittelmäßige von hoch erfolgreichen Unternehmen unterscheidet. Ein Ergebnis dabei war, dass die hoch erfolgreichen Unternehmen in der Regel von sogenannten “Level-5-Leaders” geführt wurden.18 Nach Collins zeichne sich Level-5-Leadership durch eine spezifische Kombination aus. Jene Führungskräfte sind einerseits demütig und bescheiden, andererseits aber auch entschlossen und mutig. In dieser Kombination liege ihr Erfolg.19 John Dickson schließt sich an jene Beobachtung Collins‘ an, dass sich erfolgreiche Führungskräfte durch Demut auszeichnen,20 und hilft dabei, den Begriff der Demut weiter zu präzisieren. Dickson schlägt folgende Definition vor: “Humility is the noble choice to forgo your status, deploy your resources or use your influence for the good of others before yourself.”21 An dieser Definition macht Dickson dreierlei deutlich.22 1) Demut setzt stets Würde voraus. Man kann sich für einen anderen nur dann klein machen, wenn man vorher eine gewisse Größe oder Würde besitzt. 2) Bei Demut handelt es sich um einen bewussten Entschluss. Hier liegt der signifikante Unterschied zu dem semantisch verwandten Begriff der Demütigung. 3) Demut hat eine soziale Dimension. Darin hebt sich Demut von Bescheidenheit ab. Sie ist orientiert an einem Gegenüber. Es geht nicht um ein geringes Selbstbild, sondern um eine bewusste Handlung für eine andere Person. Demut ist also der bewusste Akt des Sich-Klein-Machens für das Gegenüber. Damit besteht auch ein enger Zusammenhang zu dem Befund, 225f. Vgl. auch Gibbs (2005), 130: “humility is a necessary prerequisite for any leader.” 17 Collins (2001). 18 Vgl. ebd., 17-40. 19 Praktisch realisiert sich Level-5-Leadership im Verhalten gegenüber Mitarbeitern z.B. in dem Prinzip „Das Fenster und der Spiegel“. Vgl. ebd., 35: “Level 5 leaders look out of the window to apportion credit to factors outside themselves when things go well (and if they cannot find a specific person or event to give credit to, they credit good luck). At the same time, they look in the mirror to apportion responsibility, never blaming bad luck when things go poorly.” Vgl. auch: Malik (2006), 135ff; Böhlemann / Herbst (2011), 72f. 20 Vgl. Dickson (2011), 19: “My thesis is simple: The most influential and inspiring people are often marked by humility.” 21 Ebd., 24. 22 Vgl. ebd., 15–29.
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dass in der Führungsliteratur gegenwärtig sehr wertschätzend von Führungskräften gesprochen wird, die Schwäche zeigen.23 So hebt bspw. Lencioni den Aspekt der Verletzbarkeit hervor. Er zeichnet das Bild einer Führungskraft, die sich für andere Menschen verletzbar macht. Dieser Ansatz sei deshalb so wirkungsvoll, weil er auf Seiten der Mitmenschen Vertrauen fördere.24 Damit gibt es eine Nähe zu dem oben unter „Authentizität“ gezeichneten Bild einer transparenten Führungskraft. 10.4. Vertrauen Das Thema Vertrauen wird in der gegenwärtigen Führungsliteratur gehäuft thematisiert25 und wurde im deutschsprachigen Raum vor allem von Reinhard K. Sprenger in den Mittelpunkt gestellt.26 Ähnlich wie Lencioni unterstreicht auch er, dass Verwundbarkeit einen Vertrauensmechanismus in Gang setze. Er formuliert es so: „Wollen Sie Vertrauen aufbauen, dann räumen Sie jemandem aktiv die Gelegenheit zur Verletzung ein und sind zugleich zuversichtlich, dass er diese Gelegenheit nicht nutzen wird.“27 Jener Aspekt der Verletzbarkeit ist auch Bestandteil der zahlreich rezipierten Definition von Vertrauen nach Mayer u.a. Hier wird Vertrauen verstanden als „willingness of a party to be vulnerable to the actions of another party based on the expectation that the other will perform a particular action important to the trustor, irrespective of the ability to monitor or control that other party“ 28. 23
Vgl. Pinnow (2012), 200: „Man könnte auch sagen, dass nur Führungskräfte, die auch schwach sind, wirklich stark sind.“ Im kirchlich-theologischen Bereich brauchen Führungskräfte nach Gibbs eine neue Art von Mut. Es brauche Mut, Fehler zuzugeben, sein Verhalten ändern zu können und eine angemessene emotionale Reaktion zu zeigen. Vgl. Gibbs (2005), 136f. Nach McLaren führe ein solches Verhalten in postmodernden Zeiten keineswegs zu einem Verlust von Glaubwürdigkeit, sondern schaffe in letzter Konsequenz Autorität. Vgl. McLaren (November/December 2000): “In modernity, you gained credibility by always being right; in postmodernity, you gain authority by admitting when you’re wrong [...] and apologizing humbly.” Dagegen zeichnet Karle ein anderes Bild. Pastoren sollten der Gemeinde ihre Unsicherheiten nicht kommunizieren, um das Vertrauen nicht zu zerstören. Vgl. Karle (2001), 207f. 24 Vgl. Lencioni (2010), 209. 25 Vgl. Malik (2006), 140–156 Vgl. Bennis (2002), 105. In der angelsächsischen missionalen Literatur wurde Vertrauen auch von Roxburgh und Romanuk thematisiert: Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 139. In der deutschsprachigen Praktischen Theologie bei Karle: Vgl. Karle (2001), 72–82. 26 Vgl. Sprenger (2013), 151-211. Eine zusammenfassende Darstellung findet sich bei Pinnow. Vgl. Pinnow (2012), 128-139. 27 Sprenger (2013), 180. 28 Mayer / Davis / Schoorman (1995), 712. Ähnlich bringt es Sprenger auf den Punkt: „Letztlich ist Vertrauen die Erwartung, dass kooperatives Handeln nicht ausgebeutet wird.“ Sprenger (2013), 171.
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Aus zahlreichen Gründen ist Vertrauen für die Leistungsfähigkeit einer Organisation relevant. So wird immer wieder auf den engen Zusammenhang von Vertrauen und Motivation der Mitarbeiter hingewiesen.29 Denn vorhandenes Vertrauen erhöht die Motivation der Mitarbeitenden. Darüber hinaus bewirkt Vertrauen auch ein erhöhtes Maß an Arbeitszufriedenheit.30 Des Weiteren – so argumentiert Fredmund Malik – mache vorhandenes Vertrauen eine Führungssituation robuster. Führungskräfte dürfen auch einmal Fehler machen, da die Mitarbeiter wissen, dass sie grundsätzlich auf die Führungskraft zählen können. 31 Zusätzlich hat Vertrauen, obwohl es in einem gewissen Gegensatz zu Misstrauen und Kontrolle steht, dennoch eine verpflichtende Wirkung auf das Gegenüber. Da ein Vertrauender durch sein Vertrauen stets eine Vorleistung erbringe, spreche es nach Sprenger beim Gegenüber das Bedürfnis nach Reziprozität an.32 Das Gegenüber will das Vertrauen zurückzahlen. Durch die verpflichtende Kraft des Vertrauens steuert und kontrolliert die Führungskraft ihr Gegenüber also indirekt. Wenn sich die Führungsliteratur auch einig ist, dass von Misstrauen und Kontrolle grundsätzlich Abstand genommen werden sollte, so hat beides doch auch eine gewisse Berechtigung.33 Misstrauen kann in bestimmten Situationen sogar förderlich sein. Das gilt besonders für Kreativitätsprozesse, denn eine neue Idee entsteht oftmals aus Misstrauen gegenüber einer bestehenden Lösung. Deshalb kann sich Misstrauen – wie auch Konflikte – in kleineren Settings innnovationsfördernd auswirken.34 Doch wie kann in einer Organisation Vertrauen geschaffen werden? Eine praxisorientierte Antwort gibt das ABCD-Trust-Model nach Blanchard, Olmstead und Lawrence.35 Die vier Buchstaben stehen dabei für vier Dimensionen “Able (demonstrate competence), Believable (act with integrity), Connected (care about others), and Dependable (maintain credibility).”36 Anhand dieser vier Dimensionen37 können Men29
Vgl. Malik (2006), 142; Pinnow (2012), 132. Vgl. Gilstrap / Collins (2012), 159: “The present study tested and found support for the mediating effect of trust in one’s leader on the relationship between supervisory behaviors […] and subordinates’ job satisfaction.” 31 Vgl. Malik (2006), 142f. 32 Vgl. Sprenger (2013), 181-185. 33 So fordert Malik, dass man mit seinem Vertrauen sehr weit an die eigene Grenze gehen solle, aber dennoch sicherstellen sollte, dass jeglicher Vertrauensmissbrauch wahrgenommen und dann auch entsprechend sanktioniert werden würde. Vgl. Malik (2006), 153f. 34 Vgl. HBR IdeaCast, The Truth About Creative Teams. An Interview with Leigh Thompson, 04.04.2013 (http://blogs.hbr.org/2013/04/the-truth-about-creativeteams), abgerufen am: 14.08.2014. 35 Blanchard / Olmstead / Lawrence (2013). 36 Ebd., xi. Trotz seines stark populärwissenschaftlichen Ansatzes entsprechen diese vier Dimensionen in Grundzügen dem Konsens der Vertrauensforschung. So 30
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schen nun miteinander reflektieren und spezifizieren, in welcher dieser Dimension ihr Vertrauensproblem womöglich begründet liegt. Auch werden konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, wie die jeweiligen Dimensionen im Miteinander gestärkt werden können. Insgesamt wird es mit Sprenger aber wohl darum gehen müssen, eine ganze Vertrauenskultur in einer Organisation zu schaffen.38 Dafür brauche es vor allem das, was Sprenger „Vertrauen in Vertrauen“39 nennt. Auf natürlichem Wege braucht es eine lange Zeit, damit Vertrauen zwischen zwei Menschen entstehen kann. Vertrauen erwächst dann aus Vertrautheit. Wir leben nun jedoch in einer Welt, die sich durch einen hohen Grad an Komplexität, Unübersichtlichkeit und Unkontrollierbarkeit auszeichnet. Oft sind wir darauf angewiesen, Menschen zu vertrauen, die wir nur kurz und oberflächlich kennen. Deshalb brauche es ein grundsätzliches „Vertrauen in Vertrauen“. Durch die wachsende Komplexität werde Vertrauen immer wichtiger. „Je komplexer die Welt ist, desto wechselwirksamer sind Entscheidungen und Handlungen in Unternehmen - und desto notwendiger ist das Vertrauen in Vertrauen.“40 10.5. Kompetenz im Umgang mit Mobilität und Flexibilität Gesellschaftliche Pluralisierungsphänomene beinhalten einen Rückgang von „Normalbiographien“. Das gilt ebenfalls für die Arbeitswelt, die immer stärker von Mobilitäts- und Mobilisierungstendenzen geprägt wird.41 Praktisch heißt dies, dass Menschen häufiger ihren Arbeitsplatz wechseln, was eventuell auch eine Veränderung des Wohnortes nach sich ziehen kann. Aber auch bei einem konstanten Beschäftigungsverhältnis wird von Arbeitnehmern zunehmend Mobilität und identifizierten Mayer u.a. drei ähnliche Bestanteile von Vertrauen: integrity, benevolence und ability. Vgl. Mayer / Davis / Schoorman (1995), 715. 37 Die Arbeit von Erin Meyer legt nahe, dass diese Dimensionen kulturspezifisch von unterschiedlicher Relevanz sein können. Vgl. Meyer (2014), 163-194. 38 Vgl. Sprenger (2013), 152f. Nach Malik müsse man sich dazu bspw. an folgende Grundsätze halten: „Fehler der Mitarbeiter sind auch Fehler des Chefs. […] Fehler des Chefs sind Fehler des Chefs. […] Erfolge der Mitarbeiter gehören den Mitarbeitern. […] Erfolge des Chefs, falls er allein solche haben sollte, kann er für sich beanspruchen.“ Malik (2006), 144. Dabei handelt es sich um eine Modifikation des Bildes vom Spiegel und Fenster nach Collins. Die Führungskraft schaue bei Misserfolg des Teams in den Spiegel zu sich selbst und bei Erfolg aus dem Fenster zu den Mitarbeitenden. Vgl. Collins (2001), 34f. 39 Sprenger (2013), 151. Sprenger verwendet hier eine auch im Werk Luhmanns geläufige Formulierung. Vgl. Luhmann (1968), 63ff. 40 Sprenger (2013), 151. Roxburgh und Romanuk weisen in diesem Kontext auch darauf hin, dass es besonders in kirchlichen Veränderungsprozessen ein hohes Maß an Vertrauen brauche, da gerade hier viele Unsicherheiten vorhanden sind. Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 125–141. 41 Götz / Lemberger / Lehnert / Schondelmayer (2010).
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Flexibilität erwartet. So kann insgesamt davon gesprochen werden, dass die Normalarbeitsverhältnisse im Rückzug begriffen sind. Mobilität ist darüber hinaus aber ein Phänomen, das nicht nur auf die Arbeitswelt beschränkt ist, sondern als Folge gesellschaftlicher Ausdifferenzierung das gesamte Leben prägt.42 Jene Veränderungen haben Konsequenzen für die Frage nach Führung und Leitung, besonders im kirchlichen Kontext. Kirchenmitglieder werden nicht zuletzt auch aufgrund der wachsenden beruflichen Anforderungen weniger stabil am gemeindlichen Leben partizipieren können, selbst wenn sie es wollten. Gemeindeleitung steht vor der Herausforderung, sich darauf einzustellen. Wird Zeit mehr und mehr zur Mangelware, wird Leitung in der Gemeinde mit der Zeit ihrer Mitglieder behutsam umgehen müssen.43 So wird bspw. eine Kirchenvorstandssitzung inhaltlich und methodisch auch deshalb sehr gut vorbereitet werden müssen, weil das allen hier ehrenamtlich Beteiligten viel Zeit spart.44 Darüber hinaus könnte auch verstärkt bedacht werden, wie Menschen trotz temporärer räumlicher Abwesenheit in gemeindliche Entscheidungsprozesse einbezogen werden können, was prinzipiell durch die Verbreitung neuer Medien immer besser möglich ist.45 Wenn sich haupt-, neben- und ehrenamtliche Mitarbeit zunehmend flexibilisieren wird, gilt es auch die Schattenseiten dieser Entwicklung im Blick zu behalten. So funktioniert Flexibilität in der Regel nur im engen Bezug mit gegenseitiger Verantwortung (Accountability).46 10.6. Wandel, Komplexität und Netzwerke „Führung und Leitung“ vollzieht sich immer weniger in stabilen Kontexten, sondern hat es vermehrt mit den Phänomenen Wandel und Komplexität zu tun.47 Beide Phänomene werden auch immer wieder im Zusammenhang mit der systemischen Leitungstheorie genannt, bzw. gerade sie legen die Notwendigkeit eines systemischen Ansatzes nahe.48 42
Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 70. Vgl. Gibbs (2005), 186f. 44 Vgl. Böhlemann / Herbst (2011), 166. 45 Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 387f. 46 Nach Gianpiero Petriglieri kann dadurch gar eine Art double-bind entstehen. Vgl. HBR IdeaCast, Nomadic Leaders Need Roots, 02.01.2014 (http://blogs.hbr. org/2014/01/nomadic-leaders-need-roots), abgerufen am: 14.08.2014: “The double bind is the following – while becoming a leader may require you to demonstrate flexibility and mobility and all that, being a leader requires you to demonstrate commitment. And flexibility and commitment are relatively strange bedfellows.” 47 Vgl. Pinnow (2012), 20; Malik (2006), 11; 78f. 48 Vgl. Senge (2006), 69: “Today, systems thinking is needed more than ever because we are becoming overwhelmed by complexity.” 43
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a) Komplexität In diesem Kontext hat Peter Senge eine wichtige Unterscheidung vorgelegt, die dabei hilft, die spezifische Herausforderung gegenwärtiger Komplexität besser zu verstehen. Senge unterscheidet dabei zwei Arten von Komplexität: ̶
̶
Detaillierte Komplexität: Sie bezeichne das, was die meisten Menschen wohl unter Komplexität verstehen würden. Es liegt hier eine Vielzahl von Variablen vor, welche die Situation unübersichtlich macht. Man könnte dabei auch von Kompliziertheit sprechen. Dynamische Komplexität: Sie zeichnet sich weniger durch eine Vielzahl von Variablen aus, sondern dadurch, dass Ursache und Wirkung nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang zueinander auftreten.49 Ein Blick in die Bildungspolitik mag diese dynamische Komplexität verdeutlichen. Die Qualität von Bildung ist in der Regel ein Produkt von Bildungsreformen, die bereits Jahre oder Jahrzehnte zurückliegen, weniger von aktuellen Reformen. Ursache und Wirkungen liegen hier also Jahre und Jahrzehnte auseinander. Leitung steht nun oftmals gerade vor dem Phänomen einer solchen dynamischen Komplexität (ա18.).
Senges Schüler am Massachusetts Institute of Technology, Claus Otto Scharmer, knüpft nun an diese Unterscheidung an und ergänzt sie um eine dritte und vierte Ebene von Komplexität. ̶
̶
Soziale Komplexität: Sie sei dadurch qualifiziert, dass sich die Interessen und Perspektiven der verschiedenen am Prozess beteiligten Personen sehr stark voneinander unterscheiden.50 Emergente Komplexität: Sie ist die eigentliche Pointe bei Scharmer. Sie zeichne sich durch drei Eigenschaften aus: „1. Die Lösung des Problems ist unbekannt. 2. Die Problemformulierung ist noch nicht abgeschlossen. 3. Wer die wichtigsten Beteiligten sind, ist noch unklar.“51
b) Adaptiver Wandel Scharmers Analyse lässt sich nun mit der Forschung von Ronald Heifetz an der Universität Harvard verbinden. Heifetz spricht zwar nicht von emergenter Komplexität, sondern von einem adaptiven Wandel. Seine Argumentation geht aber in eine ähnliche Richtung. Grundlegend sei die Unterscheidung von technischen und adaptiven Herausforderungen. 49 50 51
Vgl. ebd., 71f. Vgl. Scharmer (2011), 83-85. Ebd., 85.
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“The most common cause of failure in leadership is produced by treating adaptive challenges as if they were technical problems. What’s the difference? While technical problems may be very complex and critically important (like replacing a faulty heart valve during cardiac surgery), they have known solutions that can be implemented by current know-how. They can be resolved through the application of authoritative expertise and through the organization’s current structures, procedures, and ways of doing things. Adaptive challenges can only be addressed through changes in people’s priorities, beliefs, habits, and loyalties.”52
Der Unterschied wird von Heifetz, Grashow und Linsky an einem alltäglichen Beispiel illustriert.53 Man denke an eine ältere Dame, die im Alter von 95 Jahren noch immer allein Auto fährt, selbst in der Nacht. Irgendwann bemerkt ihr Sohn jedoch eine Vielzahl von Beulen an dem Auto seiner Mutter. Das technische Problem und die technische Lösung sind leicht zu identifizieren. Das Auto muss in die Werkstatt. Doch die entscheidende Herausforderung scheint adaptiver Natur zu sein. So könnte die Identität der Dame auf dem Spiel stehen, nämlich eine selbstständige Frau zu sein. Sie ist die einzige ältere Dame im Ort, die noch allein Auto fährt. Bei einer technischen Herausforderung liegt das Problem innerhalb des Systems selbst (in unserem Beispiel wäre es das Auto), bei einer adaptiven Herausforderung jedoch liegt sie außerhalb des Systems (in unserem Beispiel in der Identität der Dame). Bei einer technischen Herausforderung ist das Problem klar und die Lösungsmuster sind bekannt, bei einer adaptiven Herausforderung jedoch sind Problembeschreibung und Lösung undeutlich und unklar. Das kommt der von Scharmer beschriebenen emergenten Komplexität sehr nahe. Die Realität wird nun zusätzlich noch dadurch verkompliziert, dass sich die verschiedenen Formen von Komplexität, sowie technische und adaptive Herausforderungen miteinander mischen. c) Kybernetische Konsequenzen Die Unterscheidung von technischem und adaptivem Wandel, sowie die These, dass es Leitung im 21. Jahrhundert eben verstärkt mit einem solchen adaptiven Wandel zu tun hat, wird aktuell in der angelsächsischen Literatur zum Thema Gemeindeleitung stark rezipiert.54 In Deutschland steht m.E. Gemeindeleitung vor ähnlichen adaptiven Herausforderungen oder emergenten Komplexitäten. Der Umgang mit 52
Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 19. Vgl. ebd., 19f. 54 Vgl. Hamm (2007), 8-16, 93: “Upon analyzing a modern organization, I have heard Loren Mead say, ‘what we have here is not a problem; what we have is a mess.’ A ‘problem’ suggests a ‘fix’. But a ‘mess’ suggests an intertwining of issues and dynamics that ultimately requires an adaptive response.” Ähnlich beschreiben es Roxburgh und Romanuk. Während Veränderungen früher in gewisser Hinsicht noch vorhersehbar waren, sind sie es nun nicht mehr. Die Reise geht in das Unbekannte. Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 6-9. 53
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Komplexität ist jedoch ein für den „Erfolg“ von Gemeindearbeit entscheidender Faktor. Leider legt eine Studie von Anja Tetzlaff jedoch nahe, dass dies gegenwärtig weniger gut gelingt. Tetzlaff hat empirisch nachweisen können, dass je höher die Komplexität des Umfeldes einer Gemeinde ist, desto tendenziell unwahrscheinlicher wird ihre „erfolgreiche“ Arbeit.55 Emergente Komplexität und adaptiver Wandel haben nun auf Leitung äußerst konkrete Auswirkungen. So können Entscheidungen immer weniger auf der Basis von Erfahrungen aus der Vergangenheit, respektive von bekannten Präzedenzfällen her getroffen werden, da die den Leitungsprozess beeinflussenden Parameter sehr drastischen Veränderungen unterliegen und vieles unbekannt ist.56 Manch alte Handlungsmuster werden weniger nützlich.57 Hier ließe sich nun ein Zusammenhang zu Isolde Karles Professionstheorie herstellen. Denn auch sie argumentiert nicht zuletzt auch von der Überkomplexität und Unbekanntheit der Situation her, vor denen Gemeinden und Pfarrer stehen. Das mache eine Standardisierung des Pfarrberufs faktisch unmöglich und deshalb eine professionstheoretische Füllung des Berufs notwendig.58 Hohe Komplexität macht also die Arbeit mit auf Erfahrungen aus der Vergangenheit basierenden Standards problematisch. Hinzu kommt, dass gegenwärtige Veränderungsprozesse auch einem hohen Tempo unterliegen. Heijo Rieckmann fasst die damit einhergehende Problematik mit dem Kunstwort Dynaxity zusammen, welches sich aus den beiden Begriffen Dynamics und Complexity zusammensetzt. Leitende müssen nicht nur in immer komplexeren Zusammenhängen agieren, sondern haben durch die hohe Dynamik dabei immer weniger Zeit.59 Insgesamt stehen Führungskräfte nun vor der Aufgabe, andere Menschen durch solche Veränderungsprozesse hinein in das Unbekannte zu begleiten. Dabei hält sich oft der Mythos, dass ein Großteil der Menschen einem Wandel grundsätzlich skeptisch gegenüberstünde. Heifetz, Grashow und Linsky haben jedoch darauf hingewiesen, dass es nicht 55
Vgl. Tetzlaff (2005), 202f. Vgl. Gibbs (2005), 90. Ähnlich argumentiert Scharmer über den Zusammenhang von der unten beschriebenen emergenten Komplexität und einem Lernen aus der Vergangenheit. Vgl. Scharmer (2011), 85. 57 Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 9f. 58 Vgl. Karle (2001), 201ff. Zum Problem von Standardisierungen von Leitung in überkomplexen Situationen: Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 277: “Leadership is an improvisational art. There is no recipe, although some books would like to suggest otherwise by providing five, ten, or twenty do’s and don’ts. In the complex, fast-changing world we live in today, any ‚solution‘ is just a temporary resting place, a park bench where you can pause and take a breath before getting back into the game.” 59 Vgl. Jumpertz (2003), 36ff. Zur Herausforderung des Zeitdrucks für Führung im kirchlichen Kontext: Vgl. Gibbs (2005), 91f. 56
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der Wandel an sich sei, dem Menschen sich verweigern. Kaum einer hätte wohl etwas gegen eine Veränderung vom Tellerwäscher zum Millionär einzuwenden. Es seien vielmehr die mit dem Wandel verbundenen Verlustängste, die Widerstand auslösen.60 Diese sind deshalb eine gewichtige Herausforderung für Leitende. Ein weiterer Terminus, der im Zusammenhang mit Komplexität immer wieder genannt wird, ist der des Chaos. Eddie Gibbs verwendet ihn zur Beschreibung von Komplexität im Anschluss an Harlan Cleveland.61 Ein Chaos könne man nicht kontrollieren. Kontrollierbarkeit sei jedoch fest im modernen Leitungsverständnis verankert. Man versuche der komplexen Realität handhabbar zu werden, indem man sie in kleine logische und lösbare Einheiten zerlegen möchte (Compartmentalization). Diese Methode sei aber an ihre Grenze gekommen. Theologisch sei diese Unkontrollierbarkeit aber nicht nur negativ zu bewerten. Denn die Geschichte Israels und des Urchristentums sei ebenfalls durch Unberechenbarkeit und Chaotisches geprägt gewesen.62
Wie lässt sich eine Organisation angesichts der spezifischen Komplexitäten nun überhaupt noch steuern? Der Frage wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch näher nachzugehen sein (ա 18.). An dieser Stelle begnügen wir uns mit der Problembeschreibung. d) Netzwerke Eine letzte Konsequenz, auf die besonders im Rahmen systemischer Organisationsentwürfe hingewiesen wird, sei noch kurz thematisiert: Netzwerke.63 Gerade weil Probleme einer Organisation oftmals auch jenseits der Organisationsgrenzen liegen, sei es für Leitende wichtig, sich mit Menschen jenseits der Organisation zu vernetzen. Netzwerkzentrisch orientierte Leitung liegt aber besonders nahe, da zahlreiche Menschen gegenwärtig über „soziale Medien“ ohnehin netzwerkartig miteinander verbunden sind.64 Henry Mintzberg bezeichnet eine weder zentralisierte noch dezentralisierte Organisationsform als adhocracy.65 Besonders in dynamischen Settings brauche es eine netzwerkartige und eher kompetenz- als hierarchiebasierte Organisationsstruktur. Ebenso werde strategische Planung hier weit weniger langfristig, sondern vielmehr „ad hoc“ sein müssen.
60
Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 22: “What people resist is not change per se, but loss. When change involves real or potential loss, people hold on to what they have resist the change.” 61 Vgl. Gibbs (2005), 63-65; 92-93. 62 Vgl. ebd., 93-95. 63 Vgl. Stippler (2011), 92-99. 64 Vgl. ebd., 95. 65 Vgl. Mintzberg (1994), 398; 408-410.
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10.7. Storytelling Gerade unter solch komplexen Bedingungen wird immer wieder auf die hohe Relevanz von Storytelling für ein zeitgemäßes Führungsinstrumentarium hingewiesen. Denn Geschichten sind nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der philosophischen Postmoderne, auch in der gegenwärtigen Führungsforschung werden sie als ein wichtiges Instrument wahrgenommen.66 Aus verschiedensten Gründen erscheint das Erzählen von Geschichten aktuell als hilfreich. Zum einen stellen sie eine kulturübergreifend akzeptierte Form der Kommunikation dar.67 Denn alle Menschen sind prinzipiell dazu fähig, in Geschichten zu denken, sie zu erzählen und zu verstehen,68 was besonders in dem Diktum Alasdair MacIntyres zum Ausdruck kommt, der Mensch sei „im wesentlichen ein Geschichten erzählendes Tier“69. Das macht Storytelling gerade für solche Organisationen interessant, die im Kontext hoher Diversität handeln müssen, also gleichzeitig mit Menschen verschiedenster Kulturen und Milieus agieren. Hinzu kommt, dass Geschichten den Vorteil bieten, in kurzer Zeit leicht zugänglich zu sein und schnell einen common ground zwischen verschiedenen Menschen bilden zu können.70 So lassen sich in einer schnelllebigen Zeit komplexe Sachverhalte und Ideen kommunizieren. Darüber hinaus wird immer wieder auf den vertrauensbildenden Effekt von Storytelling hingewiesen.71 Während Vertrauen in der Regel durch einen langen Prozess entsteht, können Geschichten einen schnellen Einblick in den Charakter einer Führungskraft geben, besonders wenn sie auch etwas von der eigenen Schwäche zeigt: “As a respected and admired leader, a story disclosing a failure can have the somewhat paradoxical effect of building trust and encouraging openness.”72 Darüber hinaus eignen sich Geschichten auch, um Vision, Sinn und Inspiration zu vermitteln, weshalb Storytelling auch eine besondere Affinität zur transformationalen Führungstheorie aufweist. Ergänzend zum Knowhow kommunizieren Geschichten das Know-why und bieten für Menschen so „the chance to make sense of events“73. Hinzu kommt noch der gemeinschaftsbildende Charakter von Geschichten, weil sie einer Gruppe ein gemeinsames Bild und eine gemeinsame Sprache leihen, dabei aber gleichzeitig den Vorteil besitzen, das einzelne Individuum mit einzubeziehen. Denn jeder Hörer schafft sich durch seine Interpretation einen eigenen Zugang zur Geschichte 66 67 68 69 70 71 72 73
Vgl. Stippler (2011), 86f. Barker / Gower (2010), 296. Grisham (2006), 496. MacIntyre (1995), 288. Vgl. Barker / Gower (2010), 299. Vgl. Grisham (2006), 497. Harris / Barnes (2006), 351. Boal / Schultz (2007), 419.
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und Realität der Organisation.74 Geschichten leihen darüber hinaus aber nicht nur eine gemeinsame Sprache, sie kommunizieren auch gemeinsame, der Organisation zu Grunde liegende Werte. Jene Werte wirken sich langfristig auch für die einzelnen Individuen handlungsleitend aus.75 So stellt Storytelling ein Führungsinstrument besonders indirekter Steuerung dar. Damit wurden nun die Gründe für die gegenwärtige Verbreitung von Storytelling als Führungsinstrument benannt. Doch was macht eine gute Geschichte im Kontext von Führung aus? Prinzipiell gibt es keine richtigen und falschen Geschichten und auch keine an sich richtige Art und Weise, sie zu erzählen. Vielmehr hängt die konkrete Gestaltung von Storytelling stark von dem Ziel ab, das erreicht werden soll.76 Dennoch gilt es, manche Grundregeln zu beachten, wie etwa die folgenden fünf, die exemplarisch von Douglas Ready benannt wurden.77 1) Effektive Geschichten sind kontextspezifisch und weisen einen direkten Bezug zu den aktuellen Herausforderungen der Organisation auf. 2) Effektive Geschichten setzen auf der Ebene der Zuhörer an. Sie erzählen nicht von unnahbaren „Super-Managern“, sondern zeichnen einen Horizont, in denen sich die Hörer selbst wiederfinden können. 3) Die Wirkung einer Geschichte hängt davon ab, ob der jeweilige Erzähler authentisch wirkt. Wird er nicht respektiert und wird von den Zuhörern gar eine Diskrepanz zwischen seinen Worten und seinem Handeln wahrgenommen, wirkt auch eine noch so gut erzählte Geschichte unglaubwürdig. 4) Effektive Geschichten brauchen Spannung. 5) Effektive Geschichten verfügen über einen hohen Lernwert. Auch in der kirchlichen Kybernetik wird öfters auf die hohe Relevanz von Geschichten hingewiesen. So sei es etwa nach Roxburgh und Romanuk eine wesentliche Aufgabe von Gemeindeleitung, die Geschichten der Gemeinde in einen Zusammenhang zu biblischen Geschichten zu stellen.78 In ähnlicher Weise entwirft auch Richard Osmer das Leit74
Vgl. Barker / Gower (2010), 309. Vgl. ebd., 299: “As a theory, the power and scope of NPT are derived from its ability to communicate and assess values, and the interpretation of those values summon human action.” 76 Vgl. ebd., 307. Stephen Denning identifiziert deshalb acht unterschiedliche Arten von Zielen und beschreibt, wie eine Geschichte aussehen müsste, um das jeweilige Ziel zu erreichen. Vgl. Denning (2006). 77 Vgl. Ready (2002), 64-66. 78 Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 69: “Missional change begins with the actual narratives, questions, issues, and anxieties of people at this moment. It connects 75
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bild eines Gemeindeleiters als eines interpretive guide oder eines Hermeneutens in Abgrenzung zu eher hierarchisch geprägten Leitbildern. Die Gemeinde wird dabei als eine Art Interpretationsgemeinschaft von Geschichten verstanden.79 10.8. Generation Y In der aktuellen Führungsliteratur werden regelmäßig die Generation Y (Gen Y) und die mit ihr einhergehenden Veränderungen für Leitungsprozesse thematisiert. Im Wesentlichen umfasst die Gen Y alle nach 1980 geborenen Menschen. Mitunter werden sie auch als „Millennials“ oder „digital natives“ bezeichnet, weil sie bereits mit dem Internet groß geworden sind. Da diese Generation mehr und mehr den Arbeitsmarkt und das gesellschaftliche Leben prägt, wird diskutiert, welche Konsequenzen daraus hinsichtlich Führung zu ziehen sind. Dennoch ist die Gen Y längst nicht so monolithisch, wie teilweise suggeriert wird, sondern in sich äußerst divergent. Darüber hinaus betreffen die im Folgenden skizzierten Phänomene keineswegs ausschließlich die Gen Y, sondern in vielen Punkten die gegenwärtige gesellschaftliche Situation im Allgemeinen.80 Hinzu kommt, dass global gesehen die einzelnen Generationen regional verschieden veranlagt sind. So ist bspw. die deutsche Gen Y weniger durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise geprägt wie ihr nordamerikanisches oder südeuropäisches Pendant.81 Im Wesentlichen jedoch ist die Gen Y durch ein höheres Selbstbewusstsein und eine höhere Tendenz, das eigene Leben aktiv zu gestalten, gekennzeichnet. Hier schlagen spätmoderne Phänomene wie Individualisierung und die Wandlung hin zur Wahlbiographie auch auf das Verhältnis zur Arbeit durch. Ng, Schweitzer und Lyons fassen diese Tendenz so zusammen, die durch eine von ihnen durchgeführte Studie in weiten Teilen bestätigt werden konnte: “A review of the popular literature suggests that the Millennials ‚want it all‘ and ‚want it now‘, in terms of good pay and benefits, rapid advancement, work/life balance,
these experiences to the biblical narrative that offers a language for understanding and making sense of those experiences.” 79 Vgl. Osmer (2008), 18-25. Im deutschsprachigen Raum ist dieser Ansatz jenem etwa von Alexander Deeg nicht ganz unähnlich. 80 Deal, Altmann und Rogelberg weisen auch darauf hin, dass es für viele Aspekte keine vollständig signifikanten Daten, sondern nur Tendenzen gibt, was auch in methodischen Schwierigkeiten begründet liegt. Vgl. Deal / Altman / Rogelberg (2010), 191f. 81 Vgl. ebd., 195. Für den US-amerikanischen, kirchlichen Kontext stellt Richard Hamm verschiedenste Generation und ihre Haltungen zur Leitungsfrage vor. Vgl. Hamm (2007), 46-55.
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interesting and challenging work, and making a contribution to society.”82 In der Tat zeigt die Gen Y im Vergleich zu vorhergehenden Generationen ein höheres Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen,83 was eine wichtige Ursache auch im demographischen Wandel haben dürfte.84 Weil die Gen Y nicht so geburtenstark ist wie die vorhergehenden Generationen, sind ihre einzelnen Exponenten auf dem Arbeitsmarkt tendenziell gefragter. Mitunter wird sogar von einem „war for talents“ gesprochen. Dieses Bewusstsein um den eigenen „Marktwert“ wiederum dürfte wohl zu einem erhöhten Selbstbewusstsein führen. Da die Gen Y seit Jahren „Ihr werdet gebraucht!“ gesagt bekommt, steigen auch die Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber etwa hinsichtlich Bezahlung und zugestandenem Freiraum.85 Überhaupt zeigt sich, dass die Gen Y schneller für ihre Erfolge belohnt werden möchte.86 Deshalb steigt auch die Relevanz des Feedback-Gebens im Führungsinstrumentarium. Eine Studie von Anders Parment zeigt etwa, dass der Gen Y ein jährliches Feedback nicht mehr genügt, sondern sie tendenziell so oft wie möglich Rückmeldung erhalten möchte.87 Darüber hinaus spiegelt sich die zunehmende Individualisierung auch in einem differenzierteren Verhältnis zur Arbeit wieder. Zwar bleibt der Beruf ein wichtiger Bestanteil des Lebens, aber man lebt weniger für die Arbeit. So steht insgesamt das Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit über einer ausschließlichen Karriereorientierung.88 Die geringere Karriereorientierung schlägt sich dann auch darin nieder, dass in der Gen Y tendenziell weniger Menschen Führungsverantwortung übernehmen möchten.89 Damit geht auch der Wunsch nach einer ausgewogenen Work-LifeBalance einher, wobei hier präziser von Work-Life-Blending gesprochen werden sollte, da sich die Bereiche von Arbeit und sonstigem Leben mehr und mehr aufgrund von flexiblen Arbeitszeiten und neuen Medien vermischen.90 So gehen etwa Arbeitnehmer einerseits mit ih82
Ng / Schweitzer / Lyons (2010), 282. Vgl. Deal / Altman / Rogelberg (2010), 192. 84 Vgl. Ng / Schweitzer / Lyons (2010), 282. 85 Vgl. Gillies (2012). 86 Vgl. Ng / Schweitzer / Lyons (2010), 282f. 87 Vgl. Parment (2013), 5f. 88 Vgl. Rose / Fellinger (2013), 23; Deal / Altman / Rogelberg (2010), 195: “Research has shown that past generations identified work as being more central to their lives than younger people in the US do today.” 89 Vgl. ebd., 195. Dieser Befund lasse sich wohl am ehesten so erklären, dass die Gen Y, die ohnehin im Durchschnitt mehr arbeite als vorhergehende Generationen, nicht gewillt sei, die mit einer Führungs- und Leitungsposition verbundene, noch weitere Mehrbelastung auf sich zu nehmen. 90 Vgl. Rose / Fellinger (2013), 19f. Für Führungsverantwortliche ergibt sich daraus in Teilen die Aufgabe von „Remote Leadership“, der Leitung von Abwesenden. Vgl. Gloger (2013). 83
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rem Smartphone auch am Arbeitsplatz privaten Dingen nach, sind jedoch andererseits auch zu Hause über den Laptop für ihren Arbeitgeber per E-Mail erreichbar. Diese sich überlappenden Lebensbereiche gilt es für die Gen Y ganzheitlich zu gestalten.91 Das Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit impliziert aber keineswegs, dass Arbeit als bloßes „Mittel zum Broterwerb“ gesehen wird. Vielmehr will sich der individualisierte, spätmoderne Mensch auch gestalterisch am Arbeitsplatz einbringen, was sich zum Beispiel in der Rede vom Wechsel des Mitarbeiters zum Mitunternehmer ausdrückt.92 Daniel Pinnow zieht daraus eine auch für den kirchlichen Kontext relevante Schlussfolgerung: „Die Führung von Unternehmen ähnelt immer stärker der Leitung von Freiwilligenorganisationen wie Vereinen oder karitativen Einrichtungen.“93 Damit einhergehend ist es der Gen Y in der Tendenz auch wichtig, dass ihre Arbeit einen Sinn ergibt und sie einen relevanten Beitrag zum gesellschaftlichen Leben leistet.94 Deshalb stehen besonders solche Arbeitgeber hoch im Kurs, die auch soziale Verantwortung übernehmen (Corporate Social Responsibility),95 ebenso wie solche Führungskräfte, die ein hohes Maß an Integrität aufweisen können.96 Individualisierung und Subjektivierung führen darüber hinaus zu einer Skepsis gegenüber autoritären Vorgaben.97 Diese Macht- und Autoritätsskepsis mit einer Abneigung hinsichtlich von „Führung per Dekret“ und Kontrolle98 nimmt auch deshalb zu, weil die Gen Y mit demokratischen und kooperativen Prinzipien schon in den Elternhäusern sowie in sozialen Netzwerken geprägt wurden.99 Hinzu kommt, dass ein rigider Führungsstil tendenziell eher in Krisenzeiten auf Akzeptanz stößt, die Gen Y in Mitteleuropa jedoch kaum Krisenerfahrungen gemacht hat.100 Dieser machtskeptische Impuls verbindet sich dann im kirchlichen Kontext mit einer geschichtlich gewachsenen, autoritäts- und leitungs-
91
In gewisser Hinsicht steht diese Aussage, wonach „Arbeit nicht alles ist“, in einer gewissen Diskrepanz zum höheren Anspruchsdenken gegenüber Arbeitgebern. Vgl. Ng / Schweitzer / Lyons (2010), 289: “The need for work-life balance remains an important factor in their job choice decisions, despite an expectation for rapid advancement and pay increases.” 92 Vgl. Northouse (2013), 330; Sprenger (2013), 168; Rose / Fellinger (2013), 20. 93 Pinnow (2012), 28. Die oftmals diskutierte Frage nach der „Unternehmensförmigkeit der Kirche“ müsste in mancherlei Hinsicht vielleicht um die Rede von der „Kirchenförmigkeit von Unternehmen“ ergänzt werden. 94 Vgl. Rose / Fellinger (2013), 23. 95 Vgl. Ng / Schweitzer / Lyons (2010), 283. 96 Vgl. Rose / Fellinger (2013), 22. 97 Vgl. Böhlemann / Herbst (2011), 26ff. 98 Vgl. Gibbs (2005), 7. 99 Vgl. Rose / Fellinger (2013), 22. 100 Vgl. ebd.
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kritischen Tradition der protestantischen Kirchen, welche sich durch die Erfahrungen der Bekennenden Kirche weiter verstärkt haben.101 Die weitgehend egalitär geprägte Gen Y schätzt somit besonders die soziale und kollegiale Dimension von Arbeit. In der Konsequenz ist sie damit auch einzelnen Individuen gegenüber loyaler als der Organisation.102 An diesem Punkt berührt sich der macht- und autoritätskritische Moment mit einem weiteren Phänomen: der spätmodernen Distanz gegenüber Institutionen, die sich insgesamt auch auf das Verhältnis zur Kirche auswirkt.103 Schon auf dem Arbeitsmarkt zeigt die Gen Y weniger Interesse an langfristigen Bindungen an einen Arbeitgeber und wechselt öfter ihr Arbeitsverhältnis.104 Rose und Fellinger fassen die Entwicklung so zusammen: „Die Loyalität gehört dem ‚Tribe‘, nicht dem Unternehmen.“105 Man fühle sich eher abstrakten Interessen- und Wertgemeinschaften verpflichtet als konkreten Institutionen oder Organisationen. Institutionskritische Tendenzen bekommen zahlreiche Kirchen im westlichen Kulturkreis zu spüren106 und haben, wie etwa Müller-Weißner herausgearbeitet hat, im deutschen Protestantismus breite historische Wurzeln.107 Er resümiert deshalb: „Die ablehnenden Deutungsmuster, mit denen Protestanten an die Institution herangehen, gehören zu den Bedingungszusammenhängen, mit denen sich Führungskräfte, d.h. auch Pfarrerinnen und Pfarrer innerhalb der protestantischen Kirche auseinander zu setzen haben!“108 Es ist davon auszugehen, dass die Gen Y auch mehr und mehr das Gemeindeleben prägen wird, was auch Veränderungen für Führungs- wie Leitungsprozesse in Kirchengemeinden beinhaltet. Es gilt eine Generation einzubinden, die in der Tendenz selbstbewusster sowie macht- und autoritätsskeptischer ist. Eine gute Feedbackkultur wird hier für gemeindliche Führungsprozesse noch entscheidender. Engagieren sie sich in der Kirche ehrenamtlich, binden sie sich tendenziell weniger stark und werden oftmals auch nicht physisch anwesend sein (können). Auch das macht eine Reflexion der Verwendung von sozialen Medien für die gemeindliche Leitungskultur notwendig, um eine Generation einzubinden, die Arbeitsleben, gemeindliches Engagement und Privates im Wesentlichen ganzheitlich betrachtet.
101
Vgl. Lindner (2000), 96f. Vgl. Ng / Schweitzer / Lyons (2010), 283. 103 Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 163. 104 Vgl. Ng / Schweitzer / Lyons (2010), 289. 105 Rose / Fellinger (2013), 21. 106 Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 23. Teilweise machen sich kirchliche Reformbewegungen auch diesen institutionskritischen Impuls selbst zu eigen. Ein Beispiel für eine solche vergleichsweise naive Haltung findet sich bei Neil Cole. Vgl. Cole (2009), 33-44. 107 Vgl. Müller-Weißner (2003), 18-43. 108 Ebd., 26. 102
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10.9. Kultursensibles Führen und Leiten unter den spezifischen Eigenarten des deutschen Kontextes Dass der jeweilige kulturelle Kontext eine spezifische Adaption des Führungsprozesses bedingt, wurde bereits unter 7.10. herausgestellt. Nun gilt es, diese Einsicht für den deutschen Kontext fruchtbar zu machen und zu fragen, wie die spezifischen Eigenarten „deutscher Kultur“ sich auf Führen und Leiten auswirken. Bei den dabei darzustellenden Aspekten ist jedoch eine gewisse Vorsicht geboten. Sie können immer nur Tendenzen abbilden. Denn innerhalb Deutschlands gibt es erhebliche regionale Unterschiede und einzelne soziale Systeme, wie etwa eine Kirchengemeinde, weisen stets ein eigenes Gepräge auf. Darüber hinaus ist die individuelle Persönlichkeit eines Menschen zu berücksichtigen.109 Dennoch bleibt die kulturelle Perspektive hilfreich, denn sie bietet Chancen, die zahlreichen bisher vorgestellten Führungs- und Leitungsmodelle einzuordnen und zu fragen, welche von ihnen zu den spezifisch kulturellen Eigenarten Deutschlands eher passen als andere, bzw. wo bestimmte Führungswie Leitungsmodelle modifiziert werden müssten, um im deutschen Kontext gewinnbringend angewandt werden zu können. Die folgenden Tendenzen sollten also nicht zu statisch aufgefasst werden. Die Perspektive schafft dennoch ein Bewusstsein dafür, dass die jeweiligen Aspekte in verschiedenen Kulturen unterschiedlich ausgeprägt sein können. Dieses Bewusstsein kann Leitende auch im kirchlichen Kontext dafür sensibel machen, auf die „relativen Unterschiede“ zwischen den eigenen Präferenzen und der jeweiligen Gemeindekultur zu achten und so kultursensibel zu leiten. Dennoch gibt es bei allen Unterschiedlichkeiten für den deutschen Kontext einige gemeinsame Tendenzen. Bei der GLOBE-Studie wurde weltweit die unterschiedliche Ausprägung der sogenannten „Machtdistanz“ analysiert. Unter Machtdistanz ist nach Hofstede „der Grad, bis zu dem die weniger mächtigen Mitglieder von Institutionen und Organisationen in einem Land die ungleiche Verteilung von Macht erwarten und akzeptieren“110 zu verstehen. Ein Ergebnis war, dass der deutschsprachige Raum global gesehen „[a] lower societal and organizational Power Distance“ aufweist.111 Insgesamt zeichnen sich protestantisch geprägte Länder durch eine tendenziell niedrigere Machtdistanz aus. Dennoch ist die Machtdistanz in Deutschland im Vergleich zu anderen westlichen Ländern etwas höher, so dass Deutschland im Vergleich mit ihnen eher eine mittlere Position einnimmt. Status und Hierarchie haben im Alltag immer noch eine ge109
Darüber hinaus ist zu beachten, dass die meisten Beiträge hierzu von der GLOBE-Studie abhängig sind, die inzwischen aber ca. 20 Jahre alt ist. 110 Hofstede (2001), 412. 111 Vgl. House (2004), 549.
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wisse Bedeutung. So ordnet auch Erin Meyer Deutschland etwa in der Mitte auf einer Skala zwischen egalitärer und hierarchischer Leitungsform an.112 Dazu passt, dass die GLOBE-Studie Deutschland eine geringe Humanorientierung attestiert.113 Die Kategorie der Humanorientierung beschreibt den Grad, in dem in einer Kultur altruistisches, großzügiges und freundliches Verhalten angesehen und belohnt wird. Darüber hinaus scheinen Kulturen mit einem eher sachorientierten Erbe an einer Führungskraft weniger wertzuschätzen, wenn diese Schwäche zeigt. Sie legen es Führungskräften eher nahe, sich am Arbeitsplatz „von der besten Seite“ zu zeigen.114 Erin Meyer differenziert von diesem Befund jedoch den Aspekt der Entscheidungsfindung, also die Frage, ob Entscheidungen eher konsensual und partizipativ oder top-down getroffen werden.115 Zwar korreliere in den meisten Fällen eine hohe Machtdistanz auch mit einer topdown Entscheidungskultur, für Deutschland gelte das aber nicht, was sich besonders im Kontrast zu den USA zeigen lasse: “While Americans perceive German organizations as hierarchical because of the fixed nature of the hierarchical structure, the formal distance between the boss and subordinate, and the very formal titles used, Germans consider American companies hierarchical because of their approach to decision making. German culture places a higher value on building consensus as part of the decision-making process, while in the United States, decision making is largely invested in the individu116 al.”
Diese Unterschiede schlagen sich insofern in Entscheidungsfindungsprozessen nieder, als dass man in Deutschland tendenziell längere Zeit braucht, um eine Entscheidung zu treffen. Ist sie dann aber einmal getroffen, wird sie jedoch kaum noch hinterfragt und schnell implementiert. In den USA hingegen werden Entscheidungen zwar schneller getroffen, im Implementierungsprozess jedoch auch stärker modifiziert.117 Hinsichtlich der in der Führungsliteratur oftmals diskutierten Aspekte von Vision und Sinn lässt sich feststellen, dass dem Thema Vision im anglo-amerikanischen Raum eine höhere Bedeutung zukommt als im
112
Vgl. Meyer (2014), 125. Vgl. Northouse (2013), 393: “They were low in humane orientation, institutional collectivism, and in-group collectivism. These countries value competition and aggressiveness and are more results oriented than people oriented.” Dazu passend beschreibt Erin Meyer den deutschen kulturellen Kontext so, dass sich Vertrauen hier eher sach- als beziehungsorientiert bildet. Vgl. Meyer (2014), 171. 114 Vgl. ebd., 181. 115 Vgl. ebd., 142-162. Damit einhergehend zeichnet sich das „Germanic Europe“ nach der GLOBE-Studie durch ausgeprägte Partizipation aus. Vgl. Northouse (2013), 402. 116 Meyer (2014), 144. 117 Vgl. ebd., 144ff. 113
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deutschen Sprachraum.118 Allerdings konnte ebenfalls aufgezeigt werden, dass trotz geringerer Verbreitung das mit dem Thema Vision eng verbundene Modell einer transformationalen Führung auch im deutschen Raum positive Effekte bewirkt.119 Dass Sinnvermittlung in Führungsprozessen in Deutschland einen hohen Stellenwert einnimmt, legt auch die Einordnung Meyers zu den „principle-first“ Kulturen im Gegensatz zu den „application-first“ Kulturen nahe.120 Anders als in den USA werden in Deutschland vorgeschlagene Lösungen in der Regel nur dann akzeptiert, wenn man vorher den Lösungsweg, die Prämissen, die Methodologie usw. darlegt. Hier ist es wichtig, dass Führungskräfte das „Warum“ des eingeschlagenen Weges und der gesetzten Ziele einsichtig machen. Bezüglich des Aspektes der Kommunikation ordnet Meyer Deutschland tendenziell den sogenannten „low context“ Kulturen zu, in denen in der Regel direkt und explizit kommuniziert wird,121 während in „high context“ Kulturen die Bedeutung ausgeprägter „zwischen den Zeilen“ zu finden ist und sich Bedeutungsnuancen verstärkt aus dem Kontext ergeben. Eine besonders ausgebildete „low context“ Kultur finde sich in den USA, da man aufgrund der auch historisch gewachsenen hohen Diversität weniger gemeinsame Bezugspunkte habe und so gelernt habe, möglichst explizit zu kommunizieren.122 Dieser Grundsatz, wonach je heterogener ein soziales System ist, auch die Kommunikation expliziter ausfallen muss, kann für die Gemeindearbeit fruchtbar gemacht werden, da verschiedene Kirchengemeinden unterschiedliche Grade von Diversität aufweisen können, was eine Anpassung der Kommunikationskultur erforderlich machen könnte.123 Der Zuordnung Deutschlands zu den „low context“ Kulturen entspricht auch die Feedbackkultur. Denn anders als in den USA wird hier negatives Feedback vergleichsweise direkt und unvermittelt kommuniziert.124 Mit dieser Feedbackkultur geht ein im weltweiten Vergleich verhältnismäßig konfrontatives Konfliktverhalten einher. In Diskussionen werden sachliche verstärkt von persönlichen Aspekten unterschie118
Stippler (2011), 101. Vgl. Heinitz / Rowold (2007). 120 Vgl. Meyer (2014), 96: “In business, as in school, people from principles-first cultures generally want to understand the why behind their boss’s request before they move to action. Meanwhile, applications-first-learners tend to focus less on the why and more on the how.” 121 Vgl. ebd., 29: “Low Context: Good communication is precise, simple and clear. Messages are expressed and understood at the face falue [sic!]. Repetition is appreciated if it helps clarify the communication.” 122 Vgl. ebd., 39. 123 Darüber hinaus haben „low-context“ Kulturen eine deutlich höhere Tendenz dazu, Vereinbarungen zu verschriftlichen. Hier gilt dies als professionell und transparent. In „high-context“ Kulturen werden Verschriftlichungen eher als Misstrauen gegenüber mündlichen Vereinbarungen empfunden. Vgl. ebd., 55. 124 Vgl. ebd., 61-88. 119
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den.125 Konfrontative Debatten können hier durchaus als zielführend empfunden werden. Neben dem bisher Gesagten zeichnet sich Deutschland im globalen Vergleich noch durch ein eher lineares Zeitverständnis,126 ein ausgeprägtes Autonomiebedürfnis und Individualismus,127 sowie Leistungsbereitschaft und Ergebnisorientierung aus.128 Fazit: Im globalen Vergleich zeichnet sich Führen und Leiten in Deutschland in der Tendenz durch eine mittelmäßig ausgeprägte Machtdistanz, aber eine partizipative Entscheidungskultur aus. Auch die Vermittlung von Sinn und dem „Warum“ ist wichtig. Eine direkte Kommunikations- und Feedbackkultur, sowie ein eher konfrontatives Konfliktverhalten werden geschätzt. Besonders solche Führungs- und Leitungsmodelle scheinen deshalb erfolgsversprechend, die jene Momente zu integrieren vermögen. Trotz all dieser Tendenzen gilt es aber stets auf die jeweiligen Ausprägungen eines spezifischen sozialen Systems zu achten. 10.10. Führung und Gender Studies Führung war lange Zeit männlich attribuiert. Gerade in Verbindung mit der Eigenschaftstheorie (ա 7.1.) wurde im Sinne der sogenannten „great man theory“ die Weltgeschichte als Geschichte großer männlicher Führungspersönlichkeiten verstanden.129 In einer verbreiteten Formulierung wurde dies so auf den Punkt gebracht: „Think Manager, Think Male.“130 Es ist jedoch in den vergangenen Jahren viel Bewegung in Führungsprozesse sowie Führungsforschung gekommen.131 Das liegt unter anderem darin begründet, dass sich im 21. Jahrhundert die Anforderungen 125
Dass das deutsche Wort der „Sachlichkeit“ nicht ins Englische übersetzt werden kann, ist dafür ein Hinweis. Vgl. ebd., 205. 126 Vgl. ebd., 226. Sie definiert dies wie folgt: “Linear-time: Project steps are approached in a sequential fashion, completing one task before beginning the next. One thing at a time. No interruptions. The focus is on the deadline and sticking to the schedule. Emphasis is on promptness and good organization over flexibility.” Das korrespondiert mit der Zuteilung der GLOBE-Studie von Deutschland zu den durch Zukunftsorientierung und Unsicherheitsvermeidung geprägten Kulturen. Vgl. Northouse (2013), 393. 127 Vgl. Stippler (2011), 100. 128 Vgl. Northouse (2013), 393. 129 Vgl. Stippler (2011), 16. Zum Zusammenhang von Führung und Gender im kirchlichen Kontext: Vgl. Müller-Weißner (2003), 130-134. 130 Vgl. Schein / Mueller / Lituchy / Liu (1996). 131 Wie das Verhältnis von Führung und Gender akzentuiert wird, ist jedoch stark kulturabhängig. So basiert die folgende Darstellung im Wesentlichen auf Untersuchungen aus dem „westlichen“ Kontext und ist in dieser Hinsicht darum in ihrer Aussagekraft begrenzt. Vgl. auch: Hoyt (2013), 365.
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an Führung verändert haben. Gerade in flexibel agierenden Organisationen mit flachen Hierarchien ist von Führungskräften mehr partnerschaftliche Kooperation, Einbeziehung von Mitarbeitern, Sensibilität, Offenheit sowie Empathie gefragt. Das wiederrum sind Charakteristika, die traditionellerweise dem „weiblichen“ Stereotyp zugeschrieben werden.132 In gewisser Hinsicht braucht es in diesen Zeiten also mehr „weibliche“ Führung. Auf der Basis dieser dichotomen Unterscheidung ließen sich die meisten der bereits skizzierten Trends und Themen der aktuellen Führungsforschung eher der „weiblichen“ Dimension von Führung zuordnen. a) Führen Frauen anders? Dem bisher Gesagten liegt also eine dichotome Unterscheidung in „männliche“ und „weibliche“ Führung zugrunde. Das wirft jedoch die grundsätzliche Frage auf, ob diese Unterscheidung überhaupt zulässig ist. Führen Frauen denn anders als ihre männlichen Kollegen? Im Wesentlichen lassen sich keine großen Unterschiede ausmachen. Das Vorurteil, wonach Männer aufgabenorientiert und Frauen beziehungsorientiert führen, hält empirischen Überprüfungen nicht stand.133 Es lässt sich jedoch eine Tendenz ausmachen, wonach Frauen demokratischer und Männer autoritärer führen.134 Darüber hinaus scheint es so, als seinen Frauen stärker in der Anwendung transformationaler Führung (ա 7.6.), während Männer besser bei der Ausübung transaktionaler Führung abschneiden.135 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass dieser Unterschied in vielerlei Hinsicht eher in der Wahrnehmung begründet ist.136 Kurzum: Frauen führen im Wesentlichen nicht anders, werden jedoch als Führungskräfte anders wahrgenommen als Männer. Hier halten sich Stereotype, die weniger im biologischen „sex“ als im psychosozialen Konstrukt „gender“ zu verorten sind. Die traditionellen geschlechtsspezifischen Stereotype hinsichtlich Führung fasst Hoyt so zusammen: “Men are stereotyped with agentic characteristics such as confidence, assertiveness, independence, rationality, and decisiveness, whereas women 132
Vgl. Kark / Waismel-Manor / Shamir (2012), 621. Vgl. Hoyt (2013) 350. Wenn sich in dieser Hinsicht zwar an sich keine geschlechtsspezifischen Differenzen ausmachen lassen, so zeigen Studien jedoch, dass Männer als aufgabenorientierter und Frauen (besonders von Männern) als beziehungsorientierter wahrgenommen werden. Vgl. Rosch / Collier / Zehr (2014), 112. 134 Vgl. Hoyt (2013), 350f. 135 Vgl. ebd., 352; Kark / Waismel-Manor / Shamir (2012), 622f.; Powell (2012), 131. 136 Vgl. Rosch / Collier / Zehr (2014), 107f: “We compared self-reported post-test scores with assessments of teammates of the opposite gender. A significant result emerged in the way women were evaluated for transactional leadership behaviors [...]; men evaluated their female counterparts lower than women evaluated themselves.” 133
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are stereotyped with communal characteristics such as concern for others, sensitivity, warmth, helpfulness, and nurturance.”137 Diese Unterscheidung in „männliche“ und „weibliche“ Führungsdimensionen lag auch dem bis heute verbreiteten „Bem’s Sex Role Inventory“ (BSRI) aus dem Jahr 1974 zu Grunde. “The ‘femininity’ items were: soft, sensitive to others‘ needs, shows compassion, shows affect, tender, willing to calm someone who was hurt, and softspoken. The ‘masculine’ items were: willing to take risks, self-confident, determined, powerful, competitive, aggressive, and independent.”138 Bem ging jedoch davon aus, dass eine gute Führungskraft beide Dimensionen miteinander verbindet. Dies bezeichnete er als „androgyne“ Führung.
b) Führen Frauen besser? Neben der Frage, ob Männer und Frauen unterschiedlich führen, wird in diesem Zusammenhang öfters eine weitere Frage gestellt: Wer führt besser und effektiver? Studien zeigen, dass beide Geschlechter im Wesentlichen gleich effektiv führen.139 Allerdings gibt es drei Faktoren, die sich negativ auf die Effektivität von weiblichen Führungskräften auswirken. Erstens sind Frauen weniger effektiv und haben verstärkt mit Stereotypen zu kämpfen, wenn ihre Leitungsposition traditionell männlich charakterisiert ist, beispielsweise beim Militär.140 Zweitens werden weibliche Führungskräfte dann verstärkt kritisch betrachtet, wenn ihre Führungskompetenz durch Männer beurteilt wird.141 Bei diesen ersten beiden Faktoren liegt meines Erachtens eine Art zirkuläres Problem vor. Agieren Frauen zwar an sich in Führungsprozessen nicht weniger kompetent als Männer, werden sie doch punktuell von den (männlichen) Geführten als weniger kompetent wahrgenommen. Da gelingende Führungsprozesse jedoch stark von der Bereitschaft der Geführten abhängen, der Führungskraft Einfluss auf sich zuzugestehen, wirkt sich diese Wahrnehmung negativ auf den Führungsprozess aus. Dadurch kann es punktuell vorkommen, dass Frauen tatsächlich weniger effektiv führen. Dies wiederum bestätigt dann in der Wahrnehmung den traditionellen Stereotyp: „Think Manager – Think Male“. Drittens wirkt es sich negativ auf die Effektivität weiblicher Führungskräfte aus, wenn sie „männlich“ führen, also als Führungskräfte Verhaltensweisen an den Tag legen, die traditionell „männlich“ attribuiert sind.142 Hier entsteht für sie ein „double bind“, ein Spannungsverhältnis zwischen einer traditionellen Führungs- und einer traditionellen Gen-
137
Vgl. Hoyt (2013), 358. Kark / Waismel-Manor / Shamir (2012), 628. Vgl. auch: Powell (2012), 125. 139 Vgl. Hoyt (2013), 358; Powell (2012), 133: “Studies that directly measure leader effectiveness, however, rate women as no more or less effective than men. Additional evidence suggests that situational factors influence whether men or women are more effective as leaders.” 140 Vgl. Hoyt (2013), 351. 141 Vgl. Powell (2012), 128. 142 Vgl. ebd., 128. 138
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derrolle.143 Vereinfacht gesagt: Treten sie „männlich“, aber nicht „weiblich“ genug auf, wird ihnen das als mangelndes „Frau-Sein“ angelastet. Treten sie jedoch „weiblich“, aber nicht „männlich“ genug auf, werden sie nicht als Führungskraft ernstgenommen. c) Von wem werden Menschen lieber geführt? Zwar hat in den letzen Jahrzehnten die Anzahl der Menschen stark zugenommen, die darin Erfahrungen haben, von beiden Geschlechtern geführt zu werden, dennoch geben – zumindest weltweit gesehen – immer noch mehr Menschen an, lieber für einen Mann arbeiten zu wollen. Powell bringt es so auf den Punkt: “Overall, while preferences for a male boss have declined over time, a male boss is still preferred over a female boss by a 2-1 margin.”144 Des Weiteren wird die ideale Führungskraft (gerade von geführten Männern) noch immer primär „männlich“ charakterisiert.145 Allerdings scheint sich dieser Effekt stark über die Generationen hinweg abzuschmelzen. Gerade in der Generation Y (ա10.8.) gibt es in dieser Frage keine großen Unterschiede mehr. Hier bleibt also einiges in Bewegung.146 d) Frauen und Führungspositionen In der Tat steigt weltweit die Anzahl von Frauen in Führungspositionen. Sie sind inzwischen in unteren Managementebenen mindestens genau so stark vertreten wie Männer.147 Der Befund für Führungspositionen im Topmanagement sieht jedoch ganz anders aus: “The higher the level of the organization, the fewer women are found.”148 Dieser Effekt wird in der Regel als „glass ceiling“149 oder „leadership labyrinth“150 bezeichnet. Es stellt sich die Frage: „Warum sind in den höchsten Führungspositionen Frauen stark unterrepräsentiert?“ Es gibt viele Ansätze, um dieses Phänomen zu erklären. Mitunter wird der Effekt primär auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen zurückgeführt. Frauen erhielten weniger Bildung und seien mehr in Haushaltsführung sowie Kindererziehung eingebunden. Gerade für den Bildungsaspekt gebe es jedoch nach Hoyt kaum Belege.151 Darüber hinaus wird der Ef143
Vgl. ebd., 124f; Kark / Waismel-Manor / Shamir (2012), 625: “They have to deal with conflicting expectations that they should be agentic to fulfill the leader role but communal to fulfill the female gender-role.” 144 Powell (2012), 123. 145 Vgl. ebd., 124. 146 Vgl. ebd.: “In the most recent poll [...], 18- to 34-year-olds were equally likely to say they preferred a male (31 percent) or female (29 percent) boss if they were taking a new job.” 147 Vgl. Hoyt (2013), 352; Powell (2012), 121. 148 Ebd., 121. 149 Vgl. ebd., 121; Hoyt (2013), 353. 150 Vgl. ebd., 352-363. 151 Vgl. ebd., 356.
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fekt mit der Geschlechterdifferenz erklärt. Diese Erklärungsmöglichkeit scheint sich jedoch nicht durchzusetzen, da sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Männern und Frauen als Führungskräfte ausmachen lassen. 152 Zusätzlich scheinen die oben beschriebenen Stereotype als Vorurteile weiterhin wirkmächtig zu sein. Ein weiterer Erklärungsansatz geht auf Rosabeth Kanter zurück.153 Sie erklärt die Unterrepräsentation von Frauen in höheren Führungspositionen in einer älteren systemtheoretischen Spielart mit dem Streben von Institutionen nach Stabilität und Sicherheit. Da es ein primäres Selbstinteresse von Institutionen sei, Unsicherheiten zu vermeiden, werde gerade im Topmanagement bewusst oder unbewusst auf Heterogenität gesetzt. Dadurch werde der Zugang für Frauen erheblich erschwert. Diese verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten haben sicherlich alle mehr oder weniger ausgeprägt ihre Berechtigung. Die anschließende Frage ist nun, was Frauen gezielt tun können, um jenes „leadership labyrinth“ erfolgreich zu durchqueren. Nach Hoyt wird es für Frauen in Führungspositionen darum gehen müssen, „weibliche“ mit „männlichen“ Führungsdimensionen zu verbinden, also „androgyn“ zu führen.154 Diese sogenannte „androgyne“ Führung kann Frauen ebenfalls dabei helfen, den oben beschriebenen „double bind“ zu überwinden. Das Mischen von „männlichen“ und „weiblichen“ Führungsdimensionen ist jedoch nicht nur bei Frauen effektiv, Männer profitieren ebenso von dieser Verbindung. So ist diese nach einer Studie von Kark, Waismel-Manor und Shamir das Kennzeichen guter Führung überhaupt. Sie bündeln ihre Ergebnisse wie folgt: “Our findings suggest that women and men who are interested in being perceived as effective leaders may be well advised to blend ‘feminine’ and ‘masculine’ behaviors, and even more so when they are in situations of noncongruency (i.e., women in leadership roles and leading in cross-sex relationships).”155 Diese „androgyne“ Führung sei ebenfalls wichtig, um 152 So argumentiert auch Hoyt. Sie weist dennoch darauf hin, dass bei Frauen in der Tendenz Selbstdarstellung wie entschlossene Verhandlungsführung weniger stark ausgeprägt sind. Das mag den Zugang zum Top-Management erschweren. Vgl. ebd. 358. In dieser Spur argumentieren ebenso Ertac und Gurdal. Sie untersuchten den geschlechterspezifischen Umgang mit risikobehafteten Entscheidungen in Führungspositionen. Sie kamen dabei zu folgendem Ergebnis: “Our main result is that there is a strong gender gap between the willingness of men and women to decide on behalf of the group. While a vast majority of men (86%) prefer their decisions to be implemented as the group decision, only about half of the women (55%) express such a preference.” Vgl. Ertac / Gurdal (2012), 25. Ertac und Gurdal deuten darum an, dass die tendenzielle Zurückhaltung von Frauen bei risikoreichen Entscheidungen ein Grund für ihren weniger häufig vorkommenden Aufstieg zu Top-Führungspositionen sein könnte. Vgl. ebd., 29. 153 Vgl. Kanter (1977); Vgl. auch: Powell (2012), 122. 154 Vgl. Hoyt (2013), 362. 155 Kark / Waismel-Manor / Shamir (2012), 620. Des Weiteren wirkt sich bei Frauen ein Verzicht auf eine Verbindung von „männlichen“ und „weiblichen“ Füh-
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Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
von den Geführten als transformationale Führungskraft wahrgenommen zu werden156 und damit in vielerlei Hinsicht zukunftsweisend. Hoyt resümiert darum: “Evidence suggests that the leadership role is starting to be seen as a less masculine and more androgynous.”157 Das ist m. E. die wichtigste Pointe im Themenfeld von „Führung und Gender Studies“. Sie ist damit im Wesentlichen deckungsgleich mit den Einsichten zum mehrdimensionalen Führungsprozess (ա7.). Gelingende Führung verbindet verschiedenste Führungsdimensionen, wie etwa Aufgaben- und Beziehungsorientierung, und passt diese Dimensionen situations- und personenbezogen an. 10.11. Zwischenfazit: Gegenwärtige Trends und Themen der Führungsforschung in einer Zusammenschau Damit wären nun die wesentlichen aktuellen Trends und Themen, die im Bereich Leadership diskutiert werden, benannt. Selbst wenn sie durchaus divergent sind, zielen sie doch in vielerlei Hinsicht in eine gemeinsame Richtung ab. Diese „Gemeinsamkeiten“ sollen im Folgenden gebündelt dargestellt werden, sodass sich insgesamt ein vergleichsweise kongruentes Bild davon ergibt, wo aktuell der Schwerpunkt der Führungsforschung liegt. Die Führungskraft des 21. Jahrhunderts zeichnet sich durch Authentizität aus. Das heißt, sie ist selbstreflektiert, transparent und folgt ihrem moralischen Kompass. Dieser moralische Kompass besteht aus Ethik und Werten. Die Führungskraft handelt also ethisch, mehr noch: Sie prägt in ihrer Organisation ein ethisches Klima. Das tut sie unter anderem durch das Erzählen von Geschichten (Storytelling), denn Geschichten wirken gemeinschafts- und vertrauensbildend sowie kulturübergreifend. Ihre Überzeugungskraft korreliert jedoch eng mit der Authentizität des Erzählenden und wirken besonders dann authentisch, wenn sie auch Schwäche zeigen. Wer so Schwäche zeigt, der macht sich verletzbar, wodurch Vertrauen entsteht. Ist eine Organisationskultur durch Vertrauen geprägt, steigt in der Regel die Motivation und die Arbeitszufriedenheit. Auch wenn für die alltägliche Führungspraxis gelegentlich Misstrauen angebracht ist, bedarf es doch generell ein Vertrauen in Vertrauen, also die Bildung einer Vertrauenskultur. Das ist besonders unter komplexen Bedingungen (emergente Komplexität und adaptiver Wandel) vonnöten, da sich hier Vertrauen nicht wie traditionellerweise rungsdimensionen negativer aus als bei Männern. Darüber hinaus ist „androgyne“ Führung vor allem dann wichtig, wenn das andere Geschlecht geführt wird, damit sich der oder die Geführte mit der Führungskraft identifizieren kann. Vgl. ebd., 626. Vgl. anders: Powell (2012), 125. 156 Vgl. Kark / Waismel-Manor / Shamir (2012), 623. 157 Hoyt (2013), 362.
10. Gegenwärtige Trends und Themen der Führungsforschung
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über einen längeren Zeitraum bilden kann. Solch komplexe Bedingungen machen besonders die Organisationsform des Netzwerks attraktiv. Netzwerkförmige Strukturen entsprechen in vielerlei Hinsicht auch den Bedürfnissen der Gen Y, die tendenziell distanzierter zu klassischen Organisationen und Institutionen lebt. Die Gen Y möchte im Vergleich zu früheren Kohorten mehr Feedback, zeigt ein höheres Selbstbewusstsein sowie Durchsetzungsvermögen und will von Führungskräften einbezogen werden (Mitunternehmertum), was auch darin begründet liegt, dass sie macht- und autoritätsskeptischer als vorherige Generationen ist. In vielerlei Hinsicht korrespondieren diese Tendenzen der Gen Y mit den kulturellen Eigenarten des deutschen Kontextes, respektive werden durch diesen noch verstärkt. Das öfter gewünschte Feedback korrespondiert mit einer direkten Feedback- und expliziten Kommunikationskultur, das Mitunternehmertum mit der Vorliebe für partizipative Entscheidungsfindungsprozesse, sowie das erhöhte Selbstbewusstsein mit einem eher konfrontativen Konfliktverhalten. Insgesamt zeichnet sich der deutsche Kontext durch eine mittlere Machtdistanz aus und ist eher „principle first“ orientiert. Weil hier demnach besonders die Offenlegung der Prinzipien hinter den Handlungen wertgeschätzt wird, ist die Vermittlung von Sinn, wie es etwa durch Storytelling geschehen kann, im deutschen Kontext vergleichsweise attraktiv. Sinn ist der Gen Y insgesamt wichtig, weshalb bei ihr besonders solche Unternehmen hoch im Kurs stehen, die sich durch soziales Engagement auszeichnen. Auch das Thema social entrepreneurship und damit einhergehend Ethik und Werte sind für die Gen Y von hoher Relevanz. Ihr Verhältnis zur Arbeitswelt lässt sich in vielerlei Hinsicht mit dem Begriff des Work-Life-Blendings umschreiben, also einer Überschneidung von Arbeits- und Lebenswelt. Als „digital natives“ sind sie über neue Medien auch zu Hause für den Arbeitgeber erreichbar, gehen aber auch am Arbeitsplatz privaten Dingen nach. Das führt alles in allem zu einer erhöhten Flexibilität, die auch mit einer gewissen Mobilität einhergeht. Beides kommt auch in einer höheren Frequenz des Arbeitsgeberwechsels zum Ausdruck. Die erhöhte Mobilität beinhaltet ebenfalls, dass es immer weniger „klassische Bürojobs“ gibt und Teams weniger gemeinsam an einem Ort arbeiten, sodass Remote Leadership eine Führungsaufgabe der Zukunft darstellt. Diese weniger stabilen Verhältnisse können jedoch nur dann funktionieren, wenn sie durch gemeinsame Werte zusammengehalten werden. Eine durch Ethik und Werte geprägte Kultur führt gleichsam zu mehr Vertrauen. Wenn Mitarbeiter ihrer Führungskraft nun viel Vertrauen entgegenbringen, dann ermöglicht dies der Führungskraft, auch einmal Fehler machen zu dürfen und so Schwäche zu zeigen. Eng damit verbunden ist die Führungskraft des 21. Jahrhundert durch Demut geprägt. Demut setzt Würde voraus, ist eine bewusste Entscheidung und hat stets auch eine soziale Dimension. In Verbindung mit einer gewissen Entschlossenheit führt Demut insgesamt zu dem attraktiven und produktiven Level-5-Leadership.
11. Zwischenfazit: Der aktuelle state of the art der Führungsforschung – Leadership im 21. Jahrhundert
Kehren wir nun zurück zu der anfangs gestellten Frage: Was ist eigentlich Führen und Leiten? Der Blick, den wir in die aktuelle Führungsforschung und Leadership-Literatur geworfen haben, gibt uns ein deutliches Bild. Menschenführung ist als ein mehrschichtiger Prozess zu verstehen. Als „zielbezogener Beeinflussungsprozess“ enthält er verschiedenste Dimensionen. Was heißt das nun konkret? Damit Führung im 21. Jahrhundert gelingen kann, gilt es zunächst einmal die Person einer potentiellen Führungskraft wahrzunehmen. Welche Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale bringt sie mit? Denn beides beschränkt den Radius, in dem eine Führungskraft gewinnbringend leiten kann. Dann gilt es zu fragen: „Zu welcher spezifischen Führungsaufgabe passt diese Person?“ Oder die Person fragt sich selbst: „Mit welcher Leitungsaufgabe kann ich meine Persönlichkeit am besten in Einklang bringen?“ Anschließend geht der Blick zu den Fähigkeiten und Kompetenzen: „Welche Führungsaufgabe entspricht dem, was ich bisher schon an Kompetenzen erworben habe?“ Oder: „Welche bestimmten Fähigkeiten muss ich für diese neue Herausforderungen noch erlernen?“ Denn der beschränkte Radius lässt sich durch manchen Kompetenzerwerb noch erweitern. Dabei fällt das Erlernen neuer Kompetenzen besonders in den Bereichen leicht, wo natürliche Stärken bereits vorhanden sind. Auch wenn die Eigenschaften, Persönlichkeitsmerkmale und Kompetenzen einer Führungskraft den Handlungsradius beschränken, ist sie hinsichtlich ihres Verhaltens innerhalb dieses Radius zu einem gewissen Grad flexibel. Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe für die Entwicklung als Führungskraft, das eigene Verhaltensrepertoire zu erweitern. Auch wer in der Tendenz aufgabenorientiert führt, kann sich hin und wieder menschenorientiert verhalten. Dabei gilt es, dieses Verhalten der Persönlichkeit und Entwicklung des Geführten, so weit wie es einem möglich ist, anzupassen. Was braucht mein Gegenüber gerade? Und welches Verhalten verlangt die aktuelle Situation oder die spezifische Aufgabe, an der wir zurzeit gemeinsam arbeiten? Ist die Situation vielleicht kurzfristig so chaotisch und kritisch, dass ich einmal wesentlich direktiver führen muss als es mir lieb ist? In vielerlei Hinsicht ist Führung im 21. Jahrhundert Gestaltung von gelingenden Beziehungen. Darauf haben verschiedenste Führungstheorien auf ihre eigene Art hingewiesen. Wir denken etwa an den Mehrwert
11. Zwischenfazit: Der aktuelle state of the art der Führungsforschung 207
von transformationalen gegenüber transaktionalen Führungsbeziehungen. Auch Servant Leadership versteht Führung im Wesentlichen als ein Beziehungsphänomen und bedeutet summa summarum dem Wachstum und Erfolg des Geführten die höchste Priorität zukommen zu lassen. Darüber hinaus wird es eine Führungskraft im 21. Jahrhundert etwas mehr wagen dürfen, in Demut auch eigene Schwächen zu zeigen. Sie darf authentisch etwas mehr von sich preisgeben, sollte aber auch zu den eigenen ethischen Grundsätzen stehen. Das dadurch entstehende Vertrauens-Verhältnis zum Geführten ist als Wert kaum zu unterschätzen. An diesem gegenseitigen Vertrauensverhältnis haben beide Seiten ihren Anteil. Daran wird mehr als deutlich, dass gelingende Führung eben keine Einbahnstraße, sondern gemeinsame Gestaltung von Beziehung ist. Das kann kaum überbetont werden. All das zeigt, dass die personale Dimension, sowohl auf Seiten der Führungskraft wie auch auf Seiten des Geführten, für den Führungsprozess eine zentrale Rolle spielt. Will Führung im neuen Jahrtausend jedoch gelingen, gilt es nichtsdestoweniger den Blick noch einmal zu weiten und den größeren Kontext wahrzunehmen. Denn in der Regel vollzieht sich ein Führungsprozess nicht in einer dyadischen ZweierBeziehung, sondern in einem Team. Und immer ist Führung eingebettet in irgendeine Form von sozialem System. Als Führungskraft gilt es deshalb Teamdynamiken und -entwicklungen zu beobachten und zu verstehen, diese dem Team offenzulegen und teilweise (mit dem Team) gezielt zu verändern. Dabei gilt es, besonders auf emergente Komplexitäten und adaptiven Wandel zu achten, da unter solchen Umständen das eigene Leitungsverhalten zu modifizieren ist. Des Weiteren wird eine Führungskraft im 21. Jahrhundert bei der Gestaltung der Teamarbeit der zunehmenden Flexibilität und Mobilität Rechnung tragen müssen, deshalb neue Medien gewinnbringend verwenden und Führung auch bei physischer Abwesenheit (Remote Leadership) gestalten müssen. Ein systemisches Verständnis von Führung und Leitung bleibt insgesamt ungemein wichtig. Nur wird man diese Dimension nicht gegen die personale ausspielen dürfen, wie es Malik und Pinnow deutlich gemacht haben. Auch lässt sich die systemische Perspektive in vielerlei Hinsicht mit der transformationalen Führungstheorie, die besonders die Relevanz von Vision und Sinn unterstreicht, verbinden. Führung in unserer Zeit kann in dieser Spur dann als Führen durch Geschichten, Leiten als Storytelling verstanden werden. Die Frage, wie sich das jedoch konkret vollziehen kann, bleibt an dieser Stelle offen. Unter 18. soll jedoch eine konkrete Antwort auf die Frage gegeben werden, wie unter komplexen Bedingungen zielgerichtet Veränderungsprozesse gestaltet werden können. Offen ist an dieser Stelle ebenfalls das Verhältnis von Führung und Weltbild, von systemischem Ansatz und Konstruktivismus. Die Frage hatte sich bereits im Anschluss an die Analyse theologische Literatur gestellt und hat sich nun noch erhärtet. Ihr soll unter 16. nachgegangen werden.
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Teil I1: Der gegenwärtige Stand der Führungsforschung
Der Horizont guten Führens und Leitens in unserer Zeit endet jedoch nicht beim eigenen Team oder System. Auch der eigene kulturelle Kontext wird beachtet. Von hier aus stellen sich Fragen wie: „Inwiefern muss ich in unserem deutschen oder regionalen Kontext besonders leiten?“ Oder: „Wie muss ich mein Führungsverhalten an eine neue Generation (Gen Y) anpassen?“ Damit wären die wesentlichen Dimensionen, die einen gelingenden Führungsprozess beschreiben, für die außerkirchliche Führungsforschung benannt. Deshalb ist aber noch keineswegs die Konsequenz zu ziehen, dass sich Führen und Leiten in Kirche und Gemeinde auch genauso zu vollziehen habe. Was von alldem kann und soll seitens der Praktischen Theologie rezipiert werden? Damit ist in der Tat eine entscheidende Grundsatzfrage gestellt, die nun näher zu diskutieren sein wird (ա13.).
Teil III Theologische Grundlagen von „Führen und Leiten“ – Prinzipiell-kybernetische Überlegungen
12. Einleitende Bemerkungen zur prinzipiellen Kybernetik
„Die praktische Evidenz dieser sozial- und organisationswissenschaftlichen Perspektiven sowie die Fülle der damit entschlossenen Phänomene und Aufgaben hat dazu geführt, dass eine im engeren Sinne theologische Reflexion der kirchlichen Leitungspraxis in den letzten Jahren in den Hintergrund getreten ist.“1
Mit diesen Worten beschreibt Jan Hermelink den gegenwärtigen Stand der praktisch-theologischen Diskussion rund um das Thema „Führen und Leiten“, dem er ein Defizit an genuin theologischer Reflexion attestiert. Auch wir beschäftigten uns ausführlich mit führungswissenschaftlichen Perspektiven (ա Teil II), halten diese Beschäftigung aber wie Hermelink ebenfalls keineswegs für suffizient. Wir ergänzen sie deshalb um eine theologische Reflexion von kirchlicher Führungs- und Leitungspraxis. Vergegenwärtigen wir uns die anfangs vorgeschlagene Dreiteilung der Kybernetik in eine prinzipielle, konzeptionelle und praktische Ebene (ա1.4), so setzt das Folgende innerhalb dieser Einteilung auf der prinzipiellen Ebene an. Eine vollständige prinzipielle Kybernetik werden wir dabei jedoch nicht entwickeln. Dafür haben die nun zu entfaltenden Gedanken einen zu fragmentarischen Charakter.2 Deshalb handelt es sich in Summe nun eher um prinzipielle kybernetische Überlegungen, deren Relevanz allerdings nicht zu unterschätzen ist.3 Es handelt sich dabei um jene Fragestellungen, die sich unter 6.3. als besonders virulent herauskristallisiert haben. Trotz des also insgesamt ausbleibenden Anspruchs auf Vollständigkeit ist es nun das Ziel, ein kongruentes Bild einer prinzipiellen Kybernetik aufzuzeigen, das 1
Hermelink (2011), 223. So werden etwa zahlreiche durchaus gewichtige prinzipiell-kybernetische Fragen zwar hin und wieder gestreift werden, jedoch nicht expressis verbis verhandelt. Es handelt sich dabei etwa um das Verhältnis von Theologie zur Ökonomie, das Verhältnis von Leitung zur Predigt oder auch zur „Geistlichen Begleitung“. Des Weiteren wird die aktuelle kirchentheoretische Frage nach einem institutionellen oder organisationalen Charakter von Kirche nicht explizit behandelt. Analoges gilt ebenso für die amtstheologische Verhältnisbestimmung von Pfarramt und Gemeinde. 3 Steffen Fleßa verdanke ich den Hinweis, dass die folgenden Ausführungen damit innerhalb der betriebswirtschaftlichen Terminologie einer „ethisch-normativen Ausrichtung“ folgen. Diese habe auch in der Betriebswirtschaftslehre bis zu derer Engführung auf Gewinnorientierung ein wesentliches Moment dargestellt. 2
212
Teil II1: Theologische Grundlagen von Führen und Leiten
als Grundlage für ein konzeptionelles Verständnis von Kybernetik, für ein Leitbild von „Führen und Leiten“ dienen kann. Wir betrachten insgesamt sechs prinzipiell-kybernetische Fragestellungen. Den Ausgangspunkt bildet eine Beschäftigung mit der normativen Grundlage kirchengemeindlicher Leitung (ա13.). Wir fragen hier: Inwiefern ist die Art und Weise, wie sich „Führen und Leiten“ in einer Kirchengemeinde vollzieht, eine Übernahme gängiger Praxis und inwiefern unterscheidet sich Kirche darin von ihrer Umwelt? Es geht also um eine Verhältnisbestimmung von Kybernetik, autoritativer Tradition und Kontext. Auf dieser Grundlage aufbauend fragen wir zweitens nach dem Subjekt kirchengemeindlicher Leitung (ա14.). Wer führt und leitet in der Gemeinde und wie verhalten sich die verschiedenen Subjekte zueinander? Daran schließt eine Beschäftigung mit dem Objekt kirchengemeindlicher Leitung an, wenn man eine schlichte SubjektObjekt-Trennung aus Gründen der Veranschaulichung an dieser Stelle einmal verwenden darf. Die Frage lautet: Wer ist die Gemeinde? (ա 15.). Denn ein kybernetisches Verständnis korrespondiert stets – und das ist dort unsere These – mit einem gewissen Gemeindeverständnis. Die letzten drei prinzipiellen Fragestellungen ringen auf ihre Art mit der Problematik, ob und inwiefern gezielte und intentionale Steuerung (besonders unter spätmodernen Bedingungen) überhaupt möglich ist. Sie kreisen um das gleiche Problem und lassen sich nur idealtypisch voneinander trennen. Wir unterteilen sie dennoch anhand dreier coramRelationen. Die Bedeutung der coram-Relationen hat besonders Gerhard Ebeling im Anschluss an Martin Luther herausgestellt.4 Wir übertragen seine Gedanken auf unsere prinzipiell-kybernetischen Überlegungen und entwickeln sie weiter. Was sind aber coram-Relationen? Hierzu Ebeling: „Zusammengesetzt aus con und os, meint sie die Relation der Nähe, die durch das Gesicht, durch die Person eines Menschen bestimmt ist.“5 Deshalb sei für eine coram-Beziehung stets eine gewisse Korrelation und Wechselbeziehung kennzeichnend. Sie hat quasi etwas Dynamisches. Dieses dynamische Moment der coram-Relationen ist für diese prinzipiell-kybernetischen Überlegungen sehr passend, denn das kybernetische Verständnis wird in Wechselbeziehung zu diesen drei Fragehorizonten entwickelt. Darüber hinaus enthält eine coram-Beziehung nach Ebeling auch das Element des Verantwortlichseins.6 Und in der Tat: Es sind jene drei Fragehorizonte, welche die größten Anfragen an eine prinzipielle Kybernetik stellen und denen wir darum eine angemessene Antwort schuldig sind. Gefragt wird zunächst nach Leitung coram hominibus (ա 16.). Inwiefern ist der Wahrheitsanspruch, den kybernetisches Handeln im Angesicht anderer Menschen stets impliziert, unter postmodernen Bedin4 5 6
Vgl. Ebeling (1979), 348-355. Ebd., 349. Vgl. ebd., 352f.
12. Einleitnde Bemerkungen zur prinzipiellen Kybernetik
213
gungen noch zu vertreten? Dann setzt sich Leitung coram deo mit dem Problem von menschlichem Handeln im Angesicht des Handeln Gottes auseinander (ա 17.). Zuletzt steht Leitung coram mundo vor der Herausforderung der Steuerung komplexer Systeme (ա 18.) und muss sich fragen lassen, inwiefern sie im Angesicht komplexer Bedingungen überhaupt noch möglich ist. Doch beginnen wir zunächst mit der Grundlage.
13. Die normative Grundlage der Gestalt und der Begründungszusammenhang kirchengemeindlicher Leitung
Da es zahlreiche Möglichkeiten gibt, wie sich Leitung in einer Kirchengemeinde gestalten lässt, stellt sich die Frage, an welchen Leitungsmodellen oder -theorien sich die Kirche prinzipiell orientieren sollte. Das vorangehende Teil über Führungs- und Leitungsmodelle im außerkirchlichen Kontext hat verdeutlicht, dass Führung und Leitung in der Tat äußerst verschieden konzipiert werden können. Welche dieser Konzeptionen aber sollte kirchlicherseits rezipiert werden? Die Eigenschafts- oder die Systemtheorie? Servant oder Transformational Leadership? Oder sollte in Kirche und Gemeinde gar nach einem eigenen Stil geführt und geleitet werden, der sich gänzlich von der „Welt“ unterscheidet? All diese Fragen kreisen um die normative(n) Grundlage(n) kirchlicher Kybernetik. Was sind also die Normen für den Begründungszusammenhang von Gemeindeleitung? Welche Normen geben eine kirchliche Leitungsform vor? Man wird diese Fragen wohl wie folgt beantworten können: Grundlage für die Form von Gemeindeleitung ist ein spezifisches Zusammenspiel verschiedener Elemente. Dabei sind es vor allem die drei Elemente Bibel,1 Kontext2 und theologische Tradition/Bekenntnis, alle drei in theologischer Reflexion, die kirchlicher Leitung ihren besonderen Charakter verleihen. Der größere Horizont der hier nun zu verhandelnden Fragestellung ist die in der Theologiegeschichte breit diskutierte Frage nach der Flexibilität in Sachen Kirchengestalt. Hiervon kann besonders hinsichtlich der Argumentationsstruktur gelernt werden. An dieser Stelle fokussieren wir die Thematik aber auf den Aspekt von Leitungsmodellen. Den Ausgangspunkt dafür bildet eine Beobachtung des hierfür relevanten neutestamentlichen Befundes.
1 Vgl. Schweyer (2010). Schweyer spricht sich deutlich für eine Orientierung von Kirchentheorie am neutestamentlichen Zeugnis aus, denn nur sie wahre die Freiheit vor Fremdbestimmung durch fremde, etwa soziologische Theoreme. 2 Auf die hohe Relevanz von kontextuellen Aspekten für Gemeindeleitung hat nicht zuletzt Gibbs hingewiesen. Vgl. Gibbs (2005), 30f. Auch Böhlemann und Herbst nehmen andeutungsweise eine Verhältnisbestimmung zwischen biblischem Zeugnis und gegenwärtigem Kontext vor. Vgl. Böhlemann / Herbst (2011), 12-19.
13. Die normative Grundlage kirchengemeindlicher Leitung
215
13.1. Leitungsformen im Neuen Testament Für eine vom Schriftprinzip geprägte reformatorische Theologie liegt es nahe, sich hinsichtlich gemeindlicher Leitungsformen an der biblischen Tradition zu orientieren. Wer jedoch den für diese Aufgabe relevanten neutestamentlichen Befund ernst nimmt, stellt fest, dass sich hier kein einheitliches Modell von Gemeindeleitung auffinden lässt.3 Vielmehr weist das Neue Testament „eine beachtliche Vielfalt unterschiedlicher Ansätze zur Gemeindeleitung“4 auf. Fragen der Gemeindeleitung und -ordnung scheinen außerordentlich flexibel5 und improvisatorisch6 gehandhabt worden zu sein. Mit ihnen wurde vielfach experimentiert.7 Welches Verständnis von Leitung dabei in einer Gemeinde Verwendung fand, entsprach wohl meistens dem jeweiligen kulturellen Kontext. So hält etwa Gerd Häfner für die Pastoralbriefe fest, dass diese in jener Frage durch „Rücksicht auf die Wertmaßstäbe der Umwelt“8 gekennzeichnet seien. Als das Beispiel für die Aufnahme des kulturellen Kontextes für die Leitungsfrage kann die Adaption der synagogalen Ältestenverfassung im judenchristlichen Raum9 und die Rezeption der hellenistischen Episkopalverfassung in den paulinischen Gemeinden gelten,10 die dann in nachpaulinischer Zeit ineinander verschmolzen seien.11 In neuerer Zeit wurde zwar hervorgehoben, dass diese verbreitete Herleitung besonders in ihrer Schlichtheit wohl historisch kaum zutreffend sei,12 das dahinterstehende Prinzip vom Lernen aus der „unmittelbaren lokalen Umgebung“13 bleibe jedoch korrekt. Hentschel resümiert: „Die christlichen Gemeinden konnten sich bei der Entwicklung von Leitungsstrukturen an gesellschaftlichen Modellen in ihrer Umwelt orientieren, z.B. an politischen Ämtermodellen, an Philosophenschulen, Vereinen, Synagogengemeinden oder auch der Struktur eines antiken Haushalts.“14 Das neutestamentliche Bild zeigt sich damit 3
Vgl. Roloff (1978), 510: „Es gibt im Neuen Testament weder eine einheitliche Lehre vom ‚Amt‘, noch ein allgemeingültiges Strukturmodell von Ämtern bzw. Diensten.“ 4 Tiwald (2010), 101. 5 Vgl. Hentschel (2013), 228f. Vgl. Roloff (1978), 521. 6 Vgl. ebd., 518. 7 Vgl. Tiwald (2010), 114. Roloff (1993), 75: „Man ist versucht, von einer Experimentierphase zusprechen, in der man versuchte, auf wechselnde äußere Notwendigkeiten angemessen zu reagieren und zugleich dem noch im Fluß befindlichen eigenen gemeindlichen Selbstverständnis sachgemäßen Ausdruck zu verleihen.“ 8 Häfner (2012), 227. 9 Vgl. Roloff (1978), 514. 10 Vgl. Tiwald (2010), 117. 11 Vgl. Roloff (1978), 523. 12 Vgl. Hentschel (2013), 29. 13 Ebd., 29. 14 Ebd., 27.
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Teil II1: Theologische Grundlagen von Führen und Leiten
bezüglich der Leitungsform äußerst flexibel und kontextuell anpassungsfähig.15 „Diese Vielfalt [...] spiegelt wider, wie sehr sich die neutestamentliche Kirche immer auf die konkrete Lebenssituation des Christen bezogen hat.“16 13.2. Die Frage der Kirchengestalt in der Confessio Augustana Diesem neutestamentlichen Befund entspricht in vielerlei Hinsicht ein lutherisches Kirchenverständnis, wie es sich etwa von CA VII her begründen lässt. Denn nach diesem Kirchenartikel sind für kirchliche Einheit allein die media salutis genügend (satis est): die Evangeliumsverkündigung und die Sakramentsverwaltung. Ein Spezifikum lutherischer Theologie ist es deshalb, dass Angelegenheiten der Kirchengestaltung und -verfassung hierbei eben nicht zu den notae ecclesiae gezählt werden, so dass die Frage nach ihrer Verfasstheit für die lutherische Kirche stets eine offene ist.17 In jener Konzentration liege mit Preul die „kybernetische Leistungsfähigkeit“18 dieses Kirchenverständnisses. Weil es also keine ein für alle Mal festgelegte Kirchen- und damit Leitungsform gibt, habe man hinsichtlich der konkreten Gestaltung einen großen Spielraum. Kirchliche Leitungsstrukturen können damit nicht an sich als „sakrosankt“ gelten,19 sondern sind dem Bereich des ius humanum, des menschlichen Rechts, zuzuordnen.20 Insgesamt zeigt sich hier die Weite des konzentrierten Kirchenbegriffes des Augsburger Bekenntnisses.21 Die Frage nach der Leitungsform kann also flexibel gehandhabt werden und sich an dem orientieren, was kontextuell sinnvoll und sachgemäß ist. All das bedeutet jedoch nicht, dass Kirchenordnungen an sich abzulehnen wären. So macht etwa CA XV deutlich, dass man sich an Kirchenordnungen durchaus halten solle, sofern dies ohne Sünde möglich sei. Die lutherische Kirche hat sich also nicht als eine Kirche ohne Ordnung verstanden. Vielmehr förderten die Reformatoren etwa durch Visitatio-
15
Vgl. Hahn (2002), 623; Tiwald (2010), 120; Roloff (1978), 519: „Dieser Ansatz gibt ein großes Maß an Flexibilität, denn er macht die konkrete geschichtliche Situation mit ihren jeweiligen besonderen Anforderungen zum Ausgangspunkt der Gestalt gemeindlicher Dienste.“ 16 Söding (1997), 15. 17 Vgl. Sasse (1935), 47: „Im Unterschied von den anderen Konfessionskirchen der Christenheit […] weiß die evangelisch-lutherische Kirche nichts von einer bestimmten Gestalt der Kirchenverfassung, die von Jesus Christus selbst verordnet wäre.“ 18 Preul (1997), 87. Vgl. auch: Preul (2011), 141; 146. 19 Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 246. 20 Vgl. Sasse (1935), 58. 21 Vgl. Wenz (1998), 302; Kandler (1989), 82.
13. Die normative Grundlage kirchengemeindlicher Leitung
217
nen die Bildung von Ordnungen.22 Ähnlich wird in der gegenwärtigen Exegese hervorgehoben, dass die grundsätzliche Flexibilität der ersten Christen in Sachen Kirchenordnung nicht mit einer prinzipiellen Ordnungslosigkeit zu verwechseln sei.23 Diese Spannung von gleichzeitiger Ablehnung der Auffassungen, „daß die Kirche eine vorgeschriebene Verfassung habe“ und „daß die äußere Ordnung der Kirche belanglos sei“ bringen in der lutherischen Tradition etwa Bonhoeffer und Sasse in ihrem Entwurf zum „Betheler Bekenntnis“ zum Ausdruck.24 Während flexible Kirchenstrukturen in der deutschen Theologiegeschichte weitestgehend von CA VII her und hinsichtlich Form und Inhalt begründet werden, findet sich in der angelsächsischen Diskussion noch eine weitere Begründungsfigur. Besonders an Moltmanns Verständnis einer sozialen Trinitätslehre anknüpfend, wird von einem stark beziehungsorientierten Gottesverständnis auf eine eher beziehungsund weniger strukturorientierte Kirche geschlossen. Doornenbal hält etwa fest: “In emerging and missional church literature, the Trinity is used as a model to argue for fluid church structures and shared leadership.”25 13.3. Kybernetik und Kontext Als kritisches Korrektiv gegenüber den bisher gemachten Einsichten hat sich besonders im Verlauf des 20. Jahrhundert schmerzhaft eine weitere Erkenntnis herauskristallisiert. Eine Übernahme des Leitungsverständnisses des kulturellen Kontextes ist für die Kirche nicht in jedem Fall angemessen und muss unter bestimmten Umständen sogar entschieden abgelehnt werden. Dies wurde etwa an der Frage nach der Übernahme des sogenannten „Führerprinzips“ in der Zeit des Nationalsozialismus deutlich, wie es dann in der dritten These der Barmer Theologischen Erklärung abgelehnt wurde. Der weitere Horizont ist an dieser Stelle die Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Kultur, wie es besonders intensiv in der Missionstheologie diskutiert wird. Trifft das Christentum auf einen neuen kulturellen Kontext, stellt sich die Frage, welche Aspekte einer Kultur mit dem Christentum vereinbar sind und adaptiert werden können und welche nicht. Hier hat sich im Wesentlichen die Einsicht durchgesetzt, dass es einen Mittelweg geben müsse zwischen einer naiven Kontextualisierung einerseits, welche Werte und Maßstäbe einer Kultur kritik22
Vgl. Sasse (1935), 55. Sasse folgert pointiert: „Die lutherische Reformation hat das Kirchenrecht an sich ebenso wenig beseitigt, wie sie das Dogma beseitigt hat.“ Vgl. auch: Meyns (2013), 148ff. 23 Vgl. Tiwald (2010), 109. 24 Bonhoeffer (1997), 396. 25 Vgl. Doornenbal (2012), 61.
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Teil II1: Theologische Grundlagen von Führen und Leiten
und reflexionslos übernimmt, und einer vollständigen Konterkulturation andererseits. Für einen solchen Mittelweg kann dann der Begriff „kritische Kontextualisierung“ verwendet werden.26 Einen ausführlichen Beitrag zu dieser Verhältnisbestimmung von Christentum und Kultur hat in jüngerer Zeit Timothy Keller vorgelegt.27 Keller betont gleichermaßen die Gefahren einer „Überkontextualisierung“ wie einer „Unterkontextualisierung“. Zwar könnten überall dort die Werte einer Kultur übernommen werden, wo dies theologisch zu verantworten sei, dennoch gelte es auf die spezifischen Götzen oder Abgötter zu achten, die einem jeden kulturellen Kontext inhärent sind. Historisch lässt sich das am erwähnten Beispiel vom „Führerprinzip“ verdeutlichen. Hier hatte nicht zuletzt Bonhoeffer in seinem Vortrag „Der Führer und der Einzelne der jungen Generation“28 auf die Gefahr hingewiesen, aus dem „Führer“ ein „Idol“ und einen „Abgott“ zu machen, in welchem sich alle menschlichen Sehnsüchte erfüllen sollen.29 Vergottet sich der Führer selbst oder wird er von den Geführten vergottet, so „gleitet das Bild des Führers über in das des Verführers.“30 Des Weiteren übernimmt Keller in seiner Analyse die Architektur von Helmut Richard Niebuhr, welcher bereits 1951 fünf verschiedene Typen der Verhältnisbestimmung von Christentum und Kultur identifizierte, beginnend bei einer scharfen Entgegensetzung hin zu einer Ineinssetzung: Christ against culture; Christ and culture in paradox; Christ the transformer of culture; Christ above culture; Christ of culture.31 Nach Keller enthalten all diese Modelle Wahrheitsmomente und wichtige Einsichten, und so gelte es auch bei der Beibehaltung eines spezifischen Ansatzes die Mitte zwischen ihnen zu suchen.32 Es ist aufschlussreich Niebuhrs Klassifizierung einmal an die exegetische Literatur rückzubinden. In diesem Licht erscheinen etwa zahlreiche Ausführungen Roloffs, besonders über die Anfangszeit der Kirche, als verhältnismäßig einseitig im Sinne von Christ against culture. Denn die entstehende Kirche bezeichnet Roloff als „Kontrastgesellschaft“,33 welche „allen naheliegenden Versuchungen, sich in Analogie zu anderen Kultgemeinschaften [...] zu gestalten, beharrlich widerstanden“34 habe. Das gelte auch für ihre Leitungsordnung, welche zu allen anderen gesellschaftlichen Ordnungen in „fundamentalen Gegensatz“35 trete.
26
Vgl. Gibbs (2005), 55; Schweyer (2010), 177. Vgl. Keller (2012), 87-134; 194-245. 28 Bonhoeffer (1997), 242-260. 29 Vgl. ebd., 252; 255; 257f. 30 Ebd., 257. 31 Niebuhr (1951). Für die Frage nach Kirche und Leitung wurde Niebuhr von Kessler rezipiert. Vgl. Kessler (2013), 2. 32 Vgl. Keller (2012), 235. 33 Roloff (1993), 314. 34 Ebd., 315. 35 Roloff (1978), 512. 27
13. Die normative Grundlage kirchengemeindlicher Leitung
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Doch damit stellt sich nun die unerlässliche Frage: Anhand welcher Kriterien lässt es sich denn entscheiden, welche Aspekte des Leitungsverständnisses eines kulturellen Kontextes übernommen werden und welche nicht? Woran lässt sich beurteilen, welche säkulare Theorie von Führung wie Leitung kirchlicherseits am ehesten rezipierbar ist? 13.4. Theologische Kriterien für eine Kontextualisierung von Gemeindeleitung Der normative Charakter neutestamentlicher Ekklesiologie für die Frage nach der Leitungsform besteht nicht in der Vorgabe einer spezifischen Leitungsstruktur, sondern im Bereich des Grundsätzlichen. Es gibt so etwas wie biblische und im weiteren Sinne theologische Grundprinzipien, die in verschiedensten Leitungsformen präsent bleiben müssen. So finden wir in der Bibel eben keine bestimmte Leitungsordnung vor, sondern verschiedenste Grundprinzipien, die sich dann jedoch in jeder konkreten Ordnung wiederfinden müssen. Diese Grundprinzipien hat Roloff etwa am Beispiel der paulinischen Literatur herausgearbeitet.36 Als ein erstes Kriterium nennt Roloff einen Rückbezug auf das Verhalten Jesu. Konkret meint das primär die Aufnahme der Dienstnorm für das paulinische Leitungsverständnis: „Der irdische Jesus in seiner Knechtsgestalt prägt das Leben des Apostels und derer, die mit ihm in der Gemeinde tätig sind. Die Dienstnorm der Jünger Jesu (Mk 10,44) wird hier [...] aufgenommen.“37 Jenes „Grundprinzip des Dienens“38 und eben nicht eine spezifische Organisationsform sei bereits Charakteristikum der von Jesus begründeten Gemeinschaft gewesen.39 Ähnliches finde sich nach Konrad Huber auch in der matthäischen Theologie, wo Dienen zur entscheidenden Basiskategorie für Führung in der Gemeinde werde. Inhaber von Führungsaufgaben können sogar als Sklaven bezeichnet werden und die Segnung der Kinder zu Beginn der Gemeinderede (Mt 18) zeigt, wie jene Dienststruktur das Gemeindeleben prägen soll.40 Als ein zweites Kriterium benennt Roloff die Orientierung am Evangelium. Leitung steht damit unter der „Struktur des Kreuzes: Stärke in der Schwäche, Leben aus dem Tode.“41 Das Evangelium prägt aber nicht nur die Struktur von Leitung, auch muss Leitung in der Gemeinde so gestaltet werden, dass es die Verkündigung des Evangeliums nicht behindert, sondern vielmehr fördert. So benennt es auch Thomas Söding: 36 37 38 39 40 41
Vgl. Roloff (1993), 132-143; Roloff (1978), 518-526. Roloff (1993), 133. Zum Dienen: Vgl. ebd., 316; Roloff (1978), 518. Ebd., 512. Vgl. Roloff (1993), 314. Vgl. Huber (2010). Roloff (1993), 135.
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Teil II1: Theologische Grundlagen von Führen und Leiten
„Paulus scheint nicht auf ein starres Modell der Gemeindeleitung festgelegt zu sein. Für ihn ist vor allem wichtig, daß eine kompetente Verkündigung des Evangeliums gewährleistet ist.“42 Dass Leitung der Evangeliumsverkündigung dienen muss, kommt auch in der Unterscheidung Preuls in ein disponierendes und ein kommunikatives Handeln der Kirche zum Ausdruck (ա 4.2.). Überhaupt liegt darin auch der begrenzende Aspekt von CA VII bei aller grundsätzlichen Offenheit gegenüber flexiblen Leitungsformen. Da Kirche hier über die Evangeliumsverkündigung in Wort und Sakrament bestimmt wird, muss die konkrete Gestaltung von Leitung eben dabei unterstützen, dieses Wesen von Kirche zur Entfaltung zu bringen.43 Hermann Sasse bringt dieses Kriterium prägnant zur Sprache, indem er es sowohl auf die Ebene des Amtes als auch der Gemeinde bezieht: „Die Kirche ist im Sinne der lutherischen Lehre dann richtig geordnet, wenn ihre Verfassung dem geistlichen Amt ein Maximum von Möglichkeiten bietet, seinen Dienst der Verkündigung des lauteren Evangeliums und der rechten Sakramentsverwaltung im Namen und Auftrag des Herrn der Kirche zu vollziehen, und wenn sie der durch das Wort und die Sakramente von Jesus Christus selbst berufenen Gemeinde, die im Glauben an ihn ‚Gemeinde der Heiligen‘ ist, ein Maximum von Möglichkeiten gewährt, ihr Leben in der Welt zu führen und ihren Dienst an den 44 Menschen zu tun, so wie es der Kirche Gottes befohlen ist.“
Kriterium für Leitung in der Kirche ist also eine maximale Befähigung der Gemeinde als auch des Amtes zu ihrem jeweiligen Dienst. Das korrespondiert eng mit dem dritten von Roloff genannten Kriterium der Ausrichtung auf die Erbauung der Gemeinde. Ein Grundprinzip paulinischer Gemeindeleitung ist, dass sie der Erbauung der Gemeinde als Leib Christi diene (1Kor 14,26). Um der Ordnung und Erbauung der Gemeinde willen brauche es eben auch eine Gemeindestruktur und damit einhergehend konkrete Leitungsformen.45 In Ergänzung zu Roloff kann als ein weiteres Grundprinzip von Gemeindeleitung aus noch gelten, dass eine bestimmte Leitungsform stets ohne Sünde ausführbar sein muss, wie es bereits in CA XV deutlich wird. Gunther Wenz benennt dieses Kriterium wie folgt: Statthaft „sei das allerdings nur, wo solche Ordnungen dem Evangelium nicht entgegen und mithin ohne Sünde durchzuführen seien.“46 42
Söding (1998), 111. Ähnlich auch die Interpretation Dietrich Rösslers zum Kirchenbegriff der CA, u.a. mit der These: „Die Praxis der Kirche ist eine Funktion ihrer Botschaft.“ Rössler (1980), 468. 44 Sasse (1935), 60. 45 Vgl. Roloff (1993), 136: „Darum stellt er alle Vorgänge in der Gemeinde und alle sich auf die Wirkung des Geistes zurückgeführten Fähigkeiten unter das Kriterium der ‚Erbauung‘.“ Als ein weiteres Kriterium nennt Roloff noch die Zuordnung zum Bereich des Pneumatischen, der die Charismen umfasst. 46 Wenz (1998), 306. 43
13. Die normative Grundlage kirchengemeindlicher Leitung
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13.5. Fazit: Ein Votum für das Lernen von außerkirchlicher Führungsund Leitungspraxis bei Beachtung theologischer Kriterien Insgesamt hat sich sowohl vom Neuen Testament als auch dem reformatorischen Bekenntnis her gezeigt, dass eine kirchliche Konzeption von Führung und Leitung in vielerlei Hinsicht in erster Linie im Austausch mit dem jeweiligen kulturellen Kontext zu entwickeln ist. Leitungsformen und -modelle sind iura humana. Damit stehen Kirchenleitung und Praktische Theologie vor der Aufgabe, von der außerkirchlichen Führungsforschung für die gemeindliche Praxis zu lernen. Dies muss in großer Freiheit geschehen. Auch die Frage, welche Form von Führen und Leiten besonders in einem spätmodernen Kontext angemessen ist, stellt sich deshalb verschärft. Welche Aspekte von Leitung sind zu Beginn des 21. Jahrhundert relevant und müssen deshalb kirchlicherseits rezipiert werden? Selbst wenn das Neue Testament kein bestimmtes Leitungsmodell vorgibt, so ist die Heilige Schrift für die Kybernetik damit keineswegs irrelevant. Sie ist weniger Richtschnur für eine konkrete Leitungsform, wohl aber für manche Leitungsentscheidungen, wie es unter 16. näher entfaltet werden soll. Des Weiteren geben Schrift und Bekenntnis theologische Kriterien bei einer Rezeption außerkirchlicher Führung- und Leitungsmodelle vor, wie etwa den Rückbezug auf das Verhalten Jesu, die Orientierung am Evangelium, die Ausrichtung auf die Erbauung der Gemeinde und dass ihre Durchführung ohne Sünde möglich sein muss. Deshalb sind auch nicht alle Entwürfe von „Führen und Leiten“ theologisch gleich angemessen, und so liegen manche dieser Entwürfe für eine kirchliche Rezeption näher als andere. Diese Kriterien gilt es deshalb im weiteren Verlauf auf die außerkirchliche Führungsforschung rückzubinden.
14. Wer leitet die Gemeinde? Die Subjekte gemeindlicher Leitung
Die Beantwortung der Frage, wer in einer Kirchengemeinde eigentlich führt und leitet, respektive führen und leiten sollte, hängt zunächst einmal davon ab, welches Verständnis von „Führen und Leiten“ dabei vorausgesetzt und wie eng dieser Begriffe gefasst werden. So votiert etwa Claus Otto Scharmer für ein weites Verständnis von Leitung und fasst darunter „alle Menschen, die sich für die Schaffung von Veränderung oder die Gestaltung der Zukunft einsetzen, unabhängig von ihrer formalen Position in institutionellen Strukturen.“1 In diesem weiteren Sinne ließe sich – zumindest idealiter ausgehend vom Allgemeinen Priestertum – sagen, dass alle Kirchenmitglieder in Kirche und Gemeinde leiten, bzw. leiten sollten. Diesem Umstand trägt etwa die Verfassung der ev.-luth. Kirche in Norddeutschland Rechnung, wenn sie in § 10, (3) festhält: „Alle Kirchenmitglieder [...] sind aufgerufen, nach Maßgabe des Kirchenrechtes an der Leitung in der Kirche teilzunehmen und sich an kirchlichen Wahlen zu beteiligen.“2 Zieht man noch den Umstand hinzu, dass sich Leitung grundsätzlich gar nicht vermeiden lässt (ա 16.), weil auch das sich Entziehen von Leitungsverantwortung bereits eine Form von Leitung darstellt, so lässt sich festhalten, dass grundsätzlich alle Kirchenmitglieder, ebenso teilweise NichtMitglieder, in Kirche und Gemeinde einen leitenden Einfluss ausüben.3 Fasst man die Begriffe von Führung und Leitung jedoch enger, so wird deutlich, dass gerade um der Ordnung willen, Führung und Leitung in Kirche und Gemeinde auf bestimmte Personen begrenzt werden muss. Ähnlich brachte es Luther in seiner Freiheitsschrift zum Ausdruck: „Denn obwohl wir doch alle Priester sind, so könnten wir doch nicht alle dienen oder haushalten oder predigen.“4 An dieser Stelle setzt das vorliegende Kapitel an und fragt, wer in einer Kirchengemeinde in geordneter Weise Leitungsverantwortung übernehmen sollte. 1
Scharmer (2011), 31. Verband der Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Norddeutschland (2012), 45. 3 Theologisch gesprochen ist Gott selbst das eigentliche Subjekt der Leitung der Kirche. Wie sich diese Aussage zum menschlichen Leitungshandeln verhält, wird unter 17. näher expliziert. 4 WA 7,28. Die Modernisierung entspricht der deutsch-deutschen Studienausgabe nach Dietrich Korsch. Vgl. Luther (2012), 277-315. So sehen auch Hauschildt und Pohl Patalong, dass das allgemeine Priestertum nicht ausschließe, „dass es Leitung gibt und sich Ämter ausdifferenzieren.“ Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 361. 2
14. Wer leitet die Gemeinde?
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Diese Frage berührt gleichsam andere Themengebiete, wie etwa die Pastoral- oder Amtstheologie, und damit einhergehend die Verhältnisbestimmung von Amt und Gemeinde.5 Wir beschränken uns dennoch auf die Frage nach dem Subjekt von Gemeindeleitung, auch wenn Aspekte jener anderen Themengebiete punktuell zu berücksichtigen sind. Wer ist nun also das Subjekt von Gemeindeleitung in dem gerade präzisierten engeren Sinne? Dass manche nichtordinierte Gemeindeglieder sich durch ehrenamtliche Mitarbeit an der Leitung einer Gemeinde beteiligen und Gemeindeleitung somit von der Gemeinde selbst ausgeht, ist in der praktisch-theologischen Diskussion relativ unbestritten. Zwar ist diese Frage in anderen Kirchen, etwa in der römisch-katholischen, und auch in protestantischen Kirchen in anderen Teilen der Welt durchaus virulent, aber dennoch sprechen etwa die Kirchenordnungen der evangelischen Landeskirchen hier eine eindeutige Sprache. Zwar leiten in diesem engeren Sinne nicht alle Gemeindeglieder, sondern idealerweise jene, die dazu berufen und begabt sowie von der Gemeinde beauftragt sind und die an jener Tätigkeit Freude haben. Die eigentlich interessante Frage ist deshalb nun, wie sich ihre leitende Tätigkeit zu dem potentiellen Leitungshandeln der Ordinierten verhält. Wie lässt sich das Leitungshandeln von „Laien“ und Ordinierten aufeinander beziehen? Doch zeigt sich die Sache bei näherer Betrachtung deutlich komplexer. Denn zwischen den beiden eben erwähnten Gruppen gibt es zahlreiche Schattierungen. So gibt es Pastoren in Teilzeitstellen, Funktionspfarrämtern und auch im Ehrenamt. Und neben „ehrenamtlichen Laien“ gibt es auch eine große Bandbreite an weiteren haupt- und nebenamtlichen Mitarbeitern, teilweise mit oder ohne theologische Qualifikation, weshalb eine Unterscheidung in Theologen und Nicht-Theologen ebenfalls wenig hilfreich ist. Welche Konsequenzen aber lassen sich hieraus ziehen? Leiten auch andere haupt- und nebenamtliche Mitarbeiter neben dem Pfarramt im engeren Sinne? Die Antwort könnte hier ähnlich wie bei den anderen Gemeindegliedern ausfallen. Sofern sie dazu begabt sind, daran Freude haben und hierzu beauftragt werden, sollten sich auch zahlreiche weitere kirchliche Berufsgruppen an der Gemeindeleitung beteiligen. 14.1. Sollen Pfarrerinnen und Pfarrer leiten? Ob Leitung in den Aufgabenbereich von Pfarrerinnen und Pfarrern fällt, wird jedoch deutlich kritischer diskutiert, wie oben in der Analyse zahlreicher pastoraltheologischer Entwürfe deutlich wurde (ա 5.). Meines Erachtens sprechen aber im Wesentlichen sieben Argumente dafür, 5
Zu denken wäre bspw. an Stiftungs- oder Übertragungstheorie des Amtes, welche sich auch in der Exegese von CA V und XIV wiederspiegelt. Vgl. Thiede (2012).
224
Teil II1: Theologische Grundlagen von Führen und Leiten
Führen und Leiten auch dem Tätigkeitsfeld von Pastorinnen und Pastoren zuzuordnen.6 a) Das Argument der Faktizität In der Regel übernehmen Pfarrerinnen und Pfarrer aller EKDGliedkirchen de facto Leitungs- und Führungsverantwortung.7 So gaben etwa bei einer Befragung in Hessen-Nassau 93,8 % der Pfarrerinnen und Pfarrer an, dass sie zumindest teilweise als „Leiter/in in der Kirchengemeinde“ fungieren.8 Die Übernahme dieser Aufgaben ergibt auch deshalb Sinn, weil Pastorinnen und Pastoren für einen großen Teil des operativen Geschäfts einer Kirchengemeinde Verantwortung tragen.9 Zusätzlich führt Müller-Weißner an, dass ebenfalls Rollenerwartungen an Pastoren als Führungskräfte vorhanden sind, denen man nicht vollständig entgehen kann, selbst wenn man es wollte.10 Diese Rollenerwartungen sind mitunter schon über Jahrhunderte hinweg gewachsen. De facto leiten Pastoren also und es ist wahrscheinlich, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird. Das legt etwa eine Befragung unter Pastorinnen und Pastorinnen in der jetzigen Nordkirche nahe. Denn hier hielten 57,38 % „gemeindeleitende Kompetenz“ für relevant hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft, womit jene Kompetenz auf Platz fünf von 19 vorgeschlagenen Kompetenzen rangierte.11 b) Das kirchenrechtliche Argument Hinzu kommt, dass Pfarrerinnen und Pfarrer nicht nur de facto, sondern ebenso de iure in Leitungsverantwortung stehen. Sie sind meist geborene Mitglieder des gemeindeleitenden Gremiums (Kirchenvorstand etc.) und haben oftmals den Vorsitz oder, teilweise kirchenrechtlich vorgeschrieben, den stellvertretenden Vorsitz inne. In vielerlei Fällen sind sie darüber hinaus Dienstvorgesetzte anderer Mitarbeiter.12 6
In einem erweiterten Verständnis von Leitung leiten Ordinierte die Gemeinde ebenfalls durch Predigt und Sakramentsverwaltung. Dass darin ein leitender Einfluss auf die Gemeinde besteht, ist wohl unstrittig. Wenn im Folgenden nun diskutiert wird, ob Pfarrerinnen und Pfarrer leiten sollen, dann bezieht sich das auf einen engeren Sinn, also auf Tätigkeiten, die über die Verkündigung in Wort und Sakrament hinausgehen, wie beispielsweise Sitzungsleitung, Mitarbeiterentwicklung, Gemeindeentwicklung, etc. 7 Vgl. Müller-Weißner (2003), 92f. 8 Vgl. Becker (2007), 199. 9 Vgl. Klessmann (2012), 89. 10 Vgl. Müller-Weißner (2003), 95-104. 11 Vgl. Magaard / Nethöfel (2011), 18. 12 So hält bspw. die Verfassung der ev.-luth. Kirche in Norddeutschland in § 16, (5) fest: „Ordinierte sind verpflichtet, an der Leitung der Kirche mitzuwirken.“ Verband der Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Norddeutschland (2012), 46. Diese Aussage bietet jedoch auch einen gewissen Interpretationsspielraum, weil nicht deutlich wird, ob damit auch die Leitung einer Gemeinde impliziert ist. Im Pfarrdienstausbildungsgesetz jener Kirche wird in § 10, (3) „Kybernetik/Ge-
14. Wer leitet die Gemeinde?
225
c) Das Argument: Pfarrerinnen und Pfarrer wollen leiten Es lässt sich anführen, dass Pfarrerinnen und Pfarrer im Großen und Ganzen Leitungsaufgaben übernehmen wollen. So kam etwa Anja Tetzlaff in einer Studie aus dem Jahr 2000 zu dem Ergebnis, dass Pfarrerinnen und Pfarrer grundsätzlich zur Übernahme von Leitungsverantwortung bereit sind. Die Studienteilnehmer wurden gebeten auf einer Skala von 1 (trifft gar nicht zu) bis 7 (trifft voll zu) ihre Zustimmung zu dem folgenden Satz anzugeben: „Es macht mir Spaß, Leitungs- und Führungsverantwortung zu übernehmen.“13 Dabei lag der Wert nur bei 3,8 % der Teilnehmer in der unteren Hälfte der Skala. Tetzlaff folgert: „Es ist also nur eine sehr kleine Minderheit, die expliziter Führung eher ablehnend gegenüber steht.“14 Andere Befragungen zeichnen dagegen ein ambivalenteres Bild. Besagte Befragung aus Hessen-Nassau kam etwa zu einem divergierenden Ergebnis. Auf die Frage, ob das Pfarrbild „Leiter/in in der Kirchengemeinde“ ein Wunschbild sei, antworteten 15,9 % mit ja, 63,4 % mit teils und 20,6 % mit nein.15 Der Befund ließe sich womöglich dadurch erklären, dass Ordinierte zwar grundsätzlich gerne Leitungsaufgaben übernehmen, aber ungern ihre Berufsidentität im Leitbild der Leiterin aufgehen sehen. Sie leiten zwar gerne, sehen sich aber als mehr als einen Leiter. Zusätzlich könnte diese Ambivalenz in der großen Weite begründet sein, die dem Begriff der Leitung inhärent ist, so dass man die Ergebnisse für die einzelnen Aspekte von Führung und Leitung präzisieren müsste. Das verdeutlicht die Befragung aus der jetzigen Nordkirche. Hier gaben einerseits 50,89 % an, gerne weniger Zeit mit „Leitungstätigkeiten“ verbringen zu wollen, wobei der Begriff mit den Attributen „Gemeindeverwaltung“, „Finanzen“ und „Sitzungen“ umrissen wurde.16 Andererseits jedoch gaben 37,61% an, gerne mehr Zeit für die „Motivation und Koordination ehrenamtlicher Tätigkeit“ zu haben (im Vergleich zu 6,95 % für weniger Zeit). Das zeigt an, dass die Frage eigentlich für die einzelnen Führung- und Leitungsaspekte konkretisiert werden müsste. d) Das systemtheoretische Argument Im Anschluss an Petry lässt sich ein systemtheoretisches Argument anführen.17 1) Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass das Vorhandensein von Leitung notwendig für das Bestehen eines sozialen Systems ist. meindeentwicklung“ als eines von vier Handlungsfeldern beschrieben, an denen sich die Ausbildung der Vikarinnen und Vikare orientieren soll. 13 Vgl. Tetzlaff (2005), 188. 14 Ebd. 15 Vgl. Becker (2007), 199. 16 Vgl. Magaard / Nethöfel (2011), 3. 17 Vgl. Petry (2001), 274f.
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Teil II1: Theologische Grundlagen von Führen und Leiten
2) Damit diese lebensnotwendige Funktion der Leitung stets gewährleistet werden kann, ist es schlüssig, diese Funktion zu entindividualisieren und zu institutionalisieren, damit sie nicht von den kontingenten Begabungen einzelner Individuen abhängig ist. 3) Daraus ergibt sich, dass ein institutionalisierter Funktionsträger, also ein Hauptamtlicher jene Funktion übernehmen sollte. 4) Da jedoch der Pfarrer der einzige Hauptamtliche sei, der zur minimalen Mitarbeiterausstattung einer Kirchengemeinde gehöre, ist es schlüssig, dass er diese Aufgabe übernimmt. Petry kommt deshalb zu der These: „Im Bereich der Parochie stellt Leitung durch Pfarrer/innen diejenigen Funktionen auf Dauer, die für den Erhalt des sozialen Systems ‚Gemeinde am Ort‘ lebensnotwendig sind.“18 Mit all dem ist keineswegs gesagt, dass nicht auch andere Personen jenseits von Pastorinnen und Pastoren Leitungsverantwortungen in Gemeinde übernehmen sollten. Im Gegenteil. Man kann nur nicht prinzipiell davon ausgehen, dass leitungsbegabte Menschen mit ehrenamtlichem Engagement in jeder Gemeinde vorhanden sind. Um jedoch ein Minimum an Leitung gewährleisten zu können, ergibt es mit Petry Sinn, diese Kompetenz auch im Pfarramt zu verankern.19 e) Ds kirchentheoretische Argument In gewisser Hinsicht kristallisiert sich in der kirchentheoretischen Diskussion heraus, dass Kirche wohl als Hybrid aus Institution, Organisation und Bewegung zu verstehen ist.20 Und jene drei Dimensionen lassen sich mit Hauschildt und Pohl-Patalong auch auf das Pfarramt übertragen: „Entsprechend unserem Ansatz, die Kirche vom Hybrid-Modell her zu verstehen, erscheint uns eine Balance zwischen den drei Modellen angemessen. […] So ergeben sich drei Rollen: ‚geistliche Existenz‘, ‚Repräsentant/in des Christentums‘ und ‚Manager/in‘.“21 Die Management-Rolle des Pfarramtes entspricht dabei dem organisationalen Charakter von Kirche und wird beschrieben mit „andere befähigend, moderierend, ideenreich, aktivierend, ressourcenorientiert.“22 18
Ebd., 274. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Petrys Argument die volkskirchliche Realität der 1990er Jahre voraussetzt und schon die Annahme, dass ein Pfarrer zur minimalen Mitarbeiterausstattung einer Gemeinde gehöre, für Teile besonders der ostdeutschen Landeskirchen in der Form nicht mehr zutreffend ist. 20 Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 216-219. Die Figur geht auf Ralph Kunz zurück. Vgl. Kunz-Herzog (1997), 280ff. Vgl. auch: Zimmermann (2006), 105ff. 21 Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 376. 22 Ebd., 375. Interessanterweise kommt Michael Klessmann zu einem strukturell nicht ganz unähnlichen Ergebnis, wenn auch die einzelnen Dimensionen bei ihm andere sind. Vgl. Klessmann (2012), 84-97. Erstens gebe es die „theologische Per19
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Unter dem Strich wäre das Leitbild des Pfarramtes mit dem HybridModell nicht das einer Führungs- und Leitungsperson, aber dennoch machen Führen und Leiten einen entscheidenden Teil der pastoralen Berufsrolle aus. f) Das Argument der Bekenntnistradition im Vergleich zu den anderen Argumenten ist dieses eher genuin theologischer Natur. Denn auch von den Bekenntnisschriften her bieten sich Möglichkeiten, das Pfarramt ebenso als ein Leitungsamt zu verstehen. Allerdings ist hier Vorsicht geboten, da die gegenwärtige Frage nach Leitung in dieser Form keine Frage der Reformationszeit war und gegenwärtige Debatten so nicht einfach zurückprojeziert werden dürfen. Selbst wenn betont werden muss, dass nach der CA das eigentliche Subjekt von Kirchengewalt die Kirche selbst,23 respektive die Gemeinschaft der Glaubenden24 ist, so legt CA XXVIII dennoch nahe, das geistliche Amt auch als ein Leitungsamt zu verstehen. Zwar wird hier prinzipiell in geistliches und weltliches Regiment unterschieden und es wird eindringlich angemahnt, dass die von Bischöfen und Pfarrern in der Kirche aufgestellten Ordnungen nicht als göttliche Gebote ausgegeben werden dürfen. Dennoch bleibe der Grundsatz: „[...]Pfarrer mugen Ordnung machen, damit es ordentlich in der Kirche zugehe.“25 Sasse folgert daraus, dass Bischöfen und Pfarrern damit ebenfalls kirchenregimentliche Aufgaben zugesprochen werden.26 Hierzu passt eine Formulierung der Formula Concordia, Solida Declaratio X, in der die „Diener des Wortes“ hier als „Vorsteher der Gemeine Gottes“ bezeichnet werden, wobei der lateinische Text an dieser Stelle sogar das Verb regere verwendet.27 Hiernach gehören kirchenregimentliche Tätigkeiten also zum geistlichen Amt. Hinzu kommt, dass Pfarrerinnen und Pfarrer auch durch die Verkündigung in der Kirche sine vi, sed verbo leitend wirken.28 g) Das katalysatorische Argument Dieses Argument kommt auch wie es etwa im Bild des „Dienstbefähigers“ nach Schneider und Lehnert zum Ausdruck (ա 5.5.). Da bei zahlspektive“, wonach das Pfarramt als „Predigtamt“ zu verstehen sei. Zweitens existiere die „organisationssoziologische Sicht“. Hiernach sei das Pfarramt ein „Leitungsamt“. Drittens sei das Pfarramt aus „betriebswirtschaftlicher Sicht“ ein „verwaltendes Amt“. 23 Vgl. Sasse (1935), 67. 24 Vgl. Herms (2010), 54. 25 (1979), 129, 14f. 26 Vgl. Sasse (1935), 65ff. Nach Sasse kommt diese Funktion aus den oben genannten Gründen dem Amt gar de iure divino zu. 27 (1979), 1057, 11f. 28 Vgl. Herms (2010), 53-55.
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reichen pastoraltheologischen Entwürfen ein „Mittler-Schema“ vorliegt, wonach das Pfarramt den Kern des jeweils eigenen theologischen Propriums transportieren soll, wäre ein Verständnis vom Pfarramt als Leitungsamt im Sinne von Dienstbefähigung zukunftsweisend. Die Pastorinnen und Pastoren würden die Gemeinde dazu befähigen, dass die verschiedensten Dimensionen des Glaubens ihren Ausdruck fänden. In Summe macht das Zusammenspiel dieser Argumente es m.E. plausibel, der pfarramtlichen Tätigkeit auch eine leitende Dimension zuzusprechen. In welchem Verhältnis dann jedoch die verschiedensten die Gemeinde leitenden Subjekte zueinander stehen, ist damit noch keineswegs gesagt. 14.2. Das Verhältnis der Leitungssubjekte zueinander Evangelische Gemeindeleitung ist von einem Miteinander geprägt. Hauschildt und Pohl-Patalong beschreiben den Sachverhalt so: „Charakteristisch für die Leitung einer evangelischen Gemeinde ist das Miteinander von Amt und einer durch das allgemeine Priestertum aller Glaubenden begründeten demokratischen Struktur.“29 Dieser Grundsatz kommt dann darüber hinaus in zahlreichen Kirchenordnungen zum Ausdruck.30 Wie jedoch gestaltet sich dieses Miteinander? Wer übernimmt in diesem Miteinander gemeinsamer Leitung welche Aufgabe? In vielerlei Hinsicht ist es sinnvoll, das konkrete Miteinander situativ und individuell von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich zu gestalten, da die jeweils vorhandenen Gabenkombinationen eine äußerst große Vielfalt aufweisen. Deshalb kann es hilfreich sein, wenn sich die verschiedenen Personen mit ihren jeweiligen Leitungsgaben ergänzen. Diesem Umstand trägt auf der praktischen Ebene etwa das „3-Farben-Modell“ nach Böhlemann und Herbst Rechnung (ա 4.1.2.). Dennoch ergeben sich aus der Struktur der pastoralen Arbeit auch einige Tendenzen für ihren spezifischen Beitrag zur Leitung der Gemeinde.31 Sie verbringen in der Regel mehr Zeit im operativen Geschäft als Ehrenamtliche und haben so oftmals einen Überblick über das Ganze. Ebenso prägen sie das Gemeindeleben wie kaum ein anderer. Deshalb legt es sich nahe, dass sich das Pfarramt besonders in Strategie- und 29
Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 280. Klessmann formuliert es so: „Pfarrerinnen und Pfarrer sind an diesen Leitungsaufgaben beteiligt, führen sie nicht allein aus.“ Vgl. Klessmann (2012), 89. 30 So etwa in der Verfassung der ev.-luth. Kirche in Norddeutschland in § 24, (1): „Die Kirchengemeinde wird durch den Kirchengemeinderat geleitet. Dies geschieht in gemeinsamer Verantwortung aller Mitglieder, unbeschadet des besonderen Dienstes des Pastorinnen und Pastoren [...]“ 31 Klessmann nennt als besondere Leitungsaufgaben von Pastorinnen und Pastoren Mitarbeiterführung, Sitzungsleitung und Konfliktmanagement. Vgl. ebd., 89.
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Richtungsentscheidungen auch leitend einbringen sollte. Zweitens haben Pastorinnen und Pastoren auch idealiter eine höhere theologische Kompetenz,32 was aber nicht bedeutet, dass auf Seiten nicht-ordinierter Gemeindeglieder keine geistliche und theologische Kompetenz zu finden wäre, so dass eine scharfe Distinktion in theologische und geistliche Leitung auf Seiten des Pfarramtes und organisatorischer sowie verwaltender Leitung auf Seiten der Nicht-Ordinierten keineswegs angemessen erscheint. Drittens wären aufgrund der oftmals vorhandenen Rolle als Dienstvorgesetzter gewisse Grundkompetenzen im Bereich der Mitarbeiterführung hilfreich. Hinzu treten viertens manche Aspekte von Selbstleitung, wofür sich Zeitmanagement als Beispiel anführen ließe. Interessant wäre es, die verschiedenen Leitungsdimensionen im Sinne des „Dienstbefähigungsdienstes“ nach Schneider/Lehnert aufeinander zu beziehen. Dann wäre es ein wesentlicher Beitrag pfarramtlicher Leitung, die leitenden Nicht-Ordinierten und die Gemeinde in deren leitendem Handeln so stark wie möglich zu machen. Entsprechendes ließe sich für nicht-ordinierte Mitglieder des gemeindeleitenden Gremiums sagen. Das wesentliche Ziel ihres Leitungshandelns bestünde in der Befähigung der Gemeinde und darin, das Pfarramt in seiner besonderen Funktion zu stärken. Idealiter kann so ein Kreislauf wechselseitiger Dienstbefähigung entstehen.33 Eine weitere, relevante Herausforderung besteht darin, wie damit umzugehen ist, wenn einzelne Gemeindepastorinnen oder -pastoren nicht führen und leiten können oder diese Aufgabe nicht übernehmen wollen. Hierzu ist anzumerken, dass „Führen und Leiten“ zwar nicht vollständig, aber dennoch zu einem guten Teil ein Handwerk darstellt, das auch erlernt werden kann (ա 7.2.). Selbst wenn man hier also nicht begabt ist, kann man dennoch etwas dazulernen. Manch einer wird in diesem erstmaligen Lernprozess dann womöglich eine Begabung entdecken. Deshalb ist es wichtig, dass die evangelischen Kirchen in die kybernetische Ausbildung ihrer Pfarrerschaft investieren.34 In manchen Fällen 32
Diesen Umstand zu verneinen, ist angesichts ihrer Ausbildung unsachgemäß. Dennoch folgt daraus keinerlei Höherwertigkeit, noch kann deshalb anderen Mitgliedern der Gemeindeleitung die theologische Kompetenz abgesprochen werden. Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 381: „Das evangelische Pfarramt symbolisiert Kirche, das Gegenüber des Wortes und die Einheit aller Dienste, aber es okkupiert nicht den der ganzen Gemeinde und den diversen Ämtern aufgetragenen Dienst.“ 33 Schon Karle hatte darauf hingewiesen, dass hier gerade keine „Machtsummenkonstanz“ vorliegen müsse, wonach ein starkes Pfarramt automatisch zu einer schwachen Gemeinde führe und umgekehrt. Vgl. Karle (2001), 165-168. Gegenseitige Dienstbefähigung kann deshalb beide Seiten stärken. 34 Nach Anja Tetzlaff geschehe das in Teilen nur unzureichend. Vgl. Tetzlaff (2005), 218. Auch gelte: „Mithin steht ein sehr hohes Führungswollen der Pfarrer einem relativ geringen Führungskönnen gegenüber.“ Vgl. ebd., 188.
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Teil II1: Theologische Grundlagen von Führen und Leiten
wird es sich als unproblematisch erweisen, wenn eine Pastorin keine kybernetische Kompetenz besitzt. Es ließen sich etwa größere Teampfarrämter anführen, die eine höhere Ausdifferenzierung der einzelnen Aufgabenfelder möglich machen, so dass sich hier nicht jeder Pfarrer an der Gemeindeleitung beteiligen muss. Ist in einer konkreten Gemeindesituation jedoch keine Pastorin oder kein Pastor mit kybernetischer Kompetenz vorhanden, so wird man hierfür situative und kreative Lösungen finden müssen, was meistens bedeuten wird, dass andere jene Aufgabe übernehmen. Dies kann oftmals eine äußerst fruchtbringende Lösung darstellen. Dennoch ist es keineswegs sicher, dass dabei ein zufriedenstellendes Ergebnis gefunden wird, da nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass in jeder Gemeinde derart Qualifizierte mit ehrenamtlichem Engagement vorhanden sind. Deshalb wäre es sinnvoll, eine kybernetische Kompetenz im pastoralen Berufsbild zu verankern, sodass langfristig mehr in dieser Hinsicht Begabte sich für den pfarramtlichen Beruf entscheiden. Zuletzt muss noch auf die enge Verflechtung der hier verhandelten Fragestellung mit der Kirchentheorie hingewiesen werden, denn Pfarrbild und Kirchenbild korrespondieren eng miteinander.35 Denn eine hervorgehobene Betonung der Führungs- und Leitungsaufgabe impliziert stets eine gewisses Gemeindeverständnis und damit einhergehend auch ein bestimmtes Bild von Christsein und Kirchenmitgliedschaft. Das lässt sich nun näher entfalten.
35
Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 375.
15. Wer ist die Gemeinde? Die Bindungsformen und das Verhältnis von Christsein und Gemeinschaft
15.1. Beschreibung der Problematik und ihre Relevanz für die Leitungsfrage Die Literaturanalyse des zweiten Teils hatte eine strittige Frage innerhalb der praktisch-theologischen Diskussion erhoben: Inwiefern ist für das Christsein eine regelmäßige Partizipation an einer konkretsichtbaren Sozialgestalt des Glaubens konstitutiv? Oder anders: Inwiefern kann Kirche eine Pluralität von Bindungsformen zu ihr akzeptieren oder sich gar wünschen? Sollte Kirche implizit oder explizit ein Engagement ihrer Mitglieder einfordern? Ganz praktisch fasst bspw. die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung unter einem solchen Engagement etwa aktive Tätigkeiten wie die Übernahme von Leitungsaufgaben, die Mitgestaltung von Gottesdiensten, eine regelmäßige oder projektartige Mitarbeit etwa in Chören oder passiv den Besuch von Veranstaltungen wie etwa Konzerte, Seminare, Vorträge und die Teilnahme an Kreisen.1 In dem weiteren Horizont der Kirchentheorie werden diese Fragen nach den gemeinschaftlichen Bezügen des christlichen Lebens dann meist der Interaktions-2 oder auch Bewegungslogik3 zugeordnet. Präziser formuliert wird im Folgenden also danach gefragt, inwiefern der christliche Glaube einen gemeinschaftlichen Charakter im engeren Sinne der Interaktions- und Bewegungslogik benötigt. Verortet man die verschiedenen Positionen auf einer Skala mit zwei Polen, so wird auf der einen Seite Christsein und die Interaktionslogik sehr eng aufeinander bezogen, auf der anderen Seite jedoch drückt sich die Freiheit des Glaubens geradezu in Distanz zur Gemeinschafts-, Interaktions- und Bewegungsdimension von Kirche aus. Zwischen diesen beiden Polen lassen sich noch zahlreiche Mittelpositionen ausmachen. Hier finden sich weitgehend pluralistische Positionen, die verschiedenen Bindungsmustern ihre Berechtigung zugestehen und damit
1
Vgl. Liskowsky (2014), 122f. Vgl. Hermelink (2011), 111: „Dieser normative Grundzug kirchlicher Sozialität kann mit dem soziologischen Begriff der Interaktion verbunden werden, der die ‚Kommunikation unter Anwesenden‘ bezeichnet.“ Vgl. auch: Karle (2011), 87ff. 3 Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 138ff. Hier eng verbunden mit Kategorien wie Gruppe und Gemeinschaft. 2
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sowohl die „Kerngemeinde“ als auch die „(Halb-)Distanzierten“4 in ihrer Beziehung zur Kirche wertschätzen können.5 Daneben gibt es aber auch solche Positionen, welche den unterschiedlichen Bindungsformen zwar ihre Berechtigung zugestehen, implizit aber dennoch ein Leitbild von Kirchenbindung kommunizieren, entweder in Formen der Distanz oder auch der verbindlichen Intensivierung der Kirchenmitgliedschaft.6 So kann mit Hermelink gesagt werden: „Der Pluralität der Mitgliedschaftsdimensionen entspricht nicht zuletzt eine Pluralität der Deutungsperspektiven.“7 Darüber hinaus ist diese Frage nach dem „ekklesiale[n] Charakter des Glaubens“8 keineswegs ausschließlich der praktisch-theologische Kirchentheorie zuzuordnen. Sie ist gleichsam Gegenstand der systematisch-theologischen Dogmatik.9 Aber welche Relevanz besitzt jene Problematik für das Führungs- und Leitungsthema? Sie ist deshalb wichtig, da es eine Korrelation gibt zwischen der Verhältnisbestimmung von Glaube und Gemeinschaft und der Intensität, mit der das Thema „Führen und Leiten“ im kirchlichen Kontext als relevant erlebt wird. So gerät in der Praktischen Theologie dort die Führungs- und Leitungsfrage tendenziell aus dem Blick, wo Christsein idealiter oder realiter in Distanz zum interaktionslogischen Gemeindeleben gedacht wird. Jürgen Belz formuliert: „Damit Gemeinde geleitet werden kann, muss sie zunächst einmal schlicht da sein.“10 Das Ausmaß, in dem Glaube also irgendeine Form von ekklesialem Charakter hat,11 korrespondiert demnach sowohl mit der Intensität als auch mit der Gestalt, mit der die Aufgabe von „Führen und Lei4
In diesem Kapitel werden Menschen, die am kirchengemeindlichen Leben im Sinne der Interaktions- und Bewegungslogik nicht partizipieren, als distanziert bezeichnet. Dass die Frage nach der Distanz jedoch deutlich komplexer ist, hat nicht zuletzt Gerald Kretzschmar herausgearbeitet. Bei Kirchenmitgliedern könne es durchaus eine thematische Nähe trotz physischer Distanz geben. Deshalb greifen die klassischen Kategorisierungen der Kirchenmitglieder in Verbundene, Distanzierte, etc. zu kurz. Vgl. Kretzschmar (2013), 162. In diesem Problembewusstsein wird schlicht aus Gründen der Einfachheit dennoch an der „klassischen“ Bezeichnung festgehalten. 5 Hierfür steht im weitesten Sinne der Entwurf von Hauschildt und Pohl-Patalong. Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 278. Sie plädieren für eine Kirche, die „den Kirchenmitgliedern einen Raum gibt, ohne Wechsel der Kirchenzugehörigkeit ihre Mitgliedschaftspraxis zu verändern, und dass sie sich bewusst auf verschiedenerlei Mitgliedschaftspraxis ihrer Mitglieder konstruktiv bezieht.“ Vgl. ebd., 354. 6 Vgl. ebd., 355. 7 Hermelink (2000), 25. 8 Ebd., 101. 9 Zur Verhandlung jener Frage in der Dogmatik: Vgl. ebd., 33-114. Interessanterweise betonen zahlreiche Systematische Theologen eher „den ekklesiale[n] Charakter des Glaubens“. Vgl. Schwöbel (1996). Zu Wolfgang Huber: Vgl. Hermelink (2000), 55-69. Vgl. Welker (1995). Anders hingegen: Graf (1995). 10 Belz (2009), 52. 11 Siehe auch die Ausführungen von Johannes Zimmermann über die prinzipielle Gemeindlichkeit des christlichen Glaubens. Vgl. Zimmermann (2006), 3-37.
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ten“ wahrgenommen wird. Je stärker die interaktionslogische Gemeindlichkeit des Glaubens betont wird, desto wichtiger und anspruchsvoller werden Fragen der Gemeindeleitung. Die Frage nach dem ekklesialen Charakter des Glaubens gibt demnach vor, a) ob Leitung ein für die Kirchengemeinde/ für das Pfarramt wichtiges Thema ist und b) in welcher Form Leitung dann auch zu gestalten sei. Deshalb wird diese aktuelle kirchentheoretische Frage hier diskutiert werden müssen. Sie berührt dabei andere Problemstellungen der Kirchentheorie, besonders der Kirchenmitgliedschaft, welche an diese Stelle nicht weiter vertieft werden können.12 Ein Konsens innerhalb der Praktischen Theologie ist hinsichtlich dieser Frage nach den Bindungsformen nicht zu erwarten. Dazu ist jede mögliche Lösung auch zu voraussetzungsreich. Aus diesem Grund wird die Frage nun nicht abschließend geklärt werden können. Dennoch kann hier Rechenschaft über die Verortung des Verfassers gegeben werden. Damit ist die vorgetragene Position zwar nicht beweisbar, wohl aber begründbar und plausibilisierbar. So liegt den folgenden Ausführungen die Überzeugung zu Grunde, dass Christsein und Gemeinschaft (im engeren Sinne der Interaktionslogik als Partizipation an einer sichtbaren Sozialgestalt von Kirche) eng aufeinander zu beziehen sind. Das gilt es nun näher zu entfalten. 15.2. Hat Glaube einen ekklesialen Charakter? – 3 Einwände Doch jenes eben postulierte Zusammendenken von Christsein und Gemeinschaft wird im gegenwärtigen praktisch-theologischen Diskurs keineswegs unproblematisch bewertet. So erscheinen immer wieder verschiedene Einwände gegen eine Theologie, welche den ekklesialen Charakter des Glaubens zu stark betont. Ordnet man diese Einwände systematisch, dann ergeben sich grob drei Argumentationslinien: eine pistologische, eine empirische und eine historische. Das gilt es nun näher zu entfalten.
12 Gewichtige Themen, die hier nicht verhandelt werden können, sind: Wie verhält sich die Beziehung von Christsein und Gemeinde zu verschiedenen Gemeinschafsformen? Damit wäre die Zukunft des Parochialprinzips thematisiert. Auch wenn der ekklesiale Charakter des Glaubens normativ betont wird, hat Kirche es überhaupt in der Hand, die Bindung ihrer Mitglieder zu ihr zu steuern? Das vorliegende Kapitel behandelt nur die Frage nach dem „Dass“ der Gemeinschaft, lässt dabei aber die ebenfalls relevante Frage nach der Qualität dieser Gemeinschaft außen vor. Vieles mehr ließe sich hier nennen. Vgl. zum Thema Kirchenmitgliedschaft: Hermelink (2000); Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 311-356.
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15.2.1. Der pistologische Einwand: Der freiheitliche und antinomische Charakter des Glaubens Bei jenem ersten Einwand geht es um den grundsätzlichen Charakter des Glaubens. Hier wird in unterschiedlicher Weise betont, dass die Freiheit des Glaubens sich gerade in Distanz zur Institution Kirche realisieren könne. Besonders prominent wurde jener Gedanke im praktisch-theologischen Diskurs von Wilhelm Gräb entfaltet.13 Von einer bestimmten Schleiermacher-Interpretation14 als auch von Ernst Troeltsch15 herkommend stellt er Religion und Kirche einander gegenüber. Religion ist hierbei Selbst- und Lebensdeutung und habe einen prinzipiell antinomischen Charakter. Nach Gräb befreit das Evangelium von allen festgefahrenen Strukturen. Deshalb sei Institutionskritik und Fernbleiben von der Institution letzten Endes auch Ausdruck der Freiheit des Evangeliums. So sei für Kirchenmitglieder ein auf Kasualien beschränkter Kontakt zur Kirche ausreichend. Dennoch brauche man die institutionalisierte Religion punktuell, da sie der gelebten Religion als „Auslösefaktoren zur eigenen Genetisierung“16 diene. Grundsätzlich bleibt es aber dabei, dass sich Religion „gerade nicht festhalten […] und institutionell einbinden läßt“17. Die gelebte Religion entstehe ja gerade durch die „Selbstunterscheidung“18 gegenüber der institutionell verfassten Kirche. Zugespitzt formuliert hat Glaube nach Gräb somit einen antiekklesialen Charakter. Etwas anders gelagert ist die Argumentationsfigur, die Trutz Rendtorffs Verständnis von Kirche als „Institution der Freiheit“19 zugrunde liegt, denn sie ist nicht prinzipiell institutions- und kirchenkritisch. Dennoch argumentiert sie ähnlich wie Gräb von der Natur des Glaubens her gegen eine normative Verbindung von Christentum und Gemeinschaft. Rendtorff entfaltet seinen Kirchenbegriff vom reformatorischen Rechtfertigungsartikel her. Wenn Rechtfertigung nun aber meint, dass der Mensch von Gott bedingungslos angenommen werde, dann falle Kirche hinter diese Freiheit zurück, wenn sie an ihre Mitglieder Bedingungen stelle.
13 Vgl. zum Folgenden die Darstellung bei: Hermelink (2000), 70-94. Hermelink macht sich diesen Standunkt in Teilen selbst zu eigen, wenn er Huber kritisiert: „Dass zur Freiheit des Glaubens auch eine kritische wie konstruktive Selbstunterscheidung von den kirchlichen Sozialformen gehören könnte, das gerät dann, ähnlich wie bei Herms, leicht aus dem Blick.“ Vgl. ebd., 69. 14 Vgl. Gräb (1990), 261-266. 15 Vgl. Gräb (2000), 80ff. Gräb (1993), 135. 16 Gräb (1990), 261. 17 Ebd., 263. 18 Ebd., 264. 19 Rendtorff (1977), 125.
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„Der Glaube darf auf der Ebene kirchlichen Lebensvollzuges an keine Leistungen gebunden werden, die wie Glaubenssubstitute fungieren. Das Hauptgravamen ist immer wieder, daß Verbindlichkeiten und Normen aufgestellt werden, von deren Erfüllung und Befolgung der Glaube abhängig gemacht wird.“20
Diese Argumentationsfigur wird von Hauschildt und Pohl-Patalong nun dahingehend präzisiert, dass es für Kirchenmitglieder z.B. keine Form von Gottesdienst- oder Partizipationspflicht geben dürfe, sondern es im Ermessen des Einzelnen liegen müsse, wie er seine Teilnahme gestalte.21 Auf den Punkt gebracht: Fordert Kirche von ihren Mitgliedern eine regelmäßige Teilnahme am kirchengemeindlichen Leben, so unterliegt sie der Gefahr der Gesetzlichkeit,22 insofern sie damit menschliche Leistungen zur allein von Gott geschenkten Rechtfertigung und der daraus resultierenden Freiheit hinzufüge. 15.2.2. Der empirische Einwand: Die gegenwärtige Wirklichkeit muss ernst genommen werden Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die Mehrheit der Kirchenmitglieder nicht einer womöglich vorhandenen Leitvorstellung von einer aktiven Teilnahme am kirchengemeindlichen Leben entspricht.23 Halte Theologie und Kirche dennoch normativ an jener Leitvorstellung fest, nehme sie die Lebenswirklichkeit ihrer Mitglieder nicht ernst und gehe an der Realität vorbei. Unbestreitbar hat die Mehrzahl der evangelischen Kirchenmitglieder ein distanziertes Verhältnis zum „kerngemeindlichen“ Leben. Das zeigte auch die vierte Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD an.24 PohlPatalong fasste zusammen: „Dem Anspruch auf die aktive Teilnahme am gemeindlichen Leben wiederum entspricht nur eine Minderheit der Mitglieder […].“25 An diesem grundsätzlichen Befund haben auch die Ergebnisse der 2014 erschienenen fünften Mitgliedschaftsuntersuchung nichts geändert.
20
Ebd., 122. Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 161. Dabei ist es m.E. nicht plausibel, warum die Autoren einerseits eine gewisse Partizipationspflicht der Mitglieder ablehnen, andererseits aber theologisch für die Pflicht zur Zahlung der Kirchensteuer argumentieren, da sonst der „Anschein billiger Gnade erweckt“ werden könnte. Vgl. ebd. 176f. Die Frage bleibt m.E. offen: Warum wäre eine Partizipationspflicht gesetzlich, die verpflichtende Zahlung der Kirchensteuer ist es jedoch nicht? Zu Rendtorff: Er wird ähnlich von Hermelink rezipiert. Vgl. Hermelink (2000), 105. 22 Vgl. zum Begriff der Gesetzlichkeit in praktisch-theologischer, wenn auch eher homiletischer Perspektive: Josuttis (1995), 94ff. Ansonsten auch bei: Pless (2004). 23 Vgl. Kretzschmar (2013), 156. 24 Huber (2006), 147ff. 25 Vgl. Pohl-Patalong (2006), 226–228, 227. 21
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Hiernach haben ca. 75% der Kirchenmitglieder abzüglich der Kasualien das ortsgemeindliche Leben nicht im Blick und sind hier weder aktiv noch passiv engagiert.26 Eine intensive Mitgliedschaftspraxis, worunter ein häufiger Gottesdienstbesuch, ein persönlicher Kontakt zur Pfarrerin wie eine aktive Beteiligung am kirchlichen Leben verstanden wird, pflegen gar nur 13% der Mitglieder.27 Insgesamt zeichnet sich in der Untersuchung eine zunehmende Polarisierung der Kirchenmitglieder in ihrem Bindungsverhalten ab. „Der Anteil Evangelischer, die sich ihrer Kirche ‚sehr‘ oder ‚ziemlich‘ verbunden fühlen, ist ebenso gestiegen wie der Anteil 28 derer, die sich ihrer Kirche ‚kaum‘ oder ‚überhaupt nicht‘ verbunden fühlen.“ Damit einhergehend durchzieht die Untersuchung eine insgesamt positivere Bewertung von intensiver Mitgliedschaftspraxis. So zeigen die Ergebnisse einen deutlichen Zusammenhang zwischen persönlicher Religiosität und kirchlicher Interaktionspraxis wie Engagement an.29 Thies Gundlach resümiert daraufhin: „Die V. KMU zeigt auf, dass die lange vertretene These von einem freien, kirchendistanzierten Christentum zunehmend ‚in der Luft hängt‘. [...] Die Gestalt individuell gelebter Verbindung zur verfassten Kirche allein über die Inanspruchnahme lebenszyklischer Angebote erzeugt keine stabile und belastbare Verbundenheit zu Kirche und Glaube.“30 Die aktuellen Befunde setzen also hinter das Theorem einer hohen Kirchenverbundenheit bei gleichzeitiger physischer Distanz einige Fragezeichen.
In weiten Teilen entspricht dieser Befund auch den spätmodernen Entwicklungen, die gegenwärtig gesamtgesellschaftlich prägend sind. So können etwa in der sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft zahlreiche Milieus ausgemacht werden.31 Aber nicht allen Milieus sei Geselligkeit wichtig. Betonten Kirche und Theologie nun einseitig den ekklesialen Charakter des Glaubens, so liefen sie Gefahr, ganze Milieus zu übersehen. Oder wie Hauschildt und Pohl-Patalong es in Auseinandersetzung mit der Milieufrage formulieren: „Hier zeigt sich besonders deutlich, dass eine kirchenpolitische Gleichsetzung von christlicher Gemeinschaft mit stabiler und intensiver Gruppengeselligkeit ganze Milieus übersieht.“32 Aber auch das Phänomen der Individualisierung schlage sich auf das Bindungsverhalten der Kirchenmitglieder nieder. Nach Hermelink sei die Bindung der Mitglieder an ihre Kirche mehr und mehr disponibel geworden.33 Menschen entscheiden selbst, wie stark sie sich binden wollen. Über die vielen „kirchenfernen“ Mitglieder fasst er zusammen: „Was man von der Kirche erwartet, das ist insgesamt nicht eine bestimmte Gemeinschaftserfahrung, weder im Gottesdienst noch im Gemeindehaus, sondern das ist die zuverlässige und professionelle Er26
Vgl. Liskowsky (2014), 8; 34; 123. Vgl. ebd., 8f; 43. 28 Ebd., 12. 29 Vgl. ebd., 9, 16, 125. 30 Ebd., 129. 31 Zur Milieufrage: Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 341-353; Hempelmann (2011). 32 Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 349. 33 Vgl. Hermelink (2000), 18ff. 27
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bringung bestimmter religiöser ‚Dienstleistungen‘, für die der pastorale ‚Berufschrist‘ zuständig ist.“34 Wenn nun also mindestens zwei Drittel der Kirchenmitglieder in Halbdistanz oder Distanz zum gemeindlichen Leben ihre Mitgliedschaft gestalten,35 warum sollte Kirche jene Bindungsmuster diskreditieren? Par excellence wurde dieses Argument von Gerald Kretschmar entfaltet.36 Er beschäftigt sich primär mit jener Mehrheit der westdeutschen Kirchenmitglieder, deren doch recht stabile Bindung zur Kirche durch „solide subjektive Verbundenheit bei gleichzeitig geringer Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen“37 geprägt sei. Diese Form der Kirchenbindung sei typisch modern und lasse sich mithilfe der Theorie der mediatisierten Kommunikation des Pädagogen Uwe Sander plausibilisieren. Die entscheidende Beobachtung dabei lautet: „Grundmodus der mediatisierten Kommunikation ist die Distanz.“38 Nach dieser im Kern luhmannischen Argumentationsstruktur sei Kommunikation in einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft auch gar nicht anders möglich. Trotz dieser physischen Distanz habe jene Mehrheit der Kirchenmitglieder dennoch so etwas wie eine thematische Nähe zur Kirche, die sich kirchenbindend auswirke. Diese bindenden Elemente sollte Kirche in Zukunft auch weiterhin in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen. Es handelt sich dabei um die Trias aus diakonischem Engagement für Einzelne, geistlicher Begleitung durch Kasualien und gottesdienstlich-geistlichem Handeln. Kirche soll jene „distanzierte“ Kirchlichkeit in Zukunft nicht diskreditieren, sondern wertschätzen. Theologisch wird jene Würdigung damit begründet, dass nach protestantischer Auffassung „dem einzelnen Menschen vor Gott, eine ausgesprochen 39 hohe theologische Wertschätzung“ entgegen komme.
Die Wertschätzung jener „distanzierten Kirchlichkeit“ wird dann auch immer wieder theologisch begründet. Christian Grethlein argumentiert von der Taufe her. Mit ihr komme „der Praxis der Getauften eine theologische Dignität zu“40. Da also auch die distanzierten Kirchenmitglieder getauft sein, dürften ihre Partizipationsformen nicht diskreditiert werden. 15.2.3. Der historische Einwand: Die Historisierung der kirchlichen Beteiligung Neben den beiden bisher beschriebenen Einwänden lässt sich noch ein dritter, nun historischer Einwand gegen eine enge Verbindung von Christsein und Gemeinde ausmachen. Wir fassen den Gedankengang zusammen: Es wurde in jüngerer Zeit immer wieder darauf hingewie34
Ebd., 23. Nur etwa ein Drittel der Kirchenmitglieder lassen sich als „Kirchentreu“ bezeichnen. Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 324f. 36 Vgl. Kretzschmar (2001); Kretzschmar (2007); Kretzschmar (2013). 37 Ebd., 156. 38 Ebd., 158. 39 Ebd., 152. 40 Grethlein (2007), 503. 35
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sen, dass die Leitvorstellung von der aktiven Teilnahme am Gemeindeleben gar nicht genuin christlich, sondern eine vergleichsweise junge Vorstellung sei. Sie habe ihre Wurzeln erst im 19. Jahrhundert als die Sozialform des „Vereinslebens“ auch auf die Kirchengemeinde übertragen wurde. Verantwortlich für die Adaption des Vereinsmodells sei maßgeblich Emil Sulze gewesen. Nun entstand auch das Gemeindehaus in Analogie zum Vereinshaus. Die Gestaltung von Kirche nach dem Vereinsmodell mag nun zur Zeit Sulzes eine durchaus legitime Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse gewesen sein. Nur sind die Bedingungen im 21. Jahrhundert nicht mehr mit denen des 19. Jahrhunderts zu vergleichen. Deshalb müsse sich Kirche heute vom Leitbild des Vereins und der damit verbundenen Vorstellung von einem an Geselligkeit orientierten Gemeindebild verabschieden. Dieser Abschied vom Vereinsmodell ist dann ja auch theologisch legitim, weil dieses Gemeindebild nur eine historisch bedingte Ausprägung von Kirche darstelle und damit nicht zur in CA VII beschrieben Einheit der Kirche notwendig sei. Gerade weil aus CA VII folge, dass kirchliche Strukturen niemals sakrosankt sein können, dürfe auch die mit dem Vereinsmodell einhergehende enge Koppelung von Christsein und Gemeindeleben als normative Leitvorstellung für alle Kirchenmitglieder aufgegeben werden. Nach Wagner-Rau habe „das normierende Bild einer sehr verbindlichen, aktiven Zugehörigkeit“41 seine Wurzeln im vereinskirchlich orientierten Gemeindemodell des 19. Jahrhunderts. Dessen Zeit sei nun jedoch vorüber. Auch nach Hermelink sei 42 die „gruppengemeinschaftliche Gestalt der Ortsgemeinde“ erst im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entstanden. Grethlein führt die Idee des „Gemeindelebens“ ebenfalls auf Sulze zurück. Erst jetzt „setzte sich bei vielen Evangelischen und vor allem Pfarrern im Lauf der Zeit die Ansicht durch, zum echten Christsein gehöre die Teilnahme am ‚Gemeindeleben‘.“43 Auch nach Hauschildt und Pohl-Patalong wurde erst ab dieser Zeit „aktive Beteiligung an diesen vereinsähnlichen Aktivitäten zum Maßstab für wahre kirchliche Mitgliedschaft. Ab jetzt konnte es als kirchliches Fehlverhalten betrachtet werden, sich nicht aktiv am geselligen Gemeindeleben zu beteiligen.“44 Nun wurden zunehmend auch andere Bindungsformen entwertet, was sich in Begriffen wie „Weihnachtchristen“ oder „U-Boot-Christen“ ausdrücke. Diese Tendenz habe sich nun in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt, wenn bspw. die Bekennende Kirche in Barmen im Gegenüber zum Nationalsozialismus in ihrer dritten These die „Gemeinde von Brüdern“ betonte. Die Vorstellung von einer Beteiligung aller Kirchenmitglieder komme dann in der Nachkriegszeit besonders in den Spandauer-Thesen zum Aus-
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Wagner-Rau (2004), 458. Hermelink (2011), 144. 43 Grethlein (2007), 498. 44 Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 258. Vgl. ebd., 314. Vgl. Pohl-Patalong (2006), 226ff. 42
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druck. Sie ist ebenfalls Grundlage in der Gemeindewachstums- oder Hauskreisbewegung47.
Damit entsteht dann eine Verbindung dieses „historischen“ Einwandes zum zweiten, „empirischen“ Einwand. Der Umstand, dass die Mehrzahl der Kirchenmitglieder ihre Mitgliedschaft in Distanz zur „Kerngemeinde“ gestaltet, ist auch deshalb grundsätzlich unproblematisch, weil die alternative Vorstellung von einem am Gemeindeleben orientierten Christentum keineswegs spezifisch christlich, sondern vielmehr zu den historischen Adiaphora gehöre. 15.3. Eine Antwort in Thesen Mit den folgenden Thesen soll auf die drei eben dargestellten Einwände eingegangen werden. Das vollzieht sich sowohl im Widerspruch als auch in kritischer Rezeption des pistologischen, empirischen und historischen Einwandes. a) Aus der Heiligen Schrift und dem kirchlichen Bekenntnis lässt sich die Normativität der Bindung von Christsein an eine Sozialgestalt des Glaubens herleiten. Dass im Neuen Testament Christsein nicht ohne Gemeinde gedacht werden kann, wurde zuletzt u.a. von Ulrich Luz48 und Martin Ebner49 aufgezeigt.50 Luz weist auf, dass der Koinonia im Neuen Testament faktisch die Funktion einer nota ecclesiae zukommt. Bereits Jesus selbst rechnete „mit dem Fortbestand einer auf ihn bezogenen Gemeinschaft“51, was besonders in den Deuteworten beim Abendmahl zum Ausdruck komme. Noch deutlicher denkt Paulus Christsein und Koinonia zusammen. Eben weil Kirche und nicht das Individuum Leib Christi sei, gilt, dass „Partizipation an Christus […] ausschließlich gemeinsame Partizipation an ihm sein“ kann.52 Das lässt sich auch an der Taufe deutlich machen, die eben auch auf Gemeinschaft bezogen ist, da die
45 Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 98-102. Dieses Argumentationsmuster liegt ebenfalls den Ausführungen von Roosen zugrunde. Vgl. Roosen (1997), 528530. 46 Vgl. Herbst (2010), 253ff. 47 Vgl. ebd., 406ff. 48 Luz (2010). 49 Ebner (2009). 50 Im praktisch-theologischen Kontext: Vgl. Herbst (2010), 49ff; besonders: 53; 135; Karle (2010); Karle (2011), 133. 51 Luz (2010), 407. 52 Ebd., 410.
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Christen nach 1Kor 12,13 „zu einem Leib“ getauft sind. 53 Die Verbindung von Christsein und Gemeinde gelte aber nicht nur für Paulus, sondern auch für andere neutestamentliche Schriften.54 Ebner fasst sein Ergebnis dann so zusammen: „Christentum realisiert sich gemäß dem Neuen Testament immer in sozialen Kleingruppen.“55 Man mag dagegen einwenden, dass sich im Neuen Testament auch andere Formen von Glauben finden lassen, die ohne Gemeinschaft auskommen, vom äthiopischen Kämmerer, der fröhlich seiner Straße zog (Apg 8,39), hin zum „beeindruckenden Hörer einer Predigt Jesu, der sich zwar nicht dem Wanderprediger auf seinen Reisen anschließt, aber in seinem bisherigen Umfeld das Gehörte umzusetzen versucht“56. In letzter Konsequenz ist diese Argumentationslinie jedoch nicht zwingend, da es sich hierbei um ein argumentum e silentio handelt. Man kann nicht aus jeder biblischen Geschichte, die ohne expliziten Gemeinschaftsbezug auskommt, schließen, dass hier ein Verständnis von Glauben ohne Gemeinschaftsbezug konzipiert werde. Die Spur setzt sich dann in die kirchliche Bekenntnisbildung hinein fort. So findet die Koinonia im Apostolikum Ausdruck in der Rede von der communio sanctorum. Das Augsburger Bekenntnis spricht dann von der congregatio sanctorum (CA VII).57 Damit ist die sich um Wort und Sakrament sammelnde und von hier aus gesendete Kirche nicht individualistisch, sondern nur gemeinschaftlich denkbar. Darüber hinaus ließen sich noch zahlreiche weitere Argumentationslinien ausziehen. Ökumenisch könnte die hohe Relevanz von Koinonia und Konziliarität im Dialog zwischen den Kirchen angeführt werden. Oder es ließe sich pneumatologisch argumentieren, dass die Geistesgaben stets auf die Gemeinschaft bezogen sind (1Kor 14, 26). Die normative Relevanz von Gemeinschaft für den christlichen Glauben ist damit deutlich geworden. Es ist jedoch eine gewisse Vorsicht geboten. Denn jene Gemeinschaft darf nicht vorschnell mit einem vereinskirchlichen Gemeindeleben identifiziert werden, wie es von vielen protestantischen „Kerngemeinden“ verkörpert wird. Deshalb lässt sich formulieren:
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Vgl. Ebner (2009), 262f. Vgl. ebd., 263f.; Luz (2010), 412f. Man denke bspw. an die matthäische Gemeinderede (Mt 18), die lukanische Darstellung des Lebens der Jerusalemer Urgemeinde (Apg 2) oder die johannäischen Abschiedsreden mit ihrem Bild der von Liebe gezeichneten Gemeinschaft. 55 Ebner (2009), 266. Luz formuliert noch deutlich schärfer: Wer von „der Kirche als einem die Gesellschaft mit Sinnangeboten und rituellen Angeboten verstehenden Dienstleistungsbetrieb [ausgeht], muss wissen, dass er sich am Zentrum neutestamentlicher Ekklesiologie vorbei orientiert.“ Vgl. Luz (2010), 415. 56 Grethlein (2007), 502f. 57 Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 141f. 54
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b) Der Einspruch gegen eine explizite wie implizite Verpflichtung der Kirchengmitglieder auf eine Partizipation im Modell der Vereinskirche ist im Grundsatz berechtigt. Vereinskirche und Partizipation an einer Sozialgestalt des Glaubens sind jedoch nicht deckungsgleich. Dem oben dargestellten „historischen“ Einwand kann prinzipiell zugestimmt werden. In der Tat greift eine Reduktion christlicher Sozialität auf das Modell des Vereins ekklesiologisch zu kurz. Das Vereinsmodell ist offensichtlich kein Bestandteil der biblischen Überlieferung und damit nur eine historisch bedingte, wenn auch durchaus legitime Ausdrucksform des in Schrift und Bekenntnis begründeten normativen Bildes von einer Partizipation an einer Sozialgestalt des Glaubens. Darum ist es auf kirchlicher Seite auch nicht angebracht, spezifische Elemente des Vereinsmodells für ihre Mitglieder für normativ zu erklären.58 Die Teilnahme an einem Kreis, der sich im Wochenrhythmus im Gemeindehaus zu einer festen Uhrzeit trifft und für den es eine Teilnehmenden-Liste gibt, ist nur eine legitime, aber keine notwendige Ausformung von Partizipation an einer Sozialgestalt des Glaubens. Dennoch – und das sei hier die Pointe – steht die Praktische Theologie in der Gefahr, gleichsam „das Kind mit dem Bade auszuschütten“. Denn die Leitvorstellung von einer aktiven Partizipation an einer Sozialgestalt des Glaubens ist eben keine Erfindung Sulzes oder der Gemeindebewegung, sondern genuiner Bestandteil des Christentums, wie es im Anschluss an die erste These dargestellt wurde.59 Deswegen ist es nun auch problematisch, wenn aktive Teilnahme und das Vereinsmodell faktisch gleichgesetzt werden. Eine Pluralisierung von Bindungsformen ist also keineswegs problematisch. Nur: Jene Pluralität bedarf dennoch einer gemeinsamen Schnittmenge in der regelmäßigen und dadurch potentiell formend wirkenden Partizipation an einer Sozialgestalt des Glaubens. c) Auch ein normatives Bild von Partizipation muss Phänomenen wie der gestiegenen Mobilität und Flexibilisierung der Gesellschaft Rechnung tragen. Die Problematik wurde bereits unter 10.5 dargestellt. Die Berufsbiographien des 21. Jahrhunderts verlaufen immer weniger gleichmäßig. Menschen wechseln öfters ihren Arbeitsplatz und ziehen häufiger um. Hinzu kommt, dass auch die Intensität der beruflichen Belastung im 58
Deshalb ist es durchaus kritisch zu betrachten, wenn im freikirchlichen Raum Johannes Reimer „Mitarbeit“ in der Regel als Zielpunkt geistlichen Wachstums begreift. Vgl. Reimer (2008), 85, 116, 133, 149. 59 Ähnliches zeigen Hauschildt und Pohl-Patalong für das Ehrenamt auf, dass es zwar in der heutigen Form im 19. Jahrhundert geprägt wurde, aber zahlreiche kirchengeschichtliche Vorläufer besitzt. Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 362.
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Leben eines Menschen mehr und mehr Schwankungen unterliegt. Darüber hinaus nimmt auch die Arbeit an Abenden und Sonntagen zu. Selbst wenn sie es wollten, könnten viele Kirchenmitglieder nicht nach den vereinskirchlichen Mustern partizipieren. Man denke an eine Professorin, die nur während des Semesters am Leben der Kirchengemeinde teilnehmen kann, da sie sich in der vorlesungsfreien Zeit bei ihrer Familie an einem anderen Ort aufhält. Ein Mann ist beruflich bedingt so oft verreist, dass er nicht zu regelmäßigen Gemeindeveranstaltungen zusagen kann. Ähnliches kann Menschen im Schichtdienst oder mit unregelmäßigen Arbeitszeiten betreffen. Beispiele wie diese zeigen an, dass Kirche vor der Herausforderung steht, dem normativen Anspruch auf eine Partizipation an einer Sozialgestalt des Glaubens in diesen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen eine Gestalt zu geben. Für die Führungs- wie Leitungsfrage ergibt sich daraus die Konsequenz, dass Verantwortliche weniger mit langfristig geplanten Entwicklungen operieren können. Deshalb wäre womöglich das Projektmanagement eine Referenzgröße, die verstärkt in den Fokus praktischtheologischer Kybernetik rücken könnte. In gewisser Weise arbeitete sogar schon Paulus projektartig, wenn er zur Gemeindegründung oft nur wenige Wochen und Monate an einem Ort war. Damit wird nun das berechtigte Anliegen des „empirischen“ Einwandes kybernetisch aufgenommen. d) Der Glaube braucht eine Sozialgestalt des Glaubens zu seiner fortwährenden Konstitution und kommt gleichsam in einer freiwilligen Bindung an eine solche zum Ausdruck. Mit dieser These wird der entscheidende Wechsel in der Argumentationsstruktur vollzogen. Wurde bisher vor allem die aus Schrift und Bekenntnis herkommende Normativität eines engen Bezuges von Christsein und Gemeinde betont, so wird es nun darum gehen müssen, spezifisch evangelisch zu argumentieren. Denn ein Rückzug auf eine bloße Normativität liefe in letzter Konsequenz auf Gesetzlichkeit heraus, wie es oben im Anschluss an Rendtorff dargestellt wurde. Deshalb geht es nun nicht um eine Norm, sondern um den Glauben selbst in seiner Konstitution und Konsequenz. Beginnen wir mit der Notwendigkeit von Gemeinschaft für die Konstitution des Glaubens. Strukturell findet sich dieses Argument schon in der reformatorischen Theologie, näher hin in Luthers Unterscheidung und Verhältnisbestimmung von „innerem und äußerem Wort“. 60 Be60
Ähnlich knüpfen Hauschildt und Pohl-Patalong an Luther an. Vgl. ebd., 113f: „So kann aus heutiger Perspektive die Überzeugung Martin Luthers gegenüber den sog. ‚Schwärmern‘ gedeutet werden, dass der Geist den Glauben in Wort und Sakrament wirkt und nicht außerhalb der Kirche […] Damit wird der Kontakt zur Kirche entscheidender für die Frage von Glauben und Gottesbeziehung, als dies in
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sonders in Auseinandersetzung mit den sog. „Schwärmern“ wurde diese gewonnen.61 Auch für Luther war klar, dass der Glaube nicht durch die Kirche, sondern durch den Heiligen Geist konstituiert werde. Beiden Seiten lag es also an der Bedeutung des „inneren Wortes“. Doch Luthers Einspruch bestand nun gerade darin, dass jenes „innere Wort“ eben an das „äußere“ gebunden sei; das „äußere“ also dem „inneren“ vorausgehe (Vgl. auch CA V).62 Der Mensch kann also ohne das gepredigte Wort nicht glauben. Dieses Wort jedoch kann sich der Mensch nicht selbst sagen.63 Es brauche „brucken, steg und weg, leytter [...] dadurch der geyst zu dyr kommen soll“64. Deshalb muss er Kommunikationsvollzüge des Evangeliums aufsuchen. Darum braucht Glaube im engeren Sinne das Predigtamt und im weitern Sinne die Gemeinde, denn hier ist der Ort auf den der Herr die Verheißung seiner Anwesenheit gelegt hat (Mt 18,20). Auf den Punkt gebracht: Glaube benötigt zur Entstehung das „äußere Wort“. Dieses ist aber an die christliche Gemeinschaft gebunden. So braucht Glaube Gemeinschaft. Eine nicht ganz unähnliche Argumentationsweise findet sich in Bonhoeffers Nachfolge, genauer im zweiten Kapitel, das mit „Der Ruf in die Nachfolge“ überschrieben ist, wieder.65 Bonhoeffer bezieht hier Glaube und Gehorsam in einer Art und Weise aufeinander, die „das genaue Gegenteil von aller Gesetzlichkeit“66 und „jenseits der Feindschaft von Gesetz und Evangelium“67 bleibt. Es handelt sich dabei um einen Schritt des Menschen hinein „in die Situation, in der allererst geglaubt werden kann“68. Bonhoeffers Zuordnung von Gehorsam und Glaube entspricht dabei strukturell Luthers Zuordnung von „äußerem früheren Jahrzehnten der Fall war, und die Kirche muss auch aus theologischen Gründen daran interessiert sein, dass Menschen in Kontakt mit ihr leben.“ Ähnlich auch Karle. Vgl. Karle (2011), 81; 145. 61 Vgl. vor allem die Schrift „Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament“. Vgl. WA 18, 37-214, hier besonders: 134-139. 62 Vgl. Ebd., 136: „So nu Gott seyn heyliges Euangelion hat auslassen gehen, handelt er mit uns auff zweyerley weyse. Eyn mal eusserlich, das ander mal yinnerlich. Eusserlich handelt er mit uns durchs mündliche wort des Euangelij und durch leypliche zeychen, alls do ist Tauffe und Sacrament. Ynnerlich handelt er mit uns durch den heyligen geyst und glauben sampt andern gaben. Aber das alles, der massen und der ordenung, das die eusserlichen stucke sollen und müssen vorgehen. Und die ynnerlichen hernach und durch die eusserlichen komen, also das ers beschlossen hat, keinem menschen die ynnerlichen stuck zu geben on durch die eusserlichen stucke.“ 63 Vgl. Bonhoeffers Argumentation in „Gemeinsames Leben“. Bonhoeffer (1987), 19f: „Darum braucht der Christ den Christen, der ihm Gottes Wort sagt, er braucht ihn immer wieder [...] Der Christus im eigenen Herzen ist schwächer als der Christus im Worte des Bruders.“ 64 WA 18, 137. 65 Bonhoeffer (1989), 45-67. Vgl. Zimmerling (2006), 43-45. 66 Bonhoeffer (1989), 46f. 67 Ebd., 47. 68 Ebd., 50.
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und innerem Wort“, insofern auch bei Bonhoeffer der Glaube des zwar wertlosen aber dennoch notwendigen Schrittes des Gehorsams bedarf. Es ist eben der Schritt hinein in die Situation, in der erst geglaubt werden kann. Bonhoeffer schreibt: „Dieser erste Schritt ist nun zuerst zu betrachten als das äußerliche Werk, das im Vertauschen einer Existenzweise mit einer anderen besteht. Diesen Schritt kann jeder tun. Der Mensch hat Freiheit dazu. Es ist ein Tun innerhalb der iustitia civilis, in der der Mensch frei ist. Petrus kann sich nicht bekehren, aber er kann seine Netze verlassen. [...] Auch in den lutherischen Bekenntnisschriften ist in bedeutsamer Weise die Wichtigkeit eines ersten Schrittes erkannt: Nachdem die Gefahr des synergistischen Mißverständnisses grundsätzlich beseitigt ist, kann und muß ein Raum gelassen werden für jenes erste äußere Tun, das zum Glauben gefordert wird: Es ist hier der Schritt zur Kirche, in der das Wort des Heils gepredigt wird. Dieser Schritt kann in voller Freiheit getan werden. Komm zur Kirche! das kannst du kraft deiner menschlichen Freiheit. Du kannst am Sonntag dein Haus verlassen und zur Predigt gehen. Tust du das nicht, so schließt du dich willkürlich von dem Ort aus, an dem geglaubt werden kann. Damit bezeugen die lutherischen Bekenntnisschriften, daß sie von einer Situation wissen, in der geglaubt werden kann, und von einer solchen, in der Glaube nicht möglich ist.“69
Die Verbindung Christsein und Gemeinschaft (im engeren Sinne der Interaktionslogik als Partizipation an einer sichtbaren Sozialgestalt von Kirche) lässt sich also nicht lösen. Sie aufrecht zu erhalten ist dann auch keineswegs Gesetzlichkeit, insofern sich der Mensch durch Partizipation an Gemeinschaftsvollzügen Gnade verdienen würde. Nein, dieser Schritt bleibt wertlos und für die Entstehung des Glaubens wohl auch nicht hinreichend, weil „es der Geist ist, der den Glauben wirkt und nicht die Kirche“70; und doch ist er notwendig. Indem der Mensch an einer Sozialgestalt des Glaubens partizipiert, tritt er ein in eine Situation, in der geglaubt werden kann, weil ihm hier in Wort und Sakrament das äußere Wort begegnet. Wie Jan Hermelink herausgearbeitet hat, argumentiert auch Eilert Herms ähnlich für eine regelmäßige Partizipation der Kirchenmitglieder, konkret den regelmäßigen Besuchs des sonntäglichen Gottesdienstes.71 Anhand Luthers Auslegung des dritten Artikels macht Herms deutlich, „daß der Geist wirkt, indem er Äußeres verinnerlicht.“72 Der Glaube brauche deshalb zu seiner Konstituierung die Auseinandersetzung mit der predigenden Kirche. Dieser Prozess der Glaubensgenese ist jedoch niemals abgeschlossen und keineswegs statisch zu verstehen. Deshalb müsse sich der Mensch regelmäßig jener predigenden Kirche zuwenden. Herms kann deshalb resümieren: „Denn das Geschehen des 69
Ebd., 53f. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 114. 71 Vgl. Hermelink (2000), 33-54; hier: 45f. Bei Herms ist das alles freilich nicht ekklesiozentrisch misszuverstehen. Vgl. Herms (2010), 43. 72 Herms (1987), 54. 70
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Wortes Gottes hat selbst ekklesialen Charakter. Die reformatorische Dogmatik begreift es nicht als Negation unseres leibhaften geschichtlichen und sozialen Daseins, sondern als dessen Qualifikation.“.73 Gräbs pistologisches Argument, dass sich die Freiheit des Glaubens in kritischer Distanz zur Kirche ausdrücke, kann aus all den genannten Gründen nicht zugestimmt werden. Es ist zwar dahingehend zutreffend, dass Glaube und Kirche nicht deckungsgleich sind und die Kirche nicht selbst den Glauben weckt. Aber christliche Freiheit wäre dann missverstanden, wenn sie sich gegen den Ort ihrer ureigensten Konstitutionsbedingung, also die christliche Gemeinschaft, wenden sollte. Etwas lapidar formuliert: Glaube hieße sonst, den Ast abzusägen, auf dem man sitzt. Doch eine Partizipation an einer Sozialgestalt des Glaubens ist nicht nur „nach vorne“ für die Konstituierung von Glauben relevant, sie lässt sich gleichsam „nach hinten“ als deren Konsequenz begreifen. Die freie Bindung eines Christen an eine Sozialgestalt des Glaubens lässt sich mit Luthers Freiheitsschrift als eine „gute Frucht“74 der Rechtfertigung bezeichnen. Wem in der christlichen Gemeinschaft das Evangelium begegnet, das frei macht und Leben schenkt, der kann und will sich dem auch nicht entziehen. Schon der zweite „Beschluss“ der Freiheitsschrift artikuliert jene freiwillige Bindung an den Nächsten.75 So betont auch Wolfgang Huber, dass recht verstandene christliche Freiheit keinesfalls Individualismus meine, sondern „auf umfassende Gemeinschaft“76 ziele. Christliche Freiheit gewinnt in Gemeinschaft ihre Gestalt.77 Damit ist die Bindung eines glaubenden Subjekts an christliche Gemeinschaftsvollzüge auch nicht unter den Verdacht einer unreformatorischen Gesetzlichkeit zu stellen, sondern – wie alle reformatorische Ethik – nicht als Bedingung, sondern als Konsequenz christlicher Freiheit zu beschreiben.
73
Herms (2010), 38f. WA 7, 32. 75 Vgl. WA 7, 21. Inwiefern das Evangelium selbst aber eine strukturierende Kraft ausübt, ist in der protestantischen Theologie eine durchaus offene Frage. Führt das Evangelium eher zu einer strukturierten Einheit oder zu einer erhöhten Pluralität? Auf diese Spannung hat Hermelink hingewiesen: „Strittig ist die Frage, ob die Vielfalt subjektiver Zugänge durch das Evangelium gesteigert wird, wie Gräb behauptet, oder ob das Evangelium jene Vielfalt strukturiert, ja reguliert (Herms) und kommunikativ vermittelt (Huber).“ Vgl. Hermelink (2000), 97. In letzter Konsequenz liegt hier mit Hermelink auch eine unterschiedliche Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium vor. Vgl. ebd., 99: „Bewirkt der Glauben an das Evangelium die Erfüllung des vorgegebenen Gesetzes, oder muss er dieses Gesetz überschreiten, um seine individuelle ‚Selbsttätigkeit‘ zu realisieren?“ 76 Huber (1978), 783. 77 Vgl. Huber (1998), 128ff; 179ff. Huber (2008), 146-176, besonders: 151f, 172. Vgl. Hermelink (2000), 56. 74
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Teil II1: Theologische Grundlagen von Führen und Leiten
e) In letzter Konsequenz liegt hier jedoch die bekannte „Spannung zwischen Vision und Wirklichkeit“78 vor und ist verbunden mit dem hermeneutischen Problem der Autorität von Schrift und Bekenntnis. Innerhalb dieses Spannungsverhältnisses vermag m.E. eine Position zu überzeugen, wie sie z.B. Schneider und Lehnert vorlegen. Grundsätzlich halten sie an dem der Gemeinde in der Schrift gegebenen Auftrag fest, auch wenn viele Kirchenmitglieder nicht partizipieren möchten.79 Dennoch sollten die Erwartungen der Mitglieder nicht ignoriert, sondern konstruktiv aufgenommen werden. Darüber hinaus vermag der empirische Einwand auch nur zu überzeugen, wenn man ihn mit dem historischen und/oder pistologischen Einwand verbindet. Für sich allein genommen bildet er einen naturalistischen Fehlschluss. Darum ist jenem Argument zu widersprechen, wonach die Taufe die Praxis eines jeden Kirchenmitgliedes prinzipiell theologisch positiv qualifiziere, auch weil es der Rede von der Kirche als corpus permixtum keinerlei Rechnung trägt.
Fazit: Dieser Abschnitt hat die in Schrift und Bekenntnis begründete Normativität einer regelmäßigen Partizipation von Christen an einer Sozialgestalt des Glaubens herausgearbeitet. Damit ist gleichsam auch die Aufgabe ihrer Steuerung, Leitung und Führung einer solchen Sozialgestalt gegeben. Das gilt es in Annahme spätmoderne Lebenswirklichkeit kybernetisch zu durchdenken, wie es dem Duktus der vorliegenden Arbeit auch zugrunde liegt. Offen – und keinesfalls leicht zu beantworten – ist dabei noch die Problematik, was Regelmäßigkeit hinsichtlich Dauer und Frequenz von Partizipation genau bedeutet. Die in der fünften These formulierte Problematik lässt jedoch in der grundsätzlichen Fragestellung keinen Konsens in der praktischtheologischen Diskussion wahrscheinlich werden. Vielleicht kann aber darin ein Konsens bestehen, gegenseitig anzuerkennen, dass die Verhältnisbestimmung von Christsein und Gemeinschaft beeinflusst, ob, in welchem Umfang und in welcher Art Führung und Leitung in der Kirche notwendig ist.
78
Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 118. Vgl. Schneider / Lehnert (2011), 69; Lehnert (2012), 158: „Die entscheidende Frage ist: Soll Kirche von den Erwartungen der Menschen oder vom Auftrag Christi her agieren? Theologisch müsste dies eigentlich klar sein.“
79
16. Ist Leitung coram hominibus erlaubt? Die Wahrheitsfrage in der Kybernetik
Leitung ist per definitionem Beeinflussung. Genauer gesagt, sie ist gezielte Beeinflussung. Wer aber jemand anderen beeinflussen möchte, der versucht mit eben jener Beeinflussung eine Veränderung beim Gegenüber herbeizuführen. Diese Veränderung vollzöge sich ohne jenen leitenden Impuls so nicht. Leitung zielt damit auf eine Wirkung beim Gegenüber ab, welche dieser selbst nicht herbeiführen kann oder möchte. Darum impliziert Leitung strukturell den Subtext „Ich weiß besser als Du, was gut für Dich ist.“ – und wenn dieser Subtext auch noch so schwach ausgeprägt sein mag. Leitung hat einen Wahrheitsanspruch. Diesen Satz mag der spätmoderne Mensch jedoch nur ungern hören. Und in der Tat liegt hier ein Problem vor: Setzt gezielte Steuerung von Menschen nicht eine Unmündigkeit voraus, die den demokratischen Idealen von Freiheit und Selbstbestimmung widerspricht? Wie kann sich eine Führungskraft darüber hinaus sicher sein, dass ihr leitender Impuls überhaupt „richtig“ ist? Darüber hinaus verschärft sich die Problematik aus evangelischer Perspektive zusätzlich aufgrund des Theologumenons vom Allgemeinen Priestertum. Denn hiernach haben alle Christen einen prinzipiell gleich unmittelbaren Zugang zu Gott, seiner Wahrheit und seinem Willen. Man kann darum natürlich den Versuch unternehmen, auf gezielte Beeinflussung zu verzichten. Dann wäre Leitung wohl nur noch Moderation. Dem gegenüber wird in diesem Kapitel nun zu prüfen sein, ob Leitung jedoch mehr sein kann als Moderation, nämlich – in welcher Form und Intensität auch immer – die Vorgabe einer Richtung. Dabei sei bereits im Vorfeld zugestanden, dass wir gerade in dieser Fragestellung auf m. E. unauflösbare Aporien stoßen werden. Sie bedürfen durchaus umfassendere Bearbeitungen, die wir hier in dieser Ausführlichkeit nicht leisten können. Denn zugegebenermaßen wir hier ein sehr weites Feld von Fragen eröffnet, die zwar zahlreiche Schnittmengen aufweisen, jedoch eine unüberschaubare Vielzahl von Einzelproblemen umfassen. Denn nicht in jeder Leitungsfrage geht es gleich immer um die Wahrheit. So ist wohl die Frage nach der Farbe des neuen Kirchenbusses wohl schlicht und einfach eine Frage der Sachgemäßheit oder vielleicht noch weniger als das, eine Frage der persönlichen Präferenzen. Jedoch mischen sich in der gemeindlichen Leitungspraxis oftmals die Ebenen der letzten Wahrheiten, des Sachgemäßen und der persönlichen Vorlieben. Und dies ist nun in der Tat das Herausfordernde.
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Teil II1: Theologische Grundlagen von Führen und Leiten
Das Problem stellt sich aber nicht nur der theologischen Kybernetik. Auch die nichttheologische Führungsforschung kennt es in Grundzügen, wenn auch nicht mit gleich ausgeprägtem Problembewusstsein.1 Eine höhere Sensibilität an dieser Stelle könnte dann auch der Beitrag der Theologie in einem interdisziplinären Diskurs mit den Führungswissenschaften sein. 16.1. Von der Unmöglichkeit, nicht zu leiten Bisher war von gezielter Beeinflussung die Rede. Im Hintergrund steht dabei jedoch das im kirchlichen Kontext oftmals tabuisierte2 Phänomen der Macht.3 Denn Macht lässt sich mit Jeffrey Pfeffer definieren „as the potential ability to influence behavior, to change the course of events, to overcome resistance, and to get people to do things that they would not otherwise do“.4 Macht und gezielte Steuerung sind somit unlösbar miteinander verknüpft, insofern das Vorhandensein von Macht überhaupt erst die Möglichkeit gibt, das Gegenüber zu beeinflussen. Auf den Zusammenhang von Macht und Wahrheit, respektive Macht und Wissen, hat insbesondere der postmoderne Philosoph Michel Foucault hingewiesen. Er entwickelt dabei weniger eine allgemeine Machttheorie, sondern legt vielmehr eine Analyse vorfindlicher Machtstrukturen vor. Seine Leitfrage lautet: „Wie funktioniert Macht?“ Besonders in Überwachen und Strafen arbeitet Foucault heraus, dass 5 Macht und Wissen in einer Wechselwirkung stehen und einenander bedingen. In einem System werden also spezfische „Wahrheiten“ generiert, die letztendlich dazu dienen, die in diesem System vorhandenen Machtstrukturen zu festigen. Jedes System bilde dabei bestimmte Strukturen aus, nach denen „wahre Aussagen“ generiert 6 werden. Es gibt nach Foucault damit kein „objektives Wissen“, das frei von Machtstrukturen und –interessen wäre. Es sei eine Unmöglichkeit, Wahrheitsfragen unabhängig von den Machtbeziehungen, in denen das fragende Subjekt steht, zu beantworten. Darin bricht Foucault mit dem vermeindlich „objektiven“ Wissenschaftsverständnis von Humanismus und Aufklärung. Foucaults Ansatz mag uns verdeutlichen: In 1 So beinhalte Führung nach Northouse das Treffen zahlreicher Entscheidungen. Dabei müsse dann „das Richtige“ getan werden. Aber was ist „das Richtige“? Deshalb gebe es einen starken Zusammenhang von Führung und Ethik: “In any decision-making situation, ethical issues are either implicitly or explicitly involved.” Northouse (2013), 424. Dabei stehe man vor der offenen Frage: “How do you choose what a better set of moral values is?” ebd., 430. 2 Vgl. Breitenbach (1994), 306. 3 Zum Phänomen der Macht: Vgl. Müller-Weißner (2003), 137-142; Steyrer (2009), 33-39; Böhlemann / Herbst (2011), 77-82; Preul (2008), 8-13. 4 Pfeffer (1992), 30. 5 Vgl. Foucault (1976), 39. 6 Vgl. Foucault (1978), 51: „Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre allgemeine „Politik der Wahrheit“ [...]. Vgl. ebd., 53: Wahrheit sei „das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird“ [...].
16. Ist Leitung coram hominibus erlaubt?
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Leitungsfragen sind Wahrheit und Macht untrennbar miteinander verknüpft. Offen bleibt jedoch die Frage, wie mit dieser engen Verflechtung umzugehen ist.
Die Thematisierung des Phänomens Macht bietet für die Leitungsfrage einen ersten Gewinn. Denn im Kontext von Macht wird immer wieder beobachtet, dass prinzipiell jeder Mensch über Macht verfügt, wenn auch in unterschiedlichem Maße.7 So hat etwa jeder Mitarbeiter die Macht, Informationen zurückzuhalten oder die Arbeit heimlich zu verweigern.8 Das Vorhandensein von Macht lässt sich demnach nicht vermeiden. Jeder Mensch hat Macht und damit prinzipiell die Fähigkeit, andere zu beeinflussen. Die Frage ist damit nicht mehr, wie das Vorhandensein von Macht verhindert werden kann, sondern wie die Ausübung von Macht sich in geregelten und transparenten Bahnen vollziehen und Missbrauch abgewendet werden kann. Die Fragen von Macht und Leitung sind also auf das Engste miteinander verbunden. Über Leitung lässt sich deshalb nun in Anlehnung an Paul Watzlawick sagen: „Man kann nicht nicht leiten.“ Diese Beobachtung machte auch Dee Hock hinsichtlich von Beeinflussung. “There is no moment in time when our words and deeds are not influencing everyone around us and when theirs are not influencing us.”9 Auch Beeinflussung lässt sich also nicht vermeiden. Das Gegenteil ist sogar der Fall. Wer gezielte Beeinflussung für den kirchlichen Kontext ablehnt und sich auf bloße Moderation zurückzieht, der verschleiert nur das Vorhandensein von Beeinflussung und öffnet damit oftmals unkontrollierter Beeinflussung und einem damit potentiell einhergehenden Machtmissbrauch Tor und Tür. Meyer-Blanck fasst es ähnlich zusammen: „Das Ignorieren oder gar das Verweigern von Leitungsrollen führt zu Unklarheiten und kostet wertvolle Zeit. Man kann nicht nicht leiten. […] Wer nicht leitet, sorgt dafür, dass die jeweilige Leitungsform bestehen bleibt oder dass sich derjenige/diejenige mit den stärksten Geltungsansprüchen durchsetzt.“10 Damit entpuppt sich also ein Bild von Kirche als einem machtfreien Raum als Mythos.11 Leitung kann also nicht auf Beeinflussung verzichten. Darüber hinaus, bzw. als Konsequenz dessen ist mit Leitung auch eine strukturelle Asymmetrie verbunden, wie gering auch immer sie ausgeprägt sein mag. So beschreibt es auch Wegner: „Der Ausgangspunkt einer Leitungsbeziehung ist ein Machtgefälle. Leitende haben mehr Macht als Geleitete – allerdings kann sich dieses Gefälle durchaus auch im Sinne 7 Vgl. Müller-Weißner (2003), 137. In diesem Zusammenhang ist auch auf Karles Beobachtung, dass Macht in einem System kein Nullsummenphänomen darstellt, hinzuweisen. 8 Vgl. Greenleaf (2002), 115. 9 Hock (2002), 317. 10 Meyer-Blanck (2007), 509. 11 Vgl. Müller-Weißner (2003), 27f.
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eines dialektischen Spiels umkehren.“12 Asymmetrien in einer Beziehung gegenseitiger Beeinflussung lassen sich also bei Leitung nicht vermeiden. Das gilt strukturell auch für defensiv ausgerichtete Leitbilder von Leitung, wie oben am Beispiel von Petry und dem Leitbild vom „Helfer zur Freude“ gezeigt wurde (ա3.2.). Macht, Asymmetrien, Beeinflussung und Leitung – all das ist miteinander verbunden und lässt sich nicht verhindern, sondern nur verantwortungsvoll gestalten. 16.2. Was ist Wahrheit? Auseinandersetzung mit konstruktivistischen Perspektiven Doch werden wir die Problematik weiter vertiefen und uns an diesem Ort die alte theologische Frage „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38) stellen müssen. Jener erkenntnistheoretische Exkurs über die Wahrheitsfrage mag in diesem kybernetischen Kontext womöglich unnötig erscheinen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Denn Leitung steht nicht nur regelmäßig vor der Aufgabe, „richtige“ gegenüber „falschen“ Entscheidungen zu präferieren, das Thema stellt sich vielmehr vom Wesen der Systemischen Leitung selbst. Denn jene die praktisch-theologische Kybernetik so dominierenden systemischen Ansätze haben ihre Wurzeln in einem konstruktivistischen Wahrheitsverständnis, auch wenn sich die jeweilige Form des Konstruktivismus (operativer, radikaler usw.) von Fall zu Fall unterscheiden vermag. Das konstruktivistische Weltbild ist ein Grund, warum in systemischen Konzepten meist auf gezielte Steuerung verzichtet wird und der Moment der Moderation dominiert. Denn normativen Ansprüchen wird hier mit Skepsis begegnet. Siebert beschreibt die handlungsleitende Konsequenz des Konstruktivismus wie folgt: „Mit der Kritik an Wahrheitsansprüchen ist eine Distanzierung von normativen Ethiken und Pädagogiken verbunden. Zwar sind nicht alle Wirklichkeitskonstruktionen in gleicher Weise vernünftig und sozialverträglich, aber eine moralisch belehrende Haltung ist kaum zu begründen.“13 Eine theologische Kybernetik wird an dieser Stelle kritisch prüfen müssen, ob und inwiefern sie ein konstruktivistisches Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnis übernehmen kann und welche Konsequenzen eine etwaige kritische Distanzierung vom Konstruktivismus wiederum für ihren eigenen systemischen Ansatz ergibt.14 Dennoch handelt es 12
Wegner (2007), 187. Siebert (2006), 57. 14 Eine solche konstruktiv-kritische Verhältnisbestimmung zu der Theologie fremden Paradigmen wurde unter 13. grundsätzlich dargelegt. Es ist eine wesentliche Leistung der Dissertation von Christoph Meyns auf zahlreiche Probleme bei der Rezeption des ökonomischen Paradigmas kirchlicherseits hinzuweisen. Umso 13
16. Ist Leitung coram hominibus erlaubt?
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sich hierbei keineswegs um eine ausschließlich kybernetische Problematik. Vielmehr tritt die gleiche Anfrage in anderen Formen auch in weiteren theologischen Themenfeldern auf, etwa in der MonotheismusDebatte,15 der Diskussion um eine pluralistische Religionstheologie,16 dem Wahrheitsbegriff der Postmoderne,17 der Frage nach Häresie und Orthodoxie18 oder der Rezeptionsästhetik.19 Insofern stehen wir hier im Rahmen einer viel größeren Auseinandersetzung und werden darum auch Erkenntnisse anderer theologischer Disziplinen fruchtbar machen können. Die Relevanz der Fragestellung ist dabei nicht zu unterschätzen. Härle bringt es mit dem folgenden Bild zum Ausdruck: „Das Wahrheitsverständnis ist insofern so etwas wie das Vorzeichen vor der Klammer, innerhalb derer jede Kommunikation stattfindet.“20 Aber was ist Wahrheit überhaupt? Seit Thomas von Aquin wird Wahrheit als Übereinstimmung zwischen res und intellectus verstanden. Dies wird auch die Korrespondenztheorie oder mit Härle Adäquanztheorie (adaequatio intellectus ad rem) genannt.21 Unsere Auffassungen sind also dann wahr, wenn sie mit der Sache, auf die sie sich beziehen, übereinstimmen. Diese klassische Sichtweise auf Wahrheit wird jedoch gegenwärtig problematisiert. Es wird gerade auch aus konstruktivistischer Sicht bezweifelt, dass intellectus und res überhaupt übereinstimmen können, da es sich bei beidem um zwei gänzlich verschiedene Entitäten handle.22 Die konstruktivistische Alternative liegt in weiten Teilen in dem, was mit Härle als Kohärenztheorie bezeichnet werden kann.23 Die Wahrheitsfrage wird dabei ganz auf die Ebene des intellectus reduziert. Die Ebene des res wird ausgeklammert. Es ist für Wahrheit ausreichend, wenn sie auf der Ebene des intellectus stimmig, also kohärent ist. Damit sind ontologische Aussagen in klassischer Form nicht mehr möglich.24
erstaunlicher ist es, dass er im Anschluss das systemische Paradigma nahezu kritiklos für den kirchlichen Kontext übernimmt. Vgl. Meyns (2013), 189-232. 15 Vgl. Assmann (2003); Marquard (1981), 91-116. Als theologische Replik: Vgl. Hempelmann (2008). 16 Vgl. Hick (2002); Schmidt-Leukel (2005), 163-192. 17 Vgl. Lyotard (1994); Vattimo (1986); Foucault (1978) .Vgl. auch Siebert (2006), 52: „Zwischen der Sozialphilosophie der Postmoderne und der Erkenntnistheorie des Konstruktivismus besteht eine Affinität.“ 18 Vgl. McGrath (2009), 1-13. 19 Vgl. Giebel (2009), 309ff. 20 Härle (2009), 62. 21 Vgl. ebd., 63-66. 22 Vgl. Dabrock (2009), 100-110. 23 Vgl. Härle (2009), 67f. Ein weiterer Strang des Konstruktivismus scheint jedoch eher der Konsenstheorie anzuhängen, die unten dargelegt wird. 24 Dass es Wirklichkeit gibt, wird dabei keineswegs bestritten, nur dass der Mensch diese quasi objektiv erfassen könne. Vgl. Siebert (2006), 49f.
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Ein solches Wahrheitsverständnis lässt sich nun für zahlreiche systemische Entwürfe ausmachen. So vertritt etwa Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie einen Konstruktivismus und verzichtet auf einen normativen Ausgangspunkt. 25 Ein wesentliches Postulat Heinz von Foersters lautet: „Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist 26 unsere Erfindung.“ Des Weiteren sei Wahrheit die Erfindung eines Lügners, da mit Wahrheitsansprüchen seiner Meinung nach stets totalitäre Machtansprüche 27 verbunden werden. Auch Humberto Maturana hält alle Wahrheitsaussagen für relativ und „willkürlich akzeptiert“28. Er schreibt: „Da jedoch lebende Systeme selbstreferentielle Systeme sind, ist jeder endgültige Bezugsrahmen notwendigerweise ein relativer. Aus diesem Grunde ist kein absolutes Wertesystem möglich und alle Wahrheit und Falschheit im kulturellen Bereich ist notwendigerweise relativ.“29 Ähnliches vertritt auch Paul Watzlawick.30 Auch in neueren systemischen Entwürfen liegt meist ein konstruktivistisches Wahrheitsverständnis vor. So müsse nach Scharmer bei systemischen Steuerungsprozessen ein Abdriften in den „sozia31 le[n] Raum der Antiemergenz“ verhindert werden. Hier finde eine Erstarrung hin zum Fundamentalismus statt, welcher sich unter anderem dadurch auszeichne, nur eine Wahrheit zu kennen. Ein spezifisch religiöser Fundamentalismus sei dann „der Glaube an einen allmächtigen, allwissenden und allgegenwärtigen Gott (eine Sprache, eine Wahrheit)“.32 Ein konstruktivistisches Weltbild wird teilweise auch in der 33 theologischen Rezeption übernommen, etwa von Müller-Weißner oder Bernhard Petry, wenn er gegenüber Josuttis festhält, Wahrheit könne nur durch Interaktion 34 und Diskurs entstehen.
In vielerlei Hinsicht ist ein konstruktivistisches Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnis für die kybernetische Praxis in Kirche und Gemeinde bereichernd. Denn somit lässt sich etwa erklären, warum in einer konkreten Sachfrage divergierende Meinungen und Auffassungen nebeneinanderstehen können. Ebenso gebietet eine konstruktivistische Perspektive mehr Vorsicht und warnt davor, die eigene Auffassung vorschnell als die einzig richtige zu identifizieren, was Leitungsverantwortliche potentiell korrigierbarer und offenerer macht. Dennoch gilt es bei aller prinzipiellen Bejahung auch auf einige Schwächen und Unstimmigkeiten jener konstruktivistischen Perspektive hinzuweisen. a) Die Existenz von Wahrheitsansprüchen ist in letzter Konsequenz nur schwer vermeidbar Ein konstruktivistisches Wirklichkeitsverständnis läuft Gefahr, mit einem gewissen Selbstwiderspruch einherzugehen und so schnell einer 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34
Vgl. Luhmann (1990), 31-58. Foerster (1985), 25. Vgl. Foerster / Pörksen (2008). Maturana (1985), 80. Ebd. Vgl. Watzlawick (2006), 25-62. Scharmer (2011), 250. Ebd. Vgl. Müller-Weißner (2003), 150-152. Vgl. Petry (2002), 99.
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reductio ad absurdum zu erliegen. So ließe sich kritisch rückfragen, ob nicht ein Verbot von Wahrheitsansprüchen in der Kybernetik selbst stets mit einem gewissen Wahrheitsanspruch einhergehe. Peter Berger hat dieses Argument strukturell ähnlich bereits vor Jahrzehnten für ein relativistisches Wahrheitsverständnis so formuliert: „Eine der vielleicht im buchstäblichen Sinne versöhnlichen Möglichkeiten der Soziologie für das Denken ist, daß ihre Relativierungen, wenn man sie zu Ende denkt, sich gegen sich selber wenden. Die Relativierer selbst werden relativiert, die Demaskierer demaskiert, ja, es kommt zu einer Art Selbstliquidation des Relativierens.“35 Anders ausgedrückt: Die adaequatio von intellectus und res ist ja selbst eine Sache (res). Die Aussage jedoch, intellectus und res könnten nicht übereinstimmen (adaequatio), ist damit dem Eigenanspruch nach selbst eine adaequatio intellectus ad rem. Damit liegt nun ein Selbstwiderspruch vor. Auf diesen Aspekt hat insbesondere Jürgen Habermas in Auseinandersetzung mit Michel Foucault hingewiesen. Habermas stellt die Selbstwidersprüchlichkeit von Foucaults Machtanalye heraus. Wenn alles Wissen einer Machtstruktur folge, dann gelte das auch für Foucaults eigenen Beitrag. Hebermas formuliert es so: „Der Sinn von Geltungsansprüchen besteht also in den Machtwirkungen, die sie haben [...], diese Grundannahme der Theorie [ist] selbstbezüglich; sie muß, wenn sie zutrifft, 36 die Geltungsgrundlage auch der von ihr inspirierten Forschungen zerstören.“
Diese Einsicht lässt sich auch für die kybernetische Praxis beispielhaft fruchtbar machen und an einem Beispiel verdeutlichen. In einer schwierigen und konfliktreichen Entscheidungssituation wird womöglich die Aussage „Niemand liegt in dieser Frage vollständig richtig“ getroffen. Die Aussage mag durchaus hilfreich und der Gesprächssituation förderlich sein, man sollte sich jedoch bewusst machen, das sie selbst eine Wahrheitsaussage beinhaltet, die beeinflussend wie steuernd wirkt und eine Form von Machtausübung gegenüber den Konfliktparteien darstellt. Darüber hinaus zeigt ein Blick in die Praxis auch, dass viele Akteure bei einer grundsätzlichen Bejahung eines konstruktivistischen Wahrheitsverständnisses dieses jedoch besonders in ethischen Extremsituationen nicht durchhalten. Gerade hier gerät es an seine Grenzen. So werden viele eine nationalsozialistische Ideologie nicht als einen gleichberechtigten Zugang zu Welt und Wirklichkeit betrachten, sondern diese als „an sich“ falsch ansehen und daraus für den Umgang auch die nötigen Konsequenzen ziehen. Ein solches Beispiel mag verdeutlichen, dass es für viele kybernetische Protagonisten de facto einen Bereich gibt, in dem sie durchaus zwischen wahr und unwahr zu unterscheiden vermögen. Oftmals ist die Frage also nicht, ob überhaupt zwischen Richtig und Falsch unterschieden werden kann, sondern in welchem 35 36
Berger (1970), 67. Habermas (1985), 328.
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Fall eine solche Unterscheidung zulässig ist und in welchem nicht. Darum ist es eine kybernetische Aufgabe, diese Frage für sich zu reflektieren und das Ergebnis jener Reflexion gegenüber den Geleiteten transparent zu machen. b) Die Rede von Wahrheit ist für den christlichen Glauben in manchen Fragen von höchster Relevanz Es ist keineswegs ein Adiaphoron, ob praktisch-theologische Kybernetik ein konstruktivistisches Wahrheitsverständnis kritiklos übernimmt oder nicht. So hob schon Luther gegenüber Erasmus in de servo arbitrio die hohe Relevanz von Wahrheiten für den christlichen Glauben hervor37 und kritisierte Erasmus für seine Skepsis.38 Für Luther entscheidet sich das Christentum an den Wahrheitsbezeugungen, den assertiones (Tolle assertiones, et Christianismum tulisti).39 Assertio aber definiert Luther als „beständig anhängen, bekräftigen, bekennen, beachten und unerschütterlich ausharren“40. Luther geht es dabei um die Heilsgewissheit, die er hier bedroht sieht. Der Mensch muss sich auf die feste Zusage Gottes verlassen können. Deswegen sei auch Gott selbst die Skepsis fremd und sein Heiliger Geist schenkt dem Menschen keine Zweifel, sondern feste Gewissheiten.41 Für Martin Luther existieren also Bereiche, in denen es für Menschen erkennbare Wahrheiten oder feste Gewissheiten gibt, gerade in Heilsfragen. Dennoch ist eine weitere Differenzierung nötig. c) Feste Gewissheiten (assertiones) sind nicht in jedem Fall möglich und vonnöten Hierin besteht das notwenige Korrektiv eines konstruktivistischen Ansatzes. Denn man wird in der Kybernetik unterscheiden müssen, zwischen solchen Fragen, in denen es verschiedene Wahrheiten geben darf und solchen in denen es nur eine letzte Wahrheit im theologischen Sinne gibt. Auf diese Unterscheidung hatte Luther selbst bereits aufmerksam gemacht. Feste Meinungen dürfe man eben nur in solchen Dingen
37 Vgl. Hermann (1958), 8-17. Nach Seeberg unterscheiden sich Luther und Erasmus nicht zuletzt in ihrem Wahrheitsverständnis: „Dem professoralen Wahrheitsbegriff tritt hier der prophetische entgegen, mit seiner ganzen Intoleranz, aber auch mit der vom Geist entzündeten Sicherheit seiner Gewissheit.“ Seeberg (1929), 66. 38 Vgl. WA 18, 603: „Absint a nobis Christianis Sceptici et Academici. Assint vero vel ipsis Stoicis bis pertinaciores assertores […]“ Vgl. Ebd., 787. 39 Ebd. 40 Ebd. Diese und folgende deutsche Übersetzungen nach Athina Lexutt sind der lateinisch-deutschen Studienausgabe entnommen. Vgl. Luther (2006), 227. 41 Vgl. Ebd., 605: „Spiritus sanctus non est Scepticus, nec dubia aut opinions in cordibus nostris scripsit, sed assertiones ipsa vita et omni experiential, certiores et firmiores.“
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haben, „die uns in der Heiligen Schrift durch Gott überliefert sind.“42 Sie woanders zu haben, sei „nicht nur dumm, sondern darüber hinaus auch gottlos“.43 Begrifflich ließe sich hierbei an die Unterscheidung Härles und Dabrocks anschließen, die zwischen einer „Wirklichkeitswahrheit“ und „Sachverhaltswahrheiten“ differenzieren.44 Für jene zweiten Sachverhaltswahrheiten könnte dann durchaus eine konstruktivistische Perspektive, die mit dem Vorhandensein verschiedener Wahrheiten rechnet, angenommen werden. Diese Unterscheidung ist zwar wichtig, jedoch nur idealtypisch. Denn in der kirchlichen Leitungspraxis vermischen sich oftmals beide Ebenen. So ist wohl die Frage nach der Anschaffung eines neuen Kirchenbusses wohl eher eine Sachverhaltswahrheit. Sie kann sich jedoch auch mit einem theologischen Kernanliegen wie der „Bewahrung der Schöpfung“ verbinden. Hinzu kommt, dass es auch bei gänzlich atheologischen und „weltlichen“ Entscheidungen solche gibt, bei denen es nicht die eine Wahrheit gibt und solche, wo es eine Wahrheit gibt. Eine Bilanz ist entweder richtig oder falsch gemacht, sofern sie nicht aufgeht. Im Anschluss an Dabrock wird man deshalb zwischen Wirklichkeitswahrheit und Sachverhaltswahrheiten keinen zu starken Gegensatz etwa im Sinne einer Zwei-Reiche-Lehre konstruieren dürfen.45 Härle unterstreicht die Relevanz der letzten Wahrheit auch für die Sachverhaltswahrheiten: „Dieser Fundamentalirrtum im Blick auf die Wirklichkeitswahrheit ist seinerseits ebenfalls eine Art Vorzeichen vor der Klammer aller dem Menschen erschlossenen oder nicht erschlossenen Tatsachenwahrheiten.“46 Aber auch eine Absorption aller Sachverhaltswahrheiten durch die Wirklichkeitswahrheit erscheint ungeeignet.47 Ihr Verhältnis erscheint somit ungetrennt und unvermischt. Kirchliche Kybernetik wird somit eine gewisse Entschlossenheit hinsichtlich der Wirklichkeitswahrheit zeigen dürfen. Dies meint konkret die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade durch Glauben um Christi Willen in der Dynamik von Gesetz und Evangelium. In einem zweiten und abgeleiteten Sinne, wird sie jedoch auch um Gestaltungsformen von Gemeinde streiten dürfen, die eben jene erste Wirklichkeitswahrheit zum Ausdruck bringt oder eben nicht (ա 13.). Insgesamt kann m. E. an einer Korrespondenztheorie der Wahrheit festgehalten werden.48 Der Glaube ist mit Härle ein Vertrauen, das eben 42
Luther, Der Mensch vor Gott, 227. Ebd. 44 Vgl. Härle (2009), 76. Härle spricht statt Sachverhaltswahrheiten jedoch von Tatsachenwahrheiten. Vgl. Dabrock (2009), 95f. 45 Vgl. ebd., 96. 46 Härle (2009), 79. 47 Vgl. Dabrock (2009), 96. 48 Vgl. Härle (2009), 70-76. Härle argumentiert dabei von der Semiotik nach Peirce her, die sich gegenüber anderen semiotischen Ansätzen vor allem dadurch auszeichne, dass sie von einem „dynamischen Objekt“ ausgehe. 43
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auf Wahrheit basiere.49 Diese Wahrheit erschließe sich dem Menschen jedoch nicht durch eine eigene Leistung, sondern – theologisch gesprochen – durch Offenbarung. Die letztgültige Gestalt jener Offenbarung ist nun aber die in Jesus Christus. Von diesem wiederum können wir allerdings nur durch den Heiligen Geist wissen. Soweit können wir Härle folgen. Wir werden aber noch einen Schritt darüber hinausgehen können. Denn jener Geist ist nach reformatorischem Verständnis nun an die Heilige Schrift gebunden.50 Damit führt die Frage, woran Kybernetik messen kann, welcher Wahrheitsanspruch der richtige ist, zur Frage nach der Heiligen Schrift. 16.3. Leitung durch die Heilige Schrift Die Bibel hat für die Kirchen der Reformation schon immer eine herausragende Bedeutung gehabt. Sie verstehen sich selbst sogar als eine Kreatur des Wortes.51 Deshalb hat auch evangelische Kybernetik der Heiligen Schrift stets eine besondere Bedeutung zugemessen. In der Zeit des Kirchenkampfes ist das unter anderem von Hans Asmussen hervorgehoben worden: „Denn nur mit dem Wort läßt sich die Gemeinde führen und leiten.“52 Nach Joh 10 sei die Gemeinde als Herde nur verpflichtet der Stimme ihres Hirten Christus zu folgen. Diese Stimme müsse im kirchlichen Leitungshandeln hörbar sein. Ansonsten gelte: „Hört sie diese Stimme nicht, dann ist sie auch nicht schuldig zu folgen. Hört sie gar die Stimme eines Anderen, dann ist sie schuldig, nicht zu folgen.“53 Für das Gelingen von kirchlichen Steuerungsprozessen ist deshalb die Klärung hermeneutischer Grundfragen eine zentrale Voraussetzung.54 49
Vgl. ebd., 74. So hat es Luther immer wieder gegen die „Schwärmer“ betont. Vgl. WA 18, 37-214, 136. 51 Vgl. WA 2, 430. Die Kirche ist jedoch creatura verbi und nicht creatura sacrae scripturae. Der Begriff des Wortes geht deutlich über den der Heiligen Schrift hinaus. Dennoch wird man beides nicht gegeneinander ausspielen können. Das Wort bleibt auf die Schrift bezogen. 52 Asmussen (1935), 37. Vgl. auch ebd., 8. Sicherlich ist der Begriff des Wortes bei Asmussen nicht mit der Bibel gleichzusetzten, bleibt aber dennoch eng auf die Schrift bezogen. Vgl. ebd., 12. Für weitere Anmerkungen zur Bedeutung der Heiligen Schrift für die Kirche. Vgl. Asmussen (1969), 7-22. 53 Asmussen (1935), 37. 54 Grundfragen der Schrifthermeneutik können und müssen hier nicht ausführlich diskutiert werden. Ziel der folgenden Ausführungen ist es vielmehr die Interdependenzen von Kybernetik und Schrifthermeneutik aufzuzeigen. Eine Verhältnisbestimmung jener beiden Kategorien wird nun vorgenommen. Sie vollzieht sich in dem Bewusstsein, dass dies auch in anderer Form geschehen könnte, weshalb das Folgende nur exemplarischen Charakter besitzt. Die vorliegende Arbeit orientiert sich in Summe an einem klassisch-lutherischen Schriftverständnis, wie es etwa von 50
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Darum ist in gewisser Hinsicht an dieser Stelle auch Grethlein Recht zu geben, wenn er den Pfarrberuf im Wesentlichen als einen theologischen Beruf bestimmt. So braucht es gute Theologen und differenziert denkende Hermeneuten, welche die Heilige Schrift für Leitungsentscheidungen fruchtbar machen und differenzieren können, in welcher Frage es um Wirklichkeits- oder Sachverhaltswahrheiten geht. Grundlage für die Autorität der Heiligen Schrift in kirchlichen Leitungsprozessen bildet jedoch die reformatorische Rede von ihrer Klarheit. Auf dieses enge Verhältnis von sola scriptura und claritas scripturae hat bereits Notger Slenczka hingewiesen: „Die Voraussetzung dafür, dass die Schrift Norm und Richtschnur aller Ausleger ist, liegt darin, dass sie selbst unabhängig von allen Auslegern ihren eigenen Sinn zur Geltung bringen kann. Nur dann, wenn die Schrift keiner Interpreten bedarf, wenn sie sich selbst erklärt, nur dann steht sie als Richterin und Norm jeder menschlichen Auslegung gegenüber.“55
Die Bibel kann nur Richtschnur sein, wenn sie in ihren Aussagen grundsätzlich klar ist. Jene Klarheit wird heutzutage jedoch mehr und mehr problematisiert. Es wird verstärkt auf die Vielstimmigkeit und Pluralität hingewiesen, die sich in der Bibel selbst findet. Daraus werden dann in der Regel auch Konsequenzen für ihre Normfunktion gezogen. Kybernetische Norm ist dann nicht mehr die Heilige Schrift selbst, sondern der Diskurs, der anhand und mit der Bibel stattfindet. So wird etwa bei Hauschildt und Pohl-Patalong die Bindung an die Schrift auf das Prinzip des Dialogs fokussiert.56 Implizit leitend scheint hier ein Verständnis von Diskursethik im Anschluss an Jürgen Habermas zu sein. Dadurch begegnet an dieser Stelle erneut die Frage, die oben bereits hinsichtlich des Wahrheitsbegriffes erläutert wurde. Denn auch hier wird eine Korrespondenztheorie der Wahrheit abgelehnt. Ausgangs-
Hermann Sasse dargestellt wurde. Vgl. Sasse (1981), 203-244. Der Ansatz Sasses ließe sich dann ergänzen um die Rede von der Kenosis, wie es bspw. Heinzpeter Hempelmann im Anschluss an Johann Georg Hamann in seiner „Hermeneutik der Demut“ dargelegt hat. Vgl. Hempelmann (2002). 55 Slenczka (2000), 58. 56 Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 28: „Doch liegt unseres Erachtens die Pointe vielmehr darin, dass ‚Wort‘ das Prinzip dialogischer selbstverantworteter Kommunikation im Austausch mit dem Wortlaut der Bibel bezeichnet.“ Normativ ist dann die „Interpretation des in der Schrift Gelesenen“. (28). Vgl. ebd., 223: „Gute Interpretation der Bibel und damit die exegetische Tätigkeit ist das, was die Kirche leitet.“ Implizit argumentiert so auch Wilfried Engemann. Vgl. Engemann (2014), 113; 125.
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punkt ist das, was Härle als Konsenstheorie bezeichnet.57 Die Ebene des res wird hierbei ebenfalls ausgeklammert. Wahrheit ist ein Ergebnis des Diskurses und wird in ihrer Normativität darum deutlich geschwächt.58 Oftmals erscheint diese Beobachtung, dass die Bibel Raum für eine Vielzahl von Auslegungsmöglichkeiten bietet, als ein spezifisches Problem unserer Zeit, das besonders im Angesicht von Rezeptionsästhetik und postmoderner Hermeneutik evident wird. Das ist so jedoch nicht der Fall. Schon Luther selbst sah „die Pluralität der Auslegungen wohl kaum weniger deutlich vor Augen, als wir es heute tun.“59 Dennoch hielt er besonders in der Auseinandersetzung mit Erasmus an der Klarheit der Schrift fest.60 Luther unterscheidet hier eine doppelte Klarheit der Schrift von einer doppelten Dunkelheit. Äußerlich, also zum Beispiel bezogen auf die Bedeutung von Worten oder Grammatik, gebe es in der Bibel klare und dunkle Stellen, wobei die dunklen jedoch im Lichte der klaren verständlich werden. Dass die Schrift klar ist und „leicht zugänglich, ganz verständlich“61, begründet damit auch Luthers hermeneutisches Prinzip sacra scriptura sui ipsius interpres.62 Die innere Klarheit nun bezieht sich auf das Herz des Menschen und schenkt die Erkenntnis Christi. Sie kann nur der Heilige Geist schenken. Diese doppelte Unterscheidung gilt es zu beachten. Und dennoch bleibt die Schrift nach Luther grundsätzlich klar: „Denn bei den Christen muss das besonders fest und ganz sicher sein, dass die Heilige Schrift ein geistliches Licht ist, bei weitem klarer als die Sonne selbst, besonders in den Dingen, die sich auf das Heil oder die Notwendigkeit beziehen.“63
Luther identifiziert es als einen hermeneutischen Fehler, diese Klarheit grundsätzlich zu bezweifeln, wie es etwa Erasmus tue.64 Als Konse-
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Vgl. Härle (2009), 68f. Der Unterschied zur der den systemischen Ansätzen in der Regel zugrunde liegenden Kohärenztheorie besteht darin, dass Wahrheit hier nicht im selbstreferentiellen Gehirn entsteht, sondern im interpersonellen Diskurs. 58 So etwa Tanner über Habermas. Vgl. Tanner (2002), 144: „Alle Versuche, substantielle Antworten auf die Fragen nach dem guten und richtigen Leben allgemeinverbindlich zu begründen, müssten als gescheitert betrachtet werden. [...] Vieles könne gesagt werden über die Form von Verständigungsprozessen, wenig aber über die Verbindlichkeit von Inhalten.“ 59 Giebel (2009), 313. Vgl. Rothen (1990), 9; 20. 60 Zum folgenden Gedankengang: Vgl. WA 18, 606-609; 653-660. 61 Luther (2006), 81. Vgl. WA 7, 97. 62 Vgl. Ebd. 63 Ebd., 327. Vgl. WA 18, 653. 64 Vgl. WA 18, 749.
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quenz werde dann auf eine andere Autorität verwiesen – bspw. auf die Kirchenväter – und Menschen werden zu Richtern über die Schrift.65 Wenn die Schrift allerdings klar ist, stellt sich jedoch die Frage, wie die faktische Pluralität an Auslegungen zu erklären ist und warum die claritas scripturae bei Luther eher als ein gewagtes Postulat oder mit Slenczka als „empirisch Unfug“66 erscheint. Demgegenüber kann angeführt werden, dass Dunkelheit weniger Charakteristikum der Schrift als vielmehr Teil der conditio humana ist. Wenn nicht der Heilige Geist ein Verständnis der Schrift öffnet, werden Menschen hören, aber nicht verstehen (Vgl. Mt 13,13).67 Dieser Befund hat für die Leitungsfrage weitreichende Implikationen. Auch wenn Leitung sich an der Schrift orientiert, wird sie damit rechnen müssen, dass sich deren Klarheit nicht allen Menschen im Leitungsprozess eröffnet. Darum lässt sich hier eine Verbindung zu einem anderen systematisch-theologischen Locus ziehen. Leitung muss mit der Realität von Kirche als corpus permixtum (CA VIII) rechnen, selbst wenn sie ihre Entscheidungen nach dem konziliaren Prinzip trifft. In ihr gibt es die homines renati und die homines nondum renati. Auf diese Unterscheidung sollte kirchliche Kybernetik nicht verzichten,68 auch wenn sie in dieser Welt nie trennscharf verwirklicht werden darf. Wohl aber kann und sollte diese geistliche Wirklichkeit mit hoher Sensibilität in kirchlicher Leitungspraxis zur Darstellung gebracht werden.69 Aus diesen Anmerkungen zur claritas scripturae und zur Kirche als corpus permixtum lassen sich nun kybernetische Konsequenzen ziehen. Die Tatsachen, dass die klare Schrift die Norm für eine evangelischlutherische Kybernetik ist und es in der Kirche homines renati et nondum renati gibt, stellen ein wichtiges Korrektiv zum konziliaren Ansatz als Modell kirchlicher Entscheidungsfindung dar. Bei aller grundsätzlichen Bejahung eines demokratischen Charakters von Kirche liegt hier ein gewichtiger Unterschied vor. Kirchliche Kybernetik hört zuerst auf den an die Schrift gebundenen Heiligen Geist und nicht auf Mehrheitsentscheidungen.70 Denn mit Luther gesprochen können auch Konzilien irren. Auch Hauschildt und Pohl-Patalong ziehen eine in der Tendenz ähnliche Konsequenz: „Auch eine einmütig oder mit großer Mehrheit gefällte Entscheidung kann sich als theologisch falsch erweisen. Eine Beschränkung auf ‚Legitimation durch Verfah65 Vgl. 18, 653. Slenczka ordnet auch die Auseinandersetzung mit Johannes Eck in diesen Zusammenhang ein. Vgl. Slenczka (2000), 53ff. 66 Ebd., 60. 67 Vgl. auch: ebd., 78. 68 Vgl. Herbst (2010), 64. 69 Mit dem Begriff der Darstellung bestimmt Hermelink das Verhältnis zwischen geistlicher Wirklichkeit der Kirche und ihrer organisationalen Form. Vgl. Hermelink (2011), 36. 70 Vgl. Sasse (1935), 20.
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ren‘ kann darum nicht das oberste Kriterium für kirchliche Entscheidungsprozesse darstellen.“71
Der Gedankengang lässt sich auch für auf wenige Personen beschränkte Führungsprozesse anwenden. Denn auch hier können verschiedene Wahrheitsansprüche aufeinandertreffen. Gerhard Wegner schlägt in diesem Kontext für geistliche Leitung nun eine Triangulation vor.72 Beide Personen hören auf einen Dritten, auf den Geist Gottes selbst und lassen sich von diesem leiten. Praktisch vollzieht sich das in der gemeinsamen Schriftlektüre, denn der Geist ist an die Schrift gebunden.73 Dieser Abschnitt über die Leitung durch die Heilige Schrift soll nun mit fünf Anmerkungen abgeschlossen werden, welche die vorhergehende Argumentation vor manchen Missverständnissen und Unausgewogenheiten bewahren sollen. 1) In letzter Konsequenz ist Wahrheit nach evangelischem Verständnis eine Person.74 Ansonsten könnte die normative Rolle der Schrift für kirchliche Kybernetik leicht gesetzlich missverstanden werden. Auch wenn Christus und Schrift nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten,75 bleiben Christus und sein Evangelium jedoch selbst die entscheidende Wirklichkeitswahrheit. 2) Auch der durch Christus gerecht gesprochene Mensch bleibt in dieser Welt Sünder. Damit steht auch seine Leitung immer wieder unter der Macht der Sünde.76 Als Sünder trifft er falsche Entscheidungen, vernimmt er das Wort Gottes der Schrift nicht, vertauscht Wirklichkeits- und Sachverhaltswahrheiten usw. Wer in Kirche und Gemeinde Leitungsverantwortung übernimmt, muss bei anderen, aber vor allem bei sich selbst, damit rechnen. 3) Das Mandat zur Korrektur anderer Gemeindeglieder von der Schrift her hat nur eine Person, die sich selbst durch die Schrift korrigieren 71
Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 390. Bei kirchlicher Leitung sei das Wort Gottes ein Gegenüber, auf das auch Synoden gemeinsam hören sollten. Vgl. ebd., 358; 386. 72 Vgl. Wegner (2007), 198. 73 Vgl. WA 7, 97; WA 18, 695; Sasse (1981), 224. 74 Vgl. ebd., 244: „Die Wahrheit ist nicht die Summe der Wahrheiten. Sie ist nicht ein System von Sätzen. Das ist der Wahrheitsbegriff der Philosophie, der seit den Apologeten des 2. Jahrhunderts immer wieder in die Kirche eingedrungen ist. Was Wahrheit im Sinne des Neuen Testaments, im Sinne der ganzen Bibel ist, das kann nur der verstehen, der den sonderbarsten und größten Satz verstanden hat, der jemals auf Erden über die Wahrheit gesagt worden ist: ‚Ich bin die Wahrheit!‘ Die Wahrheit ist eine Person.“ Vgl. auch WA 18, 606: „Tolle Christum e scripturis, quid amplius in illis invenies?“ 75 Vgl. ebd., 220f. 76 Vgl. Asmussen (1935), 21.
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lässt. Das ist die logische Konsequenz aus einem Selbstverständnis von geistlicher Leitung als simul iustus et peccator. Wie sich das konkret-praktisch gestalten ließe, ist die eigentlich schwierige Frage. Hier helfen oberflächliche Lösungen nicht weiter, auf die wir deshalb an dieser Stelle deshalb lieber verzichten. Es bedarf vielmehr einer ausführlichen und behutsamen praktisch-theologischen Reflexion, die freilich noch aussteht. 4) Die Klarheit der Schrift ergibt sich nur aus ihrer Lektüre. In Leitungsfragen wird es immer wieder zu Konflikten kommen, bei denen sich auch verschiedene Interpretationen der Bibel gegenüber stehen. Ein solcher Konflikt sollte nicht durch eine einseitige Machtausübung beendet werden, sondern vielmehr das gemeinsame Bibellesen intensiveren. Es geht darum, auch weiterhin anzuklopfen.77 Das gemeinsame Anklopfen kann dann das sogenannte Downloading (ա 18.3.1.) unterbrechen, bei dem verschiedene Personen auf scheinbar erkannter Wahrheit beharren und Neues nicht sehen können. Notger Slenczka bringt es so auf den Punkt: „Luthers Aussagen über die Schrift lassen sich nur auf einem Weg einsichtig machen und verifizieren: Indem man nimmt und liest.“78 5) Die Schrift als Wahrheitskriterium für kybernetische Prozesse ist und bleibt ein schwaches Kriterium. Es fordert darum eine Haltung, die nicht durch Sicherheit (securitas), sondern durch Gewissheit (certitudo) geprägt ist.79 16.4. Der Zusammenhang von Liebe und Wahrheit Bei Konflikten tendiert Leitung oftmals zu einem der folgenden drei verständlichen, aber defizitären Verhaltensmuster: a) Sie geht der anderen Konfliktpartei aus dem Weg, b) sie tut so, als würde das Problem nicht bestehen und schweigt den Konflikt tot oder c) sie begegnet ihrem Gegenüber mit destruktivem Verhalten.80 Demgegenüber findet sich bereits in der biblischen Überlieferung ein anderes Motiv.81 Liebe und Wahrheit werden zusammengedacht. So er77
Vgl. WA 54, 186: „[…] Pulsam tamen importunus eo loco Paulum […]“ Slenczka (2000), 78. 79 Ähnlich bestimmt auch Härle sein Wahrheitsverständnis. Vgl. Härle (2009), 63: „Diese Unterstellung hat nicht den Charakter eines zu glaubenden Lehrsatzes, sondern den einer zu explizierenden Gewissheit, die entfaltet, aber nicht bewiesen werden kann.“ 80 Im Wesentlichen liegt damit das Verhaltensmuster von „Fight-or-flight“ unter Stresssituationen vor. Der Begriff geht auf Walter Cannon zurück. Zu diesem Verhalten im Kontext von Konflikten in Organisation: Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 150f. 81 Vgl. zu dem folgenden Gedankengang auch: Böhlemann / Herbst (2011), 74ff. 78
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scheint Jesus Christus im Johannesprolog „voller Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14). Auch im Gedanken der Feindesliebe wird liebendes Handeln nicht an Übereinstimmung mit dem Gegenüber gebunden, sondern soll gerade dem zukommen, mit dem ein Konfliktverhältnis besteht (Mt 5,43ff). Liebe und Wahrheit gehören zusammen, aber Übereinstimmung in der Wahrheit ist keine Bedingung für Liebe. Oder mit den Worten des Epheserbriefes: „Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe […]“ (Eph 4,15). In der reformatorischen Theologie entspricht dieses Motiv in etwa Luthers Unterscheidung in Liebe und Glaube, wobei man nach der Liebe vom Nächsten nur das Beste erwarten dürfe, nicht aber dem Glauben nach.82 Oswald Bayer fasst diese reformatorische Trennung von Person und Werk wie folgt zusammen: „Mit dem Mitchristen ist nach dem Maßstab der Liebe (‚canon caritatis‘) umzugehen: von ihm soll ich das Beste annehmen, ihm durch Fürbitte und Mittragen ‚ein Christus werden‘ - ihm aber, wie Luther es vor allem dem Papsttum gegenüber getan hat, in aller Schärfe widersprechen, wenn er den Glauben falsch lehrt. ‚Es ist Sache der Liebe, alles zu ertragen [1Kor 13,7] und allen zu weichen. Dagegen ist es Sache des Glaubens, schlechthin nichts zu ertragen und keinem zu weichen.‘ Diese Unterscheidung von Glauben und Liebe, also der Sache der Lehre und der Person des Mitchristen, ist in der Situation kirchlicher Kontroversen ungemein hilf83 reich.“
Auch Dietrich Bonhoeffer bezieht Wahrheit und Liebe aufeinander. Liebe kann die Ursache dafür sein, seinem Gegenüber auch einmal zu widersprechen.84 Dennoch prägt die Liebe auch die Art und Weise, wie die Wahrheit kommuniziert wird. „Wo die Wahrheit gesagt wird ohne Beachtung dessen, zu dem ich sie sage, dort hat sie nur den Schein, nicht aber das Wesen der Wahrheit.“85 Jene Verhältnisbestimmung von Wahrheit und Liebe wird strukturell ähnlich auch in Teilen der Führungsforschung artikuliert, etwa in dem Servant Leadership-Modell nach Sipe und Frick.86 Besonders deutlich unterstreicht diesen Aspekt jedoch John Dickson in seinen Ausführungen über den Charakter der Demut.87 “Humility applied to convictions does not mean believing things any less; it means treating those who 82
Vgl. WA 18, 652. Bayer (2007), 255. 84 Vgl. Bonhoeffer (1996), 623: „Aber Gottes Wahrheit richtet das Geschaffene aus Liebe, die Satanswahrheit richtet es aus Neid und Haß.“ 85 Ebd. Ähnlich resümiert auch Härle im Anschluss an Bonhoeffer. Vgl. Härle (2009), 89: „Dem christlichen Wahrheitsverständnis zufolge findet Wahrhaftigkeit nicht dort ihre Grenze, wo sie für einen Menschen schmerzlich oder verletzend wird – im Gegenteil: Gerade dies kann heilsam und notwendig sein. Wohl aber erweist sich Wahrhaftigkeit als missverstanden, wo sie die von Gott jedem Menschen gegebene Bestimmung aus dem Blick verliert, mögliche Tatsachenwahrheiten also von der Wirklichkeitswahrheit isoliert und letztlich gegen sie zur Geltung bringt.“ 86 Vgl. Sipe / Frick (2009), 34-44. 87 Vgl. Dickson (2011), 161-170. 83
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hold contrary beliefs with respect and friendship.”88 Gesellschaftlicher Friede entstehe nach Dickson eben nicht dadurch, dass Menschen ihre konkurrierenden Wahrheitsansprüche abschwächen und tendenziell alle Standpunkte und Ansichten für gleich wahr und angemessen halten. Denn dahinter stecke die verengte Logik, dass man nur mit dem ein freundschaftliches Verhältnis pflegen könne, mit dem man auch übereinstimme. Viel versprechender sei jedoch der Weg der Demut. Diesen beschreibt er wie folgt: Genauso stark bei der eigenen Überzeugung bleiben und dennoch Andersdenkende mit Respekt und Freundschaft behandeln.89 Dieser Gedankengang lässt sich dann auch visualisieren, wie es etwa Winfried Berner vorgeschlagen hat.90
Abbildung 12:Harmonie und Konflikt. Eigene Darstellung nach Berner
Harmonie und Konflikt seien demnach kein Widerspruch. Dazu müsse man den Aspekt „Konsens /Dissens“ von dem Aspekt „konstruktive / destruktive Beziehungen“ unterscheiden. Führungskräfte, die jenes mentale Modell beachten, können folglich mit jemandem nicht einer Meinung sein und dennoch eine gelingende Beziehung gestalten. Auch wenn dieses Modell durchaus ansprechend zu erscheinen vermag, lässt sich von einer realistischen christlichen Anthropologie her bezweifeln, ob ein Mensch diese Unterscheidung immer durchhalten kann. Vielmehr kommt die Kraft zur Liebe des Andersdenkenden auch in Leitungsentscheidungen in letzter Konsequenz von der Rechtfertigung her. Das entspricht der reformatorischen Ethik. Wer am Kreuz sieht, wie Gott sich mit „seinen Feinden“ (Röm 5,10) versöhnt, der findet auch in kybernetischen Konfliktsituationen die Kraft, die zweite Meile zu gehen (Mt 5,41).
88
Ebd., 167. Vgl. ebd., 169: “We have forgotten how to flex two mental muscles at the same time: the muscle of moral conviction and the muscle of compassion to all regardless of their morality.” 90 Vgl. Reimann (2011), 72. 89
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16.5. Eine Zusammenfassung in Form von Thesen Die Ausgangsfrage lässt sich nun ansatzweise beantworten. Kirchliche Leitung kann theologisch verantwortet über den Moment der Moderation hinausgehen und einen Wahrheitsanspruch haben. Deshalb wird kirchliche Kybernetik die pessimistische Epistemologie der meisten systemischen Ansätze nicht eins zu eins übernehmen können. Dennoch sei zugestanden, dass auch der hier vorgelegte Beitrag die Frage nur andeutungsweise zu lösen vermag. Es bleiben Aporien, gerade die die Frage, wie zu verfahren ist, wenn sich der Konsens – auch in der besten Absicht des „gemeinsamen Hörens“ - nicht einzustellen vermag. Die weiteren Ergebnisse werden in den folgenden Thesen gebündelt: 1) Man kann nicht nicht Macht haben, nicht nicht leiten, nicht nicht beeinflussen und nicht nicht eine Wahrheitsanspruch artikulieren. All das ist nicht nur unmöglich, sondern bei der Nichtbeachtung dieser Unmöglichkeit auch gefährlich, da vorhandene Machtstrukturen und Wahrheitsansprüche tendenziell verschleiert zu werden drohen. 2) Wahrheitsbezeugungen (assertiones) sind für kirchliche Kybernetik wichtig. Das hilfreiche Korrektiv des Konstruktivismus kann in einer Unterscheidung in Wirklichkeits- und Sachverhaltswahrheiten aufgenommen werden, wobei beide weder in eins zu setzen noch zu trennen sind. Wahrheit ist in letzter Konsequenz eine Person. Christus ist die Wirklichkeitswahrheit vor der Klammer aller Sachverhaltswahrheiten. 3) Kriterium für Wahrheit in kybernetischen Fragen ist als „schwaches Kriterium“ die klare Heilige Schrift (und nicht der Diskurs mit der Heiligen Schrift). Auch in einem konziliaren Prozess ist das gemeinsame Hören auf den an die Schrift gebundenen Geist leitend. Darin liegt auch die sog. „Triangulierung“ kirchlicher Kybernetik. 4) In dieser Welt bleiben kirchliche Leitungsverantwortliche jedoch simul iustus et peccator. Alte Hörgewohnheiten im Gespräch miteinander und mit der Schrift versperren den Blick für Neues. Ein „gemeinsames Anklopfen“ ist besonders in Konfliktsituationen notwendig. 5) Wahrheit und Liebe dürfen in kybernetischen Prozessen nicht getrennt werden. Es gilt auch in Wahrheitsansprüchen liebevoll zu bleiben und Person und Werk, Beziehungs- und Sachebene voneinander zu trennen. So sind Harmonie und Konflikt kein Widerspruch.
17. Ist Leitung coram deo erlaubt? Gottes- und Menschenhandeln in der Kybernetik
Leitung beinhaltet den Moment der gezielten und intentionalen Einflussnahme. Das ist hinsichtlich des damit verbundenen Wahrheitsanspruches jedoch nicht nur zwischenmenschlich relevant, wie es eben erörtert wurde. Vielmehr stellt sich darüber hinaus für eine praktischtheologische Kybernetik die Frage, wie sich diese menschliche Intention zur göttlichen Intention, wie sich menschliches und göttliches Handeln in der Leitungspraxis zueinander verhalten. Problematisierend ließe sich fragen: „Meinen Leitungsverantwortliche nicht oftmals Dinge steuern zu können, die eigentlich dem Raum des Unverfügbaren, die allein Gott zuzuordnen sind? Ist Gott nicht selbst das eigentliche Subjekt von Kirchenleitung?“ Menschen setzen zwar aktivistisch Ziele, aber dagegen hatte doch schon Paul Gerhardt zutreffend formuliert: „Bist du doch nicht Regente, der alles richten soll, Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.“ Besonders evident wird diese Problematik, wenn es um konkrete mit Kennzahlen versehene Ziele geht. Ein Kirchenvorstand setzt sich bspw. das folgende Ziel: „Bis zum 01.01.2018 haben wir die durchschnittliche Zahl der sonntäglichen Gottesdienstbesucher von 40 auf 50 erhöht.“ Hinsichtlich mehrerer verschiedener, aber doch miteinander verbundener Aspekte lassen sich hier Anfragen formulieren: Hat der Kirchenvorstand die Erreichung jenes Zieles überhaupt selbst in der Hand? Ist ein erhöhter Gottesdienstbesuch schon an sich eine Verbesserung der Situation oder kommt es nicht eigentlich auf eine innere Beteiligung an, von der hier nicht die Rede ist? Wird mit dem Ziel nicht auch die bisherige Situation als defizitär disqualifiziert? Darüber hinaus bleibt die Zielerreichung eng mit der Qualität eines Gottesdienstes verbunden und jene Qualität ist eben nur schwer mit Kennzahlen messbar usw. In der Tat ist jene Frage nach der Verhältnisbestimmung von menschlichem und göttlichem Handeln in der Kybernetik unter anderem wegen solch konkreten Zielen in jüngeren Jahren erneut virulent geworden. Denn es waren nicht zuletzt jene konkreten Ziele im Impulspapier „Kirche der Freiheit“, die Anlass zu zahlreicher Kritik boten,1 wenn hier etwa formuliert wird: „Der durchschnittliche Gottesdienstbesuch 1
Vgl. Möller (2006); Karle (2007).
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am Sonntag sollte [...] von derzeit 4 Prozent auf 10 Prozent aller Kirchenmitglieder gesteigert werden.“2 In gewisser Hinsicht ist die Problematik jedoch keineswegs neu, sondern wurde in ihrer Grundstruktur bereits in den Debatten rund um den Gemeindeaufbau geführt. Das Thema lässt sich jedoch in einen noch weiteren Horizont einzeichnen. Denn letzten Endes geht es auch um das Verhältnis von Praktischer Theologie zum Methodischen. Denn einer Methode ist stets der Moment von menschlich gezieltem Handeln inhärent. Deshalb gibt es an dieser Stelle Strukturparallelen zu manch poimenischen und homiletischen Diskussionen, etwa zur Frage nach Sinn und Unsinn der Rhetorik in der Homiletik. Aber auch hinsichtlich von „geistlicher Leitung“ stellt sich diese Frage.3 Wird diese nämlich verstanden als „Leitung durch den Göttlichen Geist, vollzogen in der Gemeinschaft der Heiligen durch die vom Geist eingesetzte Leitung“4, dann lässt sich fragen, wie das Wirken des Geistes und menschliches Handeln zueinander stehen. Bevor der Versuch einer Antwort auf jene Problemstellung unternommen werden soll, sind die bereits angedeuteten Anfragen jedoch in einem ersten Schritt zu präzisieren. 17.1. Fünf Anfragen an gezieltes Leitungshandeln „Die Kirche schläft zu wenig.“5 So formuliert es die ehemalige Hamburger Bischöfin Maria Jepsen. Selbst wenn sie die Relevanz von menschlichem Leitungshandeln betont, so gelangt sie dennoch zu einer deutlichen Kritik an kirchlichem Machbarkeitsdenken. Schließlich habe auch Noahs Arche kein Steuerrad gehabt. Deshalb müsse Kirche lernen, auf zwei unverfügbare Effekte zu vertrauen: Auf den Lazaruseffekt, „dass Gott auch dem, was schon krank und nur noch tot und abgetan daniederzuliegen scheint, wieder zu Leben und Bedeutung verhelfen kann“6, und den Bethlehemeffekt, „dass Gott auch ganz abseits vom Erwarteten und Erhofften Neues in Gang setzt.“7 Die Stimme Jepsens steht dabei exemplarisch für einen Strom von Kritik an kirchlichem Planungs-, Steuerungs- und Leitungshandeln. Im Folgenden sollen die einzelnen hier vorfindlichen Argumente dargestellt werden.
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Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (2006), 52. Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 397: „Als weitgehender Konsens in der Debatte hat sich mittlerweile herauskristallisiert, das Spezifikum geistlichen Leitens in dem Bezug zur transzendenten Dimension, zur Präsenz Gottes zu sehen.“ 4 Böhlemann / Herbst (2011), 22. 5 Jepsen (2008), 274. 6 Ebd., 276. 7 Ebd., 277. 3
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a) Gottes Handeln bleibt dem Menschen entzogen. Gottes Handeln lässt sich nicht steuern, organisieren und operationalisieren. Deshalb bleibt das Erreichen von konkreten Zielen letzten Endes unverfügbar. In diese Richtung zielt ebenfalls die Kritik Isolde Karles am besagten Reformpapier ab, dem sie eine mangelnde Unterscheidung von Gottes- und Menschenwerk attestiert.8 Ähnlich kritisch äußert sich Christoph Meyns, der gegenüber jeglichem kirchlichen Aktivismus betont, dass sich das Wirken des Heiligen Geistes menschlicher Machbarkeit und Urteilskraft entziehe.9 Besonders deutlich positionierte sich auch Christian Möller: „Wachstum ist ein Vorgang, der den Menschen entzogen ist.“10 Deshalb empfiehlt er Kirche und Gemeinde eine Haltung der Gelassenheit, die mit Ps 127,2 darauf vertraue, dass der HERR es den seinen im Schlaf gebe. „Der Schlaf ist der Inbegriff einer passiven und zugleich kreativen Haltung des Menschen, die umso offener für das ist, was Gott tut.“11 b) Eine unsachgemäße Zuordnung von göttlichem und menschlichem Handeln droht einer unreformatorischen Werkgerechtigkeit nahezukommen. Es ist nicht nur unmöglich, Gottes Handeln organisieren zu wollen, sondern gleichsam problematisch. Denn dabei wird anmaßend auf die eigenen Werke und Leistungen vertraut. Auch wenn der Vorwurf der Werkgerechtigkeit expressis verbis als solcher nicht benannt wird, so ist er strukturell dennoch anzutreffen. So erblickt etwa Möller hinter mancher von Hektik geprägter Aktivität „synergistische Tendenzen“12, die sich besonders subtil hinter der Rede von der „Verheißung“ verstecken. Und Meyns unterstellt an Wirksamkeit orientierten Akteuren im kirchlichen Kontext mangelndes Gottvertrauen.13 8
Vgl. Karle (2011), 121. Vgl. auch: ebd., 120: „Das Grundproblem der Kirchenreformpapiere ist, dass sie zuviel Planbarkeit und Steuerbarkeit unterstellen, dass sie Prozesse organisieren wollen, die sich nicht organisieren lassen.“ Bei Karle verbindet sich dieses theologische Argument mit dem systemischen (ա4.6.), was einmal mehr verdeutlicht, wie sehr die in diesem Abschnitt verhandelten prinzipiellen Fragestellungen miteinander verbunden sind. 9 Vgl. Meyns (2013), 144. 10 Möller (1990), 256. 11 Möller (2006), 30. Bei Möller ist menschliches Leitungshandeln jedoch keineswegs ausschließlich negativ konnotiert. Vgl. Möller (1990), 257: „Ein am Rechtfertigungsgeschehen der Taufe orientiertes Denken klammert das Tun des Menschen keineswegs aus, sondern bringt es als selbstvergessenes Tun zur Geltung. Es muß nun nicht mehr eingeklagt und angemahnt werden, sondern darf wie eine reife Frucht vom Baum der geschenkten Rechtfertigung herabfallen.“ Jene Gelassenheit führe ebenfalls dazu, dass sie „so viel Aktivität freisetzt, wie sie sich der Aktivist nur erträumt.“ Vgl. ebd., 262. 12 Ebd., 259. 13 Vgl. Meyns (2013), 166: „Dahinter wird ein tiefes Misstrauen in die Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes sichtbar und eine mangelnde Offenheit dafür, ge-
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c) Die Arbeit mit Zielen setzt in der Regel eine Messbarkeit voraus, die jedoch selten gegeben ist. Das Entscheidende, wie etwa der Glaube, aber auch die Qualität kirchlicher Arbeit lassen sich nur kaum oder gar nicht messen. Messen lassen sich nur quantitative Größen. Nach Meyns sagen jene quantitativen Größen jedoch nichts über Qualität und Wirkung kirchlicher Arbeit aus: „Die größte Schwierigkeit einer undifferenzierten Orientierung an quantitativen Kriterien besteht in der sich damit verbindenden Annahme, der Erfolg der kirchlichen Arbeit ließe sich an ihren sichtbaren Wirkungen ablesen. Die Höhe und die Entwicklung von Beteiligungs- und Mitgliederzahlen oder andere empirisch erfassbare Phänomene stellen aber aus theologischer Sicht keinen legitimen Maßstab 14 dar, an dem sich das Planungshandeln der Kirche orientieren könnte.“
Man müsse sich bei der Beurteilung kirchlicher Arbeit von „empirischen Kriterien“15 lösen, denn sie sagen nichts über die Qualität aus: „Parameter wie Veranstaltungs- und Beteiligungszahlen oder die Zufriedenheit von Teilnehmenden [...] sagen indes nichts darüber aus, inwiefern Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihrem Auftrag gerecht werden [...]“16 Darüber hinaus behauptet Meyns thetisch, bei einer Orientierung an quantitativem Erfolg gerate stets die Qualität aus dem Fokus.17 Daneben erteilt auch Christian Möller einer Orientierung an Quantität und Erfolg eine Absage, denn bereites der Dämon in Mk 5,9 brüste sich gegenüber Jesus mit dem Satz: „Legion heiße ich, denn wir sind viele.“18 Nach Möller stelle Erfolg keine biblische Kategorie dar. Biblisch gebe es nur Segen. Dieser komme jedoch nur von Gott. Eine Orientierung an quantitativem Erfolg sei für die Kirche hingegen schädlich. Aus dem Segen könne dabei auch Fluch werden.19
gen den Augenschein an das Wirken des Heiligen Geistes in, mit und unter allen sichtbaren Unzulänglichkeiten zu glauben.“ 14 Ebd., 163. 15 Ebd., 166. 16 Ebd., 236. Vgl. auch: Ebd., 89. 17 Vgl. ebd., 162f. Bei aller Polemik an diese Stelle äußert sich Meyns positiv zu einer kirchlichen Rezeption von systemisch orientierten Managementansätzen, sowie Instrumenten der Organisations- und Personalentwicklung, die von der human relations-Bewegung herkommen. Vgl. ebd., 238. An einer Stelle formuliert er dann auch in dieser Frage: „Das heißt nicht, dass die Kirche nicht auch wirksam, also gestaltend, ziel- und wirkungsorientiert handeln sollte, aber nicht primär, nicht ausschließlich und nicht losgelöst vom darstellenden Handeln.“ Vgl. ebd., 165. 18 Vgl. Möller (2006), 29. 19 Vgl. ebd., 30.
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d) Ein aktivistisches Planungshandeln gründet in einem unangemessenen Kirchenbild. Die Diskussion rund um die Steuerbarkeit ist an dieser Stelle mit der kirchentheoretischen Debatte um den organisationalen Charakter von Kirche verbunden. Dieser dann in Teilen auch betriebswirtschaftliche Charakter von Kirche wird immer wieder kritisiert.20 Da Kirche keinen Betrieb darstelle, sei auch die Übernahme jener betriebswirtschaftlichen Managementmethoden, die menschlichem Steuerungshandeln sehr viel zutrauen, unangebracht.21 e) Die entscheidende Ursache für gegenwärtiges Planungs- und Steuerungshandeln in der Kirche liegt in der Finanzkrise begründet. Dieses Argument wird vor allem von Christoph Meyns vorgebracht: „Die evangelische Kirche muss sich aufgrund leerer Kassen gezwungenermaßen auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens mit Fragen der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit ihrer Arbeit auseinandersetzen.“22 Ziele setzen und auf Wirksamkeit fokussieren – das sei dem Wesen von Kirche eigentlich fremd und nur eine Aufgabe, die durch Krisenerscheinungen hervorgerufen werde. Diese verschiedensten Argumentationsstränge, welche sich oftmals miteinander verbinden, führen in Summe zu einer deutlichen Kritik an menschlichem Steuerungshandeln im Angesicht Gottes und legen dementsprechend oftmals eine Distanzierung von Steuerungsmethoden in der Kybernetik nahe. Demgegenüber finden sich jedoch auch Argumente, die für eine Verwendung jener Steuerungsmethoden sprechen. 17.2. Erste Antwortversuche: Pragmatismus, Inkarnation und Pneumatologie a) Der pragmatische Antwortversuch Zunächst einmal ließe sich gegenüber all jenen Kritikpunkten pragmatisch argumentieren. Jegliche Subdisziplin der Praktischen Theologie 20
Das ist keineswegs ausschließlich im deutschsprachigen Kontext der Fall. So stellt etwa Doornenbal für die Emerging Church Conversation heraus, dass sich diese auch von einem unternehmensförmigen Kirchenverständnis vorhergehender Generationen abgrenzen. Vgl. Doornenbal (2012), 35. Roxburgh und Romanuk formulieren: “A congregation is not a business enterprise and cannot be treated as such.” Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 13. 21 Die Frage nach einem unternehmensförmigen und organisationalen Charakter (beides ist nicht ganz deckungsgleich) von Kirche kann hier nicht weiter verhandelt werden. Für einen Überblick: Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 194ff. Summa summarum erweist sich jedoch sowohl eine vollständige Entgegensetzung wie auch eine Gleichsetzung als unangemessen. Strukturell zeigt sich der unter ա 13. beschriebene Weg einer „kritischen Kontextualisierung“ als sinnvoll. 22 Meyns (2013), 175.
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brauche den interdisziplinären (kritischen) Dialog mit ihrer jeweiligen Referenzwissenschaft. So müsse dann auch die Kybernetik in einen Dialog mit der betriebswirtschaftlichen Managementlehre und Führungsforschung treten und von diesen lernen. Eine solche Position vertritt im Wesentlichen Bill Hybels. In seiner Argumentationsstruktur ist das Ziel des Gemeindeaufbaus so wichtig, dass dazu jedes Mittel recht sei. Da es um die Rettung von Seelen gehe, müsse man die besten Managementmethoden verwenden.23 Diese Argumentationslinie, wonach der Zweck die Mittel heiligt, ist jedoch insofern defizitär, als dass sie keinerlei kritisches Kriterium für jene Adaption impliziert und sich auf eine instrumentelle Nutzung beschränkt. b) Der inkarnatorische Antwortversuch Das Grundmuster ist bereits aus der poimenischen Diskussion bekannt und wurde dort etwa von Hans-Joachim Thilo vorgetragen.24 Bei ihm ist Inkarnation ein „theologisches Prinzip“25. Gott muss in der Seelsorge nicht explizit zur Sprache gebracht werden, sondern ist in einer Begegnung zwischen zwei Menschen schon ganz da. Insofern fällt dann auch ein inhaltliches Proprium kirchlicher Seelsorge weg. Bezogen auf unsere kybernetische Fragestellung, könnte dies bedeuten: Inkarnation als Prinzip besagt, dass Gott in den Managementmethoden dieser Welt ganz da ist und diese deshalb auch kirchlicherseits rezipiert werden dürfen.26 Dies ließe sich möglicherweise verbinden mit einem Verständnis von „Religion als Deutung“. Der Unterschied zwischen „normalem Leitungshandeln“ und „geistlicher Leitung“ bestünde dann in dem Moment der Deutung. Methodisch unterscheidet sich dann kirchliches Leitungshandeln nicht von einem unternehmerischen Handeln, es deutet jenes Handeln jedoch anders. Kritisch an dieser Argumentationslinie ist allerdings, dass hier die Problematik eines unverfügbaren und eigenständigen Handeln Gottes nivelliert zu werden droht. Unverfügbarkeit gegenüber dem Handeln Gottes scheint dabei nur zu einem Sprachspiel und einer Deutekategorie für die Überkomplexität und Unsteuerbarkeit von komplexen sozialen Systemen zu werden. Die Leitungsfrage coram deo und coram mundo fallen in eins. Ihr Wahrheitsmoment hat diese Argumentationslinie jedoch darin, dass sie vor einer zu scharfen Dichotomie von Welt und Kirche warnt. Denn wenn vor einer Übernahme von unternehmerischen Managementmethoden im Raum der Kirche unter dem Hinweis, diese müsse für das Handeln Gottes offen bleiben, gewarnt wird, dann 23
Vgl. Hybels (2002), 78-81. Vgl. Thilo (1975), 26f. 25 Herbst (2013), 96. 26 Dass Inkarnation als Prinzip jedoch auch primär den Moment der kritischen Distanz gegenüber „weltlichen Methoden“ implizieren kann, lässt sich bei Roxburgh und Romanuk nachlesen. Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 120-122. 24
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wird dabei suggeriert, dass jene Unternehmenswirklichkeit nicht vom Handeln Gottes betroffen wäre. Da sich das Handeln Gottes aber nicht auf den kirchlichen Kontext beschränkt, sondern die ganze Welt umfasst, kann sich Kirche hinsichtlich des Unverfügbarkeits-Faktors nicht von anderen Organisationen unterscheiden.27 c) Der pneumatologische Antwortversuch Eines der verbreitetesten theologischen Argumentationsmuster in der Kybernetik ist wohl der pneumatologische Ansatz. So sprechen sich etwa Peter Böhlemann und Michael Herbst für eine Übertragung von Rudolf Bohrens „theonomer Reziprozität“ von der Homiletik auf die Kybernetik aus.28 Den Ansatz der „theonomen Reziprozität“ für die Homiletik entwirft Bohren im Anschluss an Johann Christoph und Christoph Friedrich Blumhardt und übernimmt den Begriff von Anton A. van Ruler.29 Den Ausgangspunkt nimmt Bohren bei einer reformiert geprägten Pneumatologie. Anhand der beiden Blumhardts lasse sich eine gewisse Dialektik hinsichtlich des Wirken des Geistes verdeutlichen: „Wo der 30 Vater im Hoffen stand, sieht der Sohn schon Erfüllung.“ Der Geist wirke bereits in der Welt. Ihn gelte es in der Gegenwart zu entdecken und gleichsam in der Zukunft zu erwarten. Hinzu tritt van Rulers scharfe Unterscheidung in Christologie und Pneumatologie. Menschliches Handeln wird hier primär von der Pneumatologie hergeleitet und weniger als bloße Reflexion auf das Handeln Christi verstanden. Während in der Christologie die Stellvertretung gelte, wirke der Geist an und mit 31 uns. „Er nimmt uns in sein Handeln hinein.“ Der Stellvertretung in der Christologie entspricht in der Pneumatologie damit die Reziprozität. Während Jesu Werk vollkommen sei, wirke der Geist nur fragmentarisch. „Unter dem Gesichtspunkt der Pneumatologie ist alles Machbare auch wunderbar.“32 Deswegen kommen nun auch die Methoden ins Spiel, denn der Geist ist Partner der Methode. Insgesamt „ermöglicht der pneumatologische Ansatz ein neue Betonung des Menschlichen und des Machbaren. […] Das Predigen, ganz und gar in Gottes Möglichkeit beschlossen, wird im Geist und durch den Geist ganz und gar Sache des Predigers und Sache des Hörers, wird im Geist und durch den Geist zur menschlichen Möglichkeit in Kunst und Technik.“33
Aus der „theonomen Reziprozität“ ergibt sich nach Böhlemann und Herbst nun eine grundsätzliche Bejahung von Managementmethoden, allerdings mit einer gewissen Dialektik: 27
Damit ist natürlich keineswegs gesagt, dass es jenen Unverfügbarkeits-Faktor nicht gibt. Das Argument findet sich in Abwandlung bei: Hauschildt / PohlPatalong (2013), 197. 28 Vgl. Böhlemann / Herbst (2011), 18-25; Herbst (2001), 93-98. 29 Vgl. Bohren (1972), 65-88. 30 Ebd., 69. 31 Ebd., 76. 32 Ebd., 77. 33 Ebd., 74. Bohren kann aber auch betonen, dass man das Wirken des Geistes jedoch nicht in der eigenen Hand habe.
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„Der Grundsatz der ‚theonomen Reziprozität‘ bedeutet für Geistliche Leitung also, dass diejenigen, die in Kirche und Gemeinde Leitungsverantwortung haben, nach allen Regeln der Kunst zeitgemäß und kompetent leiten, managen und führen sollen. Zugleich sollen sie beten und darauf vertrauen, dass Gott sie durch seinen Heiligen Geist das tun lässt, was er segnen will.“34
Diese dialektische Entgegensetzung von Gottes- und Menschenhandeln ist in der Diskussion weit verbreitet.35 In der Praxis führt sie damit zu einer ausgesprochenen Freiheit in der Rezeption von Führungskonzepten und Managementmethoden, jedoch nicht zu einer vollständigen Autonomie. Denn immer wieder wird in diesem Kontext auch die hohe Relevanz von Spiritualität für kirchliche Leitungsprozesse betont. So unterstreicht etwa Wegner, dass Kirche in ihrem Leitungshandeln nach dem Willen Gottes fragen müsse.36 Dieser Argumentationsstrang kann grundsätzlich die Verwendung von Methoden im Angesicht des Handeln Gottes theologisch verantwortet begründen. Dennoch kann auch hier eine kritiklose Übernahme von Methoden drohen, da das genuin theologische Moment eben nicht bereits in der Auswahl und kritischen Adaption einer spezifischen Methode gesehen wird, sondern erst später in einer gewissen Haltung oder „Tiefendimension“37 im Umgang mit jeglicher Methode. Zwischen den für jeweilige kirchliche Kontexte mehr oder weniger angemessenen Methoden wird eher selten differenziert. Deshalb ist es auch nicht ganz unzutreffend, wenn etwa Hauschildt und Pohl-Patalong dem von der „theonomen Reziprozität“ ausgehenden „Spirituellen Gemeindemanagement“ eine „bloß instrumentelle Verwendung betriebswirtschaftlicher Teilstücke“38 attestieren.39 Die „theonome Reziprozität“ vermag 34
Böhlemann / Herbst (2011), 23. Vgl. Wegner (2007), 193: „Der Leitende muss sich so verhalten, als hinge alles von ihm ab – und dann doch alles Gott anheim stellen.“ Vgl. Lehnert (2005), 75: „Wir sollen so beten, als würden wir alles von Gott erwarten, wir sollen so handeln, als müssten wir alles selber tun, ‚etsi Deus non daretur‘, ‚auch wenn es keinen Gott gäbe‘.“ Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 212: „Das bedeutet, dass Glaubende nur so handeln sollen, ‚als ob‘ (vgl. 1 Kor 7,29-31) ihre Aktivität und Zielerreichung entscheidend sei, im Bewusstsein, dass sie auch hier auf Gott angewiesen sind.“ 36 Vgl. Wegner (2007), 189f. Bei Wegner schlägt sich diese Einsicht besonders im Bild der Triangulierung nieder. Vgl. ebd., 193. 37 Vgl. Böhlemann / Herbst (2011),19f. 38 Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 186. 39 Der Vorwurf einer bloßen instrumentellen Nutzung ist jedoch auch nicht ganz zutreffend, denn sowohl von Bohren als auch seinen Rezipienten wird immer wieder unterstrichen, dass mit der „theonomen Reziprozität“ auch die Aufgabe der Geisterunterscheidung einhergeht. Vgl. Bohren (1972), 77f. Dieses Argument ist aber insofern nicht suffizient, als dass das Konzept der „theonomen Reziprozität“ selbst keine Kriterien für jene Unterscheidung gibt und sich aus der Grundstruktur des Konzeptes auch keine Kriteriologie nahelegt. Der Mehrwert der „theonomen Reziprozität“ liegt also primär im „Dass“ des Methodischen, weniger im „Was“. 35
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also das „Dass“ des methodischen Handelns begründen, jedoch weitaus weniger das „Wie“. Sie birgt ähnlich wie die inkarnatorische Argumentationsfigur die Gefahr einer bloß instrumentellen Verwendung von Methoden. Daraus ergibt sich eine gewisse Ergänzungsbedürftigkeit jenes Ansatzes durch weitere Begründungsfiguren. Offen bleibt ebenfalls, ob dieser pneumatologische Ansatz mit seiner expliziten Negierung eines Bezuges zum christologischen Rechtfertigungsgeschehen dem Vorwurf einer unreformatorischen Werkgerechtigkeit, zumindest in einem funktionalen Sinne, ganz zu entkommen vermag. Denn hier kann zumindest der Eindruck entstehen, dass der methodisch handelnde Mensch – einmal gerechtfertigt – nur auf den kooperierenden Heiligen Geist angewiesen bleibt, aber weitaus weniger auf das rechtfertigende Handeln Christi.40 Aus den genannten Gründen müssen die pragmatische, inkarnatorische wie pneumatologische Argumentationsfiguren also trotz ihres punktuellen Mehrgewinns ergänzt werden. Vielleicht ist im Anschluss an die Reformatoren an dieser Stelle doch nicht auf christologische Kategorien zu verzichten. Auch wenn für Bohren in diesem Punkt die Unterschiede „zwischen der reformierten und lutherischen Tradition [...] weniger relevant“41 zu sein scheinen, führt uns die Frage nach dem Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln in kirchlichen Leitungsprozessen doch genau in diesen Bereich. Bohren hätte sich wohl an diesem einen Punkt nicht mehr irren können, geht es doch in der Frage nach der Methode für eine lutherische Theologie weniger um eine Trennung von Christologie und Pneumatologie, von iustificatio und sanctificatio, als gerade um die adäquate Zuordnung von diesen. Es geht in letzter Konsequenz um den reformatorischen Artikel „Vom Glauben und den guten Werken“. 17.3. Vom Glauben und den guten Werken Auch wenn die reformatorische Verhältnisbestimmung vom Glauben und den guten Werken an dieser Stelle nicht umfassend diskutiert werden kann, so ist eine Besinnung auf die grundsätzlichen Einsichten dennoch von entscheidender Bedeutung für die Fragestellung. Die wesentliche Erkenntnis der lutherischen Rechtfertigungslehre besteht zunächst einmal darin, dass der Mensch vor Gott nicht durch eigene Leistungen, sondern durch das stellvertretende Handeln Christi gerecht wird. In diesem Sinne wird auch das Evangelium in CA V definiert, 40
Aus diesem Grund ergänzen wohl auch Böhlemann und Herbst die Argumentationsfigur der „theonomen Reziprozität“ um eine christologische, die bei ihnen unter Rekurs auf Rieckmanns Figur des Schweinehundes stattfindet. Vgl. Böhlemann / Herbst (2011), 74ff. 41 Bohren (1972), 67.
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quod deus non propter nostra merita sed propter Christum iustificet. Gute Werke sind dabei keineswegs an sich problematisch, sie dürfen nur nicht unser Gottesverhältnis bestimmen. Mit CA VI darf auf sie nicht vertraut werden.42 Die Identität eines Christen wird eben nicht durch eigene Leistungen geprägt, sondern durch das Handeln Christi gesetzt. Darüber hinaus ist hinzuzufügen, dass die Rechtfertigung beim Menschen keineswegs Passivität bewirkt, sondern zu guten Werken führt. Sie führt zur Ethik. Menschliches Handeln ist nun eine Konsequenz des Handeln Gottes und verfährt nach dem Grundsatz „Wie Gott mir, so ich dir.“ Pointiert hat Luther diesen Sachverhalt in der Freiheitsschrift zum Ausdruck gebracht, wo er von einem natürlichen Ausfließen der guten Werke aus dem Rechtfertigungsgeschehen spricht: „Gute gerechte Werke machen niemals einen guten gerechten Menschen, sondern ein guter gerechter Mensch tut gute gerechte Werke. Schlechte Werke machen niemals einen schlechten Menschen, sondern ein schlechter Mensch tut schlechte Werke. Daher muss stets die Person zuvor gut und gerecht sein vor allen Werken und es müssen gute und gerechte Werke folgen und von der gerechten guten Person ausgehen. [...] Sieh, so fließen aus dem Glauben die Liebe und Lust zu Gott, und aus der Liebe ein freies, bereitwilliges, fröhliches Leben, um dem Nächsten um43 sonst zu dienen.“
Die Reformatoren sprechen sich also nirgends gegen gute Werke aus, ordnen diese jedoch „ausschließlich in den Folge- und in keiner Weise in den Begründungszusammenhang des im Glauben empfangenen Heils“44 ein. Diesen Folgezusammenhang jener „Freiheit des neuen Gehorsams, der Freiheit des Handelns, der Freiheit zu guten Werken“45 spitzt Oswald Bayer in Distinktion zu einer kantischen Ethik so zu: „Die Frömmigkeit des Handelns erschließt sich nicht aus der Güte des kategorischen Imperativs, sondern aus der Güte der kategorischen Gabe.“46 Menschliches Gestaltungshandeln vollzieht sich demnach aus Dankbarkeit aufgrund jener Gabe Gottes in Jesus Christus. Es ist – wie es Joest und von Lüpke formulieren – ein Handeln, das im Wesentlichen durch „Gratuität“47 gekennzeichnet sei. Im Bewusstsein der Gnade Gottes gebe der Mensch die erfahrene Liebe weiter. Weil Gott uns
42
So stellt es in der lutherischen Orthodoxie auch Leonhard Hutter dar. Vgl. Hutter (2006), 333. 43 WA 7, 32; 36; Die Modernisierung nach Dietrich Korsch entspricht der deutsch-deutschen Studienausgabe. Vgl. Luther (2012), 277-316. 44 Wenz (1998), 229. 45 Bayer (1992), 71. 46 Bayer (1995), 13. 47 Joest / Lüpke (2012), 152.
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alles getan hat, wollen auch wir anderen Menschen dann alles tun, was wir tun können. Dieses Handeln geschieht dann zum Lobe Gottes.48 Luther kann in diesem Folgezusammenhang vom Menschen sogar als von einem „cooperator Gottes“49 sprechen, ihn also einen Mitarbeiter nennen. Joest und von Lüpke weisen jedoch mit Recht darauf hin, dass hier statt von einem „Mit-Wirken“ präziser von einem „In-Wirken“ zu sprechen sei,50 denn die guten Werke sind die natürliche Folge des gerechtfertigten Menschen. Hier gibt es für die Reformatoren dann auch so etwas wie Wachstum und Fortschritt.51 Hier dürfen und können Menschen in Freiheit fortschreiten. Die Freiheit liegt dabei darin, dass diesem Fortschreiten keinerlei jenseitig-soteriologische und diesseitigidentitätsstiftende Funktion mehr zukommt. Das Fortschreiten bleibt dankbare Antwort. In den Schmalkaldischen Artikeln ziehen die Reformatoren zusätzlich gar den umgekehrten Schluss von mangelnden guten Werken auf einen falschen Glauben.52 Dieses lutherische Verständnis von Ethik als Konsequenz der Rechtfertigungslehre entspricht auf der Ebene der Christologie dann der Unterscheidung von Christus als donum et exemplum, die sich „als konstruktiv in der Frage nach der konkreten Gestalt der aus dem Glauben folgenden guten Werke, des neuen Gehorsams [erweist]. Christus als Gabe schafft den Glauben, Christus als Exempel bildet die Werke der Liebe vor.“53 Zusammenfassend gilt es bei der angemessen Zuordnung von göttlichem und menschlichem Handeln zwei Irrtümer gleichermaßen zu vermeiden, wie an dem reformatorischen Artikel „Vom Glauben und den guten Werken“ deutlich geworden sein dürfte. Einerseits kommt dem menschlichen Handeln keinerlei rechtfertigende Funktion zu. Unser Handeln ist weder Grund unseres Vertrauens noch unserer Identität. Andererseits bleibt die Rechtfertigung auch nicht ohne aus Dankbarkeit getane gute Werke. Die „theonome Reziprozität“ beruht auf einer scharfen Trennung von Pneumatologie und Christologie und damit einhergehend von menschlicher Gestaltung in Gemeinschaft mit dem Geist einerseits und dem Heilshandeln Gottes in Christus andererseits. Die reformatorischlutherische Theologie hingegen versteht menschliche Gestaltung weitaus stärker als Konsequenz des Heilshandelns Gottes in Christus. Deshalb ist die Kategorie der „theonomen Reziprozität“ wohl durch andere Argumentationsfiguren zu ergänzen, wie etwa durch die Rede von den 48
So stellt es Luther im „Sermon von den guten Werken“ heraus. Vgl. WA 6, 208. 49 Vgl. Wenz (1998), 206. 50 Vgl. Joest / Lüpke (2012), 151. 51 Vgl. Bayer (2007), 265; Wenz (1998), 207. 52 Vgl. ASm III, 13: „[Wir] sagen auch weiter, daß, wo gute Werke nicht folgen, so ist der Glaube falsch und nicht recht.“ 53 Bayer (1995), 4.
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„guten Früchten“ oder von „Wort und Antwort“54. Letztere Formulierung ist bisher vor allem in der Liturgik hinsichtlich der sogenannten „Torgauer Formel“ wirkmächtig geworden, könnte sich jedoch auch in diesem Kontext als fruchtbar erweisen. Gottes Wort allein gründet die Kirche und schafft den Glauben. Allerdings fließt aus diesem unverfügbaren Wort immer auch menschliche Antwort, die sich dann in einer dem Wort entsprechenden organisationalen und methodischen Gestaltung der vom Wort bewegten Menschen realisiert. Damit ist Kirche und Gemeinde dann ebenfalls die Aufgabe der Leitung und die Verwendung der Methoden gegeben. Damit ist jedoch keineswegs jedes menschliche Handeln und jede kybernetische Methode legitimiert. Die Methoden der Kybernetik müssen als menschliche Antwort darum in Zielsetzung und Durchführung dem gehörten Wort entsprechen. Es wird immer geprüft werden müssen, inwiefern eine Methode dem Evangelium entspricht, wie es unter 13. kriteriologisch bereits dargelegt wurde. Auf einen Einwand, der sich im Anschluss an diese Ausführungen nahelegt, soll noch eingegangen werden. Dass der rechtfertigende Glaube auch ein Handeln nach sich zieht, wird von jenen Kritikern keineswegs bestritten. Sie bestreiten lediglich, dass der Mensch über die Wirkungen dieses Handelns verfügen könne. Aber auch an dieser Stelle helfen uns die Reformatoren weiter. Denn eine derart scharfe Trennung in Handlung und Wirkung der Handlung kennen sie nicht, sie erweist sich in gewisser Hinsicht sogar als künstlich. Zum einen hatten wir bereits herausgestellt (ա16.), dass es unmöglich ist, nicht intentional zu handeln. Zum anderen beinhaltet die Rede der Reformatoren vom Wachstum und Fortschritt, aber ebenfalls die Metapher der „guten Frucht“ an sich, immer zugleich Tat und Wirkung. Wachstum ist immer auch Resultat. Summa summarum bietet die Argumentationsfigur von „Wort und Antwort“ in Ergänzung zu anderen Begründungsmustern in Frage nach Leitungshandeln coram deo vor allem zwei Vorteile: Erstens bindet sie das kybernetische Handeln stärker an das Heilshandeln in Christus zurück und markiert damit gerade im Handeln aus der Rechtfertigung ein spezifisches Proprium christlicher Leitung. Zweitens gibt sie mit dem Moment der Antwort, die dem gehörten Evangelium entsprechen muss, einen Hinweis auf die Frage, welche Methoden wie rezipiert werden können. Im Anschluss an die bisherigen Überlegungen gilt es nun noch zu zeigen, wie sich das reformatorische Schema von „Wort und Antwort“ in der Praxis hinsichtlich der Zuordnung von göttlichem und menschlichem Handeln fruchtbar machen lässt. 54
So macht auch Bayer die promissio Gottes zum Ausgangspunkt, welche den Menschen zu einem Antwortenden werden lässt. Vgl. ebd., 1. Vgl. auch: Joest / Lüpke (2012), 159.
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17.4. „Wort und Antwort“ – Bündelung und praktische Konsequenzen Eine Zuordnung von göttlichem und menschlichem Handeln in der Kybernetik als „Wort und Antwort“ impliziert, ... 1) ... dass der Antwortende von Gottes gnädigem Wort lebt, was die Verheißung beinhaltet, dass Gott vor und nach, in und außerhalb, wegen und gegen menschlichem Handeln zu seinem Ziel kommen wird. In diesem Bewusstsein unterlässt Gemeindeleitung jedoch keineswegs ihre Antwort in Form eines intentionalen und gezielten Handelns, „damit die Gnade umso mächtiger werde“ (Röm 6,1). Das Gegenteil ist der Fall. 2) ... dass die Haltung des Antwortenden entscheidend ist. In der Tat bleibt ein unreformatorisches Vertrauen auf die eigene Aktion eine bleibende Gefährdung kybernetischen Handelns. Sie muss im Blick behalten werden. Nur lassen sich eben von der Intensität kybernetischen Handelns keine Rückschlüsse auf eine etwaige Selbst- und Werkgerechtigkeit ziehen. Entscheidend ist vielmehr die Haltung hinter diesem Handeln. Zwei Personen können kybernetisch identisch agieren, jedoch aus zwei gänzlich unterschiedlichen Motiven.55 Der eine leitet, um mit seinen Taten selbst ein gutes Wort über sein Leben sprechen zu können, der anderer leitet als dankbare Antwort. In den meisten werden sich wohl beide Motive mischen. 3) ... dass eine Methode als menschliche Antwort dennoch nicht beliebig sein kann. Da das Wort keine beliebige Antwort nach sich zieht, sind auch die Methoden der Kybernetik nicht beliebig, sondern entsprechen in Zielsetzung und Durchführung dem gehörten Wort. Methoden der Gemeindeleitung müssen dem gehörten Wort Gottes Raum geben und der Grundstruktur des Evangeliums entsprechen. Dieser Grundsatz bildet die notwendige Ergänzung zur Betonung der Haltung. 4) ... dass oftmals nicht gemessen, wohl aber beurteilt werden kann, wie angemessen die menschliche Antwort ist. Hier liegt ein besonderer Wahrheitsmoment des inkarnatorischen Argumentes. Kirche steht hinsichtlich des Zusammenhanges von Messbarkeit und Steuerbarkeit vor ähnlichen Herausforderungen wie andere „weltliche“ Organisationsformen. Es gilt, in Bereichen zielgerichtet zu steuern, in denen das Entscheidende nicht messbar ist. Bereits Malik hat darauf hingewiesen, dass dort, wo die Messbarkeit endet, erst die eigentliche Aufgabe einer Leiterin beginnt (ա8.1). Sie muss erfahrungsbasiert beurteilen. Wie eine Deutschlehrerin die Qualität des Aufsatzes eines Schülers nicht messen, wohl aber beurteilen 55
Zu dieser Argumentationsstruktur: Vgl. Keller (2012), 63.
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kann, so kann auch in der kirchengemeindlichen Kybernetik die Qualität menschlichen Steuerungshandelns beurteilt werden. Kehren wir zuletzt zurück zu unserem Eingangsbeispiel: „Bis zum 01.01.2017 haben wir die durchschnittliche Zahl der sonntäglichen Gottesdienstbesucher von 40 auf 50 erhöht.“ Stellen wir uns vor, das ausgerufene Ziel wurde im Endeffekt nicht erreicht. Der durchschnittliche Gottesdienstbesuch hat sich nur auf 47 erhöht oder ist vielleicht sogar auf 36 heruntergegangen. Wie ist nun im Anschluss an die bisherigen Überlegungen mit solch einer Zielverfehlung umzugehen? Wie reagieren, wenn sich der Erfolg nicht einstellt? Es ist in diesem Zusammenhang überaus hilfreich, sich einen wesentlichen Sinn von Zielsetzungen zu verdeutlichen. Denn dies könnte helfen, die Diskussion etwas zu entkrampfen. Ziele ziehen. Das ist eine ihrer wichtigsten Funktionen. Ein gesetztes Ziel wie das obige führt dazu, dass die Beteiligten beginnen, sich wichtige Fragen zu stellen: „Warum kommen manche dieser Menschen nicht in den Gottesdienst? Wie können wir ihn womöglich attraktiver gestalten?“ Nach Meyns führt die Verwendung von quantitativen Zielen oftmals zu einer verminderten Qualität. Meines Erachtens ist in der Regel das Gegenteil der Fall. Quantitative Ziele können zu einer Arbeit an der Qualität führen, die zwar nicht messbar,56 aber beurteilbar ist. Es geht summa summarum gar nicht immer darum, ein gesetztes Ziel auch punktgenau erreichen zu müssen, sondern darum, dass Ziele eine Priorisierung der Arbeit schaffen und sich darin handlungsleitend auswirken.57 56
Zur Frage der Verwendung von Kennzahlen wird wohl der Grundsatz gelten: Man kann nicht nicht messen! Darauf hat schon Böckel hingewiesen. Vgl. Böckel (2014), 678ff. Es sei paradox, dass auch die Kritiker einer Verwendung von Kennzahlen faktisch mit quantifizierbaren Größen arbeiteten, wenn es etwa um Pfarrstellenbemessungen gehe. Daraus lässt sich folgern: Die Frage ist nicht, ob in Kirche mit messbaren Kennzahlen gearbeitet wird, sondern nur mit welchen. 57 Zu einem theologisch verantworteten Umgang mit Zahlen, vgl. auch: Gundlach (2008), 16-18. Zur Frage des Verwendung von Zielen und der Messbarkeit kirchlichen Handelns sei ebenfalls auf die Ausführliche Diskussion bei Böckel hingewiesen. Vgl. Böckel (2014), 341ff; 675ff. Nach Böckel handelt es sich bei dieser Frage um „eine der größten Herausforderungen in der evangelischen Führungspraxis“ (678). Zwar seien der Glaube und die gelingende Kommunikation des Evangeliums nicht messbar, messbar sind aber wohl die Qualität deren Konstitutionsbedingungen wie auch deren Wirkungen. Nach „vorne“ hin sei also durchaus die Bereitstellungsqualität kirchlichen Handelns messbar und damit auch controllingfähig. Analoges gelte nach „hinten“ hin für die Wirkungsqualität. Er resümiert: „Insgesamt wird man im Blick kirchliche Angebote ebenso wie im Blick auf pfarramtliche Leistungen zumindest von der prinzipiellen Messbarkeit einer gewissen Bereitstellungsqualität positiv ausgehen können, auch wenn sich dies nicht unmittelbar quantitativ etwa in Form von Teilnehmendenzahlen auswirkt.“ (347) Ein weiteres Argument für die Verwendung von messbaren Zielen ist nach Böckel ebenfalls, dass mit ihnen die Aufgaben von Mitarbeitern auch begrenzbar werden, also auch etwas Entlastendes haben können (366). Selbstverständlich benötige der Umgang mit den
17. Ist Leitung coram deo erlaubt?
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Ist Zielerreichung also irrelevant? Für manch einen handelt es sich dabei um die Gretchenfrage. Man reagiert auf die Zielverfehlung mit Gelassenheit und macht sich bewusst, dass Gott die Zielerreichung nicht habe schenken wollen. Außerdem hatten die Ziele in ihrer handlungsleitenden Funktion trotz ausbleibender Zielerreichung bereits ihren Zweck erfüllt. Kritisch blickt man nun auf jenen kirchlichen Flügel, der aufgrund des ausbleibenden Erfolgs in Aktionismus verfällt und man meint darin womöglich sogar eine Form von Werkgerechtigkeit entlarven zu können. Diese „Reaktion der Gelassenheit“ hat in Teilen ihre Berechtigung, ist aber in dieser Form zu einseitig. Hilfreicher ist da schon ein Argument, das Timothy Keller im Kontext einer analogen Diskussion im US-amerikanischen Kontext anbringt.58 Während für einen Teil der kirchlich Verantwortlichen Erfolg die alles entscheidende Kategorie darstelle, nehme ein anderer Teil die gegenüberliegende Position ein und betone ausschließlich die Treue der eigenen Arbeit gegenüber Gott und blendet Erfolg als Kategorie aus. Gegenüber beiden Seiten spricht Keller sich dafür aus, dass kirchliche Arbeit in erster Linie weder anhand von Erfolg noch von Treue, sondern von Fruitfulness beurteilt werden muss. Ausgehend von 1Kor 3 fragt er: Trägt menschliches Handeln Frucht? Die Metapher der Frucht verdeutliche, dass dem Einfluss des Gärtners einige Faktoren wie Bodenoder Wetterbedingungen entzogen bleiben. Nur Gott könne die günstigen klimatischen Bedingungen schenken. Bleibt die Frucht der Zielerreichung also aus, dann kann das also durchaus darin begründet sein, dass Gott nicht die passenden klimatischen Bedingungen geschenkt hat. Andererseits entbindet jenes Bild vom Gärtner und der Frucht nach Keller auch nicht davon, sich bei ausbleibender Frucht kritische Rückfragen zu stellen. Kann es in Teilen doch an uns gelegen haben, dass sich die Bänke im Gottesdienst nicht füllen wollten? War das familienorientierte neue Gottesdienstprogramm für unseren Stadtteil vielleicht doch nicht angemessen? Diese „kritischen Rückfragen“ sind in Kirche und Theologie nicht immer populär. Sie bleiben aber notwendig. Sie können allerdings – und darin besteht in der Tat ihre Gefahr – in Verzweiflung und einen daraus resultierenden übereiferndem Handeln führen. Deshalb ist es nötig, Kellers Argumentation mithilfe der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu präzisieren. Bleibt Erfolg und Zielerreichung aus, dann begegnet darin ebenfalls Gottes Wort im Modus des usus elenchticus legis, das kybernetisch Verantwortliche vor Gericht stellt und verurgemessenen Zahlen aber auch einer theologischen Reflexion (343). Auch sind sie in einem komplexen Systemzusammenhang zu verorten, sodass man im Umgang mit ihnen nicht in eine „einlinig-monokausale Sichtweise“ (680) zurückfallen dürfe. Dennoch gibt Böckel summa summarum ein positives Votum für den kirchlichen Umgang mit Zahlen ab, was gerade im Anbetracht seiner sonstigen systemischen Zurückhaltung bemerkenswert ist. 58 Vgl. Keller (2012), 13f.
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teilt. Als Leitungsverantwortliche werden wir für ausbleibenden „Erfolg“ verantwortlich gemacht und schuldig gesprochen.59 Das Wort des Evangeliums spricht uns zu, dass wir um der gehorsamen Antwort Christi Willen dennoch Gottes Kinder sind. Unsere Identität liegt nun allein in Christus und nicht in unserer Zielerreichung begründet. Dieses Evangelium befreit aus aller Verzweiflung und gibt die Kraft wieder neu anzufangen und sich neue Ziele zu setzen. Das Evangelium gibt aber auch die Freiheit, sich den „kritischen Rückfragen“ zu stellen, da wir an diesen nicht mehr zerbrechen werden. Da „kritische Rückragen“ an unser Handeln nicht mehr unsere Identität berühren können, da unsere Identität im Evangelium und nicht in unserem Handeln begründet ist, können wir uns jenen Fragen mit einer gewissen Gelassenheit stellen und fragen: „Was können wir das nächste Mal besser machen?“ Das Evangelium gibt Gelassenheit in jeder Selbstkritik. So zeigt sich insgesamt, dass die „kritische Rückfrage“ an die Wirksamkeit von kirchlichem Handeln keineswegs ein bloßes gegenwärtiges Krisenphänomen darstellt, sondern der christlichen Kybernetik von Natur aus inhärent ist. Gottes Wort von seiner „Heiligung des Fragments“ impliziert eben nicht die Antwort einer „Heiligung der Inkompetenz.“ Diese nun vorgenommene Verhältnisbestimmung von menschlichem und göttlichem Handeln kommt abschließend in dem Schlusssatz von Tim Kellers Center Church zum Ausdruck: “You can do this ministry with God’s help – so give it all you’ve got. You can’t do this ministry without God’s help – so be at peace. Jesus captured both of these truths in one verse recorded in John’s gospel: “I am the vine; you are the branches. If a man remains in me and I in him, he will bear much fruit; [but] apart from me you can do nothing.”60
59
Dieser Schuldspruch ergeht selbst dann, wenn wir die Zielerreichung nicht vollständig in der eigenen Hand hatten. Nach Werner Elert ist genau dies das Furchtbare am deus absconditus gegenüber dem Menschen. „Gott macht ihn verantwortlich für etwas, was er gar nicht leisten kann.“ Elert (1952), 18. 60 Keller (2012), 382.
18. Ist Leitung coram mundo möglich? – Steuerung komplexer Systeme
Bisher hatten wir gefragt, inwiefern Leitung als gezielte und intentionale Beeinflussung gegenüber Mitmenschen angebracht (ա 16.) und gegenüber Gottes Handeln angemessen ist (ա17.). Stillschweigend setzten wir dabei voraus, dass diese gezielte Beeinflussung überhaupt möglich sei, dass gezielte Steuerung und Veränderung in unserer Hand läge. Diese Voraussetzung ist jedoch zu hinterfragen. Bereits die Literaturanalyse (աTeil I) hatte hier eine Problematik zu Tage gefördert. Besonders systemische Konzeptionen in der theologischen Leitungsliteratur hatten darauf hingewiesen, dass ein „klassisch-lineares“ Steuerungsverständnis in komplexen Systemen an seine Grenzen gerät (ա 3.4. + 6.3.5.). Wird sich der systemisch Leitende des 21. Jahrhunderts darum von dem Gedanken verabschieden müssen, gezielt Veränderungen zu bewirken? Ja und Nein. Denn besonders ein Blick auf jüngere systemische Leitungsmodelle zeigt, dass sich ein Mittelweg gehen lässt. Die hohe Komplexität sozialer Systeme wird hier einerseits anerkannt, aber andererseits lassen sich jene Punkte identifiziert, an denen mit Vorsicht gezielte Interventionen möglich sind. So verbinden etwa Malik und Pinnow (ա8.) ihren systemischen Ansatz mit Elementen anderer, weitaus „klassisch-linearer“ Leitungskonzeptionen. Sie bleiben einerseits ihren systemischen Wurzeln verbunden, nehmen andererseits aber Aspekte transformativer Führung auf. Dadurch ergibt sich eine interessante Synthese aus einem eher „defensiv“ ausgerichteten systemischen Leitungsmodell, welches direkter Steuerung wenig zutraut, mit einem eher „offensiv“ orientierten transformativen Führungsverständnis, welches direkte Steuerung wesentlich stärker für möglich hält. Es wird ein Mittelweg zur Steuerung komplexer Systeme beschritten.1 Im Anschluss an Böckel ließe sich dabei von Leitung als „wirksamer Intervention in die Selbststeuerungsaktivität einer Organisation“2 sprechen. Wie kann nun Steuerung in komplexen Systemen gelingen? Vieles ließe sich zur Beantwortung dieser Frage anführen. Wir beschränken uns 1
Jener Begriff der Komplexität wurde oben bereits näher präzisiert. Leitung wird heute vor allem mit dynamischer und emergenter Komplexität, sowie einem adaptivem Wandel umgehen müssen (ա10.6.). 2 Böckel (2014), 33.
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an dieser Stelle jedoch im Wesentlichen auf eine Verbindung und theologische Rezeption von drei Konzepten, die jeweils auf ihre Art und Weise eine Antwort auf die Problematik der Steuerung komplexer Systeme geben. Es handelt sich dabei erstens um den Ansatz Adaptive Leadership, welcher in Harvard insbesondere von Ronald Heifetz entwickelt wurde.3 Zweitens soll der am Massachusetts Institute of Technology wirkende Peter Senge mit seiner Fünften Disziplin beachtet werden,4 sowie drittens auch sein Schüler Claus Otto Scharmer mit der Theorie U.5 Dieses Kapitel baut sich nun wie folgt auf: Zuerst soll vergleichsweise kurz und bündig die Grundsatzfrage thematisiert werden, ob Leitung möglich ist. Dabei wird auf eine erneute Darstellung der Grundzüge systemischen Denkens verzichtet (ա͵; 10.). Die daran anschließenden Abschnitte gehen dann der Frage nach, wie dies konkret praktiziert werden kann. Dabei haben die Ausführungen einen exemplarischen Charakter und stellen eine Möglichkeit dar, ein komplexes System wie eine Kirchengemeinde zu leiten. 18.1. Die Grundsatzfrage – Ist Steuerung möglich? 18.1.1. Systemische Wahrnehmung führt zu einer erhöhten Steuerbarkeit Das Argument lässt sich so zuspitzen: Systemische Leitung beginnt damit, das System erst einmal so umfassend wie möglich wahrzunehmen. Jene präzisere Wahrnehmung zieht dabei ein besseres Verständnis des Systems nach sich. Wer das System mit seinen Dynamiken nun besser begreift, der findet auch viel eher einen Hebel oder Ansatzpunkt, um es zu verändern. Systemische Leitung meint dann eben nicht, die Unsteuerbarkeit des Systems zu bestaunen, sondern die verborgenen Dynamiken durch gezielte, gemeinsame Reflexion in Teilen sichtbar und damit eben auch handhabbarer und steuerbarer zu machen. Darum führt eine systemische Sichtweise auf Leitungsprozesse in letzter Konsequenz sogar zu mehr Steuerbarkeit.6 3
Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009). Besonders im angelsächsischen Raum wurde dieser Ansatz auch in theologischer Literatur rezipiert. Vgl.: Hamm (2007), 8-15; Doornenbal (2012), 1-2; Roxburgh / Romanuk (2006), 98-99. 4 Vgl. Senge (2006). Senge wurde auch von Hauschildt und Pohl-Patalong rezipiert. Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 404-406. 5 Vgl. Scharmer (2011). 6 Auch Senge lehnt es ab, aus dem systemischen Ansatz ein Verzicht auf Steuerung abzuleiten. Vgl. Senge (2006), 62f.: “The systems principles can even become excuses for inaction - for doing nothing rather than possibly taking actions that might backfire, or even make matters worse. This is a classic case of little knowledge being a dangerous thing. For the real implications of the systems per-
18. Ist Leitung coram mundo möglich?
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So argumentieren auch Heifetz, Grashow und Linsky: “For many people, the idea that you are always powerfully influenced by your surroundings and history challenges dearly held notions of free will. Yet if you can get on the balcony and observe the forces acting on you, you actually are exercising free will. You have acknowledged the reality that you are embedded in a web of relationships and are influenced by those relationships, so you create more freedom for yourself to act with understanding of those influences rather than merely to react unthinkingly to them.”7
Ein ähnlich differenziertes Verhältnis zur Steuerbarkeit findet sich auch in der Poimenik, besonders in der systemischen Seelsorge. Nach Christoph Morgenthaler ermutigt der systemische Ansatz in der Poimenik ebenfalls zu einem Mittelweg zwischen Verharren im Chaos und zielgerichtetem Wandel. Der Therapeut greife in das System und dessen Prozesse ein, indem er es gezielt „verstört“.8 So „bildet sich ein übergeordnetes System, das das ‚Problemsystem‘ und das therapeutische System zusammenbindet. […] Gerade so können Menschen in einem problembelasteten System neue Information aufnehmen und nur so können sie sich und ihre Systeme verändern lernen.“9 Damit bindet Morgenthaler auch gleichsam die systemische mit der personalen Dimension zusammen,10 wie es im Folgenden auch für unseren kybernetischen Ansatz gelten soll. 18.1.2. Systemische Leitung hat eine deutliche personale Dimension Der autopoetische Grundsatz besagt, dass sich soziale Systeme selbst steuern. Im Umkehrschluss könnte dies bedeutet, dass die einzelnen Akteure selbst kaum einen Einfluss auf die Entwicklung eines sozialen Systems haben.11 Damit gerät die personale Dimension von Leitung leicht in den Hintergrund. Es spricht jedoch auch einiges gegen diesen Umkehrschluss. So lässt sich zeigen, dass das Handeln einzelner Individuen durchaus einen spective are not inaction but a new type of action rooted in a new way of thinkingsystems thinking is both more challenging and more promising than our normal ways of dealing with problems.” Auch Breitenbach sieht das als eine Gefahr. Vgl. Breitenbach (1994), 214: „Die Aussage, es gebe keine Ziele mehr und schon gar keine Steuerung, kann angesichts der Zukunftsrisiken nur wie die Einladung zum Tanz auf dem Vulkan erscheinen.“ 7 Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 195. 8 Vgl. Morgenthaler (2002), 68. 9 Ebd., 147. 10 Vgl. ebd., 73: „Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass damit der einzelne Mensch (in seinen Beziehungssystemen) nicht einfach aus dem Blickfeld gerät. Unsere Sichtweise soll sowohl psychosystemisch wie psychosystemisch sein.“ 11 Nach Hauschildt und Pohl-Patalong impliziert die Rede von autopoietischen Systemen „die ungewöhnliche These, es sei angebracht, sich von der neuzeitlichen Vorstellung von Subjekten gänzlich zu verabschieden.“ Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 130.
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großen Einfluss auf die Entwicklung eines sozialen Systems haben kann. Es gibt etwa deutliche Hinweise, dass die Person des Managers generell einen Einfluss auf den Unternehmenserfolg hat.12 Dieser Umstand lässt sich besonders gut an einer Simulationsübung verdeutlichen, die Peter Senge als „Bier-Spiel“ mit zahlreichen Personen durchgeführt hat.13 Das System bei dieser Simulationsübung war über Verzögerungseffekte so konstruiert, dass es für die einzelnen Akteure erheblich negative Auswirkungen hatte, wenn sie versuchten ihre Situation zu kontrollieren und zu steuern. So kam Senge zu dem Ergebnis, dass jene Akteure, die auf Steuerung und Strategie verzichteten, im Schnitt zu besseren Ergebnissen gelangten als jene, die versuchten ihre Situation linear zu kontrollieren. Dennoch identifizierte Senge eine dritte Gruppe, die noch einmal besser abschnitt als jene mit Steuerungsverzicht. Die Akteure dieser Gruppe zeichneten sich durch ein Verständnis der Dynamiken des Gesamtsystems aus. Das macht deutlich, dass beides, also sowohl der Zustand des Systems als auch die einzelnen individuell handelnden Personen, einen erheblichen Einfluss haben.
Systemische Leitung in Kirche und Gemeinde hat deshalb sowohl dem Ganzen als auch den Teilen, dem System als auch den Personen, Aufmerksamkeit zu schenken.14 Beides gilt es aufeinander zu beziehen und bedarf einander. Scharmer spitzt es so zu: „Selbstorganisation organisiert sich nicht von selbst. Selbstorganisation erfordert Menschen, die aktiv die Bedingungen dafür schaffen, dass sich Selbstorganisation entwickeln und replizieren kann.“15 12
Vgl. Bloom / Eifert / Mahajan / McKenzie / Roberts (2013). Ähnliches gilt für den Einfluss charismatischer Führungspersonen. Vgl. Steyrer (2009), 67. 13 Vgl. Senge (2006), 27-54. Die Teilnehmer der Simulation nehmen verschiedene Positionen in einer Lieferkette für eine bestimmte Biermarke ein, vom Getränkemarkt über den Großhändler bis hin zur Produktionsfabrik. Die Teilnehmer konnten nur mittels Bestellung und Lieferung miteinander kommunizieren und auch nur im Wochenrhythmus. Die Spielleitung gibt zu Beginn einen Andrang auf jene Biermarke vor. Die Verzögerung in der Kommunikationsstruktur führt jedoch dazu, dass jener Andrang erst verspätet bei der Produktionsfabrik wahrgenommen wird. Es kommt zu einem Peitscheneffekt. Als die Produktionsfabrik beginnt, mehr Bier herzustellen, ist die Anfrage beim Kunden schon abgeebbt. Das Gesamtsystem „Lieferkette“ kommt so von einem Extrem in das andere. Während in der ersten Phase der Simulation eine Knappheit der Biermarke vorherrscht, ist in der zweiten Phase viel zu viel vorhanden. 14 So beobachtet es auch Meyer-Blanck bei Paulus in 1Kor 12. Vgl. MeyerBlanck (2007), 507: „Leitung geschieht weniger durch bestimmte Leiter oder Leitungsgremien, sondern durch die leitende und steuernde Funktion der Teilbereiche des Gesamtsystems Gemeinde. Damit lässt sich das paulinische Leitungsverständnis im systemischen Sinne verstehen […], ohne dass man die strukturellen und personenbezogenen Aspekte außer Acht lässt.“ Auch Sipe und Frick wollen die systemische und personale Ebene gerade nicht gegeneinander ausspielen. Vgl. Sipe / Frick (2009), 147: “A systems thinking Servant-Leader leads change in three dimensions: 1. Organizational (Systemic), 2. Relational (Interpersonal) and 3. Individual (Personal). If you overlook any dimension, you will not manage change effectively or systemically.” Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 44. 15 Scharmer (2011), 229.
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Hier liegt auch der Kritikpunkt Scharmers an den klassischen autopoietischen Systemtheorien. Denn sie „lokalisieren den Grundmechanismus der Veränderung außerhalb der handelnden Akteure und der Grenzen ihres Aufmerksamkeitsfeldes.“16 Dagegen möchte Scharmer mit seinem systemischen Konzept eher bei den handelnden Personen selbst ansetzen. Manch eine autopoietische Systemtheorie würde Leitende hingegen in „einer unproduktiven Opferhaltung (‚Das System macht et17 was mit mir‘)“ gefangen halten. Scharmers Konzept möchte dazu ermutigen, schöpferisch aktiv zu werden und aufzeigen, dass Führungskräfte auch in komplexen Systemen Veränderungen initiieren können.
18.1.3. Die Metapher des Segelns
Abbildung 13: Leitung als Segeln
Die bisherigen Überlegungen zur Steuerung lassen sich in der Metapher des Segelns zusammenbinden.18 Versucht ein Segelschiff bei Gegenwind von A nach B zu gelangen, dann ist dies nicht auf direktem, linearem Weg möglich. Vielmehr steuert es sein Ziel in einem „Zickzackkurs“ an („Kreuzen“). Die Metapher verdeutlicht damit den Abschied von einem linearen Leitungsverständnis, drückt dabei jedoch auch keinen Steuerungsverzicht aus. Denn der Segler nutzt sein Verständnis von der Dynamik der Windverhältnisse, um sein Ziel auf indirektem Wege zu erreichen. Natürlich soll dabei das Ziel B erreicht werden. Womöglich kommt das Schiff jedoch nicht direkt bei dem ursprünglich geplanten Ziel B an, sondern bei einem Bx. Damit soll ausgedrückt werden, dass sich Ziele auf der gemeinsamen Reise auch verändern können, auch weil vieles nicht von Beginn an planbar ist. Dennoch ist auch Bx kein willkürlicher und zufälliger Ort, denn er wird aufgrund von Steuerungs- und Planungsleistungen erreicht. So kommen im Bild des Segelns viele Aspekte von Steuerung komplexer Systeme zum Ausdruck, obwohl es natürlich wie jedes Bild auch seine Grenzen hat. Es wird den weiteren Ausführungen in diesem Kapitel zu Grunde liegen.19 16
Ebd., 375. Ebd., 379. 18 Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 79-81. 19 Auch Meyns kann trotz grundsätzlicher Kritik an Steuerungsmethoden, diesen dann einen positiven Ort zugestehen. Vgl. Meyns (2013), 218: „Die Erarbeitung von Situationsanalysen, die darauf aufbauende Formulierung von Zielen und daran 17
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18.2. Konkret Leiten unter komplexen Bedingungen – Ein erster Überblick anhand der Theorie U Das Folgende orientiert sich in seiner Grundstruktur an der Theorie U nach Claus Otto Scharmer. Nach ihm umfasst ein gelingender Veränderungsprozess verschiedenste Phasen, die sich idealtypisch in der Form eines Us darstellen lassen.20
Abbildung 14: Der U Prozess, eigene Darstellung in Anlehnung an: Scharmer (2011), 68.
Scharmers U besteht aus insgesamt vier Ebenen. Vereinfacht gesagt ist es nun das Ziel eines Leitungsprozesses gemeinsam mit der Gruppe von der obersten auf die unterste Ebene vorzustoßen und die dabei gewonnenen Erkenntnisse durch die Ebenen hindurch zurückgehend zu implementieren. Aus diesem Prozess ergibt sich dann die Form eines U. Auf der obersten Ebene findet nach Scharmer das sogenannte Downloading statt.21 Hier dominieren die alten Gewohnheiten. Menschen orientierte Planungen haben in einem solchen Setting systemtheoretisch betrachtet durchaus ihren Platz. Sie dürfen nur nicht alle anderen Steuerungsmethoden okkupieren.“ 20 Vgl. Scharmer (2011), 54-74. Insgesamt legt Scharmer im Verlauf verschiedenste Fassungen des U vor. Die oben dargestellte fasst jedoch seinen wesentlichen Argumentationsstrang zusammen. In vielerlei Hinsicht knüpft Scharmer an seinen Lehrer Peter Senge an. Senge selbst kann sein Leitungsverständnis auch mit der Theorie U zusammenbringen. Vgl. Senge (2006), 401-403. Die U-Form wird in der Führungsliteratur öfters verwendet. Roxburgh und Romanuk verwenden das Schema eines „liegenden Us“. Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 37-60. 21 Zur Beschreibung der nun dargestellten Phasen: Vgl. Scharmer (2011), 127228.
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denken, handeln, reden usw. wie sie es immer schon getan haben. Durch eine „Öffnung des Kopfdenkens“ gilt es nun, diese alten Denkmuster gemeinsam zu durchbrechen und die Wirklichkeit aus einer neuen Perspektive zu sehen. Diese zweite Ebene nennt Scharmer Seeing. In einem nächsten Schritt geht es darum, auf die Ebene des Sensing zu gelangen. War das Seeing noch ganz dem analytischen Denken verpflichtet, geht es nun um eine „Öffnung des Herzdenkens“, gewissermaßen um die emotionale Ebene und das gegenseitige empathische Zuhören. Im Anschluss wird der Scheitelpunkt des U erreicht. Diese Phase nennt Scharmer Vergegenwärtigung oder Presencing, ein Terminus der sich aus den Worten presence und sensing zusammensetzt. Hierbei verbindet sich die Gruppe „mit der Quelle der höchsten Zukunftsmöglichkeiten“22, erlebt quasi einen kreativen Prozess. War sie bisher hauptsächlich mit der Erweiterung ihrer Wahrnehmung beschäftigt, öffnet sie sich nun für das Neue und für das, was noch möglich wäre. Hat die Gruppe nun den Scheitelpunkt des U überschritten, implementiert sie jetzt das hier neu Entdeckte. In der Phase des Crystallizing verdichtet sie das Neue hin zu einer konkreten Vision. Während des Prototyping wird experimentell versucht, die Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Im letzten Abschnitt des Performing wird das sich während der Erprobung Bewährte implementiert und zu einem festen Bestandteil der Organisation gemacht. Diese vier Ebenen veranschaulicht Scharmer nun an verschiedensten Beispielen. 23 Ein Beispiel sei die Wahrnehmung. Die oberste Ebene sei das „Ich-in mir“. Hier nimmt die Person alles vor dem Horizont seiner bekannten Denkgewohnheiten wahr. Es folgt das „Ich-im-Es“. Hier wird Neues bewusst wahrgenommen. Beim „Ich-im-Du“ werden nicht nur Informationen aufgenommen, sondern die Welt von der Perspektive des anderen her gesehen. Auf der untersten Ebene des „Ich-inGegenwärtigung“ wird die Welt von der Quelle des Werdens aus betrachtet. Noch deutlicher wird dieses Prinzip am Beispiel des Zuhörens.24 Auf der obersten Ebene dominiert das Downloading („Ist schon klar, weiß ich schon“). Es folgt das Entdecken des Unerwarteten beim Zuhören („Oh, jetzt sieh dir mal das an!“). Drittens geht es um ein empathisches Zuhören („Oh ja, ich weiß, wie du dich fühlst.“) Auf der untersten Ebene ereignet sich ein schöpferisches Zuhören, bei dem sich beide Personen mit etwas Größerem verbinden („Ich kann das, was ich erlebe, nicht mit Worten fassen.“)
Es ist wichtig zu erwähnen, dass das U dabei nicht auf die Leitende beschränkt ist, sondern einen Prozess darstellt, den eine Gruppe gemeinsam durchlebt.25
22
Ebd., 172. Vgl. ebd., 38f. 24 Vgl. ebd., 39-41. 25 Deshalb spricht Scharmer auch davon, „sich den Kontexten, die relevant sind, zu öffnen (gemeinsames Hinspüren/co-sensing), sich mit der Quelle der Stille zu 23
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Auch wenn das U womöglich nicht in allen Aspekten zu überzeugen vermag, kann die Grundstruktur des U für die Steuerung komplexer Prozesse in einer Kirchengemeinde hilfreich sein. Denn das Interessante bei Scharmer, und in ähnlicher Form auch bei Senge und Heifetz, ist, dass hier der systemische Gedanke einer genauen und sensiblen Wahrnehmung mit äußerst kreativen und visionären Elementen verbunden wird. Der Ansatz legt damit seine Schwerpunkte sowohl auf ausführliche Wahrnehmung als auch auf zielorientierte Aktion. Ein Beispiel für eine kirchliche Variante eines solchen Prozess stellen, wenn auch für den nordamerikanischen Kontext, Alan Roxburgh und Fred Romanuk vor.26 Nach ihnen durchläuft ein Veränderungsprozess fünf Phasen. In der ersten Phase Awareness gilt es, den Menschen aufmerksam zuzuhören und ihnen zu ermöglichen, die eigenen Eindrücke und Emotionen zu artikulieren. Hier sollte ein Raum eröffnet werden, in dem die Menschen ihre Erfahrungen deuten und Ängste zum Ausdruck bringen können. Dabei können besonders biblische Geschichten eine Sprache verleihen. Die zweite Phase wird Understanding genannt. Hier werden die artikulierten Eindrücke und Gefühle reflektiert und analysiert. Menschen beginnen Fragen zu stellen und Informationen zu sammeln, um zu verstehen, warum ihre Situation so ist, wie sie ist. In der dritten Phase Evaluation werden von den neu gewonnenen Einsichten her die bestehenden Programme und Aktionen auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft. Die vierte Phase nennt sich Experimentation. Hier geht es keineswegs um die Entwicklung einer perfekten Strategie, sondern um das experimentelle Ausprobieren von Neuem. Die letzte Phase wird Commitment genannt. Gelungene Experimente werden für die regelmäßige Praxis übernommen. Dieses Modell ist Scharmers „U“ insofern ähnlich, als dass beide Modelle mit Gruppenprozessen zur Vertiefung der Wahrnehmung (auf verschiedenen Ebenen) beginnen und über eine Experimentierphase hin zu einer Implementierungsphase führen.
In den folgenden fünf Abschnitten soll nun gezeigt werden, wie der Grundgedanke des U für die Steuerung einer Kirchengemeinde fruchtbar gemacht werden kann. Die Gemeinde auf eine Reise durch fünf Phasen zu begleiten und zu führen, ist die Aufgabe einer gemeindlichen Leitungsperson. Dabei sind diese Phasen oder Aufgaben nicht als eine Abfolge von Schritten zu verstehen, die mechanisch bearbeitbar sind. Vielmehr wird man auch zwischen ihnen hin und her springen müssen.27
verbinden (gemeinsam gegenwartsfähig zu werden/co-inspiring) und das Neue (mithilfe eines Prototyps) in die Welt zu bringen/ co-creating.“ Vgl. ebd., 243. 26 Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 79-108. Das Modell geht in seinen Grundzügen auf die Phasen nach Everett Rogers zurück: Knowledge, Persuasion, Decision, Experimentation und Confirmation. Vgl. 81f. 27 So sagt es Scharmer auch über das U. Vgl. Scharmer (2011), 71.
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18.3. Die erste Aufgabe – Die schnelle Lösung vermeiden und Wahrnehmungsbarrieren aufbrechen Wer Leitungsverantwortung für eine Kirchengemeinde übernommen hat, der steht oftmals vor Herausforderungen, die durch hohe Komplexität gekennzeichnet sind. Ist das der Fall, dann besteht die erste Aufgabe darin, eine schnelle und einfache Lösung des Problems zu vermeiden. Das gilt natürlich nicht für tatsächlich unkomplexe Herausforderungen, sondern eher für jene Weichenstellungen, bei denen sich eine Kirchengemeinde etwa um ihre zukünftige Ausrichtung Gedanken macht. In der Tat löst es immer wieder eine umfangreiche Kritik aus, wenn Kirche und Gemeinde zu schnellen Lösungen greifen und damit in einen „Reformstress“ (Isolde Karle) geraten. So ist es auch durchaus kritisch zu sehen, wenn kirchliches Management zu schnell zu konkreten Visionen, Zielen und Strategien springt, in einen Aktionismus verfällt und mit seinen Handlungen an der Realität vorbei agiert. 18.3.1. Downloading, sowie die vier Barrieren des Lernens und Veränderns Diesen Prozess des schnellen Handelns, ohne dass die eigenen Denkund Handlungsmuster reflektiert werden, nennt Claus Otto Scharmer Downloading.28 Bei diesem „Herunterladen“ interpretieren wir die Welt anhand unserer alten Denkgewohnheiten und vermeiden es, die Daten unvoreingenommen zu betrachten. Alte Denkmuster werden unreflektiert und ungeprüft vorausgesetzt. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele im Bereich der Gemeindeleitung: „Modernere Gottesdienstformen bringen auch mehr Menschen in die Kirche“, oder: „Die Jugendarbeit der Gemeinde kann nur mit einem Hauptamtlichen funktionieren.“ Beide Sätze können in einem bestimmten Kontext durchaus zutreffend sein. Werden sie jedoch quasi axiomatisch vorausgesetzt, dann wird ein tieferer Lernprozess verhindert. Leitung meint deshalb in einem ersten Schritt solche Wahrnehmungsblockaden zu durchbrechen. Scharmer systematisiert jene Wahrnehmungsblockaden und gelangt so zu primär vier Barrieren, die Lernen und Veränderungen verhindern.29 Diese vier Barrieren beziehen sich auf die Bereiche Denken, Sprechen, Handeln, Wahrnehmen und lauten: ̶ ̶ ̶ ̶ 28 29
Nicht erkennen, was man sieht (Abspulen alter Denkschablonen) Nicht sagen, was man denkt (Abspulen alter Sprechschablonen) Nicht tun, was man sagt (Abspulen alter Handlungsgewohnheiten) Nicht sehen, was man tut (Abspulen alter Sehgewohnheiten) Vgl. ebd., 128-137. Vgl. ebd., 135-137.
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Nehmen wir zum Beispiel die Wahrnehmungsblockade „Nicht sagen, was man denkt.“ Sie kann etwa während einer Kirchenvorstandssitzung auftreten. Vorstandsmitglieder bringen ihre Gedanken nicht zur Sprache, weil sie womöglich der Pfarrerin nicht widersprechen wollen, die Harmoniekultur der Gemeinde nicht gefährden möchten oder weil der Gedanke eine seit Jahrzehnten bestehende Praxis in Frage stellen würde. Stattdessen dominiert das Downloading in Form der alten Sprechschablonen. Heifetz, Grashow und Linsky machen zur Analyse dieses spezifischen Problems einen praktischen Vorschlag.30 Sie raten den Sitzungsteilnehmenden, sich während einer Sitzung Notizen in Form einer Liste mit zwei Spalten zu machen. In die eine Spalte wird notiert, was man sagt und in die andere, was man dabei denkt. Am Ende bietet sich eine Reflexion über das an, was die Differenz der beiden Spalten verrät. Auch das Phänomen „Nicht tun, was man sagt“ kommt in der Leitungspraxis immer wieder vor. Ein offizieller Beschluss ist gefasst, aber die Umsetzung wird von manchen Mitarbeitern faktisch torpediert, in dem diese an den alten Handlungsmustern festhalten. Heifetz, Grashow und Linsky beschreiben jenen Umstand auch als eine Kluft zwischen den offiziellen Werten einer Organisation und deren tatsächlichem Verhalten. Man wird deshalb gemeinsam reflektieren müssen, warum es diese Kluft gibt und wer von ihr profitiert und darum – womöglich unabsichtlich – den neuen Beschluss sabotiert.31 Damit ist das Problem zwar noch nicht gelöst, der erste wichtige Schritt ist aber gegangen. Nun kann der Versuch unternommen werden, mit den sabotierenden Mitarbeitern einen „ehrlichen Kompromiss“ zu finden. 18.3.2. Technische Lösungen für adaptive Herausforderungen vermeiden Eine weiteres Beispiel für alte Handlungsmuster sind sogenannte „technische Lösungen“. Hat es Gemeindeleitung mit emergenter Komplexität oder einer adaptiven Herausforderung zu tun, wird sie naheliegende, aber „technische“ Lösungen jedoch bewusst vermeiden müssen.32 Erinnern wir uns an die oben beschriebenen Charakteristika emergenter Komplexität oder adaptiven Wandels (ա 10.6.). Hier ist sowohl die Lösung als auch die eigentliche Problembeschreibung bei genauerer Betrachtung noch unbekannt. Zwei Beispiele: Ein Presbyterium soll ein zweites Mal in fünf Jahren einen sechsstelligen Betrag zur Reparatur der Orgel bewilligen. Eine technische Lösung bestände darin, das Geld wie gewohnt für die Reparatur zu investieren. Oder die Ausflüge der Seniorengruppe werden stets schlechter besucht. Eine 30 31 32
Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 83. Vgl. ebd., 78f. Vgl. Scharmer (2011), 336.
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technische Lösung bestünde z.B. darin, attraktivere Ausflugsziele zu suchen. In beiden Fällen kann die Herausforderung in der Tat lediglich technischer Natur sein, jedoch wird Leitung hier prüfen müssen, ob nicht doch eine emergente Komplexität vorliegt. Wer diesen Unterschied ausblendet, der betreibt „rearranging the deck chairs on the Titanic“. Das Schiff läuft auf einen Eisberg zu, aber die Besatzung ist damit beschäftigt, die Stuhlordnung an Deck neu zu ordnen. Adaptive Herausforderungen verlangen hingegen eine umfassendere Wahrnehmung. Versucht Leitung adaptiven Herausforderungen durch technische Lösungen zu begegnen, dann kann dies nach Peter Senge noch weitere negative Konsequenzen nach sich ziehen. Dabei spricht Senge z.B. von dem Phänomen „The cure can be worse than the disease“,33 was sich besonders gut an gescheiterter Entwicklungshilfe verdeutlichen lässt. Gut gemeinte Nahrungsmittel- oder Kleidungsspenden zerstören langfristig die einheimische Wirtschaft in den Entwicklungsländern. Die technische Lösung verschlimmert im Endeffekt die adaptive Herausforderung. Für diesen Umstand lassen sich auch Beispiele aus dem Leben einer Kirchengemeinde finden. Die vier hauptamtlichen Mitarbeiter des kirchlichen Kindergartens kommen nur schwerlich miteinander aus, so dass die gemeinsamen Teamsitzungen zunehmend unproduktiver werden. Eine technische Lösung dieses Problems bestünde bspw. darin, die Pastorin als Personalvorgesetzte darum zu bitten, in Zukunft die Teamsitzungen zu leiten. Kurzfristig ist das Problem gelöst und die Sitzungen werden produktiver. Langfristig verschlimmert diese technische Lösung jedoch die adaptive Herausforderung.34 Das Mitarbeiterteam wird für das eigene Funktionieren zunehmend von einer externen Größe abhängig und verliert die Fähigkeit, selbst die Probleme zu lösen. Womöglich kommen die Spannungen im Team sogar an einem anderen Ort jenseits der Teambesprechungen zum Ausbruch, so dass sich das Problem nur verschiebt. Senge bezeichnet dieses Phänomen als „Today’s problems come from yesterday’s ‚solutions‘.“35 18.3.3. Weitere Wahrnehmungsbarrieren Peter Senge identifiziert darüber hinaus noch weitere Wahrnehmungsbarrieren, die eine tiefgreifende Wahrnehmung bei dynamischer und emergenter Komplexität verhindern.36 Eine davon nennt er „The enemy is out there.“37 Hierbei wird das Problem vollständig externalisiert und 33
Vgl. Senge (2006), 61f. Senge nennt diesen Umstand auch „Behavior grows better before it grows worse.“ Vgl. ebd., 60. 35 Vgl. ebd., 57f. Hier wird das Problem nur von einer Stelle des Systems an eine andere Stelle verschoben. 36 Zu Senges Darstellung von sieben Wahrnehmungsbarrieren: Vgl. ebd., 17-26. 37 Vgl. ebd., 19f. 34
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der eigene Beitrag zum Bestehen des Problems ignoriert. Verantwortlich für die schwächelnde Jugendarbeit ist dann die zunehmende Belastung der Jugendlichen durch schulische Verpflichtungen. Sicherlich zeigt die Systemtheorie berechtigterweise auf, dass ein System immer auch durch seine Umwelt beeinflusst wird, wie etwa die Jugendarbeit durch Veränderungen im Schulsystem. Das sollte jedoch nicht den Blick auf den eigenen Beitrag zum Problem blockieren. Senge spricht weiterhin von der Wahrnehmungsblockade „The Fixation on Events“.38 Er mahnt an, dass vielerorts der Fokus auf einzelnen Ereignissen liegt, dabei aber die langanhaltenden und langsamen Entwicklungen übersehen werden, für welche die Ereignisse lediglich Symptome sind. Die Kündigung eines hauptamtlichen Mitarbeiters ist ein Ereignis, ebenso wie der Wechsel einer der Pastoren auf eine andere Pfarrstelle im gleichen Jahr. Eine Fokussierung auf die beiden Ereignisse des Fortganges zweier Mitarbeiter kann den Blick auf die langanhaltenden Entwicklungen und möglichen Unstimmigkeiten im Mitarbeiterteam verstellen. Denn bei dynamischer Komplexität treten ja Ursache und Wirkung nicht in direktem zeitlichen Zusammenhang zueinander auf. Der Blick auf die tiefere Ursache für die hohe Fluktuation im Mitarbeiterteam wird so versperrt. Es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen. Insgesamt sollte jedoch deutlich geworden sein, was es hinsichtlich der Steuerung komplexer Systeme zunächst einmal zu vermeiden gilt. Auf oberflächliche Handlungs- und Wahrnehmungsmuster gilt es zu verzichten. Die Kehrseite davon lässt sich nun als eine zweite Aufgabe beschreiben: Wahrnehmung und Interpretation. 18.4. Die zweite Aufgabe – Wahrnehmung und Interpretation Die zweite Aufgabe bei der Steuerung komplexer Systeme besteht in einer vertieften Wahrnehmung und einer aus jener folgenden Interpretation. Bei Scharmer entspricht das dem Übergang vom Downloading zum Seeing, zum richtigen Hinsehen.39 Eine treffende Wahrnehmung ist die Grundlage für das anschließende Handeln. Heifetz, Grashow und Linsky vergleichen Kybernetik in diesem Zusammenhang mit Medizin. Auch hier bedarf ein gelingendes Handeln zunächst einmal einer korrekten Diagnose.40 Vor der Aufgabe, zu einer vertieften Wahrnehmung zu geraten, steht die Leitende jedoch nicht allein, vielmehr liege es in ihrer Verantwor38
Vgl. ebd., 21f. Vgl. Scharmer (2011), 127; 144: „Im Zuge meiner Arbeit mit Ed Schein ergab sich für mich die Erkenntnis, dass die zentrale Aufgabe von Führung die Entwicklung der Fähigkeit des gemeinsamen Sehens ist.“ 40 Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 47. 39
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tung, die Menschen im System mitzunehmen und mit ihnen gemeinsam genauer hinzusehen.41 Heifetz, Grashow und Linsky beschreiben die Aufgabe der Leitung grundsätzlich als ein Wechselspiel aus „Aktion“ und der „Balkonperspektive“, gewissermaßen zwischen Handlung und Reflexion. Das Bild ist hier das einer Tanzveranstaltung.42 Leitende seien jedoch oftmals ausschließlich auf der Tanzfläche unterwegs. Den wichtigen Schritt der Wahrnehmung und Interpretation, beschreiben Heifetz, Grashow und Linsky nun als den Gang auf den Balkon, um sich von hier aus eine Übersicht über die Tanzfläche zu verschaffen. Von der Balkonperspektive aus lässt sich unter anderem das Folgende wahrnehmen. 18.4.1. Strukturen und Kultur a) Strukturen Soziale Systeme funktionieren in konkreten Strukturen.43 Diese Strukturen bringen bei den einzelnen Personen oftmals eine spezifische Verhaltensweise hervor. Jene Verhaltensweise ist dann weniger auf die konkrete Person, sondern vielmehr auf die Struktur oder auch Position im System zurückzuführen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch Senge in der Simulationsübung „Bier-Spiel“. Auch hier verhielten sich verschiedene Personen in der gleichen Position tendenziell ähnlich.44 Deshalb gilt es diese Strukturen für die Steuerung komplexer Systeme zunächst einmal wahrzunehmen, zu identifizieren und zu analysieren. Wir fragen: „Ermutigen die Strukturen womöglich bestimmte Verhaltensweisen?“45 Leidet beispielsweise bereits der zweite Kantor auf derselben Stelle an einem Burnout, dann könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass die Ursache auch in den Strukturen der Kirchengemeinde liegt. Ähnliches liegt vor, wenn es zwischen zwei Arbeitsbereichen in der Kirchengemeinde immer wieder zu Konflikten kommt, obwohl sich die einzelnen am Konflikt beteiligten Personen ändern.
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Scharmer unterstreicht mehrfach die Gemeinsamkeit dieses Schrittes. Vgl. Scharmer (2011), 405: „Entwickle kollektive Wahrnehmungsorgane, die es dem System erlauben, sich selbst zu sehen.“ Als ein Beispiel für ein solches kollektives Wahrnehmungsorgan nennt er etwa Methoden wie World Café. Weil dieser Schritt gemeinsam unternommen werden muss, betont Scharmer, dass Leitende hier verstärkt Beziehungen zu verschiedensten Stakeholdern bilden müssen. Vgl. ebd., 387: „Höre zu und tritt in einen Dialog ein mit interessanten Akteuren aus deinem Feld.“ 42 Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 7f. 43 Vgl. ebd., 54-56. 44 Vgl. Senge (2006), 41: “If literally thousands of players, from enormously diverse backgrounds, all generate the same qualitative behavior patterns, the causes of the behavior must lie beyond the individuals. The causes of the behavior must lie in the structure of the game itself.” 45 Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 56.
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b) Kultur Der Begriff der Kultur begegnet in der Leitungsliteratur häufig, wird jedoch oftmals recht diffus verwendet. Heifetz, Grashow und Linsky unterscheiden zur Präzisierung des Kulturbegriffes deshalb vor allem drei Aspekte.46 Geschichten: Die Kultur einer Organisation besteht aus Geschichten. So erzählen sich Mitglieder einer Kirchengemeinde Geschichten und bestimmen damit die Realität. Jene Geschichten lenken und steuern das System Kirchengemeinde und sind gleichsam Ausdruck der in der Gemeinde existierenden Werte. Um diese in der Regel unausgesprochenen Werte besser wahrzunehmen, könnte Gemeindeleitung bspw. Folgendes tun: Man lässt verschiedene Gemeindeglieder eine kurze Geschichte über ein Ereignis aus dem Gemeindeleben aufschreiben, das ihrer Meinung nach am besten die real existierenden Werte der Gemeinde anschaulich macht. Die kurze Geschichte soll zum Ausdruck bringen, nach welchen Werten in der Gemeinde faktisch gelebt wird. Dabei geht es um die real existierenden Werte, nicht die offiziellen, womöglich in einem Leitbild festgehaltenen Werte. Denn dazwischen kann möglicherweise ein großer Unterschied bestehen. Diese Geschichten liest man sich dann gegenseitig anonymisiert vor.47 Neben der Erhebung von Werten bietet die Arbeit mit Geschichten zusätzlich die Möglichkeit festgefahrene Wahrnehmungsmuster (Downloading) zu durchbrechen. Denn die Geschichten, die sich die Beteiligten selbst erzählen, können nach Heifetz, Grashow und Linsky auch zu stark festlegen.48 Deshalb sollten identifizierte Geschichten mit der Realität abgeglichen werden und dabei geprüft werden, ob sie dem standhalten. Eine konkrete Übung dazu wäre es, sich für eine bestimmte Situation zehn verschiedene Geschichten zu überlegen, welche die Situation erklären. Vielleicht lassen sich so im Leben einer Kirchengemeinde verschiedene Geschichten entdecken, warum die Besuchszahlen eines bestimmten Gottesdienstes seit geraumer Zeit sinken oder warum jene Pfarrerin die Gemeinde verlassen hat. Damit erweitert sich der Horizont und eine umfangreichere Wahrnehmung wird ermöglicht. Rituale: Eine Kultur kommt in bestimmten Ritualen zum Ausdruck. So lässt sich etwa an Einführungsritualen für neue haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeiter, etwa im Rahmen eines Gottesdienstes, etwas über ihre Bedeutung für die Kirchengemeinde ablesen. Aber es gibt auch weniger offensichtliche Rituale, etwa den Umgang mit Problemen, Erfolgen und Scheitern. Steuerung komplexer Systeme kann in diesem Zusammenhang bedeuten, bewusst neue Rituale zu etablieren, die langfristig 46 47 48
Vgl. ebd., 57-63. Zu dieser Methode: Vgl. ebd., 59. Zu dieser Methode: Vgl. ebd., 228-230.
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die Werte einer Kirchengemeinde verändern.49 Liegt etwa eine Kultur vor, die zu viel auf Sicherheit basiert und damit den einzelnen Menschen den Mut nimmt, einmal Neues auszuprobieren, so könnte regelmäßig ein Preis für die beste Idee, die aber leider gescheitert ist, vergeben werden. Solche Rituale machen langfristig Mut, Neues auszuprobieren. Gruppen- und Verhaltensnormen: Die Kultur eines Systems zeigt sich in bestimmten Gruppen- und Verhaltensnormen.50 Ein Beispiel dafür ist das Verhalten der Menschen in Sitzungen und Besprechungen. Wer redet wie viel? Wie werden Unterschiede und Konflikte gehandhabt? Wie wird gelobt? Wie wird mit „Du“ und „Sie“ umgegangen? Wie werden Entscheidungen getroffen usw? Während in der einen Kirchengemeinde die Presbyteriumssitzungen dazu dienen, bereits im Vorfeld informell getroffene Entscheidungen abzusegnen, ist in einer anderen Kirchengemeinde die Sitzung der eigentliche Ort der Auseinandersetzung. Keine Variante muss per se richtig sein. Gemeindeleitung wird solche meist informellen Verhaltensnormen jedoch wahrnehmen müssen und hat zu überprüfen, ob sie hilfreich oder hinderlich sind, wenn es darum geht, die gemeinsamen Ziele zu erreichen. 18.4.2. Die beteiligten Personen wahrnehmen Wie oben festgehalten, geht es bei systemischer Leitung darum, sowohl das System als auch das Individuum wahrzunehmen. Deshalb wird die Wahrnehmung der Strukturen und Kultur nun auch ergänzt um die Wahrnehmung der einzelnen Personen. Praktisch benötigt die Steuerung komplexer Veränderungsprozesse deshalb die Ermittlung und Analyse der verschiedenen Interessengruppen, was in der Regel als „Stakeholderanalyse“ bezeichnet wird.51 Geht der Steuerungsprozess irgendwann verstärkt von der Wahrnehmungs- in eine Handlungsphase über, dann gibt es nach Heifetz, Grashow und Linsky vor allem fünf Interessengruppen, die es näher zu beachten gilt: Alliierte, Gegner, Autoritäten, Verlierer und Skeptiker.52 Die Wahrnehmung der beteiligten Personen umfasst jedoch auch die eigene Person.53 Ähnlich wie die zu leitende Kirchengemeinde ist auch der Mensch ein komplexes Wesen mit konkurrierenden Werten, Interessen, Wünschen und Ängsten. So trägt man als Individuum auch im49
Vgl. ebd., 60. Vgl. ebd., 61-63. 51 Vgl. ebd., 89-100. 52 Vgl. ebd., 133-148. 53 Vgl. ebd., 177-186; 178: “Understanding the system that is yourself can help you make the personal changes needed for you to lead adaptive change successfully in your organization.” 50
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mer einen Teil zur aktuellen Herausforderung oder dem Problem bei.54 All dies zu reflektieren kann dabei helfen, das eigene Repertoire an Verhaltensweisen zu erweitern und damit die Chance auf eine gelingende Steuerung eines adaptiven Wandels zu erhöhen. Heifetz, Grashow und Linsky bezeichnen dies als „Erweiterung der Bandbreite“.55 Sie ermutigen Leitende dazu, bewusst einmal mit verschiedenen Verhaltensweisen zu experimentieren und die Reaktion auf diese zu reflektieren. So kann es etwa eine interessante Veränderung im „System Kirchenvorstand“ bewirken, wenn ein Pfarrer, der sonst stets die Initiative ergreift, sich in einer Sitzung einmal sehr bewusst zurückhält. Womöglich verläuft die Sitzung ganz anders als sonst. Andere Personen füllen die entstandene Lücke aus und eine neue Gruppendynamik entsteht. Das Verhaltensrepertoire des Pfarrers erweitert sich und er kann sich vor der nächsten Sitzung fragen, welches Verhalten seinerseits der Gruppe beim Erreichen ihres Zieles dienlich ist. 18.4.3. Von der Interpretation und mentalen Modellen Nun gilt es, dass Wahrgenommene zu interpretieren. Wahrnehmung und Interpretation lassen sich natürlich nur idealtypisch voneinander trennen. Wichtig bei der Interpretation einer bestimmten Situation ist es wiederum ein Downloading zu vermeiden. Nach Heifetz, Grashow und Linsky hat jede Gruppe ihre eingespielten Standard-Interpretationen für bestimmte Situationen.56 Das versperre jedoch zahlreiche Handlungsoptionen. So gilt es nun, die Standard-Interpretationsmuster zu identifizieren und gezielt zu erweitern, wie es eben bereits hinsichtlich der Geschichten beschrieben wurde. Dabei gilt es auch zu beachten, dass bestimmte Personen und Fraktionen gewisse Interpretationen bevorzugen werden, weil es sie begünstigt oder sich so ein Konflikt vermeiden lässt, der womöglich jedoch notwendig wäre. Peter Senge spricht in diesem Zusammenhang auch von „Mental Models“.57 Mentale Modelle sind unbewusste Bilder, die wir etwa über das Funktionieren der Welt oder das, was man tun sollte, haben. Ein solch „Mentales Modell“ eines Kirchengemeinderates könnte etwa sein: „Wir können der Gemeinde nicht vertrauen.“ Ein solch unbewusstes „Mentales Modell“ kann sich bspw. in mangelnder Transparenz gegenüber der Gemeinde niederschlagen. Ein weiteres Modell wäre „Nur wer kämpft, überlebt“, was sich in einer im negativen Sinne rigiden Sparpolitik ausdrü54 Vgl. ebd., 191: “If you are part of the organizational system, you must be part of the problem. This does not mean that you are responsible for the whole mess. Nor does it imply that you are not doing a lot of good in trying to address the problem. It only suggests that there is an element of the problem, however small, that stems from what you believe and how you behave, from the loyalties that are holding you.” 55 Vgl. ebd., 205-208. 56 Vgl. ebd., 113-123. 57 Vgl. Senge (2006), 163-190.
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cken könnte. Wiederum gilt: Es ist hoch problematisch, wenn solche „Mentalen Modelle“ nicht wahrgenommen werden und nur unbewusst vorhanden sind. Sie haben eine große steuernde Wirkung, weil sie Wahrnehmung und Interpretation einseitig prägen können.58 Werden sie jedoch identifiziert, kann auch mit ihnen gearbeitet werden.
18.4.4. Systemische Zusammenhänge erkennen Zur Aufgabe der Interpretation gehört es auch, systemische Zusammenhänge in einer Kirchengemeinde zu erkennen. Vieles wurde in diesem Zusammenhang bereits erwähnt. Hilfreich ist dennoch der Hinweis auf das Phänomen des Feedbacks, der Wechselwirkung und Rückkopplung verschiedener Elemente eines Systems. Peter Senge schlägt für ein besseres Verständnis die Arbeit mit drei Grundbausteinen eines solchen Feedbacks vor.59 a) Der erste Grundbaustein: reinforcing feedback. Hierbei handelt es sich um einen Schneeballeffekt oder in negativer Form um einen Teufelskreis. Die verschiedenen Elemente des Systems beeinflussen sich in Form einer Spirale gegenseitig in eine bestimmte Richtung. Ein Beispiel wäre eine Pastorin, die einen guten Ruf für ihre Kasualien hat. Dies könnte bewirken, dass sie mehr Freude an der Gestaltung von Kasualien empfindet und diese dementsprechend auch gründlicher vorbereitet. Dadurch nimmt womöglich das Gelingen zu und der gute Ruf verbessert sich weiter. Der Schneeballeffekt tritt ein. b) Der zweite Grundbaustein: balancing feedback. Diese Rückkopplung zielt auf die Stabilität eines Systems ab und kann jenen Schneeballeffekt schnell zu seinem jähen Ende führen. Versteckte Normen, Traditionen oder bestimmte Interessen bewirken einen Widerstand. Im Beispiel obiger Pastorin könnte ihr hohes Engagement für Kasualien irgendwann mit den Interessen der „Kerngemeinde“ kollidieren, die sich vernachlässigt fühlt. Der Schneeballeffekt ebbt ab. c) Der dritte Grundbaustein: delay, Senge spricht von einem Verzögerungseffekt. Hier treten Ursache und Wirkung in einem zeitlichen Abstand zueinander auf (dynamische Komplexität). Wer diese Verzögerungseffekte nicht beachtet, der interveniert oftmals zu stark und destabilisiert so das System. Ein Alltagsbeispiel hierfür sind Temperatureinstellungen an einem Wasserhahn. Wer die Verzögerung nicht beachtet, bekommt zu heißes oder zu kaltes Wasser. Das System geht von einem Extrem zum nächsten über. Ein Beispiel aus der Gemeindearbeit: Eine Jugendfreizeit mit 20 Teilneh58
Vgl. ebd., 164: “Why are mental models so powerful in affecting what we do? In part, because they affect what we see.” 59 Vgl. ebd., 78-91.
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merplätzen scheint sich nicht zu füllen. Die Jugenddiakonin macht nun intensiv Werbung, aber nichts scheint sich zu ändern. Daraufhin intensiviert sie ihre Werbung weiter und senkt sogar den Preis. Plötzlich nimmt die Zahl der Anmeldung drastisch zu und es gibt letztlich mehr Anmeldungen als Plätze, so dass die Diakonin zahlreiche Jugendliche enttäuschen muss. Sie hatte den Verzögerungseffekt nicht bedacht, dass sich etwa Jugendliche erst mit ihren Eltern absprechen müssen. Wer um diese drei Grundbausteine60 weiß und solche Systemdynamiken im Gemeindeleben identifizieren kann, der erhöht seinen eigenen Handlungsspielraum. Eine praktische Veranschaulichung solcher Systemdynamiken bietet auch das Eisberg-Modell nach Daniel Pinnow (ա 8.2.).61 Zuletzt sei noch angemerkt, dass man diese systemischen Zusammenhänge nur bedingt objektiv betrachten kann, da man als Akteur auch immer Teil des Systems ist.62 Damit wurden die Grundsätze zu einer verbesserten Wahrnehmung beschrieben. Zuletzt bleibt noch anzumerken, dass es sich dabei keineswegs um einen rein kognitiven Prozess handelt, sondern Wahrnehmung auch die emotionale Ebene umfasst. Scharmer sieht deshalb hierfür eine eigene Phase vor und spricht vom Sensing (Hinspüren).63 Diese Zweiteilung in eine kognitive und eine emotionale Wahrnehmung ist jedoch meines Erachtens keineswegs zwingend und wird deshalb an dieser Stelle zusammengefasst. Für Gemeindeleitung meint Wahrnehmung dann praktisch, auch die Emotionen in einer Kirchengemeinde zu erkennen und Menschen mit ihren Gefühlen zu Wort kommen zu lassen. 18.5. Die dritte Aufgabe: Grundlagen für Veränderungen schaffen Nach dem Vermeiden des Downloading und den verschiedenen Wahrnehmungsprozessen könnte man meinen, nun sei endlich die Zeit für die Arbeit mit Visionen und Zielen gekommen. Doch dies ist immer noch nicht der Fall. Im Umgang mit emergenter Komplexität oder einem adaptiven Wandel ist es nun die entscheidende Aufgabe von Gemeindeleitung, die Kirchengemeinde selbst adaptiv zu machen. Sie adaptiv zu machen meint, sie dabei zu unterstützen, selbst produktiv mit Veränderungsprozessen umzugehen. Damit ist diese dritte Aufgabe 60
Aus diesen Grundbausteinen lassen sich nun sogenannte systemische Archetypen bilden. Dabei handelt es sich um Grundmuster, die immer wieder in sozialen Systemen vorkommen. Vgl. ebd., 92-125; 389-400. 61 Vgl. Pinnow (2012), 161. 62 Vgl. Senge (2006), 77: “From the systems perspective, the human actor is part of the feedback process, not standing apart from it. This represents a profound shift in awareness.” 63 Vgl. Scharmer (2011), 153-171.
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ein besonderer Moment indirekter Steuerung, da es hier nicht darum geht, die Kirchengemeinde von A nach B zu bewegen, sondern grundsätzlich erst einmal ihre Fähigkeit zur Veränderung und Bewegung zu fördern. Idealtypisch lässt sich diese Aufgabe, Grundlagen für Veränderungen zu schaffen, an dieser dritten Stelle anordnen, faktisch werden die mit ihr verbundenen Handlungen jedoch in verschiedensten Phasen des Veränderungsprozesses von Nöten sein. 18.5.1. Veränderungsbereitschaft generieren im Disäquilibrium Der Ausgangspunkt für die Überlegungen in diesem Abschnitt ist Heifetz‘, Grashows und Linskys Modell des Disäquilibriums. 64 Der Begriff kann mit Unausgeglichenheit oder in gewisser Hinsicht mit Unwohlsein übersetzt werden. Der Grundgedanke dabei ist, dass adaptive Veränderungsprozesse als Antwort auf adaptiven Wandel stets eine gewisse Form von Stress voraussetzen. Veränderung entsteht nur aus einer gewissen Form von Unwohlsein. Deshalb wird Gemeindeleitung Gemeindeglieder verunsichern müssen. Das ist jedoch kein Selbstzweck, sondern nur ein notwendiges Mittel, vergleichbar mit einem Automotor, der Wärme abgibt. Diese unangenehme Hitze ist ein notweniges Nebenprodukt. Gemeindeleitung hilft Menschen, das notwendige Disäquilibrium zu ertragen. Dabei gilt es jedoch die Temperatur der Kirchengemeinde in der sogenannten „Produktiven Zone des Disäquilibriums“ zu halten.65 Hier ist die Spannung hoch genug, dass Menschen nicht mehr im Alten verweilen, aber auch nicht zu hoch, als dass Menschen vor lauter Unsicherheit handlungsunfähig werden. Der Ansatz lässt sich an der Grafik auf der folgenden Seite verdeutlichen. Die X-Achse gibt den Zeitverlauf wieder, während die Y-Achse den Grad der Unausgeglichenheit (Disäquilibrium) beschreibt. Der graue Bereich stellt die „Produktive Zone des Disäquilibriums“ dar. Nur hier bewältigt ein soziales System seine Herausforderungen produktiv. Die schwarze Kurve gibt den idealtypischen Verlauf im Umgang mit technischen Herausforderungen wieder. Nehmen wir als Beispiel ein Auto, das einem Pfarrer auf dem Weg zu einem Geburtstagsbesuch liegenbleibt. Zu Beginn ist der Stress jenseits des Toleranzlimits. Der Pfarrer sitzt für einen Moment schockiert im Wagen und sieht vor seinem inneren Auge den ganzen Tagesablauf zusammenbrechen: Den verpassten Besuch, die nun unmöglich erscheinenden Folgetermine und auch die hohen Reparaturkosten. Doch nun beginnt das Disäquilibrium langsam und linear zu sinken: Der Reparaturdienst trifft ein und auch die Zeit64
Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 28-31. Der folgende Abschnitt ist eine Wiedergabe dessen. Die Beispiele jedoch wurden für den kirchlichen Kontext übertragen. 65 Vgl. ebd., 29: “Your goal should be to keep the temperature within what we call the productive zone of disequilibrium.”
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probleme lassen sich mit dem Mobiltelefon irgendwie lösen. Vielleicht steigt das Disäquilibrium kurz an, wenn sich die Reparatur des Autos verzögert, aber schließlich ist das Problem ganz gelöst und der Stress verschwindet vollständig. Die produktive Zone des Disäquilibriums
Abbildung 15: Die Produktive Zone des Disäquilibriums. Eigene Darstellung nach Heifetz, Grashow und Linsky (2009), 30.
Die Situation bei adaptiven Veränderungsprozessen ist jedoch anders gelagert. Sie wird von der grauen Kurve dargestellt. Hier ist am Anfang oftmals kein Problembewusstsein vorhanden und das Disäquilibrium ist niedrig. Das ist etwa der Fall, wenn sich der Schrumpfungsprozess einer Kirchengemeinde schleichend vollzieht und die negativen Auswirkungen noch nicht direkt spürbar sind. An dieser Stelle ist es die Aufgabe von Gemeindeleitung, das Disäquilibrium in den produktiven Bereich zu führen. Dieser Prozess verläuft deutlich weniger linear, wie es die Auf- und Abwärtsbewegungen andeuten. Die Gemeindeleitung wird mit ihrer Hand am Temperaturregler schauen müssen, wie das System Gemeinde auf Temperaturerhöhungen reagiert. Die gestrichelte Linie beschreibt das Phänomen der Arbeitsvermeidung. Es tritt auf, wenn das System Kirchengemeinde aufgrund des Stresses die Bewältigung der Herausforderung mit einer oberflächlichen Lösung vermeidet und damit quasi wieder in das Downloading zurückfällt. Das ist etwa der Fall, wenn das Problem in einen machtlosen Ausschuss delegiert oder ein einfacher Sündenbock für das Problem identifiziert wird. Die drei Endpunkte der grauen Linie deuten an, dass das Ergebnis eines adaptiven Veränderungsprozesses am Anfang noch nicht feststeht und verschiedenste Resultate möglich sind, die am Ende auch unterschiedliche Grade von Disäquilibrium übrig lassen können.
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18.5.2. Das Energielevel einer Kirchengemeinde erhöhen – Von Drachen, Prinzessinnen und dem Bräutigam Bevor bspw. eine Pfarrerin im System Gemeinde den Grad des Disäquilibriums verändert, wird sie diesen zunächst einmal gemeinsam mit anderen Akteuren ermitteln müssen. Jene Analyse wird die Art der Intervention und auch das Timing prägen. Zur Erhöhung des Energieniveaus bieten sich besonders die sogenannte Killing-the-DragonStrategie und die Winning-the-Princess-Strategie an. 66
Beide Strategien gehen auf Heike Bruch zurück. Sie identifizierte die sog. Organisationale Energie als „eine entscheidende Voraussetzung für Produktivität, Inno67 vationskraft und Veränderungsbereitschaft“. Organisationale Energie wird als „Kraft definiert, mit der Unternehmen arbeiten und Dinge bewegen“.68 Damit gibt es zahlreiche Parallelen zur Rede vom Disäquilibrium. Bruch nimmt jedoch eine weitere Differenzierung vor. Sie unterscheidet eine Korrosive Energie von einer Produktiven Energie. Denn ein hoher Energielevel führe nicht automatisch zu einer erhöhten Produktivität. Vielmehr sei entscheidend, „dass das mobilisierte Potenzial auf gemeinsame, unternehmensrelevante Ziele ausgerichtet wird.“69 Es kommt damit also nicht nur auf die Intensität, sondern auch auf die Qualität des Disäquilibriums an. Es muss auf eine gemeinsame Vision ausgerichtet sein. Das verdeutlicht, wie eng diese dritte Aufgabe von Leitung in komplexen Systemen mit der vierten verbunden ist: Gemeinsam zu einer Vision gelangen. Zur Erzeugung jener Produktiven Energie bieten sich nun zwei Strategien an.
Bei der Killing-the-Dragon-Strategie malt die Leitung einer Organisation eine externe Bedrohungssituation vor Augen und bindet die Mitarbeiter in die Bewältigung dieser Bedrohung ein.70 Dadurch entsteht ein Wir-Gefühl und das Vertrauen der Menschen in die eigene Kompetenz steigt. Ein Beispiel hierfür wäre, einer schrumpfenden Kirchengemeinde den Abriss „unseres Kirchengebäudes“ plastisch vor Augen zu malen. Inwiefern diese Strategie im kirchlichen Kontext anwendbar ist, ist im Einzelfall auch unter ethischen Gesichtspunkten zu prüfen, denn mit Ängsten sollte nicht leichtfertig gespielt werden. Ein wichtiges Prüfkriterium dabei wäre, dass die beschriebene Gefahr real sein muss. Leitung erfindet bei dieser Strategie also keine externe Bedrohung, sondern hilft der Gemeinde einen Zusammenhang zwischen einer realen Gefahr und ihrem aktuellen Handeln herstellen zu können. Bei der Winning-the-Princess-Strategie „wird den Mitarbeitern eine Vision/Chance vermittelt, bei deren Erreichung sie mitwirken sollen 66 Vgl. Bruch / Vogel (2009); Bruch / Kunz (2013). Für eine knappe Darstellung: Vgl. Pinnow (2012), 170. 67 Bruch / Kunz (2013), 447. 68 Ebd., 447. 69 Ebd., 448. 70 Vgl. ebd., 451. Ähnlich auch Senge. Vgl. Senge (2006), 209: “There are two fundamental sources of energy that can motivate organization: fear and aspiration.”
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und die eine produktive Spannung erzeugt.“71 Entscheidend hierbei ist, dass die Chance besonders plastisch beschrieben wird. Der Begriff der produktiven Spannung geht als Creative Tension auf Peter Senge zurück.72 Er versucht die oftmals entstehende Kluft zwischen einer Vision und der Realität als eine Energiequelle zu begreifen. Die Spannung produziere bei den Menschen automatisch ein Verlangen nach Auflösung. Entweder werde die Vision blasser oder die Realität kommt der Vision näher. Leitung müsse ersterem entgegenwirken und zweites fördern.73
Solche motivationstheoretischen Überlegungen bedürfen einer grundlegenden theologischen Überprüfung und Einordnung. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass die Killing-the-Dragon-Strategie und die Winning-the-Princess-Strategie bei den Geleiteten auf ein Handeln abzielen, das entweder durch Furcht oder durch Stolz motiviert ist. Theologisch gesprochen bleibt die Motivation damit im Bereich des Gesetzes. Der eigentliche Motivationsgrund evangelischen Handelns ist jedoch weder Furcht noch Stolz, sondern Dankbarkeit (ա 17.3.). Die Dankbarkeit gegenüber Gott schlägt sich in Taten der Liebe gegenüber dem nächsten nieder. Ein Proprium evangelischer Gemeindeleitung ist darum, dass die organisationale Energie einer Kirchengemeinde primär dadurch erhöht wird, indem der Gemeinde immer wieder der Grund ihrer Dankbarkeit vor Augen gemalt wird (Vgl. Gal 3,1). Dies ließe sich als die Beholding-the-Bridegroom-Strategie bezeichnen. 18.5.3. Weitere Ansatzpunkte zur Erhöhung der adaptiven Kapazität einer Kirchengemeinde Heifetz, Grashow und Linsky beschreiben noch weitere Aspekte einer adaptiven Organisation, von denen drei an dieser Stelle näher entfaltet werden sollen. a) Name the Elephants in the Room.74 Dieses geflügelte Wort beschreibt im Englischen, dass manchmal ein offensichtliches Problem, so offensichtlich wie ein Elefant im Raum steht, nicht benannt wird. In einer adaptiven Organisation sind die offensichtlichen Probleme und Herausforderungen jedoch Thema. Dieser Umstand lässt sich – wohl auch im Leben einer Kirchengemeinde – gut an der Sitzungskultur verdeutlichen. Nach Heifetz, Grashow und Linsky besteht eine Sitzung eigentlich aus vier Sitzungen. Neben der eigentlichen Sitzung gibt es noch das informelle Flurgespräch vor der 71
Bruch / Kunz (2013), 452. Vgl. Senge (2006), 139-144. 73 Jim Collins nimmt diesen Umstand in sein seiner Beschreibung des sog. Stockdale-Paradoxon auf. Vgl. Collins (2001), 65-89. 74 Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 102f; 166-168. 72
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Sitzung, das Selbstgespräch im Kopf der Personen während der Sitzung und die Gespräche im Nachgang auf dem Nachhauseweg. In einer nicht-adaptiven Organisation sind die Probleme in allen Sitzungen Thema, nur nicht in der eigentlichen. Für eine adaptive Organisation jedoch gilt: “In a highly adaptive organization, no issue is too sensitive to be raised at the official meeting, and no questions are off-limits.”75 Gemeindeleitung steht vor der Aufgabe, eine Kultur des „ElefantenBenennens“ zu prägen. Dazu wird sie mit gutem Beispiel vorausgehen müssen, indem sie das Unangenehme ausspricht. Sie wird aber ebenfalls sogenannte Troublemakers vor einer allgemeinen Harmoniekultur in Schutz nehmen müssen, wenn diese in Sitzungen notwendige kritische Anfragen stellen. b) Share Responsibility for the Organization’s Future.76 Emergente Komplexität kann eine Organisation nur als Ganzes bewältigen. Eine Organisation agiert dementsprechend dann adaptiv, wenn sich die Menschen hier nicht nur für ihre eigenen Interessen oder jene ihres Arbeitsbereiches (Diakonische Arbeit, Jugendarbeit etc.) einsetzen, sondern Verantwortung für die Zukunft der Organisation im Ganzen übernehmen.77 Deshalb schlagen Heifetz, Grashow und Linsky vor, Belohnungen und Boni verstärkt an die Leistung der gesamten Organisation zu koppeln und weniger an die Leistungen einer Abteilung. In einer Kirchengemeinde könnte bspw. darauf geachtet werden, dass in Jahresgesprächen auch solche Ziele miteinander vereinbart werden, für deren Erreichung mit anderen Arbeitsbereichen der Gemeinde kooperiert werden muss. Darüber hinaus sollten besonders solche Menschen Führungs- und Leitungsverantwortung übernehmen, die bereits in verschiedensten Bereichen der Organisation gearbeitet haben. c) Value Independent Judgement beschreiben.78 Es ist für einen Kirchenvorstand wichtig, dass jedes Mitglied zu Herausforderungen und Problemen eine eigene Meinung hat, diese auch äußert und weniger denkt: „Was würde wohl der Pfarrer sagen?“ Daraus ergibt sich in der Tat ein Plädoyer für mehr Konflikte, denn diese sind für den Umgang mit emergenter Komplexität notwendig, wollen aber auch gut gestaltet werden. Konflikte gilt es zu komponieren.
75
Ebd., 102. Vgl. ebd., 103; 168f. 77 Peter Senge beschreibt Ähnliches in Form der Lernbehinderung „I am my position.“ Vgl. Senge (2006), 18f. 78 Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 103f; 169f. 76
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18.5.4. Konflikte komponieren Peter Senge beschreibt es als einen Mythos, dass sich leistungsfähige Teams durch eine Abwesenheit von Konflikten auszeichnen.79 Das Gegenteil sei der Fall. Denn „im Konflikt offenbaren sich abweichende Meinungen, die [...] zu einer höheren Realitätsdichte und so zu besseren Entscheidungen führen.“80 Das ist vor allem bei komplexen Herausforderungen der Fall. So kann es im Anschluss an Heifetz, Grashow und Linsky als eine wichtige Aufgabe von Gemeindeleitung gelten, gezielt Konflikte zu komponieren.81 Das verwendete Bild stammt aus der Musik. Denn auch hier werden gezielt Dissonanzen genutzt, die erst am Ende wieder aufgelöst werden. Während viele Organisationen Konflikte vermeiden, sind im Umgang mit adaptiven Herausforderungen Konflikte nötig: “Conflict is an essential resource in getting to the real, as opposed to superficial, harmony.”82 Natürlich dürfen diese das Toleranzlimit des Disäquilibriums nicht überschreiten. Gemeindeleitung wird deshalb ihren Teil dazu beitragen müssen, dass eine schützende Umgebung entsteht, die Menschen in notwendigen Konflikten Sicherheit und Struktur vermittelt. Erst auf der Grundlage des auch dadurch entstehenden Vertrauens werden offene Gespräche geführt werden können. Besonders für „starke“ Pastorinnen und Pastoren wird es entscheidend sein, in diesem Kontext nicht wie gewohnt als Autoritätsfiguren aufzutreten. Nun sind die wesentlichen Aspekte beschrieben, die von Nöten sind, um in einer Kirchengemeinde indirekt eine Grundlage für gelingende Veränderungsprozesse zu schaffen. Da diese Prozesse oftmals Zeit benötigen und auch energieintensiv sind, wird Gemeindeleitung auf dem Weg immer wieder ein paar early wins generieren müssen.83 Dabei werden technische Aspekte der adaptiven Herausforderung kurzfristig gelöst, damit für den langfristigen Prozess Vertrauen entstehen kann. Ein Beispiel: Die haupt- und nebenamtlichen Mitarbeiter einer Kirchengemeinde arbeiten seit Jahren eher gegen- als miteinander. Es ist eine adaptive Herausforderung, hier eine Teamkultur zu etablieren. Das Problem lässt sich nicht von heute auf morgen lösen. Aber es lassen sich womöglich auf dem Weg early wins generieren, die eine Signalwirkung haben. So könnte eine wöchentliche Teambesprechung erstmals etabliert werden.
79 80 81 82 83
Vgl. Senge (2006), 232. Reimann (2011), 72. Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 149-164. Ebd., 151. Vgl. ebd., 135.
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18.6. Die vierte Aufgabe: Gemeinsam zu einer Vision gelangen Die vierte Aufgabe von Gemeindeleitung lässt sich als Gestaltung eines Weges hin zu einer gemeinsamen Vision beschreiben. Der Begriff der Vision ist ein zentrales Element der transformationalen Führungstheorie. Bei Bill Hybels etwa ist der Visionsbegriff Ausgangspunkt seines Führungsverständnisses: „Eine Vision ist ein Bild von der Zukunft, das Begeisterung auslöst.“84 Leitung beginnt hier mit einer Vision. Zwischen jenem „klassischen Visionsentstehungsprozess“ und den nachfolgenden Ausführungen gibt es bei zahlreichen Übereinstimmungen auch manche Unterschiede. So ist die Bildung einer Vision in der vorliegenden idealtypischen Abfolge erst der vierte Schritt. Die Vision entsteht in den Begrifflichkeiten Scharmers erst, nachdem die Gemeinde durch den bisherigen U-Prozess gegangen ist und „am Ende eines Öffnungsprozesses steht“85. Eine Vision wird deshalb auch besser implementiert werden können, da sie an mancherlei anknüpfen kann, was den Menschen im bisherigen Prozess wichtig geworden ist. 18.6.1. Die Vision und das Presencing Das Moment der Entstehung einer Vision oder präziser, dessen Vorstufe, markiert bei Scharmer den Scheitelpunkt des U und wird Presencing genannt.86 Denn vor der schriftlichen Vision steht bei Scharmer ein weiterer Schritt des Hinhörens. Er selbst definiert es wie folgt: „Presencing ist eine Wortschöpfung aus den englischen Wörtern sensing und presence und bedeutet, dass man sich mit der Quelle der höchsten Zukunftsmöglichkeiten verbindet und sie ins ‚Jetzt‘ bringt.“87 Scharmer grenzt das Presencing von den klassischen Formen des Lernens ab, die oftmals ein Lernen aus der Vergangenheit oder Gegenwart nach dem Schema von Beobachtung, Interpretation und Handlung darstellen. Er will, nachdem all dies auch geschehen ist, ebenfalls von der im Entstehen begriffenen Zukunft lernen. Damit ist diese vierte Aufgabe gewissermaßen ein Gegenstück zur zweiten Aufgabe (Wahrnehmung und Interpretation). Denn jene setze primär beim analytischen Wissen an, das Presencing jedoch eher beim intuitiven Wissen.88 Presencing beschreibt also den kreativen Moment, von einer möglichen Zukunft her zu denken.89 Damit geht Scharmer über das Erkennen von systemischen Zu84
Hybels (2002), 37. Scharmer (2011), 198. 86 Vgl. ebd., 172-196. 87 Ebd., 172. 88 Vgl. ebd., 179: „Die Wahrnehmung findet jetzt nicht mehr von einem einzelnen Punkt aus statt (der ‚Balkonperspektive‘), sondern von mehreren Punkten aus gleichzeitig, von dem den Kontext umgebenen Feld.“ 89 Philosophisch orientiert sich Scharmer damit bei Martin Heidegger und dessen Zeitverständnis, wie dieser es in „Sein und Zeit“ dargelegt hat. Vgl. Heidegger 85
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sammenhängen hinaus und verknüpft dies mit einem Visionsprozess. Senge denkt beides so zusammen: “Vision paints the picture of what we want to create. System thinking reveals how we have created what we currently have.”90 18.6.2. Von der persönlichen zur gemeinsamen Vision – Sinnkopplung Die Aufgabe der Gemeindeleitung wäre es dann, gemeinsam mit der Gemeinde positive Zukunftsmöglichkeiten in die Gegenwart „hinüberzuerspüren“ (Presencing). Senge verwendet hierfür den Begriff der geteilten Vision (shared vision).91 Er definiert das wie folgt: “At its simplest level, a shared vision is the answer to the question, ‚What do we want to create?”“92 Damit befindet sich der Visionsprozess auf der Schnittstelle zwischen Wahrnehmung und Handlung. Nach Senge sei eine Vision in einer Organisation dann geteilt, wenn Menschen das gleiche oder zumindest ein ähnliches Bild von der Zukunft haben und diesem gemeinsam „hingegeben“ sind.93 Senge rät deshalb dazu, sich selbst und die Menschen erst einmal dazu zu ermutigen, die eigene persönliche Vision oder die „ultimate intrinsic desires“94 zu erkunden. Mit Scharmer wird es dabei aber um mehr gehen müssen, als nur die eigenen Wünsche und Bedürfnisse herauszuarbeiten, sondern sich auch mit etwas in gewisser Hinsicht Externem, den persönlichen Zukunftsmöglichkeiten, zu verbinden. Faktisch wird das für die Gemeindeleitung bedeuten, zum Träumen zu ermutigen und den Blick etwas mehr von der Wirklichkeit hin zur Möglichkeit zu wenden. Für die Gemeindeleitung und -glieder wird dabei gelten: Die persönliche Vision muss konkret genug sein, um miteinander ins Gespräch kommen zu können, aber gleichzeitig noch offen genug, dass gemeinsame Entdeckungen noch möglich sind. Faktisch werden sich die Prozesse von persönlicher und geteilter Vision also eher parallel vollziehen. Auf dem weiteren Weg hin zu einer geteilten Vision wird es dann um zweierlei gehen. Zum einen gilt es die verschiedenen Visionen miteinander zu verbinden. Jede Vision eines Einzelnen bleibt dabei einzigar(1931), 323-331; besonders 325: „Das die ausgezeichnete Möglichkeit aushaltende, in ihr sich auf sich Zukommen lassen ist das ursprüngliche Phänomen der Zukunft.“ Vgl. Scharmer (2011), 258. 90 Senge (2006), 214. 91 Vgl. ebd., 191-215. 92 Ebd., 192. 93 Vgl. ebd. Das englische “committed” lässt sich schwer übersetzen und wird hier mit „hingegeben“ wiedergegeben. Senge skizziert noch verschiedene Formen von Beziehungen der Menschen zu einer Vision: commitment, enrollment, genuine compliance, formal compliance, grudging compliance, noncompliance und apathy. Vgl. ebd., 203f. 94 Ebd., 137.
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tig und dennoch nähern sie sich einander an. So hat dann jeder seine einzigartige Version der gemeinsamen Vision. Sie ist nun gleichzeitig „meine“ und „unsere“ Vision.95 Für einen solchen Prozess bietet sich anstelle des oftmals üblichen Begriffs der Sinnvermittlung der Terminus „Sinnkopplung“ an. Denn die Führungskraft schafft durch ihre Vision nicht erst Sinn bei den Mitarbeitern, sondern bindet die verschiedenen intrinsischen Leidenschaften zusammen.96 Zum anderen wird dieser Schritt aber mit Scharmer über eine bloße Sinnkopplung hinausgehen müssen. Neben der Kopplung mit den bereits vorhandenen Leidenschaften geht es auch um die gemeinsame Verbindung mit Zukunftsmöglichkeiten.97 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Aufgabe, die Scharmer der Führungskraft zuordnet: „Also ein Teil der Kunst, eine Kerngruppe zu bilden, ist, deine Idee nicht festzuhalten, sie also ein wenig (aber vielleicht nicht vollständig) loszulassen. Führung heißt in dieser Phase, nur ein paar Pinselstriche auf die Leinwand zu setzten und viel freien Raum zu lassen, den die anderen mit ihren Farben füllen können. Dadurch verlagert sich die Frage nach der Eigentümerschaft – im Falle des Gelingens – dahin gehend, dass jeder sich mit dem Ganzen verbindet und seinen Teil innerhalb des Ganzen sieht.“98
Die Gemeindeleitung würde demnach im Prozess der Visionsentstehung Pinselstriche auf einer Leinwand vorzeichnen. Damit bringt sie gleichsam ihre eigene Vision ein und gibt dennoch Raum für gemeinsame Entdeckungen. 18.6.3. Die Vision und das systemische Denken Die Arbeit mit einer Vision und das Systemische Denken ergänzen sich. Erstens ist die Vision für die Arbeit mit dem Systemischen Denken wichtig. So betont Senge, dass Systeme ohne eine gemeinsame Vision oft die Tendenz haben, im status quo zu verharren. “Without a pull toward some goal which people truly want to achieve, the forces in support of the status quo can be overwhelming. Vision establishes an
95
Vgl. ebd., 198. Welche Personen hier konkret am Visionsfindungsprozess zu beteiligen sind, lässt sich kaum allgemeingültig sagen, denn dazu sind die Situationen unterschiedlichster Kirchengemeinden zu verschieden. Dennoch bleibt der Grundsatz bestehen, wonach möglichst viele „Einzelvisionen“ zu „verkoppeln“ sind. Dieser Grundsatz muss situativ angemessen ausgestaltet werden. 97 Vgl. Scharmer (2011), 418: „Bilde einen Gesprächskreis, der dich und deine höchste zukünftige Intention anwesend werden lässt und hält.“; 391: „Gefäß bilden: Co-initiiere eine diverse Kerngruppe, die eine gemeinsame Intention inspirieren und halten kann.“ 98 Ebd., 391. 96
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overarching goal.”99 So ist eine gemeinsame Vision ein gewichtiger Unterschied zwischen Korrosiver und Produktiver Energie im System Kirchengemeinde. Aber genauso gilt zweitens: Systemisches Denken ist für die Arbeit mit einer Vision wichtig. Nach Senge scheitern zahlreiche Visionsprozesse, weil systemische Dynamiken zu wenig beachtet werden.100 Denn unter Zuhilfenahme der oben beschriebenen Grundbausteine, lasse sich der Prozess einer Visionsentstehung idealerweise als ein reinforcing feedback beschreiben. Reden Menschen über eine Vision miteinander, dann werde die gemeinsame Vision auch klarer. Eine klarere Vision wiederum führe zu mehr Begeisterung und diese wiederum zu einer verstärkten Kommunikation über die Vision. Dieser sich selbst steigernde Kreislauf werde jedoch an bestimmten Punkten durch limitierende Faktoren (balancing feedback) abgebremst. So können bspw. durch verstärkte Kommunikation auch irgendwann divergierende Sichtweisen deutlicher hervortreten. Durch konkurrierende Visionen könne es zu Polarisierungen kommen, so dass der Visionsprozess ins Stocken gerate und Gesprächspartner wieder in das Muster des Downloading zurückfallen. Besonders dann sei es die Aufgabe der Leitung, diese Wahrnehmungsblockaden wieder zu öffnen.101 Für Gemeindeleitung bedeutet dies: Gott, einander und der Realität wieder offener zuzuhören. 18.6.4. Eine christliche Adaption des Presencing Manch einem mögen die bisherigen Ausführungen vergleichsweise a-theologisch oder zu wenig spezifisch christlich erschienen sein. In der Tat werden Steuerungsprozesse unter komplexen Umständen in einer Kirchengemeinde viel mit ähnlichen Prozessen in anderen gesellschaftlichen Bereichen gemein haben. Dennoch lässt sich besonders im Moment des Presencing die geistliche Dimension dieses Steuerungsprozesses verdeutlichen. Das bedeutet nicht, dass sie auf diesen Moment reduziert wäre. Alle Aufgaben sind coram deo zu vollziehen. Der gesamte U-Prozess ist als ein geistliches Geschehen zu begreifen. Dennoch gibt es Orte, wo sich das geistliche Moment besonders verdichtet und dies ist hier bei der Visionsentstehung der Fall. Denn auch Schar99 Senge (2006), 195. Eine ähnliche Beobachtung liegt der oben benannten Unterscheidung Heike Bruchs in eine Korrosive und eine Produktive Energie zugrunde. Dementsprechend betonen auch Heifetz, Grashow und Linsky die Relevanz von Sinn für adaptive Veränderungsprozesse. Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 221-230. 100 Zum Folgenden: Vgl. Senge (2006), 210-214. 101 Als weitere limitierende Faktoren nennt Senge noch mangelnde Zeit, die zur Verfügung steht und eine immer offensichtlich werdende Kluft zwischen Vision und der gegenwärtigen Realität.
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mer kann den Moment des Presencing als Ort der „spirituelle[n] Intelligenz“102 bezeichnen. Dabei stellt sich jedoch die Frage, inwiefern sich Scharmers Presencing überhaupt mit einem christlichen Visionsverständnis verbinden lässt. Denn Scharmer entwirft seine Ausführungen nicht von einem christlichen Wirklichkeitsverständnis aus, sondern von einem, das sich am ehesten als „offen-religiös“ bezeichnen lässt. So verbindet er zahlreiche Elemente aus Mystik, Buddhismus, Esoterik und metaphysischer Spekulation miteinander: Vom „Eins-Werden mit dem Phänomen, das man studiert“103 über tibetische Klangschalen und dem Aufsuchen von „Energie- und Kraftfelder[n] bestimmter Orte in der Natur“104. Dennoch ist meines Erachtens eine Anschlussfähigkeit an Gemeindeleitungsprozesse möglich. Denn auch hier wird es an diesem Punkt eines Veränderungsprozesses darum gehen müssen, sich für eine andere Wirklichkeit zu öffnen. Uns geht es jedoch um mehr als eine Verbindung mit Zukunftsmöglichkeiten oder einer wie auch immer aussehenden „Energiequelle.“ Aus christlicher Sicht geht es hier um die Essenz von „Geistlicher Leitung“: Gott zuzuhören und sich als Gemeinde von ihm eine Vision schenken lassen. Der Scheitelpunkt des U zwischen Wahrnehmung und Handlung markiert eben jenes Hören auf den dreieinigen Gott. Gemeindeleitung bedarf hier also einer „Haltung, die beständig nach dem Willen Gottes fragt“105. Böhlemann und Herbst sprechen in Anlehnung an Martin Luther deshalb auch von der Notwenigkeit „getaufter Visionen“, worunter sie „eine Anschauung der Wirklichkeit Gottes, die uns ergreift und begeistert“106, verstehen. Gemeindeleitung wird deshalb andere Menschen in einen Prozess von gemeinsamen geistlichen Übungen, wie etwa Schriftmeditation oder Gebet, hineinnehmen müssen. Wie dies im Detail von statten gehen kann, braucht an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.107 Darüber hinaus werden Visionen auch theologisch verantwortet sein müssen. Denn nicht jedes Bild von der Zukunft, das Begeisterung auslöst, ist auch theologisch angemessen. Insgesamt meint Presencing hier also, vor und von Gott gemeinsam eine Vision zu entdecken.
102
Vgl. Scharmer (2011), 68. Ebd., 157. 104 Ebd., 194. Vgl. auch: 164; 188; 414. 105 Wegner (2007), 191. 106 Vgl. Böhlemann / Herbst (2011), 32f. 107 Hingewiesen sei nur auf einen interessanten Ansatz, den Roxburgh und Romanuk für einen solchen Prozess vorschlagen. Sie berichten von einer Kirchengemeinde, die sich in diesem Rahmen nur auf einen einzigen biblischen Text beschränkt hat. Vgl. Roxburgh / Romanuk (2006), 43. 103
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18.6.5. Der Moment des Verdichtens – Die Vision wird konkret Hatte die bisherige Darstellung des Visionsentstehungsprozesses eher einen öffnenden Charakter, in dem man z.B. in Schriftmeditation und Gebet gemeinsam auf Gott sowie aufeinander hört, gilt es zu einem bestimmten Zeitpunkt, das hier Erfahrene und Erkannte zu verdichten, so dass sich eine konkrete Vision108 herauskristallisieren kann. Scharmer bezeichnet diesen Moment des Verdichtens auch als Crystallizing.109 Er formuliert: „Der nächste Schritt besteht oft darin, die Vision und Intention zu verdichten, zu kristallisieren. Das heißt oft, eine Sprache für diese Intention zu finden.“110 Im Moment des Verdichtens geht der Prozess nun über die Sinnkopplung hinaus und wird konkret.111 Um eine Vision zu verdichten, bieten sich zahlreiche Möglichkeiten an. Eine solche Möglichkeit könnte die Arbeit mit dem „Igel-Konzept“ nach Collins sein. 112
Der Name leitet sich aus einer Fabel von einem Fuchs uns einem Igel her. Während der Fuchs vieles gut könne, elegant, klug und schnell sei, ist der Igel nur in einer Sache richtig gut: Im Einigeln. Das genügt ihm jedoch und schützt ihn vor den Angriffen des Fuchses. So sei es nach Collins auch mit hoch erfolgreichen Organisationen. Sie fokussieren sich auf die eine Sache, die sie richtig gut können und ignorieren den Rest. Diese eine Sache liege nach Collins in der Schnittmenge dreier Kreise. Der erste Kreis stelle die Frage: „Worin können wir die besten der Welt sein?“ Es ist die Frage nach den eigenen Fähigkeiten. Das gilt es jedoch sorgsam von dem zu unterscheiden, was man gerade tut. Im zweiten Kreis wird die Frage gestellt: „Was ist unser ökonomischer Motor?“ Hier wird nach dem gefragt, womit man pro Einsatz am meisten Geld verdienen kann, also dem “key economic denominator” (108). Der dritte Kreis fragt: „Wofür haben wir eine tiefe Leidenschaft?“ Dabei geht es weniger darum, was die Menschen in der Organisation begeistern sollte, sondern was sie wirklich begeistert. Die Schnittmenge bildet das eigene „Igel-Konzept“. Der Prozess hierhin benötige jedoch viel Zeit. Man wird dieses Modell nicht in jeder Hinsicht für den kirchlichen Kontext fruchtbar machen können. Das gilt vielleicht besonders für die Frage nach dem „ökonomischen Motor.“ Dahinter steht jedoch die viel größere Frage nach dem Bezug einer Organisation zu ihrem Kontext. Und diese ist sehr wohl für eine Kirchengemeinde relevant. Auch wird die ausschließliche Fokussierung auf das eine Kernge108
Um die Qualität einer Vision zu evaluieren, bietet sich etwa die „Munich Vision Scale“ an. Hiernach lässt sich die Qualität einer Vision an vier Dimensionen messen: „Kommunikation (ist die Vision verständlich?), Motivation (begeistert die Vision?), Ambition (spornt die Vision an?) und Machbarkeit (glaubt man an die Umsetzbarkeit?).“ Rawolle / Kehr (2012), 13. 109 Vgl. Scharmer (2011), 197-207. 110 Vgl. ebd., 198. 111 Vgl. Senge (2006), 138: “But vision is different from purpose. Purpose is similar to a direction, a general heading. Vision is a specific destination, a picture of a desired future. Purpose is abstract. Vision is concrete. Purpose is‚ advancing man’s capability to explore the heavens.‘ Vision is ‚a man on the moon by the end of the 1960s‘.” 112 Zum Folgenden: Vgl. Collins (2001), 90-119.
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schäft für eine normale Ortsgemeinde in dieser Form nicht praktikabel sein, da sie stets mit einem gewissen Maß an Pluralität wird leben müssen oder dürfen. Das Modell kann besonders helfen, wenn verschiedene Kirchengemeinden in einer Region unterschiedliche Schwerpunkte setzen wollen. Wir werden uns in diese kirchentheoretische Diskussion an dieser Stelle nicht vertiefen können. Dennoch sind gerade solche Leitbilder oder Visionen wenig hilfreich, die am Ende alles und 113 nichts aussagen und so keine Orientierungsleistung mehr bieten können. An dieser Stelle hilft Collins Ansatz, bei aller notwenigen Behutsamkeit in der Anwendung, zur Konkretion.
Um einen Visionsprozess konkret werden zu lassen, könnte sich die Gemeinde drei Fragen stellen: 1) Worin haben wir unsere Stärken? 2) Was braucht der lokale Kontext, in den wir uns gesandt wissen? 3) Wofür haben wir Leidenschaft? Gemeindeleitung könnte die Gemeinde in einen Prozess mitnehmen, diese drei Fragen zu erkunden und Schnittmengen zwischen ihnen zu ermitteln. In jeder dieser drei Fragen könnte dabei auch die „geistliche Dimension“ zur Sprache gebracht werden und von Übungen wie Gebet und Schriftmeditation begleitet werden. 18.7. Die fünfte Aufgabe: Experimentieren und Implementieren Diese fünfte Aufgabe markiert nun endgültig den Übergang von der Wahrnehmung hin zur Handlung. Zunehmend wird aus der erfahrenen Möglichkeit Wirklichkeit werden müssen. 18.7.1. Von Prototypen und Experimenten Dieses Anliegen haben Senge, Scharmer und Heifetz gemeinsam. Sie alle heben den Wert des Experimentierens oder der Generierung von Prototypen unter komplexen Bedingungen hervor.114 Worum geht es aber beim Experimentieren? Der Ausgangspunkt ist die verdichtete Vision. Der beste Weg jedoch, eine Vision unter komplexen Bedingungen Wirklichkeit werden zu lassen, ist durch Experimente und das Erstellen von Prototypen. Scharmer definiert es so: „Ein Prototyp ist eine Landebahn für die Zukunft. Ein strategischer Mikrokosmos ist [sic. ein] kleines Experimentierfeld der Zukunft, die du erschaffen willst und die Kernelemente deiner Vision konkretisiert.“115 113
Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 198. Vgl. Senge (2006), 256: “While much has happened since this book was first written in 1990, the basic metaphor of prototypes still seems apt to me. There are no answers or magic pills. There is no alternative to learning trough experimentation.” Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 277-288; 277: „Everything you do in leading adaptive change is an experiment.“ Scharmer (2011), 208-217. Vgl. auch: Collins / Hansen (2011), 69ff. 115 Scharmer (2011), 425; ähnlich: 420. 114
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Experimente sind in komplexen Situationen gerade deshalb so notwendig, da nicht alle relevanten Faktoren überschaut werden können. Für eine perfekte Planung von A nach B ist zu viel Unbekanntes im Spiel. Nach Scharmer gilt hier deshalb der Grundsatz: „Scheitere früh, um schneller zu lernen.“116 Experimente seien deshalb von Pilotprojekten zu unterscheiden, wo es um die erfolgreiche Einführung gehe. Ein Experiment dürfe auch scheitern. Deshalb müsse man beim Experimentieren auch stets mit kurzfristigen Verlusten und Misserfolgen rechnen.117 Hat man es zusätzlich mit sozialer Komplexität zu tun, also einem unüberschaubaren Geflecht von Einzelinteressen und Interessengruppen, hilft das Experimentieren auch, frühzeitig Rückmeldung der verschiedensten Stakeholder einzuholen.118 Was braucht es nun aber zum Gelingen eines Experimentes? Nach Scharmer gelte es vor allem zwei gängige Fallen zu vermeiden.119 Da wäre erstens die Gefahr, aus dem Nachdenken nie zur Umsetzung zu gelangen. Er nennt dies die „Analyseparalyse.“ Dem steht jedoch die Falle eines „Aktionismus ohne Reflexion“ gegenüber. Eine Methode, um Zweites zu verhindern, könnten “After Action Reviews” darstellen. Nach einem Ereignis oder einer Sitzung stellt man sich dazu als Team drei Fragen: 1) Was ist passiert? 2) Was hatten wir erwartet? 3) Was können wir aus der Diskrepanz der beiden Antworten lernen?120 Darüber hinaus gilt das Prinzip, dass viele kleine Experimente weniger risikoreich sind als nur wenige große. Außerdem bietet es sich an, verschiedene Experimente zur Lösung eines gemeinsamen Problems parallel laufen zu lassen.121 Des Weiteren wird die Leitung auch Schutzräume für Experimente bieten und es honorieren müssen, wenn Menschen innerhalb der Organisation bei Experimenten einmal scheitern. 122 Zusätzlich schlägt Scharmer vor, in einem Experimentierteam fünf verschiedene Typen von Akteuren involviert zu haben:123
116 117 118 119 120 121 122 123
Ebd., 214. Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 173. Vgl. Scharmer (2011), 424f. Vgl. ebd., 217. Vgl. Senge (2006), 290-292. Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 172f. Vgl. Scharmer (2011), 214. Vgl. ebd., 427.
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1) Für das Ergebnis verantwortliche Personen 2) Menschen, die mit dem Problem täglich umgehen müssen 3) Weitere betroffene Akteure, die aber in der Regel kein Mitspracherecht haben 4) Kreative Outsider, die neue Perspektiven einbringen 5) Aktivisten, denen das Projekt am Herzen liegt Wie könnte dieser Ansatz des Experimentierens für Gemeindeleitung fruchtbar gemacht werden? Eine Antwort lässt sich andeuten. Steht ein Presbyterium bspw. vor der Herausforderung, die eigene Gottesdienstordnung zu reformieren, bietet sich die Arbeit mit Prototypen an, statt sich in zahlreichen Sitzungen über Möglichkeiten zu zerstreiten, die man nicht überblicken kann. Man entscheidet sich deshalb für viele kleine Experimente. An vier Sonntagen werden vier unterschiedliche Entwürfe einmal ausprobiert. Diese dürfen auch gerne scheitern, es handelt sich ja schließlich nicht um Pilotprojekte. Mit “After Action Reviews” werden sie hinterher kurz und bündig mit der Gemeinde reflektiert. In dem zuständigen Experimentierteam befinden sich die Pfarrerin, ein Lektor, eine Frau aus dem Ort, welche die sonntäglichen Gottesdienste in der Regel nicht besucht, eine Person aus einer Nachbargemeinde, die vor drei Jahren durch einen ähnlichen Prozess gegangen ist, sowie ein engagiertes Gemeindeglied, dem das Thema „Gottesdienstreform“ schon lange auf dem Herzen liegt. 18.7.2. Implementieren und Reduzieren Nach dem Erproben geht es nun an das Implementieren.124 Es gilt nun Erkenntnisse aus der gemeinsamen Vision sowie gelungene Experimente im Alltag des gemeindlichen Lebens zu verankern. Darüber hinaus müssen Räume, Praktiken und Prozesse entwickelt werden, in denen sich das Neue weiterentwickeln kann. Eine weitere Aufgabe wird darin bestehen, von der Vision her Strategien und konkrete Ziele zu erstellen und mit diesen zu arbeiten.125 An dieser Stelle hat dann auch gutes Management seinen Platz. Damit stehen Leitungsverantwortliche gleichsam vor der Herausforderung von begrenzten Ressourcen. Nicht immer stehen die gewünschten personellen und finanziellen Mittel zur Verfügung, um Visionen und gelungene Experimente zu implementieren. Notwendigerweise werden auch immer wieder praktikable Kompromisse geschlossen werden müssen. Dennoch kann Gemeindeleitung einiges dazu beitragen, um notwendige Ressourcen freizusetzen. Malik spricht in diesem Zusam124 125
Vgl. ebd., 218-228. Vgl. Strunk (2001), 42-81.
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menhang von der Leitungsaufgabe der „systematischen Müllabfuhr“.126 Regelmäßig kommen alle Programme und Aktivitäten auf den Prüfstand. Die Leitfrage dabei lautet: „Was von all dem, was wir heute tun, würden wir nicht mehr neu beginnen, wenn wir es nicht schon täten?“127 Henry Cloud benutzt in diesem Kontext das Bild vom Stutzen einer Pflanze (Pruning).128 Damit eine Pflanze gedeihen kann, muss sie gestutzt werden. Dabei werden die kranken Zweige entfernt. Doch nicht nur die kranken Zweige müssen gehen, sondern auch einige gesunde. Denn die Pflanze hat nicht genügend Ressourcen, um sie alle zur vollen Blüte zu bringen. So brauchen nach Cloud auch manche Aktivitäten im Kalender der Gemeinde ein notwendiges Ende. Nicht weil sie schlecht sind, sondern weil der Freiraum benötigt wird, damit das wirklich Wichtige weiter wachsen kann. Hilfreich könnte hierbei ebenfalls ein Reflexionsprozess sein, den Heifetz, Grashow und Linsky vorschlagen.129 In einer Sitzung visualisiere man die Vision und lege dazu zwei Spalten an. In der linken Spalte sammle man all diejenigen Strukturen, Aktivitäten etc., welche die Vision unterstützen, in der rechten Spalte all jene, welche der Verwirklichung der Vision im Wege stehen. Zuletzt wird man bei aller berechtigter Mühe hinsichtlich der Implementation von Neuem, eine Idee aber auch loslassen können müssen und schauen, wie das System Gemeinde das Neue eigenständig verarbeitet. Nicht alles muss kontrolliert werden. Der eigene Rückzug ist selbst eine Form der Intervention, wenn sie anderen den Raum gibt, dieses Vakuum zu füllen.130 Damit kommt die vorliegende Untersuchung, wie komplexe Systeme – besonders jenes einer Kirchengemeinde und besonders in Veränderungsprozessen – gesteuert werden können zu ihrem Ende. Die folgende Grafik bündelt noch einmal die Ergebnisse:
126 127 128 129 130
Vgl. Malik (2006), 359-366. Ebd., 360. Vgl. Cloud (2010). Vgl. Heifetz / Grashow / Linsky (2009), 56. Vgl. ebd., 129f.
Abbildung 16: Veränderungen in einer Kirchengemeinde gestalten
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19. Zwischenfazit: Überlegungen zu einem prinzipiell-kybernetischem Gesamtbild
Nachdem wir diversen prinzipiell-kybernetischen Grundsatzfragen nachgegangen sind, setzen wir nun die verschiedenen Beobachtungen zu einem Gesamtbild zusammen. Dieses Gesamtbild ist keineswegs die einzig mögliche Art von prinzipieller Kybernetik. An unterschiedlichsten Stellen hatten sich Weggabelungen aufgetan, an denen andere Abbiegungen möglich gewesen wären. Diese hätten zu einer anderen prinzipiellen Kybernetik geführt und in Konsequenz wahrscheinlich ein anderes Leitbild von „Führen und Leiten“ ergeben. Dennoch ist das folgende Gesamtbild im Anschluss an unsere bisherigen Überlegungen meines Erachtens insgesamt das plausibelste. Das Neue Testament bejaht, dass die Kirche hinsichtlich „Führen und Leiten“ von ihrer Umwelt lernt und Gemeindeleitung in vielerlei Hinsicht so gestaltet, wie es dem kulturellen Kontext entspricht. Diesem Ja entspricht das Kirchenbild der Augsburger Konfession. Dieses Lernen vollzieht sich jedoch keineswegs naiv, sondern kritisch und muss sich an bestimmten Kriterien messen lassen: Es muss sich auf das Verhalten Jesu und besonders die Dienstnorm zurückbeziehen lassen, sich am Evangelium orientieren, auf die Erbauung der Gemeinde ausgerichtet und ohne Sünde durchführbar sein. Grundsätzlich bleibt aber das Votum für ein kybernetisches Lernen in großer Freiheit. Das erklärt in der Retrospektive die ausführliche Auseinandersetzung mit der Führungswissenschaft (աTeil II) und unterstreicht deren Relevanz. Diese prinzipielle Offenheit zur kontextuellen Adaption kommt auch in der Frage, wer die Gemeinde leitet, zum Tragen. Das Zusammenspiel der verschiedensten Leitungsakteure wird in vielerlei Hinsicht situativ zu gestalten sein. Sofern sie begabt, berufen, von der Gemeinde beauftragt und sie daran Freude haben, sollten nichtordinierte Gemeindeglieder in ehrenamtlicher Funktion, sowie weitere Haupt- und Nebenamtliche idealiter gemeinsam mit dem Pfarramt die Gemeinde leiten. Dieses spezifische Miteinander vollzieht sich gabenorientiert und sollte dem Grundsatz des wechselseitigen Dienstbefähigungsdienstes entsprechen. Dieser wechselseitige Dienstbefähigungsdienst stimmt dann mit dem Bezug auf das Verhalten Jesu (Dienstnorm) und der Ausrichtung auf die Erbauung der Gemeinde überein. Das wiederum impliziert bereits eine gewisse Verbindung von Christsein und Gemeinde, hinsichtlich derer sich festhalten lässt: Christsein wird prinzipiell nicht ohne die regelmäßige Partizipation an einer Sozi-
19. Zwischenfazit
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algestalt des Glaubens möglich sein. Dieser „ekklesiale Charakter des Glaubens“ ist schon nach dem Neuen Testament normativ. Das entscheidende Argument bleibt jedoch, dass Glaube grundsätzlich Gemeinschaft benötigt, um überhaupt erst konstituiert zu werden. Auch wenn die Partizipation an einer Sozialgestalt des Glaubens normativ bleibt, ist sie dennoch nicht mit vereinskirchlicher Geselligkeit deckungsgleich und muss deshalb spätmodernen Mobilisierungs- und Flexibilisierungstendenzen Rechnung tragen. „Führen und Leiten“ wird sich in manchen Teilen projektartiger vollziehen müssen. All das entspricht ebenfalls dem oben entfalteten Kontextualisierungsverständnis. Während das „Dass“ des Gemeinschaftsbezugs normativ bleibt, kann und soll das „Wie“ kontextuell verschieden und zeitgemäß gestaltet werden. Was kritische Kontextualisierung hinsichtlich eines systemischen Führungs- und Leitungsverständnisses bedeutet, zeigt sich in der Führungsund Leitungsfrage coram hominibus. Bei aller grundsätzlichen Bejahung einer systemischen Perspektive wird eine Rezeption des damit einhergehenden konstruktivistischen Wahrheitsverständnisses in der Form einer naiven Übernahme nicht möglich sein. Es entspricht nicht dem Kriterium einer Orientierung am Evangelium, denn nach Luther sind die festen Gewissheiten, die assertiones, für den christlichen Glauben essentiell wichtig. Auch drohen real vorhandene Wahrheits- und Machtansprüche verschleiert zu werden. In der Unterscheidung in Wirklichkeits- und Sachverhaltswahrheiten liegt hier jedoch das hilfreiche Korrektiv. Das normative Kriterium der Kybernetik bleibt letztendlich die klare Heilige Schrift. Auf den ersten Blick ergibt sich daraus eine Spannung zu unserer prinzipiellen Verhältnisbestimmung zum Kontext, die ja für ein hohes Maß an Freiheit votiert. Die reformatorisch-lutherische Theologie hat aber zwischen dem sola scriptura und der Flexibilität in Ordnungsfragen nie einen großen Widerspruch empfunden. Denn die Bibel ist in dieser Frage gerade darin normativ, dass sie die jeweilige Leitungsform entschieden vom Kontext her denkt. Deshalb finden sich im Neuen Testament eine Vielzahl von Leitungsmodellen. Dieser in gewisser Hinsicht „plurale Ansatz“ gilt damit aber noch keineswegs für alle Fragen. Es bleibt dabei: „ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“ (Eph 4,5). Diese Klarheit ergibt sich aber erst aus dem gemeinsamen Bibellesen. Deshalb ist Leitung coram hominibus auf Gemeinschaft angewiesen. Selbst wenn Wahrheit kein Produkt des Diskurses ist, so zeigt sich doch die Klarheit der Schrift besonders in christlicher Gemeinschaft. Sprachen wir bisher von einem Miteinander verschiedener Leitungsakteure im wechselseitigen Dienstbefähigungsdienst, so erinnert Leitung coram deo daran, dass es doch Gott selbst ist, der in letzter Hinsicht seine Kirche leitet. Er kommt vor und nach, in und außerhalb, wegen und gegen menschlichem Handeln zu seinem Ziel. All dieses entbindet christliche Kybernetik aber nicht von der Frage nach Wirksamkeit und
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Teil II1: Theologische Grundlagen von Führen und Leiten
stellt keinen Widerspruch zum zielgerichteten Handeln und der Verwendung von Führungs- und Leitungsmethoden dar. In Ergänzung der Argumentationsfigur der theonomen Reziprozität besteht gezieltes und methodisches Handeln gerade nicht in der Trennung vom Rechtfertigungsgeschehen, sondern ist als Antwort auf das Wort, als Konsequenz der Rechtfertigung zu verstehen. Es ist geprägt von Dankbarkeit. In Momenten der Zielverfehlung befreit das Evangelium aus Verzweiflung und schenkt Gelassenheit in der Selbstkritik. Insgesamt votieren die Argumentationsfiguren der „Frucht“, von „Wort und Antwort“, sowie der Ansatz einer kritischen Kontextualisierung gemeinsam, aber von unterschiedlichen Seiten, für eine kirchliche Verwendung und kritische Rezeption der Führungsforschung. Dass zielgerichtete Leitung – wenn auch nicht linear – möglich ist, verdeutlicht die coram mundo-Relation. Denn eine systemische Perspektive führt in letzter Konsequenz zu einer erhöhten Steuerbarkeit, da die verborgenen Dynamiken sichtbar gemacht und so in Teilen zugänglich werden. Leitungsverantwortliche können also etwas verändern und sind Systemdynamiken nicht machtlos unterworfen. Die sich daraus ergebende Steuerung komplexer Systeme ist in vielerlei Hinsicht mit Segeln bei Gegenwind vergleichbar: Ziele können nur annährungsweise und indirekt erreicht werden. Ein Entwurf, der diesen systemischen Ansatz praktisch verdeutlicht, beinhaltet fünf Schritte, die gemeinsam als Prozess zu gestalten sind. Dieser Prozess weist zahlreiche Interdependenzen zu den bisherigen prinzipiell-kybernetischen Überlegungen auf. So ist es ein wesentliches Merkmal dieses Prozesses, ein sogenanntes Downloading zu vermeiden. Dass Menschen, da sie in dieser Welt stets Sünder bleiben, immer wieder ins Downloading zurückfallen, ist ebenfalls eine wichtige Einsicht zum Umgang mit Wahrheitsansprüchen. Solche Wahrnehmungsblockaden gilt es kybernetisch durch das gemeinsame Hören auf Gott in seinem Wort zu durchbrechen. Dieses gemeinsame Hören ist wiederum integraler Bestandteil des Veränderungsprozesses und Voraussetzung für das Entstehen einer gemeinsamen Vision. Führen wir all jene Beobachtungen um einen letzten Gedanken weiter und schließen diesen Abschnitt mit einer These ab: Diese spezifischen prinzipiell-kybernetischen Überlegungen lassen sich brennpunktartig in einem Leitbild von „Führen und Leiten“ in einer Kirchengemeinde bündeln: Führen und Leiten ist Servant Leadership. Inwiefern? Das ist Thema des fünften und letzten Abschnittes.
Teil IV Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership
20. Was ist Servant Leadership?
Wir verlassen an dieser Stelle die prinzipielle Ebene der Kybernetik und gehen zur konzeptionellen über. Es ist nun das Ziel die eben aufgestellte These zu erhärten. Wir diskutieren, inwiefern sich ein Großteil der bisherigen Ergebnisse brennglasartig in einem Leitbild von „Führen und Leiten“ als Servant Leadership bündeln lassen. Am Ende soll dann ein konzeptionelles Leitbild von Servant Leadership stehen, welches gleichsam die bisherige Theoriebildung integrieren kann und für die praktische Gemeindeleitung dennoch handlungsleitend ist. Führen und Leiten ist Dienen. Diese paradoxe Verbindung ist kirchenund theologiegeschichtlich keineswegs neu. Einzelne Grundgedanken von Servant Leadership finden sich hier wieder, ohne dass dabei ein expliziter Bezug zu Greenleaf hergestellt werden müsste.1 Als Beispiel dafür kann die folgende Frage gelten, an der sich christliche Gemeinschaft nach Bonhoeffer messen lassen muss: „Hat die Gemeinschaft dazu gedient, den einzelnen frei, stark und mündig zu machen, oder hat sie ihn unselbständig und abhängig gemacht?“2 Dem Anliegen Greenleafs ist diese Frage nicht unähnlich. Auch explizit wurde Servant Leadership in letzter Zeit in der deutschsprachigen Theologie rezipiert, etwa von Böhlemann und Herbst in ihrer Arbeit über „Geistliche Leitung“ oder von Hartmann vor einem diakoniewissenschaftlichen Horizont.3 Böckel kommt in diesem Zusammenhang sogar zu dem Fazit: „Führung kann [...] nur als ‚servant leadership‘ begriffen werden.“4 5
Bei Herbst ist der Dienstcharakter von Leitung schon von Anfang an angelegt. In „Geistlich leiten“ wird dann Greenleaf von Böhlemann und Herbst rezipiert und mit dessen Interpretation durch Leonhard Schnorrenberg verbunden. Das Proprium 1
So betitelt Richard Osmer etwa eine der vier Aufgaben der Praktischen Theologie mit „Servant Leadership“. Ein Bezug zu Greenleaf oder zur führungswissenschaftlichen Diskussion rund um diesen Begriff wird bei ihm jedoch vermisst. Auf den Punkt gebracht liegt bei ihm das folgende Verständnis vor: “Servant leadership is leadership that influences congregation to change in ways that more fully embody the servanthood of Christ.” Osmer (2008), 192. Auch Breit-Keßler unterstreicht die Bedeutung des Dienens für das Leiten. Vgl. Breit-Keßler (2012). 2 Bonhoeffer (1987), 75. 3 Ebenso kommt Servant Leadership nach Böckel eine „normative Rolle“ für eine evangelisches Führungsverständnis zu. Vgl. Böckel (2014), 129; 135; 204ff 660. 4 Ebd., 660. 5 Vgl. Herbst (2010), 334.
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Teil IV: Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership
von Servant Leadership ist hiernach, dass der Mensch nicht bloß Mittel zum Zweck sei, sondern selbst in den Mittelpunkt des Führungsprozesses gerate.6 Beide können ihr Verständnis von dienender Führung dann so zusammenfassen: „Servant leadership bedeutet: Dafür da sein, dass andere wachsen können. Das ist Größe, das macht dann aber auch wirklich groß.“7 Mathias Hartmann hält Servant Leadership im Anbetracht einer sich im Umbruch befindlichen Diakonie für zukunftsweisend, vermag Servant Leadership doch sowohl das in Teilen noch patriarchalisch geprägte Führungs- und Leitungsverständnis innerhalb der Diakonie zu erneuern als auch trotz steigendendem Profitabilitätsdruck die unternehmensethische Dimension zu sichern. Unter den diversen Ser8 vant-Leadership-Modellen favorisiert er jenes nach Sipe und Frick. (ա20.1.) Insgesamt spricht sich Hartmann gegen eine organisations- und managementtheoretische Füllung von Servant Leadership aus, da Dienen hierbei oft auf das Moment der Dienstleistung oder Kundenorientierung reduziert werde.9 Er votiert deshalb für ein unternehmensethisches Verständnis von Servant Leadership. Das lasse sich wiederum mit Peter Ulrichs Konzept einer integrativen Wirtschafts- und Unternehmensethik zusammendenken, wobei in Teilen das systemische St. GallenerManagementmodell (ա 8.) Pate steht.10 Unternehmen sollten allen Menschen dienen, nicht nur den Kunden oder den Shareholdern. Zusammengefasst steht Servant Leadership nach Hartmann darum primär für eine entschiedene Stakeholderorientierung. „Die Stakeholderorientierung in ihrer ganzen Komplexität ist ein Kennzeichen des ‚Servant Leadership‘. Ein Unternehmen, das als ‚servant lead‘ bezeichnet wird, ist kein Selbstzweck, sondern dient den Stakeholdern, zu denen das Gemeinwesen gehört, in dem sich das Unternehmen befindet, und auch die Gesellschaft als 11 Ganze.“ Die Dissertation endet mit einer Beschreibung, wie Servant Leadership in der Diakonie Neuendettelsau durch eine gemeinsame Erarbeitung von Füh12 rungsgrundsätzen implementiert wurde. In vielerlei Hinsicht steht das Beschriebene mustergültig für die gemeinsame Erarbeitung von Grundsätzen. Allerdings findet sich in dem Prozess nirgends ein inhaltlicher Impuls zu Servant Leadership, weder in Bezug auf biblische Texte oder Greenleaf. Deshalb kann m. E. nur schwer von einer Implementierung des Ansatzes gesprochen werden, es sei denn Servant Leadership geht schon in der Gemeinsamkeit des Prozesses auf. Auch Hartmann kann zugestehen: „Die inhaltliche Auseinandersetzung steht aber zum Teil noch aus.“13 Das Führungsleitbild besteht schließlich aus sechs Grundsätzen: Verbindliche Klarheit, Freiheit in persönlicher Verantwortung, Handlungssicherheit geben, Dienend Führen, Innovation Fördern, Wertschätzung.14
In der Darstellung des gegenwärtigen Standes der Führungsforschung (աTeil II) wurde Servant-Leadership bereits in Skizzen umrissen (ա9). Dabei hatten wir uns jedoch für einen ersten Überblick auf die Impulse Robert Greenleafs wie dessen Rezeption durch seinen Schüler Larry Spears beschränkt. Nun gilt es, den Blick zu weiten und Servant Lea6
Vgl. Böhlemann / Herbst (2011), 68-82. Ebd., 79. 8 Vgl. Hartmann (2013), 35-41. 9 Vgl. ebd., 72-74. 10 Vgl. ebd., 97-127. 11 Ebd., 98. 12 Vgl. ebd., 129-192. 13 Ebd., 161. 14 Vgl. ebd., 153f. 7
20. Was ist Servant Leadership?
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dership umfassender wahrzunehmen. Dazu untersuchen wir in einem ersten Schritt exemplarisch zwei Servant Leadership-Modelle. Der Entwurf nach Sipe und Frick (ա20.1.) wurde im diakoniewissenschaftlichen Diskurs bereits von Hartmann rezipiert. Er ist gerade deshalb betrachtenswert, weil Servant Leadership hier in einem Modell konkret wird, das sich leicht praktisch implementieren lässt. Das Modell nach Liden, Wayne, Zhao und Henderson (ա20.2) hingegen basiert auf soliden psychometrischen Untersuchungen. Hier bietet sich eine Vertiefung an, da sich gerade die mangelnde empirisch-wissenschaftliche Unterlegungen als ein Schwachpunkt der bisherigen Servant Leadership-Konzeption herausgestellt hatte. Darüber hinaus stellt sich die Frage, worin das Proprium von Servant Leadership gegenüber anderen Führungskonzeptionen liegt und wie es von diesen abzugrenzen ist (ա 20.3). Auf eine Analyse der Auswirkungen (ա20.4.) folgt die kritische Betrachtung von Gefahren und Missverständnissen hinsichtlich von Servant Leadership (ա 20.5.), ehe die Ergebnisse dann unter 20.6. in einen Zwischenfazit gebündelt werden. 20.1. Die 7 Säulen von Servant Leadership nach Sipe und Frick Das Konzept “Seven Pillars of Servant Leadership”15 nach James Sipe und Don Frick versteht sich als eine Weiterentwicklung und praktische Implementierung der oben bereits skizzierten 10 Charakteristika von Servant Leadership nach Larry Spears. Aus den zehn Charakteristika gilt es nach den Autoren ein “competency-based framework”16 zu bilden. Nach und nach werden die sieben Säulen entfaltet, auf denen der Ansatz beruht.17 Auf den Punkt gebracht lassen sich die sieben Säulen so beschreiben: “A Servant-Leader is a person of character who puts people first. He or she is a skilled communicator; a compassionate collaborator, who has foresight, is a systems thinker; and leads with moral authority.”18 Das soll nun weiter entfaltet werden: a) Person of Character Der Charakter einer dienenden Führungskraft zeigt sich an der Orientierung am Gewissen oder – anders gesagt – an einem moralischen Kompass, der nach „True North“ zeige.19 Konkret wird das in drei As15
Sipe / Frick (2009). Ebd., 7. 17 Jede Säule wiederum besteht in sich aus drei Kompetenzen oder Eigenschaften, so dass Servant Leadership nach Sipe und Frick insgesamt 21 Aspekte beinhaltet. Aus forschungspragmatischen Gründen sollen diese aber nicht alle einzeln dargestellt werden. 18 Ebd., 4. 19 Vgl. ebd., 17: “A Servant-Leader lives, loves, and leads by conscience – the inward moral sense of what is right and what is wrong.” 16
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Teil IV: Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership
pekten. Zunächst einmal zeigt die dienende Führungskraft Integrität. Das meint, sie ist ehrlich und authentisch. Praktisch äußert sich dies bspw. in dem Halten von Versprechen oder dem Zugeben von Fehlern. Der zweite Aspekt ist im Anschluss an Jim Collins das Zeigen von Demut.20 Die dienende Führungskraft müsste stets mit der Möglichkeit rechnen, nicht Recht zu haben. Drittens diene sie einem höheren Ziel. Sie sucht nach Sinn, Bedeutung und Signifikanz ihrer Arbeit. b) Puts People First21 Die starke Orientierung am Gegenüber konnte bereits bei Greenleaf selbst als Zentrum des Führungsverständnisses ausgemacht werden. Die Orientierung am Gegenüber macht die dienende Führungskraft zu einer Art Mentor, allerdings – das betonen die Autoren – partnerschaftlich und auf Augenhöhe.22 c) Skilled Communicator Dienende Führungskräfte sind gute Kommunikatoren. Durch empathisches Zuhören achten sie die Würde ihres Gegenübers und begegnen ihm mit Respekt. Dazu wird das benötigt, was Daniel Goleman „Emotionale Intelligenz“ nennt. Insgesamt finden hier zahlreiche Elemente Verwendung, die ursprünglich aus dem Raum der Gesprächstherapie stammen, wie z.B. das aktive Zuhören. Der Bezug zu Carl Rogers wird gar explizit hergestellt.23 Darüber hinaus fordert die dienende Führungskraft Feedback ein. Allerdings rezipiert sie nicht ausschließlich, sondern beeinflusst auch durch Kommunikation. Sie vermittelt durch ihre Kommunikation Sinn, indem sie Symbole benutzt und Geschichten erzählt.24 Damit ist der Aspekt des Storytelling hier auch Teil von Servant Leadership. d) Compassionate Collaborator Ein dienender Leiter ist teamorientiert und fördert eine Kultur der Zusammenarbeit. Deshalb zeigt er den Geführten aktiv Anerkennung für deren Leistung. Innerhalb eines Teams nimmt er verschiedene Rollen wahr und sorgt dafür, dass sich die Teammitglieder entfalten können. Zuletzt fassen Sipe und Frick unter dieser Säule auch den Bereich des Konfliktmanagements.
20
Vgl. ebd., 29: “[...] humility requires courage of intentional vulnerability and voluntary surrender of one´s ego for the sake of others and the organization.” 21 Vgl. ebd., 34: “A Servant-Leader helps others meet their highest priority development needs.” 22 Drei Aspekte dieser Säule lauten: “Displaying a Servant’s Heart”, “Being Mentor-Minded” und “Shows Care and Concern”. 23 Vgl. ebd., 54. 24 Vgl. ebd., 74f.
20. Was ist Servant Leadership?
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e) Foresight25 Unter dieser Säule begegnet so manches, was aus dem Bereich der transformationalen Führungstheorie bekannt ist. So wird die hohe Relevanz der Vision unterstrichen: “A Servant-Leader sees where to go (trough foresight), paints a compelling picture of the destination (with a vision), and invites others to ‘Come, follow me’.”26 Das sei jedoch kein Aktionismus. Vielmehr zeichne sich die dienende Führungskraft dadurch aus, dass sie gleichsam reflektierte, wie auch mutige Entscheidungen treffe. f) Systems Thinker Mit dieser Säule wird die systemische Perspektive auf Leitungsprozesse in Servant Leadership integriert. Mit jener Perspektive weitet sich der Horizont eines dienenden Leiters. “Systems thinkers […] zoom out in order to see the problem in the context of the underlying patterns and structures of the whole organization, and the organization’s relationship to its community, environment, and country.”27 Deshalb räume ein systemisch denkender Leitender auch der Kultur und den Glaubenssätzen, welche die Organisation prägen, einen großen Stellenwert ein. Darüber hinaus nimmt er die Komplexität der Realität wahr und arbeitet mit ihr. Das ist für Sipe und Frick jedoch kein Gegensatz zum gezielten strategischen Handeln. Vielmehr gehöre beides zusammen. Über die dienende Leitungsperson heißt es: “They develop their bullet-point plans of action like others, but hold them more lightly so they can be revisited and modified to incorporate lessons learned along the way.”28 Ein dienender Leiter sei somit anpassungsfähig.29 Leitung habe dann viel mit Segeln gemeinsam, denn auch hier kann das eine Ziel nur erreicht werden, wenn immer wieder Kurskorrekturen vorgenommen werden. g) Moral Authority30 Servant Leadership basiere nicht auf einer formalen Autorität, die einem durch das Innehaben einer bestimmten Führungsposition zukomme, sondern auf einer moralischen Autorität. Das führe zu Glaubwürdigkeit. Entscheidend dafür sei der Umgang mit Verantwortung. Die 25
Aber auch Kritisches wird hier anzumerken sein. So verlieren sich Sipe und Frick mitunter in supranaturalistischen Spekulationen, die in der Tendenz schon bei Greenleaf selbst angelegt sind. „Foresight“ wird zu einer übernatürlichen Gabe. So erzählen die Autoren die Geschichte einer Frau, die mit ihrem Auto nicht über eine Brücke gefahren ist, weil sie auf ihr Bauchgefühl gehört hat. Wenig später stürzte die Brücke ein. Vgl. ebd., 108. 26 Ebd. 119. 27 Ebd., 131. 28 Ebd., 141. 29 Vgl. ebd., 141: “A system-thinking Servant-Leader is adaptable because she knows reality is fluid, and new issues call for new responses.” 30 Vgl. ebd., 155-178.
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Teil IV: Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership
dienende Führungskraft übernimmt die Verantwortung für das eigene Handeln, besonders für Fehler. Gleichsam kann sie aber auch Verantwortung abgeben, sprich Aufgaben gelingend delegieren. Das führe zu mehr Macht für jeden. Denn wie schon Isolde Karle verstehen auch Sipe und Frick Macht nicht als ein Nullsummenspiel (ա 5.2.2.). In letzter Konsequenz wird es nach den Autoren darum gehen müssen, eine ganze Kultur der Verantwortung zu etablieren. Eine von vielen Möglichkeiten dazu ist es, immer wieder Geschichten zu erzählen, wie die Organisation auch in schwierigsten Zeiten an ihren moralischen Werten festgehalten hat. Es ist die wesentliche Stärke dieses spezifischen Modells von Servant Leadership nach Sipe und Frick, dass es vieles in sich zu integrieren vermag. Es enthält sowohl das Moment von Führung als Eigenschaft, aber auch von Führung als Verhalten. Es beinhaltet sowohl die systemische als auch die transformationale Perspektive und zeigt damit exemplarisch an, dass in Servant Leadership Elemente jener beiden „großen Konzeptionen“ zusammenfinden können. Auch weitere Aspekte, welche die Führungsforschung gegenwärtig beschäftigen, werden aufgegriffen, wie z.B. Authentizität, Demut oder Führung durch Storytelling. Darüber hinaus werden zahlreiche materielle Führungsthemen verhandelt, wie etwa Konfliktmanagement oder Kommunikationskompetenz. Weiterhin besteht insgesamt ein deutlicher Bezug zum Entwurf Greenleafs. Diese hohe integrative Kraft kann aber auch gleichsam eine Schwäche sein. Denn mitunter droht das Spezifische, das Proprium von Servant Leadership in den Hintergrund zu treten. Des Weiteren ist der Ansatz von Sipe und Frick stark praxisorientiert und lässt ähnlich wie die zehn Kennzeichen nach Spears eine empirisch-wissenschaftliche Basis vermissen. Zugegebenermaßen ist das auch gar nicht der Anspruch des Modells. Dennoch bleibt es aufgrund des mangelnden empirischen Unterbaus thetisch. Deshalb gilt es nun ein zweites Modell zu betrachten, das gerade in diesem Bereich seine Stärken entfaltet. 20.2. Das Servant-Leadership-Modell nach Liden, Wayne, Zhao und Henderson In jüngerer Zeit wurden vermehrt Modelle von Servant Leadership publiziert, die auf wissenschaftlichen Untersuchungen basieren und damit dem gegenwärtigen methodischen Anspruch der Führungsforschung entsprechen.31 Von diesen soll im Folgenden ein Modell dargestellt 31
Auf weitere Modelle von Servant Leadership, deren Basis wissenschaftlich untersucht ist, sei kurz verwiesen: So wurde ein Konzept von Russell und Stone vorgelegt. Sie unterscheiden in neun funktionale und elf begleitende Attribute. Diese
20. Was ist Servant Leadership?
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werden, das im Wesentlichen auf den Arbeiten von Robert C. Liden basiert.32Als ein valides Modell berücksichtigt es die einschlägigen psychometrischen Standards, beruht etwa auf einer explorativen sowie konfirmatorischen Faktorenanalyse und bezieht sich hinsichtlich der einzelnen Facetten auf einschlägige Studien. Dem Konzept liegt grundsätzlich eine Dreiteilung zugrunde.33 Wie es dem aktuellen state of the art der Führungsforschung entspricht, wird in Voraussetzungen, Verhaltensweisen und Auswirkungen unterschieden. Jene drei Teile bestehen in sich aus weiteren Faktoren. Dabei können diese einzelnen Faktoren z.B. auf ihre prinzipielle Unabhängigkeit voneinander, aber auch auf ihren gegenseitigen Einfluss aufeinander untersucht werden.34 Die hierbei von Liden u.a. genannte Liste ist mit Sicherheit nicht erschöpfend, benennt jedoch die wichtigsten Faktoren. Das Modell wird in der folgenden Abbildung grafisch dargestellt und soll im Anschluss näher entfaltet werden. Einteilung wird in der Forschung öfters ambivalent bewertet. Vgl. Russell / Stone (2002). Das Modell nach Page und Wong ordnet Servant Leadership zwölf unterschiedliche Faktoren zu, die sich in nachfolgenden Untersuchungen jedoch insgesamt nicht als valide erwiesen haben. Nachfolgende Studien ergaben jedoch, dass drei einzelne jener zwölf Faktoren sich dennoch als valide erweisen: Vision, Empowerment und Service. Das ist nennenswert, da der Faktor des Empowerments auch in dem oben beschriebenen Modell nach Liden u.a. zum Ausdruck kommt. Vgl. Dennis / Winston (2003). Das Markante an dem Modell von Sendjaya u.a. ist, dass Servant Leadership hier explizit eine spirituelle Dimension zugeordnet wird. Vgl. Sendjaya / Sarros / Santora (2008). Das Modell, was dem oben favorisierten nach Liden u.a. am nächsten kommt, ist jenes nach van Dierendonck. Es hat mit diesem auch zahlreiche Gemeinsamkeiten. So unterscheidet es ebenfalls in Voraussetzungen, Verhaltensweisen und Auswirkungen und benennt als Mediatoren zwischen Verhaltensweisen und Auswirkungen bspw. Vertrauen, Loyalität und Respekt. Vgl. van Dierendonck (2011). Eine Übersicht über weitere Modelle findet sich bei: Northouse (2013), 224. 32 In seinen Grundzügen wurde das Modell bereits 2008 von Liden u.a. vorgestellt. Vgl. Liden / Wayne / Zhao / Henderson (2008). 2014 wurde es ergänzt um eine ausführliche Beschreibung der mit ihm verbundenen Voraussetzungen und Mediatoren. Vgl. Liden / Panaccio / Meuser / Hu / Wayne (2014). Die folgende Darstellung orientiert sich ebenfalls an der Zusammenfassung durch Northouse. Vgl. Northouse (2013), 225-232. 33 Das gilt für den Stand von 2008. 2014 wurde das Modell um die Kategorie der Mediatoren erweitert. Vgl. Liden / Panaccio / Meuser / Hu / Wayne (2014), 358; 367ff. Jene Ergebnisse werden unter 7.4 berücksichtigt. 34 Damit geht dann auch die Frage einher, welcher Faktor beispielsweise als Mediator dient. Am Anfang der Untersuchung stand eine Literaturanalyse des Forschungsteams gefolgt von weiteren Untersuchungen. Am Ende stand das folgende Ergebnis: “In the current study, we developed and tested a multidimensional measure of servant leadership. Exploratory and confirmatory factor analyses provided support for seven servant leadership dimensions, thus providing evidence of construct validity. The resulting seven-dimension scale consisted of 28 items (four items for each of the seven dimensions).” Vgl. Liden / Wayne / Zhao / Henderson (2008), 173.
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Abbildung 17: Servant Leadership nach Liden u.a. Eigene Darstellung nach: Northouse (2013), 225.
20.2.1. Voraussetzungen Context and Culture: Die Frage, ob Servant Leadership angemessen ist und wie sie zu gestalten wäre, ist im hohen Maße von dem organisationalen und kulturellen Kontext abhängig. Lässt die Unternehmenskultur überhaupt eine ausgeprägte Menschenorientierung zu? Würde eine sich dienend verhaltende Führungskraft in dieser Organisation überhaupt als eine solche ernstgenommen werden? Oder: Wie sind die kulturellen Vorstellungen zum Verhältnis von Dienst und Führung? Leader Attributes: Die Disposition der Führungskraft mit ihren Eigenschaften und Fähigkeiten prägt die Ausführung und das Gelingen des dienenden Führungsprozesses? So korreliert etwa das Potential für das Gelingen von Servant Leadership positiv mit vorhandener emotionaler Intelligenz. Denn wer Gefühle identifizieren, interpretieren und regulieren kann, kann sich mehr auf die Besonderheiten eines Mitarbeiters einstellen und diesen gezielt fördern. Ebenso gibt die eigene emotionale Stabilität eine höhere Toleranz für Mitarbeiter, die in ihrem Wachstumsprozess Fehler machen. Des Weiteren erleichtern ein hohes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl dienendes Führungsverhalten, weil dann Selbstbestätigung nicht mehr aus der Kontrolle über andere bezogen werden muss. Darüber hinaus fällt dienende Führung solchen Personen leichter, bei denen prosoziales Verhalten im eigenen Selbstkonzept ausgeprägt ist. Follower Receptivity:35 Nach Northouse legen Studien nahe, dass sich keineswegs jeder Mitarbeiter wünscht, dienend geführt zu werden.36 Denn dienend-führende Verhaltensweisen sind eher für jene Mitarbeiter attraktiv, die eine proaktive Persönlichkeit besitzen. Wer selbstständig die eigene Situation zu verbessern wünscht, der findet in der die35 36
Vgl. Liden / Panaccio / Meuser / Hu / Wayne (2014), 365ff. Vgl. Northouse (2013), 226f.
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nenden Führungskraft den passenden Unterstützer. Ebenso gilt es zu beachten, dass jeder Geführte eine Vorstellung von dem besitzt, was eine Führungskraft idealiter sein sollte. Je mehr dies mit Servant Leadership übereinstimmt – also ein „Servant leader prototype“37 vorhanden ist – desto mehr Potential gibt es für Servant Leadership. Eine dienende Führungskraft wird also die einzelnen Dimensionen ihres Verhaltens individuell anpassen müssen. 20.2.2. Verhaltensweisen38 Conceptualizing: Eine dienende Leiterin hat ein Verständnis für die Ziele einer Organisation, nimmt die hohe Komplexität einer Organisation wahr und entwickelt dann passend kreative Lösungen. Emotional Healing: Der Faktor beschreibt die emotionale Sensibilität, welche die Führungskraft den Mitarbeitern entgegenbringt. Ihr Wohlergehen steht im Vordergrund. Sie nimmt wahr, wie es dem Mitarbeiter geht und ist bei persönlichen Problemen ansprechbar. Putting Followers First: Hierin kommt die für Servant Leadership zentrale Orientierung am Gegenüber zum Ausdruck. Die Führungskraft agiert mit dem Ziel, den Mitarbeiter erfolgreich zu machen. Sein Erfolg ist ihr wichtiger als der eigene. Helping Followers Grow and Succeed: Der Faktor beschreibt, wie die Führungskraft die Mitarbeiter dabei unterstützt, sich zu entwickeln und ihre Karriere-Ziele zu erreichen. Behaving Ethically: Damit ist ein offener, ehrlicher und fairer Umgang mit den Mitarbeitern gemeint. Die Führungskraft tut „das Richtige“, auch wenn unmoralische Verhaltensweisen gewinnbringend erscheinen mögen. Empowering: Hierin komm zum Ausdruck, dass eine dienende Führungskraft mit dem Ziel agiert, die Mitarbeiter stark und selbstständig zu machen. Die Geführten werden so zugerüstet, dass sie ihre Aufgaben eigenständig bearbeiten können. Sie dürfen dann auch Entscheidungen eigenverantwortlich treffen. Creating Value for the Community: Der letze Faktor beschreibt eine Verhaltensweise, die über die Organisation hinausgeht und am Gemeinwohl orientiert ist. Die dienende Führungskraft engagiert sich im gesellschaftlichen Leben und macht ihren Mitarbeitern Mut, Ähnliches zu tun.
37 38
Liden / Panaccio / Meuser / Hu / Wayne (2014), 366. Vgl. Liden / Wayne / Zhao / Henderson (2008), 162.
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20.2.3. Auswirkungen Den letzten Bereich der Auswirkungen fasst Northouse folgendermaßen zusammen: “As Greenleaf highlighted in his original work (1970), the central goal of servant leadership is to create healthy organizations that nurture individual growth, strengthen organizational performance, and, in the end, produce a positive impact on society.”39 Servant Leadership hat also hauptsächlich drei Auswirkungen. Follower Performance and Growth: Diese Auswirkung ist die logische Konsequenz der Servant Leadership inhärenten Orientierung am Gegenüber und kam bereits in den Verhaltensweisen Putting Followers First, Helping Followers Grow and Succeed und Empowerment zum Ausdruck. Organizational Performance: Die gesteigerte Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden führt zu einer erhöhten Leistungsfähigkeit der Organisation, wie es im Folgenden mit größerer Ausführlichkeit nachzulesen ist. Societal-Impact: Die weniger direkte, als vielmehr indirekt-langfristige Wirkung von Servant Leadership besteht in einem positiven Einfluss auf die Gesellschaft. 20.3. Der Mehrwert dieses Modells von Servant Leadership Im Anschluss an diese Darstellung stellt sich nun die Frage: Worin besteht der Mehrwert dieses Modells nach Liden, Wayne, Zhao und Henderson gegenüber anderen Servant-Leadership-Modellen? Grundsätzlich gibt es diverse Überschneidungen zu den sieben Säulen nach Sipe und Frick wie auch zu den zehn Charakteristika nach Spears.40 So steht auch bei Liden u.a. die Orientierung am Mitarbeiter und dessen Befähigung im Mittelpunkt, ergänzt um den Moment des Conceptualizing, sowie einer sowohl individual- (Behaving ethically) als auch sozialethischen Dimension (Creating value for the community). Es fehlen hingen 39
Vgl. Northouse (2013), 230. Conceptualizing (Liden u.a.) entspricht Conceptualization (Spears) und hat Bezugspunkte zu Awareness (Spears) und System Thinker (Sipe / Frick). Emotional Healing (Liden u.a.) entspricht Healing (Spears). Putting followers first (Liden u.a.) entspricht Puts people first (Sipe / Frick). Helping followers grow and succeed (Liden u.a.) entspricht Commitment to the growth of people (Spears). Behaving ethically (Liden u.a.) entspricht Person of character und moral authority (beides Sipe / Frick). Empowering (Liden u.a.) hat gewisse Ähnlichkeiten zu den bei Sipe und Frick gemachten Ausführungen über Compassionate collaborator. Creating value for the community (Liden u.a.) entspricht Community (Spears) und hat Bezugspunkte zu Stewardship (Spears). 40
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die sowohl bei Sipe und Frick als auch bei Spears vorhandenen allgemeinen Ausführungen über gelingende Kommunikation, sowie der vergleichsweise unklare Aspekt Foresight. Insgesamt aber überführen Liden u.a. die dort gemachten Beobachtungen in ein wissenschaftliches Führungsmodell. Ein weiterer Mehrwert besteht darin, dass mit den drei unter „Voraussetzung“ genannten Faktoren Context and Culture, Leadership Attributes und Followers Receptivity drei Aspekte benannt werden, die oben auch in der Darstellung des mehrschichtigen Führungsprozesses (ա7.) zur Sprache kamen. Damit kommt auch die Abhängigkeit des Gelingens von Servant Leadership von weiteren Dimensionen zum Ausdruck. Die transformationalen und systemischen Aspekte von Führung und Leitung finden hier jedoch nicht so stark Beachtung, wie es bspw. bei Sipe und Frick der Fall ist. Das ist nur verständlich, da psychometrisch konstruierte Führungsmodelle sich deutlich von anderen Modellen abgrenzen müssen, um ihre Eigenständigkeit plausibel machen zu können. Für die Praxis – wie etwa die kybernetische Arbeit in Kirche und Gemeinde – hat aber eine stärkere Durchdringung hin zu anderen Führungskonzeptionen, wie bei Sipe und Frick, durchaus ihre Vorteile. So kann aus praktischen Gründen oftmals nur mit einem Modell, z. B. Servant Leadership, gearbeitet werden, ohne dass die systemischen und transformationalen Dimensionen von Führung und Leitung unbeachtet bleiben sollten. Dennoch überwiegt insgesamt die Plausibilität dieses Modells nach Liden, Wayne, Zhao und Henderson. Aber die Frage nach dem Verhältnis von Servant Leadership zu anderen Führungskonzeptionen ist damit gestellt und soll im Folgenden näher erläutert werden. 20.4. Das Proprium von Servant Leadership gegenüber anderen Konzeptionen von Führung und Leitung Obwohl es sich bei Servant Leadership um ein eigenständiges Führungskonzept handelt, gibt es zahlreiche Berührungspunkte zu dem oben unter ա7. skizzierten mehrschichtigen Führungsprozess. So weist dienende Führung prinzipiell diverse Übereinstimmungen mit anderen Konzeptionen auf.41 In diesem Abschnitt sollen in einem Vergleich jene Übereinstimmungen benannt werden. Dabei werden jedoch ebenfalls Unterschiede hervortreten, die das Proprium von Servant Leadership markieren.
41
Vgl. Walumbwa / Hartnell / Oke (2010), 518: “Intuitively, servant leadership overlaps with other idealized notions of leadership (e.g., charismatic/transformational, ethical, authentic, and spiritual leadership) by exhibiting the following behaviors: role modeling, inspirational communication, and altruism.”
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Am ausführlichsten wird gegenwärtig das Verhältnis von Servant Leadership zur transformationalen Führungstheorie diskutiert. Dabei werden grundsätzlich zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Konzeptionen identifiziert.42 Nach Stone, Russell und Patterson komme in beiden Entwürfen jeweils eine große Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitern zum Ausdruck.43 Empowerment werde eine hohe Relevanz beigemessen. Die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Konzeptionen werden in der Regel in unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ausgemacht. So argumentieren Stone, Russel und Patterson, dass Transformational Leadership eher auf das Erreichen der Unternehmensvision oder des Unternehmensziels ausgerichtet sei, während Servant Leadership mehr auf den Mitarbeiter als solchen fokussiere.44 Diese Differenzierung hat damit gewisse Anklänge an die aus der FührungsstilDiskussion bekannte Unterscheidung in Mitarbeiter- und Aufgabenorientierung. Man wird den Unterschied jedoch nicht zu groß bewerten dürfen.45 Bei Servant Leadership liege zwar das Hauptaugenmerk auf den Mitarbeitern, das Erreichen von Organisationszielen sei jedoch der dabei entstehende langfristige Nebeneffekt.46 Die positiven Auswirkungen von Servant Leadership sind also im Vergleich zur transformationalen Führungstheorie tendenziell eher langfristiger Natur. Diese Einsicht legt nahe, dass Servant Leadership dann auch eher in einem stabilen Umfeld wirksam ist, während Transformational Leadership in Situationen geeignet ist, die sich schnell verändern und kurzfristige Erfolge benötigen. Authentizität spielt sowohl bei Servant Leadership als auch im gleichnamigen Authentic Leadership eine gewichtige Rolle. Beide Entwürfe sind dennoch nicht deckungsgleich. Servant Leadership ist insgesamt breiter aufgestellt und umfasst mehr Elemente des Führungsprozesses. Die hohe Wertschätzung von Authentizität lässt sich jedoch in Servant Leadership integrieren, wie es bspw. auch van Dierendonck vorgeschlagen hat.47 Die Konzeption von Self-Sacrificing Leadership48 suggeriert zumindest dem Namen nach gewisse Ähnlichkeiten zu Servant Leadership. Das 42
Sendjaya / Sarros (2002), 58. Vgl. Stone / Russell / Patterson (2004), 354. 44 Vgl. ebd., 349. 45 So auch Stone, Russell und Patterson. “Both theoretical frameworks emphasize a high concern for people and for production.” Vgl. ebd., 356. 46 Vgl. Sendjaya / Sarros / Santora (2008), 403: “The rationale behind this deliberate focus on followers is well summarized by Stone et al. [...] who asserted that ‘organizational goals will be achieved on a long-term basis only by first facilitating the growth, development, and general well-being of the individuals who comprise the organization’.” 47 Vgl. van Dierendonck (2011), 1236. 48 Vgl. Choi / Mai-Dalton (1999). 43
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Modell ist jedoch faktisch nur eine Variation der transformationalen Führungstheorie. Hier verzichtet die Führungskraft teilweise auf die Durchsetzung eigener Interessen zugunsten der Organisationsziele und will damit die Mitarbeiter zur Nachahmung motivieren. Trotz mancher Gemeinsamkeiten liegt hier aber der Fokus primär nicht auf dem Mitarbeiter, sondern – wie bei der transformationalen Führung – auf der Verwirklichung der Organisationsziele. Besonders aus theologischer Perspektive ist ein Vergleich von Servant Leadership mit dem Modell des Spiritual Leadership nach Fry interessant. Dieses Modell basiert auf drei Elementen: Vision, altruistischer Liebe und Hoffnung/Glaube.49 All das könnte sicherlich auch bei Servant Leadership ausgemacht werden. Dennoch – und hier ist der Befund ähnlich wie bei Authentic Leadership – ist Servant Leadership eine insgesamt weitere Konzeption, die zwar durchaus den spirituellen Aspekt integrieren50 aber andererseits auch als eine säkulare Theorie aufgefasst werden kann.51 Ein Vergleich von Servant Leadership mit anderen Führungskonzeptionen ergibt somit folgendes Ergebnis: Das Proprium liegt in der konsequenten Orientierung der Führungskraft am menschlichen Gegenüber, oder wie es Walumbwa, Hartnell und Oke auf den Punkt bringen: “Servant leadership is uniquely concerned with the success of all organizational stakeholders.”52 20.5. Was bewirkt Servant Leadership? Wir gehen an dieser Stelle der Frage nach, was Servant Leadership in einer Organisation bewirkt. Welchen Einfluss hat das dienende Verhalten einer Führungskraft auf die Geführten und die Organisation? Zunächst einmal sei darauf hingewiesen, dass Unternehmen, die sich Servant Leadership verpflichtet wissen, von ihren Mitarbeitern tendenziell als Arbeitgeber gesehen werden, für die sie gerne arbeiten. So erscheinen mit Servant Leadership geleitete Unternehmen regelmäßig auf der Forbes Liste der „Best Places to Work“. Bereits 2001 waren nach Ruschman über 30% der auf der Forbes Liste notierten Unternehmen auch Mitglieder oder Kunden des Greenleaf Center for Servant Leadership.53 2011 waren mit SAS, Wegmans Food Market, Zappos.com, Nugget Market und Recreational Equipment fünf nach den Prinzipien 49
Vgl. Sendjaya / Sarros / Santora (2008), 405. Vgl. ebd. 51 Vgl. van Dierendonck (2011), 1238. 52 Walumbwa / Hartnell / Oke (2010), 518. Auch Hartmann macht die Stakeholderorientierung als das Proprium von Servant Leadership aus. Vgl. Hartmann (2013), 27. 53 Vgl. Ruschman (2002), 125. Vgl. auch: Hartmann (2013), 50; Sipe / Frick (2009), 3. 50
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Teil IV: Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership
von Servant Leadership geleiteten Unternehmen in den Top 10 der „Fortune’s 100 best companies to work for“.54 Dieser arbeitnehmerfreundliche Charakter könnte gemeinsam mit dem dienenden Charakter jedoch suggerieren, dass Servant Leadership ein Unternehmen im Vergleich zur Konkurrenz wirtschaftlich unrentabler mache, da wirtschaftlicher Erfolg hier eben nicht das Hauptziel ist. Diverse Studien legen jedoch nahe, dass dies nicht der Fall sei und es ganz im Gegenteil sogar einen positiven Zusammenhang zwischen Servant Leadership und wirtschaftlichem Erfolg gebe.55 Die Ursache dafür beschreibt Ruschman: “The research at Harvard […] shows that satisfied, loyal, and productive employees create value by keeping the customer loyal, which tends to create a healthier bottom line.”56 Das heißt: Die hohe Orientierung von Servant Leadership an den Mitarbeitern stärkt diese und führt so zu langfristig zufriedeneren Kunden und damit auch zu höheren Gewinnen. Allerdings trifft diese Korrelation wohl nicht für alle Verhaltensfaktoren von Servant Leadership zu. So sehen bspw. Waal und Sivro keinen linearen Zusammenhang zwischen dienender Leitung und der Leistungsfähigkeit einer Organisation.57 In einer Studie untersuchten sie die Beziehung zwischen Servant Leadership und sogenannten HPO‘s (High Performance Organizations) und kamen dabei zu dem Ergebnis: “SL does not influence all factors in the HPO framework [...]”58 Für einen Aspekt von Servant Leadership gab es jedoch eine deutliche Korrelation mit der Leistungsfähigkeit einer Organisation: Empowerment. Der Gedanke des Empowerment liegt sicherlich auch anderen Führungstheorien zugrunde, ist aber für Servant Leadership zentral. Darauf hat unter anderem Russell hingewiesen. Dienende Leiter multiplizieren ihren Einfluss, indem sie andere befähigen.59 Neben einem erhöhten Empowerment führt Servant Leadership daneben auch zu mehr gegenseitigem Vertrauen in einem Unternehmen.60 Ein gutes Vertrauensverhältnis von Führungskraft und Mitarbeitern kann letzteren die nötige Sicherheit vermitteln, um hin und wieder etwas mehr zu riskieren und 54
Vgl. Fortune, 100 best companies to work for (archive.fortune.com/magazines /fortune/bestcompanies/ 2011), abgerufen am: 05.03.2015. 55 Vgl. Showkeir (2002), 155. Vgl. Bogle (2002). Vgl. Sipe / Frick (2009), 2. Sipe und Frick untersuchten dienend geleitete Unternehmen in einer 10 jährigen Studie und kamen zu dem Ergebnis, dass diese Unternehmen sogar bessere Ergebnisse erzielten als die von Jim Collins in „Good to Great“ untersuchten. 56 Ruschman (2002), 138. 57 Vgl. Waal / Sivro (2012), 173–190. 58 Ebd., 185. 59 Vgl. Russell (2001). Zu dem Zusammenhang von Servant Leadership und Empowerment schreibt auch Covey: “You don’t just serve, you do it in a way that makes them independent of you, and capable and desirous of serving other people.” Covey (2002), 31. 60 Vgl. Russell (2001), 173ff.
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neues zu wagen. So ermutigt Servant Leadership Mitarbeiter zu mehr Kreativität und Innovation.61 Überhaupt steigt durch dienende Führung der Leader-Member-Exchange (LMX).62 Des Weiteren weisen Walumbwa, Hartnell und Oke darauf hin, dass Servant Leadership auch zu einem erhöhten Engagement der Mitarbeiter führe, also mehr Organizational Citizenship Behavior (OCB) bewirke.63 Der Zusammenhang zwischen dienender Führung und OCB bestehe aus vier Mediatoren. Mitarbeiter sind deshalb engagierter, weil dienende Führung in den Mitarbeitern a) Selbstvertrauen fördere, da ihnen verstärkt die Möglichkeit gegeben wird, etwas von sich zu zeigen. b) Es wird ihr Commitment64 gesteigert. Weil die dienende Führungskraft viel in die Mitarbeiter investiert, werden diese in der Tendenz loyaler. Dieses Commitment überträgt sich dann ebenfalls vom eigenen Verhältnis zur Führungskraft auf die gesamte Organisation.65 Darüber hinaus erhöht Servant Leadership OCB durch ein besseres Gruppenklima, nämlich durch c) mehr Verfahrensgerechtigkeit und d) gesteigerte Kundenorientierung. Den eben beschriebenen Zusammenhang gibt es jedoch nicht nur auf der Ebene des einzelnen Mitarbeiters, sondern ebenso auf der Ebene ganzer Teams. Denn die Leistungsfähigkeit eines Teams hängt ebenfalls zu einem großen Teil davon ab, wie viel OCB in dem Team vorhanden ist. Servant Leadership nun bewirkt nach Hu und Liden mehr OCB in einem Team, indem es das Selbstvertrauen des Teams fördert.66 Des Weiteren steigert Servant Leadership nicht nur das „Organizational Citizenship Behavior“, sondern auch das „Communal Citizenship Behavior“ (CCB). Durch ihre Vorbildfunktion prägt die dienende Führungskraft die Geführten auch hinsichtlich von prosozialem und moralischem Verhalten.67 Hierin besteht in Teilen auch der gesellschaftsethische Einfluss von Servant Leadership. Nachdem bisher der positive Einfluss von Servant Leadership beschrieben wurde, ist nun auf die Begrenzungen hinzuweisen, denen der 61
Vgl. Liden / Panaccio / Meuser / Hu / Wayne (2014), 367f. Vgl. van Dierendonck (2011), 1244: “Followers experienced a higher leader– member exchange (LMX) quality in the relationship with leaders who worked from a motivation to serve.” (ա7.5). 63 Vgl. Walumbwa / Hartnell / Oke (2010). Der Studie lagen die 10 Charakteristika nach Spears zugrunde. Zu OCB: ա 10.1. 64 Commitment wird hier wie folgt definiert: “Affective commitment is defined as an emotional attachment to, identification with, and involvement in the organization (Allen & Meyer, 1990).” Vgl. ebd., 520. 65 Liden / Panaccio / Meuser / Hu / Wayne (2014), 371f. 66 Hu und Liden identifizieren also das Selbstvertrauen des Teams als Mediator. Sie verwenden dafür den Begriff „team potency“, den sie so definieren: “Team potency, defined as shared confidence in a team’s general capabilities (Campion, Medsker, & Higgs, 1993; Guzzo, Yost, Cambell, & Shea, 1993), is seen as one of the most important ingredients of team motivation (Bandura, 1997) and team effectiveness (Shea & Guzzo, 1987).” Vgl. Hu / Liden (2011), 851. 67 Liden / Panaccio / Meuser / Hu / Wayne (2014), 368f. 62
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Teil IV: Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership
Ansatz unterliegt. So scheint das Konzept in einem vergleichsweise stabilen Umfeld besser zu funktionieren als dort, wo der Veränderungsdruck sehr hoch ist. Da dienende Führung primär auf die langfristige Entwicklung der Mitarbeiter abziele, sei es nach Smith, Montagno und Kuzmenko weniger effektiv, wenn kurzfristig Erfolge erzielt werden müssten.68 Darüber hinaus unterliegt die Wirkung von Servant Leadership kulturellen Rahmenbedingungen. Zieht man die Ergebnisse der GLOBE-Studie hinzu, so funktioniert dienende Führung besser in jenen Kulturkreisen, in denen die Machtdistanz gering und die Menschenorientierung hoch ausgeprägt ist.69 Zusammenfassend lässt sich über die Wirkung des Ansatzes das Folgende sagen: Servant Leadership führt sowohl dazu, dass Mitarbeiter gerne in einer Organisation arbeiten, als auch dazu, dass die Organisation wirtschaftlich leistungsfähig agiert. Letzteres gilt jedoch mit Einschränkungen. Grundsätzlich führt Servant Leadership zu mehr Empowerment, Commitment, Vertrauen und einem erhöhten LMX. Der einzelne Mitarbeiter und ganze Teams sind durch ein erhöhtes Selbstvertrauen engagierter (mehr OCB). Auch ein gesellschaftsethischer Einfluss ist vorhanden (mehr CCB). Die Wirkung von Servant Leadership wird jedoch durch die Voraussetzung eines stabilen Umfeldes und kulturabhängiger Variablen wie niedriger Machtdistanz oder hoher Menschenorientierung begrenzt. Diese Begrenzungen oder auch Schattenseiten von Servant Leadership gilt es nun näher zu vertiefen. 20.6. Mögliche Missverständnisse und Gefahren von Servant Leadership Nachdem nun schon einige Begrenzungen der Wirkung von Servant Leadership deutlich geworden sind, soll an dieser Stelle explizit auf mögliche Missverständnisse, die das Konzept mit sich bringt, sowie auf Schattenseiten, welche dem Konzept inhärent sind, eingegangen wer68
Dann empfehlen die Autoren Führung nach dem Paradigma von Transformational Leadership, da die Kultur der Organisation hier dynamischer werde. Insgesamt kommen sie zu folgendem Ergebnis: “We would argue that the servant leadership model works better in a more stable external environment and serves evolutionary development purposes, whereas transformational leadership is the model for organizations facing intense external pressure where revolutionary change is a necessity for survival.” Vgl. Smith / Montagno / Kuzmenko (2004), 87. Diese Aussage ist insofern jedoch zu relativieren, das sie davon abhängig ist, welches Modell von Servant Leadership zugrunde gelegt wird. So enthält bspw. das Modell nach Russell und Stone das Element des „Pionier-Seins“. Dienende Leiter setzen sich dann für Veränderungen ein und gehen mutige Schritte. Es liegt nah, dass eine solche Konzeption von Servant Leadership auch in einem dynamischen Umfeld praktikabel wäre. Vgl. Russell / Stone (2002). 69 Vgl. van Dierendonck (2011), 1245-146; Zur GLOBE-Studie: ա7.9; 10.9.
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den. Dass der Ansatz nicht frei von Gefahren ist, war schon Greenleaf selbst bewusst.70 Die problematische Seite des Konzepts soll nun exemplarisch anhand fünf möglicher Missverständnisse und Gefahren dargestellt werden. Dabei kommt in Teilen eine theologische Perspektive zum Tragen, da die Verknüpfung von „Dienen“ und „Führung“ hier bereits eine ambivalente Vorgeschichte hat. 1) Dienst – Ein ambivalenter Begriff: Bereits im Begriff des Dienens selbst liegt eine Problematik. So weist Hartmann darauf hin, dass der Begriff der „Dienstgemeinschaft“ im kirchlichen Kontext eng verbunden ist mit der Geschichte des Nationalsozialismus und dort im Zuge der Gleichschaltung der Gewerkschaften verwendet wurde.71 Überhaupt ist in der Kirchengeschichte „Führen und Leiten“ öfters mit dem Begriff des Dienens präzisiert worden, allerdings mit einer zum Teil ambivalenten Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Beispielhaft sei hier auf die Geschichte des Papsttums verwiesen und auf den auf Gregor I. zurückgehenden Selbstanspruch servus servorum dei zu sein.72 Insgesamt hat der Begriff des Dienens also eine ambivalente Begriffsgeschichte. 2) Als Dienst getarnte Macht: Es ist durchaus möglich, dass unter dem Deckmantel des Dienens dennoch starke Autorität ausgeübt wird, der Moment des Dienens also nur Tarnung für Macht ist. So hat in der kybernetischen Diskussion innerhalb der Praktischen Theologie Breitenbach gegenüber Herbst den Vorwurf erhoben, bei ihm handle es sich lediglich um eine „Verschleierung des Hierarchiemodells als Dienstmodell“73. Ob der Vorwurf sachlich zutreffend ist, sei an dieser Stelle dahingestellt. Dennoch zeigt Breitenbach eine ernstzunehmende Gefahr auf. Faktische Hierarchie kann mit dem Begriff des Dienens verschleiert werden. Jenes Problem der Verschleierung existiert jedoch nicht nur kirchlicherseits. Schon Greenleaf selbst wies auf dieses Missverständnis von Servant Leadership mit seiner Unterscheidung von LeaderFirst und Servant-First hin. Showkeir bringt es so auf den Punkt: “Servant-leadership is much more than putting a compassionate face on compliance.”74 Denn gerade im wirtschaftlichen Raum besteht auch die Gefahr, Servant Leadership und die damit einhergehende Mitarbeiterorientierung doch nur als Mittel zum Zweck anzusehen, um den eige70 Vgl. Greenleaf (2002), 26: “And, as I ponder the fusing of servant and leader, it seems a dangerous creation: dangerous for the natural servant to become a leader, dangerous for the leader to be servant first, and dangerous for a follower to insist on being led by a servant. There are safer and easier alternatives available to all three.” 71 Vgl. Hartmann (2013), 59. 72 Vgl. Müller (2009), 173. 73 Breitenbach (1994), 313. 74 Showkeir (2002), 158.
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Teil IV: Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership
nen Gewinn zu maximieren.75 Nach Ruschman sei das aber eine Missinterpretation des Konzeptes. Sie zitiert in diesem Kontext Jack Lowe mit dem Satz: “If you do servant-leadership for the bottom line, you’ve already blown it.”76 3) Die Gefahr der Manipulation: Grundsätzlich ist dienende Führung zwar ein Konzept, das als bewusster Gegenentwurf zu einem mit Zwang und Manipulation arbeitendem Führungsverständnis konzipiert ist. Dennoch enthält der Ansatz eine ganz eigene Gefahr der Manipulation, auf die Stone, Russell und Patterson hingewiesen haben. “Since servant leaders do not rely on charisma, the risk of manipulation in this form of leadership comes from a different source. Servant leaders rely upon service, and in so doing, they endear the followers to the leaders in reciprocal relationships. Cialdini [...] identified reciprocation as a primary means by which to influence people. According to the principle of reciprocation, when you do something for another person they are psychologically obliged to return the favor.”77
Der Einwand ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Dienende Führung kann beim Geführten einen psychologischen Druck aufbauen, indem sie von ihm implizit reziprokes Verhalten einfordert, sprich selbst wieder anderen zu dienen. Dass darin ebenfalls eine Form der Kontrolle vorliegen kann, haben auch die Psychologen Cloud und Townsend formuliert: “Caring for someone so that they’ll care back for us is simply an indirect means of controlling someone else.”78 4) Missverständnis Bedürfniserfüllung: Der Ansatz kann als eine Form des Verzichtes auf jede Form von Führung oder als bloße Erfüllung der Wünsche der Geführten missverstanden werden. Dem widersprechen Sipe und Frick: “For Greenleaf, acting upon the impulse to serve does not mean one is a ‘service provider’, a martyr or a slave, but one who consciously nurtures the mature growth of self, other people, institutions, and communities.”79 Nach dem oben erwähnten „Best Test“ von Servant Leadership nach Greenleaf ist es eben nicht das Ziel, den Geführten jeden Wunsch von den Lippen abzulesen, sondern sich für das Wachstum des Gegenübers einzusetzen. Dazu kann es eben auch nötig 75
Vgl. Sendjaya / Sarros (2002), 60. Vgl. Ruschman (2002), 127 Ähnlich argumentiert Peter Senge. Vgl. Senge (2006), 133f. 77 Stone / Russell / Patterson (2004), 357. 78 Cloud / Townsend (1992), 58, 58. 79 Sipe / Frick (2009), 38. Vor einem ähnlichen Missverständnis warnt auch van Dierendonck. Vgl. van Dierendonck (2011), 1231: “It should be noted that working from a need to serve does not imply an attitude of servility in the sense that the power lies in the hands of the followers or that leaders would have low esteem. There is a similarity with the Kantian view on leadership, which emphasizes that it is the responsibility of the leader to increase the autonomy and responsibility of followers, to encourage them to think for themselves (Bowie, 2000b).” 76
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sein, seinem Gegenüber zu widersprechen. Deshalb ist sich BreitKeßler anzuschließen, wenn sie formuliert: „Als Dienst aufgefasste Führung und Leitung redet dem Gegenüber nicht nach dem Mund, sondern stabilisiert, differenziert, hinterfrägt, trifft klare Vereinbarungen und pocht auf deren Einhaltung.“80 Jener Gedanke, dass zum Wohl des Gegenübers auch einmal der kritische Widerspruch von Nöten sein kann, findet sich auf theologischer Seite bereits in der reformatorischen Rede von „Gesetz und Evangelium“ wieder. Der Widerspruch, der dem Menschen im Gesetz begegnet, ist einerseits notwendig, bleibt jedoch kein Selbstzweck, sondern treibt den Menschen hin zum Evangelium. Darüber hinaus weist Gibbs darauf hin, dass sich theologisch die Frage nach dem Objekt des Dienens erweitert. Jesus war nach Gibbs zunächst einmal Diener seines himmlischen Vaters und erfüllte so auch nicht alle Bedürfnisse der Menschen.81 Deshalb muss Servant Leadership aus christlicher Perspektive mit der Möglichkeit rechnen, dass unter Umständen Dienen auch bedeuten kann, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen (Apg 5,29). 5) Missverständnis Dualität: Im Anschluss an Doornenbal kann betont werden, dass bei der Rede von Servant Leadership eine gewisse Vorsicht vor Dualitäten geboten ist. Das neue Paradigma des Dienens wird mitunter dem alten Paradigma der Macht scharf gegenübergestellt. Doornenbal warnt: “This suggests that the characteristics of the old paradigms are totally different from those of the new.”82 Zwar gibt es deutliche Unterschiede zwischen Servant Leadership und anderen Führungskonzepten, dennoch sollte Servant Leadership nicht in einem dualistischen Gegenüber verortet werden. Auch Servant Leadership basiert auf dem mehrschichtigen Bild von Führung (ա7.). Fazit: Servant Leadership ist von einem relativ stabilen Umfeld und kulturell bedingten Variablen83 wie Machtdistanz und Menschenorientierung abhängig. Neben diesen Begrenzungen sind dem Konzept auch einige potentielle Missverständnisse inhärent: Der Dienstbegriff hat eine ambivalente Begriffsgeschichte, dienende Führung könnte als bloße Bedürfniserfüllung missverstanden werden und Servant Leadership könnte in einen zu starken Dual zu anderen Führungskonzeptionen gesetzt werden. Die Gefahren des Ansatzes sind zum einen die mögliche Tarnung von Macht als Dienst und zum anderen die potentielle indirekte Kontrollausübung durch die Erwartung von reziprokem Verhalten.84 80
Breit-Keßler (2012), 16. Vgl. Gibbs (2005), 27–30. 82 Doornenbal (2012), 76. 83 Vgl. Smith / Montagno / Kuzmenko (2004), 89: “In our opinion, the major deficiency includes underestimation of the impact of contextual factors.” 84 Liden u.a. geben ebenfalls zu bedenken, dass Servant Leadership der Führungskraft ein hohes Maß an emotionalen Ressourcen kosten kann. Ebenso könne es zu 81
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Teil IV: Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership
20.7. Zwischenfazit – Was ist Servant Leadership? Das Führungsmodell Servant Leadership wurde nun aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, so dass dieser Vorgang nun zu seinem Abschluss kommen kann. Um einen kurzen Überblick zu bieten, sollen die gemachten Beobachtungen nun noch einmal gebündelt werden. Die folgende grafische Darstellung fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen.
Abbildung 18: Servant Leadership in einer Gesamtschau
Bereits auf den ersten Blick wird die Nähe zu dem Modell nach Liden u.a. deutlich. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein vom Verfasser erstelltes, eigenes Modell von Servant Leadership, das als Gegenentwurf oder Weiterentwicklung zu den bisher dargestellten Modellen verstanden werden will. Es handelt sich vielmehr um eine grafische Bündelung der Ergebnisse. Die Grafik fasst die in der Führungsforschung gemachten Beobachtungen zusammen. Rollenkonflikten kommen, wenn bspw. gleichzeitig Mitarbeiter auf der Arbeit und Familienangehörige zu Hause dringend Unterstützung bedürfen. Des Weiteren bestehe die Gefahr durch manche Mitarbeiter manipuliert und benutzt zu werden. Vgl. Liden / Panaccio / Meuser / Hu / Wayne (2014), 361f.
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Die Grundstruktur der Darstellung entspricht dabei dem Modell von Liden u.a., da es summa summarum gegenüber den anderen zu überzeugen vermochte. Deshalb findet sich auch hier die Unterscheidung in Bedingungen, dienendem Verhalten und Auswirkungen. Von Sipe und Frick wurde aber insgesamt die Offenheit für andere Konzepte (systemische Leitung und transformationale Führung, Betonung des hohen Stellenwerts von Kommunikation) übernommen, wie sie sich in Zügen auch bei Spears und im Ansatz auch bei Greenleaf selbst findet. Darüber hinaus wurden die unter 20.4. beschriebenen Wirkungen und unter 20.5. entfalteten Gefährdungen integriert. Zusätzlich wurden zahlreiche Elemente aus dem mehrschichtigen Führungsprozess aufgenommen, wie er unter7. dargelegt wurde, so dass diese Grafik als eine dienend-leitende Zuspitzung jenes mehrschichtigen Führungsprozesses verstanden werden kann.
Soll in einer Organisation dienend geleitet und geführt werden, dann ist dazu in einem ersten Schritt auf einige Bedingungen für das Gelingen dieser Form zu achten. Dazu wird sich die Führungskraft selbst reflektieren und ihre Persönlichkeit und Fähigkeiten betrachten. Sie fragt sich zum Beispiel: „Passt Servant Leadership zu mir? Oder: Auf welche Verhaltensweisen aus dem Spektrum von Servant Leadership möchte ich meinen Schwerpunkt legen, damit es mir entspricht? Welche Fähigkeiten muss ich womöglich noch erlernen, um besser dienend führen und leiten zu können?“ In den Blick kommen dann ebenfalls die Geführten oder das Team, in welchem die Führungskraft agiert. „Ist Dienen überhaupt erwünscht? Wie ist es um die ‚Reife‘ und Selbstständigkeit der Mitarbeiter bestellt?“ Des Weiteren ist es wichtig, den Blick zu weiten und die Situation zu erfassen, in der ich führen und leiten soll. „Ist die Situation stabil genug, dass wir uns Servant Leadership in Reinkultur leisten können? Oder ist die Situation so instabil und der Veränderungsdruck so hoch, dass auch andere Führungs- und Leitungsinstrumente einbezogen werden müssen?“ Schließlich ist hinsichtlich der Bedingungen auch noch der kulturelle Kontext, sowohl der Organisation als auch der Gesellschaft, zu beachten. „Ist die Menschenorientierung hoch genug und die Machtdistanz niedrig genug ausgeprägt, so dass Servant Leadership positiv aufgenommen werden würde?“ Die Beachtung dieser Rahmenbedingungen macht dann eine kontextuelle Anpassung des Ansatzes nötig. Kommen wir nun zum dienenden Verhalten der Führungskraft. Die grundlegende Verhaltensweise einer dienenden Führungskraft ist, dass sie dem Wachstum und Erfolg der Geführten oberste Priorität zukommen lässt. Diese Verhaltensweise hat sich als zentral für Servant Leadership wie ein roter Faden durch die Ausführungen Greenleafs, Spears, Sipes und Fricks sowie Liden u.a. gezogen. Dem Wachstum und Erfolg der Geführten oberste Priorität zukommen zu lassen ist jedoch in der Tat mehr eine Haltung als eine konkrete Handlungsanweisung. Diese Haltung lässt sich nun aber weiter explizieren. Die Liste jener explizierenden Verhaltensweisen wäre an dieser Stelle doch relativ lang, so dass die in der Grafik genannten einen mitunter exemplarischen Cha-
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Teil IV: Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership
rakter besitzen. So wird die dienende Führungskraft mit den Mitarbeitern auf eine sensible und empathische Art und Weise kommunizieren. Das umfasst Einfühlungsvermögen, aktives Zuhören und Feedback geben sowie empfangen. Der dienende Leiter denkt darüber hinaus auch systemisch und konzeptionell. Er sieht die Wechselwirkungen im System und das Zusammenspiel des Ganzen. Der gestrichelte Pfeil deutet an, dass hierzu auch die Beachtung der sich potentiell ändernden Rahmenbedingungen gehört. Damit entsteht eine zyklische Wechselwirkung zwischen Bedingungen und Verhaltensweisen. Zum systemischen Denken der dienenden Führungskraft gehört aber auch – wie der zweite gestrichelte Pfeil deutlich macht – die Beachtung gewisser Gefahren. „Muss ich einem Mitarbeiter eventuell deutlich widersprechen, um ihm zu dienen?“ Auch fragt sie sich und andere selbstkritisch: „Tarne ich mein Machtstreben womöglich nur durch den Dienstbegriff?“ Oder: „Fühlt sich das Team eventuell durch meinen Dienst unter Druck gesetzt, ebenfalls dienen zu müssen ohne es zu wollen?“ Eine dienende Führungskraft handelt darüber hinaus in Teilen auch transformational und entdeckt mit den Geführten gemeinsam eine Vision. Diese Kopplung an einen gemeinsamen Sinn wirkt sich positiv auf die Performance der Organisation aus, wie der Pfeil angibt. Ebenso handelt ein Servant Leader im Kleinen und im Großen ethisch. Im Kleinen bleibt er sich treu, auch wenn die unethischere Alternative profitabler erscheint. Im Großen engagiert er sich für das Wohl der Gesellschaft. All diese Verhaltensweisen haben in Summe drei Auswirkungen. Auf der Ebene des Individuums entsteht Wachstum und eine erhöhte Leistungsfähigkeit sowie Arbeitszufriedenheit. Durch ein unter anderem gesteigertes Organizational Citizenship Behavior wirkt sich das auch positiv auf die Performance der gesamten Organisation aus. Auch für die gesellschaftliche Ebene hat das langfristig positive Konsequenzen (Communal Citizenship Behavior). Diese positiven Auswirkungen eines dienenden Verhaltens werden dabei durch verschiedene Elemente mediiert. Durch Servant Leadership erhöht sich das Selbstvertrauen der Geführten oder des Teams und überhaupt wird die Entstehung einer Vertrauenskultur gefördert. Des Weiteren steigt im Team der LeaderMember-Exchange, das Commitment und die Mitarbeiter werden zunehmend befähigt, ihre Aufgaben zu erfüllen (Empowerment). Damit wurde die Frage nach dem Wesen von Servant Leadership in seinen Grundzügen beantwortet, so dass nun der integrative Charakter des Ansatzes näher beleuchtet werden kann.
21. Servant Leadership als integratives Modell
An diesem Ort laufen nun verschiedenste Fäden zusammen. Zahlreiche bisher gemachte Beobachtungen lassen sich in einem Leitbild von Führen und Leiten als Servant Leadership verdichten, denn jene Theorie verfügt prinzipiell über einen integrativen Charakter. Was ist damit gemeint? Servant Leadership hat ein festes Hauptanliegen, wie es in dem unter 9.1. diskutierten Greenleaf-Zitat zum Ausdruck kommt, und das sich mit „dem Erfolg und Wachstum der Geführten höchste Priorität zukommen zu lassen“ beschreiben lässt. Über diesen Kern hinaus vermag das Konzept jedoch verschiedenste Einsichten gelingender Führung zu integrieren und gibt dabei einer kontextuellen Anpassung Raum. Hartmann spricht ähnlich von einer festen „Grundidee“ bei gleichsamer „Vielgestaltigkeit und Anpassungsfähigkeit“1. Ein solch prinzipiell integrativer und flexibler Ansatz entspricht ebenso weitgehend dem unter ա 13. entwickelten Verständnis, wonach gelingende Gemeindeleitung in vielerlei Hinsichtlich kontextuell verschieden adaptiert und modifiziert werden muss. Diese kontextuelle Anpassungsfähigkeit macht Servant Leadership deshalb für den kirchlichen Raum attraktiv. Diesem integrativen Charakter sind selbstverständlich jedoch Grenzen gesetzt. Nicht alles lässt sich mit diesem Führungsansatz verbinden. Servant Leadership behält sein Proprium (ա20.3.) und hat seine Grenzen (ա 20.5.). Da wir beides schon hinlänglich diskutiert haben, beschränken wir uns an dieser Stelle nur auf jene integrativen Aspekte. Der Leitgedanke, der im Folgenden näher expliziert werden soll, lautet: Servant Leadership vermag zwar nicht alles, aber doch vieles zu integrieren, was „gute Führung“ ausmacht (ա ), verbindet systemische und transformationale Führungs- und Leitungsaspekte2 und lässt sich zu vielen aktuellen Themen der Führungsforschung (ա 10.) in Bezug setzen. Es entspricht im Wesentlichen unseren prinzipiellkybernetischen Überlegungen (ա Teil III) und manchem, was theologisch-kybernetisch zurzeit als relevant erachtet wird (աTeil I).
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Hartmann (2013), 77; Vgl. ebd., 24. Vgl. Beazley / Beggs (2002), 58f.
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Teil IV: Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership
21.1. Servant Leadership und der mehrschichtige Führungsprozess Servant Leadership kann an ein Verständnis von Führung als einem mehrdimensionalen Prozess anknüpfen, wie es sich etwa aus einem Vergleich der abschließenden Grafiken von ա7. und ա20. ergibt. Denn beide Grafiken ähneln sich in ihrer Grundstruktur und unterstreichen den Prozesscharakter von Führung. Besonders deutlich wird diese Ähnlichkeit bei einem Vergleich von Situational Leadership und Servant Leadership, denn bei beiden Modellen steht das Wachstum des Mitarbeiters im Vordergrund. Blanchard selbst stellt eine Verbindung zu Servant Leadership sogar direkt her.3 In Summe hat Servant Leadership eine besondere Nähe zu jenen Führungstheorien, die eher die beziehungsorientierte Dimension betonen, wie etwa LMX oder auch der transformationale Ansatz. Obwohl es eigen bleibt, teilt es mit letzterem die ausgesprochene Wertschätzung von Visionen und kann deshalb in mancher Hinsicht als eine Weiterentwicklung der transformationalen Führungstheorie betrachtet werden.4 21.2. Servant Leadership und systemisches Führen und Leiten Ein Zusammendenken von Servant Leadership mit dem systemischen Ansatz ist auf verschiedenen Ebenen weit verbreitet.5 So verbindet etwa der Gründer der „Visa credit card association“ Dee Hock den Gedanken von komplexen, adaptiven und sich selbst organisierenden Systemen mit Servant Leadership.6 Bei Greenleaf selbst kommt der systemische Grundgedanke in dem Begriff des „Awareness“ zum Ausdruck.7 Insgesamt bedürfen beide Perspektiven einander. Einerseits benötigt Servant Leadership ein systemisches Verständnis von Organisationen. Denn leicht lassen sich die Prinzipien von Servant Leadership nur oberflächlich bejahen, ohne dass sie für den Arbeitsalltag Folgen hätten. Damit jene Prinzipien aber in der Tiefe implementiert werden können, muss systemisch auf der Ebene von Kultur und Glaubenssätzen angesetzt werden.8 Auf dieser Ebene gilt es die Grundsätze dienender Leitung zu verankern. Auf der anderen Seite erfährt umgekehrt der systemische Ansatz eine Aufwertung durch Servant Leadership. Denn nach Senge ist systemische Führung gerade dann erfolgreich, wenn sie die Geführten dazu anleitet, selbst systemisch zu denken und so selbst3
Blanchard (2002), x. Vgl. van Dierendonck (2011), 1229. 5 Vgl. Spears (2002), 12. Als Beispiele können die Entwürfe von Senge oder Sipe und Frick dienen. Vgl. Senge (2006), 333f; Sipe / Frick (2009), 130-154. 6 Vgl. Hock (2002), 305-319. 7 Vgl. Burkhardt / Spears (2002), 234. 8 Vgl. Sipe / Frick (2009), 136. 4
21.Servant Leadership als integratives Modell
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ständiger zu werden.9 Eine systemische Führungskraft behält also ihr systemisches Verständnis nicht für sich, sondern leitet andere in diesem Denken an. Damit qualifiziert Servant Leadership über das Wachstum und die Selbstständigkeit der Geführten ein wesentliches Ziel systemischer Führung. Die Perspektiven von Servant Leadership und systemische Führung befruchten sich also gegenseitig. 21.3. Servant Leadership und Führung in der Spätmoderne Servant Leadership ist ein Führungskonzept, das den unter ա10. dargestellten Anforderungen an Führung unter spätmodernen Bedingungen Rechnung zu tragen vermag.10 So sieht etwa Joseph Jaworski in der Selbstreflexion eine Gemeinsamkeit von Authentizität und dienender Führung.11 Deutlicher noch tritt der Bezug zu Ethik und Werten hervor, da Servant Leadership ethisches Handeln auf Mikro- und Makroebene umfasst. Ein Berührungspunkt zur Demut besteht in der Orientierung am Gegenüber, die der sozialen Dimension von humilatas in der Definition nach Dickson entspricht. Des Weiteren ist Vertrauen ein wesentlicher Mediator der Wirkungen von Servant Leadership und wird in seiner Relevanz bereits bei Greenleaf selbst hervorgehoben.12 Auch unter komplexen Bedingungen erscheint Servant Leadership vielversprechend, da durch den Fokus auf die Selbstständigkeit der Mitarbeiter, diesen die Möglichkeit gegeben wird, sich rapiden Veränderungen schneller anzupassen und nicht auf direktive Vorgaben von Vorgesetzten zu warten.13 Mit Storytelling teilt dienende Leitung die gemeinschaftsbildende Wirkung und das gemeinsame Entdecken von Sinn. Überhaupt hatte sich kommunikative Kompetenz als ein wesentlicher Bestandteil von Servant Leadership herausgestellt.14 Servant Leadership ist ebenfalls unter der Gen Y (ա 10.8.) aussichtsreich, denn ihr tendenziell höheres Selbstbewusstsein legt eher einen „defensiveren“ Ansatz nahe, da klassisch autoritäres Führungsverhalten immer weniger angenommen wird. In ihrer Forderung nach Feedback und „Mitunternehmertum“ kommt auch ein Bedürfnis nach Selbstentwicklung zum Ausdruck, wie es dem „best test“ von Servant Leadership nahekommt. Darüber hinaus lässt sich die „soziale Dimension“, die Arbeit oftmals zukommen soll (Corporate Social Responsibility), auf den positiven Einfluss auf die Gesellschaft, den dienende Leitung idealiter haben sollte, beziehen. 9
Vgl. Senge (2006), 331. Vgl. Sendjaya / Sarros / Santora (2008), 402. 11 Vgl. Stippler (2011), 84. 12 Vgl. Greenleaf (2002), 83. 13 Vgl. Showkeir (2002), 161. 14 Auch Sipe und Flick verstehen dienender Leiter als Erzähler von Geschichten. Vgl. Sipe / Frick (2009), 74f. 10
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Teil IV: Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership
Bleibt noch die Frage, ob Servant Leadership auch für eine Verwendung im deutschen Kontext geeignet ist. Denn es scheint in mancher Hinsicht eine Art „kulturelle Barriere“15 zu geben, sodass dieses aus dem US-amerikanischen Raum stammende Konzept bisher in Deutschland eher selten rezipiert wurde. Hartmann verweist demgegenüber jedoch zu Recht auf den interkulturellen Charakter des Ansatzes, und dass man ein nicht zuletzt auf den Werken Hermann Hesses basierendes Konzept kaum als „typisch amerikanisch“ abqualifizieren könne.16 Ernstzunehmender wäre da schon der Einwand, dass Deutschland eventuell eine zu hohe Machtdistanz und zu geringe Menschenorientierung für eine Rezeption besitzen könnte (ա10.9). Demgegenüber gilt es zu betonen, dass wir an dieser Stelle ja ausschließlich die Rezeption für einen kirchlichen Kontext prüfen, in dem die Machtdistanz niedriger und die Menschenorientierung etwas höher ausfallen dürfte. 21.4. Servant Leadership und prinzipiell-kybernetische Überlegungen Selbst wenn Servant Leadership mitunter vollständig säkular verwendet wird, ist der Ansatz dennoch grundsätzlich religiös und christlich anschlussfähig.17 Darum lässt sich dieses Führungsmodell ebenfalls mit unseren bisherigen prinzipiell-kybernetischen Überlegungen weitgehend in Einklang bringen. Vergleichen wir beispielsweise die unter ա 13. entwickelten Kriterien für eine kirchliche Rezeption von Führungsund Leitungsmodellen, so wird deutlich, dass Servant Leadership explizit zwei der vier Kriterien entspricht. Es konvergiert einerseits mit der Dienstnorm,18 andererseits lässt sich der „best test“ von Servant Leadership ebenso mit dem Kriterium, dass Leitung der Erbauung der Gemeinde dienen muss, verbinden.19 Da es des Weiteren das wesentliche Anliegen von Servant Leadership ist, das Gegenüber voll und ganz zur Entfaltung kommen zu lassen, kann dieser Ansatz auch mit Hermann Sasses kybernetischem Kriterium zusammengedacht werden, wonach Gemeindeleitung und -ordnung so gestaltet werden sollten, dass sowohl Gemeinde als auch Pfarramt die Möglichkeiten erhalten, ihren jeweiligen Dienst so gut wie möglich auszuführen (ա 13.). Das Zusammenspiel der verschiedenen Leitungssubjekte der Gemeindeleitung ließe sich dann unter der Überschrift des „best test“ von Servant 15
Hartmann (2013), 49. Vgl. ebd., 76-78. 17 Vgl. Sendjaya / Sarros / Santora (2008), 408; Hartmann (2013), 77. 18 Zum Zusammenhang von Dienen und Gemeindeleitung: Vgl. auch: Kunz (2007), 662. 19 Inwiefern Servant Leadership auch mit dem Kriterium „dem Evangelium zu entsprechen“ verbunden werden kann, wurde bereits näher entfaltet. Implizit ist Servant Leadership ebenfalls dem vierten Kriterium gemäß verwendbar, nämlich ohne Sünde durchführbar zu sein. 16
21.Servant Leadership als integratives Modell
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Leadership als gegenseitiger Dienstbefähigungsdienst beschreiben (ա 14.). Darüber hinaus lassen sich ebenfalls wesentliche Einsichten aus der Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage in der Kybernetik (ա16.) mit Servant Leadership in Beziehung setzen. Denn auch Servant Leadership verzichtet nicht auf intentionale Beeinflussung, will es das Gegenüber doch „entwickeln“. Der Ansatz kann dadurch ebenso manipulierend gebraucht werden (ա20.5.).20 Dennoch hat das Mandat zur Führung mit einem Wahrheitsanspruch in der Spätmoderne wohl nur jener, der seinem Gegenüber in einer dienenden und demütigen Haltung gegenübertritt, wie es Servant Leadership entspricht. Ansonsten wird Leitung mit Wahrheitsanspruch zur Hybris und Gefahr. Es wurde ebenfalls argumentiert, dass Wirksamkeit für Gemeindeleitung eine bleibende Kategorie darstellt und gleichsam mit dem Handeln Gottes zu rechnen ist (ա 17.). Servant Leadership beinhaltet ebenfalls die Perspektive der Wirksamkeit des eigenen dienenden Verhaltens: das Wachstum des Gegenübers, das Wohl der Organisation und langfristig auch der Gesellschaft. Stellen wir Servant Leadership und unseren Entwurf zur Steuerung des komplexen Systems Kirchengemeinde (ա 18.) einander vergleichend gegenüber, so gibt es manche Gemeinsamkeiten hinsichtlich des „UProzesses“. Greenleafs „Foresight“ ähnelt in manchem Scharmers „Presencing“ und das genaue Zuhören, die gute Kommunikation, wie sie bei Servant Leadership betont wird, lässt sich in Scharmers Terminologie als ein Schritt zum Durchbrechen des Downloadings verstehen. Dennoch bleibt dieser fünfschrittige Gemeindeleitungsprozess gegenüber Servant Leadership in mancher Hinsicht eigen. Die wesentliche Ursache liegt wohl darin, dass Servant Leadership den Fokus weitaus mehr auf den Aspekt der Personalentwicklung legt, während der vorgestellte Gemeindeleitungsprozess das gesamte System der Kirchengemeinde zum Gegenstand hat. Die Perspektiven sind also unterschiedlich, aber nicht widersprüchlich, da ja auch Servant Leadership die systemische Betrachtungsweise zu integrieren vermag. Erwähnenswert ist ebenso, dass Servant Leadership grundsätzlich mit einem Verständnis von Kirche nach dem Hybrid-Modell vereinbar wäre und keineswegs nur auf die Organisationslogik von Kirche beschränkt werden müsste. Denn Greenleaf zog für seinen Ansatz vor allem die Verwendung in Institutionen in Betracht. Als Beispiel für eine solche Institution nennt er explizit die Kirche, der er eine entscheidende Rolle bei einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu mehr Dienst und Vertrauen zumaß.21 Des Weiteren sei Servant Leadership nach Stone, Russell und Patterson besonders für die Leitung von Non-Profit20
So gesteht auch Greenleaf zu: “Part of our dilemma is that all leadership is, to some extent, manipulative.” Greenleaf (2002), 55. 21 Vgl. ebd., 231-261.
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Teil IV: Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership
Organisationen geeignet, da der Fokus mehr auf den Menschen und weniger auf der Wertsteigerung liege.22 21.5. Servant Leadership und die praktisch-theologische Diskussion Wenn nun vorschlagen wird, Gemeindeleitung unter der Leitvorstellung von Servant Leadership zu verorten, so kommt dies keineswegs einem Neuansatz praktisch-theologischer Kybernetik gleich. Denn in vielerlei Hinsicht kann dieses Leitbild an verschiedenste kybernetische, kirchentheoretische und pastoraltheologische Einsichten anknüpfen, die sich in den letzten Jahren als wichtig herausgestellt haben. Das gilt selbstverständlich längst nicht für alles, so dass bspw. eine Verbindung von Servant Leadership mit Josuttis Pastoraltheologie aufgrund dort vorhandener deutlicher Asymmetrien etwas schwieriger werden dürfte. Am deutlichsten sind Gemeinsamkeiten wohl zu Schneiders und Lehnerts Verständnis vom Pfarrdienst als „Dienstbefähigungsdienst“ zu erkennen.23 Aber ebenso zu Herbst, der explizit an Greenleaf und Servant Leadership anknüpft, gibt es Verbindungslinien, wenn dieser unter Leitung etwa die Zurüstung der Mitarbeiter zum Dienst nach Eph 4 versteht. Mit Petrys Leitbild einer Führungskraft als „Helfer zur Freude“ teilt Servant Leadership die Momente der Gegenüberorientierung und Personalentwicklung. Es ist jedoch insgesamt etwas „offensiver“, da es über den Moment des Helfens hinausgeht. Des Weiteren kann Servant Leadership im Unterschied zum „Helfer zur Freude“ weitaus besser an außertheologische Diskussionen anknüpfen und ist führungswissenschaftlich somit anschlussfähiger. Womöglich ließe sich auch Preuls Terminologie vom „disponierendem Handeln“ und „kommunikativem Handeln“ auf Servant Leadership übertragen. Gemeindeleitung als Servant Leadership ist dann „disponierendes Handeln“. Sie ist damit in erster Linie eine ermöglichende Tätigkeit. Sie dient dazu, anderen Menschen in ihrem kommunikativen Handeln und Dienst zu „Wachstum und Erfolg“ zu verhelfen. Diese Spur in der Praktischen Theologie teilt mit Servant Leadership in Summe den Moment des Starkmachens von anderen Menschen. Des Weiteren vermag Servant Leadership ebenso die systemische Perspek22
Vgl. Stone / Russell / Patterson (2004), 354. Das korrespondiert ebenfalls mit Hartmanns Verständnis von Servant Leadership als ausgesprochener Stakeholderorientierung. Aber selbst das ist bei einer Rezeption von Greenleaf keineswegs zwingend. Denn wem gedient werden soll, ist nicht eindeutig. So kann Servant Leadership bei Bogle als entschiedene Shareholder- und Kundenorientierung aufgefasst werden. Vgl. Bogle (2002), 167ff. 23 Ebenso gibt es Überschneidungen zu Schwarz, der im Anschluss an Jim Collins den Aspekt des Empowerment besonders betont und damit dem „people building“ bei Greenleaf nahekommt. Ebenfalls betont Schwarz die hohe Relevanz von Visionsentwicklung.
21.Servant Leadership als integratives Modell
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tive zu integrieren, der in weiten Teilen der praktisch-theologischen Kybernetik eine hohe Bedeutung zugemessen wird. Denn Servant Leadership beachtet ebenfalls Kontext und Kultur, wie es etwa MüllerWeißner in dem seinerseits favorisierten „3-K-Stil“ (Kontext, Kultur, Kräfte) beschreibt und deckt sich mit wesentlichen systemischen Einsichten, die dem Ansatz Breitenbachs zugrunde liegen. Vergleichen wir Servant Leadership mit Breitenbachs kybernetischem Dreieck, so fällt auf, dass die „hermeneutische Aufgabe“ von Leitung als Arbeit an Sinn und Identität eine gewisse Äquivalenz zum transformationalen Moment des gemeinsamen Entdeckens einer Vision bei Servant Leadership aufweist. Ebenso ist die „kommunikative Aufgabe von Leitung“ im kybernetischen Dreieck explizit Teil von Servant Leadership, selbst wenn die Betonung bei Breitenbach stärker auf der Förderung der Kommunikationsfähigkeit des Gesamtsystems liegt. Lediglich bei der „organisatorischen Aufgabe“ gibt es keine Entsprechung bei Servant Leadership.24 Die theologische Rezeption eines führungswissenschaftlichen Ansatzes darf sich jedoch nicht darauf beschränken, anzuzeigen, wo Gemeinsamkeiten eines fachfremden Paradigmas und eigenen praktischtheologischen Einsichten bestehen. Sie muss auch anzeigen, wo in all dem das theologische Proprium besteht und wo es bei einer kirchlichen Adaption auch zu Biegungen und Brechungen kommt. Um dem weiter nachzugehen, fragen wir nun nach der biblisch-theologischen Zuordnung von Dienen und Leiten.
24 Diese Beobachtung markiert in der Tat eine gewisse Ergänzungsbedürftigkeit von Servant Leadership, denn die organisatorische Dimension wird in der Literatur weitgehend ausgeblendet. Darin mag in weiten Teilen die Dichotomie von Leadership und Management/Administration durchschlagen. Für Gemeindeleitung jedoch wird man Servant Leadership weder von der organisatorischen Dimension noch von der Entwicklung des Gesamtsystems Kirchengemeinde (ա 18.) trennen können.
22. Die Tiefendimension von Servant Leadership
Die eigentümliche Verbindung von Dienen und Leiten, wie sie für Servant Leadership kennzeichnend ist, findet sich in vielerlei Hinsicht in der Heiligen Schrift und besonders im Neuen Testament. So stellt etwa Ferdinand Hahn in seiner Theologie des Neuen Testaments heraus, dass hinsichtlich Gemeindeleitung das Dienen der einzige Begriff sei, „der überhaupt eine gewisse Leitfunktion hat“1. Dennoch wird man vorsichtig sein müssen und das führungswissenschaftliche Modell von Servant Leadership nicht einfach in das Neue Testament hineinlesen dürfen. Denn die biblische Verbindung von Leiten und Dienen weist gegenüber jener von Servant Leadership ein eigenes Gepräge auf, selbst wenn es manche Parallelen gibt.2 Der Terminus, der im Deutschen mit „Dienen“ wiedergegeben wird, ist das griechische diakoni,a mit seinen Derivaten. Klassisch wird damit das Bild des Tischdienstes verbunden.3 Desweiteren habe diakoni,a im Griechischen einen minderwertigen Charakter4 und bezeichne dann im weiteren Sinne auch den Dienst, den Christen an Hilfsbedürftigen ausüben. Hahn resümiert über diesen Begriff: „Er bezeichnet vielmehr ganz allgemein das verantwortliche hilfsbereite Verhalten und Handeln.“5 Dienen ist also ein niedriges „sich klein Machen“ und Helfen, das mit einer gewissen eigenen Schwäche einhergeht. Dafür gibt es zahlreiche neutestamentliche Beispiele. So versteht nach Roloff auch Paulus sein Apostelamt als Dienst, der von der Knechtsgestalt Jesus geprägt sei.6 Besonders deutlich wird dies in Phil 2,1–11.7 1
Hahn (2002), 612. Volker Kessler hat auf die Gefahr einer Eisegese in diesem Kontext hingewiesen. Vgl. Kessler (2013). 3 So etwa Roloff. Vgl. Roloff (1993), 143: „Es setzt die konkrete Vorstellung des Aufwartungsdienstes bei Tisch voraus.“ 4 Vgl. Beyer (1935), 81. 5 Hahn (2002), 612. 6 Vgl. Roloff (1993), 133: „Der irdische Jesus in seiner Knechtsgestalt prägt das Leben des Apostels und derer, die mit ihm in der Gemeinde tätig sind. Die Dienstnorm der Jünger Jesu (Mk 10,44) wird hier, wie die wörtlichen Anklänge erweisen, aufgenommen.“ 7 Neil Cole entwickelt bspw. von Phil 2,1-11 her sein Konzept von organic Leadership. Dieses sei „a race to empower and exalt as many people above yourself that you can in your short lifetime.“ Vgl. Cole (2009), 195. 2
22. Die Tiefendimensionen von Servant Leadership
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Hier ist das Miteinander in der Gemeinde von der Kenosis des Sohnes Gottes geprägt. Ähnliches lässt sich in den Evangelien finden. So ist nach Huber Dienen die entscheidende Basiskategorie für jegliche Führung und jedes Amt in der matthäischen Gemeinde.8 Dieser Zusammenhang von Dienen und Leiten lässt sich sogar noch weiter fassen und in einen beide Testamente umfassenden Horizont einzeichnen, wie es bspw. Osmer in seiner „Praktischen Theologie“ aufgezeigt hat.9 Denn Israel durchlebte in seinem Verhältnis zum Königtum eine gewisse Entwicklung. Rang noch die deuteronomistische Theologie um eine Bewertung des Königtums, die sich besonders in den spannungsreichen Aussagen des 1Sam niederschlug, eschatologisierte sich die Königsvorstellung im Verlauf der alttestamentlichen Theologiegeschichte mehr und mehr. Das Idealbild eines kommenden eschatologischen Herrschers (Vgl. Ps 72) wird besonders im Kontrast zum Machtmissbrauch aktueller Machtinhaber gezeichnet, was etwa an der Hirtenrede in Ez 34 deutlich wird. Das Besondere an Jes 40-55 sei nach Osmer, dass die eschatologische Figur, der Gottesknecht, auch als leidend und schwach gedacht wird. Diese Messiasvorstellung erblickte die erste Christenheit nun in Jesus Christus und sah diesen „as embodiment of God’s royal rule in the form of a servant“.10 Klassische Machtparadigmen wurden auf den Kopf gestellt. Der Herr ist Diener und der Diener ist der Herr. Diesem Muster entsprach dann auch das Leitungsverständnis der Gemeinde. 22.1. Die Problematisierung des „klassischen“ Dienstverständnisses In jüngerer Zeit legen jedoch einige Studien zum griechischen und neutestamentlichen Begriff diakoni,a nah, dass sich dieses „klassische Verständnis“ nicht halten lasse. diakoni,a sei eben nicht primär von Helfen, Niedrigkeit, Schwäche und einem „sich klein Machen“ aus zu verstehen, so dass der Terminus diakoni,a neu verstanden werden müsse. Die Kritik – man ist insgesamt versucht, von einer „Neuen Perspektive auf die Diakonie“ zu sprechen – geht vor allem auf die Arbeiten von John Collins zurück.11 Nach ihm sei das griechische „Dienen“ am ehesten mit „go between“12 zu übersetzen. Die Grundbedeutung des Wortes ist also ein „Dazwischengehen“. Der Diakon ist der Vermittler, der Ausrichter einer Botschaft. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Anni Hentschel in ihrer Untersuchung zum neutestamentlichen „Dienst“Begriff: „Ein oder eine diakonos zeichnet sich also nicht durch den 8
Vgl. Huber (2010), 49. Vgl. Osmer (2008), 183-192. 10 Ebd., 183. 11 Collins (1990). 12 Vgl. ebd., 77ff. 9
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Teil IV: Ein Leitbild von Führen und Leiten: Servant Leadership
Dienst an den Adressaten aus, sondern er oder sie steht im Auftrag eines Auftraggebers bzw. einer Auftraggeberin.“13 Dienen meine also „keine persönliche Abhängigkeit oder einen niedrigen Status.“14 Dieses neue Verständnis wird dann von ihr und bspw. auch von Hartmann für die Diakoniewissenschaft fruchtbar gemacht. Diakonie erfahre durch dieses neue Verständnis von diakoni,a eine erhebliche Aufwertung, da damit die oftmals implizite Unterscheidung in „wichtige“ Wortverkündigung und „niedrigen“ Helferdienst überwunden werden könne. Auch Diakonie sei Verkündigung, sei Kommunikation des Evangeliums.15 Hentschel identifiziert hinsichtlich diakoni,a im Griechischen verschiedenste Be16 deutungsnuancen. Der Terminus könne durchaus den Tischdienst bezeichnen. Das sei aber nicht die Standardbedeutung. Meist bezeichne der Begriff eine vermittelnde Funktion oder eine Tätigkeit, die für einen Auftraggeber ausgeführt werde und dem man deshalb zum Gehorsam verpflichtet sei. Der Terminus könne des Weiteren die Überbringung einer Botschaft, also Verkündigung bezeichnen. Ebenfalls charakterisiere den Begriff eine gewisse Grundspannung. Einerseits umfasse er Unfreiheit und Dienstbarkeit. Denn obwohl „Dienende“ ihre Tätigkeit in der Regel freiwillig ausführten, gebe es doch auch eine parallele Verwendung zu dou/loj, was Abhängigkeit ausdrücke. Andererseits könne diakoni,a auch mit „Ehre und Eigenverantwortlichkeit“17 verbunden werden. Dieses Verständnis von diakoni,a als Beauftragung wendet Hentschel dann auf die neutestamentlichen Texte an, respektive entdeckt dieses Verständnis in ihnen wieder. Bezeichne sich Paulus etwa gegenüber den Korinthern als „Diener“, dann mei18 ne das nicht Niedrigkeit, sondern „Autorität und Verantwortung“ . Die Zurüstung der Gemeinde zum „Werk des Dienstes“ in Eph 4,12 sei eine Zurüstung zum Werk 19 der Verkündigung und Beauftragung. Mit Bezug auf das MtEv kommt sie zu dem Schluss: „Diakonoi sind in Mt 23,11 nicht ‚Diener der Gemeinde‘, sondern ‚Beauftragte Christi für die Gemeinde‘, die in seinem Namen und mit delegierter Autorität durch die – Worte und Verhalten umfassende – Verkündigung als Gemeindeleiter und -leiterinnen wirken“20 Auch im LkEv werde nur übertriebene Ehre abgelehnt, Erniedrigung jedoch werde nicht gefordert.21
In vielerlei Hinsicht bereichert diese „Neue Perspektive auf die Diakonie“ nicht nur die exegetische Diskussion, sondern vermag ebenso unser Verständnis von Gemeindeleitung und Servant Leadership zu erweitern. Hat Dienst nach dem Neuen Testament also einen intermediären und intercessorischen Charakter, dann ist dienende Gemeindeleitung auch „beauftragte Leitung“. Als solche ist sie in erster Linie ihrem Auftraggeber verpflichtet (ա 16.; 20.5.). Sie muss „Gott mehr gehor13 14 15 16 17 18 19 20 21
Hentschel (2013), 2. Ebd., 60. Vgl. ebd., 17; Hartmann (2013), 60-63. Hentschel (2013), 48-64. Ebd., 56. Ebd., 95. Vgl. ebd., 141-148. Ebd., 199f. Vgl. ebd., 223-226.
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chen als den Menschen“ (Apg 5,29). Das wehrt einem Zerrbild von Servant Leadership als bloßer Bedürfniserfüllung. Des Weiteren könnten in diesem neuen Verständnis von diakoni,a kreative Impulse für die Pastoraltheologie entdeckt werden. Denn wenn „dienende Leitung“ immer auch „verkündigende Leitung“ wäre, legt sich eine gewisse Überschneidung von Kybernetik und Homiletik nahe, wie sie für eine lutherische Theologie nicht ganz untypisch wäre. Fraglich bleibt jedoch, ob diese Momente der Beauftragung und Verkündigung, ob dieser intercessorische Charakter gegen die „klassischen“ Aspekte von Niedrigkeit, Schwäche und einem „sich für andere klein Machen“ ausgespielt werden können. Dass beides kein Gegensatz sein muss, zeigen nicht zuletzt das Leben Jesu und das Wirken des Apostel Paulus. Darum wird auch die „Neue Diakonie-Perspektive“ in ihrer gewissen Einseitigkeit dem neutestamentlichen Befund nicht gerecht. Denn selbst wenn Hentschel semantisch zuzustimmen sein sollte, ist es der Sache nach jedoch deutlich, dass Führung im Neuen Testament auch mit dem Moment der Niedrigkeit und des „sich für andere klein Machens“ verbunden werden muss.22 Außerdem – und dieses Argument ist m. E. entscheidend – wird der „Beauftragte“ stets in Kongruenz zu seinem Auftrag und seinem Auftraggeber handeln müssen. Dieser Auftraggeber hat sich jedoch mit Phil 2 entäußert und bis ans Kreuz erniedrigt. Darum wird hiervon ebenfalls eine „beauftragte“ Gemeindeleitung geprägt sein müssen. Dass Dienen also auch Niedrigkeit, Schwäche, „sich für andere klein Machen“ bedeuten kann und dass ein solches Dienstverständnis das neutestamentliche Leitung prägt, soll nun exemplarisch am locus classicus zu diesem Thema, Mk 10,35-45, gezeigt werden. 22.2. Leiten als Dienen in Mk 10,35-45 und die Spätmoderne Die Perikope „Vom Herrschen und Dienen“ beginnt in ihrer Markusvariante mit der Frage der beiden Zebedaiden Johannes und Jakobus, ob sie im kommenden Reich Gottes nicht die Ehrenplätze erhalten können. Nach einem Gespräch über Leidens- und Martyriumsnachfolge verneint Jesus die Anfrage mit dem Hinweis, dass ihm hier keine Entscheidungsbefugnis zustehe. Offensichtlich löste diese Unterhaltung um etwaige Ehrenplätze im Jüngerkreis eine gewisse Unruhe aus.
22
Roloff weist des Weiteren darauf hin, dass der Sprachgebrauch von „Dienen“ keineswegs einheitlich sei. Vgl. Roloff (1978), 522: „Man wird freilich nicht […] unter Verweis auf Stellen, in denen Paulus den Dienst der Wortverkündigung als diakoni,a bezeichnet […] in den Diakonen ‚aktive Träger‘ der Evangeliumsverkündigung sehen dürfen. Denn hier liegt jeweils unspezifischer Sprachgebrauch vor, der mit dem spezifischen nicht vermischt werden darf.“
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„42 Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. 43 Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; 44 und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. 45 Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“
Wir beschränken uns an dieser Stelle nur auf jene für die Leitungsthematik relevanten Aspekte. Jesus gibt in dieser „Gemeinderegel“23 eine Antwort auf die Frage, wie in der Gemeinde mit Macht umgegangen werden soll. Wie soll sich in der Gemeinde Leitung vollziehen? Diese Fragen waren sicherlich in der Zeit der Verfassung des MkEv noch aktuell.24 V. 42 beschreibt den Umgang mit Macht und Herrschaft, wie er in der „Welt“ als typisch erfahren wird (oi;date). Sie vollzieht sich „von oben herab“, wie das zweimalige Präfix kata, anzeigt, sodass Luther hier sachlich angemessen mit „klein halten“ und „Gewalt antun“ übersetzt. Das weckte bei manchem Leser wohl auch Erinnerung an die harsche Regierungszeit Kaiser Neros.25 Aber dennoch setzt Jesus neben den Anspruch der Mächtigen auf Herrschaft und Machtausübung ein leises Fragezeichen. Sie „scheinen“ nur zu herrschen (dokou/ntej a;rcein).26 Wir wollen das nicht überinterpretieren, aber es klingt an, dass Steuerungsmöglichkeiten oftmals nur „Schein“ sein können. Ähnliches problematisiert auch die systemische Perspektive auf Leitungsprozesse. Die „Welt“ ist hier oftmals zu optimistisch. In V.43-44 wird all dem als Kontrast gegenübergestellt, wie sich Machtausübung und Leitung in der Gemeinde vollziehen sollen. Die Schärfe dieses Unterschiedes wird nicht zuletzt durch die Verwendung des Indikativs unterstrichen: ouvc ou[twj de, evstin evn u`mi/n. So folgt nun eine Dienstanweisung, wie bereits in Mk 9,35, nur zu einem Parallelismus erweitert.27 Gnilka fasst sie inhaltlich hinsichtlich der Gemeinde wie folgt zusammen: „Wer in ihr nach Rang und Vorsitz strebt, soll seinen Dienst wie ein Diener und Sklave tun, sich nicht von Ehrgeiz, sondern von Dienstbereitschaft leiten lassen.“28 Auch hier werden dia,konoj und dou/loj nahezu synonym verwendet. Darin besteht in der Gemeinde das me,gaj-Werden und das prw/toj-Sein. Im Gegensatz zum „vom oben herab“ in der „Welt“ soll sich Leitung in der Gemeinde also „von unten her“ vollziehen. Damit hat Dienen hier ebenfalls die Kon23
Vgl. Schwankl (2002), 239. Vgl. Theißen (1999), 285ff. 25 Vgl. Hartman (2010), 449f. 26 Vgl. Gnilka (1979), 103: „Das Gebaren der Herrscher und Großen dieser Welt dient zum Vergleich. Dieser geschieht nicht ohne Ironie, wenn davon gesprochen wird, daß sie die Völker zu beherrschen scheinen. Wer die Dinge durchschaut, weiß, dass Gott der eigentliche Herrscher ist.“ 27 Vgl. Schwankl (2002), 248. 28 Gnilka (1979), 103. 24
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notationen von Unterordnung29 und Statusverzicht30. Dienen meint also durchaus Schwäche, Niedrigkeit und ein „sich klein Machen“ und wird darin zu einem „Identitätsmerkmal“31 der Kirche. Dennoch bedeutet dies keinen Verzicht auf Leitung, wohl aber eine Bindung von Leitung an die Dienstnorm, an den „rückhaltlosen Knechtsdienst eines Jüngers in Jesu Nachfolge“32. Macht und Dienst werden damit nicht gegeneinander ausgespielt, es kommt vielmehr zu einer „coincidentia oppositorum. Macht und Dienst fallen ineins. Der Machtwille verwirklicht sich als Dienstbereitschaft.“33 Die Lebenshingabe Jesu in V. 45 dient dieser Gemeinderegel als Begründung. Zumindest von Mk 10,35-45 her lässt sich also ein Dienstverständnis, das ohne jede Niedrigkeit und ein „sich klein Machen“ auskommt, nicht halten. Womöglich spüren die Kritiker des „klassischen Dienstbegriffes“ jedoch, dass hier nicht nur exegetisch, sondern auch lebenspraktisch eine Spannung vorliegt, die sie dann – meines Erachtens unangemessen – auflösen. Worin besteht diese Spannung? In der Tiefe passt Leitung als Dienst (Servant Leadership) nämlich nicht zu einer spätmodernen Gesellschaft. Auf Seiten der Geführten hatten wir bereits aufgezeigt (ա 10.8.), dass Führung „von oben herab“ immer weniger angenommen wird. Die dem zugrunde liegenden Phänomene wie Individualismus, Subjektivismus und Autonomiebewusstsein schlagen jedoch ebenfalls auf Seiten potentieller Führungskräfte durch. Auch sie wollen ihre Tätigkeit – und das scheinen die Führungswissenschaften bisher kaum zu sehen – nicht „von unten her“ begreifen. Darum werden immer wieder Versuche unternommen, Dienen und Servant Leadership einer spätmodernen Lebensauffassung anzugleichen und jegliche Form von Niedrigkeit zu eliminieren.34 Diese Ausgleichstendenzen führen bei Hartmann etwa dazu, dass Proprium von Servant Leadership in dem Moment der Selbstverwirklichung zu erblicken. Fern von aller Selbstverleugnung gehe es erst einmal darum, das Wachstum der eigenen Person in den Blick zu nehmen 29
Vgl. Evans (2001), 119: “it clearly denotes a subordinate position, a position to which the world’s ‚great‘ do not aspire.” 30 Vgl. Theißen (1999), 273: „Durch Statusverzicht und Dienstbereitschaft soll in der Gemeinde Autorität geschaffen werden, wobei dieser Statusverzicht im Extremfall die Bereitschaft zur Hingabe des Lebens einschließt.“ 31 Schmithals (1979), 464. 32 Eckey (1998), 1296. 33 Schwankl (2002), 1296. 34 Freilich ist jene „spätmoderne Lebensauffassung“ gegenüber dem Dienen nicht einheitlich ablehnend. Beispielsweise ließe sich im Anschluss an die Ethik Emmanuel Lévinas‘ eine gleichsam postmoderne wie positive Verhältnisbestimmung von Ethik und Dienen entwickeln. So beschreibt Lévinas etwa das Verhältnis zum Anderen als durch „radikale Asymmetrie“ geprägt und ordnet die Diakonie dem Dialog vor: „Diakonie vor jedem Dialog. Ich analysiere die zwischenmenschlichen Beziehungen so, als wäre in der Nähe zum Anderen [...] sein Antlitz, [...] das was mir befielt, ihm zu dienen.“ Vgl. Lévinas (2002), 277ff.
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und dann erst das Gegenüber.35 Dienendes Leiten meine darum eine Beziehung auf Augenhöhe, impliziere Partnerschaft und Selbstbestimmung36 und kann von Niedrigkeit nur „im Sinn der Herrschafts- und Hierarchiekritik“37 sprechen, also um damit gesellschaftlich vorhandene Asymmetrien zu kritisieren. Mit diesem neuen Verständnis von Dienen könnten dann diakonische Berufe wieder attraktiver werden. Sie werden zu anspruchsvollen und wertzuschätzenden Aufgaben, die dann jedoch mit dem traditionellen Dienen, „das von Demut und Niedrigkeit geprägt war“38, nicht mehr verglichen werden können. Diese Abschwächung des Dienstbegriffes findet sich ebenfalls in der Exegese von Mk 10,35-45 wieder. Darum stehe nach Hentschel das dia,konoj-Sein hier nicht für einen Dienst an Menschen, sondern für die Treue zu Gott als Auftraggeber. Nur der Machtmissbrauch der Herrschenden werde kritisiert.39 Nach Helge Adolphsen sei ein Verständnis von Gemeinde als Kontrastgesellschaft eine Utopie und habe mit der Realität nichts zu tun. Deshalb solle man in der Perikope vielmehr das Angebot entdecken, „selbstbestimmt zu leben“40. Der Glaubende bleibe eine „starke Persönlichkeit“41. Man wird all das nicht einfach abtun können. Hier wird zu Recht ein Problem gesehen. Dieses Problem lässt sich auch nicht durch eine bloße „Zeitgeist-Schelte“ überwinden, liegt es doch vielmehr in der conditio humana selbst begründet. So legen Kritiker wie Hentschel und Hartmann auf ihre jeweils eigene Art und Weise ihren Finger doch berechtigterweise in die Wunde. Sie führen deutlich vor Augen, wie sperrig Servant Leadership sein kann. Mit dieser Klarheit wird das anthropologische Problem in der Führungsforschung so nirgends gesehen: Der natürliche Mensch will nicht dienen. Aber die Lösung, dienende Leitung abzuschwächen, „machbar“ und attraktiv zu interpretieren, läuft ins Leere. Denn damit wird man weder Greenleaf und Servant Leadership, noch den biblischen Texten gerecht. Servant Leadership beinhaltet nun einmal das sperrige Element, in erster Linie das Wohl des Gegenübers zu suchen, auch auf eigene Kosten. Damit ist keinesfalls gesagt, dass Servant Leadership für den Dienenden keinen Nutzen habe. Aber einen Nutzen gibt es immer nur als Nebeneffekt, ist niemals das eigentliche Ziel des Dienens. Es geht also nicht um Selbstverwirklichung und dann darum, auch andere 35
Vgl. Hartmann (2013), 87: „Es geht also beim ‚Dienen‘ im Sinne des ‚Servant Leadership‘ gerade nicht darum, die eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen, sondern darum, mit sich selbst in Einklang zu kommen, authentisch zu werden und auch andere zu diesem Zustand zu führen.“ 36 Vgl. ebd., 79ff. 37 Hentschel (2013), 64. 38 Hartmann (2013), 82. 39 Vgl. Hentschel (2013), 185f. 40 Adolphsen / Gundlach (2008/2009), 204. 41 Ebd., 205.
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dazu anzuleiten, sondern wer anderen dient, der wird indirekt selbst groß. Vielmehr lässt es sich so zuspitzen: Macht eure Gegenüber groß, „so wird euch das alles zufallen“ (Mt 6,33). Trotzdem bleibt die berechtigte Frage, ob das hier dargelegte Verständnis von Servant Leadership überhaupt lebbar ist. Darauf soll im Folgenden eine Antwort gegeben werden. Dabei wird nicht der Weg einer Abschwächung des Anspruchs gegangen. Die Alternative ist der Pfad der reformatorischen Theologie, der in der Lehre von Gesetz und Evangelium besteht. 22.3. Das Gesetz und Servant Leadership Der Anspruch, den Servant Leadership an Führungskräfte stellt, ist theologisch gesprochen Gesetz. Das gilt im Übrigen für weite Teile des bisherigen Argumentationsduktus, also für alle Einsichten, wie gelingendes Führen und Leiten in einer Kirchengemeinde im 21. Jahrhundert aussehen sollte. Als Gesetz basieren sie auf der Logik von „WennDann-Sätzen“: „Wenn Sie so leiten, werden Sie unter spätmodernen Bedingungen erfolgreich sein.“ Diese Ansprüche können jedoch schnell überfordern und womöglich nicht selten Leitungsverantwortliche verzweifeln lassen. Mit Joh 6,60 ließe sich hier antworten: „Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören?“ Dieses Gesetz findet sich ebenfalls in Mk 10,35-45, genauer in dem Anspruch, der hier an Leitung in der Gemeinde gestellt wird. Die Perikope verdeutlicht Leitenden nicht nur, wie sie sein sollten, sondern – und das ist die eigentliche Pointe – dass sie als Leitende nicht so sind, wie sie sein sollten. Analoges lässt sich für die Jünger in jener Perikope beobachten. Sie waren nicht so, wie man es für „angehende Gemeindeleiter“ erwarten könnte. Selbst wenn man den Zebedaiden mit viel Nachsicht zu Gute halten kann, dass sie genau genommen nur eschatologische Ehrenplätze einfordern, in der „Welt“ aber zum Martyrium bereit sind, so offenbart doch die anschließende Unruhe unter den anderen Jüngern deren fragwürdige Motivation.42 Sie haben Angst, zu kurz zu kommen. Ebenso zeigt ein nüchterner Blick in so manche gegenwärtige Gemeinderealität, dass es in Leitungsfragen oftmals nicht viel anders zu geht als in der „Welt“. Der Anspruch, aller Diener zu sein, wird nicht durchgehalten. Dennoch bleibt es Gottes Gesetz und so hat die kybernetische Theoriebildung weder Grund noch Berechtigung, diesen Anspruch in irgendeiner Form abzuschwächen. Das sind aber in der Tat 42
Dieses Scheitern an den Forderungen des Gesetzes konstatiert Schmithals schon für die erste Christenheit, die Leser des MkEv: „Die Kirche scheint vielmehr schon zur Zeit des Erzählers genug Mühe zu haben, den Dienst als die charakteristische Herrschaftsform wenigstens in der Gemeinde selbst festzuhalten und der Herrschsucht zu wehren.“ Schmithals (1979), 465.
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katastrophale Aussichten, denn das Gesetz zeigt hier zweierlei: a) Leitende sollen Diener sein und b) sie sind es nicht. Das Gesetz hält dienenden Leitern den Spiegel vor. Hier lässt sich erkennen, was Gerhard Wegner im Zusammenhang von „Geistlicher Leitung“ so beschreibt: “Im Spiegel Gottes erkenne ich, dass ich nicht der tolle Kerl bin, der Gutmensch, der ich glaube zu sein, sondern vielmehr der Sünder, der auf Gottes Vergebung angewiesen ist. […] Diese Erfahrung stellt aber keinen Gegensatz zur geistlichen Leitung dar, sondern ist geradezu ihre Voraussetzung.”43 Wir explizieren diesen usus elenchticus legis hinsichtlich dienender Leitung mit zwei – zugegeben zugespitzten – Sätzen. a) Leitende sind dort keine Diener, wo sie welche sein sollten Wer sich selbstkritisch fragt, „Was leitet mich, wenn ich leite?“,44 der findet bei sich selbst womöglich keine dienende Haltung vor. Trotz noch so flacher Hierarchien, die weitgehend ohne Positionsmacht auskommen, können Führungskräfte ihre Beziehungsmacht mehr oder weniger offensichtlich nutzen, um andere Menschen klein zu halten. Selbst systemische Reflexion kann diese Dynamik noch verstärken. Denn wer verborgene systemische Zusammenhänge, wie Rollengefüge oder „Mentale Modelle“, durchschaut, der kann selbst diese Einsichten nutzen, um andere Menschen auf eine perfide Art und Weise zu kontrollieren. Der Einfluss der Sünde auf die menschliche Natur kann sich kybernetisch in einer Pervertierung von Servant Leadership durschlagen. Schon lange vor Greenleaf hat Bonhoeffer diese Gefahr in seiner Unterscheidung von Führung und Führertum beschrieben: „Bei der Führung geht es wesentlich um das ‚Was‘, beim Führertum wesentlich um das ‚Wer‘, das Ziel der Führung ist der Geführte, die Blickrichtung geht von oben nach unten, das Ziel des Führertums ist der Führer selbst, die Blickrichtung geht von unten nach oben.“45 Aus der Gegenüberorientierung wird die Selbstorientierung. Auch wenn wir heute in demokratischen Verhältnissen leben, so bleibt leider doch die anthropologische Grundkonstante: Leitende sind dort keine Diener, wo sie welche sein sollten. Die Situation ist aber noch weitaus fataler und wird zu einer regelrechten Krisis, da sie um einen zweiten Satz ergänzt werden muss: b) Leitende sind dort Diener, wo sie keine sein sollten Mitunter ähnelt ein servant leader dem älteren Sohn aus Lk 15, der seinem Vater entgegenhält: „Siehe, so viele Jahre diene [Hervorh. d. Verf.] ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewe43 44 45
Wegner (2007), 196. Ebd., 194. Bonhoeffer (1997), 251.
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sen wäre.“ (Lk 15,29). Diese Aussage ließe sich für so manch eine kybernetische Situation übersetzen. Mitunter dienen Leitende nicht um ihr Gegenüber zu stärken, sondern weil sie sich selbst einen Vorteil von ihrem Dienst versprechen. Im Angesicht von Einsatz und Verzicht kann dann leicht Enttäuschung entstehen, wenn der Dienst nicht zu dem beabsichtigten Ergebnis geführt hat. Theologisch gesprochen operieren Leitende dabei im Modus von Selbsterlösung und Werkgerechtigkeit. Sie dienen, um etwas zu bekommen, sei es Gemeindewachstum, Bestätigung oder ein gutes Selbstbild. Dienende Leitung kann potentiell zu einem Selbsterlösungsprojekt werden. Das ist auch dann der Fall, wenn Servant Leadership wirksam und erfolgreich ist, nur weniger offensichtlich als bei ausbleibendem Erfolg und darum weitaus gefährlicher. Timothy Keller hat pointiert darauf hingewiesen, dass man nicht nur sündigen kann, indem man Gottes Gebote bricht, sondern ebenso, indem man sie hält.46 Man meint sich durch das Halten von Gottes Gesetz – in unserem Falle, dass man als Führungskraft dienen soll – etwas verdienen zu können. Das Verhältnis zu Gott wird dabei durch ein Dienstverhältnis bestimmt. Die Worte des älteren Sohnes aus Lk 15 beinhalten gleichsam ein problematisches Beziehungsbild bezüglich der Vaterfigur. Der Sohn sieht sich als Diener und den Vater damit implizit bestenfalls als seinen Arbeitgeber, schlimmstenfalls als seinen Sklavenhalter. Deshalb zugespitzt: Leitende sind dort Diener, wo sie keine sein sollten. Wird Servant Leadership aber zum Selbsterlösungsprojekt, dann wird es nach Röm 1 zur Idolatrie, die als Sünde hinter aller Sünde beschrieben werden kann. Dies kann sich wiederum auf zweierlei Seiten zeigen. Die Idolatrie auf Seiten der Führungskraft zeigt sich mit Timothy Keller nicht nur in schlechten Dingen, Idole sind vielmehr „good things [...] that we turn into ultimate things to give us the significance and joy we need“.47 Servant Leadership ist an sich nichts Schlechtes, sondern etwas Gutes. Wird es aber mit den Worten aus Luthers Auslegung des ersten Gebotes zu dem, „worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest“ (BSLK 560, 22f), wird aus dem Guten der Abgott, wird aus Servant Leadership Götzendienst. Man erhofft dann von sich selbst als dienendem Leiter, was nur Gott schenken kann. Die gleiche Dynamik kann sich aber auch auf Seiten der Geführten entwickeln, worauf Bonhoeffer eindringlich in seinem Vortrag „Der Führer und der einzelne in der jungen Generation“ hingewiesen hat. Die Jugendbewegung habe sich den Führer „zu seelisch-menschlicher Erfüllung des Einzelnen“48 gesucht und ihn zum „sehnsüchtig erwarteten Erfüller seines Lebenssinnes und seiner Lebenskraft“49 gemacht. Der Führer wird zu einem 46 47 48 49
Vgl. Keller (2009), 42ff; Keller (2012), 63. Ebd., 70. Bonhoeffer (1997), 252. Ebd., 255.
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„Idol“50 und „Abgott“51. Egal von welcher Seite jedoch die Dynamik auszugehen vermag, in Konsequenz steht die Führungskraft an der Stelle Gottes.52 Das ist die Krisis dienender Führung. Verirrte Hirten suchen verlorene Schafe.53 Dienende Leiter sind, so beschreiben es Böhlemann und Herbst im Anschluss an Heijo Rieckmann, Schweinehunde, ein Hybridwesen aus Schwein und Hund, wobei der Hund für Angst, das Schwein für Gier steht.54 Auch Leitende sind Sünder. Die Krisis von Servant Leadership besteht zusammengefasst in dem Doppelsatz: Leitende sind dort keine Diener, wo sie welche sein sollten. Leitende sind dort Diener, wo sie keine sein sollten. Doch werden wir bei diesen pessimistisch-anthropologischen Aussagen nicht stehen bleiben, sondern wenden uns nun der reformatorischen Entdeckung in einer kybernetischen Zuspitzung zu. Der Deutlichkeit des Gesetzes entspricht hier die Deutlichkeit des Evangeliums. Hierin besteht die Wendung: Gott braucht keine Diener, sondern wir brauchen einen Diener. Das Evangelium besteht in dem Zuspruch, dass wir einen Diener haben. „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“ (Mk 10,45) 22.4. Das Evangelium und Servant Leadership In Mk 10,45 kommt jenes Evangelium zum Ausdruck, das gleichsam die Tiefendimension von Servant Leadership beschreibt. Von hier aus scheint auf diese ganze Gemeindebelehrung über Dienen und Leiten ein neues Licht. Sie ist damit in letzter Konsequenz mit Thies Gundlach „keine Jüngerbelehrung sondern eine Christuserklärung.“55 Da die Perikope trotz ihres letztlichen Charakters als Christuserklärung dennoch einige ethische Implikationen aufweist, ließe sich das Evangelium des Abschnittes wohl präziser mit Luthers christologischer Unterscheidung in donum/ sacramentum et exemplum fassen.56 Danach ist in 50
Ebd., 257. Ebd., 258. 52 Bonhoeffer schließt seinen Vortrag mit folgenden mahnenden Worten ab: „Führer und Amt, die sich selbst vergotten, spotten Gottes und des vor ihm einsam werdenden einzelnen und müssen zerbrechen. Nur der Führer, der selbst im Dienst der vorletzten und der letzten Autorität steht, kann Treue finden.“ ebd., 260. 53 Vgl. Bärwaldt (2005), 13. 54 Vgl. Böhlemann / Herbst (2011), 74-77. 55 Adolphsen / Gundlach (2008/2009), 207. 56 Diese Unterscheidung liegt auch der Auslegung der Perikope durch MeyerBlanck zugrunde. Vgl. Meyer-Blanck (2009). 51
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Christus zunächst einmal das Geschenk und Sakrament Gottes zu erkennen, erst in zweiter Linie das Vorbild, das die Werke unserer Liebe vorzeichnet (ա17.).57 Wird das Dienen Jesu nur als exemplum gesehen, dann werden Führungskräfte dem Anspruch dieser Norm kaum gerecht werden können, oder wie es Schwankl ausdrückt: „Ohne die christologische Begründung nimmt die Regel vom Groß-Sein im Dienen einen anderen Charakter an; sie wird zu einer ethischen Überforderung.“58 Dennoch sind die Beispiele für eine Reduktion auf solch eine Vorbilds-Christologie leider zahlreich. Über das Dienen resümiert Theißen: „Jesus selbst ist in seinem Leben und Sterben 59 das große Vorbild dafür.“ Bei Evans ist Jesus „the supreme example of this ser60 vice“ . Wenn die Jünger seinem Vorbild folgen, werde auch ihnen Ehre zukommen. Der Managementvordenker Ken Blanchard schreibt: “I believe Jesus exem61 plified the fully committed and effective servant-leader.” „Mit Liebe leiten“ von Alexander Strauch kann in Summe als ein Beispiel dafür gelten, wie sich dienende Gemeindeleitung fast ausschließlich vom exemplum-Ansatz aus entfalten lässt.62
Jesus Christus ist nach Auffassung reformatorischer Theologie jedoch in erster Linie als donum zu verstehen. Somit ist das Herzstück christlichen Denkens über Führen und Leiten nicht der Vorbildcharakter Jesu, sondern die Botschaft, dass Jesus Christus den Menschen zum dienenden Leiter wurde. Dieses sacramentum klingt in Mk 10,35-45 schon durch Begriffe wie Kelch und Taufe an. Letztlich lässt sich jedoch mit Meyer-Blanck festhalten: „Jesus selbst ist das Sakrament, das die neue Wirklichkeit sowohl in Person selbst ist als auch herbeiführt.“63 Das Heilshandeln Christi lässt sich ebenfalls bezogen auf kybernetische Situationen artikulieren. Wo Leitende entgegen dem Anspruch, dienen zu sollen, nicht zu dienen vermochten, da tritt Christus mit seinem Dienst an ihre Stelle. Christus diente dort, wo Führungskräfte nicht zu dienen vermochten. Wie ein Diener wäscht Christus seinen Jüngern die Füße (Joh 13). In dem abgewaschenen Schmutz können auch zahlreiche kybernetische Verfehlungen zum Ausdruck kommen, was bspw. verletzende Worte oder unangemessenes Verhalten impliziert. Der Dienst Christi kommt vollkommen in seiner stellvertretenden Lebenshingabe dem Menschen zugute zum Ausdruck. Damit steht er gleichsam im Kontrast zu allen Mustern der Machtausübung dieser 57
Ähnlich komme es nach Gnilka in dieser Perikope zu einer „Verquickung des paränetischen mit dem soteriologischen Aspekt“. Gnilka (1979), 104. 58 Schwankl (2002), 254. 59 Theißen (1999), 265. 60 Evans (2001), 125. 61 Blanchard (2002), xi. 62 Strauch (2007). 63 Meyer-Blanck (2009), 193. Jesus ist dabei „nicht nur das Vorbild für den geforderten Dienst (V. 45ab), sondern auch seine Vor-gabe (V. 45c).“ Schwankl (2002), 251.
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Welt. Während die Mächtigen der Welt Menschen für sich sterben lassen, stirbt Jesus für andere.64 Dieses Sterben hat eine sühnende Kraft und in dieser besteht dann auch der entscheidende Unterschied zwischen Jesu Dienen und dem von den Jüngern geforderten Dienst, wie Eckey betont. Die Jünger können den Sühnetod Jesu in ihrem Dienst nur bezeugen.65 In Jesus Christus den mir selbst dienenden Leiter zu erkennen, ist meines Erachtens die Tiefendimension von Servant Leadership. Im Rückbezug auf jene Perikope „vom verlorenen Sohn“ gilt nun auch dem älteren Sohn das Evangelium: „Mein Kind, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein.“ (Lk 15,31). Diese Zusage aufgrund des „fröhlichen Wechsels“ ist die Tiefendimension von Servant Leadership bei der Rezeption im kirchlichen Kontext. Darüber hinaus folgen daraus ebenso praktisch-kybernetische Konsequenzen. 22.5. Konsequenzen aus Gesetz und Evangelium für Servant Leadership In Jesus Christus den eigentlichen dienenden Leiter zu erkennen, ist der letztliche Ermöglichungsgrund für Servant Leadership. Dieses Evangelium gibt Grund und Kraft, so zu führen und zu leiten, wie es erforderlich ist. Gleichsam gibt die Dynamik von Gesetz und Evangelium einer christlichen Verwendung von Servant Leadership ein spezifisches Gepräge. Vor allem auf der Ebene der Haltung ergeben sich nun Konsequenzen, wenn auch immer nur partiell, da der Mensch simul iustus et peccator bleibt. Dieses Spezifikum lässt sich nun in fünf Thesen explizieren, die in ihrer Grundstruktur auf Timothy Keller zurückgehen.66 1) Das Gesetz macht dienende Leiter demütiger. Das Gesetz zeigt dem Menschen auf, dass er ganz und gar Sünder ist (Vgl. Röm 7,24; 1Tim 1,15). Wer als Führungskraft diese Einsicht meditiert, der ist potentiell nachsichtiger mit den Schwächen und begrenzten Kompetenzen der Geführten. Denn wer sich vor dem Gesetz Gottes selbst als „inkompetenten“ Menschen erkennt, der kann auch den Geführten mehr Respekt schenken, wenn sie manchmal inkompetent erscheinen. Das macht Konflikte mit den Geführten wie sachliche Kritik nicht überflüssig. Die Einsicht, selbst Sünder zu sein, bietet jedoch die Chance, eine Haltung der Demut zu entwickeln, die im Konflikt spürbar sein wird. 2) Das Evangelium gibt dienenden Leitern Mut. Gerade in schwierigen Veränderungsprozessen, in die verschiedenste Konfliktparteien invol64
Vgl. ebd., 254. Vgl. Eckey (1998), 276. 66 Vgl. Keller (2012), 287. Keller beschreibt hier die Konsequenzen des Evangeliums für den Bereich von Mission und Evangelisation. 65
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viert sind, können es Leitungsverantwortliche in einer Kirchengemeinde mit einer hemmenden Angst zu tun bekommen. Deshalb werden manchmal notwendige Konflikte nicht eingegangen und unumgängliche Entscheidungen nicht getroffen. Man hat Angst, sich zum „Buhmann“ zu machen und die Anerkennung und Bestätigung anderer Menschen entzogen zu bekommen. Das Evangelium sagt kirchlich Leitenden jedoch zu, dass ihr Selbstwert und ihre Identität vollständig in Jesus Christus begründet sind. Dem Selbstzweifel stehen dann die Worte Bonhoeffers entgegen: „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“67 Das kann Angst nehmen und gleichsam Kraft geben, mutig voranzugehen. Das Evangelium gibt demnach selbst im Dienen eine gewisse innere Stärke.68 Das ist die notwendige dialektische Ergänzung zum ersten Punkt. Auf diese Weise führt die eigentümliche Dialektik von Gesetz und Evangelium hinsichtlich Servant Leadership zu einer gleichsamen Verbindung von Demut und Mut. 3) Das Evangelium schenkt dienenden Leitern Hoffnung. Da das Heil in Christus nicht verdient werden kann, sondern stets Geschenk ist, bleibt es ein Wunder, wenn das Evangelium in Wort und Sakrament das Herz eines Sünders erreicht und in ihm Glauben weckt. Die Meditation dieser Einsicht kann auch in Gemeindeleitung mehr und mehr Hoffnung freisetzen. Denn selbst in aussichtslosen Situationen kann ein Satz wie dieser meditiert werden: „Wenn Gott sogar mein Herz erreichen konnte, dann wird er in dieser aussichtslos scheinenden Situation auch ‚Wege finden, da dein Fuß gehen kann‘. Im Vergleich zu mir wäre das dann das kleinere Wunder.“ 4) Das Evangelium gibt die Motivation für dienende Leitung. Das Evangelium schenkt Freude und Freiheit, die zum Nächsten weiterfließen wollen. So gibt das Evangelium die Motivation für das Kernanliegen von Servant Leadership, nämlich sein Gegenüber wachsen und erfolgreich sehen zu wollen. In der Spur reformatorischer Theologie. Gott braucht meine guten Werke – also auch meinen Dienst – nicht, jedoch mein Nächster. 5) Gesetz und Evangelium lassen dienende Leiter Gnade und Wahrheit zusammenhalten (ա16.). Im Rechtfertigungsgeschehen wird die Sünde verurteilt und doch steht der Mensch aufgrund des stellvertretenden Handelns Christi vor Gott gerecht da. Die Sünde wird gerichtet und der 67
Bonhoeffer (1998), 514. Darauf hat in diesem Kontext auch Meyer-Blank hingewiesen. Dienen führe eben nicht zu einer Haltung der Unterwürfigkeit, wenn es aus „innerer Sicherheit und nicht aus Schwäche geschieht.“ Meyer-Blanck (2009), 194. Anstatt von Schwäche ließe sich womöglich auch von Schwächlichkeit sprechen. Die mit Dienen verbundene Schwäche ist nämlich stets eine freiwillige, keine Schwächlichkeit oder mangelnde Kompetenz. Meyer-Blanck folgert weiter: „Nicht jedes Dienen ist gestört, wie es ein oberflächliches Verständnis von Selbstverwirklichung eine Zeitlang meinte behaupten zu müssen.“ ebd. 68
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Sünder gerecht gesprochen. Das macht dienende Leiter erst in der Tiefe konfliktfähig. Sie können ebenfalls auf der Sachebene widersprechen, ihre Gegenüber dennoch auf der Beziehungsebene mit Respekt und Wertschätzung begegnen. Damit ist die Aufgabe der Theologie, ein Verständnis von Servant Leadership vom Evangelium her zu entwickeln, in ihren Grundzügen beschrieben. Das Evangelium hat in der Tat spezifische positive Auswirkungen für dienende Leitung, besonders auf der Ebene der Haltung. Zu idealistisch wird man an dieser Stelle aber nicht werden dürfen. Denn die lutherische Theologie hat immer gewusst, dass der Mensch „jenseits von Eden“ simul iustus et peccator bleibt. Diese fünf exemplarisch benannten Konsequenzen vermischen sich mit dem „alten Adam“, der nicht dienend leiten möchte. Da auch servant leader Sünder sind, muss Macht sinnvollerweise begrenzt bleiben und kirchenrechtliche Regelungen bleiben in Leitungsfragen notwendig. Denn in dieser Welt bleiben die Motive, selbst als Gerechtfertigte, immer gemischt. C. S. Lewis brachte diese notwendige Ernüchterung trotz aller berechtigter Hoffnung in poetischer Sprache so zum Ausdruck: „Doch bis dahin kommt für uns noch immer das Kreuz vor der Krone, und morgen ist Montag.“69 Trotz allem bleibt am Ende dieser Überlegungen eine Entdeckung stehen. Es ist die reformatorische Rechtfertigungslehre, welche die Tiefendimension von dienender Leitung bei einer Verwendung im kirchlichen Kontext darstellt.70 Rechtfertigung – das ist in der Tiefe die Antwort auf die Frage, ob Kirche eigentlich „anders“ leite. Die Führungswissenschaften kennen diese Antwort nicht. Die Theologie hingegen weiß um eine weitaus realistischere Anthropologie und kennt mit dem Evangelium gleichsam eine andere Kraftquelle. Ebenso bleibt die Rechtfertigungslehre das entscheidende Argument für eine Verwendung von Servant Leadership in der Kirche, denn jener Führungsansatz entspricht ihr am besten. Alle anderen angeführten Argumente (ա21.) mögen noch so sinnvoll und richtig gewesen sein. Dennoch zählt unter dem Strich nur dies eine: Gott ist unser Diener, er macht sich für uns klein und dient uns jeden Tag neu. Das nimmt Leitenden und Führungskräften die Angst zu kurz zu kommen und befreit dazu, anderen zu dienen. Dienende Leitung ist darum kenotische Leitung. 69
Lewis (2005), 107. Darin unterschied sich der vorliegende Ansatz etwa von kybernetischen Entwürfen, welche die Tiefendimension von „Führen und Leiten“ in der Kirche ausschließlich in einer Form von „geistlicher Leitung“ erblickt, die ohne diese rechtfertigungstheologische Dimension auskommt. Das ist etwa in Böckels „Führen und Leiten“ der Fall. Hier erscheint die Tiefendimension eher als ein bestimmtes ethisch-menschliches Handeln und das Erlernen einer spirituellen Kompetenz. Vgl. Böckel (2014), 140ff. 70
23. Skizzen pastoraltheologischer Implikationen
Aus diesem Bild von dienender sowie kenotischer Führung und Leitung lassen sich einige pastoraltheologische Konsequenzen ziehen. Da der pastoraltheologische Diskurs bisher immer wieder berührt wurde, ist es durchaus sinnvoll auf die Wechselwirkungen zwischen dem hier entworfenen kybernetischem und pastoraltheologischem Denken hinzuweisen. Dies geschieht nur in Skizzen und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Wer ist der Pfarrer? Wie sollte und könnte die Pastorin der Zukunft aussehen? Kaum einen wird es an dieser Stelle überraschen, dass das Pfarramt m. E. als ein Leitungsamt zu verstehen ist. Dennoch sollte die Aufgabe der Gemeindeleitung nicht additiv zum bereits bestehenden breiten Aufgabenspektrum des Pfarramtes hinzugefügt werden.1 In vielerlei Hinsicht wäre es der vordergründig leichtere, weil konfliktärmere Weg, da damit keine Absagen an bestimmte Aufgaben und Tätigkeiten verbunden wären. Auf der anderen Seite erscheint es aber ebensowenig sinnvoll, Pastorinnen und Pastoren nur noch als „Gemeindeleiter“ und „Manager“ zu verstehen. Selbst Servant Leadership bietet Möglichkeiten für ein breiteres Verständnis. Meines Erachtens lässt sich ein dreiteiliges Bild des Pfarrberufes zeichnen. Das Pfarramt besteht damit aus den folgenden drei Tätigkeiten: Qua göttlichen Rechtes umfasst es erstens die Predigt des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente.2 Im Angesicht der Herausforderungen, denen Kirche im 21. Jahrhundert gegenübersteht, wird vorgeschlagen, dies zweitens um die Aufgabe der Gemeindeleitung im Sinne von Servant Leadership zu ergänzen. Als servant leader machen sich Pastorinnen und Pastoren klein, damit andere groß werden können und sind gleichsam gegenüberstehende Verkündiger. Denn beide Dimensionen liegen dem neutestamentlichen Dienstbegriff zugrunde. Eine Verbindung zwischen Servant Leadership und dem „klassischen“ Pfarrberuf besteht semantisch und inhaltlich ebenfalls in dem Begriff 1
So erblickte es etwa Petry in zahlreichen kirchlichen Verlautbarungen. Vgl. Petry (2001), 268: „Mitarbeiterführung von Ehrenamtlichen wird rein additiv dem Aufgabenspektrum von Pfarrer/innen hinzugefügt, ohne Konsequenzen für die leitenden Bilder von Pfarrerberuf und von ehrenamtlicher Mitarbeit hinreichend zu bedenken.“ 2 Vgl. zu dieser Figur auch: Grethlein (2009), 73ff.
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des ministerium (CA V). Drittens ist es m. E. sinnvoll, dass Pfarrerinnen und Pfarrer die Möglichkeit bekommen sollten, darüber hinaus ihre eigenen Stärken entfalten zu können, etwa im Bereich von Seelsorge, diakonischem oder missionarischem Engagement, Pioniertätigkeiten, Spiritualität, Bildungsarbeit usw. Dieses dritte Element des persönlichen Profils3 muss selbstverständlich zu der jeweiligen Gemeinde passen. Insgesamt wären Pfarrerinnen und Pfarrer der Zukunft somit mutige Prediger, treue Sakramentsverwalter, dienende Leiter und profilierte Persönlichkeiten.4 In mancherlei Hinsicht kommt dies dem „hybriden“ Verständnis des Pfarramtes nach Hauschildt und Pohl-Patalong nahe.5 Nach ihnen schlage sich der hybride Charakter von Kirche auch im Pfarrdienst nieder, wobei die Institutionslogik den Pfarrer „Repräsentant des Christentums“ sein lässt, die Organisationslogik ihn „als Manager“ sieht und die Bewegungslogik den Aspekt der „geistlichen Existenz“ betont. Das, was unter „persönlichem Profil“ zu fassen versucht wird, geht jedoch über den Moment der „geistlichen Existenz“ hinaus, teilt jedoch den flexiblen und fluiden Ansatz der Bewegungslogik. Des Weiteren ist es wichtig herauszustellen, dass die Aufgabe von Predigt und Sakramentsverwaltung als göttliche Ordnung (institutum) nicht in der Sozialform der Institution aufgeht. Als Auftrag bleiben sie selbst dort gegeben, wo die Sozialform der Institution nicht vorhanden ist. Der Grundsatz von Servant Leadership bleibt jedoch keineswegs auf das Pfarramt beschränkt. Er gilt ebenso für andere an der Gemeindeleitung beteiligte Akteure. Worin liegt nun aber das Proprium des Pfarrers hinsichtlich Servant Leadership? Vereinfacht gesagt: Er ist eine dienende Führungskraft zum Quadrat, ein servant leader der anderen servant leader, die er durch seinen Dienst zurüstet. So ließe es sich etwa im Anschluss an John Carver formulieren, der die Aufgabe des Vorsitzenden eines Aufsichtsrates als „servant-leadership squared“6 bezeichnet.7 Damit bleibt gleichsam eine gewisse Konstanz des vorgelegten
3
Nach Pohl-Patalong werde der Pfarrberuf in Zukunft profilierter und differenzierter werden. Vgl. Pohl-Patalong (2006), 235f. 4 Dieses dreigliedrige Pfarrbild ist allerdings nicht zu starr zu verstehen. Besonders in Teampfarrämtern wird man sich eine größere Vielfalt leisten können und sich an dieser erfreuen können. Dennoch ist es sinnvoll, eine gewisse Leitvorstellung des Pfarrberufes zu entwickeln, die sich dann weiter kommunizieren ließe. 5 Vgl. Hauschildt / Pohl-Patalong (2013), 375ff. 6 Carver (2002), 189. 7 Vgl. ebd., 209: “This kind of chair is guardian of group integrity, not worker of his or her own agenda. This kind of chair nurtures the ability of his or her boss – the board – to truly be and stay the boss. This kind of chair is a reflector of board discipline, like the moon shining by a light no less spectacular because it is only reflected. This kind of chair never forgets that the conductor doesn’t make the music“
23. Skizzen pastoraltheologischer Implikationen
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Ansatzes zur Pastoraltheologie des missionarischen Gemeindeaufbaus mit dem Schlagwort der „Zurüstung der Heiligen“8 gegeben. Als dienende Führungskräfte sind Pastoren verbi divini minister. Sie sind damit ebenso Diener Gottes und seines Wortes. Ein solch pastoraltheologisches Leitbild kann allerdings leicht zum bloßen Gesetz verkommen. Darum ist noch auf ein Letztes hinzuweisen. Die Tiefendimension, Quelle und finale Begründung des pfarramtlichen Dienstes liegt allein im Dienst Gottes begründet oder wie es in einem alten Kirchenlied heißt: „Er wird ein Knecht und ich ein Herr: das mag ein Wechsel sein! Wie könnt‘ es doch sein freundlicher, das herze Jesulein.“
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Vgl. auch: Cole (2009), 107: “Leaders in the church are not to do the work of the ministry, but to equip the ordinary saints to do the work of the ministry (Eph. 4:1116).”
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Abbildungen
Abbildung 1: Dimensionen Geistlicher Leitung nach Böhlemann /Herbst .............61 Abbildung 2: Fünf Akzentuierungen von „Führen und Leiten“ ............................121 Abbildung 3: Die normative Grundlage kirchengemeindlicher Leitung ...............123 Abbildung 4: Kontext und Leitung ........................................................................ 125 Abbildung 5: Leitung und Pfarramt ....................................................................... 126 Abbildung 6: Leitung und Ehrenamt .....................................................................127 Abbildung 7: Leitung und Bindungsformen ..........................................................129 Abbildung 8: Leitung und Wahrheit ......................................................................131 Abbildung 9: Ist Leitung coram deo erlaubt? ........................................................132 Abbildung 10: Ist Leitung coram mundo möglich? ............................................... 133 Abbildung 11: Der mehrschichtige Führungsprozess ............................................156 Abbildung 12: Harmonie und Konflikt. Eigene Darstellung nach Berner ............263 Abbildung 13: Leitung als Segeln .........................................................................285 Abbildung 14: Der U Prozess, eigene Darstellung in Anlehnung an Scharmer. ...286 Abbildung 15: Die Produktive Zone des Disäquilibriums. Eigene Darstellung nach Heifetz, Grashow und Linsky. ...........................300 Abbildung 16: Veränderungen in einer Kirchengemeinde gestalten .....................315 Abbildung 17: Servant Leadership nach Liden u.a. Eigene Darstellung nach Northouse. .............................................................................328 Abbildung 18: Servant Leadership in einer Gesamtschau .....................................340