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Sensibilität der Gegenwart Wahrnehmung, Ethik und politische Sensibilisierung im Kontext westlicher Gewaltgeschichte
Sonderheft 17 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Herausgegeben von
burkhard liebsch
FELIX M EIN ER V ER LAG H A M BU RG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abruf bar.
Sonderheft 17 · ISSN 1439-5886 · ISBN 978-3-7873-3544-2 Felix Meiner Verlag, Hamburg 2018. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Type&Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.
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IN H A LT
Vorwort ......................................................................................................
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Burkhard Liebsch Ästhetisch, ethisch und politisch sensibilisierte Vernunft? Einleitung in historischer Perspektive ..........................................................
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ZU R VORGESCHICHTE ›MODER N ER‹ SENSI BILITÄT SK LAV ER EI ‒ KOLONI A LISMUS ‒ AU FK LÄ RU NG
Iris Därmann „Stealing away“ Trauer und suizidale Melancholie im transatlantischen Sklavenhandel .........
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Karin Harrasser Riskante Praktiken der Bekehrung Die musikalische Kolonisierung der Sinne ...................................................
61
Silke Segler-Meßner Dekolonisierung(en): Verhandlung von Gewalt und Gemeinschaft in Jaz und Big shoot von Koffi Kwahulé .......................................................
83
Ruth Sonderegger Kants Ästhetik im Kontext des kolonial gestützten Kapitalismus Ein Fragment zur Entstehung der philosophischen Ästhetik als Sensibilisierungsprojekt .......................................................................... 109
STR ITTIGE TH EOR ETISI ERU NGEN ›NACH‹ NI ETZSCH E
Werner Stegmaier Wie ist philosophische Sensibilität möglich? Anhaltspunkte in Nietzsches Gedicht Sils-Maria .......................................... 129
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Inhalt
Katja Diefenbach Über das Un/Sinnliche Ereignis- und Zeitbegriffe in Deleuzes und Badious Ontologien unendlicher Mannigfaltigkeit ......................................................................
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Dieter Mersch Affekt und Gabe Zwei konkurrierende Paradigmen ...............................................................
177
Andrew Haas The Ambiguity of a Kiss .............................................................................
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Erik Vogt Zu Mario Perniolas Durchquerung der sensologischen Gesellschaft .............
213
SIN N LICH-POLITISCH E SENSI BILITÄT U N D DI E SENSI BILITÄT DES POLITISCH EN
Kathrin Busch Ästhetik des Fleisches Sensibilität bei Claire Denis & Jean-Luc Nancy ........................................... 235 Christian Grüny Der sensibelste aller Sinne Das Hören als Hoff nungsträger .................................................................... 253 Lisz Hirn Zur politischen Stimmlichkeit Ästhetische Perspektiven aus der Dialogphilosophie Martin Bubers ............. 281 Bernhard H. F. Taureck Sensibilität, Verständigung, Politik Überlegungen über moderne Sensibilität und Sophokles’ Antigone ............. 291 Ludger Schwarte Radikale Sensibilität Cornelius Castoriadis und die Begründung der Demokratie ........................ 305
Inhalt
5
Hans-Martin Schönherr-Mann Die Wiederkehr von Weimar? Linke Sensibilität gegenüber rechtspopulistischer Politik ............................ 323
A N GR ENZEN POLITISCH ER SENSI BILITÄT KU NST, POLITIK, GEWA LT
Maud Meyzaud Kaf ka pfeift auf den Ursprung des Kunstwerks Über Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse ........................................ 345 Brigitte Bargetz Sensibilität und Sentimentalität Überlegungen zu einer politischen Grammatik der Gefühle ....................... 359 Andreas Oberprantacher Von der Kunst, nicht so visualisiert zu werden Interferenzen an der Grenze (der Sensibilität) .............................................. 377 Burkhard Liebsch Sensibilität und Gewalt heute Wahrnehmung, Ethik und politische Sensibilisierung ................................. 397 Namenregister ............................................................................................. 423 Zu den Autorinnen und Autoren ................................................................
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Vorwort
Das Einzige, was menschliche Vernunft unter dem Druck »extremer Ungeschütztheit zu leisten vermag«, ist »Bewusstsein [als] Zustand der Sensibilität für andere Sensibilitäten«, behauptet Hans Blumenberg in seiner Beschreibung des Menschen rückblickend auf die frühe Anthropogenese.1 Tatsächlich müssen rückhaltlos ausgesetzte Lebewesen, als die sich der Philosoph die frühen Menschen vorgestellt hat, außerordentlich wachsam sein und empfi ndlich reagieren auf alles, wovon sie vital betroffen sein könnten. Anders konnte auch der homo sapiens sapiens nicht überleben. Soll man also Jean-Paul Sartre Recht geben, wenn er behauptet, »ursprünglich« sei »die Sensibilität quasi ein Gemeingut«?2 Und muss das bis heute unverändert gelten, wenn es stimmt, dass uns ein unhintergehbares Ausgesetzt-sein ungeachtet aller Sicherungsmaßnahmen, die man inzwischen ergriffen hat, ontologisch geradezu ausmacht, wie etwa Jean-Luc Nancy argumentiert?3 Bestehen an der Sensibilität unserer Gattung nicht erhebliche Zweifel? Unsere Sinne erreichen kaum die Leistungen derjenigen der meisten Tiere. Nicht einmal das Herannahen größter Erschütterungen nehmen Menschen zuverlässig wahr. Schon in der Antike besann man sich deshalb auf animalische Seismographen, von denen man sich vorwarnen ließ. Diese versagen jedoch bei existenziellen und geschichtlichen Erschütterungen, die wie im 18. Jahrhundert das Erdbeben von Lissabon tiefe und nachhaltige Krisen zur Folge haben und Weltbilder, ganze Theologien und metaphysische Systeme zum Einsturz bringen können. Wo das geschieht, behauptet Marshal Berman, haben wir es mit ›Moderne‹ zu tun.4 So wird es möglich, Sensibilität und Modernität begriffl ich kurzzuschließen, und der Eindruck entsteht, beide Begriffe bezeichneten womöglich mehr oder weniger dasselbe. ›Moderne‹ Sensibilität wäre dann aber nicht mehr auf ein archaisches Erbe zurückzuführen. Die Moderne hätte vielmehr epigenetisch oder kreativ eine neuartige Sensibilität oder sogar eine Vielzahl diverser Sensibilitäten hervorgebracht – bis hin zu einer neuerdings oft bemühten, antizipativen »Katastrophensensibilität«, durch die man mehr oder weniger fatale Fehlentwicklungen zu vermeiden sucht, die nicht selten ebenfalls auf die Moderne zurückgeführt werden.5 Auch dabei soll es sich nicht um ein archaisches, apokalyptisches Erbe, sondern um eine »aufgeklärte Apokalyptik« ( Jean-Pierre Dupuy) handeln.6 Autoren, die für sie eintreten, schreiben sich nolens 1 2 3 4 5 6
H. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, Frankfurt/M. 2006, 849. J.-P. Sartre, Brüderlichkeit und Gewalt, Berlin 1993, 49. J. Derrida, Berühren. Jean-Luc Nancy, Berlin 2007, 69. M. Berman, All That is Solid Melts into Air. The Experience of Modernity, London 1998. J. Manemann, Kritik des Anthropozäns, Bielefeld 2014, 45, 52. Ebd., 53.
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Vorwort
volens in eine politische Gegenwart ein, die für alles Mögliche zu sensibilisieren verspricht: für die Singularität oder Besonderheit jedes Anderen, dessen Vulnerabilität als maßgebend betrachtet werden soll, für die Gewalt, die Anderen (vor allem: Kindern, Frauen, Unterdrückten jedweder Art, Versklavten, ›Illegalen‹, sans papiers, Flüchtlingen …) angetan wird, und darüber hinaus für das, was sich solcher Gewalt widersetzt. In diesem Sinne wird Sensibilität für das von sich aus Sensible verlangt. Und das, so scheint es, sind vor allem die verletzten Anderen, die als solche allerdings regelmäßig übersehen, ignoriert oder vergleichgültigt werden (oder das zumindest behaupten). So gerät der ganze Diskurs über die Sensibilität – weit entfernt, sich auf eine klassische Anthropologie stützen zu können – in die Nähe der Gewalt, der man in allen ihren Spielarten, in ihrer strukturellen Latenz, in ihrer sprachlichen und nonverbalen Subtilität und machtstrategischen Raffi nesse auf die Spur gekommen ist. Gewalt veranlasst uns dazu, nachträglich nach Spielräumen menschlicher Sensibilität zu fragen, die nicht einfach auf ein atavistisches gattungsgeschichtliches Erbe zurückzuführen sind. Wurden wir nicht erst durch Gewalt für all das sensibilisiert, was sie verletzt? Dann dürften wir immerhin als sensibilisierbar gelten. Wie aber, wodurch, für was oder wen? Und wer ist überhaupt ›wir‹? Etwa der berüchtigte WASP, der Westen oder gar das Volk, das seit Franz Kaf ka doch in dem Verdacht steht, auf jegliche Sensibilität zu ›pfeifen‹? Kann eine zeitgemäße Philosophie, die sich vor derartigen Deutungsangeboten mit guten Gründen in Acht nimmt, in diesem Zusammenhang irgendetwas ausrichten? René Descartes beteuerte, er gehöre nicht zu jenen grausamen Philosophen, die verlangen, dass der Weise gefühllos (insensible) sei.7 Aber folgt daraus schon, dass Philosophie in Wahrheit nur als sensible bzw. sensibilisierte möglich ist? Und wenn Blumenberg bemerkt, theoría, also die philosophische Lebensform, führe dazu, »sich der Welt unnötig auszusetzen, sich Blößen zu geben« 8 , so scheint damit eher eine Misslichkeit gemeint zu sein – kein unbedingtes Erfordernis, ohne das es Philosophie, die ihren Namen verdient, überhaupt nicht geben kann, wie es erst von Friedrich Nietz sche, Paul Valéry, Emmanuel Levinas und anderen behauptet wurde. Ist es nicht eine Illusion, sich der Welt allenfalls aus freien Stücken auszusetzen – ihr aber nicht unvermeidlich ausgesetzt zu sein bzw. ausgesetzt zu werden; und zwar grundsätzlich rückhaltlos? Wie ergibt sich dann aber aus dieser Unvermeidlichkeit eine philosophische Herausforderung ersten Ranges, der man am Ende nur gerecht wird, wenn man sich im Ausgesetztsein auch selbst exponiert, statt es zu leugnen oder anders, etwa durch Immunisierung, abwehren zu wollen? Auch Albert Camus musste es, wo er dieser Frage auf der Spur war, vor allem um den Zusammenhang von Sensibilität und Gewalt gehen. So spricht er in seinem Buch über den Geist der Revolte vom »Schrei der Sensibilität«, der aus der Empörung über das Unakzeptable, Verletzende und doch Vermeidbare hervorgeht – in dem 7 8
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R. Descartes, Œuvres (éd. C. Adam, P. Tannery), Paris 1964‒1974, t. 4, 201 f. H. Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt/M. 1987,
Vorwort
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Wissen einer »absurden Sensibilität« gerade dafür aber, dass auf das Empörende innerweltlich-politisch keine befriedigende Antwort zu fi nden ist, wie man es mit Blick auf die Französische Revolution zunächst gehoff t haben mag.9 Angesichts des Empörenden fragt man sich, wie man nicht entsetzt sein und teilnahmslos bleiben kann ungeachtet des Versehrten, Verwundeten, Verletzten, dem man scheinbar ganz vergeblich Unantastbarkeit attestiert. Nicht nur die unmittelbaren und indirekten Zeugen jener Sensibilität, auch die Künstler der Moderne wussten von solcher »Verwundung der Welt«10 – womit hier nicht die Erde, sondern die politische Welt aller gemeint ist, die dazu verurteilt sind, auf Gedeih und Verderb Modi wirklichen Zusammenlebens, nicht nur äußerlicher ›Koexistenz‹, zu fi nden. Von solcher Verwundung konnten zumindest die Maler nur auf stumme Art und Weise Zeugnis ablegen. Ist ihre Farbe nicht »materialisierte Sensibilität«? Und liegt in der Sensibilisierung eben dafür nicht geradezu das, was Kunst ausmacht? Aber kann Kunst gelingen, wenn nicht darauf zu bauen wäre, dass sich ihr sensibilisierbare, ›ausgesetzte‹ Subjekte zuwenden und sich ihr exponieren?11 Auf die Gefahr hin, sich auf diese Weise notorisch den Vorwurf zuzuziehen, ins Sentimentale abzugleiten12 , das eine post-romantische, abstrakte Kunst defi nitiv hinter sich lassen wollte, stößt auch die Literatur weit in diese Richtung vor, so dass man sich von ihr erhoffen konnte, zu lehren, wie wir »gemäß der Nuance[n] leben« könnten, die sie vor Augen führt.13 Hieße nicht erst das Leben: sich dem Nichtunterschiedenen oder nicht (eindeutig) Unterscheidbaren (adiáphora) sensibel auszusetzen, statt sich nur in einem bornierten Überleben im sozialdarwinistischen Konkurrenzkampf zu behaupten, um Kapital aus ihm zu schlagen, das man doch wieder verloren geben muss? Lässt dieser Kampf nicht jegliche Sensibilität als bloßen Luxus erscheinen? Dem widersetzt sich offenbar eine »auf Responsivität hin angelegte Politik«, die für die Verletzungen Anderer durch Ungleichheit und Ungerechtigkeit, Demütigung und Missachtung sensibilisiert14 und dabei darauf angewiesen ist, überhaupt erst auf das politisch Wirkliche aufmerksam zu machen und es sichtbar werden zu lassen, um es zur Sprache bringen zu können.15 Dabei muss sie ständig mit einer normaA. Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969, 12, 26 f.; M. Vovelle, Die Französische Re volution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, Frankfurt/M. 1982, 86, 103, 114. 10 W. Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert 1, München 61979, 500; vgl. ebd. 520 zu Salvador Dalí; V f., »Multiple Chiasmen. Versuch einer kurzen Situationsbeschreibung ›moderner‹ Musik und Malerei zwi schen Sicht- und Hörbarem, Sehen und Hören, Bild und Klang«, in: M. Gutjahr (Hg.), Bild und Klang. Zur Ambivalenz ästhetischer Relationen, Bielefeld 2018 (i. E.). 11 Vgl. U. Reißer, N. Wolf (Hg.), Kunst-Epochen. Bd. 12. 20. Jahrhundert, Stuttgart 2003, 109‒113 zu Yves Klein. 12 Vgl. W. Hess, Dokumente zum Verständnis moderner Malerei, Reinbek 1984, 80, 106 zu F. Marc und F. Léger. 13 R. Barthes, Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977‒1978, Frankfurt/M. 2005, 40. 14 J. Donzelot, L’invention du social, Paris 1984, 208; H. Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2004, 234; C. Butterwegge, B. Lösch, R. Ptak, Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 32017, 277. 15 Vgl. bspw. R. Zoll, Was ist Solidarität heute?, Frankfurt/M. 2000, 114, 118. 9
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Vorwort
lisierten Sprache, die unempfi ndlich macht16 , und mit einer »Zeit des Spektakels« (Guy Debord) den Kampf aufnehmen, die gerade durch ein Übermaß an Sichtbarkeit allzu viele(s) unsichtbar macht.17 Darunter Anteilslose, mit deren politischer Nichtexistenz sich nach der Überzeugung Jacques Rancières eine demokratische Sensibilität keinesfalls abfi nden kann bzw. darf.18 Aber können denn Anteilslose, die scheinbar nicht ›zählen‹, überhaupt sichtbar gemacht werden? Ist nicht jeder Andere, als Anderer, auch dem Erscheinen entzogen?19 Und verdient menschliche Sensibilität ihren Namen nicht erst dann, wenn sie sich dafür auch aufgeschlossen erweist und dabei ästhetisch oder ethisch einem Jenseits-des-Erscheinens auf die Spur kommt?20 Muss sie sich insofern – auch als politische – jeglicher ›restlosen‹ Integration oder Inklusion Anderer widersetzen? Genau das suggeriert ein Sensibilitätsdiskurs, in dem behauptet wird, wenn nicht moderne, so doch »postmodern sensibilities foster suspicion against totalizing frameworks« – auch gegen eine Ideologie der völligen Sichtbarkeit, sei es auch in virtuellen, algorithmisch rationalisierten Formen des Wissens.21 So redet man einer »sensiblen Passion der Differenz« 22 das Wort, die all dem verpfl ichtet zu sein scheint, was in dialektisierbaren Affi rmationen und Negationen nicht aufgeht und womöglich der »Zerrissenheit« überantwortet bleibt, statt sich versöhnen zu lassen.23 Ob es aufgrund solcher Passion möglich ist, »to re-shape our sen sibi lity« und zu einer wirklichen, weniger unsensiblen »transformation of our current form of life« zu gelangen, steht dahin.24 So sehr mit Recht, wie sich in den folgenden Arbeiten zeigen wird, einerseits speziell nach einer politischen Sensibilisierung unserer Lebensformen verlangt wird – nämlich überall dort, wo 16 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied, Berlin 1970, 212. 17 J. Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, 40 f. 18 J. Rancière, Politik der Bilder, Zürich, Berlin 2 2009. 19 P. Ricœur, Autrement. Lecture d’Autre ment qu’être ou au-delà de l’essence d’Emmanuel Levinas, Paris 1997; dt. Anders. Eine Lektüre von Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht von Emmanuel Levinas, Wien, Berlin 2015; D. Janicaud, La phénoménologie dans tous ses états, Paris 2009; ders., Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, Wien 2014. 20 E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, 49 f. 21 L. Boeve, Y. De Maeseneer, S. Van den Bossche (eds.), Religious Experience and Contemporary Theological Epistemology, Leuven 2005, 26; zum virtuellen Wissen vgl. S. Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifi zierung des Sozialen, Berlin 2017; Vf., »Das Soziale im Lichte radikaler Infragestellung. Zwischen uralter Sozialität, liens sociaux und Wiederkehr der ›sozialen Frage‹«, in: Philosophischer Literaturanzeiger 70, Nr. 4 (2017), 374‒404. 22 Zum páthos, zur Leidenschaft der Differenz und zur Sensibilität vgl. Barthes, Das Neutrum, 139 f. 23 G. Agamben, Der Mensch ohne Inhalt, Berlin 2012, 35, 38, 64, 73, 82. 24 C. Piazzesi, »What we talk about when we talk about emotions. Nietzsche’s critique of moral language as the shaping of a new ethical paradigm«, in: J. Constâncio, M. J. Mayer Branco (eds.), As the Spider spins. Essays on Nietzsche’s Critique and Use of Language, Boston, Berlin 2012, 129‒157, hier: 141, 155; J. Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2007, 47‒54.
Vorwort
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sie schmerzlich vermisst wird ‒, so sehr muss man andererseits doch bezweifeln, menschliche Sensibilität stehe uns praktisch ohne weiteres zu Gebote. Ohne gleich ein abschließendes Urteil in dieser Angelegenheit anzustreben, erkunden die hier versammelten Beiträge zunächst einmal das begriff s- und ideengeschichtlich komplizierte und politisch außerordentlich brisante thematische Feld mit der – zugegebenermaßen vagen – Aussicht, einer ästhetisch, ethisch und politisch sensibilisierten Vernunft zuzuarbeiten. Sie gehen auf eine im Jahre 2015 in Verbindung mit der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft ergriffene Projektinitiative des Herausgebers zurück. Maria Moog-Grünewald hat diese Initiative von Anfang an freundlich unterstützt, ebenso wie das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover eine Pilottagung zum Thema, die im April des Jahres 2017 in Hannover stattgefunden hat. Allen Beiträgerinnen und Autoren sei an dieser Stelle für ihre konzentrierten Beiträge sowie für ihre Geduld mit dem Fortgang des Projekts und Marcel Simon-Gadhof sowie Axel Kopido stellvertretend für den Felix MeinerVerlag für die ausgezeichnete Zusammenarbeit herzlich gedankt – in der Hoff nung, dass dieser Band eine nachhaltige Diskussion bereichern wird. Burkhard Liebsch
Fbr., im Juli 2018
Ästhetisch, ethisch und politisch sensibilisierte Vernunft? Einleitung in historischer Perspektive Burkhard Liebsch
»Unsere heutige Sensibilität« lässt ›uns‹ den Säuglingsmord ebenso verabscheuen wie die Folter, den Genozid und jegliche Diskriminierung ‒ oder?1 ›Uns‹, versteht sich, die als »Men schen von der richtigen Sorte« 2 auf der ›richtigen Seite‹ dieses unerhörten Fortschritts zu stehen scheinen.3 Hat nicht ein »tief greifender Wandel der Sensibilität« dahin geführt, dass »nirgendwo in Europa mehr eine Menschenmenge zur Gewalt aufrufen« wird, von einigen peinlichen, offenbar moralisch rückständigen Ausnahmen abgesehen, die man als »Mob«, »Pöbel« oder »Extremisten« abtut?4 Sind ›wir‹ nicht eine bewundernswert sensible Spezies geworden, weit sensibler als alle früheren oder rezente ›subhuma ne‹ Lebewesen 5, so überraschend deren neuerdings nachgewiesene Sinnesleistungen auch erscheinen mögen, die alles in den Schatten stellen, was ›wir‹ mit fünf bis sieben Sinnen zu leisten vermögen? Sind ›wir‹ in Europa nicht »immer sensibler für die Belange der menschlichen Persön lichkeit« geworden, wie schon Emile Durkheim in seiner Physik der Sitten und des Rechts (1896 ff.) meinte feststellen zu können?6 Und hat sich nicht zumindest im sogenannten Westen eine ästhetische, ethische und politische Sen sibi lität ‒ »fi nely tuned to all the nuances of despair« 7 ‒ ausgebildet, nach deren Vorbild man daran gehen könnte, Fremde in ein zunehmend inklusives ›Wir‹ einzugemeinden, das vom originären »westeuropäischen Epi zentrum« 8 vielfältigster Sensibilisierungen zur Peripherie stetig voranzuschreiten scheint, um den »Rest der Welt« nach und nach ganz zu erfassen? So fragen drei Ameri ka ner ‒ Steven Pinker in seiner Gewaltgeschichte, Richard Rorty in seiner Lobrede weltweiter Solidarisierung und Francis Fu kuyama in seiner Philosophie »posthumaner Zukunft« ‒ weit gehend gleichsinnig, wie es scheint. Diesseits des Atlantiks ist man sich in allen diesen Hinsichten weit weniger sicher. Mehr noch: diese rhetorischen Fragen wirken in historischer Perspektive als geradezu anmaßend, instinktlos und insoS. Pinker, Gewalt, Frankfurt/M. 2013, 57, 59, 980. R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992, 306 ff. 3 Im Gegensatz zu Individuen wie Erich v. Ludendorff , dem Apologeten des absoluten Krieges, dem Herfried Münkler jegliche Sensibilität abspricht; H. Münkler, Der grosse Krieg. Die Welt 1914‒1918, Reinbek 2015, 663, 705. 4 P. Collier, Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen, München 2014, 255. 5 F. Fukuyama, Das Ende des Menschen, München 2004, 201, 203. 6 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, Frankfurt/M. 1991, 100. 7 M. Walzer, Just and unjust wars, New York 42006, 109 f. 8 Pinker, Gewalt, 142. 1 2
ZÄK-Sonderheft 17 · © Felix Meiner Verlag 2018 · ISBN 978-3-7873-3544-2
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fern unsensibel. Möglicherweise deshalb, weil die europäische und amerikanische Gewaltgeschichte gerade die zur Diskussion stehende Sensibilität radikal in Zweifel gezogen hat.9 Wie konnten die amerikanischen Optimisten das vergessen? Ist ihr Reden in der ersten Person Plural wirklich gerechtfertigt?10 Wer ist ›wir‹ ‒ und wer ist überhaupt dazu befugt, sich im Namen einer entsprechenden historischen Identität zu äußern?11 Zeichnet ›uns‹ ‒ wenn schon nicht im Westen generell, so doch wenigstens in Europa ‒ Sensibilität aus?12 Und handelt es sich um eine Art Exportartikel, der anderswo als attraktiv erscheinen könnte ‒ ungeachtet aller Gewalt, die von Europa und den USA ausgegangen ist und weiterhin ausgeht, wenn auch vielfach in subtileren Formen als denen des klassischen Krieges, ja sogar in der philosophischen Begriffl ichkeit selbst, die man sich im sogenannten Abendland so gern zugute hält, als würde es sich um ein identitäres Besitztum handeln? Oder ist gerade der ›westlichen‹ »Kultur des Wohlergehens« zur Last zu legen, dass sie »uns unsensibel [macht] für die Schreie der anderen« und zu einer adiaphorisierten und anästhetischen Gleichgültigkeit beiträgt, wie Papst Franziskus vermutete?13 Äußert sich darin nur das diff use Schuldbewusst sein einer Kultur, die engstens mit einer weiterhin aufrecht erhaltenen, de-mora lisier ten kapitalistischen Ökonomie verflochten ist und sich nicht von ihr emanzipieren kann? Fügt sich die Rede von Sen sibilität so gesehen in eine kritikwürdige »Ideologie des Sozialen« ein?14 Läuft andererseits eine moralistische Kritik jeglicher Gleichgültigkeit nicht allzu leicht auf eine Maßlosig keit hinaus, die ihrerseits für ihr eigentliches Anliegen desensibilisierende Folgen nach sich ziehen kann?15 In seinen an ein fragwürdiges joint venture erinnernden Reflexionen unter dem Titel Philosophie & die Zukunft verzichtet Rorty ausdrücklich darauf, den Begriff Vgl. D. Losurdo, Das 20. Jahrhundert begreifen, Köln 2013. Überlegt Rorty selbst mit Michel Foucault in: Kontingenz, Ironie und Solidarität, 115. 11 Vf., »Westliche ›Gemeinschaft‹ im Zeichen der Gewalt? Richard Rorty, Charles Taylor und die neueste transatlantische Säkularisierungskritik«, in: Sociologia Internationalis. Europäische Zeit schrift für Kulturforschung 53, Heft 1 (2015), 61‒82. 12 U. Beck und E. Grande bejahen das in ihrem Buch Das kosmopolitische Europa, Frankfurt/M. 2007. Durch »kosmopolitische Sensibilität für die Anerkennung der Andersheit des Anderen« könne »Eu ropa europäischer« werden, heißt es hier (274) ‒ offenbar in der Annahme, diese Sensibilität zeich ne ›uns‹ ungeachtet ihrer ›weltweiten‹ Dimension aus. Dabei wird ›Andersheit‹ wie bei diesen Autoren vielfach (wie in der bekannten »Politik der Differenz« auf der Spur von Georg Simmels Rede von »Unterschiedswesen«) lediglich als komparative Verschiedenheit begriffen, nicht als radikale Alterität und Fremdheit, was die fragliche Sensibilität wiederum sehr in Frage stellt. 13 Zit. n. Z. Bauman, Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, Berlin 22016, 26. 14 F. Fischbach, Manifest für eine Sozialphilosophie, Bielefeld 2015, 96, 100. 15 Bauman liefert selbst ein Beispiel für die angedeutete Konsequenz, wo er nach dem Vorbild von Levi nas einer »absoluten« moralischen Verantwortung das Wort redet und glauben macht, sie sei »eindeutig unvereinbar« mit jeglicher Tendenz, »die moralische Verantwortung für andere an irgendwelchen zwi schen ›uns‹ und ›denen‹ gezogenen Grenzen enden zu lassen« (Die Angst, 81). 9
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Ästhetisch, ethisch und politisch sensibilisierte Vernunft?
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der Sensibilität noch auf die seines Erachtens seit Georg W. F. Hegel und Charles Darwin fruchtlos gewordene anthropologische Frage zu beziehen, »Was ist der Mensch?« Statt dessen fordert er da zu auf, sich mit Friedrich Nietzsche und Michel Foucault darauf zu besinnen, was wir »aus uns zu machen« versuchen könnten16 ‒ wir, die wir uns zumindest noch provisorisch als Menschen ver stehen; und das heißt, seitdem die Moderne angebrochen ist und solange sie in dieser Hinsicht noch nicht als ›überholt‹ gelten kann: als radikal verzeitlichte Wesen, denen nunmehr allerdings alles Wesentliche zu fehlen scheint.17 Was bedeutet das für die ›uns‹ attestierte Sensibilität? Löst sich jeglicher nicht-äquivoke Sinn dieses Begriff s nun in einer rück haltlos kontingenten Geschichtlichkeit auf, so dass ›menschliche‹ Sensibilität kaum mehr als irgendwie ›gegebene‹ vorauszusetzen ist? Von Aristoteles bis hin zur neuzeitlichen Auf klärung wird ›der‹ Mensch als weitgehend unveränderliches, konstantes Wesen gedacht − als ein Seiendes, das ein für allemal ›von Natur aus‹ mit der Befähigung zur Wahrnehmung (aísthēsis), zu sprachlichem und vernünftigem Ausdruck begabt ist, in dem man den Sinn seiner Existenz als eines besonderen Lebewesens (zôon logon échon) zu fi nden meinte. So enthüllt die Archäologie dieses Wesens die Teleologie seiner natürlichen Bestimmung zur Vernunft. In der frühen Neuzeit beginnt sich diese Verknüpfung jedoch aufzulösen. Vor allem bei Thomas Hobbes tritt an die Stelle einer natürlichen Teleologie des Menschen angesichts der Gewaltverhältnisse des 16. Jahrhunderts ein rückhaltloses Einander-ausgesetzt-sein im Zeichen der Furcht vor dem Anderen. Auch Hobbes aber glaubt nur das natürliche Sosein des Menschen zu beschreiben. Wie er als Übersetzer von Thukydides’ Schrift Der Peloponnesische Krieg wusste, ist dieses Sosein zwar ständig einer kontingenten Geschichte ausgesetzt; aber diese vermag nichts am Eidos des Menschen zu ändern. Dagegen begreifen es bereits die Denker der Renaissance bis hin zu Michel de Montaigne als einer nicht zu beherrschenden fragilitas, diversitas, Kontingenz, Andersheit und unauf hörlichen Alteration durch Unabsehbares ausgeliefert.18 Demnach kann jeder im nächsten Moment bereits zu einem Anderen werden. So macht sich ein »Telosschwund«19 bemerkbar, der im 18. Jahrhundert in die These mündet, der Mensch sei »von Natur aus nichts« (August L. Schlözer), so dass sich Andere dazu ermächtigt sehen können, alles Mög liche aus ihm zu machen.20 Von Christoph M. Wieland über Johann G. Herder, Claude A. Helvétius und Jean-Jacques Rousseau bis hin zu Johann F. Herbart und zur Anthropologie des 20. Jahrhunderts versucht man die Konsequenzen dieser Deteleologisierung zu bewältigen und pädagogisch zu nutzen.21 Als »erstem FreiR. Rorty, Philosophie & die Zukunft, Frankfurt/M. 22001, 14. H. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, Frankfurt/M. 2006, 260 f. 18 T. Leinkauf, Grundriss. Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350‒1600), Bd. 1, Hamburg 2017, 52, 55. 19 H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt/M. 21983; A. Heller, Der Mensch der Renaissance, Köln-Lövenich 1982, 430 ff. 20 G. Buck, Rückwege aus der Entfremdung, Paderborn, München 1984. 21 G. Buck, »Selbsterhaltung und Historizität«, in: H. Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbster16 17
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gelassenen der Schöpfung« (Herder), als unbestimmt »per fektiblem« Lebewesen (Rousseau) und »instinktentsichertem Tier« (Arnold Gehlen) steht dem Men schen demnach alles offen, was er aus sich machen kann bzw. was Andere aus ihm machen können − vielleicht sogar ganz und gar »artifi zielle« Menschen, wie bereits Rousseau erwägt. Die seit dem 18. Jahrhundert explizit mit systematischem Anspruch als solche auf tretende Anthropologie muss das freilich als rhetorische Übertreibung zurückweisen. Jeder Ver such, aus Menschen etwas zu machen, setzt deren Beeinflussbarkeit voraus und muss in sofern an ihre natürliche Ausstattung anknüpfen, wie auch immer man sie umgestalten will. Von John Lockes Empirismus über Étienne de Condillacs Sensualismus und Immanuel Kants Bestimmung der Endlichkeit und Passibilität des Menschen, die darin liegt, dass er auf Material angewiesen ist, das ihm ›gegeben‹ werden muss und das er sich nicht selbst verschaffen kann 22 , wenn er etwas erfahren will, bis hin zu Hegels Enzyklopädie fragt man sich in diesem Sinne: womit fängt men sch liches Leben an?23 Wenigstens mit einem Zustand der Irritierbarkeit, der Reizbarkeit und der Sensibilität bzw. der Sensibilisierbarkeit 24, antworten die Anthropologen der Auf klärung mit Francis Glisson, Albrecht v. Haller u. a.25 So wird eine ›Anthropologie von unten‹, die bei den elementarsten Formen der Empfi ndung, der Wahrnehmung und der Empfänglichkeit für Anderes ansetzt, für alle Versuche maßgeblich, aus Menschen etwas zu machen, was sie nicht schon von Natur aus sind. Das gilt auch dort, wo man der menschlichen Natur mit Herder und Wilhelm v. Humboldt noch ein Prinzip der (Selbst-) Bildung zuschreibt, die dazu in der Lage sein sollte, durch eine epigenetische Produktivität höhere Formen des Selbstseins aus sich heraus hervorzubringen.26 Besonders die an der zunächst weitgehend staatskonformen Stimulierbarkeit, Disziplinierung, Zivilisierung und Rationalisierung Anderer interessierte Pädagogik 27 wirft die Frage auf, wie Sensibilität und Bildungstrieb (nisus formativus), die haltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt/M. 1987, 208‒302. 22 J.-F. Lyotard, Das Inhumane, Wien 32006, 128 ff . 23 E. Cassirer, Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932; P. Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986; M. Sommer, Evidenz im Augenblick, Frankfurt/M. 1987. 24 F. Baasner, »Sensibilité«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Darmstadt 1971 ff., 609 ff.; M. Fontius, »Sensibilität/Empfi ndsamkeit/Sentimentalität«, in: K. Barck et al. (Hg.), Handbuch ästhetischer Grundbegriff e, Bd. 5, Stuttgart 2003, 487‒508; zu Hegel vgl. M. Riedel, Theorie und Praxis im Denken Hegels [1960], Frankfurt/M., Berlin, Wien 1976, 20, 48. Hier geht es um Sensibilität im Kontext einer Theorie der Subjektivität, die sich zu Anderem verhält. 25 A. v. Haller, Essai sur les parties irritables et sensibles du corps animal, Lausanne 1753; vgl. zu Haller und Glisson J. Starobinski, Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffspaares, Frankfurt/M. 2003, 106 f. 26 G. Canguilhem et al., »Histoire de la biologie. Du développement à l’évolution au XIXe siècle«, in: Thalès, t. XI, Paris 1962, 3‒63; Vf., Spuren einer anderen Natur. Piaget, Merleau-Ponty und die ontogenetischen Prozesse, München 1992; H. Müller-Sievers, Epigenesis. Natur philosophie im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts, Paderborn 1993. 27 Zweifellos greift sie auf eine lange Vorgeschichte zurück − von Aristoteles’ ethischen und
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Empf änglichkeit für fremde Einflüsse und ihre richtige teleonome Ausrichtung zusammen gehen können.28 Dabei sieht sie sich mehr und mehr dazu gezwungen, auch einer pathogenen Erregbarkeit 29, dysteleologischen Ausartungen des Bildungstriebs30 und nervösen Überreizungen 31 Rechnung zu tragen. Man weiß, dass die kindliche Seele der Stimulation und der »Sensation« bedarf; und man will ihr Interesse und ihre Neugier auf diesem Wege »wecken«. Aber ob das so geschehen kann, dass ihre pädagogisch gewollte Sensibilisierung nicht in eine überforderte und teleologisch desorientierte Pathologie umschlägt, wird zu einem Kernproblem eines patho-pädagogischen Diskurses32 , der darum kämpft, die stimulierte Sensibilität des Einzelnen durch »Regel mä ßigkeit und Ordnung« in Schach zu halten, der sich aber zugleich − bis heute − immer mehr dazu gezwungen sieht, mit einer Temporalisierung der Lebensverhält nisse Schritt zu halten, die sich mit einem bloß konservativen Ordnungsverständnis kaum mehr vereinbaren lässt.33 Ein solches Ordnungsverständnis ist bereits im 18. Jahrhundert von mehreren Seiten her fragwürdig geworden: (a) durch den besonders von den schottischen Theoreti kern des moral sense angeregten Diskurs über das Mitleid (pity; pitié)34, der den Nächsten wiederzuentdecken beginnt, der jeder Andere sein kann 35, wie es schon das Sa maritergleichnis gelehrt hatte; und (b) durch die bürgerliche Kultur individueller Empfindsamkeit 36, die (c) in der Apologie des Sentimentalischen zur Zeit der Romantik dia noeti schen Tugenden über die courtoisie und gemäßigte Formen des Umgangs mit Anderen (bei Erasmus v. Rotterdam), die mehr oder weniger auf sie Rücksicht nehmen sollen, bis hin zur von Norbert Elias entfalteten Zivilisationstheorie. Jedoch spielt der Begriff der Sensibilität hier noch keine herausragende Rolle; vgl. G. Weise, »Der Humanismus und das Prinzip der klassischen Geisteshaltung«, in: A. Buck (Hg.), Zu Begriff und Problem der Renaissance, Darmstadt 1969, 280‒325. 28 H. C. Schwarz , Erziehungslehre, Leipzig 1802, 199 f., 210. 29 J. Paul, Levana, Bad Heilbrunn 1963, 31. 30 B. G. Denzel, Einleitung in die Erziehungs- und Unterrichtslehre für Volksschullehrer, Stuttgart 1825, 52, 130 ff. 31 F. E. Beneke, Erziehungs- und Unterrichtslehre, Berlin 41876, 53 ff., 78. 32 Denzel, Einleitung, 130 ff .; L. Strümpell, Die Pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern der Kinder. Versuch einer Grundlegung für gebildete Ältern, Studierende der Pädagogik, Lehrer, sowie für Schulbehörden und Kinderärzte, Leipzig 1890, 227, 186; ders., Die Pädagogische Pathologie, Leipzig 41890. 33 H. Rosa, Beschleunigung. Veränderte Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 2005; A. Reck witz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, 106, 213, 222 (hier ist auch von »radikaler Sensibilisierung« die Rede). 34 K. Hamburger, Das Mitleid, Stuttgart 1985; J. Wilson, Moral Sense, New York 1993. 35 J. Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/M. 1990, 94 f.; D. Levy, N. Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter, Frank furt/M. 2001, 111; Vf., Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung, Weilerswist 2008. 36 L. Pikulik, »Bürgerliches Trauerspiel« und Empfi nd sam keit, Köln, Wien 1981; L. Müller, »Herzblut und Maskenspiel. Über die empfi ndsame Seele, den Briefroman und das Papier«, in: G. Jüttemann, M. Sontag, C. Wulf (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Weinheim 1991, 267‒290.
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schließlich in eine außer-ordentliche Sensibilität übergeht, welche sich in überhaupt kei ner sozialen, moralischen, politischen oder ästhetischen Ordnung mehr bändigen lässt und im Verdacht steht, ins Pathologische, Dekadente und Außer-Moralische auszuscheren.37 So kommt eine soziale, individualisierte und außer-ordentliche Sensibilität zur Geltung, die sich nicht länger auf eine ›natürliche‹ menschliche Ausstattung reduzieren lässt, insofern sie überhaupt erst auf dem Weg einer progressiven, weder archäologisch noch teleologisch vorweg bestimmten Sensibilisierung gezeitigt wird. Schon im 18. Jahrhundert ist man einer unvorhergesehenen »neuen Reizbarkeit« auf der Spur 38, die sich allerdings weder von der Empfi ndlichkeit noch von der Empfi ndsamkeit 39, weder von der Rührung noch von einer ›kultivierten‹ Sensibilität klar abgrenzen ließ, um die sich geradezu ein hype ausbildete, der sogar die Henker seinerzeit dazu veranlasste, sich über regelrechte Epidemien der sensibilité zu beklagen.40 Wenig später schien deren Energie bereits völlig erlahmt zu sein.41 Vielleicht gerade deshalb spekulierte Nietzsche über die Notwendigkeit der Er findung einer »neue[n] Gattung von Lebensreizen«.42 Paul Valéry, der wie kein anFür Novalis wäre das kein Vorwurf gewesen, stand für ihn doch die Abgrenzung von Normalität und Pathologie ihrerseits in Frage. So spricht er von »erhöhter Sens[ibilität], die in höhere Kräfte übergehen will«; Schriften III, Stuttgart 1960 ff., 436; R. Huch, Die Romantik. Erster Teil: Blütezeit der Romantik [1902], 142 ff.; Zweiter Teil: Ausbreitung und Verfall der Romantik [1908], Leipzig 1924, 65, 88; M. Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, Frankfurt/M. 1989; E. J. Koehn, D. Schmidt, J.-G. Schülein, J. Weiß, P. Wojcik (Hg.), Andersheit um 1800. Figuren – Theorien – Darstellungsformen, München 2011. Zum fraglichen Zusammenhang von Dekadenz, Moralität und Sensibilität vgl. J. Sänger, Aspekte dekadenter Sensibilität. J.-K. Huysmans’ Werk von »Le Drageoir aux épices« bis zu »A rebours«, Frankfurt/M., Bern, Las Vegas 1978, 16 ff., 36, 167, 183; K. H. Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik in Ernst Jüngers Frühwerk, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1983, 241 f., 273, 434, 452. Selbst im Fall ›dekadenter‹ Sensibilität geht es keineswegs nur um Exaltationen des Morbiden etwa, sondern darum, für die Brüche einer Normalität zu sensibilisieren, die alsbald in einen veritablen Welt-Krieg und in eine ›Verlassenheit‹ münden sollte, ohne deren Vorahnung die ästhetische Kultur des fin de siècle gar nicht zu verstehen ist. Vgl. W. Haft mann, Malerei im 20 Jahrhundert 1. Eine Entwicklungsgeschichte [1954], München 61979, 75, 82, 97, 186; V. Jankélévitch, »Austerität und Dekadenz« [1956], in: ders., Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie, Frankfurt/M. 2004, 186‒239. 38 G. Forster, »Das Glück der Menschheit« [1794], in: Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit, Frankfurt/M. 1967, 139‒169. 39 Kant subsumiert beides in seiner Anthropologie unter die Erfahrung, »sich affi ziert zu fühlen« ‒ was umso weniger lehre, je stärker es ausfalle. Je »empf änglicher« jemand sei, desto unglücklicher müs se er werden, es sei denn, dem widersetzt sich eine »Empfi ndungsf ähigkeit aus Stärke (sensibi litas sthenica)« (=Empfi ndsamkeit), im Gegensatz zu einer »Empfi ndsamkeit […] aus Schwäche des Subjekts, dem Eindringen der Sinneneinflüsse ins Bewußtsein nicht hinreichend widerstehen zu können, d. i. wider Willen darauf zu attendieren« (=»zärtliche Empfi ndlichkeit [sensibilitas asthenica]«). I. Kant, »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: Werkausgabe Bd. XII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, 395‒690, hier: 452. 40 M. Schmoeckel, Humanität und Staatsraison. Die Abschaff ung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln 2000, 480. 41 I. Bostridge, Schubert’s Winter Journey. Anatomy of an Obsession, London 2015, 86. 42 Vgl. H. Blu menberg, Begriff e in Geschichten, Frank furt/M. 1998, 111 ff . 37
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derer neuartige Spiel räume menschlicher Sen sibilität kulturkritisch bedacht hat43, erwog schließlich Perspektiven ei ner umfassenden menschlichen Sensibilität, die zu sich selbst und von jeglicher teleologischen Bevormundung »befreit« wäre. Dabei glaubte er, sich mittels seiner Gegen-Sensibilität einer gefährlich abgestumpf ten Sensibilität widersetzen zu müssen, um einer Geschichte widerstehen zu können, von der er befürchtete, sie werde jegliche menschliche Sensibilität in der Sensation liquidieren.44 In seiner Bilanz der Intelligenz (1935) diagnostiziert er eine enorme Beschleu nigung der modernen Lebensverhältnisse, die zu einer durchgreifenden Beschädigung menschlicher Sensibilität führen müsse.45 Eine Temporalisierung, die jede menschliche Aufnahmefähigkeit überfordere, führe zu einer Art schleichender Intoxikation und süchtiger Abhängigkeit von immer neuen Ereignissen, gegen die energische Maßnahmen zu ergreifen seien – bis hin zu konsequentem »Abweisen aller dieser Empfi ndungen«, die »gewalttätig aus dem modernen Leben auf uns eindrängen«.46 Dabei hatte Valéry selbst eine generelle »Abnahme der Sensibilität« in Folge ihrer ständigen Überforderung festgestellt.47 Speziell diesen Aspekt würde Valéry gewiss in heutiger Medienkritik nachhaltig bestätigt sehen, in der von einem ständigen »Anschlag auf die Sensibilität«48 von Zuschauern die Rede ist, die über große Distanzen hinweg zu Zeitgenossen und Zeugen ärgster Gewalt werden49 und durch eine vom »Spektakulären« beherrschtes Übermaß an Bildlichkeit, durch »falsche Offensichtlichkeiten« und immer neuen Appell an ihre Empörungsbereitschaft ästhetisch-politisch bis zur Abstumpfung desensibilisiert zu werden drohen.50 Scheinbar bereits ganz auf der Linie dieser Kritik verlangte Valéry nach einer vor Sensationen sich geradezu in Acht nehmenden, reservierten, diszipli nier ten Sensibilität für Unscheinbares, Unspektakuläres, dennoch Verheißungsvolles als Versprechen wirklicher Er fahrung. So setzt er die Sensibilität dem Sensationellen nachträglich polemisch entgegen. »Man muss sich eine ziemlich subtile Empfi ndlichkeit [sensibilité] verschaffen, um zu wider stehen.« 51 So tritt Valéry für eine sensibilisierte Vernunft ein ‒ ungeachtet seines Cartesianismus, der in den Worten des Auf klärers Jakob M. R. Lenz die Frage nahegelegt hatte, ob es nicht »immer unser Geist [ist], der bewegt wird, entfl ammt, entzückt, über
P. Valéry, Cahiers/Hefte. Bd. 1‒6, Frankfurt/M. 1988 ff. Vgl. Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, 109 ff. 45 P. Valéry, Werke, Bd. 7. Zur Zeitgeschichte und Politik, Frankfurt/M. 1995, 105, 110 ff . 46 Ebd., 366. 47 Ebd., 118. 48 S. Sontag, Regarding the Pain of Others, New York 2003, 45, 106. 49 G. Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007. 50 J. Rancière, Der emanzipier te Zuschauer, Wien 2009, 101‒123. 51 Vgl. K. Löwith, Paul Valéry, Göttingen 1971, 98 f. Löwith ist einer der ganz wenigen Philosophen, die Valéry diesseits des Rheins ausführlich gewürdigt haben. Vgl. C. H. Buchner, E. Köhn, »Paul Va lérys Phänomenologie der Moderne und ihre Rezeption in Deutschland«, in: dies. (Hg.), Herausforderung der Moderne. Annäherungen an Paul Valéry, Frankfurt/M. 1991, 9‒98. 43
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seine Sphäre hinausgehoben ‒ nicht der Körper mit samt seiner Sensibilité, mag sie auch noch so fein und subtil seyn als sie wolle«.52 Valérys Poetik und kulturkritische Schriften sensibilisieren ihrerseits für die Frage, was auf dem Spiel steht, wenn menschlicher Sensibilität derart durch ›Sensationen‹ zugesetzt wird. Keineswegs nehmen sie dabei menschliche Sensibilität einfach als biologischen, physiologischen, psychologischen, sozialen oder kulturkritischen Befund in Anspruch. Sie zwingen vielmehr da zu, im unübersichtlichen Gelände heterogener Bedeutungen, die der Begriff der Sensibilität spätestens seit dem 18. Jahrhundert mit sich führt, heuristisch, zum Zweck erster Orientierung, deutlich zu unterscheiden, wovon die Rede ist: (1) Sensibilität zählt wie Irritabi lität und Reizbarkeit zu den »ersten Bestimmungen der Lebendigkeit« 53, aus deren primärer Sensibilisierbarkeit auf unvorhersehbare Art und Weise epigenetisch neue Sensibilitäten her vorgehen können, die sich nicht nachträglich auf primitive Formen reduzieren lassen. In diesem Sinne mag menschliche Sensibilität tief verwurzelt sein in der Naturgeschichte, der sie aber nicht verhaftet bleiben muss. (2) Zu unterscheiden ist weiter eine pri märe, sensible Schicht der Erfahrung (die traditionell unter Obertiteln wie aísthēsis, Wahr neh mung und Sinnlichkeit zur Sprache gebracht wird 54) von moralischen, kognitiven, ästhetischen (z. T. synästhetisch miteinander assoziierten oder verflochtenen 55) Dimensionen der Sen sibilität sowie (3) von Bereichen, wo sie mehr oder weniger zum Tragen kommt (sittlicher Takt, feine Beobachtungsgabe, subtiler musikalischer Ausdruck, hermeneutisch-divinatorisches Gespür, historische Imagination etc.56); (4) zudem lässt sich mehr oder J. M. R. Lenz, »Meynungen eines Layen den Geistlichen zugeeignet«, in: G. Sauder (Hg.), Theorie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang, Stuttgart 2003, 96‒102, hier: 101. 53 Die »in sich selbst erzittert«, wie Hegel in der Wissenschaft der Logik schreibt; G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden (Hg. E. Modenhauer, K. M. Michel), Frankfurt/M. 1989, Bd. 6, 478 (vgl. § 354 in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften; Werke Bd. 9; Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, 203‒214). 54 Wie strittig die Deutung dieser Schicht nach wie vor ist, ist ohne weiteres am Diskurs über das Syn ästhetische zu erkennen. Alfred Vulpian hatte 1866 in seinen Leçons sur la physiologie générale et comparée du système nerveux den Begriff sensibilité réfl exe durch das neue Konzept der synesthésie erläutert (https://archive.org/stream/leonssurlaphys00vulp/leonssurlaphys00vulp_ djvu.txt; zum histori schen Kontext vgl. H. Adler, U. Zeuch [Hg.], Synästhesie. Interferenz ‒ Transfer ‒ Synthese der Sinne, Würzburg 2002). Aber seither herrscht keine Klarheit darüber, ob letzteres für außerge wöhnliche oder für mehr oder weniger normale Arten und Weisen intermodaler bzw. inter sensorischer Assoziationen, Kollisionen, Interferenzen, Kooperationen und Rückkoppelungen steht. Vgl. die Literaturhinweise d. Vf., »Multiple Chiasmen. Versuch einer kurzen Situationsbeschreibung ›moderner‹ Musik und Malerei zwischen Sicht- und Hörbarem, Sehen und Hören, Bild und Klang«, in: M. Gutjahr (Hg.), Bild und Klang. Zur Ambivalenz ästhetischer Relationen, Bielefeld (i. V.). 55 M. Gruß, Synästhesie als Diskurs. Eine Sehnsuchts- und Denkfi gur zwischen Kunst, Medien und Wissenschaft, Bielefeld 2017. 56 K. H. Bohrer, Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moder ne, Frankfurt/M. 1989, 306; J. Greisch, Hermeneutik und Metaphysik, München 1993, 131, und P. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 5, Frankfurt/M. 1975, 53, zur subtilitas. 52
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weniger sensible sinnliche Erfahrung den ken, die als sensibles Naturell oder Temperament ihre individuelle Ausprägung fi ndet; (5) aber im jeweiligen kulturellen und geschichtlichen Kontext, der, wie Valéry zeigt, zu einer nach haltigen Überforderung der Sensibilität in allen ihren Erscheinungsformen und zu einer Über- und DeSen sibi lisierung führen kann – speziell durch Temporalisierung der Lebensverhältnisse und deren immer neue ›Erschütterung‹ 57, durch ›spektakuläre‹ mediale Überstimulierung aller Wahrnehmungsvermögen sowie durch deren politische Instrumentalisierung.58 An dieser Stelle gewissermaßen klinisch von Überforderung und Überstimulierung zu sprechen legt wie schon der pathopädagogische Diskurs des 19. Jahrhunderts und die damaligen Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen der Nervosität und Neurasthenie nahe, es könne (6) normativ von pathogener bzw. normaler, nicht überforderter bzw. überfordernder Sensibilität die Rede sein.59 Wo sich aber die philosophische Anthropologie, die in erster Linie für eine normative Bestimmung dessen zuständig zu sein schien, was ›den‹ Menschen ausmacht, mit Max Scheler, Karl Löwith, Helmuth Plessner, Bernhard Groethuysen u. a. im 20. Jahrhundert rückblickend über ihre eigene geschichtliche Situation in der Moderne klar wird, ist es um das Vorurteil geschehen, ›der‹ Mensch sei durch eine weitgehend unveränderliche und nor mativ auszulegende Ausstattung bestimmt.60 Auch Historiker beginnen von Lucien Febvre über Philippe Ariès bis hin zu Alain Corbin den Menschen mitsamt der ihm zugesprochenen vielfältigen Sensibilitäten (!) entschieden zu historisieren.61 Ariès kommt dabei (1949) ähnlich wie schon Paul Valéry zu 57 Diese kann wortwörtlich Erdbeben (wie dasjenige von Lissabon im 18. Jahrhundert), Fluten und andere desaströse Naturprozesse (Vulkanismus) ebenso meinen wie eine ›ruinöse‹ Zerrüttung der politischen Verhältnisse, die manche, quasi ›telepathisch‹, ahnen, bevor sie zu Tage treten; vgl. H. Blu menberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1996, 475, 477. 58 D. h., dass sich menschliche Sensibilität zutiefst mit Lebensformen verknüpft erweist, die sich bis in (va riable) Schwellen der Empf änglichkeit für taktile, olfaktorische, akustische und andere Reize sowie bis in die Wahrnehmung von Licht und Dunkel hinein auswirken. Gesteigerte Sensibilität im Sinne der Anhebung oder Senkung von Scham- und Pein lich keitsschwel len, wie sie Norbert Elias und Hans Peter Duerr untersucht haben, lässt frei lich nicht auf einen höheren Grad der Zivilisiert- oder Kultiviert heit schließen. Schon diese wenigen Überlegungen zeigen, dass es kaum überzeugend wäre, wollte man von einer bis heute stetig zugenommenen oder auch pauschal von einer reduzierten, verküm merten Sen sibilität sprechen. 59 Vgl. G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische [1942], München 1974. 60 H. Plessner, »Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschicht lichen Weltansicht« [1931], in: Zwischen Philosophie und Gesellschaft, Frank furt/M. 1979, 276‒362; K. Löwith, »Die Einheit und die Verschiedenheit der Menschen« [1938], in: Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1981, 243‒258; O. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frank furt/M. 1982, 122‒144. 61 L. Febvre, »Sensibilität und Geschichte«, in: Das Gewissen des Historikers, Berlin 1988, 91‒108; A. Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin 1984; P. Ariès, Zeit und Geschichte, Frankfurt/M. 1988, 83, 103, 200; U. Raulff , »Die Annales E. S. C. und die Geschichte der Mentalitäten«, in: G. Jüttemann (Hg.), Die Geschichtlichkeit des Seelischen, Weinheim 1986, 145‒166.
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dem Befund einer massiven »Invasion der Technik in die Sensibilität«, die jegliche Illusion einer zeit- und geschichtsresistenten Beständigkeit ›des‹ Menschen zerstören müsse. Ariès spricht von einer »totalen Geschichte«, die »alles erfasst« habe 62 − bis hin zu einem »ungeheuerlichen Überfall der Geschichte auf den Menschen«, wie ihn für Ariès der Nationalsozialismus dargestellt hat.63 Diese Ausdrucksweise blendet allerdings aus, dass gerade im Vorfeld des Nationalsozialismus und des Faschismus eine zunächst vorwiegend verbal radikale, nicht von ›der Geschichte‹, sondern von geschichtlich Handelnden zu verantwortende Politik im Namen einer »absolut neuen«, »futuristischen Sensibilität« propagiert worden ist. Filippo Marinetti und seine Gefolgsleute, die sich kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges den italienischen Faschisten andienten, verwarfen nicht nur jegliche Romantik, jegliche Sentimentalität64 und jeglichen Schmerz, der sich an Verlust und Vergangenem entzündet 65; sie propagierten nicht nur die »Entmachtung der Toten« 66 , der Trauer um sie und des Erinnerns, sondern auch eine radikal umzugestaltende Sensibilität für Gewalt (durch die das enthusiastisch bejahte Neue herbeigeführt werden sollte), für Beschleunigungen aller Art und die Tech nik mit ihrem Lärm, die das Unmögliche möglich machen sollte. So hielten sie sich für »die Pri mitiven einer neuen, völlig verwandelten Sensibilität«, die in keiner Weise mehr mit dem zu überwindenden ›alten‹ Menschen verwandt sein sollte.67 Welche Mühe Ariès, Zeit und Geschichte, 245, 260. Ebd., 53, 56 ff. 64 Gegen deren übliche Abwertung wendet sich P. Fisher, »Abschied und Ruinen: Radikale Senti mentalität in Onkel Toms Hütte«, in: V. Bohn (Hg.), Romantik. Literatur und Philosophie. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt/M. 1987, 157‒182. 65 H. Schmidt-Bergmann, Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek 2009, 105. 66 Ebd., 175. 67 Ebd., 310. Ganz im Gegensatz zu einem ebenfalls »Primitiven einer neuen Sensibilität« wie Paul Klee, der auf die Reaktivierung eines ›ursprünglichen‹ Weltbezugs aus war. Gerade dieser aber wird als solcher von einer »modernen Sensibilität« erst wieder entdeckt und rehabilitiert ‒ weshalb Paul Cézanne eine »falsche«, »barbarische« Primitivität kritisiert, die das scheinbar leugnet; vgl. P. Cézanne, Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet. Briefe, Mittenwald 1980, 18, sowie die Hinweise auf jeweils in dieser Hinsicht ganz unterschiedlich gelagerte Fälle wie Pablo Picasso, Henri Rousseau, Paul Klee, Otto W. Schulze (Wols), Jackson Pollock, Willem de Kooning, Robert Motherwell und Franz Kline bei Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert 1, 196, 300, 307, 474, 486. Dieser Autor nimmt im Übrigen immerfort eine spezifi sch »moderne Sensibilität« für die von ihm historisch rekonstruierte Ma lerei in Anspruch und gibt sie als »unsere« aus. So würde jene (zuerst genannte) Sensibilität von einer ästhetischen Sensibilität zur Geltung gebracht, die wiederum als Sensibilität der Moderne für diese zu veranschlagen wäre. Dagegen spricht zwar, wie die ästhetische Sensibilität aus dem radikalen, von niemand anderem anzueignenden Ausgesetztsein der Künstler hervorgeht. Ironischerweise konnte aber gerade das zur außerordentlichen Herausforderung der Moderne werden, die ihr als nicht zu vereinnahmende innewohnt (vgl. ebd., 121, 477; sowie ders., Der Mensch und seine Bilder. Aufsätze und Reden zur Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln 1980, 14, 185; Skizzenbuch. Zur Kultur der Gegenwart, München 1960, 46 ff., 118.) Haftmann spricht mehrfach von »antwortender« Sensibilität im Hinblick auf das ästhetisch Herausfordernde als eigentlicher Angelegenheit der Kunst, die er aber in einen polemischen Gegensatz zum Politischen bringt. So hat es den Anschein, als könne ästhetische 62
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man mit dieser neuen Primitivität haben würde, darauf wirft die berüchtigte erste Posener Rede Hein rich Himmlers ein bezeichnendes Schlaglicht, in der er freimütig eingestand, angesichts von 100, 500 oder auch 1000 Leichen68 sei die Übelkeit − laut Günter Anders in diesem Fall das »letzte Residuum der Gesittung« 69 − nicht leicht in den Griff zu bekommen. Zweifellos können der Futurismus, der Faschismus und der Nationalsozialismus als (im negativen Sinne) ›herausragende‹ Projekte einer revolutionären Umgestaltung der menschlichen Sensibilität verstanden werden, die bis heute die dreifache Frage auf werfen, (a) ob der verlangten ›neuen‹ Sensibilität einfach eine ›alte‹ (wirklich oder vermeintlich überwundene) Sensibilität entgegenzusetzen ist; (b) ob der kollektiven Gewalt, die man offen propagiert hat, sowie bestimmten Techniken politischer Herrschaft die menschliche Sensibilität überhaupt zu Gebote steht; und (c) ob womöglich gerade letztere der propagierten Gewalt einen unüberwindlichen Widerstand entgegensetzt. Das ist explizit die Position von Emmanuel Levinas, in dessen Werk eine der europäischen Gewaltgeschichte entgegengehaltene Sensibilität als absolut unverfügbar beschrieben wird.70 Dabei denkt Levinas weder ›anthropologisch‹ noch ›ontologisch‹, was ›den‹ Menschen als ›sensibles Wesen‹ oder sein ›Vermögen, affiziert zu werden‹, ausmacht.71 Vielmehr will er zeigen, wie wir durch den Anspruch des Anderen zu einem ethischen Leben »für den Anderen, für alle Anderen« bestimmt werden.72 Eben dieses ›Bestimmtwerden‹ einer passionierten, vom Anderen ins Leben gerufenen Freiheit manifestiere sich als Sensibilität, die gewissermaßen das ethische Vorzeichen markiert, unter dem auch die Vernunft von Anfang an steht.73 Zwar rekur riert Levinas, um das zu zeigen, mit Franz Rosenzweig auf älteste, biblische Quellen. Doch situiert er sein Denken zugleich im historischen Kontext der »unvergessliche[n] Erfahrung der Fragilität der Vernunft«, die wir totalitärer Gewalt zu verdanken haben, wie sie im 20. Jahrhundert zum Vorschein gekommen ist. »Vielleicht«, gibt Levinas zu bedenken, »war das die Geburt einen neuen Sensibilität« ‒ allerdings nicht einer »Sensibilität Europas«, die es seit jeher ausgemacht Sensibilität allenfalls anti-politisch wirksam werden, nicht aber so, dass sie in das Politische selbst hineinwirkt. 68 https://de.wikipedia.org/wiki/Posener_Reden#cite_note-17 69 G. Anders, Wir Eichmannsöhne. Off ener Brief an Klaus Eichmann, München 21988, 39. 70 E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht [1978], Freiburg i. Br., München 1992; ders., »De la sensibilité«, in: Hors sujet, Paris 1987, 162‒171. Vgl. dazu die energischen methodologischen Einwände, die Dominique Janicaud vorgebracht hat: D. Janicaud et al., Phenomenology and the »Theological Turn«. The French Debate, New York 2000, 39 ff.; ders., Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, Wien 2014. 71 R. Barthes, Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977‒1978, Frankfurt/M. 2005, 140. 72 Levinas, Jenseits des Seins, 149. 73 Zur passionierten Freiheit vgl. Vf., Unaufhebbare Gewalt. Umrisse einer Anti-Geschichte des Politischen. Leipziger Vorlesungen zur Politischen Theorie und Sozialphilosophie, Weilerswist 2015, Kap. IX.
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hat, wie manche meinen.74 Hier ist von menschlicher Sensibilität nicht als etwas anthropologisch bzw. ontologisch ›Gegebenem‹ oder einfach Vorauszusetzendem, sondern gerade in Anbetracht ihrer radikal sten Infragestellung durch menschliche, politische oder anti-politische Gewalt die Rede. Wie, das ist nur zu verstehen, wenn man das Auf kommen des ›anthropologischen‹, cartesianisch geprägten Diskurses in der Auf klärung, dessen ontologische Kritik vor allem im Werk Martin Heideggers und die ethische Kritik in Rechnung stellt, die letzteres im historischeuropäi schen Kontext durch eine ihrerseits historisierte Sozialphilosophie75 namentlich im Werk von Emmanuel Levinas erfahren hat. In keinem anderen Werk der Philosophie der Moderne kommt menschlicher Sensibilität eine vergleichbar zentrale Stellung zu; aber so, dass wir gezwungen sind, diesen in seiner ethischen Interpretation überaus befremdlichen Begriff mit einer vielf ältigen Vorgeschichte zu vermitteln, die von anthropologischen Beschreibungen einer natürlichen, nicht mehr teleologisch aufgefassten Ausstattung des Menschen über Versuche ihrer pädagogischen Zurichtung und ihre außerordentliche, romantische und individualistische Steiger ung bis hin zu ihrer vieldimensionalen Ausdifferenzierung und Auslieferung an Geschichte, Technik und Politik radikale Zweifel daran weckt, ob sich überhaupt noch angeben lässt, was ›uns‹ als sensible Wesen menschlich ausmacht oder ausmachen müsste. Dabei gerät Levinas in Konfl ikt mit einer philosophischen Aisthesiologie, die − sei es mit Helmuth Plessner, sei es von Edmund Husserls »Logos der ästhetischen Welt« aus − von Maurice Merleau-Ponty über Bernhard Waldenfels bis hin zu Gottfried Boehm76 eine rein ethische Deutung der Sensibilität im Zeichen des Anderen zurückweist, wie sie Levinas nahelegt.77 Zum anderen gerät diese Position dort, wo sie die Unverfügbarkeit 78 menschlicher Sensibilität als Sensibilität für die Unverfügbarkeit des Anderen statuiert, in Konfl ikt mit politischen und rhetorischen Praktiken der Sensibilisierung, die ‒ sei es von ›rechts‹ (wie im Fall des Futurismus und Faschismus), sei es von ›links‹ (wie etwa bei Herbert Marcuse79) ‒ darauf hinauslaufen, Sensibili74 E. Levinas, Verletzlichkeit und Frieden. Schrif ten über die Politik und das Politische, Berlin 2007, 224 f.; vgl. A. Malraux, Stimmen der Stille, München, Zürich 1956, 43. 75 Vgl. Vf. (Hg.), Der Andere in der Geschichte. Sozialphilosophie im Zeichen des Krieges. Ein kooperativer Kommentar zu Emmanuel Levinas’ Totalität und Unendlichkeit, Freiburg i. Br., München 2 2017. 76 Siehe die entsprechenden Hinweise in den Anm. 13 und 14 in dem Beitrag »Sensibilität heute« in die sem Band S. 399 f.. 77 E. Levinas, »Über die Intersubjektivität. Anmer kun gen zu Merleau-Ponty«, in: A. Mé traux, B. Walden fels (Hg.), Leibhaf tige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München 1986, 48‒55. 78 Zu diesem Topos vgl. den aktuellen Diskussionsbericht in: Vf., »Freiheit im Widerstand gegen sich selbst ‒ zwischen Enttabuisierung und Re-Sakralisierung«, in: Philosophische Rundschau 64, Heft 3 (2017), 203‒219. 79 F. Menne (Hg.), Neue Sensibilität. Alternative Lebensmöglichkeiten, Darmstadt, Neuwied 1974; H. Marcuse, »Der Friede als gesellschaftliche Lebensform«, in: D. Senghaas (Hg.), Den Frieden denken. Si vis pa cem, para pacem, Frankfurt/M. 1995, 80‒88; http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-45789139.html
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tät »zu diskurieren, zu predigen, zu dichten, zu agieren« 80, insofern sie sich scheinbar überhaupt nicht von sich aus einstellt; auch nicht ›angesichts des Anderen‹. Aktuelle Positionen wie etwa die von Susan Sontag, die von einer wesentlich der Kunst Francisco Goyas zu verdankenden, aber erst heute durchgreifend wirksamen ethischen Sensibilisierung ausgeht, zwingen dazu, diesem Begriff (a) in historisch-ideengeschichtlicher Perspektive (b) unter dem Aspekt seiner Aneignungen durch die Pädagogik, die Tech nik und die Politik (c) darauf hin zu untersuchen, ob er inzwischen tatsäch lich von jeglichem Bezug auf eine menschliche Natur leibhaftiger Subjekte abgelöst zu denken ist 81, wie es sowohl Levinas’ ethische Apologie einer unverfügbaren Sensibilität als auch eine Politik der Sensibilisierung zu behaupten scheint, die die menschliche Sensibilität ganz und gar als ihr Produkt begreift. Diese Frage stellt sich schließlich (d) vor dem Hintergrund einer Vielzahl medialer Vermittlungsprozesse, wie sie bei Susan Sontag, aber auch bei Luc Boltanski, Georges Didi-Huberman, Jacques Rancière und vielen anderen zur Sprache kommen.82 Längst erschöpft sich menschliche Sen sibilität nicht mehr im sinnlich in räumlicher Nähe Wahrnehmbaren, sondern öff net sich auf globale Horizonte, in denen jeder Fremde ›Nächster‹ werden oder, wenn es nach Rancières politischer Ästhetik geht, als Gleicher buchstäblich ›in Betracht kommen‹ kann, um uns auf diese Weise mit der dringlichen politischen Frage zu konfrontieren, ob auf diese Weise neue, unumgänglich lokal situierte Lebensformen möglich werden könnten, die einer derart de-limitierten politisch-ästhetischen Sensibilität gerecht zu werden versprechen.83 Das ist ohne Potenziale der Resonanz, der Überforder ung, der affektiven Stimulierung und Desensibilisierung nicht zu denken, die bereits im 19. Jahrhundert zur Sprache gekommen sind 84, heute aber, unter medial dramatisch verschärften Bedingungen, Lenz, »Meynungen«, 100. M. Mayer, Humanismus im Widerstreit. Versuch über Passibilität, München 2012, Kap. 1. 82 Vgl. (bspw.) L. Boltanski, Distant Suff ering, Cambridge 1999; G. Didi-Huber man, Wenn die Bilder Position beziehen. Das Auge der Geschichte I, München 2011; J. Rancière, Ist Kunst widerständig?, Berlin 2008; ders., Politik der Bilder, Zürich, Berlin 22009. 83 T. Eagleton, Trouble with Strangers: A Study of Ethics, Chichester, Oxford 2009. Besonders Rancière setzt sich mit Aussichten auf künftige Lebensformen immer wieder auseinander, die man ‒ ungeachtet kaum mehr glaubwürdiger Emanzipationsperspektiven ‒ als ein ›Versprechen‹ deuten könnte. Siehe etwa in Das Unbehagen in der Ästhetik, 46 f.; Der emanzipierte Zuschauer, 80. 84 Man muss sich angesichts der ideengeschichtlichen Befundlage sogar fragen, ob nicht die Ge schichte von Sensibilisierungsprozessen ständig begleitet wird von gegenläufigen Problemen der De sen sibilisierung, die sich ihnen nicht nur von außen widersetzen, sondern auch in der jeweils frag lichen Sensibilität selbst sich bemerkbar machen. Ein herausragendes Beispiel ist das ›kalte‹ Herz, das nicht umsonst in der gesteigerten romantischen Sensibilität zu einem Leitmotiv geworden ist. Wo alles auf Sentimentalisches, auf Rührung und Herzerweichendes ankommt, muss der ungerührt Bleibende als indifferent, ja als potenziell grausam und böse erscheinen. Umgekehrt muss niemand so sehr darum besorgt sein, sein Herz zu verschließen, als derjenige, der sich anders gegen ein Übermaß an Sensibilität nicht zu wehren weiß. Vgl. M. Frank, »Steinherz und Geldseele. Ein Symbol im Kontext«, in: Das kalte Herz. Texte der Romantik, Leipzig, Frank furt/M. 2005, 411‒552; hier: 559 f. In Wilhelm Hauff s Erzählung Das kalte Herz erscheint dieses als befremdlicher »Gast« im Haus des eigenen Leibes (ebd., 154). 80 81
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›weltweit‹ neu bedacht werden müssen.85 Nicht zuletzt im Kontext globaler Praktiken eines blaming and shaming, das weltweit für normalisierte Gewaltverhältnisse sensibilisieren soll, an die man sich ungeachtet ihrer Unerträglichkeit für die Betroffenen bereits gewöhnt hatte.86 Aus einer Vielzahl sensibilisierender Praktiken geht schließlich eine unüberschaubare Vielzahl sogenannter »sensibler Themen« hervor, die wie Brennpunkte die Topografie politischer Diskussion markieren und nicht zuletzt die Wortwahl tangieren. (Das betriff t von der Tilgung rassistischer Terminologie in Kinderbüchern über die Maßgeblichkeit gender-indifferenter bzw. -sensibler Nomen bis hin zur Thematisierung unfreiwilliger Weitergabe von Gesundheits- und anderen Persönlichkeitsdaten auf digitalen Wegen nahezu alles, was öffentlich verhandelt wird.87) Um angesichts dessen heute neue Spielräume der Sensibilität bzw. einer »unablässig« gesuchten neuen Sensibilität 88 und Sensibilisierbarkeit ausloten zu können, muss man die Anthropologie als historisierte Rede über menschliche Natur und leibhaftige, situierte Subjektivität, machtkritische Diskursgeschichten, die zeigen, wie man sich ihrer zu bemächtigen versucht hat, gewaltkritische Ethik, Ästhetik und medienkritische Diagnostik ins Gespräch miteinander bringen. Das kann nur gelingen, wenn die überbordende Komplexität der Sensibilitätsund Sensibilisierungsformen, die in der Moderne − vom divinatorischen Gespür und hermeneutischer Subtilität über psychologisches Einführungsvermögen bis hin zur musikalischen Raffi nesse − zur Sprache gekommen sind und auf die man so oft schon ein Loblied gesungen hat, auf einen möglichst scharfen analytischen Fokus bezogen wird, als der hier der Begriff der Sensibilisierung vorgeschlagen wird. Dieser hat im Gegen satz zur Sensibilität den Vorteil, differenzierte Fragen nahe zu legen, die an den transitiven Gebrauch des Verbs anknüpfen können: Sensibilisiert wird etwas oder jemand, das bzw. der nicht von sich aus sensibilisiert ist, aber sich als sensibilisierbar erweist, wie und wofür bliebe zu zeigen. So gesehen stellen sich folgende Fragen: − Wie zeigt sich menschliche Sensibilität infolge von Sensibilisierungsprozessen? In erster Näherung können wir sagen: daran, dass und wie jemand sich besonders bzw. außer-ordentlich aufgeschlossen dafür erweist, was (und wie etwas oder jemand) ›da‹ ist, was (und wie etwas oder jemand) sich zeigt, was (und wie etwas oder jemand) ›gegeben‹ ist und über das Gegebene hinausweist auf einen Über85 Vgl. J. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München, Wien 1998; J. Crary, Aufmerk samkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt/M. 2002; G. Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, München, Wien 1998; C. Türcke, Erregte Gesell schaft. Philosophie der Sensation, München 2002; J.-L. Nancy, Zum Gehör, Berlin, Zürich 2010, 10 ff., 45 zur Resonanz; ders., Wer hat Angst vor Gemeinschaft?, Berlin 2009; Die Erschaff ung der Welt oder Die Globalisierung, Berlin 2003, zum Weltbegriff. 86 C. Menke, A. Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, Hamburg 2007, 205. 87 S. Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifi zierung des Sozialen, Berlin 2017, 268. 88 Deren avantgardistisch-rhetorische Inanspruchnahme sich allerdings weitgehend erschöpft zu haben scheint; vgl. A. Ehrenberg, Das Unbehagen in der Gesellschaft, Berlin 2012, 153.
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schuss an Erfahrbarem, der seinerseits niemals einfach ›gegeben‹ ist. So gesehen liegt prima facie ein aisthesiologischer Zugang zu Sensibilisierungsprozessen nahe. Wer nicht einfach sieht, sondern sich einem »sehenden Sehen« (Max Imdahl) hingibt 89, wird nicht nur mehr und anderes als andere sehen, indem er das Sichtbare erkundet wie in einem studium (Roland Barthes); er wird auch nicht nur über das Sichtbare hinaus anderes ›sichtbar machen‹ (Paul Klee), sondern das Sichtbare selbst überschreiten (oder vielmehr sich transzendieren lassen) ›im Hinblick auf‹ das, was im zu Sehenden nicht aufgeht. In diesem Sinne sprach Roland Bar thes vom ›bestechenden‹ Bild (punctum), das auf die Spur einer nicht privativ zu begreifenden Blindheit führt.90 Das »sehende Sehen« geht an diese Gren ze und führt ggf. über sie hinaus, sei es, um das Sehen im doppelten Sinne des Wortes sein zu lassen, sei es, um gerade dadurch andere Register der Erfahrung wie das Hören, ein aufmerksames, zuhörendes, anhörendes (wenn nicht höriges) Hören ins Spiel kommen zu lassen, wenn man hermeneutisch dafür sensibilisiert wird, dass Sehen auf seine Weise blind macht.91 − Wer oder was wird sensibilisiert? Woran spielt sich Sensibilisierung ab? Wenn nicht an etwas, dann an jemandem, auf den wir mit der Wer-Frage abzielen. Die Ant wort auf die Wer-Frage ist aber das Selbst, das leibhaftig, als ein corps sujet oder chair 92 , existiert. Sensibilisiert wird das Selbst.93 Das menschliche, leibhaftige, primär wahrnehmende Selbst ist für sensibilisierbar zu halten.94 ‒ Wofür wird jemand sensibilisiert? Nur für ›eben noch merkliche‹ perzeptive Unterschiede, wie sie die Psychophysik Gustav T. Fechners und Wilhelm Wundts studierte, für unauff ällige Differenzen oder ›feine Unterschiede‹ des Verhaltens
W. Hofmann, »Sehendes Sehen. Versuch über Max Imdahl«, in: Merkur 50, Nr. 573 (1996), 1145‒1151. 90 R. Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photografi e, Frankfurt/M. 1989, 35 ff .; J. Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen, München 1997, 121 ff.; V f., Revisionen der Trauer. In philosophischen, geschichtlichen, psychoanalytischen und ästhetischen Perspektiven, Wei lerswist 2006, Kap. VII‒IX. 91 P. Valéry, Monsieur Teste, Frankfurt/M. 1984, 82. 92 Vgl. M. Merleau-Ponty, Vorlesungen I, Berlin 1973, 98; ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, 192 f.; J.-L. Nancy, Cor pus (frz./amerikan.), New York 2008; ders., Die Annäherung, Köln 2008; ders., Zum Gehör, Berlin, Zürich 2010; ders., Das nackte Denken, Zürich 2014. 93 Das gilt auch für das Fleisch (chair) des Lebens, wie es Merleau-Ponty in seinem posthum veröffent lichten Spätwerk beschrieben hat. Es mit der buchstäblich selbst-losen Materialität zu identi fi zieren, wie sie gewisse Auslagen darbieten, wäre ein gravierendes und gewaltträchtiges Missver ständ nis. 94 Dass sich Was- und Wer-Fragen nicht fein säuberlich voneinander trennen lassen, wird deutlich, wenn man mit Ricœur bedenkt, wie die Selbigkeit (mêmeté) des Körpers und die Selbstheit (ipséité) der Person miteinander verschränkt zu denken sind. Zu zeigen wäre das konkret am Beispiel dessen, was ›unter die Haut geht‹; P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996; M. Serres, Die fünf Sinne, Frankfurt/M. 1998, 61; C. Benthien, Haut. Literaturbilder – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek 1999. 89
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Anderer, wie man von Georg Simmel bis hin zu Pierre Bourdieu gemeint hat?95 Oder (auch) dafür, wie sie sich selbst und Anderen unauf hebbar fremd sind ‒ sei es in Anbetracht ihres Unbewussten, sei es im Verhältnis zu ihrer Geschichte, ihrem Geschlecht und der ethnischen Imprägnierung dessen, als wer sie sich verstehen? Gewiss bringen wir hermeneutische Sensibilität dafür 96 ‒ und das bedeutet auch: für die subtile Sensibilität Anderer 97, ihre scharfe Aufmerksamkeit 98 , ihre ausgeprägte Verletzlichkeit99, ihre Zerrissenheit100, ihre ›irreparablen‹ Verluste101, ihre die Wege menschlicher Kulturgeschichte erst eröff nende, traumatische, nicht zu verschmerzende Trauer102 und ihre unvergleichliche Fremdheit ‒ nicht einfach von Natur aus mit. An all dem muss man ‒ ohne eine entsprechende ›Gemeinschaft‹ bereits voraussetzen zu können ‒ zu allererst selbst Anteil haben und Anteil nehmen, will man im Ernst in Erfahrung bringen, wofür jeweils sensibilisiert wird. − Wie aber und durch was oder wen werden wir sozial, ethisch, hermeneutisch, kulturell etc. sensibilisiert? Das ist die Frage nach Subjekten, Mitteln und Medien der Sensibilisierung, die mal intendiert, mal zufällig zu Tage tritt. − Mit welcher Intention, mit welchem Zweck oder worumwillen wird sensibilisiert? Ist Sensibilität auch das Ziel jeglicher Sensibilisierung? Auch um den Preis einer überfordernden Übersensibilisierung, die in Desensibilisierung umschlagen kann?103 Lässt sich überhaupt eine Form der Sensibilität denken, die nicht dieser Gefahr ausgesetzt wäre? − Wie steht es um variable Schwellen, um mehr oder weniger ausgeprägte Grade und um verschiebbare Grenzen der Sensibilisierung? Was widersetzt sich ihr ‒ von Siehe S. 401 in diesem Band. F. Dosse spricht in seiner Geschichte des Strukturalismus, Bd. 2, Frankfurt/M. 1999, von einer »ganz neuen Sensibilität« dafür, »daß die Wahrheit außerhalb des Selbst liegt« und bezieht dies auf das Unbewusste, die Geschichte und die Vernunft selbst; 247, 265, 281, 283, 325, 341. 97 H. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, Frankfurt/M. 2006, 843. 98 Crary, Auf merk samkeit, 283, 290. 99 J. Butler, Hass spricht, Berlin 1998, 37; dies., A. Athanasiou, Die Macht der Enteigneten. Das Per formative im Politischen, Zürich, Berlin 2014, 56, 135; A. Pinzani, An den Wurzeln moderner Demokratie. Bürger und Staat in der Neuzeit, Berlin 2009, 346 zur »sensitivity to vulnerability of individuals«; Vf., Verletztes Leben. Studien zur Affirmation von Schmerz und Gewalt im gegenwärtigen Denken. Zwischen Hegel, Nietzsche, Bataille, Blanchot, Levinas, Ricœur und Butler, Zug 2014. 100 G. Agamben, Der Mensch ohne Inhalt, Frankfurt/M. 2012, 35, 38, 64, 73. 101 Corbin, Pesthauch und Blütenduft, 266; Starobinski, Aktion und Reaktion, 245; V. Jankélévitch, B. Berlowitz, Quelque part dans l’ina che vé, Paris 1978, 67; M. Berman, All That is Solid Melts into Air. The Experience of Modernity, London 1998, 18, 35 f., 295. 102 N. Loraux, Die Trauer der Mütter. Weibliche Leidenschaft und die Gesetze der Politik, Frankfurt/M. 1992; P. Veyne, Die griechisch-römische Religion. Kult, Frömmigkeit und Moral [2005], Stuttgart 2015, 132, 139; J. Butler, Frames of War. When is Life Grievable?, London 2009. 103 So polemisieren lt. Finkielkraut »Eigentümer einer hochentwickelten Sensibilität gegen die Unsensiblen«, um ihnen den moralischen »Prozeß« zu machen; A. Finkielkraut, Die Undankbarkeit, Berlin 2001, 170 f. Wenn erstere eine »Übersensibilität« ‒ etwa für die »Brüchigkeit der Welt« ‒ propagieren, muss man sich fragen, ob und inwiefern es ›zuviel‹ davon geben kann. Vgl. E. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, Weilerswist 22004, 19, 108. 273. 95
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der Apathie über Indifferenz und Gleichgültigkeit bis hin zur Hypersensibilisierung, die in ihr Gegenteil umschlägt?104 − In welchen (olfaktorischen, taktilen, expressiven, musikalischen, hermeneutischen, moralischen, ethischen, politischen…) Registern und Dimensionen menschlicher Erfahrung spielt sie sich ab? Lassen sich sinnliche, kognitive, mora lische, politische und ästhetische Sensibilisierungen unterscheiden bzw. voneinander trennen? Gibt es förderliche und hemmende Transfereffekte?105 − Wie geht man damit um, sei es pädagogisch, sei es politisch? Wie ›macht man Politik‹ mit reduzierter und abgestumpfter, gesteigerter und überforderter Sensibilität, indem man desensibilisiert106 oder hypersensibilisiert, indem man an Affekte wie Zorn, Wut und Empörung, aber auch an Schmerz, Empathie und Trauer 107 appelliert und die jeweils intendierte Sensibilität gerade dadurch in Frage stellt, dass man zu opportunen Zwecken auf sie einzuwirken versucht? ‒ Wie geht schließlich die Wahrnehmung, Beachtung und Würdigung der Sensibilität Anderer in normative Forderungen über? Lässt sich Sensibilität in diesem Sinne von Anderen abverlangen und sogar verrechtlichen?108 Oder sind sie vor ihr zu bewahren angesichts dessen, wofür sensibilisiert wird, obgleich es nicht zu ertragen ist?109 Kann man Sensibilität für sich selbst ‒ und zugleich gegen Andere ‒ in Anspruch nehmen? Oder kann sich Sensibilität überhaupt nur in den Augen Anderer erweisen, so dass sie niemand je für sich selbst in Anspruch nehmen sollte? Kann bzw. darf man nach allem, was wir über die Geschichte unseres Kontinents wissen, Sensibilität für die Moderne, für Europa oder wenigstens für diejenigen reklamieren, die unter der ›modernen‹ europäischen Gewaltgeschichte gelitten haben? Zusammengefasst geht es darum, in einem interdisziplinären Diskurs zu erkunden, wie sich menschliche Subjektivität als nicht ohne weiteres von sich aus ›senM. Geier, Das Glück der Gleichgültigen, Hamburg 1997; N. Scheper-Hughes, P. Bourgois, »Introduction«, in: dies. (Hg.), Violence in Peace and War, Malden, Oxford, Carlton 2004, 1‒32, hier: 14. 105 Vgl. bspw. J. Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil, Frankfurt/M. 1996. 106 Was keineswegs generell gering zu schätzen ist. Auch Furchtlosigkeit kann ein Ergebnis von De sen sibilisierung sein. 107 Längst hat sich speziell politische Trauer von einer ›gefühligen‹ Sentimentalität emanzipiert, die man so oft stereotyp dem weiblichen Geschlecht zugeordnet hat; vgl. R. Barthes, Fragmente einer Spra che der Liebe, Frankfurt/M. 1998, 251 ff.; A. Corbin, »Das ›trauernde Geschlecht‹ und die Ge schichte der Frauen im 19. Jahrhundert«, in: M. Perrot (Hg.), Geschlecht und Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich?, Frank furt/M. 1989, 63‒82; J. Butler, Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London, New York 2006; Social Research 83, no. 2: Borders and the Politics of Mourning (2016). 108 Vgl. Früchtl, Ästhetische Erfahrung, 231; G. Frankenberg, Die Verfassung der Republik, Frankfurt/M. 1997, 189. 109 Philosophisch wird diese Frage kaum ventiliert, wohl aber in einer reichhaltigen Literatur, die die Wahrheit dessen, wofür sensibilisiert wird, vielfach als Schreckliches zur Sprache bringt; vgl. bspw. S. Bellow, Herzog, Köln, Berlin 1976, 334, 343, 354 f. Hier tritt der (grausame) Tod das Erbe Gottes an, so aber, dass man nur noch »vergessen soll, was man nicht ertragen kann« ‒ gemäß einem sehr »deutschen« Rat schlag, wie es ironisch bzw. sarkastisch heißt. 104
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sible‹, aber vielf ältig sensibilisierbare zwischen aisthesiologischen Registern ihrer Affi zierbarkeit, Ethik und politisch motivierten Praktiken der Sensibilisierung heute darstellt. Als außerordentlich sensible (und insofern niemals normalisierbare) scheint sie höchstes Lob zu verdienen, zugleich aber auch eine absolute Überforderung zu riskieren. Messen diejenigen, die sich zutrauen, ihr angesichts dessen Grenzen zu ziehen, nicht »mit nicht vorhandenen Maßstäben«, wäre mit Nietzsche zu fragen, für den, wie vielleicht für niemanden je vor oder nach ihm, Sensibilität und Philosophie geradezu zusammenfallen mussten ‒ wie auch immer man heute diesen Anspruch beurteilen wird.110 Für Nietzsche war Sensibilität ein elitärer Begriff, den er exklusiv ›seinem‹ Denken schien vorbehalten zu wollen ‒ im Gegensatz zur »Sensibilität der Mehrzahl ›der‹ Menschen«, die ihm »krankhaft und unnatürlich« vorkam.111 Vermutlich hätte er sich einer weitgehenden Geringschätzung und Verachtung menschlicher Sensibilität angeschlossen, wie sie heute gang und gäbe ist, wo man sie auf ein komfortables Leben zurückführt, das wenig erträgt, dafür aber umso mehr über alles Mögliche klagt aufgrund »gesteigerter Sensibilität gegenüber dem Unbehagen, der Unannehmlichkeit, der Kälte, der Erschöpfung, dem Schmerz« (Edgar Morin) und jeglicher Widrigkeit, sei sie auch noch so geringfügig.112 Für eine gelegentlich geradezu zur demokratischen Tugend erhobene Sensibilität, die sich in der zivilen Bereitschaft, Anderen zuzuhören113, und angesichts des Leidens Anderer manifestieren soll, hätte Nietzsche kaum mehr Sympathie aufgebracht. Verrät sie nicht alles, was radikale Sensibilität wirklich ausmacht, die sich einer uns bedingungslos auf sogenanntes prosoziales Verhalten, kommunikative Verständigung, Gerechtigkeit und Frieden verpfl ichtenden ›Hegemonie des Sozialen‹ niemals fügen kann?114 Manifestiert sich diese scheinbar ganz und gar ›sozialisierte‹ Sensibilität nicht in einer Art »gutartiger Heuchelei« oder auch in einer saturierten Verlogenheit, die jegliche ‒ rassistische, geschlechtlich diskri minierende, sprachliche… ‒ Gewalt als mit »heutiger« (gemeint ist: europäischer bzw. ›westlicher‹) Sensibilität nicht vereinbar brandmarkt, aber keineswegs verhindert, dass man sie nicht doch billigend in Kauf nimmt und weiter von ihr profitiert? So spricht Pinker in seiner voluminösen Bilanz der bisherigen Gewaltgeschichte von »abendländischer Empfind lich keit«115 R. Safranski, Nietzsche, Frankfurt/M. 2002, 241, 325. F. Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 13 (Hg. G. Colli, M. Montinari), München 1980, 89, 433; aber auch Bd. 1, 563, zur »reizbarste[n] Sensibilität«, die Nietzsche den Griechen zuschrieb. 112 Zit. n. Ehrenberg, Das Unbehagen in der Gesellschaft, 285; vgl. W. Reinhard, Lebensformen Europas, München 2004, 106 f. 113 Rorty, Philosophie & die Zukunft, 118. 114 In die gleiche Kerbe schlägt man im Anschluss an Georges Bataille; vgl. A. Boelderl (Hg.), Welt der Abgründe. Zu Georges Bataille, Wien 2015. Noch Botho Strauss kann Sensibilität und Sozialität nur in einem schroffen Gegensatz sehen und scheint erstere wie Nietzsche ästhetisch Privilegierten vorbehalten zu wollen, die sich mit angeblich »denkfaulem Kitsch über Minderheiten, Toleranz und Menschenrechte«, mit einem solchen »Niedergang des Denkens«, nicht abfi nden mögen; B. Strauss, »Reform der Intelligenz«, in: Die Zeit 14 (2017), 41 f. 115 Pinker, Gewalt, 42, 46, 57, 59, 282. 110 111
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und ihrem Wandel bis hin zur »politisch korrekten Sensibilität«116 , die nach dem Ende der Sklaverei schließlich auch zu einer Ideologie des Mitleids, der Empathie und der Scham angesichts von Unrecht geführt habe, das weiterhin Anderen angetan wird. Zwar habe sie maßgeblich zur großen »humanitären Revolution« beigetragen, die sich in unseren Tagen im Zeichen universaler Menschenrechte vollziehe.117 Aber wenn nun »Sensibilitäts-Workshops« veranstaltet werden, in denen die Teilnehmer dazu gebracht werden sollen, die vermeintlich letzten Reste ihres »unbewussten Rassismus« wie auch ihres typisch ›weißen‹, ›virilen‹ und ›westlichen‹ Chauvinismus etc. »einzugestehen«118 , schlägt die politisch propagierte, ganz und gar prosozial fi nalisierte Sensibilität dann nicht in eine üble Ideologie um, die glauben macht, man werde in Kürze, nach Überwindung dieser letzten Hindernisse, für alles und jeden sensibel aufgeschlossen sein und bleibe insofern niemandem mehr etwas schuldig? Geht nicht gerade von einer derart normativistisch überzogenen Sensibilisierung die Gefahr aus, sie um jegliches außer-ordentliches Moment zu bringen? Droht sie am Ende sogar die Künste unter Quarantäne zu stellen, wie Hanno Rauterberg befürchtet? Gegen Vorstellungen eines im Zeichen des Mitgefühls (Rousseau), der Empathie (Adam Smith), des Sinns für Ungerechtigkeit ( Judith N. Shklar) oder der Einbeziehung Anderer ( Jürgen Habermas) nach und nach expanding circle, der endlich alle Menschen durch eine progressive »Anwendung der Vernunft« in eine niemanden mehr ›drau ßen‹ lassende Sensibilität ›einzuschließen‹ verspricht119, wenden sich energisch Theoretiker des Politischen, die hier die Gefahr einer massiven Depolitisierung wittern.120 Wo alle ›integriert‹, ›einbezogen‹ oder ›inkludiert‹ sind, wo es scheinbar überhaupt keine untilgbare, auch erschreckende »Heterogenität« (Georges Bataille), kein undarstellbares »Drau ßen« (Michel Foucault), keine Spur von »Exteriorität« (Emmanuel Levinas), keine untilgbare »Neutralität« (Maurice Blanchot), keine radikale »Alterität« (Paul Ricœur) und keine unauf hebbare Ebd., 481. Ebd., 210, 219, 230, 245, 567. Wobei allerdings festgestellt werden muss, dass die mit (neu zeit lichen) Revolutionen üblicherweise einhergehende ›grundstürzende‹ Erschütterung der gesell schaft lichen Verhältnisse weit und breit nicht zu beobachten ist. Ist eine Revolution der (oder durch) Men schenrechte nicht pures Wunschdenken? 118 Ebd., 589. 119 Ebd., 269, 706, 877, 993, 1024. 120 Besonders für Jacques Rancière (aber auch für Niklas Luhmann, Jean-François Lyotard, Chantal Mouffe und viele andere) steht und f ällt der Begriff des Politischen mit dem Befund unvermeidlicher Exklusion als Kehrseite jeglicher Form der Inklusion, Einbeziehung oder Integration. Dem kann man nicht gerecht werden, wenn nicht die Frage aufgeworfen wird, in welchem Rahmen, in welcher Ordnung, mit welchem Systembezug etc. Fragen politischer Sensibilisierung sich überhaupt stellen. Nur dann kann auch erkennbar werden: die Sensibilität der Einen ist nicht die Sensibilität der Anderen. Vgl. P. Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt/M. 1989, 219 zu einer entsprechenden »Sensibilitätsschere«, deren zeitliche Horizonte zwischen melancholischer Nostalgie, diversen Dringlichkeiten, Bedrohungsszenarien, apokalyptischen Erwartungen und Eschatologie chan gieren. 116 117
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»Fremdheit« (Bernhard Waldenfels) mehr gibt121, verkümmert da nicht auch jene radikale Sensibilität, von der man schon in der Frühromantik erwartet hatte, sie werde uns gerade auf dasjenige hin öff nen, was in keiner Ordnung, in keiner Staatlichkeit und Gesellschaftlichkeit je aufgehen könne? Wurde andererseits ›soziale‹ Sensibilität nicht genau so begründet? Stehen Sensibilität und Sozialität tatsächlich in einem unüberbrückbaren Gegensatz, oder lässt sich eine ›sensibilisierte‹ Sozialität denken, die niemals versprechen kann, jegliche Ander(s)heit und Fremdheit in sich aufzuheben, so dass auch Sensibilität und soziale Vernunft nicht einfach zusammengehen und im Verhältnis zueinander heterogen bleiben?122 Spitzt man die Frage nach »Sensibilität heute« so zu, dann ist man weiter denn je davon entfernt, diesen Begriff einfach im Anschluss an die anthropologische Überlieferung, an die Wissenschaftsgeschichte der beteiligten Disziplinen, an eine philosophische Ontologie oder Ethik einfach voraussetzen zu können. Möglicherweise ist das kein Mangel, sondern offenbart ein originäres Moment menschlicher Sensibilität: niemals zu wissen, ob und inwieweit sie gegeben ist, zum Vorschein kommt und halten wird, was man sich von ihr verspricht. Wenn das stimmt, lässt sie sich niemals aneignen, um symbolisches Kapital aus ihr zu schlagen, wie man es im sog. Westen immer wieder versucht, wo man wie zuletzt noch Richard Rorty glauben macht, man habe sie Fremden voraus und sie eigne sich für eine weitere »Europäisierung fremder Menschheiten« (Edmund Husserl) oder für deren Amerikanisierung (ohne gegenläufige Orientalisierung, Indisierung, Islamisierung etc., versteht sich, gegen die sich ausgerechnet anmaßende »Verteidiger des Abendlandes« empört zur Wehr setzen, die mit unverfügbarer Sensibilität überhaupt scheinen Schluss machen zu wollen). Angesichts solcher Aussichten muss man sich fragen, ob nicht Sensibilität als Gegenstand eines politisch-ästhetischen Diskurses, wie er im Folgenden entfaltet wird, unabdingbar mit einer Sensibilität für die Art und Weise seiner Thematisierung einher gehen muss, die es ganz und gar ausschließen sollte, dass man sie für sich selbst in Anspruch nimmt.
Zu den Beiträgen Im ersten Teil ‒ Zur Vorgeschichte ›moderner‹ Sensibilität ‒ führt Iris Därmann am Paradigma des Kolonialismus eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit angesichts des ungeheuren Leids der Versklavten vor Augen, welche verlangte, letztere »überG. Bataille, Der heilige Eros (L’Érotisme), Frankfurt/M., Berlin, Wien 1979, 34 f.; M. Foucault, »Das Denken des Draußen«, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1988, 130‒156; B. Waldenfels, Topografi e des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frank furt/M. 1997; P. Ricœur, Anders. Eine Lektüre von Jenseits des Seins oder anders als Sein ge schieht von Emmanuel Levinas, Wien 2015; M. Blanchot, Das Neutrale. Philosophische Schriften und Fragmente, Zürich, Berlin 2010; M. Gut jahr, M. Jarmer (Hg.), Von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit. Maurice Blanchot und die Leidenschaft des Bildlichen, Wien 2015. 122 Vgl. das einschlägige Kapitel zur Sensibilität in: Levinas, Jenseits des Seins. 121
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haupt als fühlende und empfi ndende Menschen wahrzunehmen«, die in »melancholischer Verlassenheit« einer Widersetzlichkeit gegen ihre Unterwerfung auf die Spur kommen. Die Frage, ob darin die politische Stärke einer potentia passiva zum Vorschein gelangt, ist nicht nur machttheoretisch weiterhin aktuell. Sie weist auch auf ein »Nachleben der Sklaverei« hin, das sich, wie auch Karin Harasser zeigt, bis in unsere heutige Begriffl ichkeit hinein immer noch »gespenstisch« auswirkt. Das zeigt sich in der Analyse der »politischen Ökonomie kolonialer Biopolitik« in der »nachhaltigen Nutzung« nackten Lebens, die mit der »Herstellung« »neuer Sensibilitäten« einhergegangen sei. Silke Segler-Meßners Beitrag schlägt gewissermaßen in die gleiche Kerbe und verschärft den Aktualitätsbezug des keineswegs überwundenen Kolonialismus. Dessen Kritik geht zunächst mit einer »neuen Form von Sensibilität im Umgang mit dem Nächsten« angesichts seiner Verwundbarkeit und Sterblichkeit einher, mündet dann aber in das aktuelle Verlangen nach einer neuartigen, de-limitierten Weltpolitik, die sich von der kolonialistischen Erblast einer »Schließung der Welt« gegenüber einem als ›anders‹ klassifi zierten und rassistisch diskriminierten Anderen endlich lösen sollte. So wird mit Achille Mbembe, Jean-Luc Nancy und Patrice Nganang die radikale Frage aufgeworfen, wie weit wir heute wirklich in Richtung auf eine communauté décolonisée vorangekommen sind. Ruth Sonderegger gibt im Anschluss daran zu bedenken, ob der Universalismus Kants schon die angemessene Antwort auf diese Herausforderung war. Geht seine Theorie des sensus communis nicht mit dem Ausschluss nicht-weißer Menschen aus dem Universum der Ästhetik einher? Suggeriert sie nicht, »dass manche Menschen prinzipiell für die Sensibilisierung in Richtung auf den sensus communis und somit für die Sensibilisierung zum ästhetischen Erfahren und Urteilen unempfänglich sind«? Affi rmiert sie nicht ein westliches »Superioritätsdenken«, das abgründig die westliche Ästhetik fundiert? Die Pointe dieser ersten vier Beiträge liegt darin, die zunächst historisierende Auseinandersetzung mit dem Begriff der Sensibilität radikal gegen unsere noch heute geläufigen Begriffe zu wenden und auf diese Weise die übliche Selbstgerechtigkeit nachhaltig zu durchkreuzen, mit der man das kolonialistische Erbe für überwunden hält. Im zweiten Teil geht es um kontroverse theoretische Deutungen des Sensibilitätsbegriff s ‒ zu dem sich als erster Friedrich Nietzsche programmatisch bekannt hat, wie Werner Stegmaier zeigt. Wie, so fragt er, ließe sich eine offenbar »desensibilisierte« europäische Philosophie resensibilisieren? Und wofür hätte dies zu geschehen? Nietzsches, an das Leitmotto der Auf klärung erinnerndes, Diktum »Wir fürchten die Sinne nicht« gibt eine Richtungsan zeige. Demnach sollte Philosophie nicht »das Hören und Sehen vergehen« lassen, wie es Hegel zu fordern schien, sondern alle Sinne rehabilitieren; und zwar um für das Einzelne und die Einzelnen, ihr »unablässiges Anderswerden« und ihre »Situativität« zu sensibilisieren. Wendet man sich so gegen »desensibilisierte Verallgemeinerungen«, riskiert man allerdings eine »Steigerung der Insensibilität fü r alles Übrige«, wogegen auch eine exzessive und »reindividualisierte« Hypersensibilisierung nichts ausrichtet. Besteht dennoch begründete Hoff nung auf eine neuartige »Kommunikativität, die aus der Sensi-
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bilität entspringt«? Liegt letztere aber ereignishaft dem Sozialen voraus oder ist sie von Anfang an als soziale zu denken? Diese Frage rückt in den beiden anschließenden Beiträgen in den Vordergrund. Katja Diefenbach prüft kritisch besonders die politische Tragweite eines Ereignisdenkens, welches bei Alain Badiou ein Sein voraussetzt, »in dessen Differentialität sich kein Subjekt wiederkennen kann«, das man sich als handelndes nachträglich hinzudichtet, wie es schon Nietzsche gezeigt hatte. Auf »unkalkulierbare, unverifi zierbare, unobjektivierbare« Art und Weise sollen aus diesem Sein »nichtkonsensuelle ästhetische Empfi ndungen« hervorgehen können, deren politische Bedeutung womöglich nur dezisionistisch in Akten der Wahl und des Bekenntnisses zustande kommt. Statt derart auf einen mit Diefenbach skeptisch zu beurteilenden »neuen Heroismus« der Politik zu bauen, diskutiert Dieter Mersch die Frage, ob Sensibilität ästhetisch und/oder ethisch fundiert zu denken ist. Liegt vor jeder Wahl und vor jedem Bekenntnis nicht ein »präpersonales« Affiziertwerden, das sich kein Subjekt nachträglich selbst zurechnen kann? Unter dem Titel Passivität kommt bei Maurice Blanchot und Emma nuel Levinas ein páthos als primordiale Inanspruch nahme durch Anderes zum Vor schein, das sich nicht eindeutig auf den Anderen zurückführen lässt, wenn es stimmt, dass es in seiner Ereignishaftigkeit zunächst nur ein ›Dass‹, aber noch kein bestimmtes ›Was‹ anzeigt. Darin liegt eine Alterität, die menschliche Subjektivität zur Passibilität und Sekundarität verurteilt, da sie in ihrer Endlichkeit darauf angewiesen ist, dass ihr etwas ›gegeben‹ werden muss, das sie sich nicht aus eigener Kraft verschaffen kann. Dieser bereits Immanuel Kant vertraute Gedanke wird hier nun energisch mit kritisch beurteilten Mitteln einer Phänomenologie der Gabe und einer Ästhetik der Sensibilität revidiert. Dem gegenüber lotet Andrew Haas Levinas’ Ethik der Sensibilität bis in ihre letzten Kon sequenzen hinein aus. Wenn sie dem Anderen als solchem gilt und von ihm herausgefordert wird, obgleich oder gerade weil dieser sich als ›unerreichbar‹ herausstellt, wie kann sie dann überhaupt mit ihm bzw. mit einer Anderen in Verbindung treten? Ist nicht alles, was man sich in kommunikativer Hinsicht unter diesem Begriff vorstellt, von einer Logik des Selben beherrscht? Wie sind wir (wenn überhaupt) sensibilisierbar für eine Sensibilität, die sich dieser Logik widersetzt? (»How are we to become sensitized to such a sen sibi lity«?) Erik Vogt verschärft diese Frage mit Blick auf Mario Perniolas Beschreibung einer »sensologischen Gesellschaft«, die ständig »vom Selben zum Selben« übergehe, Dinge an unserer Stelle empfi nden und sogar die Menschen als fühlende Dinge erscheinen lasse. Verliert sich in einer solchen Gesellschaftlichkeit nicht jegliche Spur des Anderen als eines unverfügbar Anderen ‒ und damit eben der Sensibilität, die aus der anti-kolonialistischen Kritik hervorgegangen zu sein scheint? Haben speziell westliche Gesellschaften »die Gestalt einer vollends integrierten Totalität angenommen«, die auf die »Unterwerfung« einer als »pathologisch, weiblich, knechtisch wahrgenommen« Erfahrung hinausläuft? Unterdrücken sie dem nach die vergesellschafteten Subjekte selbst? Verlangt das nach einem anderen Denken der aísthēsis als eines »Empfangens« und gastlichen »Beherbergens« dessen, »was sich als fremd und rät selhaft darstellt« ‒ und womöglich so bleibt, ohne sich ›auf heben‹ zu lassen?
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Im dritten Teil ‒ Sinnlich-politische Sensibilität und die Sensibilität des Politischen ‒ wirft Kathrin Busch mit Jean-Luc Nancy und kritisch gegen Maurice MerleauPonty gewendet die Frage auf, ob sich die aísthēsis als »fleischliches« Exponiertsein bzw. Sichexponieren denken lässt, das »in den Brüchigkeiten des Selbst« ein pathisches, »grenzauflösendes« Begehren offenbart. Worin gründet dieses? Im Körper, im Leib oder in einem a-humanen Fleisch (chair), aus dem auf rätselhafte Art und Weise die Möglichkeit eines sensiblen Berührtwerdens hervorgehen soll? Wie, wenn überhaupt, schließt dieses für den Anderen auf ‒ vorausgesetzt, dieser kann in das Selbst (nicht: in das Selbe) zuvor schon »eindringen«? Gastliche Aufnahme wird dem/der Anderen nur zuteil, »wenn es ein Eindringen gibt«, behauptet Nancy. Und: »wer Fleisch sagt, sagt auch Sensibilität«. Aber gilt auch umgekehrt ‒ zumal in politischer Hinsicht ‒, dass Sensibilität nur als fleischliche möglich ist? Auch hier wandeln wir nach wie vor auf Nietzsches Spuren, der menschliche Subjektivität jedenfalls nur als ›leibhaftige‹, dem páthos, Schmerz und Leiden ausgesetzte und zugleich zu höchster Sensibilität befreite denken wollte, die immer wieder mit musikalischer Metaphorik in Verbindung gebracht wird. Wie ernst ist diese aber politisch zu nehmen? Dieser Frage geht Christian Grüny nach, indem er den oft an die Adresse europäischen Denkens gerichteten Vorwurf des »Okularzentrismus« bzw. des »Visualprimats« revidiert. Was kann man sich wirklich vom Hören bzw. von dessen Musikalität versprechen? Ist »das Hören der kommunikative Sinn schlechthin«? Oder nur ein bestimmtes, ästhetisch sensibilisiertes und »befreites« Hören? Wozu befreit dieses, wenn es befreit? Wenn nur zu einer »gesteigerten Form« seiner selbst, muss es dann nicht schwer fallen, in ihm ein ethisches und kritisches Moment zu erkennen? Betreten wir den »Bereich« des Politischen nicht erst dort, wo das Hören zu einem auf Andere antwortenden Handeln wird ‒ bis hin zu einer listening citizenry (Benjamin Barber), in der idealiter jeder dem Versprechen verpfl ichtet zu sein scheint, ihnen zuzuhören? Ist dieses Versprechen auf die elementarste politische Gleichheit ausgerichtet, die darin liegt, dass jeder wenigstens den Anspruch darauf haben sollte, bei Bedarf Gehör zu fi nden? Und ist dieser Anspruch institutionalisierbar? Oder bewährt sich das (politische bzw. politisierte) Hören auf Andere gerade als außer-ordent liches, wo keine Regeln und Normen hin- und zureichen und wo es allemal mehr zu hören gibt? Lisz Hirn erinnert im gleichen Zusammenhang an die dialogistische Tradition, in der das Zuhören und Aufeinanderhören »immer schon« eine »leibliche Resonanzsensibilität« voraussetze, die politisch allerdings »unterentwickelt« zu sein scheint. Dabei hat letztere mit ständiger Überforderung zu kämpfen, wenn hier »alles, was wir Menschen erleben«, vor allem aber unsere »Nicht-Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Wohlergehen« auf dem Spiel steht, wie Bernhard Taureck ausgehend von Jean-Jacques Rousseau zeigt. Bei der nur Menschen eigenen sensibilité soll es sich um eine »naturalistisch nicht erklärbare Fähigkeit« handeln, sich »affektiv auf andere zu beziehen«. Hat dazu Sophokles’ Antigone das paradigmatische Vorbild geliefert? Lässt sich dieses bereits als genuin ›gesellschaftliches‹ interpretieren? Würde das nicht verlangen, dass man die fragliche Sensibilität im Raum möglicher Verständigung
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politisiert? Eine angemessene Auslotung der »dreigliedrige[n] Struktur von Sensibilität-Verständigung-Politik steht noch aus«, befi ndet Taureck, der Sensibilität politisch und Politik als ›sensibilisiert‹ zu denken vorschlägt, ohne dass dabei Sensibilität und Politik zur Deckung kommen könnten. Ob vergesellschaftetes Leben insofern misslingen muss, lautet implizit Taurecks abschließende Frage. Mit Cornelius Castoriadis bringt Ludger Schwarte zusätzliche Unruhe in dieses produktive Problemfeld, indem er zu bedenken gibt, ob für solches Leben nicht eine außerordentliche Sensibilität unverzichtbar ist, die sich darin bewähren müsste, sich »ohne Vorbehalte oder verzerrendes Vorwissen« sinnlich und imaginativ auf das »Unvordenkliche, Andere, Inkommensurable« einzulassen, so dass eine Neues zeitigende Begegnung stattfi nden kann, die das gesellschaftliche Leben davor bewahrt, ständig um das Selbe zu kreisen und sich bloß zu wiederholen. Wie aber wird von menschlicher Sensibilität politisch Gebrauch gemacht, fragt daran anschließend Hans-Martin Schönherr-Mann. Kann sie nicht auch der Desensibilisierung und entsprechenden Techniken der Machtausübung dienen? Und soll man sich »sensibel gegenüber Desensibilisierern« verhalten? Nicht jedermann bejaht beispielsweise »gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber der Mitwelt«, besonders »gegenüber Unglücklichen«, die man diskriminiert, sei es »im unmittelbaren familiären Zusammenhang«, sei es weltweit. Haben wir es nicht auch mit Programmatiken »rechtspopulistischer Desensibilisierung« zu tun, die allenfalls für die Belange einer angeblich benachteiligten Gruppe, einer Ethnie oder eines Volkes sensibilisiert, auf Kosten Anderer aber, die man im gleichen Zug diskriminiert? Hier wird deutlich, wie fragwürdig der Anspruch ist, einen öffentlichen Raum zu besetzen und dabei nicht nur im eigenen Namen und mit eigener Stimme zu sprechen, sondern auch für Andere – jedoch so, dass Dritte im Zuge einer »Aufteilung des Sinnlichen« ( Jacques Rancière) im gleichen Zug unhörbar werden. Eine solche Aufteilung spaltet nicht etwa nur Stimme (phoné) und vernünftige Rede (lógos) voneinander ab, wie es die aristotelische Politik nahelegte, sondern innerhalb des Bereichs derjenigen, die sich im Prinzip Gehör verschaffen könnten, diejenigen, die von ihresgleichen ernst genommen werden, von anderen, über die geredet, aber mit denen nicht gesprochen wird. Im vierten Teil ‒ Grenzen politischer Sensibilität und Auskehr. Kunst, Politik, Gewalt ‒ führt Maud Meyzaud die Brisanz solcher Grenzziehungen anhand von Kaf kas Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse mit Blick auf die Kunst vor Augen. Wie kann die Kunst der Sängerin Josephine die »Wahrheit des Volkes« zum Vorschein bringen, wenn letzteres jegliche Sensibilität für sie vermissen lässt und wenn es sich damit begnügt, zu pfeifen ‒ auf was nur? Etwa auf die Wahrheit selbst? Ist das Volk überhaupt dazu in der Lage, zu hören, wo sich Wahrheit vermittels einer Stimme Geltung verschaff t, die seine Sprache (Pfeifen [auf…]) nicht spricht? Und wird der Anspruch der Kunst, im Modus des Gesangs Wahrheit überhaupt erst zum Vorschein zu bringen, nicht immer von der ›Unklarheit‹ unterwandert sein, wo quasi-tierische Laute auf hören und politisch ernst zu nehmende sprachliche Artikulation anfängt? Wer zieht diese Grenze? Wer ist befugt, sie hier und jetzt oder endgültig zu ziehen? Und kann das überhaupt gelingen?
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Führt Kaf kas Erzählung, in der die ›Sprache‹ des Volkes ironischerweise als depolitisiertes Pfeifen begegnet, nicht auf die Spur dieses radikalen Problems des Politischen und somit auf die Sensibilität der Frage nach ihm? Wie aus Brigitte Bargetz’ Beitrag deutlich wird, ist diese Frage nicht auf Beschreibungen politischer Sensibilisierungsprozesse zu reduzieren, die auch in überaus selbst gerechter, manipulativer und sentimentaler Art und Weise erfolgen können. Etwa dann, wenn wir es mit Politiken zu tun haben, die sich »fetischisierend« auf eigene »Verwundungen als Identitätsbeweis« berufen, ohne aber an Anderen im Geringsten interessiert zu sein. So kann man eine für sich selbst reklamierte Sensibilität gegen Andere zum Einsatz bringen und in machtvolle Opferkonkurrenz treten. Verraten solche Indienstnahmen politischer Sensibilität nicht geradezu die Sensibilität des Politischen? Worin liegt diese aber? Inwiefern und wodurch ist die Frage nach dem Politischen für uns ‒ heute ‒ eine überaus ›sensible‹? Was, wenn nicht bloß die Behauptung der eigenen politischen Existenz (à la Carl Schmitt), steht mit ihr auf dem Spiel? Die »emanzipative Veränderung gesellschaftlicher Machtverhält nisse« oder (auch) eine radikale Revision dessen, was es heißt, politisch zu existieren, aber so, dass man den Bedingungen politischer Koexistenz nicht bedingungs- und gnadenlos unterworfen ist? Diese Frage wirft Andreas Oberprantacher auf, indem er auf Machttechniken der Sichtbarmachung in Verbindung mit Grenzregimes aufmerksam macht, die das menschliche Gesicht »im Namen der Transparenz ein für allemal identifi zierbar, sprich: regierbar« machen sollen. Dagegen bringt Oberprantacher eine »Sensibilität für das Opake« und letztlich für das der Regierbarkeit Entzogene ins Spiel, das sich »dem Diktat der Transparenz zu entwinden« sucht. Ob das ‒ ohne politische Mithilfe ‒ gelingen kann, steht dahin. Längst sind wir mit Visionen einer ›restlosen‹ bzw. totalen Politisierung konfrontiert, gegen die ein sozialphilosophisches Denken im Zeichen des Anderen Einspruch einlegt. Aber nicht, um das Politische zu verwerfen, sondern um ihm eine Sensibilität abzuverlangen, über die es selbst nicht verfügt. Liegt die Sensibilität des Politischen am Ende gerade in einer Sensibilität für das, was sich ihm widersetzt (ohne dass letzteres eindeutig identifi zierbar wäre)? Auch diese Sensibilität bedarf politischer Unterstützung wie sie sich dort zeigt, wo man einer »Nicht-Phänomenalität des Gesichts« das Wort redet und verlangt, niemanden, auch die angeblich ›Illegalen‹ nicht, einem Regime ›restloser‹ Sichtbar- und Kenntlichmachung zu unterwerfen. ›Lebt‹ das Politische womöglich nur im Zeichen dieses Einspruchs? Verkümmert es dagegen überall dort, wo man vergessen hat, dass es sich angesichts jedes Anderen als eines unauf hebbar Anderen niemals selbst genügen darf ? Weder eine darauf insistierende Ästhetik noch eine angeblich zum Fundamentalismus neigende Ethik kann sich aber vom Politischen vollkommen unabhängig behaupten. Andere sind als solche nur unter Bedingungen der Koexistenz mit zahllosen anderen Anderen zu achten; und diese Bedingungen verlangen nach der Einrichtung akzeptabler politischer Lebensformen, in denen allerdings niemand jemals ›restlos‹ aufgehen kann. An diese tiefe Ambiguität und Ambivalenz des Angewiesenseins auf das Politische wird hier erinnert, das doch, wo es im Zeichen des unauf hebbar Anderen gedacht wird,
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niemals sich selbst genügen kann. Dabei bleibt ein basso continuo der Trauer um einst Versklavte, aber auch angesichts des Schicksals namenloser und ungezählter Anderer durchgängig vernehmlich, die speziell westliche Grenzregime politisch unsichtbar zu machen drohen. Die Frage ist, ob diese Trauer politisch fruchtbar zu machen wäre, wo sie nach einem radikal de-kolonialisierten Denken, nach einer neuartigen Weltpolitik im Zeichen der Achtung der Alterität des Anderen und in diesem Sinne danach verlangt, die question de l’autre (Achille Mbembe) neu aufzuwerfen ‒ sowohl als Frage des Anderen (bzw. vom Anderen her) als auch als Frage nach dem Anderen (bzw. als Befragung des Anderen). Ist das Politische sowohl im Sinne des genitivus obiectivus als auch des genitivus subiectivus für diese doppelte Frage zu sensibilisieren, so dass die Sensibilität des Politischen dabei deutlich wird, insofern es sich gerade nicht selbst genügen kann und niemanden einer totalen Politisierung ausliefern sollte? Nach der Lektüre der hier vorgelegten Untersuchungen, die an dieses Problem von unterschiedlichen Seiten ›sensibilisierend‹ heranführen, wird man den Begriff der Sensibilität jedenfalls nicht mehr emphatisch-überschwänglich gebrauchen können, hat er sich doch als außerordentlich zwiespältig und für selbstgerechten Missbrauch geeignet erwiesen. Dem beugt vielleicht nur vor, dass man Sensibilität niemals für sich selbst (wie bei Nietzsche) oder für Europa und den Westen (wie bei Richard Rorty) in Anspruch nimmt und sie statt dessen gewissermaßen aus der Hand gibt, um es Anderen zu überlassen, sie zu erfahren und zu beurteilen.
ZU R VORGESCHICHTE ›MODER N ER‹ SENSI BILITÄT SK LAV ER EI ‒ KOLONI A LISMUS ‒ AUFK LÄ RU NG
»Stealing away« 1 Trauer und suizidale Melancholie im transatlantischen Sklavenhandel Für Kathrin Busch Iris Därmann
In seiner 1808 veröffentlichten dreibändigen History of the Rise, Progress, and Accomplishment of the Abolition of the African Slave-Trade by the British Parliament berichtete Thomas Clarkson, einer der führenden Akteure der britischen Abolitionsbewegung, von seinen ersten Besuchen der Hafenstädte Bristol und Liverpool. Von hier aus stach die Flotte der britischen Sklavenschiffe in See, deren Eigner sich mit hohen Gewinnen am transatlantischen Sklaven handel, der gewaltsamen Deportation von annähernd 12,5 Millionen Afrikanerinnen und Afrikanern in die Karibik sowie nach Nord- und Südamerika durch die europäischen Kolonialmächte, beteiligten, der vielen Millionen weiterer Menschen auf der berüchtigten Middle Passage das Leben kostete, wie wir heute dank der einschlägigen Forschungen von David Eltis, Herbert S. Klein, David Richardson, Paul Lovejoy u. a. wissen.2 Thomas Clarkson, der Afrika selbst niemals bereist hatte, war in den beiden
Insofern »runaway slaves« von ihren Besitzern als »stealing themselves« charakterisiert wurden, bezeichneten Sklavinnen und Sklaven ihre alltäglichen Widerstandspraktiken ironischerweise als »Sich-Wegstehlen« (»stealing away«). Das umfasste einen großen Kreis von Aktivitäten – heimliche Treffen (»stealing the meetings«), Feste, Tänze, verbotene Besuche von Verwandten und Liebsten auf Nachbarplantagen, so S. V. Hartman, Scenes of Subjection. Terror, Slavers, and Self-Making in Nineteenth-Century America, Oxford 1997, 65 f., 69. Für den Hinweis danke ich herzlich Andreas Gehrlach. 2 Grundlegend war erstmals P. D. Curtin, The Atlantic Slave Trade. A Census, Madison, WI 1969, wie D. Eltis unterstreicht: »The volume and structure of the transatlantic slave trade, 1562‒1867. A Reassessment«, in: The William and Mary Quarterly 58 (2001), 17‒46. Dazu auch A. Eckert, »Auf klärung, Sklaverei und Abolition«, in: Die Aufklärung und ihre Wechselwirkung, hg. von W. Hartwig, Göttingen 2011, 243‒262, hier: Anm. 15, 246 f. Zur Schätzung der Zahl der Zwangsdeportierten aus Afrika siehe ebenfalls P. E. Lovejoy, Transformations in Slavery. A History in Africa, Cambridge 1983, 66‒87; sowie D. Eltis, D. Richardson, Atlas of the Transatlantic Slave Trade, New Haven 2010. Zu den durch Historiker und Historikerinnen am Du Bois Institute der Harvard University zusammengetragenen und regelmäßig aktualisierten Zahlen, Fakten und Namen von inzwischen 91.491 identifi zierten versklavten Afrikanerinnen und Afrikanern siehe http://www.slavevoyages.org/ »The Trans-Atlantic Slave Trade Database has information on almost 36,000 slaving voyages that forcibly embarked over 10 million Africans for transport to the Americas between the sixteenth and nineteenth centuries. The actual number is estimated to have been as high as 12,5 million. The database and the separate estimates interface offer researchers, students and the general public a chance to rediscover the reality of one of the largest forced movements of peoples in world history.« Vgl. Extending the Frontiers. Essays on the New Transatlantic Slave Trade Database, ed. by D. Eltis, D. Richardson, New Haven 2009. 1
ZÄK-Sonderheft 17 · © Felix Meiner Verlag 2018 · ISBN 978-3-7873-3544-2
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Hafenstädten auf der Suche nach aussagekräftigen Zeugnissen und »Evidenzen«3, um eine »Kollektion« spezifischer Dinge, Instrumente, Produkte und Graphiken zusammenzustellen, die geeignet sein könnte, die »Grausamkeit«4 und »Inhumanität« 5 des Sklavenhandels zu dokumentieren und zugleich fühlbar zu machen. Er und weitere Protagonisten der britischen Abolition, die zunächst nur für die Abschaffung des Sklavenhandels, nicht jedoch für ein »Empire ohne Sklaverei« 6 eintraten, entwickelten gezielte rhetorische, imaginative und visuelle Strategien einer, mehr oder minder, propagandistischen »Sensibilisierung« 7, die die britische Öffentlichkeit und die Mitglieder des Parlaments aus der ihr eigenen »Gefühllosigkeit« 8 angesichts des ungeheuren »Leids« der »unhappy Africans« 9 reißen sollte. Clarkson schilderte im ersten Band seiner History, wie er 1787 bei einem Gang durch die Hafenstadt Liverpool auf das Schaufenster eines Geschäftes gestoßen war, in dem frei verkäufl iche Folterinstrumente aus Eisen feilgeboten wurden, die in diesem »cruel traffic«10 notorisch zum Einsatz kamen. Mithilfe ihrer graphischen Darstellung auf einer Schautafel machte er seine Leser selbst zu Zuschauern jener Folterinstrumente in der Auslage des besagten Geschäftes, die er eigens erworben und deren Handhabung er sich durch den Verkäufer eingehend hatte erklären lassen: Abbildung A zeige ein Paar eiserner Handschellen, mit dem das rechte und linke Handgelenk zweier Männer zusammengeschlossen werde; Abbildung B wiederum ein Paar eiserner Fußfesseln, die demselben Zweck an den unteren Gliedmaßen dienten, um jede Flucht unmöglich zu machen. Bei einer weiteren Abbildung handele es sich um ein speculum oris zur Zwangsernährung in Fällen »trotziger« Nahrungsverweigerung, wie ihm der Verkäufer erklärt habe. Abbildung C und D zeigten Daumschrauben, mit denen auf den britischen Sklavenschiffen Widersetzlichkeiten bestraft würden.11 »By turning it further you make the blood start from the ends Th. Clarkson, The History of the Rise, Progress, and Accomplishment of the Abolition of the African Slave-Trade by the British Parliament, Vol. I., London 1808, 3, 4, 6 u. ö. 4 Ebd., 357, 360, 365 f., 373 u. ö. 5 Ebd., 75, 226, 358, 374 u. ö. 6 Angesichts des horrenden Rassismus einerseits und der kapitalintensiven Investitionen und hohen Gewinnraten des Sklavenhandels sowie der ertragreichen Plantagenwirtschaft in den Kolonien andererseits schien in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein »Empire without slavery« für das koloniale Mutterland noch »unthinkable«, wie C. L. Brown bemerkt: »Empire without Slaves: British Concepts of Emancipation in the Age of the American Revolution«, in: The William and Marry Quarterly LVI, No. 2 (1999), 274‒306. Der komplizierten Frage nach den Ursachen, Möglichkeiten und Folgen der Abolitionsbewegung geht der von D. Eltis und J. Walvin herausgegebene Sammelband The Abolition of the Atlantic Slave Trade: Origins and Eff ects in Europe, Africa, and the Americas (Madison 1981) nach. 7 Siehe dazu die wegweisende Untersuchung von B. Carey, British Abolitionism and the Rhetoric of Sensibility: Writing, Sentiment and Slavery, 1760‒1807, Houndmills, Basingstoke 2005. 8 T. Clarkson, The History of the Rise, Progress, and Accomplishment of the Abolition of the African Slave-Trade by the British Parliament, Vol. I., 518. 9 Ebd., 109, 445. 10 Ebd., 373. 11 Ebd., 375. 3
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of them. By taking the key away, as at E, you leave the tortured person in agony, without any means of extricating himself, or of being extricated by others.«12 Mit der direkten Adressierung seiner Leser suchte Clarkson vermeintlich passive Zuschauer in die imaginäre Position folternder und zurechenbarer Akteure zu versetzen, besser gesagt erklärte er jene Zuschauer, die dem »horrible system«13 des Sklavenhandels ungerührt zuzuschauen pflegten, zu Mittätern – Zuschauer etwa, wie die Schaufensterbetrachter in Liverpool.14 »The people too at Liverpool seemed to be more hardened, or they related them with more coldness or less feeling.«15 In Liverpool war Clarkson erklärtermaßen auch auf der Suche nach »copies of the muster-rolls of several slave-vessels«16. Die von James Phillips in hoher Aufl age gedruckten Kopien des Holzstiches mit dem Plan, der Beschreibung und der Abbildung der einzelnen »Apartments« des Liverpooler Sklavenschiffs Brooks, in denen afrikanische Männer, Frauen und Kinder auf engstem Raum zusammengepfercht wurden, sollte Clarkson nicht nur seit 1789 in verschiedenen seiner Publikationen verwenden17, insbesondere in An Essay on the Comparative Efficiency of Regulation or Abolition, as applied to the Slave Trade (1789). Auch William Wilberforce zeigte eine Kopie der Brooks im House of Commons, um die tödliche Enge greif bar zu machen, in der Afrikanerinnen und Afrikaner im Gewaltraum britischer Sklavenschiffe regulärerweise wie »Stapelware« transportiert wurden und die Überfahrt durch die Middle Passage durchleiden mussten. Viele betrachteten, so Clarkson, die Druckgrafi k und »considered the regulation itself as perfect barbarism«.18 Protokollen des London Committee of the Society for Effecting the Abolition of the Slave Trade zuEbd., 376. Ebd., 249. 14 Siehe dazu die einschlägige Interpretation von M. Abruzzo, Polemical Pain: Slavery, Cruelty, and the Rise of Humanitarianism, Baltimore 2011, 93. 15 T. Clarkson, The History of the Rise, Progress, and Accomplishment of the Abolition of the African Slave-Trade by the British Parliament, 377. 16 Ebd., 373. 17 Description of a Slave Ship, London 1789. Es sind zwei Varianten bekannt. Der Titel des Plymouth-Drucks lautete: Plan of an African Ship’s lower Deck, with Negroes in the proportion of not quite one to a Ton, published by a society at Plymouth, in Great Britain; from which the Pennsylvania Society for Promoting the Abolition of Slavery have taken … extracts, Philadelphia, May 29, 1789. The extract is signed: By the Plymouth committee, W. Elford, chairman. W. Elford, Plan of an African Ship’s Lower Deck, Phil. 1789. Zur Geschichte des Bildes siehe »The Brookes – visualising the transatlantic slave trade« https://www.history.ac.uk/1807commemorated/exhibitions/museums/brookes.html sowie https://en.wikipedia.org/wiki/Brookes_(ship) (Zugriff am 30.09.2017): »The image portrays 487 slaves while on the voyage prior to when the measurements were taken the ship held 638 persons, the next journey 744, and the journey following the measurements, 609.« Detaillierte Berechnungen und Analysen fi nden sich bei C. Garland, H.S. Klein, »The Allotment of Space for Slaves aboard Eighteenth Century British Slave Ships«, in: The William and Mary Quarterly 42 (1985), 238‒248, hier: 239. 1788 war es Gegnern des Sklavenhandels erstmals gelungen, die räumlichen Bedingungen an Bord britischer Sklavenschiffe formal zu regulieren: »Der Dolben Act«, so Garland und Klein, »aus demselben Jahr begrenzte die Zahl der Sklaven pro Registertonne«. 18 T. Clarkson, The History of the Rise, Progress, and Accomplishment of the Abolition of the African 12 13
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folge, erzielte der Holzstich eine enorme Resonanz. Allein am 28. Juli 1789 sollen folgende Bestellungen eingegangen sein: »1,700 Description of a Slave Ship with copper plate; 7,000 ditto with wood cuts.«19 Den immunisierten Teil der britischen Öffentlichkeit und der parlamentarischen Entscheidungsträger für die »schrecklichen Verbrechen« des Sklavenhandels und das Leid der afrikanischen Menschen zu »sensibilisieren« 20 und für einen dramatischen politischen Meinungswechsel 21 zu gewinnen, war das Eine. Das Andere, Afrikanerinnen und Afrikaner überhaupt als fühlende und empfi ndende Menschen wahrzunehmen, sie als Väter, Mütter, Schwestern, Freundinnen, Töchter, Tanten, Söhne mit ihren je eigenen Verwandtschafts-, Benennungs- und Haltungssystemen 22 vorzustellen. Im offensiven Kalkül der Sklavenhändler, der Kapitäne und Besatzungsmitglieder, der Schiffseigner und Aktionäre der Royal African Company, kurzum: all jener, die am britischen Sklavenhandel profitierten, lag es, Menschen mit Peitschen- und sexueller Gewalt, mit Folter, Eigentumsmarkierungen (branding), Erniedrigungen, Beschämungen auf bloße »pieces«, »hands« und animalische Körper zu reduzieren, sie zu entpersonalisieren, sie physisch, psychisch, rechtlich und ökonomisch zu enteignen, sie »natal zu entfremden« und eines »sozialen Todes« 23 sterben zu lassen. Über die »Ärmsten der Armen«, »Sklavengesindel, Bösewichter und ungewaschene Packesel«, die »Lasten schleppen wie Ochsen, Kot essen wie die Gefährten des Odysseus, Salz lecken wie Rinder, Nachttöpfe ausleeren, die Gosse reinigen, Abfall und Mist transportieren oder Kamine fegen. Ganz zu schweigen von jenen türkischen Galeerensklaven, die wie Vieh gekauft und verkauft werden, oder jenen Neger- und Eingeborenenkulis, die in Westindien täglich unter Lasten zusammenSlave-Trade by the British Parliament, Vol. II, London 1806, 115. Zur abolitionistischen »Macht des Bildes« der Brooks siehe M. Rediker, The Slave Ship. A Human History, New York 2007, 335 ff. 19 C. Finley, Committed to memory: the slave ship icon in the black Atlantic imagination (Ph. D. dissert., Yale Univ.) 2002, Anm. 119, 94. Siehe Plan and cross-section of the slave ship »Brookes« of Liverpool, 1789 Woodcut. Curator’s comments. http://www.britishmuseum.org/re search/collection_on line/collec tion_object_details.aspx?objectId=693429&partId=1 (Zugriff am 19.09. 2017) »After 1787«, so J. Walvin, »abolition was instantly popular, and on a totally unexpected scale. Petitions rained in from across the country; tens of thousands of people, men and women, and from all social classes, added their names to the demand for abolition.« https://www.history. ac.uk/ihr/Focus/Slavery/articles/walvin.html (Zugriff am 21.09.2017). 20 T. Clarkson, An Essay on the Comparative Effi ciency of Regulation or Abolition, as applied to the Slave Trade, Second Edition, London 1789, 5, 53, 157. 21 J. Walvin, England, Slaves and Freedom, 1776-1838, Houndmills, Basingstoke, Hampshire, London 1986, 84. 22 Zum verwandtschaftlichen »Haltungssystem« (système des attitudes), der Übersetzung des »Benennungssystems« in Affekte, gehören neben »Achtung oder Vertraulichkeit, Recht oder Pfl icht, Zuneigung oder Abneigung,« auch das »Vorrecht, Scherze zu treiben«. Siehe C. LéviStrauss, »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie«, in: ders., Strukturale Anthropologie, Bd. I, aus dem Französischen von E. Moldenhauer, Frankfurt/M. 1977, 43-76, hier: 50 ff. 23 O. Patterson, Slavery and Social Death. A Comparative Study, Cambridge, London 1982, »natal alienation«: 5‒6, 7‒9; »social death«: 38‒46, 215.
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brechen, die bei uns nur Ochsen und Eseln zugemutet werden«, hatte schon Robert Burton 1621 in seiner Anatomie der Melancholie behauptet, dass sie angesichts ihrer elenden Lage wegen ihres »beschränkteren geistigen Horizonts« nur wenig Melancholie empfänden, im großen Unterschied zu den Freien, Patriziern sowohl wie Plebejern, wenn sie sich unerwartet in erbärmlichen und menschenunwürdigen Verhältnissen wiederfänden. Aufgrund ihrer Unempfi ndlichkeit gegenüber ihren Elendsmiseren seien die Unfreien daher kaum zu »Aufruhr, Empörung, Aufwiegelei, Rebellion, Diebstahl, Mord, Meuterei, Zank und Streit« geneigt.24 In ihren visuellen und rhetorischen Sensibilisierungsstrategien legten die Akteure der britischen Abolition, Thomas Clarkson, James Ramsay, James Turbin, Gordon Turnbull und die afrikanischen »Vorreiter der Abolitionsbewegung«, Quobna Ottobah Cugoano, Ignatius Sancho 25 und Olaudah Equiano 26 zumal nicht allein Nachdruck auf die Humanität von Afrikanern und Europäern, sondern gerade auch auf die menschliche Sensibilität der Versklavten. Die britischen Abolitionisten wollten in den Zeugenaussagen der kolonialen Akteure und den Narrativen der durch Sklavenfänger im afrikanischen Hinterland verschleppten, von ihren Familien getrennten und auf die mörderische Schiffsreise geschickten Menschen alle Anzeichen tiefer Melancholie und hoff nungsloser Verzweiflung erkennen. Mit ihrer Gefühlspolitik reduzierten sie Afrikanerinnen und Afrikaner jedoch auf leidende, klagende, mitunter auch auf anklagende Menschen, ohne eigene Handlungsspielräume.27 Die von neun Quäkern und drei Anglikanern (darunter Thomas Clarkson und James Phillips) am 22. Mai 1787 gegründete Society for Eff ecting the Abolition of the Slave Trade wählte nicht zuf ällig das von Josiah Wedgwood in Auftrag gegebene und von William Hackwood entworfene Emblem eines an den Händen gefesselten, um seine Freiheit mit der Frage »Am I Not a Man and a Brother?« auf Knien bettelnden, nackten Afrikaners28 zu ihrem Ikon. Es wurde als Bronzemünze und Keramikmedallion in Umlauf gebracht und R. Burton, Anatomie der Melancholie. Über die Allgegenwart der Schwermut, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten (1621), aus dem Englischen und mit einem Nachwort versehen von U. Horstmann, 3. Aufl age, Zürich, München 1990, 283, 285. 25 B. Carey, »›The extraordinary Negro‹: Ignatius Sancho, Joseph Jekyll, and the Problem of Biography«, in: British Journal for Eighteenth-Century Studies 26 (2003), 1‒14. 26 »Als Vorreiter der Abolitionsbewegung« bezeichnet F. Shyllon nicht zuletzt Olaudah Equiano in: Black People in Britain 1555‒1833, London 1977, 154. Siehe dazu auch P. E. Lovejoy, »Autobiography and Memory: Gustavus Vassa, alias Olaudah Equiano, the African«, in: Slavery and Abolition 27, No 3 (2006), 317‒347, hier: 317 f. 27 T. Clarkson, An Essay on the Comparative Effi ciency of Regulation or Abolition, as applied to the Slave Trade, 82 ff. Siehe dazu Clarksons Untersuchung der »afrikanischen Melancholie« anhand der fi ktiven Klage- und Anklagerede eines »intelligent« und »unhappy African«: »What is Christianity, but a system of murder and oppression?«, fragte dieser schließlich. 28 Auf den Aspekt der Bettelei und des Kniens macht S. V. Hartman aufmerksam in ihrer eindringlichen, persönlich-genealogischen Form der Geschichtsschreibung des transatlantischen Sklavenhandels: Lose Your Mother: A Journey Along the Atlantic Slave Route, New York 2007, 167. Zum Ikon selbst siehe http://www.historyofi nformation.com/expanded.php?id=4156 (Zugriff am 22.09.2017). 24
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gehörte im 18. Jahrhundert in Europa zu den wohl bekanntesten Bildern eines Sklaven. Dagegen verbanden die afro-britischen Vorreiter der Abolitionsbewegung, wie der zuerst auf die WestIndies, dann nach England deportierte Fante Quobna Ottobah Cugoano 1791 in seinen Thoughts and Sentiments on the Evil of Slavery and Commerce of Human Species, ihre Darstellungen der Brutalität der Sklavenfänger, der Schiff sbesatzungen und des »unfeeling monsters of Captains« auf der einen, Schilderungen des ihren Brüdern und Schwestern angetanen Leids und ihrer »melancholischen« Verlassenheit 29 zu Beginn der Revolutionsereignisse in Saint-Domingue (Haiti 1791-1804) auf der anderen Seite mit dem direkten Aufruf zu Widerstand, Rebellion und Revolution.30 Doch sind Trauer und Melancholie im Kontext der transatlantischen Sklaverei nicht selbst widerständige Gefühle, Gefühle des Rückzugs und des Widerstands, die die heute so festgefügte Unterscheidung zwischen passivem und aktivem Widerstand, Passivität und Aktivität unterlaufen?31 Q. Ottobah Cugoano, Thoughts and Sentiments on the Evil of Slavery and Commerce of Human Species (1787/1791), Ann Arbor, Michigan 2005, 95 ff. »The stowing them in the holds of the ships like goods of burden, with closeness and stench, is deplorable; and, what makes addition to this deplorable situation, they are often treated in the most barbarous and inhuman manner by the unfeeling monsters of Captains. And when they arrive at the destined port in the colonies, they are again stripped naked for the brutal examination of their purchasers to view them, which, to many, must add shame and grief to their other woe, as may be evidently seen with sorrow, melancholy and despair marked upon their countenances.« 30 Ebd., 76‒77. »History affords us many examples of severe retaliations, revolutions and dreadful overthrows; and of many crying under the heavy load of subjection and oppression, seeking for deliverance. And methinks I hear now, many of my countrymen, in complexion, crying and groaning under the heavy yoke of slavery and bondage, and praying to be delivered; and the word of the Lord is thus speaking for them, while they are bemoaning themselves under the grievous bonds of their misery and woe, saying, Woe is me! alas Africa! […] What revolution the end of that predominant evil of slavery and oppression may produce, whether the wise and considerate will surrender and give it up, and make restitution for the injuries that they have already done, as far as they can; or whether the force of their wickedness, and the iniquity of their power, will lead them on until some universal calamity burst forth against the abandoned carriers of it on, and against the criminal nations in confederacy with them, is not for me to determine? But this must appear evident, that for any man to carry on a traffic in the merchandize of slaves, and to keep them in slavery; or for any nation to oppress, extirpate and destroy others; that these are crimes of the greatest magnitude, and a most daring violation of the laws and commandments of the Most High, and which, at last, will be evidenced in the destruction and overthrow of all the transgressors. And nothing else can be expected for such violations of taking away the natural rights and liberties of men, but that those who are the doers of it will meet with some awful visitation of the righteous judgment of God, and in such a manner as it cannot be thought that his just vengeance for their iniquity will be the less tremendous because his judgments are long delayed.« Die britische Abolitionsbewegung sei durch die Haitianische Revolution, die das Parlament nachhaltig erschüttert hätte, gerade auch auf Betreiben der West-Indien-Lobbyisten, um 20 Jahre verzögert worden, so J. Walvin, Britain’s Slave Empire, Gloucestershire 2000, 71 f. 31 Das Entscheidende zur Passivität habe ich von Kathrin Busch gelernt. Siehe dazu K. Busch, Passivität, Hamburg/Lüneburg 2012. 29
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»Wo Macht ist, ist auch Widerstand.« Wo es disziplinäre Gewalt gibt, die »zwingt, beugt, bricht, zerstört« 32 , da gibt es Gegengewalt. Der Sinn für die Möglichkeit, Befehle zu verweigern und Gewalt auszuweichen, ist für Menschen, denen verwehrt wird, über sich selbst zu verfügen und sich selbst zu gehören, in jedem Augenblick ihrer Existenz existenziell. Es wird immer mehr Scharfsinn, List und affektive Kraft erforderlich sein, um zu widerstehen, als es nicht zu tun, vor allem aber, als Befehle zu erteilen und Gewalt auszuüben. Zu widerstehen ist der Beginn aller »Erfi ndsamkeit«, der »Kunst der nuances, d[er] feine[n] Fingerfertigkeit in der Handhabe von nuances« 33, sich undienlich zu machen. An allen Ereignissen und Formen des Widerstandes ist das wohl Unerklärlichste, dass und wie überhaupt aus unerträglichem Leid, das mit Ohnmacht, gewaltsamer Ausbeutung und Versklavung verbunden ist, die Kraft der Zurückweisung hervorgehen kann. Wie kann aus Kraftlosigkeit die Kraft hervortreten, etwas anderes zu tun als das Befohlene, es in anderer Weise zu tun oder es gerade nicht zu tun? Passion und Passivität, Trauer und Melancholie bilden die Grenze und den verleihenden Anstoß für jeden Widerstand, dienlich gemacht zu werden, und sei es auch nur für einen Augenblick des Zögerns, des sich Zurückziehens, des verstohlenen Ausweichens und Verschleppens von Befehlen. Zu widerstehen und sich undienlich zu machen, ist das Eine. Das Andere betriff t die Dimension des Undienlichen im Menschen selbst in seiner fundamentalen Passivität und Trauer. In allen Dienstbarkeits- und Gewaltverhältnissen, in denen Menschen auf den Gebrauch ihres nackten Körpers reduziert, um sie zu zwingen, für ihren Besitzer Dinge zu tun, die sie in Freiheit niemals tun würden, fi ndet sich eine irreduzible Grenze des mörderischen Zugriff s und der Indienstnahme. Die Unverfügbarkeit dieser trauernden Passivität lässt sich an der despotischen Verfolgung zweier äußerster Widerstands- und Insistenzformen des Selbst greif bar machen: der Selbst-Verstümmelung und der Selbst-Tötung.34 Der Übergang zwiM. Foucault, »Das Subjekt und die Macht«, in: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, hg. von H. L. Dreyfus, P. Rabinow, Weinheim 1994, 241–261, hier: 254. 33 F. Nietzsche, Nachlass Oktober – November 1888, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 13, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin, New York, München 1967‒77/88, 24[1], 618. 34 T. L. Snyder zufolge war W. D. Pierson der Erste, der der Frage des Suizids im Kontext der transatlantischen Sklaverei überhaupt seine Aufmerksamkeit geschenkt hat in: »White Cannibals, Black Martyrs: Fear, Depression, and Religious Faith as Causes of Suicide among New Slaves«, in: Journal of Negro History 62 (1977), 147‒159. Ihr verdanke ich auch den Hinweis auf M. A. Gomez, Exchanging Our Country Marks: The Transformation of African Identities in the Colonial and Antebellum South, Chapel Hill, NC 1998, 116‒131. Dem kollektiven Suizid einer Gruppe von Igbos, die 1803 in der Nähe von Savannah in Georgia als Sklaven verkauft und auf einem kleinen Schiff nach St. Simon’s Island verbracht werden sollten, auf dem sie rebellierten und die Besatzung ins Wasser springen ließen und zum Ertrinken zwangen, bevor sie sich selbst das Leben nahmen, spricht M.A. Gomez den Charakter der »vermutlich ultimativen Form des Widerstands« (ebd., 120) zu. T. L. Snyder geht insbesondere der Bedeutung der »Power« in Akten der Selbstzerstörung und der Rolle nach, die »slave suicide« für die und in der afro-amerikanischen Erinnerungskultur gespielt hat. Siehe T. L. Snyder, »Suicide, Slavery, and Memory«, in: The Journal of American History 97, No. 1 (2010), 39‒62, hier: 42. Die Autorin spricht von »slave suicide 32
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schen der Aktivität des sich Undienlichmachens und der Passivität des Undienlichwerdens vollzieht sich in der zerstörerischen Wendung gegen die eigene Person, die sich in der Entaneignung, die das Schwächerwerden bedeutet, wiederaneignet und sich selbst zu eigen wird. Im Suizid sind Können und Nicht-Können, Macht und Ohnmacht, Aktivität und Passivität auf eigentümliche Weise verschränkt. Er ist ein Akt, der sich auf kein Können, keine Übung, keine Gewissheit und kein Vermögen stützen kann, und der doch seine ganze und womöglich größte Fähigkeit darin erweist, auf all seine Fähigkeiten zu verzichten. Er ist die stärkste Potentia Passiva 35, die sich denken lässt. Befehlsmacht und Verweigerung, Gewalt und Widerstand, Fremd- und Selbstbestimmung sind keine Handlungs- und Leidenssphären, die für Herren und Sklaven gleichermaßen klar und deutlich voneinander unterschieden wären. Ihre Beziehung entfaltet sich vielmehr in vertrackten disziplinären und anti-disziplinären Beziehungsnetzen, nicht selten in extremer Nähe und in »polymorphen« Machtrelationen: »Erfi ndsamkeit« und Melancholie transformieren und schwächen, zumindest partiell, jene Macht und Gewalt, der sie sich entziehen und der sie widerstehen.36 Widerstand entspricht noch der kleinsten Gegenmacht, die das Gefälle für einen Augenblick »diagnostisch« verkehrt. Despotische Macht und Gewalt ordnen wiederum, Seite an Seite mit der Zwangsarbeit, zum Vergnügen der Sklavenhalter und zur Reproduktion der versklavten Körper ein »performing blackness« 37 an, ein »dancing and singing«, das im Sinne eigener Freude, »eigensinniger« Praktiken und eines eigentümliches Begehrens dem Zugriff der Gewalthaber eigentlich entzogen bleiben sollte.38 ecology: the emotional, psychological, and material conditions that fostered it.« Siehe auch das von ihr kürzlich publizierte Standardwerk: The Power to Die. Slavery and Suicide in British North America, Chicago, London 2015. 35 G. Agamben, »Über negative Potentialität«, aus dem Italienischen von E. Aloa, in: Nicht(s) sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, hg. von E. Aloa und A. Lagaay, Bielefeld 2008, 285‒298. 36 L. Abu-Lughod betont, dass sich Widerstand nicht in einem Außerhalb der Macht, sondern nur in Relation dazu ereigne, daher »an index to particular fi guration and transformation of power« sein könne. L. Abu-Lughod, »The Romance of Resistance: Tracing Transformations of Power through Bedouin Women«, in: American Ethnologist 17, No. I (1990), 41‒55, hier: 53. 37 S.V. Hartman, Scenes of Subjection, 56, 42. Hartman, die den Widerstandspraktiken eine diagnostische Bedeutung hinsichtlich der Macht zuweist, bezieht sich auf Foucaults nietzscheanisches Verständnis von Macht als Relation zwischen Macht und Gegenmacht, wie er es im ersten Buch von Die Geschichte der Sexualität mit der Aussage – »wo Macht ist, ist auch Widerstand« – skizziert hat. In diesem Kontext hat er bekanntermaßen die Produktivität von Macht hervorgehoben. Produktiv ist indessen im Zusammenhang der transatlantischen Sklaverei, so würde ich zumindest unterstreichen, die Gegenmacht in Form erfi nderischer, sklavischer Widerstandspraktiken. 38 Unter dem oszillierenden und Hegel entlehnten Leitbegriff des »Eigen-Sinns« hat A. Lüdtke den berufl ichen Alltag von Fabrikarbeiterinnen und -arbeitern untersucht: »Eigensinn wird in aller Regel als ein Unterfall von Widerstand oder Widerständigkeit begriffen. Im vorherrschenden Blick pendeln Verhaltensweisen zwischen zwei Polen: Gehorsamkeit und Folgsamkeit auf der einen, Widerständigkeit und offener Widerstand auf der anderen Seite. Im Unterschied dazu zielt die Frage nach dem Eigensinn auf ein Verhalten jenseits solcher Entwe-
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Middle Passage Für den Transport der im afrikanischen Inland geraubten und von afrikanischen wie europäischen Sklavenhändlern gekauften Menschen über den Atlantik wurden seit der Neuzeit »relativ kleine, aber schnelle« Frachtschiffe des Typs slaver, négrier und tumbeiro eingesetzt.39 Englische Seeleute bezeichneten den ersten Mann und die erste Frau, die sie gewaltsam an Bord zwangen, als »Adam« und »Eva«. Dem Zeugnis Dr. T. Trotters zufolge, der von 1783 bis 1784 auf dem Sklavenschiff Brooks als Schiffsarzt tätig war, lagen die Gefangenen auf den britischen Sklavenschiffen so nah beieinander, dass es unmöglich war, zwischen ihnen hindurchzugehen, ohne sie mit Füßen zu treten.40 »In der Regel wurden zwei bis drei Sklaven pro Registertonne geladen, ehe das englische Parlament 1788 eine neue Höchstzahl von 1,8 Sklaven pro Registertonne durchsetzte«.41 Olaudah Equiano, der seine Freiheit durch Rückkauf wiedergewinnen konnte und in England zu einem Vorkämpfer der Abolition wurde, wurde 1765 als Elfjähriger von afrikanischen Sklavenfängern geraubt, an Bord eines englischen Sklavenschiffes nach Barbados deportiert, um von dort nach Virginia verkauft zu werden. In seiner Lebensgeschichte berichtete er von den Zuständen unter Deck42:
der-Oder-Fixierung.« A. Lüdtke, Eigen-Sinn: Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, 380; zu Hegels Verwendung des Begriff s im »HerrKnecht-Kapitel« in der Phänomenologie des Geistes siehe auch A. Lüdtke, »Geschichte und Eigensinn«, in: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, hg. von Berliner Geschichtswerkstätten, Münster 1994, 139‒153, hier: 149 f. 39 M. Zeuske, Handbuch Geschichte der Sklaverei. Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 2013, 349. 40 T. Trotter, Observations on the scurvy: with a review of the opinions lately advanced on that disease, and a new theory defended, on the approved method of cure, and the induction of pneumatic chemistry: being an attempt to investigate that principle in recent vegetable matter, which, alone, has been found eff ectual in the treatment of this singular disease: and from thence to deduce more certain means of prevention than have been adopted hitherto, London 1785, 54. Dazu R. J. Sparks, Die Prinzen von Calabar. Eine atlantische Odyssee, aus dem Amerikanischen von C. Weller, Berlin 2004, 91; ebenfalls M. Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen. Eine Weltgeschichte des Sklavenhandels im atlantischen Raum, Berlin/ Boston 2015, 61. W. O. Blake, The History of Slavery and the Slave Trade, ancient and modern. The forms of slavery that prevailed in ancient nations, particularly in Greece and Rome. The African slave trade and the political history of slavery in the United States, Columbo, Ohio 1857, 128. 41 A. Wirz, Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem, Frankfurt/M. 1984, 37. Es handelte sich um an act to regulate, for a limited time, the shipping and carrying of slaves in British vessels from coast to Africa, der auch als Dolben’s Act bekannt ist, abgedruckt in: E. Donnan, Documents illustrative of the History of the Slave Trade to America, Vol. 2, Washington 1931, 582‒589. 42 O. Equiano, Merkwürdige Lebensgeschichte eines Sklaven, von ihm selbst veröff entlicht im Jahre 1789, aus dem Englischen von B. Wünnenberg, Frankfurt/M. 1990, 66 f. Zur Lebensgeschichte Equianos siehe A. Wirz, Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem, 11 ff.; V. Carretta, Equiano. A Biography of a Self-Made Man, Athens/GA 2005 sowie A. Eckert, »Vom Sklaven zum Gentleman: Olaudah Equiano (? – 1797)«, in: Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen, hg. von B. Hausberger, Wien 2006, 98‒116.
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»Die Geschlossenheit des Stauraums, die Hitze des Klimas, dazu die Menge Menschen, die so dicht zusammengepfropft waren, daß man sich kaum umdrehen konnte, all das ließ uns beinahe ersticken. Die starken Ausdünstungen, die dadurch entstanden, machten die Luft bald vor lauter ekelhaftem Gestank zum Atmen völlig untauglich und ließ unter den Sklaven Krankheiten ausbrechen, an denen viele starben, die so Opfer des sorglosen Geizes, wie ich es nennen will, ihrer Käufer wurden. Diese elende Lage wurde noch verschlimmert durch den Druck der schmerzenden Ketten, die nun unerträglich wurden, und durch die Verstopfungen der Notdurftkübel, in die die Kinder oft fielen, wo sie dann beinahe erstickten. Das Schreien der Frauen und das Ächzen der Sterbenden machte das Ganze zu einer Szene des unvorstellbaren Grauens.«
Johann Jakob Sell, der erste deutschsprachige Historiker des transatlantischen Sklavenhandels, hielt 1791 fest: »Die Neger, selbst die Kranken liegen auf den bloßen Dielen, und die Bewegung des Schiffes reibt ihre Haut, ja selbst das Fleisch von den Schultern und Hüften so ab, daß die Knochen ganz offen liegen.«43 Auf den Liverpooler Sklavenschiffen wurde das rechte Bein des einen Mannes an das linke Bein eines anderen gekettet, was eine Quelle von Konfl ikten zwischen den aneinander Geketteten darstellte, etwa wenn es nachts darum ging, eine geeignete Position zum Schlafen zu fi nden.44 Freiheit ist auch und gerade ungehinderte Bewegungsfreiheit und bedeutet die Unangreif barkeit eines intimen Raums. Sie erweist sich in der Möglichkeit der freien Variation von Nähe und Distanz, von Zu- und Abwendung, kurz, in der situativen Bestimmung des intimen, persönlichen, sozialen und öffentlichen Zwischenraums. Der Macht- und Gewaltraum des Sklavenschiffs zerstörte diese proxemische45 Freiheitsdimension, und zwar so massiv, dass die Vernichtung des »Pathos der Distanz«46 für jeden einzelnen versklavten Menschen den Tod bedeuten konnte. Die Durchschnittstemperatur betrug unter Deck 38 Grad Celsius. Im
J. J. Sell, Versuch einer Geschichte des Negersklavenhandels, Halle 1791, 118. G. Williams, History of the Liverpool Privateers and Letters of Marque with an Account of the Liverpool Slave Trade. With Illustrations, London, Liverpool 1897, 535. W. Butterworth, Three Years Adventures of a Minor in England, Africa, The West Indies, South Carolina and Georgia 1851, 587. 45 E. Twitchell Hall, Die Sprache des Raumes, aus dem Amerikanischen von H. Dixon, Düsseldorf 1976, 123. Hall triff t in dieser grundlegenden interkulturellen Untersuchung des zwischenmenschlichen Raumgebrauchs eine Unterscheidung zwischen intimer, persönlicher, sozialer und öffentlicher Distanz, die er ihrerseits noch einmal in eine je nahe und weite Phase unterteilt. 46 So Nietzsches – in Anlehnung an Isaac Newtons Die mathematischen Prinzipien der Physik ([1687], Berlin, New York 1999, 28) und in Bezug auf die Wirkung der Frauen aus der Ferne formuliertes »Pathos der Distanz«: Die fröhliche Wissenschaft, Zweites Buch, 60, in: KSA, Bd. 3, 424. Als actio in distans bezeichnet Newton die Wirkung der Körper über die Entfernung hinweg vermittels der Gravitationskraft. 43
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tropischen Klima wurde für eine 80tägige Schiff sreise pro Sklave und Sklavin ein »60 Gallonen-Fass (eine Gallone = 3,7 und 4,5 Liter)«47 berechnet. Die Sterblichkeitsraten und -Ursachen variierten. Sie waren in den ersten 28 Tagen der Überfahrt am höchsten (64,5 %) und stiegen, wenn die Reise länger als 197 Tage dauerte, noch einmal auf 52 % der noch nicht zu Tode Gekommenen an. Todesursachen waren Malaria, Fieber, Magen-Darm-Krankheiten, Grippe und Atemwegserkrankungen, Unfälle, Suizide und disziplinäre Gewalt als Bestrafung von »Insurection«48. Um die Sterblichkeitsrate ihrer »menschlichen Ware« zu reduzieren, ließen die Sklavenkapitäne die Gefangenen tagsüber bei gutem Wetter auf ’s Deck, die männlichen allerdings mit ihren Fesseln »durch einen Ring an einer großen Kette befestigt, die an dem Schiffe hängt«49. Auch Rebellionen, Hungerstreiks und »Selbstentleibungen«, die auf den Sklavenschiffen die Regel und nicht die Ausnahme waren, mithin alle Praktiken der Selbstrückgewinnung und Selbstzugehörigkeit sollten durch disziplinäre Bewegung in Form von »Sklavenübungen« verhindert werden. Jeden Morgen untersuchten Matrosen die Gefangenen auf hartkantige Gegenstände, die als Waffen gegen die Besatzung oder sich selbst gerichtet werden konnten. »In der Regel waren auf einer von zehn Fahrten mit Sklavenaufständen zu rechnen.« 50 Mittlerweile »sind zwischen 400 und 600 Aufstände und Rebellionen auf Sklavenschiffen bekannt.« 51 Michael Zeuske macht daher mit Bezug auf die große Zahl der Sklavenaufstände und Schiff srebellionen für die Revolutionszeit zwischen 1760 bis 1850 eine »gigantische, bisher kaum reflektierte, maritime, ozeanische Dimension« geltend – »revolution at sea« 52 . Um die Sklaven auf der transatlantischen Route nicht nur bei Gesundheit, sondern auch in Form zu halten, wurden sie an Deck unter Trommelschlag und Gesang täglich zum »Tanzen«, das heißt zum Auf- und Niederspringen in ihren Eisenketten, gezwun-
T. Trotter, Observations on the Scurvy, 30; R. J. Sparks, Die Prinzen von Calabar, 92; M. Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen, 164. 48 R. H. Steckel, R.A. Jensen: »New Evidence on the Causes of Slave and Crew Mortality in the Atlantic Slave Trade«, in: The Journal of Economic History 46, No. 1 (1986), 57‒77, hier: 60. Siehe auch H. S. Klein, S. L. Engerman: »Long-Term Trends in African Mortality in the Transatlantic Slave Trade«, in: Routes to Slavery, Direction, Ethnicity and Mortality, ed. by D. Eltis, D. Richardson, London 1997, 36-49. 49 J. J. Sell, Versuch einer Geschichte des Negersklavenhandels, 119. Im gleichen Sinne äußert sich A. Falconbridge: An Account of the Slave Trade on the Coast of Africa, London 1798, 21. »About eight o’clock in the morning the negroes are generally brought upon deck. Their irons being examined, a long chain, which is locked to a ring-bolt, is run through the rings of the shackles of the men, and then locked to an other ring-bolt, fi xed also in the deck. By this means fi fty or sixty, and sometimes more, are fastened to one chain, in order to prevent them from rising, or endeavouring to escape. If the weather proves favourable, they are permitted to remain in this situation till four or five in the afternoon, when they are disengaged from the chain, and sent down.« 50 Sparks, Die Prinzen von Calabar, 91. 51 Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen, 168. 52 Ebd., 85. 47
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gen.53 Von englischen Sklavenschiffen wurde berichtet, dass auch die durch Grippe Geschwächten und an Skorbut Erkrankten, deren Beine angeschwollen und mit Schwären übersät waren, mit der neunzüngigen »Katze« zum sogenannten »Tanzen« in ihren Ketten gezwungen wurden, wenn sie nicht von sich aus genügend Agilität auf brachten. Nach dem Zeugnis eines Mr. Claxton ordnete Captain Hall auf seinem Schiff dazu auch Gesang an: »They sung songs of sorrow. The subject of this songs were their wrechted situation, and the idea of never returning home.« 54 Die Praxis des »dancing« unter Peitschenschlägen wurde auch von Alexander Falconbridge bestätigt, desgleichen der melancholische Gesang: »The poor wretches are frequently compelled to sing also, but when they do so, their songs are generally, as may be naturally expected, melancholy lamentations of their exile from their native country.« 55 Dr. Thomas Trotter berichtete wiederum, dass auf den Sklavenschiffen vor allem nachts ein »melancholisches Heulen, Ausdruck extremer Pein« zu hören gewesen sei. Diese »exquisite sensibility« sei vor allem unter den Frauen verbreitet gewesen, viele von ihnen habe er in »hysterischen Krämpfen« 56 vorgefunden. Seiner Einschätzung nach erkrankten die Sklaven »manchmal aufgrund ihres dicht zusammengedrängten Zustands, zumeist aber aus tiefer Trauer darüber, von ihrem Land und ihren Freunden fortgerissen zu sein.« 57 Der Chirurg Wilson erklärte, dass auf seinem und drei weiteren Schiffen auf der Middle Passage von 2064 Sklaven 586 umgekommen seien: »Die Hauptursache war Melancholie«. 58 »Dancing the slaves« 59 wurde als »therapeutische« Disziplin gegen suizidale »Melancholie«, »Niedergeschlagenheit« 60 bzw. »slave’s depression« eingesetzt – die Bandbreite der Bezeichnungen für diese »Sklavenkrank heit« variierte unter Schiff särzten und Mannschaften.61 »Tous ces esclaves ne sont pas également bons pour le travail« 62 , stellte der Chevalier Des Marchais im Jahre 1725 fest und entwickelte ein rassistisches Klassifizierungssystem, damit europäische Sklavenhändler Angehörige verschiedener afrikanischer Gesellschaften anhand ihrer Skarifi zierungen und Tätowierungen als »arbeitsfähig« und »loyal«, »melancholisch« oder »rebellisch« erkennen, das heißt, in Begriffen der Sklavenhändler, damit sie diese umstandslos als »gute« bzw. »schlechte Ware« identifi zieren konnten: Die nach den muslimischen Händlern mit ihren Blake, The History of Slavery and the Slave Trade, 127. Ebd. 55 Falconbridge, An Account of the Slave Trade on the Coast of Africa, 23. 56 Trotter, Observations on the Scurvy, 63; Blake, The History of Slavery and the Slave Trade, 127. 57 Trotter, Observations on the Scurvy, 63; Blake, The History of Slavery and the Slave Trade, 136. 58 Blake, The History of Slavery and the Slave Trade, 135. 59 Trotter, Observations on the Scurvy, 53; Butterworth, Three Years Adventures of a Minor, 69 ff . 60 M. Cowley, D. P. Mannix, »Middle Passage«, in: American Heritage XIII, 2 (1962), 22‒25 und 103‒107. 61 J. Walvin, Crossings. Africa, the Americas and the Atlantic Slave Trade, London 2013, 105. 62 J.-B. Labat, Voyage du Chevalier Des Marchais en Guinée, isles voisines et à Cayenne, fait en 1725, 1726, 1727, 4 Bde., Bd. 2, Paris 1730, 125. 53
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langen Gewändern bezeichneten »Maillais«, die diese weit aus dem Norden in das Königreich Whydah verschleppten, gölten »als stark«, seien »an körperliche Arbeit gewöhnt und imstande, Anstrengungen auszuhalten.« 63 Die mit Eidechsen und Schlangen auf Brust und Rücken tätowierten »Aqueras« stünden ebenfalls in dem Ruf, treue und belastbare Arbeiter abzugeben. Die »Ayois« aus dem Königreich Oyo mit ihren »sich strahlenförmig von ihren Augen zu ihren Ohren« ausbreitenden Narben seien zwar als harte Arbeiter begehrt, doch als mutige Krieger zugleich gefürchtet, da sie »auf Sklavenschiffen häufig Revolten organisierten« 64. Dagegen seien die »Foin« aus Dahomey, an ihren Schläfennarben deutlich erkennbar, in Gefangenschaft depressiv, zu Geophagie und Suizid bereit.65 Die »Tebou« wiederum, die Narben auf Wangen, Brust und Bauch aufwiesen, seien zwar geschickt für allerlei Dienste im Haus, doch »Gourmands« und ebenfalls von »schlechtem« Ruf.66 Die »Guiambas« schließlich, in gleicher Weise markiert wie die »Tebou«, würden diese und die »Foin« in ihrer suizidalen Depressionsneigung noch übertreffen. Der Chevalier des Marchais sprach daher die Empfehlung aus, »so wenige Guimba wie möglich zu kaufen, weil er glaubte, dass schon ein paar von ihnen eine ganze Schiff sladung mit ihrer Niedergeschlagenheit anstecken« 67 könnten. »Performing blackness« war bereits auf den Sklavenschiffen und nicht erst auf den Plantagen ein probates Mittel, die Gefangenen vor suizidaler Melancholie zu schützen, ihnen einen maximal kontrollierten Bewegungs-, Interaktions- und Resonanzraum zu bieten und die Schiff smannschaft zugleich zu unterhalten. In dieser »Undeutlichkeits-, Ununterscheidbarkeits- und Ambiguitätszone« 68 konnten sich Trauer und Verzweiflung Geltung verschaffen, wenn es sich um eigene Musik, Rhythmen und Tanzbewegungen handelte, auch wenn sie einer gewaltsamen Disziplin unterworfen waren.69 Wenn jeder äußere widersetzliche Handlungsraum blockiert ist, richtet sich die Gegengewalt gegen die eigene Person. Flucht ist zweifellos eine der nachdrücklichsten Widerstandsformen, die die absolute Verfügungsgewalt über das menschliche Eigentum außer Kraft setzt und dem Eigentümer selbst einen empfi ndlichen Schaden zufügt. Wohin aber kann man fl iehen, mit Fuß- und Handeisen gefesselt, im dichten Gedränge des Sklavenschiffes, mitten auf dem weiten Transatlantik? In Chevalier Des Marchais, Journal du voyage en Guinée et Cayenne, 1724‒1726. BN, Paris FF 24223, 62‒64; zitiert nach R. Harms, Das Sklavenschiff. Eine Reise in die Welt des Sklavenhandels, aus dem Amerikanischen von M. Müller, München 2004, 220. 64 Harms, Das Sklavenschiff, 220 f. 65 Labat, Voyage du Chevalier Des Marchais en Guinée, 126. 66 Ebd. 67 Ebd., 126 f.; Harms, Das Sklavenschiff, 220 f. 68 G. Deleuze, Bartleby oder die Formel, aus dem Französischen von B. Dieckmann, Berlin 1994, 31. 69 »Bisweilen, es ist wahr, tanzen wir wohl in unsern ›Ketten‹«, wie Nietzsche vermutete, und mitunter gibt es wohl eine punktuelle »Freiheit in Fesseln – eine fürstliche Freiheit.« F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: KSA, Bd. 5, § 226; sowie ders., Der Wanderer und sein Schatten, in: KSA, Bd. 2, 140., 612; 159., 618. 63
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die eigene Gedanken- und Gefühlswelt, in Selbstempfi ndungen und Schmerzen? In die Erinnerung an Freunde, Geliebte, Familie? In das Imaginäre einer befreienden und rächenden Tat? In Krankheit und Fieberträume? In den Himmel, an den Horizont, in die Tiefe des Ozeans mit den eigenen Blicken? Wie kann man sich wieder in den Besitz seiner selbst bringen, seine Selbstzugehörigkeit und Selbstbestimmung wiederfi nden in einem Zustand ex tremer Selbstenteignung durch terroristische Gewalt? Die gefangenen Männer waren nicht nur gefesselt, sondern in der Regel vollständig nackt und mittellos. Nur den Frauen wurde ein Fetzen Stoff für ihre Scham gestattet. In einem Brief vom 12. März 1787 erläutert Paul Erdmann Isert, der drei Jahre lang als »Chefchirurg der dänischen Besitzungen an der westafrikanischen Küste«70 tätig war, diese Verletzung körperlicher Integrität durch den Verstoß gegen afrikanische und europäische Bekleidungsordnungen gleichermaßen: »Daher kommt es denn auch, daß sie allen denen Ermahnungen, die die Europäer an sie thun: daß sie in einem schönen Lande geführet werden würden, und anderen unwahren Schmeicheleien keinen Glauben bemeyßen, sondern, wenn sich irgend eine Gelegenheit bietet, die Flucht ergreifen, oder sich selbst tödten, denn, den Tod selbst fürchten sie weit weniger, wie die Sklaverey in Westindien. Ja, man hat alle Vorsicht anzuwenden, um sie die Gelegenheit sich selbst zu entleiben vorzubeugen, deswegen ihnen die französischen Schiffer nicht einmal einen schmalen Streifen Leinwand erlauben, aus Furcht, weil es geschehen, daß sich einige derselben selbst gehenkt hatten.« 71
Diejenigen, die entschlossen waren, auf diese Weise zu fl iehen, sich selbst zu befreien und zurückzugewinnen, aber keine Mittel fanden, sich zu erhängen, und keine Gelegenheit, über die Reling zu springen, richteten ihren eigenen Körper gegen sich selbst 72: Dr. Trotter untersuchte einen Sklaven, der sich die Kehle durchgeschnitten hatte, ohne einen einzigen fremden Gegenstand zur Hand zu haben. Die nähere Untersuchung seines Körpers ergab, dass er dies mit seinen eigenen Fingernägeln getan haben musste. Berichte von Schiff särzten und Chirurgen, deren Aufgabe es war, für das Überleben der Sklavinnen und Sklaven während der Überfahrt zu sorgen, verraten, dass sich »afrikanische Suizide« und versuchte Suizide auf See sehr häufig zutrugen, so dass die Kapitäne an kritischen Punkte des Schiffes vorsorglich Netzen ausspannen ließen.73 Entsprechende Instruktionen erhielten die Kapitäne von den Aktien- und Chartergesellschaften wie der East Indian Company.74 Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen, 77. Paul Erdmann Isert’s Reise nach Guinea und den Caribaischen Inseln in Columbien, in Briefen an seine Freunde geschrieben, Kopenhagen 1788, 307. 72 Blake, The History of Slavery and the Slave Trade, 130. 73 Walvin, Crossing, 106. 74 D. W. Waters, The Art of Navigation in England in Elizabethan and Early Stuart Times, London 1958, 292 f. 70 71
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Viele Sklavinnen und Sklaven verweigerten die Nahrungsaufnahme und traten in einen qualvollen Hungerstreik. William O. Blake erzählte von einer Frau auf der Alexander, die von dem Moment an, da sie an Bord kam, »niedergeschlagen war« und jede Nahrung und Medizin verweigerte. Auf die Frage des Dolmetschers, was sie wünsche, habe sie geantwortet: »nothing but to die – and she did die. Many other slaves expressed the same wish«, sprangen über Bord oder folgten ihr nach, »with a design to starve themselves«75. Mit drakonischen Maßnahmen und Instrumenten zur Zwangsernährung suchten Kapitäne und Besatzung diese Selbstaneignung durch Selbstzerstörung zu verhindern, auch wenn sie bei anderen Gelegenheiten, etwa wenn sie wegen schlechten Wetters den Kurs verloren hatten, wenn die Provisionen sanken oder der Proviant knapp zu werden drohte, keine Probleme damit hatten, die Sklaven zu zwingen, »to walk the plank« 76. Um Nahrung in die Hungerstreikenden hineinzuzwingen, brachte man glühende Kohlen, auch geschmolzenes Blei an ihre Lippen77 oder brach ihnen die Zähne aus. In den Quellen wird immer wieder das in der Chirurgie gebräuchliche speculum oris erwähnt, das zur Behandlung von Kiefersperren durch mechanisches Auseinanderzwingen und auf den Sklavenschiffen zur Zwangsernährung eingesetzt wurde.78 »There was a child, says he [Mr. Isaac Parker], on board, nine months old, which refused to eat, for which the captain took it up in his hand, and flogged it with a cat, saying, at the same time, ›Damn you, I’ll make you eat, or I’ll kill you.‹ The same child having swelled feet, the captain ordered them to be put into water, though the ship’s cook told him it was too hot. This brought off the skin and the nails. He then ordered sweet oil and cloths, which Isaac Parker himself applied to the feet; and as the child at mess time again refused to eat, the captain again took it up and flogged it, and tied a log of mango-wood eighteen or twenty inches long, and of twelve or thirteen pounds weight, round its neck, as a punishment. He repeated the flogging for four days together at mess time. The last time after flogging it, he let it drop out of his hand, with the same expression as before, and accordingly in about three quarters of an hour the child died. He then called its mother to heave it overboard, and beat her for refusing. He however forced her to take it up, and go to the ship’s side, where, holding her head on one side, to avoid the sight, she dropped her child overboard, after which she cried for many hours.« 79
Der gegen Säuglinge, Kinder, Jugendliche, Männer und Frauen gerichtete rassistische Terror suchte in einer kalkulierten Paradoxie des Todes dem Suizid durch Mord, durch Verstümmelung, Zerstückelung und Auseinanderreißen der Körper zuvorzukommen, um damit die Möglichkeit zu zerstören, dass sich Sklavinnen und 75 76 77 78 79
Blake, The History of Slavery and the Slave Trade, 129. Williams, History of the Liverpool Privateer, 590. Falconbridge, An Account of the Slave Trade on the Coast of Africa, 23. Williams, History of the Liverpool Privateer, 533. Blake, The History of Slavery and the Slave Trade, 132.
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Sklaven auf ihren eigenen Weg zurück zu ihren Freunden80 und zu ihrem »spirituellen Leben nach dem Tod« 81 machen konnten. Esteban Montejo, ein um 1860 auf Kuba geborener Kreole, der von der Zuckerplantage seines Besitzers floh und über viele Jahre allein in den Bergen Kubas als »Cimarrón« lebte, bis 1886 endlich auch in Kuba die Sklaverei abgeschaff t wurde, erklärte in seiner Lebensgeschichte, dass Afrikanerinnen und Afrikaner durch den Freitod nach Hause und zu ihren Vorfahren zurückkehrten. Sie selbst sprachen nicht vom Freitod, sondern vom Fliegen82: »[I]ch habe es nie gesehen, daß sich Neger selbst umbrachten. Vorher, als die Indianer in Cuba waren, gab es wohl Selbstmord. Sie wollten keine Christen sein und erhängten sich an den Bäumen. Aber die Neger taten das nicht, denn die flogen fort, sie flogen durch den Himmel und in ihr Land zurück. Die Musundi-Kongoneger waren die, die am meisten flogen; sie verschwanden durch Zauberei. Sie machten es genauso wie die Zauberinnen von der Insel, aber ohne Geräusche. Es gibt Leute, die sagen, die Neger hätten sich in die Flüsse geworfen; das ist falsch. Die Wahrheit ist, sie banden sich so etwas um die Hüften, das nannten sie Pfand, und das war besprochen. Darin war die Kraft. Das kenne ich Stück für Stück, und es stimmt.« […] »Es gibt Leute, die sagen, wenn ein Neger starb, ging er nach Afrika. Das ist gelogen. Wie soll ein Toter nach Afrika kommen! Wer hinging, das waren die Lebenden, die sehr viel flogen.« 83
Sich selbst den Tod zu geben, bedeutet from the slave’s point of view nicht allein Selbstzerstörung, sondern Flucht durch Fliegen. Es war eine »feasible method of escape from bondage« 84 bzw. eine »supernatural method for returning to Africa« 85, die auf den Sklavenschiffen ebenso wie bei Ankunft in der Neuen Welt und auf den Plantagen praktiziert wurde. Als »factories in the field« 86 vereinten die Plantagen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die disziplinären Eigenschaften von Fabriken, Hochsicherheitsgefängnissen und Todestrakten unter freiem Himmel. Jack Tattnall erzählte: »Lots of slaves what was brought over from Africa could fly. There Ebd. Mr. Millar berichtete: »A woman […], who was brought on board, refused sustenance, neither would she speak. She was then ordered the thumb-screws, suspended in the mizzen rigging, and every attempt was made with the cat to compel her to eat, but to no purpose. She died in three or four days afterwards. Mr. Miller was told, that she had said, the night before she died, ›She was going to her friends.‹« 81 Walvin, Crossing, 149. 82 E. Montejo, Der Cimarrón. Die Lebensgeschichte eines entfl ohenen Negersklaven aus Cuba, von ihm selbst erzählt, hg. von M. Barnet, Frankfurt/M. 1980, 47. 83 Ebd., 135. 84 W. D. Piersen, »Black Martyrs: Fear, Depression, and Religious Faith as Causes of Suicide among New Slaves«, 154. 85 W. D. Piersen, Black Yankees: The Development of an Afro-American Subculture in Eighteenth Century, New England, Armhurst 1988, 75. 86 R. Pares, Merchants and planters, Cambridge 1960, 23; siehe dazu Wirz, Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem, 107. 80
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was a crowd of them working in the field. They don’t like it here and they think they go back to Africa. One by one they fly up in the air and all fly off and gone back to Africa.« 87 Freitod konnte bedeuten, als lebende Person und integrale Seele nach Hause zurückzukehren, eine Selbstbefreiung aus der Sklaverei, die auf »airmindedness« 88 und Lufthoheit zurückging. Ehemalige Sklavinnen und Sklaven erinnerten sich in ihren Narratives immer wieder an die Flying Tales und Flying Songs to Africa: Sie bildeten »machtvolle symbolische Marker einer Afro-Amerikanischen und Afrikanisch-Caribischen Gegenkultur zu einer Zeit, da die Plantagenbesitzer die afrikanischen Zeremonien und Trommeln unterdrückten.« 89 Flying back to Africa machte nicht nur das Schicksal all jener erklärlich, die auf rätselhafte Weise verschwanden. Variantenreich erzählt, in ekstatischem Tanz und Gesang praktiziert, konnte das kulturelle Imaginäre des Zurückfl iegens nach Afrika die Qualität einer utopischen Demon stration annehmen, die die »Nähe zu den afrikanischen Wurzeln trotz des Ozeans«, ja eine jubilatorische »watery transmigration« 90 greif bar machte. Der »Atlantik war mehr als ein one way trip zwischen den Decks eines schmutzigen Sklavenschiffes.« 91 »You can’t go home again […] but you can sometimes palm the past, or dance it into the present – especially if no one is looking.« 92 Auch wenn sie keine reale Rückkehr nach Afrika erwirken konnten, so konnten die Tanzbewegungen in Verbindung mit jenen Liedern, Fabeln und Narrativen, die ein literarisch-musikalisches Flying back herauf beschworen, leibliche Erfahrungen des Fliegens, von Leichtigkeit und des auf Wolken Schwebens vermitteln, inmitten der diasporischen Erfahrung. Dancing and Singing waren, halb und halb, souveräne Seiltanz- und Balanceakte der Befreiung aus Gewalt und Zwangsarbeit.93 Der afroamerikanische Abolitionist Frederick Douglas hatte in seiner Lebensund Selbstbefreiungsgeschichte darauf hingewiesen, dass ein stummer Sklave bei der Zwangsarbeit auf den Plantagen des Südens aus Sicht des »master« und der »overseers« ein verdächtig zur Flucht bereiter Sklave gewesen sei. »›Make a noise‹, ›make a noise‹, and ›bear a hand‹«, habe es stets geheißen, sobald sie in Schweigen versunken seien.94 Bei der Zwangsarbeit sangen sie, um den Aufseher wissen zu J. Tattnall, »Georgia Writers’ Project interview«, in: Georgia Writers’ Project. Drums and Shadows: Survival Stories among the Georgia Coastal Negroes (1940), Athens, Ga. 1986, 108; siehe Snyder, »Suicide, Slavery, and Memory«, 39, die diese Erzählung Jack Tattnalls als Motto verwendet. 88 Auf diesen Aspekt bin ich durch A. Kusser und Lektüre ihres großartigen Buches Körper in Schiefl age. Tanzen im Strudel des Black Atlantic um 1900, Bielefeld 2013, 22 aufmerksam geworden. Siehe A. Douglas, »Skyscrapers, Airplanes, and Airmindedness: ›The Necessary Angel‹«, in: The jazz cadence, ed. by R. G. O’Meally, New York 1998, 196‒223. 89 A. Rice, Radical Narratives of the Black Atlantic, London, New York 2003, 89. 90 Ebd., 86 f., 89. 91 M. Cohn, M. K. H. Platzer, Black Men of the See, New York 1978, xiii‒xiv. 92 Rice, Radical Narratives of the Black Atlantic, 99. 93 Kusser, Körper in Schiefl age, 123 f., 107. 94 Dr. F. Dougless, My Bondage and My Freedom. Part I – Life as Slave. – Part II Life as a Freeman, 87
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lassen, wo sie sich gerade befanden und in welche Richtung sie sich jeweils bewegten.95 In den Wäldern, vor allem wenn sie sich verbotenerweise ohne Ausweispapiere und Ausgeherlaubnisse »davonstahlen«, pflegten sie »with their wild notes« zu singen und zu tanzen96: »In the most boisterous of rapturous sentiment, there was ever a tinge of deep melancholy. […] I have sometimes thought, that the mere hearing of those songs would more to impress truly-spiritual men and women with the soul-crushing and death dealing character of slavery than the reading of whole volums of its mere physical cruelties.« […] »The remark is not unfrequently made, that slaves are the most contented and happy laborers in the world. They dance and sing, and make all manner of joyfull noises – so they do; but it is a great mistake to suppose them happy because they sing. The songs of the slave represents the sorrow rather than the joys, of his heart, and he is relieved by them, only as an aching heart is relieved by its tears.« 97 In sehr vielen durch das Federal Writers’ Project während des New Deal von arbeitslosen Intellektuellen und Geisteswissenschaftlern seit den 1936er Jahren mit ehemaligen Sklavinnen und Sklaven bzw. deren Nachkommen geführten Interviews und den aufgezeichneten Slave Narratives, in denen sie ihre Lebensgeschichten erzählten, fi nden sich Hinweise auf stundenlanges Tanzen, Singen, Musikmachen und Spielen und die solchermaßen wirksame Weigerung, sich auf bloße Arbeitskräfte und Körper reduzieren zu lassen. Emma Tylor (Texas) berichtete 98: »Sometimes de niggers danced and played de fiddle and us chillen played in de yard. We could stay up all night dem times, but had to work next day, and hardly ever stayed up all night.« Gesang und Tanz, so sehr sie auch als Instrument der Disziplinierung missbraucht wurden, drückten nicht Gefühle aus, sondern brachten vielmehr, wie Frederick Douglas betonte hatte, eigene Gefühls- und Gegenwelten hervor und ermöglichten Erfahrungen der Überschreitung und Verwandlung. Vor allem nachts stahlen sich Sklavinnen und Sklaven nach harten Arbeitstagen von den Plantagen in die Wälder, um sich durch vorübergehende Flucht und tänzerisches Fliegen wieder in den Besitz ihrer selbst und in Berührung mit ihrer afroamerikanischen Identität zu bringen.
New York and Auburn 1855, 97. 95 Ebd., 99. J. Jahn, Muntu. Die neoafrikanische Kultur. Blues, Kulte, Negritude, Poesie und Tanz, 2. Aufl age, München 1995, 234. Den Hinweis verdanke ich Kusser, Körper in Schiefl age, 108. 96 Dougless, My Bondage and My Freedom. Part I – Life as Slave. – Part II Life as a Freeman, 98. 97 Ebd., S. 99. 98 E. Tylor, »Ex-slave Stories«, in: Slave narratives. A Folk History of Slavery in the United States. From Interviews with Former Slaves. Illustrated with Photographs, Vol. XVI, Part 4, Washington 1941, 74. T.L. Snyder weist unter Rekurs auf R. Isaac darauf hin, dass die Interviews mit Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern in den 1930er Jahren im »negro dialect« erstellt worden sind, in dem von Weißen ersonnenen Idiom der »minstrel shows«. T. L. Snyder, »Suicide, Slavery, and Memory«, 39; R. Isaac, Landon Carter’s Uneasy Kingdom: Revolution and Rebellion on a Virginia Plantation, New York 2004, 193.
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* »Was«, so fragt Ann Cvetkovich, »wenn sich Depressionen in den Amerikas, auf Geschichten von Kolonialismus, Genozid, Sklaverei, Ausschluss sowie alltäglicher Segregation und Isolation, die unser aller Leben heimsuchen, zurückführen ließe, anstatt auf biochemische Ungleichgewichte?« 99 Saturday Night Fever, Trauer und Melancholie führen zurück auf koloniale Erinnerungsspuren und verwickelte Herkunftslinien. Sie bilden eigentümliche kulturelle »Gefühlserbschaften«100 im Leben jener Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner, deren persönliche, familiäre Geschichten und rassistische Erfahrungen in der Gegenwart mit der Sklaverei verbunden bleiben: »Wenn Sklaverei im politischen Leben des Schwarzen Amerika noch immer ein Thema ist, dann nicht aufgrund einer antiquierten Obsession für vergangene Tage oder der Last eines allzu weit zurückreichenden Gedächtnisses, sondern weil Schwarze Leben nach wie vor durch ein rassierendes Kalkül und eine politische Arithmetik gefährdet und entwertet werden, die vor Jahrhunderten verankert wurden. Dies ist das Nachleben der Sklaverei – verzerrte Lebenschancen, eingeschränkter Zugang zu Gesundheit und Bildung, vorzeitiger Tod, Inhaftierung und Verarmung. Auch ich bin ein Nachleben der Sklaverei« 101, sagt Saidiya V. Hartman in ihrem Buch Lose Your Mother: A Journey Along the Atlantic Slave Route.
99 A. Cvetkovich, »Depression ist etwas Alltägliches: Öffentliche Gefühle und Saidiya Hartmans Lose Your Mother«, aus dem Amerikanischen von B. Mennel und D. Fink, in: Aff ekt und Geschlecht. Eine einführende Anthologie, hg. von A. Baier, C. Binswanger, J. Häberlein, Y. E. Nay, A. Zimmermann, Wien 2014, 57‒85, hier: 57 f. Für den Hinweis auf den Artikel von A. Cvetkovich danke ich B. Bargetz. 100 Der Begriff ist S. Freud entlehnt, der ihn in dem Text »Zur Psychologie der Gymnasiasten« (in: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, hg. von A. Freud u. a., Frankfurt/M., London 1946, Bd. X, 204‒207, hier: 206) in Bezug auf die elterlichen »Imagines« ins Spiel bringt. 101 Hartman, Lose Your Mother, 6; siehe dazu Cvetkovich, »Depression ist etwas Alltägliches«, 66 f.
R isk ante Praktik en der Bek ehrung Die musikalische Kolonisierung der Sinne Karin Harrasser
Was mich im Folgenden beschäftigen wird, ist eine zwar lokal spezifi sche, aber exemplarische Konstellation einer Kolonialisierung der Sinne: Ausgangspunkt meiner Überlegungen sind die musikalischen Praktiken der Gesellschaft Jesu im 17. und 18. Jahrhundert im Zuge der Errichtung von Siedlungen für die indigene Bevölkerung. Die Evangelisierung lässt sich aus praxeologischer Perspektive als Unternehmen verstehen, neue Sinnestätigkeiten zu etablieren, zum Teil, indem vorhandene Sensibilitäten symbolisch und praktisch überformt, zum Teil, indem sie unterdrückt wurden. Im Zentrum der Praktiken der Jesuiten stand in Südamerika dabei die Musik, die nicht nur als sinnliches Äquivalent der eigentlich unkörperlichen Glaubenserfahrung fungierte, sondern auch als Praxis der performativen Herstellung von Gemeinschaft.
I. Historische Resonanzräume Als ich begann, mich mit den musikalischen Praktiken der jesuitischen Missionare in Südamerika zu beschäftigen, führte mich eine erste Forschungsreise nach Concepción, in eine Stadt in der östlichen Tiefebene Boliviens. Dort befi ndet sich ein kleines Archiv, in dem Partituren auf bewahrt sind, die vor Ort, in der Region Chiquitos, im 18. und 19. Jahrhundert geschrieben worden sind. Im Archiv befi nden sich an die 5500 Blätter, großteils ist europäische Barockmusik notiert. Die Partituren sind ab Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts gefunden, archiviert und zugänglich gemacht worden. Bis dahin hatten Leute aus den umliegenden Dörfern sie privat auf bewahrt. Manche Partituren waren nach der Ausweisung des Ordens aus Südamerika (1767) wieder und wieder kopiert worden. Quellen aus dem 19. Jahrhundert belegen, dass sie zumindest um 1840 herum noch in Gebrauch waren.1 Der (gleichfalls erst kürzlich rekonstruierte) Missionskomplex in Concepción beherbergt auch ein kleines Museum, das die Geschichte des Städtchens dokumentiert: Zwischen 1690 und 1767 ist eine ganze Reihe von indigenen Gruppen zum christlichen Glauben übergetreten, wie freiwillig, ist fraglich. Die bis dahin nomadische Bevölkerung wurde in ausschließlich für die indigene Be1 Vgl. A. Dessalines d’Orbigny, Fragment d’un voyage au centre de l’Amérique Méridionale, Paris 1845; M. Bach, Die Jesuiten und ihre Mission Chiquitos in Südamerika. Eine historisch-ethnographische Schilderung, Leipzig 1843.
ZÄK-Sonderheft 17 · © Felix Meiner Verlag 2018 · ISBN 978-3-7873-3544-2
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völkerung vorgesehenen Siedlungen, den sogenannten reducciones, sesshaft gemacht. Daraus resultierte eine hybride »Missionskultur« 2 , die eine sensible und umstrittene Angelegenheit in der bolivianischen Kulturpolitik des beginnenden 21. Jahrhundert darstellt. Die »Missionskultur« ist eine wichtige Einnahmequelle der Region, da die opulent renovierten Missionskirchen und ein biennales Festival für Barockund Renaissance-Musik zahlende Gäste aus aller Welt anzieht. Die Reklamation von »Missionskultur« als genuines kulturelles Erbe der Region bleibt jedoch umstritten, nicht zuletzt aufgrund der offiziellen bolivianischen Politik der Re-Indigenisierung.
Abb. 1: Display im Museum von Concepción, Bolivia, Foto: Karin Harrasser 2014
Im Museum befi nden sich Musikinstrumente aus dem 18. Jahrhundert, hölzerne Christusfiguren (und solche anderer Heiliger), die im Zuge von Prozessionen immer noch regelmäßig durch die Stadt getragen werden. Außerdem die Reproduktion eines Holzschnitts, der Pater Martin Schmid zeigt, den Architekten der lokalen Kirchen (die templos genannt werden) und jener Mann, der wesentlich für Einführung und Kultivierung der barocken Musiktradition in Chiquitos verantwortlich war. In einem der Räume werden zeitgenössische dokumentarische Aufnahmen gezeigt: Bilder der Kirche vor ihrer Renovierung in den 1990er Jahren und ein, so die Bildlegende, »traditionelles Musikensemble« mit Geige, Flöte und Trommel. Links davon fi ndet sich ein weiteres Bild in der gleichen Größe, im gleichen Rahmen, ebenfalls Schwarz/Weiß. Es kam mir ziemlich bekannt vor. Es zeigt einen Mann, der auf einem großen Stein sitzt und Oboe spielt. Von hinten und von der Seite nähern sich zwei indigene Männer, beide sind im Gesicht bemalt und traVgl. D. Block, Mission Culture on the Upper Amazon. Native Traditions, Jesuit Enterprise, & Secular Policy in Moxos, 1660‒1880, Lincoln, London 1997. 2
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gen Pfeil und Bogen in den Händen. Sie hören und schauen mit großem Interesse der musikalischen Darbietung zu. Genau, es ist ein Filmstill der berühmten Szene aus Roland Joffés erfolgreichem Film The Mission (1986), in dem Jeremy Irons als Jesuitenpater die Guaraní mit der Oboe aus dem Wald lockt und sie anschließend befriedet und konvertiert. Der Film spielt übrigens in einer Region, die von Concepción 1.500 km Luftlinie entfernt liegt. Je länger ich mich mit den Reduktionen beschäftigte, desto deutlicher wurde mir, wie sehr dieser Filmstill aus einem Hollywood-Film, hier implizit zu einer dokumentarischen Fotografie umgedeutet, mit der jesuitischen Berichterstattung über ihre Siedlungen aus dem 17. und 18. Jahrhundert mitklingt. Von Beginn an sahen es die Missionare als ihre Aufgabe an, ihre Erfolge breit zu kommunizieren. Der Mythos der friedlichen und produktiven Strategie von Verführung und kultureller Akkommodation, die der Orden als Gegenprogramm zur grausamen Unterwerfung seitens der Konquistadoren, der Erpressung von Arbeitskraft seitens der encomienderos und der zwar verbotenen, aber vielfach praktizierten Sklavenjagd darstellte, wurde von Beginn an systematisch verbreitet. Die Erzählung einer friedlichen Eroberung fi ndet sich in den relatos, in publizierten Briefen, die ab 1640 in Textsammlungen und in Monographien erschienen. Die Kollektionen waren so populär und der Orden so geschickt in seiner gegenreformatorischen Publikationsstrategie, dass sie in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. So wurde zum Beispiel der Neue Welt-Bott auf Französisch, Englisch und Deutsch gedruckt.3 Die »Conquista Spiritual« der Jesuiten, so der Titel einer Darstellung der Unternehmungen durch Antonio Ruiz de Montoya (1639)4, fand in David ihre vorbildliche biblische Figur: Mit seiner kinnor (einer Harfe) konnte er bekanntlich Saul von einem Dämon heilen, wie die Missionare ihre Täufl inge von den alten Glaubensvorstellungen zu »heilen« trachteten. Eine andere häufige Referenz ist Orpheus mit seiner Fähigkeit, wilde Tiere mit Musik zu zähmen. Es ist symptomatisch, dass selbst diejenigen, die die Regierungstechniken der Jesuiten als »Diktatur der Milde« 5 kritisierten, diesen Mythos weiterspannen. Noch in René Fülöp-Millers viel gelesenem Buch aus dem frühen 20. Jahrhundert fi ndet sich folgende Passage: »Als die ersten Jesuiten die Flüsse entlang in die Urwälder von Paraguay vorgedrungen waren, schien zunächst jedes Missionswerk unmöglich, denn die Indianer zogen sich immer schlau vor ihnen zurück. Bald aber bemerkten die Patres, daß, wenn sie in ihren Kähnen geistliche Lieder sangen, alsbald hier und dort Eingeborene aus dem Dickicht auftauchten, die ihnen zuhörten Der Neue Welt-Bott. Mit allerhand nachrichten deren Missionarii Soc. Iesu. Allerhand so Lehr- als Geist-Reiche Brief, Schriff ten und Reis-Beschreibungen, welche von denen Missionariis der Gesellschaff t Jesu, aus beyden Indien und anderen über meer gelegenen ländern, seit An. 1642 bis auf das Jahr 1726 […], hg. v. J. Stöcklein, Augspurg, Grätz 1726. 4 A. R. de Montoya, Conquista Espiritual hecha por los religiosos de la Compañía de Jesús en las provincias del Paraguay, Paraná, Uruguay y Tape [1639]. Bilbao 1892. 5 R. Fü löp-Miller, Macht und Geheimnis der Jesuiten. Eine Kultur und Geistesgeschichte, Berlin 1929, 355. 3
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und ein ganz besonderes Wohlgefallen an diesen Klängen erkennen ließen. Mit dieser Beobachtung hatten die Missionare aber zugleich auch schon das geeignete Mittel gefunden, um die Indianer aus ihren Wäldern hervorzulocken: Von nun an nahmen die Missionare auf ihren Fahrten Musikinstrumente mit und spielten und sangen, soviel sie konnten.« 6 Selbst kritische Kommentatoren waren also immer wieder von der Wirksamkeit ihrer Politik der Umorganisation der Sinne beeindruckt. Und der Glaube an diese Wirksamkeit beruht auf der kaum jemals explizit hinterfragten Vorannahme, dass europäische Medien und Ästhetiken denjenigen der »Anderen« per se überlegen sind und diese folglich von den ersteren quasi automatisch kassiert werden.7 Ich werde deshalb zunächst versuchen, die Voraussetzungen dieser Vorannahme zu befragen und einen Rahmen entwerfen, der die Praktiken des Einübens und Auff ührens von Musik zwar als Regierungstechniken, die die Sinne, den Körper und die Seele umfassen, kenntlich macht, aber nicht im Sinn einer monodirektionalen von Verführung, Manipulation oder Überwältigung. Ich möchte hingegen vorschlagen, die Reduktionen als Orte eines Experiments (keines heiligen Experiments allerdings) zu verstehen, das darin bestand, theopolitische Konzepte und Regierungsformen der Frühen Neuzeit auszutesten, aber diese auch an ihre Grenzen zu führen und zu verändern. Barocke Musik wurde nicht einfach in einen anderen kulturell-politischen Kontext eingesetzt, ihr Gebrauch und ihre Form musste adaptiert werden und wirkte dergestalt auf die theopolitischen Konzepte europäischer Provenienz zurück. Musik- und Tanzpraktiken können nicht einfach verordnet werden und häufig entsprach ihre Wirkung nicht der Intention der Missionare. Es scheint eher so zu sein, dass die zentrale Rolle von Musik und Tanz im geistlichen und politischen Leben der Gemeinschaften mit einem Musikverständnis korrespondierte, das bereits vor der Ankunft der Jesuiten etabliert war. Aber wie genau benutzten die Jesuiten die zahlreichen vorhandenen rituellen, musikalischen und tänzerischen Praktiken? Inwieweit wurden umgekehrt die Missionare Teil der indigenen Welt? Auf welche Art und Weise musste die musikalische Praxis neu erfunden werden, manchmal gegen die Regeln des Ordens? Ich werde einige Episoden aus unterschiedlichen Quellen untersuchen, die zeigen, dass Musik, Tanz und theatrale Auff ührungspraktiken mit Blick auf die Beherrschung und Lenkung von Körpern und Seelen immer prekär und riskant geblieben sind: Immer gefährdet, sich gegen die geistlichen Eroberer zu kehren. Denn das, was Musik zu einem wirkungsvollen Werkzeug von Konversion und Regierung macht, macht sie auch zu einer gefährlichen Methode: Die Affekte, die in der Musik an- und hervorgerufen werden, lassen sich nicht stabil mit erwünschten Glaubensinhalten Ebd., 351. Zum Topos der medientechnischen Überlegenheit des Westens vgl. E. Schüttpelz, Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870‒1960), München 2005; ders., »Die medientechnische Überlegenheit des Westens. Zur Geschichte und Geographie der immutable mobiles Bruno Latours«, in: Mediengeographie. Theorie, Analyse, Diskussion, hg. v. J. Döring und T. Thielmann, Bielefeld 2009, 67-110. 6 7
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verknüpfen. Ich werde deshalb Musik mit Antoine Hennion und Isabelle Stengers als riskante Praxis von erfi ndungsreichen Anhänglichkeiten und Verbindungen verstehen.8 Es geht mir darum, die komplexe Dynamik der Arbeit an Sensibilitäten, Körpern und Seelen im Prozess von Konversion und Erziehung herauszustellen. Die jesuitischen Aktivitäten waren adaptiv und experimentell – oder sogar opportunistisch. Mission (verstanden als monodirektionale Verbreitung einer Botschaft) und Transmission (der multidirektionale, fehleranfällige Modus der Weitergabe) sind auf häufig überraschende Art und Weise miteinander verwoben.
II. Biopolitik und pastorale Regierung Die hier behandelten Siedlungen in Chiquitos und Moxos wurden von der Compañía de Jesús gegründet und zwischen 1691 und der Ausweisung der padres 1767 auch von ihr verwaltet. Die Reduktionen (reducciones), jenes Siedlungsmodell, das auch in Chiquitos realisiert wurde, waren über ein riesiges Territorium verstreut, das heute in Bolivien, Argentinien, Paraguay und Brasilien liegt. In jeder Siedlungen lebten zwischen 500 und 10.000 indigene BewohnerInnen und in der Hochzeit lebten wohl an die 160.000 Leute dort. In Chiquitos, in Moxos aber auch in den GuaraníMissionen im Verwaltungsbezirk Rio de la Plata war in der Regel die ganze dörfliche Gemeinschaft in geistliche und weltliche musikalische Aktivitäten miteinbezogen. Musik wurde dezidiert als Mittel eingesetzt, um die indigenen Gruppen von einem nomadischen Lebensstil in ein sesshaftes, zivilisiertes Dasein zu überführen. Ganz sicher war der Prozess der Umsiedlung der indigenen Gruppen bei weitem nicht so friedlich, wie in den diversen relatos dargestellt wurde. Sogar jesuitische Quellen machen die physische Gewalt deutlich, die mit der Umsiedelung in Verbindung stand. Eines von vielen Beispielen ist der Bericht des bayrischen Missionars Julian Knogler, der offen über die Gewalt spricht: Im Kontext der Gründung der Siedlung Santa Ana de Chiquitos spricht er von einer »Geistlichen Jagd« und darüber, dass die Missionare 50-60 Konvertiten (vorzugsweise aus feindlichen indigenen Gruppen) dazu benutzten, die zukünftigen Bewohner ausfindig zu machen und zu umstellen, um sie damit »tauf bar« zu machen.9 Der Gründungsakt einer Reduktion war meist eine öffentliche Gruppentaufe. Im Anschluss wurden die Neophyten schrittweise in die monotheistische, universalistische Religion des Christentums eingeführt. Dazu gehörte die Praxis des Betens, das Hören biblischer Geschichten und Religionsunterricht. Der Unterricht fand vorzugsweise in der lokalen Sprache statt, weswegen die padres auch diejeni8 Vgl. A. Métraux, Kult und Magie der Indianer Südamerikas. Magier und Missionare am Amazonas, übers. v. I. Meyer, Gif kendorf 2001, 11‒37. 9 Ein Jesuit aus Bayerisch-Schwaben bei den Chiquitos in Bolivien: Die Aufzeichnungen des Julian Knogler SJ 1717‒1772 aus Gansheim, hg. v. F. J. Merkl, Donau-Ries, Augsburg 1999.
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gen waren, die die ersten Grammatiken von indigenen Sprachen verfassten. Die Standardnarration der Gründung einer Reduktion geht wie folgt: »Diese Vielzahl von Völkern wurde um die Mitte des letzten [des 17. Jahrhunderts., KH] dem Gesetz der Gesellschaft [Jesu, KH] unterstellt. Die Mittel dazu waren Geschenke, Überredung und Versprechen. Durch die Treue der Missionare, ihre Unternehmungen und ihre Mühsal, auch zum Preis einiger Leben der ihren, wurden diese wilden Tiere gezähmt. Es gelang ihnen, Männer/Menschen aus ihnen zu machen, um aus diesen Christen zu formen. Im Prozess der Reduzierung wurden üppige und wohl geordnete Städtchen gebaut […] großartige Kirchen mit schönen Ornamenten wurden errichtet, in denen man an Festtagen exzellente Musik, vokale und instrumentale, hören konnte: Orgeln, Harfen, Cembalos, Violinen, Violonen, Flöten, Schalmeien etc.«10 Wichtige Motive sind: die Fähigkeit der Jesuiten, ein geregeltes und produktives Gemeinwesen zu konstruieren, das sich in einer musikalischen Auff ührung von großer Virtuosität ausdrückt. Ein anderes Motiv ist die Formung der Siedlungen aus einer »Vielzahl von Völkern«, die fortan nur einem Gesetz unterständen. Ein weiterer Topos ist die jesuitische Strategie der Evangelisierung mit »Geschenken, Überredung und Versprechungen« als einer Alternative zur erzwungenen Konversion unter Androhung körperlicher Strafen. Idee und Regelwerk der Reduktionen stammen jedoch nicht von den Jesuiten. Die Siedlungsform war seitens des spanischen Imperiums erwünscht und der Versuch einer Lösung des fortlaufenden Interessenkonfl ikts zwischen der spanischen Krone und den Konquistadoren und kapitalstarken Unternehmern. Bereits im frühen 16. Jahrhundert hatte die Krone mit den Leyes de Burgos (1512) Gesetze zum Schutz indigener Individuen und Gemeinschaften erlassen, um diese vor den exzessivsten Formen der Ausbeutung durch die Siedler zu schützen; gleichzeitig wurde das Zusammenleben der Indigenen stark reguliert und kontrolliert. Die Konquistadoren und Siedler opponierten in vielen Teilen Südamerikas gegen die Gesetze. Im sechsten Band der Leyes de Indias von 1681, also aus jener Zeit, in der die Siedlungen in Chiquitos gegründet wurden, wird dann festgehalten, dass »Los Indios« als Personen gelten und dass sie nicht versklavt werden dürften, dass Spanien außerdem für ihren Schutz vor Sklavenhändlern, sowie durch Ausbeutung in der encomienda und mita, den beiden Zwangsarbeitssystemen, verantwortlich sei. Weiterhin wird das negative Recht durch Vorschriften zur Lebensführung ergänzt. Es wird festgehalten, die Reduktionen seien »das bequemste Mittel, um die Indios im heiligen katholischen Glauben und in den christlichen Gesetzen zu unterrichten, damit sie die Fehler ihrer alten Rituale und Zeremonien vergessen und gemeinsam, polizeilich geordnet leben. Die Reduktionen sind die Lösung, sodass die Indios in Dörfern zusam10 Cosme und Bartolomé Bueno zit. n.: L. J. Waisman, »Urban Music in the Wilderness. Ideology and Power in the Jesuit Reducciones, 1609-1747«, in: Music and Urban Society in Colonial Latin America, hg. v. G. Baker, T. Knighton, Cambridge 2011, Fn. 5, 210. Übers. a. d. Englischen KH.
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mengezogen werden, nicht länger verstreut und getrennt durch Hügel und Berge leben.«11 Der Akt der Reduzierung war ein Akt der Zusammenziehung heterogener, überall im Land verstreut lebender indigener Bevölkerungen mit dem Ziel, sie verwaltbar zu machen und dem Gesetz der Krone zu unterstellen. Die neue Ordnung und das »Vergessen-machen« der idolatrischen Praktiken gehen Hand in Hand mit policía und concierto, mit Regierung und Gemeinschaft. Die bauliche Ordnung der Siedlungen operationalisierte diese umfassende Idee einer »guten Regierung«. Die Siedlungen wurden nach urbanem Vorbild errichtet, was sich in der schachbrettartigen Anlage der Dörfer, wie sie für koloniale Stadtgründungen üblich war, zeigt.12 Die Leyes sahen als erste bauliche Aktivität die Konstruktion einer Kirche mit Tür und Schloss vor (da den Indgenen mangelndes Bewusstsein für Eigentum unterstellt wurde). Räumliche Disziplin wurden als zentraler Faktor der neuen Ordnung erachtet.13 Die dörfl ichen Siedlungen sahen aus wie Miniaturstädte, die rund um einen Hauptplatz und die Kirche herum organisiert wurden. Zeitliche Disziplin wurde als ebenso wichtig erachtet: Mit der Kirche wurde eine Sonnenuhr und ein Glockenturm errichtet, um die routinemäßig unterstellte Gleichgültigkeit bezüglich organisierter Arbeit zu bekämpfen. Auch juristische Disziplin war wichtig: Respekt vor Autoritäten, soziale Hierarchie, inklusive der Einführung einer neuen Familienorganisation, der Monogamie. Lesen und Schreiben galten als Vorbedingungen der »buen policía«. Lokale caciques und wichtige Familien bekamen Regierungsaufgaben übertragen (z. B. in der lokalen Gerichtsbarkeit) und spielten eine wichtige Rolle bei der lokalen Durchsetzung der spanischen Gesetze. Da die Reduktionen auch als Kulturalisierungsprojekte konzipiert waren, ging es weiters darum, materielles Wohlbefi nden zu heben und Religiosität ästhetisch avanciert zu praktizieren. Hier wurde viel investiert: Die Kirchen wurden prächtig dekoriert, Musikinstrumente wurden an entlegene Orte gebracht und rasch wurden Werkstätten ausgestattet, die hochwertige Kunstwerke für die Kirchen aber auch Musikinstrumente (Trompeten, Geigen, sogar Orgeln) herstellten.14 Bedenkt man, dass das dominante Modell der politischen Ökonomie kolonialer Biopolitik an vielen Orten die gewaltsame Durchsetzung von Geschäftsinteressen, Versklavung und Extraktion des nackten Lebens, auch zum Preis der Vernichtung von Menschenleben, war, erscheinen die Reduktionen als überraschend frühe Bei11 »Los medios mas convenientes, para que los Indios sean instruidos en la Santa Fé Catolica, y Ley Evangelica, y olvidando los errores de sus antiguos ritos, y ceremonias vivan en concierto, y policia, […] resolvieron, que los Indios fuessen reducidos á Pueblos, y no viviessen divididos, y sepearados por las Sierras, y Montes […].« J. de Paredes, Recopilacion de Leyes de los reynos de Las Indias, Madrid 1681, Bd. 6/III. 12 Vgl. G. Baker, T. Knighton, Music and Urban Society in Colonial Latin America, Cambridge/ New York 2011. Speziell Bakers einleitender Essay. 13 G. Furlong, Antonio Sepp S. J. y su gobierno temporal (1732), Escritores Coloniales Rioplatenses, Buenos Aires 1962. 14 Waisman, Urban Music, 210f.
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spiele eines lebensfördernden, »gouvernementalen« Modus. Die padres (nicht alle waren Jesuiten) entwickelten eine biopolitische Strategie der Aufrechterhaltung und nachhaltigen Nutzung menschlicher Lebenskräfte, die zeitgenössisch als Kontrast zur grausamen Extraktionspolitik wahrgenommen wurde. Dass sie in den Reduktionen weniger extraktiv gewirtschaftet und weniger über Zwang regiert haben (auf den Plantagen in der Nähe der Städte waren sie hingegen durchaus im Besitz von Sklaven), bedeutet allerdings nicht, dass nicht regiert wurde. Vielmehr sind die Reduktionen eben auch Experimente einer »modernen« Führungsform, die rationale Planung und pastorale Seelenführung kombinierte.15 Es scheint mir wichtig, eine solche an Foucault angelehnte Lesart der Reduktionen in eine breitere koloniale Perspektive einzubetten, da diese deutlich macht, dass die Kolonien sowohl ein Testgelände für extraktivistische, Leben als tötbare Ressource betrachtende, als auch für lebensfördernde Modi des Wirtschaftens darstellten. Das Gewaltmodell der Plantage wurden mit dem Sklavenhandel, der trotz des Verbots weiterhin die indigene Bevölkerung betraf, maximal ausgereizt, während das »weichere« Modell ermöglichte, auch in entlegenen Gebieten, in der die unmittelbare Polizeimacht keine durchgreifenden Erfolge erzielen konnte und in denen die auf rasche Erträge bauende Kolonialwirtschaft sich nicht lohnte, ökonomisch erfolgreich zu agieren.16
III. Klangpolitik und neue Sensibilitäten Musik war in den Reduktionen omnipräsent. Beginnend mit der Morgenmesse wurde der gesamte Tag musikalisch gegliedert und auch die Alltagsverrichtungen wurden musikalisch begleitet. Auch in der arbeitsfreien Zeit wurde gemeinsam musiziert und gesungen. Kinder und Erwachsene erhielten Gesangsunterricht und lernten ein Instrument zu spielen. Die kirchlichen Festtage müssen beeindruckende Ereignisse gewesen sein. Die Partituren in Concepción sind vielfältig und umfassen geistliche und weltliche Musik: Passionen, Lamentos, Messen, Loblieblieder, sowohl auf Latein als auch auf Chiquitos. Mit der Zeit wurde das Repertoire immer größer und komplexer: Wechselgesänge, Motetten, Vespern, polyphone Messen, aber auch Sonaten, Menuette, Konzerte und Tänze, die wohl eher anlässlich von Ereignissen des kommunalen Lebens als im Rahmen von religiösen Festen aufgeführt wurden. Der italienische Barock ist als wichtigste Quelle der musikalischen Praktiken identifi zierbar. Domenico Zipoli, ein von Cosimo III. de’ Medici geförderter Komponist, der u. a. in Neapel aktiv gewesen und der Compañía de Jesús 1716 beigetreten war und in der La Plata-Region lebte, stellte den padres neue Komposi15 M. Foucault, Security, Territory, Population: Lectures at the Collège De France, 1977‒1978, New York 2004. 16 Vgl. K. Harrasser, G. Rath, »Arbeit und die Grenzen des Lebens. Zur Kolonialität und Modernität von Plantage und Jesuitischer Reduktion«, in: Historische Anthropologie 24, Nr. 2 (2016), 218-240.
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tionen zur Verfügung. Sie komponierten aber auch selbst (vom bereits erwähnten Martin Schmid sind einige Kompositionen erhalten) und sie baten ihre Kollegen in der Heimat um die Zusendung von Noten. Musik fungierte auf mehreren Ebenen als pädagogisches Werkzeug: Zunächst, um die biblische Geschichte und die Heiligenlegenden möglichst einprägsam zu erzählen. Das vielleicht beeindruckendste Werk aus dem Archiv in Chiquitos ist ein etwa einstündiges Oratorium über das Leben des Ignatius von Loyola, komponiert von Domenico Zipoli, überarbeitet vermutlich von Martin Schmid. Es ist Musik, die deutlich auf Affektsteigerung zielt, wie auch immer diese bei Menschen, die aus einer anders strukturierten Klangumgebung und Musiktradition kommen, im Detail gewirkt haben mag. Der Musikstil des späten italienischen Barocks war jedenfalls so konzipiert, dass er psychologische Prozesse ausdrücken und auslösen sollte, z. B. die Versuchung Ignatius’ durch den Teufel oder das Freundschaftsbekenntnis mit Franz Xaver. Die Arien sind musikalisch aufwändig gestaltet und entsprechen formal eher Duetten von Liebespaaren in der Oper. Musik war außerdem ein Mittel um Grundhaltungen und Ordnungsstrukturen zu versinnlichen und zu inkorporieren, recht eigentlich also: Neue Sensibilitäten herzustellen. Anton Sepp und Martin Schmid geben einen lebhaften Eindruck von den Elementen dieses Lernprozesses17: Eine Zeitstruktur zu inkorporieren, den Umgang mit Geschriebenem als Autorität lernen, Geduld beim Abschreiben von Partituren zu üben und, ganz zentral: das Erlernen von Körperdisziplin, um von Stimme, Muskeln, Extremitäten, Atem etc. kontrolliert Gebrauch zu machen, entsprechend christlicher Ideen von Bescheidenheit und Beseeltheit. Musik wurde insgesamt als Königsweg zur Erfahrbarmachung der neuen Religion als einer neuen Lebensweise, die eine Ordnung der ganzen Schöpfung als harmonischem Kosmos einschließt, angesehen. Ich habe außerdem den Eindruck, dass Musik dezidiert als gemeinschaftsformendes Instrument jenseits sprachlicher Differenzen eingesetzt wurde, wenn man bedenkt, dass in einer Reduktion bis zu zehn verschiedene Sprachen (sogenannte parcilidades) gesprochen wurden. Guillermo Wilde18 hat in seinen Studien zu den Guaraní-Reduktionen Kernelemente einer »politischen Anthropologie des Missionsklangs« identifi ziert. Die Klangerfahrung innerhalb der Missionsdörfer setzte die erwünschte Zeit- und Körperdisziplin performativ in Kraft.19 Er bezieht sich auf Antonio Manuel Hespanha, der europäische Traktate zur Musikpolitik der frühen Neuzeit ausgewertet hat. M. Schmid, Pater Martin Schmid SJ, 1694‒1772. Seine Briefe und sein Wirken, Beiträge zur Zuger Geschichte 8, Zug 1988; A. Sepp, A. Böhm, Reissbeschreibung wie dieselben aus Hispanien in Paraquarien kommen. Und kurtzer Bericht der denckwürdigsten Sachen selbiger Landschaff t, Völckern und Arbeitung der sich alldort befindenten P P Missionariuorum. […] Nürnberg 1696; A. Sepp, Continuación de las labores apostólicas, Colección América, Buenos Aires 1973. 18 G. Wilde, »Toward a Political Anthropology of Mission Sound. Paraguay in the 17th and 18th Centuries«, in: Music & Politics 1/2 (Sommer 2007). http://dx.doi.org/10.3998/mp.9460447. 0001.204 19 Ebd. 17
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Zentral ist ihnen die Annahme, dass »buon gobierno« in der Bereitstellung der Mittel für ein gutes Miteinander und in der Unterstützung einer richtigen Lebensführung bestünde. Das Konzept der affectio war hierin ein zentraler Operator. In dieser Fassung einer Kosmopolitik werden die Beziehungen zwischen den Elementen der Ordnung durch Liebe oder einen ähnlichen Affekt aufrechterhalten. Wie der Kosmos wurde das Soziale als ein organisches Netzwerk von Sympathien aufgefasst. Die Beziehung der Unterordnung besaß so gesehen nicht weniger Würde als eine Gleichheits- oder Überordnungsbeziehung, sondern bezeichnete den spezifischen Ort des Einzelnen in der Kosmologie, in der Rechte und Pfl ichten auf alle Positionen verteilt vorlagen. Engel, Tiere, Dinge, Institutionen, Kinder, Tote oder auch Gott selbst – sie alle verfügten über verbriefte Rechte und Pfl ichten. Musik und Zeremoniell dienten dazu, diese Ordnung zu visualisieren und in Kraft zu setzen. In zeitgenössischen Worten: Die als notwendig so konzipierte Harmonie der sozialen Ordnung wurde performativ konstituiert. Nicht nur körperliche Handlungsformen wie der Kniefall, das Küssen von Händen oder dem Gesicht, die monogamen sexuellen Verhältnisse wurden in dieser Kosmologie gebunden und begründet, es waren gerade die musikalischen Auff ührungen, die die Wahrhaftigkeit dieser Ordnung garantierten und bestärkten: Die Erfahrung des gemeinsamen Musizierens setzte diese Musikpolitik ins Werk. Obwohl sie heterogen verfasst sind, sollten alle Dinge der Schöpfung zusammenarbeiten, um ein gemeinsames Ziel (die Erlösung) zu erreichen. Polyphonie macht einen solchen Universalismus des Ungleichen sinnlich wahrnehmbar. Nach Hespanha/Wilde wurde Vollkommenheit der Schöpfung als etwas gesehen, das in der Heterogenität der Dinge liege, »[the heterogeneity of things, KH] wove themselves together, sharing an objective as if a polyphonic texture encompassed the universe«.20 Diese Idee einer Einheit, die Heterogenes verwebt, verkörperte sich im Chor, in dem die vielen verschiedenartigen Stimmen von ihrem zugewiesenen Platz aus erklingen und damit einen Klangkörper formen. Dieses Konzept fand in den Missionen Südamerikas seine Anwendung. Und es erklärt auch, warum europäische Reisende in den musizierenden Reduktionen exemplarische Verwirklichungen eines idealen Gemeinwesens zu erblicken glaubten. So etwa José Manuel Peramás, der die Guaraní-Mission als »República de platon«bezeichnete.21 Weitere Hinweise auf den genuin politischen Charakter musikalischer Harmonievorstellungen, wenngleich als Negativfolie, fi nden sich in den eher seltenen Beschreibungen indigener Musik. In einem Bericht über Leben und Tod des padre Cypriani Baraza, der im Neue Welt-Bott abgedruckt ist, wird gesagt, die Moxos lebten wie wilde Tiere, ohne räumliche und zeitliche Disziplin (sie essen, wann und wo es ihnen gefällt). Es wird berichtet, sie tränken und tanzten in Furor und »auf den ungestimmten Hall gewisser Instrumente«, um ihre heidnischen Gottheiten
20 21
Ebd. J. M. Peramás, La república de Platón y los guaranties [1791], Buenos Aires 1946.
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anzubeten.22 Hier ist also das Gegenbild zum geordneten Gemeinwesen/Chor/Orchester der Gläubigen und Zivilisierten, das bekämpft werden muss.
IV. Interessierte, riskante Praktiken Bis zu diesem Punkt habe ich die Musikpraxis in den Reduktionen im Rahmen eines Foucault’schen Politikverständnisses interpretiert: Als Ausdruck eines gouvernemental-pastoralen Führungsstils und als politische Technologie. Musikalische Praxis verbindet den individuellen mit dem kollektiven Körper, die sinnliche Wahrnehmung mit Vorstellungen eines Gemeinsamen, Affekte mit Normen. Musik ist eine Kulturtechnik, eine rekursive Praxis, indem sie den Sinnen zugänglich macht, was sie operativ hervorbringt.23 Orchester und Chor sind gleichermaßen Symbole für die neue christliche Ordnung, wie sie diese körperlich-sinnlich-affektiv ins Werk setzen. Dieser symbolische Apparat umfasst sowohl Körpertechniken als auch Techniken des Selbst: Indem ein Instrument erlernt wird, oder auch im Gesangsunterricht die Fähigkeit zur Kontrolle der Stimmhöhe neu justiert wird – in Abstimmung mit in Noten fi xierten Tonabständen –, indem neue Körperhaltungen und Formationen (die Anordnung im Chor) eingeübt werden, verwandeln sich die zunächst rein formal getauften Individuen praktisch in christlich fühlende Mitglieder einer neuen Ordnung. Eine solche Sichtweise ist sicherlich wichtig, um die enorme strukturelle Gewalt der Einführung neuer Sensibilitäten in kolonialen Situationen zu begreifen. Dennoch werde ich im restlichen Text eine weitere Perspektive entwickeln, die zum bisher Gesagten komplementär ist und die Einschätzung verkompliziert. Ich werde eine praxeologische Zugangsweise vorschlagen, die betont, dass »Praktizieren« mehr und anderes bedeutet, als die Reproduktion einer intentional eingesetzten, vorstrukturierten (und in der musikalischen Praxis: formalisierten) Routine. Praxis schließt stets Momente der Variation und der Erfi ndung mit ein und sie wird durch vielf ältige Ko-Aktivitäten des spezifi schen Kontextes abgelenkt. Ich orientiere mich an Antoine Hennion, der eine Konzeption musikalischer Praxis als nie vollständig planbarer Mediation entwickelt hat. Musikalische Praxis (einschließlich der »Reproduktion« von Partituren) wird als ein vielerlei Habitualisierungen und Routinen einschließendes singuläres Ereignis lesbar, als riskante »Emergenz neuer Wesen und Gegenstände an der Schnittstelle existierender Modi«.24 Ein solcher Zugang macht deutlich, dass auch die so sehr »Bericht von dem Leben und Tod Vener. Patris Cypriani Baraza, aus der Gesellschaft JESU, deren Moscheen in America erster Apostels und Blut-Zeugens Christi […]«. in: Welt-Bott, Teil V, 1704-1711, Brief Nr. 112, 62‒71, hier: 63. 23 T. Macho, »Zeit und Zahl. Kalender und Zeitrechnung als Kulturtechniken«, in: BildSchrift-Zahl, hg. v. S. Krämer, H. Bredekamp, München 2003; B. Siegert, »Kulturtechnik«, in: Einführung in die Kulturwissenschaft, hg. v. H. Maye, L. Scholz, München 2011. 24 A. Hennion, »Die Kunst der Berührung. Über das hervorzubringende Werk«, in: Auf Tuchfühlung, hg. v. K. Harrasser, Frankfurt, New York 2017, 95‒103. 22
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auf präzise Nachahmung gerichtete Reproduktion musikalischer Vorgaben immer auch neue Subjektivitäten und Wahrnehmungsdinge hervorbringt. Ich beziehe mich außerdem auf Isabelle Stengers Konzept einer »Ökologie der Praktiken«.25 Sie bringt eine wichtige Vorkehrung für meinen Untersuchungsgegenstand ein: Praktiken entfalten sich innerhalb von Machtverhältnissen, die darüber entscheiden, welche Praktiken als legitim gelten und welche nicht, welche als richtig gelten und welche als falsch, welche auf richtigen/wahren Konzepten fußen und welche auf falschen/betrügerischen. Sie hält außerdem fest, dass sich in jedem Neuen, vor allem wenn es als »modern« auftritt, Spuren der Gewalt fi nden. Sie zeigt außerdem, dass in kolonialen/modernen Szenarios des Lernens und Herstellens von Wissen fast immer jemand den Gottestrick spielt, sich also als frei von Interessen darstellt. Die Missionare waren sicher keine Wissenschaftler oder Pädagogen im vollen neuzeitlichen Verständnis (obwohl sie Erhebliches zum Anwachsen der europäischen Wissensbestände beigetragen haben)26 , der Punkt, auf den es mir hier ankommt, ist ein anderer: Obwohl als körperlich-sinnliche Wesen involviert, delegierten sie ihre Interessen, ihr Begehren, ihre Wünsche an eine höhere Sache, nämlich an die Mission. Sie begriffen sich als Werkzeuge oder Vermittler im Dienst eines theopolitischen Projekts der Umformung des Sozialen und der Sinneslandschaft. Wenn wir nun die beiden Perspektiven übereinanderlegen: Praktiken als niemals vollständig planbar, als immer auch riskant und ereignishaft und ihre Einbettung in eine hochgradig asymmetrisches Milieu der Kolonisierung und Evangelisierung, könnte es sein, dass etwas wahrnehmbar wird, was dem Mantra der europäischen Überlegenheit und unterdrückter, ja weitgehend vernichteter, Indigenität entkommt? Welche Art von Musik und Tanz lernten die Jesuiten bei ihren Vorstößen nach Chiquitos und Moxos kennen? Sie trafen auf eine Vielzahl von Gruppen, Sprachen und kulturellen Praktiken. Wir müssen deshalb mit Generalisierung sehr behutsam sein. Einige kulturelle und religiöse Praktiken waren aber wohl an verschiedenen Orten in Moxos und Chiquitos vorhanden. Musik, Tanz und der Genuss von chicha (Maisbier) waren Bestandteil von Ritualen, die von SpezialistInnen durchgeführt wurden. Die Jesuiten nannten sie »Zauberer« oder »Priester«, ein Hinweis darauf, dass die Kategorisierung gerade auch im Vergleich mit der eigenen Tätigkeit nicht immer einfach war. Fernández erzählt detailliert über die Praktiken einer solchen Person bei den Maniacas, einem Volk, das später in einer Missionssiedlung reduziert wurde. Man würde, so schreibt er, durch körperliche und spirituelle Techniken zum mapono: durch Fasten, durch den Konsum rauscherzeugender Substanzen, durch Kontaktaufnahme mit Tiergeistern und durch erleuchtende
Eine Zusammenführung des Konzept der Ökologien der Praxis mit Kolonialitäts-/ Modernitätsdebatten und Medienfragen fi ndet sich in: K. Harrasser, K. Solhdju, »Wirksamkeit verpfl ichtet. Herausforderungen einer Ökologie der Praktiken«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 14 (2016), 72‒86. 26 Vgl. L. Millones Figueroa, D. Ledezma (Hg.), El saber de los Jesuitas, Historias Naturales y el Nuevo Mundo, Madrid, Frankfurt/M. 2005. 25
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Krankheitserfahrungen. Fernández spricht von »Übungen und Verzückungen« 27, ein Vokabular, das einem Jesuiten, der durch die ignatischen Exerzitien gegangen ist, überaus geläufig war. Der mapono (häufig, aber nicht notwendigerweise ist er ein Mann) wird als Mittler zwischen Menschen und Göttern beschrieben und er verwendet Gesten, die für den europäischen Beobachter bekannt erscheinen. Er besprengt beispielsweise Dinge und Menschen mit heiligen Flüssigkeiten (»WeyhWasser«). Die Maniacas begingen aufwändige »Messen« für eine, wie Fernández sie nennt, »teufl ische Trinität«. Für das Ritual würde »der Tempel« mit einem Vorhang aus Zweigen und Blättern zweigeteilt. Hinter dem Vorhang manifestiere sich die Dreifaltigkeit Omequeturiqui (Vater), Urasana (Sohn) und Uropo (Heiliger Geist), während das Dorf auf der anderen Seite singe, tanze und trinke. Nur der mapono dürfe den heiligen Bereich betreten. Er stelle die Bitten der Dorf bewohner zu, könne aber auch mit den Göttern fl iegen. Fernández teilt mit, dass sich manchmal das ganze Gebäude in die Luft erheben und mit einem großen Krach wieder landen würde. Der mapono reise im Schoß einer der Gottheiten, die Fernández nicht recht zu bezeichnen weiß: Ist sie ein Teufel oder die Mutter von Urasana und Frau von Omequeturiqui?28 All das zusammengenommen ergibt ein Szenario, das sich nicht so sehr von den Narrationen und Bildern jesuitischen Katholizismus unterscheidet, in dem die Verehrung der heiligen Jungfrau eine herausragende Stellung einnimmt und für den die ekstatische Begegnung mit Gott als Ergebnis von elaborierten körperlichen und geistigen Übungen zentral war. Umgekehrt mussten für die Maniacas die jesuitischen padres ihren eigenen heiligen Männern nicht unähnlich erschienen sein. Sie pflegten sexuelle Abstinenz, das Gebet, Meditation und ein Leben jenseits der kommunalen und familiären Arrangements der Gruppe. Als Konsequenz waren die jesuitischen padres als mächtige Zauberer gefürchtet. Nicholas Griffiths geht so weit, die religiösen Praktiken der Jesuiten als »christliche Magie« zu bezeichnen und er nennt sie »christliche Schamanen«.29 Die Reiseberichte der Jesuiten, die in Europa zirkulierten, waren voll von Wundern. Diese sollten den europäischen LeserInnen die Macht des Glaubens demonstrieren, geben uns als zeitgenössischen LeserInnen aber einen Hinweis darauf, dass die Missionare durchaus indigene Praktiken adaptiert haben könnten. Bezüglich Musik und Tanz verfolgten sie jedenfalls eine doppelte Strategie: Traditionelle Musik und Tanz waren als Teil der Liturgie und der opulenten weltlichen Feiern erlaubt, gleichzeitig waren die Bemühungen um eine europäische Musikerziehung sehr groß. Bach und d’Orbigny, die Chiquitos in den 1840er Jahren, 70 Jahre nach der Ausweisung der Jesuiten, besuchten, zeigten sich von Qualität und Variationsbreite der immer noch zur Auff ührung gebrachten Musik beeindruckt. Sie erinnern sich an Feierlichkeiten, die sich über mehrere Tage hinzogen 27 J. P. Fernández, Erbauliche und Angenehme Geschichten derer Chiquitos, und anderer von den Patribus der Gesellschaft Jesu in Paraquaria Neu-Bekehrter Völcker; […] Wien 1729, 305. 28 Ebdd., 293‒303. 29 N. Griffiths, Sacred Dialogues. Christianity and Native Religions in the Colonial Americas 14921700, Großbritannien 2006, 185, 208.
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und in denen die Dorf bewohnerInnen an allen möglichen Auff ührungen (Musik, Tanz, Theater) teilnahmen. Die Musizierenden waren offenbar in vielerlei Registern zu Hause und wechselten mit Leichtigkeit von italienischer Orchestermusik zu überlieferter indigener Musik und zurück.30 Auch Fronleichnamsprozessionen waren (und sind es bis heute) Amalgamierungen von Orchesterklängen und lokalen Soundscapes; katholisches Ritual triff t auch hier auf lokale Formen von Spiritualität: »Den Platz, welcher gross und viereckig war, zierten die Indianer mit Schwibbögen, die aus Baumzweigen hergestellt wurden. An diesen hingen hin und wieder von den nämlichen Bäumen herkommende Früchte. Zwischen den grünen Blättern aber flogen verschiedene Vögel von ungleicher Gestalt und Farbe, welche an dünnen Stricken fest gemacht waren. Desgleichen waren Enten, Gänse, Papageien, deren es dort viel und sehr schöne gibt. Dazu kamen noch Tünche [Tukane], deren Schnabel beinahe so lang als ihr ganzer Körper ist und Maximos (ein schickitisches Wort), welche den Pfauen nicht unähnlich sind, wie auch Strausse, welche eine bedeutende Grösse haben, […]. An den untersten Teilen der Schwibbögen wurden wilde Tiere aus den Wäldern festgebunden: [Ameisen-]Bären, wilde Schweine, Hirsche, Damhirsche, Füchse, Schildkröten, Hasen und andere dergleichen. Und wirklich, diese Tiere erhöhten durch eine gewisse Art von Dienstbezeugung und ihre stillschweigende Nachgiebigkeit (nach den Begriffen der dortigen Völker) die Macht und Majestät des bei ihnen vorbeigehenden Herrn, welcher die Menschen oft an die Pfl icht der Dankbarkeit erinnert […].« 31 Die Mischung aus natürlichen und artifi ziellen Klängen wurde präzise in Szene gesetzt: Es wurden ganz spezielle Tiere für die Feierlichkeiten gefangen und danach wieder freigelassen. Typisch für die Prozessionen, aber auch für die Dekoration der Kirchen, waren Muster aus lokalen Blumen und Federn, die aus den indigenen Anbetungsformen übernommen und neu gerahmt wurden. Die Raum- und Zeitkünste wurden gezielt eingesetzt, um die vorher vorherrschende intime Koexistenz von Territorium, Land und Wäldern mit dem Leben in den künstlichen, geometrisch konstruierten Siedlungen und ihrer von Naturrhythmen abgekoppelten Zeitstruktur zu versöhnen. Ich schließe mich Martin Zillinger an, wenn er schreibt, dass »media history of the Christian mission soon encounters conditions that are not exhausted in the question of standardizations and formattings that mobilize ideas, practices, and specific formats (Latour’s ›immutable mobiles‹). […] Rather, the missionary societies always had to mobilize various resources in order to actualize the universalistic horizon of conversion in situ.« 32 In Chiquitos wird dies in der musikalischen Praxis deutlich. Ich möchte das Argument noch ein wenig weiter treiben: Wie Z. B.: Fragment d’un voyage, 54 ff., Bach, Die Jesuiten und ihre Mission Chiquitos, 47 ff. J. M. Peramás, De vita et moribus tredim vivorum paraguaicorum, teilweises Faksimile in: Schmid, Pater Martin Schmid, 236, Deutsch 237. 32 M. Zillinger, »Christian Modernizations. Circulating Media Practices of the Mission Along the Nile«, in: L’Année du Maghreb 11 (2014), 18. 30
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wäre es, wenn wir diese sicherlich asymmetrischen Lernprozesse als dennoch konsequent wechselseitig, als von Interesse und Faszination getragene Indienstnahmen verstünden? Man kann Musik und Tanz als interessierte und riskante Praktiken untersuchen, die in unkontrollierbare Wirksamkeiten verstrickt sind, die eben aus Responsivität und Gegenseitigkeit resultieren. Obwohl die Missionspraktiken eine klare Intention verfolgen (die Evangelisierung), können sie niemals direkt vorgehen, nie ihre »Botschaft« ohne Widerstände und Vermittlungen durchsetzen. Mission ist Transmission und die jesuitische Akkommodationsstrategie ist Ausdruck davon. In den kulturellen Praktiken der Mission sind lokale Praktiken mehr oder weniger gewaltsam umgeformt worden, aber auch die Missionare und ihre Art den Glauben zu praktizieren, ihr »doing faith«, wird umgeformt. Kristin Dutcher Mann hat dargestellt, inwiefern die Erfahrung der Mission das jesuitische Selbstverständnis, insbesondere ihre Konzeption des Verhältnisses von Musik und Spiritualität, tiefgehend verändert hat. Sowohl der Ordensgründer als auch die katholische Doktrin nach dem Konzil von Trient waren skeptisch, was den Gebrauch von elaborierter, polyphoner Musik in der Kirche betraf. In den heftig geführten Diskussionen zu Liturgie und Musik stand immer wieder der Verdacht der nicht gottgemäßen Verführung der Menschen durch Musik im Raum. Die Verwendung höfi scher oder volkstümlicher Instrumente und nicht-geistlicher Genres und Stile standen im Verdacht, Begierde, Pietätlosigkeit und Aberglauben zu inspirieren.33 Bereits Ignatius rang mit dem Ort der Musik im Orden und kam zu dem Resultat, dass zu viel Musik vermieden werden sollte. Zwei Gründe dürften dafür ausschlaggebend gewesen sein 34: Die Ordensregeln sollten dafür Sorge tragen, dass die Missionare nach außen als ausschließlich im Dienst an Gott dienende Elite wahrgenommen wurde. Das Singen im Chor, für das im übrigen auch in Europa viele Kollegs um Erlaubnis baten und sie nicht bekamen, ließe, so Ignatius, die Mitglieder des Ordens im falschen Licht erscheinen, nämlich müßig und dem Genuss zugeneigt. Zu viel Musik war ein Imageproblem. Culleys und McNaspys Rekonstruktion der Auseinandersetzungen zwischen Ignatius und den Kollegien legen einen zweiten Grund für die zögerliche Akzeptanz von Musik im Orden nahe, nämlich ihren affektiv riskanten Charakter. Es wird berichtet, dass Ignatius beim Hören von elaborierter Musik völlig außer sich geriet, dass Musik also genau jene Ekstase durch bloßes Hören hervorrief, die in den Exerzitien mittels der Durchführung zahlreicher Körper- und Psychotechniken erreicht wurde. Die für die individuelle Begegnung mit Gott notwendige affektive Disposition war also in der Musik schneller erreichbar, aber weniger gut kontrollierbar, als es
K. Dutcher Mann, The Power of Song: Music and Dance in the Mission Communities of Northern New Spain, 1590‒1810, Stanford 2010, 51. 34 Zu den Auseinandersetzungen innerhalb des Ordens vgl. T. D. Culley S.I., C. J. McNaspy S.I., »Music and the Early Jesuits (1540‒1565)«, in: Music and the Renaissance. Renaissance, Reformation and Counter-Reformation. A Library of Essays on Renaissance Music, hg. v. P. Vendrix, Farnham 2011, 453‒485. 33
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die Exerzitien, die Schreiben, Introspektion und exzessive Körperpraxen zu einer lernbaren Routine zusammenschweißten, vorsahen. Es gab deshalb im Orden zwar kein explizites Verbot, aber vielerlei Dispute über Nutzen und Nachteil von Musik. Außerdem gab es zahlreiche Dispute über die Frage, ob diese künstlich erzeugten Affekte den Glauben stärkten oder ihn aber verfälschten. Mit dem Beginn der Missionstätigkeit in Übersee kam ein weiterer Streitpunkt hinzu: Sollte man die Gesänge und Tänze der zu Missionierenden praktizieren, um sie in den neuen Glauben hineinzulocken oder ist es umgekehrt so, dass die Ausführung der Tänze und Gesänge aus Christen Heiden mache? Der erste Bischof von Salvador de Bahia, Pedro Fernandes, war strikt dagegen, da die Gesänge und Tänze ins Reich des Bösen und Hässlichen führten, wie er meinte.35 Seine Bedenken kamen jedoch zu spät: Längst war es eine der erfolgreichsten Missionspraxen, indigene oder aus Afrika stammende musikalische Formen mit christlichen Inhalten zu füllen. Auch die Musiktheorie – oder vielmehr Musikkosmologie – war in solche Fragen verstrickt. Athanasius Kircher, dessen Musurgia Universalis (1650) in keiner jesuitischen Bibliothek, also auch nicht in den colegios Neuspaniens, fehlte, ging so weit, bestimmten Intervallen eine universelle Wirksamkeit, nämlich die Hervorrufung des Affekts des spiritum, zuzutrauen. In seiner Beweisführung zieht er Evidenzen aus nicht-europäischen Musiken heran: »Daher gebrauchen alle Völcker in ihren Gesängen das genus diatonicum; die Türckischen Priester in ihrem alla, alla, gehen per tonos & ditonos; die Chinenser wann sie ihren Abgott Canfutium anbeten singen sie Chuypò, chuypò, von der 8. in die 4. von der 4. wider in die 8. Also auch die toupinamba in der Neuen Welt.« 36
Abb. 2. Athansius Kircher, Musurgia Universalis, Beispiel für die Hervorrufung des spirituellen Affekts, 151.
Wenn der spirituelle Affekt in sämtlichen Konfessionen und religiösen Glaubenssystemen gleichermaßen durch bestimmte Intervalle hervorruf bar wäre, wäre das nicht nahe an der Häresie? Wie sollten die Sinne denn zwischen dem einen wahren Gott und den Idolen der Tupí oder dem Gott Konfuzius der Chinesen unterscheiden können? Ich werde in der Folge demonstrieren, wie kompliziert es für
Ebd. 576 f. A. Kircher, Musurgia Universalis. Reprint der deutschen Teilübersetzung von Andreas Hirsch, Schwäbisch Hall 1662, Basel, London, New York, Prag 2006, 151. 35
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die Missionare werden konnte, zwischen wahrem Glauben und Glaubensbekenntnissen als Maske für die alte Religion zu unterscheiden. Die Missionserfahrung war aber nicht nur ein wichtiger Einfluss für das europäische Denken. Ich möchte darstellen, dass sie auch im individuellen Selbstverständnis der Missionare transformativ wirkte. Die Reorganisation der Selbstwahrnehmung (und damit in Verbindung stehend: der Missionsauftrag) wird beispielsweise in den Briefen des padres Martin Schmid, SJ deutlich. Bevor er aus der Schweiz nach Chiquitos kam, war er weder ein professioneller Musiker noch Architekt, aber als Missionar brachte er sich selbst und den Neugetauften eine Vielzahl von Instrumenten bei: Trompete, Zither, Flöten, Violinen, die Orgel. Er wurde ein versierter Instrumentenbauer, Musiker und Architekt. Es war die Mission, also auch die Begegnung mit einer ihm unbekannten Welt, die in ihm neue Fähigkeiten wachrief: »so dass wir hier mehr wissen als wir wissen und dass wir mehr Fähigkeiten haben, als wir haben«.37 Und er setzt fort, er sei ein Missionar, nicht obwohl er singe, musiziere und tanze, sondern weil er singe, musiziere und tanze. Er antizipiert, dass die Leser des Briefes die Idee eines tanzenden Priesters vermutlich nicht gutheißen würden und bat diese daher zu bedenken, dass seine Füße aufgrund ihrer Tätigkeit zu Ehren Gottes notwendigerweise herrlich gesetzt würden.38 Auch würde er nichts anderes tun, als Davids Vorbild zu folgen, der mit besonderer Anmut um die Bundeslande getanzt sei. Er verwendet also Figuren aus dem Alten Testament, um die LeserInnen von der Legitimität seiner überraschenden, neuen Praktiken zu überzeugen, aber auch, um sich selbst als »tanzender und singender Priester« zu subjektivieren. V. Appropriation/Inversion Ist es möglich, die Perspektive interessierter und riskanter Praktiken auf Inversionen und Verkehrungen der jesuitischen Praktiken zu erweitern? Die diesbezügliche Quellenlage ist denkbar schwierig. Gegenaneignungen werden in den verfügbaren Berichten als häretisch oder diabolisch, als Rückfall in den Status des Aberglaubens gerahmt und sind entsprechend verzerrt dargestellt. Die zur Verfügung stehenden Genres sind Wundererzählungen (»Mirakel«) und Visionen (»Gesichte«). Die folgende Episode demonstriert die Schwierigkeit, zwischen »echtem« und »falschem« Glauben zu unterscheiden, aber auch, wie riskant die jesuitischen Praktiken der Stimulation von Affekten waren. Die Wundererzählung dreht sich um die Praxis der Flagellation. Flagellation und Selbstfl agellation waren Techniken, die von den Jesuiten systematisch eingesetzt worden sind, sowohl in der Liturgie, als auch als weltliches Bestrafungsinstrument. Die (Selbst)auspeitschung ist eine Praxis der Loslösung vom eigenen Körper, der Verdinglichung des Leibes, 37 »Ut sciamus hic plus quam sciamus, possmus plus quam possimus.« Brief an P. Joseph Schumacher, SJ, San Rafael Chiquitos, 10. Oktober 1744, Schmid, Pater Martin Schmid, 84. 38 »Speciosos esse debere etiam pedes evangelizantium«; ebd. 85.
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der damit als Arbeitsmaschine und/oder Opfer für Gott hingegeben wird. Flagellationen wurden in Chiquitos im Rahmen der Liturgie und in Zusammenhang mit Imaginationstechniken ausgeführt, beispielsweise in der Weise, dass auf dem Höhepunkt des Geschehens ein als Teufel verkleideter padre auf der Empore der Kirche auftrat. Die Praxis baut auf einen extremen Affekt, nämlich den Schmerz. Der Affekt unterbricht und überschreitet Bewusstsein und Intentionalität, und damit auch die Rationalität dessen, was da eigentlich geübt, eingeprägt und aufgeführt werden soll. Die Praxis der Flagellation, so würde ich sagen, brachte die neue Ordnung an ihre Grenzen. So ist immer wieder davon die Rede, dass die Flagellationen während der Karwoche völlig außer Kontrolle gerieten oder dass die Neugetauften absichtlich Sünden begehen würden, um mit der Peitsche bestraft zu werden.39 Eine verwirrende Verkreuzung von richtigem und falschem Gebrauch der Peitsche bietet das Mirakel über einen Zauberer in San José, der mit dem Teufel verkehrte. Der Zauberer sei in die Reduktion gekommen und wolle christlich leben, wäre aber stets gefährdet, in seine Lebensweise »als wildes Tier« zurückzufallen. Er wird durch Lüsternheit und durch Gedanken an seine frühere Religion in Versuchung geführt; er verfällt darauf hin in einen fiebrigen Zustand und hat die Vision einer »Schaar Teuffel«40, die aus der Kirche rennen und die Gläubigen verfluchen, welche sich dort gerade gegenseitig auspeitschen. Diese Teufel versuchen nun den Zauberer zu einer Rückkehr in den Wald und zu seinem alten Glauben zu bewegen, indem sie sagen, dass eine Religion, die die Menschen einander auspeitschen lässt, keine gute sein kann; und sie drohen an, ihn ebenso auszupeitschen: »wir werden dich mit eben solchen Schlägen abbleuen«.41 Das Genre erlaubt keinen anderen Ausgang als die endgültige Konversion des Zauberers, demonstriert aber auch den riskanten Charakter der Affekttechniken der padres, die hier als Beweis ihrer Bösartigkeit, ihrer Ähnlichkeit mit dem Teufel, ins Feld geführt werden. Antonio Ruiz de Montoya erzählt über eine augenfällige Gegenaneignung der musikalischen und theatralen Praktiken der Jesuiten. Er berichtet über einen vom caciquen Miguel Artiguaye angeführten Aufstand, der in einem Exodus endet. Artiguaye führte, so Montoya, 300 Leute aus der Reduktion hinaus. Der Aufstand beginnt mit einer ekstatischen Rede Artiguayes, in der er die padres anklagt, den Leuten ihre Freiheit gestohlen zu haben; die Priester hätten außerdem nicht Gott, sondern den Teufel gebracht. Der Exodus wird mit großer Theatralität durchgeführt: Alle versammeln sich, mit Federn, Pfeil und Bogen geschmückt auf der plaza und das ganze Dorf verlässt den Ort mit großem Pomp, begleitet von Flöten und Trommeln. Es ist schwer zu sagen, zu welchen Anteilen in diesem Exodus mit einem charismatischen Führer an der Spitze indigene und christliche Elemente vermischt vorliegen. Alfred Métraux und andere konnten zeigen, dass im 18. und 19. Jahr39 40 41
Fernández, Erbauliche Geschichten, 119 ff. Ebd., 135. Ebd., 136.
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hundert solche indigenen Messiasse in Chiquitos und Moxos sehr häufig waren.42 Die christlichen Figurationen, Erzählungen und Praktiken über Bestrafung und Erlösung vermischten sich offenkundig an manchen Orten mit indigenen Beständen, an anderen Orten wurden sie offen abgelehnt. Einige der Messiasse versprachen, ihr Volk zurück in die alte Lebensweise zu führen, andere behaupteten Jesus Christus zu sein und die Leute ins Paradies zu bringen. In jedem Fall kann man aber annehmen, dass in der Begegnung mit dem Christentum auch Widerstandswerkzeuge geschmiedet wurden, Praktiken, die sich aus einem dichten Netzwerk von Routinen, Fertigkeiten, Affekten und symbolischen Praktiken bildeten. Die Praktiken der Konversion und der kulturellen Transformation umfassten Bilder und geschriebene Texte (Bücher, Partituren), aber verkörperte Auff ührung und Versinnlichung im Vollzug sind zentral für die Überarbeitungen sowohl der jesuitischen als auch der indigenen Kultur. Dieses Neue, das so langlebig sein sollte und bis in die Gegenwart wirkt, wird, ein wenig zu neutral für meinen Geschmack, »Missionskultur« genannt. Mir schiene es sinnvoller von gefährlichen Methoden und riskanten Praktiken zu sprechen, die oftmals widersprüchliche meshworks hervorgebracht haben. Heterogene Geflechte, die an manchen Orten und für eine gewisse Zeit »funktional« waren, die aber dauerhaft strittig und fragil blieben.
VI. Wie auf Zerstörtes hören? Obwohl in der Konstellation in Chiquitos Momente der Hybridisierung eine Rolle spielen, insbesondere dann, wenn wir die Langlebigkeit der jesuitischen Unternehmungen in der Region miteinbeziehen, zögere ich, zu schnell mit dem Erklärungswert der Kategorie »synkretistisch« zufrieden zu sein. Ich habe den Eindruck, dass das Konzept des Synkretismus eine Tendenz dazu hat, Zwang sowie symbolische und physische Gewalt auszublenden. Wenn alles in einem kosmischen Tanz von Symbolen, Dingen und Agentien verbunden ist, verlieren sich darin Leid, Asymmetrien und Ungleichheit zu rasch. Deshalb habe ich im ersten Teil des Essays den Aspekt der Biopolitik und den politischen Charakter von Musik in ihr betont. Um aber nicht in die Falle zu tappen, damit erst recht die Überlegenheit der Eroberer zu behaupten, habe ich versucht, im zweiten Teil den Eigensinn und den riskanten Charakter der musikalischen Praktiken herauszustellen. Ich habe Momente der Ablenkung und Inversion herausgestellt, zudem kontextspezifische, situierte Wirkungen, die paradoxe Effekte zeitigen.
Métraux, Kult und Magie,11‒37; G. v. Valen, Indigenous Agency in the Amazon: The Mojos in Liberal and Rubber-Boom Bolivia, 1842‒1932, Tucson 2013. 42
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Abb. 3. Menuett in A-Dur, R 82, f 44 V, Archivo Musical de Chiquitos.
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Es ist noch viel zu tun, um eine dekolonisierende theoretisch-methodische Modellierung von Konstellationen wie diesen zu erreichen. Da die historisch-rekonstruktive Methode auf Archive angewiesen ist, sind diese besonders prekär: Man kann versuchen, Geschichten über Widerstand, Obstruktion und Gegenaneignung herauszupräparieren. Man kann versuchen, die Berichte über indigene Praktiken aus dem Rahmen von Abwertung und Verurteilung zu lösen. Man kann die Interessen der Involvierten und die Anpassungen und Verdrehungen, die daraus folgen, betonen. Man kann dem Vektor von Praktiken folgen, wie es Hennion vorschlägt: Praktiken so zu rekonstruieren, dass die Genese neuer Subjekte und Objekte, neuer Sensibilitäten und Beziehungen im Vollzug sichtbar wird. Aber dennoch bleiben diese Dokumente korrupte Überträger. Das gilt auch für die Partituren, die inzwischen fein säuberlich konserviert im Archiv von Chiquitos auf bewahrt sind. Sie sind nicht nur deshalb unverlässlich, weil sie materiell korrumpiert sind, sondern weil so viele Worte, Gesten, Zeichen, Töne und Körper fehlen. All die materiellen Ressourcen und lebendigen Körper, die im Namen Gottes und einer neuen Ordnung mobilisiert und im Anschluss nicht selten zerstört wurden, fehlen in den Partituren. Und eine medienkulturwissenschaftliche Bearbeitung des Archivs muss vielleicht damit anfangen, zunächst das aufzuzeigen, was nicht da ist. Zumindest kann man damit anfangen, diejenigen zu würdigen, die keine Briefe und Berichte in die alte Welt geschickt haben. Ich widme deshalb diesen Text Pablo, dessen Namen hinter dem Schlussstrich eines kleinen Menuetts aus Chiquitos geschrieben ist, das ich versucht habe zu spielen, während ich an diesem Text arbeitete. Das Stück ist für eine Hobbymusikerin, wie ich eine bin, nicht ganz einfach zu spielen. Und ich weiß nicht, wer Pablo war. Hat er das Stück geschrieben oder hat er es abgeschrieben, damit es aufgeführt werden konnte? Für welche Öffentlichkeit wurde es aufgeführt? Wer hat gespielt und wer hat getanzt? Was trugen die TänzerInnen bei der Auff ührung? Und was haben sie getanzt? Einen europäischen, höfischen Tanz auf den die Genrebezeichnung verweist, oder etwas ganz anderes? Haben sie gerne getanzt oder wurden sie dazu verpfl ichtet, etwa um padre Martin Schmid zu unterhalten? Oder war er es, der zum Menuett seine Füße grazil bewegte? Ich kann derzeit keine dieser Fragen beantworten, manche vielleicht nach intensiven Recherchen, manche vermutlich nie. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass diese gespenstische koloniale Vergangenheit bis in die Gegenwart reicht.
Dekolonisierung(en): Verhandlung von Gewalt und Gemeinschaft in J A Z und B IG S HOOT von Koffi Kwahulé Silke Segler-Meßner
I. (De)Kolonisierung Im Frühjahr 2007 erscheint in Le Monde ein Manifest, das 44 französischsprachige Autoren und Autorinnen unterzeichnet haben. Im Gegensatz zu den englisch- und spanischsprachigen Literaturen spielt die nationale Zuordnung im Verlags- und Literatursystem Frankreichs immer noch eine zentrale Rolle, was sich in der Unterscheidung zwischen französischen und frankophonen Texten zeigt. Mit dem Etikett frankophon werden die Veröffentlichungen jener Autoren und Autorinnen erfasst, die das Französische als Literatursprache nutzen, gebürtig aber in der Regel aus einer der ehemaligen französischen Kolonien stammen. Unterschwellig, so eine der Thesen, wirkt in dem Begriff Frankophonie ein verabschiedet geglaubter Rassismus fort, der die Gruppe der Künstler und Künstlerinnen, die Französisch als Zweitsprache oder im Exil gelernt haben, aus der Gemeinschaft französischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen ausgrenzt. Alle Unterzeichnenden sprechen sich gegen diese Spaltung innerhalb des französischen Kulturbetriebs und für die Etablierung einer Weltliteratur in französischer Sprache aus. »Fin de la francophonie, et naissance d’une littérature-monde en français«1, lautet die zentrale Aussage der gemeinsamen Erklärung. Das Plädoyer für ›eine‹ französischsprachige Weltliteratur und damit für ›eine‹ gemeinsame Literaturgeschichte wirkt zu Beginn des 21. Jahrhunderts überholt, da die kolonialen Befreiungsbewegungen fast über 50 Jahre zurückliegen und die französischsprachigen Literaturen, die geographisch außerhalb Frankreichs in der postkolonialen Phase entstanden sind, einen unverzichtbaren Bestandteil des Lektürekanons einer globalisierten Öffentlichkeit bilden. Während die Postcolonial studies im anglophonen Sprach- und Kulturraum ein neues Forschungsfeld etabliert haben, in dem die Stimmen der Autoren und Autorinnen aus den ehemaligen Kolonien Anerkennung erfahren und Teil des wissenschaftlichen Diskurses werden, zeichnet sich die französische Kritik und Forschungslandschaft in ihrer Rezeption durch das Festhalten an einer nationalen Identität aus, die trotz republikanischem Verständnis von Bürgerschaft mit der Herkunft als Kriterium der Differenz operiert.2 Auch in der deutschsprachigen Romanistik reflektiert die Gliederung klas1 http://www.lemonde.fr/livres/article/2007/03/15/des-ecrivains-plaident-pour-un-roman-en-francais-ouvert-sur-le-monde_883572_3260.html [11.09.2017]. 2 Vgl. J.-F. Bayart, Les études postcoloniales. Un carnaval académique, Paris 2010; M. Diouf, »Les
ZÄK-Sonderheft 17 · © Felix Meiner Verlag 2018 · ISBN 978-3-7873-3544-2
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sischer Literaturgeschichten, dass es ein Unterschied ist, ob die Literatur in Frankreich oder in einer der ehemaligen Kolonien entstanden ist. Blickt die »Grande Nation« auf eine historische Entwicklung und eine breit gefächerte nationale Literarturproduktion zurück, so fristen die frankophonen Literaturen den Status eines Addendums, das seine Bedeutung durch den historisch-politischen Rückbezug auf Frankreich erhält. In Bewegung geraten nationale Ordnungsschemata durch Initiativen wie Pour une »littérature-monde« en français und durch eine neue Generation an französischsprachigen Intellektuellen, die engagiert Stellung bezieht. Der Theaterautor Wajdi Mouawad spricht sich ebenso wie der Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller Koffi Kwahulé für das Konzept einer prozesshaften, wandelbaren Identität aus, die durch Differenz und Unabgeschlossenheit gekennzeichnet ist.3 Auch Léonora Miano plädiert für eine Dekolonisierung des Geistes, die sich in ihrer Lesart insbesondere durch die Vielzahl an Weltentwürfen der subsaharischen Autoren und Autorinnen realisiert. Weit davon entfernt, in der Marginalisierung zu verharren, führt sie den Begriff der »Afriphonie« ein, um die Vielstimmigkeit der aktuellen afrikanisch-französischsprachigen Literatur zu akzentuieren.4 Patrice Nganang argumentiert in eine ähnliche Richtung und stellt in seinem Manifeste d’une nouvelle littérature africaine die Notwendigkeit einer Neuordnung der afrikanischen Gegenwartsliteratur zu Beginn des 21. Jahrhunderts heraus, die den historischen Katastrophen und gleichzeitig den veränderten Bedingungen literarischer Produktion im Zeitalter der Globalisierung und Migration Rechnung trägt.5 In seinem Eröff nungsvortrag im Rahmen seiner Aufnahme in das Collège de France bewertet Alain Mabanckou die Migrationserfahrung afrikanischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen positiv, insofern sie dazu beiträgt, eine differente Wahrnehmung von Wirklichkeit in die Welt zu tragen.6 Im politisch-kulturgeschichtlichen Bereich schließlich dokumentieren die Untersuchungen Achille Mbembes eine Fortsetzung jener Auseinandersetzung mit den Folgen des Kolonialsystems, die mit Frantz Fanon begann und von Kulturphilosophen wie Abdelkébir Khatibi und Jacques Derrida weitergeführt wurde.7 Trotz aller Unterschiedlichkeiten in ihren Perspektiven und Ausdrucksformen lassen die angeführten Autorinnen und Autoren der Gegenwart in der konkreten Arbeit – ob im Theater, im Roman, im Essay oder in Interviews – an der Auflöpostcolonial studies et leur réception dans le champ académique en France«, in: Ruptures postcoloniales. Les nouveaux visages de la société française, publ. par N. Bancel, F. Bernault, P. Blanchard, A. Boubeker, A. Mbembe, F. Vergès, Paris 2010, 149‒158. 3 Vgl. W. Mouawad, Qui sommes-nous? Fragments d’identité, Avignon, 2013. 4 Vgl. L. Miano, L’impératif transgressif, Paris 2017, 69‒104, 99. 5 Vgl. P. Nganang, Manifeste d’une nouvelle littérature africaine. Pour une écriture préemptive, Limoges 2017. 6 Vgl. A. Mabanckou, Lettres noires: des ténèbres à la lumière, Paris 2016. 7 Vgl. A. Mbembe, Sortir de la grande nuit. Essai sur l’Afrique décolonisée, Paris 2010; ders., Critique de la raison nègre, Paris 2013; ders., Politiques de l’inimitié, Paris 2016.
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sung (post)kolonialer Grenzziehungen und -setzungen ein gemeinsames Engagement erkennen, das ebenso politisch wie künstlerisch ist. In ihren Texten artikuliert sich eine neue Form von Sensibilität im Umgang mit dem Nächsten, der dem Publikum in seiner Verwundbarkeit vorgeführt wird. Gleichzeitig sind sie sich der Notwendigkeit einer epistemischen Befreiung von kolonialen Denk- und Ordnungsschemata bewusst, die rassistische Zuschreibungen und Oppositionen durch die Öff nung neuer performativer Handlungsräume dekonstruiert. Ziel meines Beitrags ist es, die Entwicklungslinien einer Ästhetik der Dekolonisierung am Bespiel ausgewählter Theaterstücke Koffi Kwahulés darzulegen. Als Grundlage der Untersuchung dient zum einen der Monolog Jaz (1998), der einen Wendepunkt im Theaterschaffen Kwahulés markiert, und zum anderen der Dialog Big Shoot (2000), der die postmoderne, neoliberale Gesellschaft des Spektakels inszeniert. Da sich in beiden Dramen das Erleben von Gemeinschaft – auf Figuren- wie auf Zuschauerebene – über Akte der Gewalt begründet, sind meinen Textanalysen Überlegungen zu Theater, Afrikanität und Zusammenleben vorangestellt. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Körper in seiner doppelten Funktion als unabdingbare Materialität subjektiver Existenz und gleichzeitig als Bühne der Vergegenwärtigung menschlicher Sterblichkeit.
II. Dekolonisierte Gemeinschaften Die Theaterstücke Kwahulés sind weder konkret räumlich noch zeitlich zu situieren. Sie evozieren ein Setting, in dem die Menschen sich selbst überlassen zu sein scheinen und ihr Miteinander durch Gewalt und Indifferenz bestimmt ist. Die Protagonistin in Jaz lebt in einem Wohnhaus, in dem schon seit langem die Sanitäranlagen defekt sind, sodass die Fäkalien auf die Straße strömen. Im dramatischen Monolog heißt es, dass es sich um »[u]ne sorte de no man’s land au milieu de la Cité« 8 handelt. Bürgermeister und Polizei warten nur darauf, dass sich das Gebäude selbst zersetzt und zusammen stürzt. Eines Sommers, lässt die Sprecherin vernehmen, tötete ein Schuss aus diesem Gebäude eine Person aus dem Wohnblock gegenüber. Niemand wusste, warum geschossen und wer getötet wurde. Ein Fluss umschließt die Stadt und dient den Ärmsten der Armen, die nichts außer ihrem Körper besitzen, als letzte Ruhestätte. Diese Beschreibung des Lebensraums der Protagonistin gemahnt an die verwahrlosten Vororte von Metropolen in der ganzen Welt. Allein das Beerdigungsritual, das vorsieht, die Toten mit einem Gegenstand zu bestatten, lässt an außereuropäische Kulturen denken. Das, was alle Menschen eint, ist die staatliche Vernachlässigung, die physische Bedürftigkeit und ihre Anonymität. Niemand kümmert sich um den Nächsten und selbst der Mord an einem Nachbarn im gegenüberliegenden Gebäude schreckt sie nicht auf. Im Gegenteil, Gewalt K. Kwahulé, »Jaz«, in: M. Azama, K. Kwahulé, P. Minyana, Les Sas / Jaz / André. Monologues pour femmes, Paris 2007, 31‒65, 35. 8
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scheint zum Alltag zu gehören, sodass das Niemandsland in der Cité an Bilder aus Elendsvierteln erinnert, in denen der Einzelne schutzlos preisgegeben ist und um sein Überleben kämpft. In dem Maße, in dem die Dramen Kwahulés als Parabeln (post)moderner Existenz gelesen werden können, reflektieren sie die Folgen einer zunehmenden Zersetzung von Gemeinschaft im Zeichen eines entfesselten Kapitalismus, der den Wert eines Menschen über die Möglichkeiten seiner medialen Ausbeutung bestimmt. In Big Shoot (2000) kommen die Menschen von überall her zusammen, um dem Schauspiel eines Henkers beizuwohnen, der einen anderen Mann dazu bringt, sich vor den Augen der angereisten Zuschauer selbst zu töten. Zuvor, so verkündet der namenlose »Monsieur« in seiner Rolle als sadistischer Showmaster, hat er stets selbst Hand angelegt und seine Opfer durch einen Schuss in den Nacken umgebracht. Inwieweit die Figur des Täters ein Produkt der kollektiven Imagination der Zuschauer und damit ihres latenten Tötungswillens ist, bleibt eine irritierende Frage unter vielen, die das Drama aufwirft. Eine kaum auszuhaltende Spannung entfaltet das Spiel der beiden männlichen Figuren, die bald Opfer und Täter, bald Liebesobjekt und Geliebter, bald Subjekt und Objekt sind. Ihre anfängliche Konfrontation wandelt sich im Laufe des Stückes in ein Duett, in dem die Stimme des einen den Diskurs des Anderen komplettiert und sich ein homoerotisches Begehren entwickelt. Das Theater als Ort der Exposition körperlicher Endlichkeit ermöglicht die Repräsentation eines Gegenwärtig-Werdens, das nach Jean-Luc Nancy das menschliche Dasein grundsätzlich auszeichnet.9 Kwahulés Stücke, die das Drama der Anziehung und Abstoßung menschlicher Körper in Szene setzen, versinnbildlichen jenen Verlust einer Gemeinschaft, der von der Auflösung eines einenden politischen Bandes oder einer übergeordneten Idee zeugt. Wenige Jahre vor dem Ende des Kalten Krieges und der demokratischen Öff nung der Ostblockstaaten entwickelt Jean-Luc Nancy das Konzept einer »communauté désœuvrée«, die sich durch eine Serie von Negationen und durch ihr vollkommenes Unvermögen bestimmen lässt, einen metaphysischen Mehrwert hervorzubringen.10 Ihr zentrales Signum ist die Exposition der verwundbaren Physis als prinzipielle Öff nung gegenüber dem anderen Menschen.11 »La communauté ne prend pas la relève de la finitude qu’elle expose. Elle n’est elle-même, en somme, que cette exposition.«12 Der transzendenten Selbstermächtigung des Menschen erteilt Nancy ebenso eine Absage wie der Evidenz identitärer Logik oder der Annahme einer Höherwertigkeit gesellschaftlicher Formen
Vgl. J.-L. Nancy, »Corps-théâtre«, in: ders., Demande. Littérature et philosophie, Paris 2015, 221‒236, 221‒222. 10 Vgl. J.-L. Nancy, La communauté désœuvrée, Paris 31999, 11‒12. 11 In ihren politischen Essays entwickelt Judith Butler im Rückgriff auf Levinas ihren Diskurs zur ontologischen Verwundbarkeit des Menschen, vgl. J. Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt/M. 2005, 154‒178. 12 Nancy, La communauté désœuvrée, 68 (kursiv im Original). 9
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des Zusammenlebens. Gerade in dem Versuch, das Miteinander auf einer anderen Basis als der Gewissheit der eigenen Endlich- und damit Sterblichkeit zu begründen, sieht er die Ursache für die Verabsolutierung des Subjekts in der modernen Gesellschaft, die in eine Politik des Ausschlusses jenes Anderen mündete, der nicht mit dem Selbst identisch ist. Achille Mbembe greift diese Vorstellung einer Gemeinschaft auf, um sich aus der zirkulären Logik eines (post)kolonialen Denkens zu befreien, das sich in der Dialektik von Unterwerfung und Befreiung erschöpft. Auf die Euphorie der Vertreibung der weißen Kolonisatoren folgte eine bis heute unabgeschlossene Phase der Rückeroberung individueller und kollektiver Souveränität, die Mbembe zufolge zwar mit der Proklamation der Unabhängigkeit begann, aber der Entwicklung eines neuen Verständnisses von Menschsein und Menschlichkeit harrt. In dem ersten Band seiner Trilogie zur Situation der ehemals kolonisierten schwarzen Bevölkerung zu Beginn des 21. Jahrhunderts widmet er sich einer kritischen Bestandsaufnahme der »communauté décolonisée« fünfzig Jahre nach den Befreiungskämpfen und fragt nach der aktuellen Bedeutung von Dekolonisierung.13 Sein Essay Sortir de la grande nuit. Essai sur l’Afrique décolonisée (2010) zeigt sich insbesondere von Frantz Fanon inspiriert, der die Erfahrung der Kolonialisierung mit der Metapher der Nacht auszudrücken suchte, die Mbembe im ersten Teil des Titels aufgreift. In Analogie zur europäischen Auf klärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit spricht Fanon in Les Damnés de la terre von der Notwendigkeit des Heraustretens aus der Dunkelheit. »Allons, camarades, il vaut mieux décider dès maintenant de changer de bord. La grande nuit dans laquelle nous fûmes plongés, il nous faut la secouer et en sortir. Le jour nouveau qui déjà se lève doit nous trouver fermes, avisés et résolus.«14 Eng verbunden mit diesem Auf bruch aus der nächtlichen Finsternis ist für Fanon die Abwendung von Europa, seinen politischen Strukturen und Denktraditionen, die den Weg in eine offen zu gestaltende Zukunft verstellten. Mehr als deutlich unterstreicht Fanon die Unmöglichkeit, Afrika nach europäischem Vorbild neu zu gestalten. Stattdessen fordert er die Entwicklung eines neuen Denkens und eines neuen Menschen, ein Ziel, das bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat. »Pour l’Europe, pour nous-mêmes et pour l’humanité, camarades«, schreibt Fanon im letzten Abschnitt der Conclusion, »il faut faire peau neuve, développer une pensée neuve, tenter de mettre sur pied un homme neuf«.15 In diesem Ringen um einen Neuanfang sieht Mbembe den eigentlichen Sinn der Dekolonisierung, die sich auf zwei Ebenen realisiert: Zum einen in der politischen Notwendigkeit einer demokratischen Stabilisierung der afrikanischen Zivilgesellschaften, die nur in Zusammenarbeit mit den ehemaligen europäischen 13 14 15
Vgl. Mbembe, Sortir de la grande nuit, 10. F. Fanon, Les damnés de la terre, Paris 2002, 301. Ebd., 305.
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Kolonialmächten zu verwirklichen ist,16 zum anderen in dem philosophischen Projekt einer »déclosion du monde«, einer Ent-Schließung der Welt, die Jean-Luc Nancy als »l’ouverture d’un enclos, la levée d’une clôture«17 umreißt. Sowohl Nancys Begriff der Gemeinschaft als auch seine Kritik der entfesselten Globalisierung, die die Menschheit zerreißt, wählt Mbembe als Referenzpunkte seiner Revision bisheriger Vorstellungen von Afrika. Nancys unablässiges Plädoyer gegen vorgängige Defi nitionen des Menschseins bildet ebenso das Ziel Fanons wie Glissants, die beide ein Zusammenleben jenseits nationaler und rassistischer Ausgrenzung imaginieren und entwerfen. Mbembe selbst schreibt diese Erschließung eines offenen Denkhorizontes fort, indem er die Grenzziehung zwischen French Theory und antikolonialem Diskurs auf bricht, dessen Vertreter international in den Postcolonial studies fest etabliert sind, in der französischen Kulturgeschichte jedoch an den Rändern verharren. Ob in seinem Essai sur l’Afrique décolonisée oder in den Folgenbänden (La critique de la raison noire und Politiques de l’inimitié) der in Südafrika lehrende Politikwissenschaftler veranschaulicht in dem stetigen Überkreuzen der poststrukturalistischen und postkolonialen Diskurse die Verschiebungen innerhalb des historischen Machtgefälles, in dem Europa sich stets als überlegen imaginiert hat, und enthüllt gleichzeitig mögliche Synergieeffekte, die sich aus dem gemeinsamen Bestreben um eine epistemische Ent-Schließung der Weltwahrnehmung ergeben. In der gemeinsamen Arbeit an der Dekonstruktion stereotyper Setzungen und Vorstellungen, die von einem im- oder expliziten Rassismus geprägt sind, resultiert das künstlerisch-politische Engagement einer Reihe französischsprachiger Künstler und Intellektueller der Gegenwart, die selbst ursprünglich nicht aus dem Hexagon kommen. Koffi Kwahulé, der an der Elfenbeinküste geboren ist und seit über zwanzig Jahren in Frankreich lebt, versteht sich als ein Autor im Exil und wird nicht müde in Interviews zu betonen, dass sein Theater eine politische Funktion hat, insofern es gegen zwei Konzepte kämpft: gegen die europäische Setzung einer essentialistischen afrikanischen Identität und gegen die Frankophonie, die zur Ausgrenzung insbesondere der nicht-weißen Künstler und Künstlerinnen aus dem Gedächtnis einer französischen Nationalliteratur führt. In diesem Zusammenhang spricht er von einem »racisme intégré«, der auf einer Diskrepanz zwischen gelebter und medial vermittelter Wirklichkeit beruht. »On voit dans la rue des Asiatiques, des Noirs, mais dès qu’on ouvre la télévision, on a l’impression que l’on n’est plus dans la même société. C’est un racisme intégré, ›naturel‹, plus grave car beaucoup plus difficile à démanteler.«18 Die Enthüllung eines latenten Rassismus, der in die mentalen Strukturen eingeschrieben ist, zeigt sich nicht nur in der fehlenden Präsenz von Schwarzen Vgl. Mbembe, Sortir de la grande nuit, 25‒28. J.-L. Nancy, Déconstruction du christianisme, t. 1: La Déclosion, Paris 2005, 16. 18 I. Sadowska-Guillon, »Le huis clos de la francophonie« (entretien avec Koffi Kwahulé), in: Cassandra 69 (2007), 72–75, 73. 16 17
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oder Asiaten im französischen Fernsehen, sondern auch in der offi ziellen Erinnerungspolitik, die bis heute keine Form des Gedenkens an die Opfer des französischen Kolonialismus gefunden hat. Achille Mbembe bezeichnet diese fehlende Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit als aktuelle Herausforderung der französischen Republik, die auf der Gleichheit aller Menschen basiert, in ihren symbolischen Praktiken jedoch Teile der Bevölkerung ausblendet, sodass sich die Konfl ikte z. B. in die Vororte verschieben.19 Die Frage nach der Zukunft der »communauté désœuvrée« (Nancy) oder der »communauté décolonisée« (Mbembe) hängt wesentlich von unserem Umgang mit dem Nächsten und dem Fremden ab. Diese »nouvelle question de l’autre« 20 steht für Mbembe ebenso wie für Nancy im Mittelpunkt der aktuellen Weltpolitik, in der Ströme von Fremden in der europäischen Gemeinschaft auftauchen und den drängenden Problemen der Integration und Assimilation Brisanz verleihen. Die Begegnung mit den Menschen außereuropäischer Kulturen schürt identitäre Verlustängste und lehrt uns zugleich in der wechselseitigen Exponiertheit zu leben. In dem Maße, in dem Gehört-Werden, Selbsterkenntnis und Anerkennung zentrale demokratische Praktiken sind, geht es darum, die jeweiligen Eigenheiten miteinander zu teilen, ohne die Differenzen zu negieren. Eine Republik, die nicht mehr in der Lage ist, sich mit dem Anderen zu identifi zieren, hat ihre Funktion verloren und ist, wie Mbembe in Anlehnung an Nancy schreibt, »désœuvrée«. »Il apparaît donc que le partage des singularités est bel et bien un préalable à une politique du semblable et de l’en-commun.« 21 Das Teilen der unveräußerlichen Singularität, die jeden Menschen kennzeichnet und sich ihm gleichzeitig entzieht, da er sie nur in der Begegnung mit dem Anderen erfahren kann, übersetzt sich im Theater in der konkreten Erfahrung einer geteilten Körperlichkeit, die das menschliche Dasein erst ermöglicht. Bildet die Bühne einen »lieu d’intimité« 22 , auf dem die Körper präsent werden und ihre Präsenz offenbaren, so ist weniger das Spiel der Schauspieler entscheidend, als die Stimme, mit der sich der sprechende Körper an das Publikum wendet. Was im Theater zählt, ist der Text als Körper. »Ce qui compte, c’est qu’au théâtre le texte est en corps, il est corps« 23, heißt es in einem Aufsatz von Nancy zum »Corps-théâtre«. Diese Verkörperung des Textes ist im Drama gebunden an die Präsenz von Schauspielern, die in die jeweiligen Rollen schlüpfen und dem Text ihre Stimme leihen. Die in der Narrativik übliche Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler ist im Drama obsolet, insofern die Figuren unmittelbar szenisch agieren und keiner Vermittlung bedürfen. Welche Rolle spielt vor diesem Hintergrund die Hautfarbe des Verfassers für die Rezeption eines französischsprachigen Theaterstückes?
19 20 21 22 23
Vgl. Mbembe, Sortir de la grande nuit, 22. Ebd., 118. Ebd., 117 (kursiv im Original). Nancy, »Corps-théâtre«, 230. Ebd., 231.
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Kritische Besprechungen von Gegenwartstheater setzen Autor und Figur gleich, wie Koffi Kwahulé in einem Interview darlegt.24 Im Gegensatz zur Gewalt in den Dramen Sarah Kanes, die von Kritikern als interessant etikettiert wird, gilt die Omnipräsenz von Folter und Mord in den Dramen Kwahulés als Referenz auf seine afrikanische Herkunft und damit auf ein Afrika, das von Gewalt zerrüttet und außerstande ist, eine stabile politische Ordnung hervorzubringen. Eine solche kritische Lesart legt nahe, dass die wiederholte Vergewaltigung in Jaz oder die verbale und körperliche Erniedrigung von Stan in Big Shoot eine spezifi sch afrikanische bzw. schwarze Erfahrung sei. Diese Behauptung einer Spiegelrelation zwischen Autor und Figur relativiert das subversive Potential, das Jaz und Big Shoot in ihrer genrezersetzenden, transgressiven Ästhetik eignet, und schränkt die emotionale Anteilnahme ebenso ein wie den Wirkungsradius der sprechenden Körper. Ohne die kollektiven Traumata der Sklaverei und Kolonisation in ihrer destruktiven Wirkmacht zu leugnen, verfolgt Kwahulé mit seinem Theater seit Jaz das Ziel, die Imagination der Zuschauer von rassistischen Klischees zu befreien, indem er bewusst alle ethnischen und geographisch eindeutigen Referenzen tilgt. Er führt den Begriff der »déracialisation« 25 ein, der einen Europäer oder Asiaten dazu befähigt, die Figur eines Schwarzen zu spielen und der die Exklusivität einer dominant weiß imaginierten Menschheit an der Spitze der kreatürlichen Schöpfung als Konstrukt präsentiert. 26 Der Körper als Ur-Szene des Dramatischen, wie ihn Jean-Luc Nancy im Briefwechsel mit Philippe Lacoue-Labarthe zu der Frage der Bedeutung von Inszenierung und Figur für das Theater beschreibt,27 befi ndet sich im Zentrum des kreativen Schaffensprozesses Kwahulés. Mit seinen Dramen versucht er kein kompliziertes, sondern ein opakes Theater zu schaffen, das den Zuschauer verstört und primär emotional bindet.28 Durch seine affektiv-sinnliche Reaktion entsteht erst das Bedürfnis, das Erlebte zu verstehen. In seinen Theatertexten präsentiert Kwahulé die erlittenen Verletzungen innerhalb einer Gemeinschaft und problematisiert die Frage des Zusammenlebens. Mit seinem Bekenntnis zur afrikanischen Herkunft und dem gleichzeitigen Zurückweisen jeglichen Versuchs, eine spezifi sche »africanité« in seinen Stücken dingfest zu machen, unterstreicht er die politische Funktion seiner Arbeit und knüpft an Mbembes Versuch an, die menschliche Vgl. K. Kwahulé, »Éloge de l’hérésie«, in: S. Chalaye, Le syndrome Frankenstein, Paris 2004, 39‒47, 45. 25 Kwahulé, »Éloge de l’hérésie«, 41. 26 Im Zusammenhang mit den Gender Studies spricht Judith Butler auch von der Notwendigkeit einer Ent-Identifi zierung, um klare Festschreibungen und Kategorien von Geschlecht aufzulösen. In der von ihr propagierten »desidentification« zeigen sich deutliche Parallelen zu Kwahulés Projekt einer »déracialisation«. Beiden Ansätzen eignet ein transgressives Moment, vgl. J. Butler, »Transgresser le genre«, in: Europe. Revue littéraire mensuelle 89, Nr. 983 (2011), 223‒234, 225: »C’est cela, la désidentification : le fait de ne pas se sentir à l’aise avec la norme, de pas être en accord avec elle.« 27 P. Lacoue-Labarthe, J.-L. Nancy, Scène, Paris 2013, 36. 28 Vgl. Kwahulé, »Éloge de l’hérésie«, 42. 24
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Gemeinschaft anders als in klassifi zierenden Kategorien zu denken. Das Theater wandelt sich jenseits nationaler Zuordnungen in einen Raum der Exposition und des gemeinsamen Erlebens einer Erfahrung des »partage des singularités« 29, die den Prozess der Dekolonisierung ins Werk setzt, ohne die historische Bedeutung der Versklavung und der gewaltvollen Unterwerfung wie Inbesitznahme Afrikas zu relativieren. Die Dramen ermöglichen durch das Ineinander von Sprache und Musik, von Körper und Bewegung eine Sensibilisierung für die prinzipielle Verwundbarkeit des Menschen als singuläres, endliches Wesen.
III. Jaz: Körper-Text, Text-Körper Koffi Kwahulé hat sich in seinen ersten Dramen wie Bintou (1997) primär mit der Frage afrikanischer Identität auseinandergesetzt, die Begegnung mit dem Jazz führte jedoch zu einem performativen Experimentieren mit Entgrenzungen auf unterschiedlichen Ebenen. In dem Monolog Jaz hat er erstmalig die Kunst musikalischer Improvisation szenisch umgesetzt, d. h. er hat kein Handlungsgefüge ausgearbeitet, sondern ausgehend von dem Grundsujet der Vergewaltigung lässt er eine Partitur entstehen, in der Sprache, Klang und Bewegung miteinander verschmelzen. Die Inszenierung folgt dabei dem Gestaltungsprinzip »la bouche touche« 30, das Nancy als Archi-Theater defi niert. Es geht in Jaz nicht um das Nachspielen der sexualisierten Gewalt, sondern um die performative Vergegenwärtigung der erlittenen Verletzung, die den Zuschauer bzw. die Zuschauerin Teil des Erlebten werden lässt. Im Zentrum steht eine einzelne weibliche Figur, die für Jaz spricht, von ihren Lebensbedingungen erzählt und auch dem Täter, dem »homme au regard du Christ« 31, die Stimme leiht, sodass es zu einem verbalen Reenactment der Vergewaltigung kommt. Der Frauenkörper erscheint im Monolog zum einen als Objekt männlicher Besitz- und Unterwerfungsphantasien und zum anderen als ideale Projektionsfl äche für kulturelle Symbolisierungen des Weiblichen, das bald als Inbegriff des Lebens, bald als Verkörperung der zu formenden Materie erscheint. So verhandelt Jaz mit dem Sujet der Vergewaltigung die konkret gegen Frauen gerichtete Gewalt und zugleich auch historisch gewachsene Machtverhältnisse, ob zwischen den Geschlechtern oder zwischen den Rassen. Etymologisch kommt der deutsche Begriff Vergewaltigung von der Wurzel »walten«. Das daraus abgeleitete Derivat »giwalt« war im Althochdeutschen durchaus positiv konnotiert und erst später mit Unrecht und Zwang verbunden.32 Auch die französische Bezeichnung »violence«, in der der »viol« bereits enthalten ist, referiert nicht ausschließlich auf eine Aggression gegen 29 30 31 32
Nancy, La communauté désœuvrée, 70. Lacoue-Labarthe, Nancy, Scène, 37. Kwahulé, »Jaz«, 46. Vgl. M. Sanyal, Vergewaltigung, Hamburg 2016, 137.
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den anderen Menschen, sondern meint auch die ungebändigte Kraft bzw. Macht eines Menschen oder auch eines Begehrens. Im historischen Kontext fungiert der Topos der Vergewaltigung als Metapher für die gewaltvolle Unterwerfung der indigenen Bevölkerung durch die Kolonialherren oder die weißen Plantagenbesitzer, sodass in Kwahulés Monolog implizit auch das historische Trauma der Kolonialisierung und Sklaverei aufgerufen ist.33 Jaz erscheint in diesem Zusammenhang als eine polyvalente Figur. Sie ist das Opfer männlicher Gewalt und verkörpert zugleich den Prototypen eines geschichts- und besitzlosen Menschen, der durch die Vergewaltigung das einzige verliert, was ihm zu eigen ist: die körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung. Kwahulé gibt in Jaz dem Opfer sexualisierter Gewalt eine Stimme, indem er die traumatisierte Frau Worte für das Unsagbare fi nden lässt. Gleichzeitig verharrt sie nicht tatenlos, sondern befreit sich aus der Ohnmacht des Leidens, indem sie ihren Peiniger erschießt. In diesem Auf brechen der Täter-Opfer-Opposition zeigt sich auf einer übergeordneten gesellschaftlichen Ebene die einzige Möglichkeit eines Auf begehrens in einer politischen Ausnahmesituation, in der staatliche Infrastrukturen nicht mehr funktionieren und die Menschen auf sich selbst gestellt sind. Inwiefern die Gegenwalt legitim oder gar eine Lösung hierarchisierter Relationen ist, lässt der Text offen. Auf ästhetischer Ebene realisiert sich die Entgrenzung staatlicher Ordnungsstrukturen und Machtverhältnisse in dem Spiel von Frauenkörper und Jazz-Instrument, von Gewalt und Begehren. Der Monolog öff net mit einigen RegieAnweisungen, die ein minimalistisches, offenes Setting entwerfen und in einer poetischen Struktur arrangiert sind. Une femme. Le crâne rasé peut-être. Nue peut-être. Un revolver. Des balles. Une ardoise. Un jazz (un seul instrument) qui, de temps à autre, troue/est troué, enlace/est enlacé par la voix de la femme.34
33 Régine Jean-Charles stellt heraus, dass die Vergewaltigung als Symbol der Gewalt gegen Versklavte oder Kolonisierte in der frankophonen Literatur eine lange Tradition hat, vgl. R. Jean-Charles, Conflict bodies: the politics of rape representation in the francophone imaginary, Ohio 2014, 36. 34 Kwahulé, »Jaz«, 33 (kursiv im Orginial).
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Der Verlust der Haare referiert auf einen Akt der freiwilligen oder gezwungenen Selbst-Verstümmelung, während die potentielle Nacktheit des weiblichen Körpers die Figur in ihrer Schutzlosigkeit den Blicken des Publikums offenbart. In den ersten sechs Zeilen werden fünf Substantive aufgelistet, die das Thema der Verletzung evozieren. Der eventuell kahle, nackte Frauenkörper ist allein durch die vertikale Listung in Bezug zum phallisch konnotierten Revolver gesetzt, dessen Kugeln metonymisch auf Gewalt referieren. Die Funktion der Tafel bleibt hier noch offen und klärt sich erst bei den zweiten Regieanweisungen im letzten Drittel des Monologs (hier scheint sich die Sprecherin auf einer Polizeiwache zu befi nden und hält die Tafel vor ihrer Brust). Im zweiten Teil der Regieanweisungen verbinden sich Jazz-Instrument und weibliche Stimme syntaktisch und in wechselnden Rollen. Die Aktiv- und Passivkonstruktionen der Verben verdeutlichen die Gleichzeitigkeit von Handeln und Erleiden, von Verführung und körperlicher Inbesitznahme. Darüber hinaus fi ndet sich das Eindringen der Kugeln in einen Körper in dem Verb »trouer« aufgegriffen, ebenso wie Musik und Stimme sich leiblich umschließen. Die fehlende Verbindung zwischen den Substantiven in den ersten sechs Zeilen stellen die Verben im zweiten Teil her, die die Konturen einer Handlung zwischen Frau und Jazz-Instrument erkennen lassen, bei der unklar ist, wer schießt und wer erschossen wird. Weitaus wichtiger als der Gewaltakt ist jedoch die Bewegung des Durchbohrens und Umschlingens. »Jaz. Oui Jaz. On l’a toujours appelée Jaz. Jaz. Elle ne sait plus. Simplement Jaz. Non. Non. Non. Tout à l’heure. Ce matin. Dans une sanisette. Place Bleu-de-Chine. Ma copine. Mon amie. Je ne suis pas ici pour parler de moi mais de Jaz.
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Non. C’est Jaz qui n’a pas voulu. Mais on se voit très souvent. Plutôt chez moi. Pas vraiment. Quelques intérims. Il n’est jamais très facile de parler de cela soi-même. La honte la culpabilité je suppose. Dans une sanisette place Bleu-de-Chine.«35
Fünf Mal taucht der Name Jaz in der ersten Sequenz des Monologs auf und verleiht einer noch nicht eindeutig gegenderten Figur Gestalt. Durch die Homophonie des Substantivs von Jaz bzw. Jazz, das im Französischen ebenso wie im Deutschen generisch mit dem männlichen Artikel versehen ist, ergibt sich eine erste rhetorische Irritation, da es sich bei Jaz um eine Frau handelt, wie wir aus der dritten Zeile erfahren. Hier hat sich nicht nur das Geschlecht von männlich zu weiblich verschoben, sondern es ist auch ein Buchstabe weggefallen, der auf einen Verlust hinweist. Mit »Jaz. / Oui Jaz / On l’a toujours appelée Jaz«, stellt sich unmittelbar die Frage nach der Einzigartigkeit der Namensgebung, die eher auf einer Konvention als auf der Bezeichnung eines Individuums beruht, und nach der Position der Sprecherin, die offensichtlich nicht mit Jaz identisch ist. Dem Wegfall des »z« im Namen korrespondiert ein Akt der Entpersönlichung, der den Gebrauch der ersten Person Singular verunmöglicht. Auf das performative Auftauchen von Jaz folgt ein dreifacher negativer Ausruf »Non / Non / Non«, bei dem der Bezugsrahmen nicht klar ist. Spricht hier weiterhin die Stimme der ersten Strophe oder nun Jaz selbst? Worauf bezieht sich die Verneinung? Auf die Namensgebung oder etwas anderes? Der dritte Abschnitt führt schließlich das Sujet der Figurenrede ein: die Vergewaltigung von Jaz in der öffentlichen Toilette am Place Bleu-de-Chine, die zunächst elliptisch ausgespart wird, um dann in dem ein Objekt ersetzendes Demonstrativpronomen »cela« wieder aufzutauchen. Die erlittene Traumatisierung kommt in der verbalen Auslassung der Gewalt zum Ausdruck. Gleichzeitig legitimiert die Sprecherin ihr Auftauchen auf der Bühne damit, dass sie refrainartig wiederholt, nicht über sich selbst, sondern über Jaz zu sprechen. An der Stelle ihrer Freundin erzählt die weibliche Stimme von Jaz und spricht zugleich für Jaz, sodass der Eindruck einer dissoziativen Spaltung entsteht, wie sie die Wahrnehmung von Traumaopfern kennzeichnet. Das so genannte Call and response-Schema ist zugleich ein jazztypisches Muster und lässt nicht nur die Figur Jaz performativ Gestalt annehmen, sondern auch die ihrer Freundin und Geliebten Oridé und später sogar die des Täters, eines etwa dreiundreißigjährigen Fa35
Kwahulé, »Jaz«, 33‒34.
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milienvaters, den Jaz im Treppenhaus triff t. Auch die Geschichte vom Leben und Tod Oridés kennt die Sprecherin und gibt sie wieder. Oridé und Jaz begehren einander und fallen beide in der Umgebung des Elendsviertels durch ihre Erscheinung auf. Sie verkörpern zwei sich ergänzende weibliche Ideale: Jaz die Vorstellung menschlicher Reinheit, was sich in der Gleichsetzung ihrer Figur mit einem Lotus zeigt – »Jaz est un lotus« 36 –, Oridé als Kurzform von »orchidée« den Inbegriff vollkommener weiblicher Schönheit, »Belle à réveiller un mort«37. Oridé hat in einem der ärmsten Stadteile in einem Strip-Club gearbeitet. Ihre sakrale Aura der Nacktheit hat alle Männer davon abgehalten, sie anzufassen. Als sie an einem blinden Bettler vorbeigeht, der seine Hand ausstreckt, bietet sie ihm ihre nackte Brust dar. Der Bettler weiß diese selbstlose Gabe jedoch nicht zu würdigen und insistiert auf seiner Münze. Oridés Geste der Selbstoffenbarung als Ausdruck der Solidarisierung mit dem Ärmsten der Armen, als Teilen der wechselseitigen Verwundbarkeit bleibt wirkungslos. Was zählt, ist das Geld als kapitalistisches Tauschmittel. Nach dieser Begegnung mit dem Bettler trägt Oridé in der Öffentlichkeit eine weiße Maske, die sie nur nachts in der Wohnung von Jaz abnimmt. Eines Abends lässt sich die Maske nicht mehr entfernen und sie erstickt. Als Zeichen ihrer Trauer und des Gedenkens an ihre Freundin rasiert sich Jaz an dem Todestag ihre Haare ab. Obwohl die Form des Monologs Einstimmigkeit suggeriert, wandelt sich das Selbstgespräch in Jaz in einen Chor von Stimmen, die sich in dem poetisch-rhythmischen Klangraum bald begegnen, bald trennen und das nicht nur in den einzelnen Strophen, sondern typographisch in dem Moment, als die Sprecherin von der Ermordung des Täters durch Jaz erzählt und dabei die Perspektive ihrer Freundin einnimmt. Zuvor vergegenwärtigt sich die Vergewaltigung in den Worten des Mannes, der durch die Stimme der Sprecherin wiedergibt, wie er Jaz dazu gebracht hat, sich ihm hinzugeben. »Je t’ai dit déshabille-toi et tu t’es déshabillée.«38 In seiner Perspektive habe Jaz die Vergewaltigung zu verantworten und ähnele darin allen Frauen. Am Ende weist er die Schuld Jaz selbst zu, die sich nicht gewehrt hat. Darauf erfolgt im Text der Einschub der zweiten Folge von Regieanweisungen, die nahe legen, dass sich die zu Beginn genannte Frau auf einer Wache befi ndet, da sie nun die eingangs erwähnte Tafel vor sich hält und fotografiert wird, während sie sprechend die Pistole lädt. Auf die performative Inbesitznahme des Frauenkörpers durch die Worte des Peinigers folgt nun eine Aufspaltung der Textstruktur, die in eine Vielzahl von unterschiedlich langen Sequenzen zerfällt, die weder geschlossen syntaktische noch semantische Sinneinheiten bilden, sondern stimmliche und klangliche Resonanzeffekte produzieren.
36 37 38
Ebd., 40. Ebd. Ebd., 55.
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J’ai attendu qu’il éructe son Déshabillez-vous en agitant son couteau de cuisine. Évidemment. J’ai sorti le revolver de ma culotte c’était le seul endroit où je pouvais le cacher j’ai tiré. J’ai tiré. A l’endroit exact où est supposé battre Le cœur de toute la virilité du monde. Complètement abasourdi. Il s’est effrondré en me regardant avec des yeux ahuris. Il est mort sans comprendre L’Inquisiteur au regard de Christ.39
Rückblickend erzählt Jaz von jenem Sonntag, an dem sie den Vergewaltiger mit einer in ihrer Unterhose versteckten Pistole erschossen hat. Außerstande die erlittene Gewalt in eine zusammenhängende Erzählung zu bringen, endet der Diskurs mit dem Geständnis des Mordes »J’ai tiré« und den Worten »Fière / Fière de quoi«40. In der folgenden Sequenz wiederholt die Sprecherin das bruchstückhafte Zeugnis ihrer Freundin Jaz und berichtet von ihrem Martyrium der sonntäglichen Vergewaltigung in einer öffentlichen Toilette. Sie gibt wieder, dass Jaz weder Lust noch Schmerz in dieser Situation empfunden hat, dass sie von dem Mann gezwungen wurde, unauf hörlich zu wiederholen, dass er ein »poignard [sei] dont la pointe est aussi virulente que la queue d’un scorpion«41. Als er feststellte, dass Jaz noch eine Jungfrau war, brach er in Tränen aus und überschüttete sie mit Küssen und Zärtlichkeiten. Jaz selbst, so die Stimme, hat sich in diesem Moment von ihrem Körper gelöst und sukzessive aus sich selbst und ihrer Umgebung zurückgezogen. Erst heißt es in Bezug auf Jaz »Ni plaisir ni douleur«, kurz darauf »Ni dégoût ni rien. / Seulement absente. / Même de sa propre peur«42 . Nachdem der Vergewaltiger die öffentliche Toilette verlassen hat, bleibt Jaz auf dem WC sitzen, die Augen geschlossen und jenem inneren Ton lauschend, der nur wahrzunehmen ist, wenn alle Geräusche der Außenwelt zurückgedrängt sind und der Mensch sich vollkommen auf den Klang seiner inneren Musik konzentriert. Sie hält die Luft an und losgelöst von ihrem verletzten, traumatisierten Körper materialisiert sich ein Text-Körper, der die Silhouette einer Frau hat. 39 40 41 42
Ebd., 58. Ebd., 58. Ebd., 58. Ebd., 59.
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D’abord une note puis une autre note puis encore une autre note la même comme on frappe à la porte une myriade de notes la même se frottant les unes contre les autres pour se tenir chaud une note de toutes les couleurs même de celle qui fut abolie de l’arc-en-ciel un flot de notes la même de tous les sons notes espiègles turbulentes la même se précipitant pour arracher le secret du silence explosant souvent à peine leur envol éclos pour enfanter d’autres notes la même encore plus imprévisibles incandescentes volcaniques et enfin rythmer le Nom dont on ne saura jamais la nommer.43
An die Stelle des unsagbaren Schmerzes erklingt eine Serie von zunächst einzelnen Noten, die sich vervielfältigen, sich aneinander reiben und wärmen, um schließlich den Rhythmus des Namens hörbar werden zu lassen, der niemals zu artikulieren, zu benennen sein wird. Jener Name ist nicht der Raum eines selbstgewissen Subjekts, sondern die Offenbarung der physischen Verletzbar- und Sterblichkeit. Die innere Musik ist demnach kein essentieller Wesenskern, sondern die Erfahrung des sich stets verschiebenden Zentrums, das Jaz die Kraft gibt, weiterzuleben, die öffentliche Bedürfnisanstalt zu verlassen und sich schließlich auf der Straße wiederzufi nden. Die dritte Regieanweisung, die beschreibt, wie die Sprecherin die letzte Kammer des Revolvers mit einer Patrone füllt, markiert die letzte Sequenz des Monologs, in dem die Sprecherin nun im Futur davon berichtet, dass Jaz am kommenden 43
Ebd., 63.
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Sonntag den Mann »au regard du Christ« erschießen wird. In diesem Augenblick verschieben sich die Relationen zwischen dem Objekt der Rede und dem sprechenden Subjekt, das feststellt: »Jaz ce n’est plus moi.«44 In den letzten Worten offenbart sich Jaz als Sprecherin des Monologs, die sich performativ ihr Selbst und ihren Namen angeeignet hat. Jaz. Oui Jaz. On m’a toujours appelée Jaz. Jaz. Je ne sais plus. Simplement Jaz.45
Der Schlussakkord wiederholt den Beginn des Stücks mit dem Unterschied, dass Jaz nicht mehr in der dritten Person von sich spricht. Mit dem Erschießen des Täters befreit sich das weibliche Opfer aus der unerträglichen Situation und fi ndet zu sich. IV. Big Shoot: Gewalt-Spektakel In den Gesprächen mit Gilles Mouëllic stellt Koffi Kwahulé die enge Beziehung zwischen Jaz als Solo und Big Shoot als Duett heraus. Auch wenn der Bezug zum Jazz in Big Shoot nicht unmittelbar zu erkennen ist, ging es ihm in diesem Stück darum, die Stimme Coltranes mit der Monks in Bezug zu setzen, der stets zu den ihn begleitenden Musikern gesagt haben soll: »Non, non, jouez, moi je vous suis.«46 Diese Begleitung impliziert jedoch keineswegs ein passives Folgen und Wiedergeben einer vorgegebenen Melodie, sondern gleichzeitig ein Variieren des Gehörten, ein wiederholendes Neuarrangieren von Klängen und Melodien. Derjenige, der nicht den Ton vorgibt, erscheint auf den ersten Blick im Hintergrund, was nicht mit weniger Präsenz zu verwechseln ist, wie Kwahulé am Beispiel von Big Shoot erläutert, einem Dialog, in dem zwei Männer miteinander konfrontiert sind, die sich in einen Herr-Knecht-Verhältnis befi nden. Der Folterknecht, der sich von seinem Gegenüber wünscht mit Monsieur angeredet zu werden, unterzieht einen von ihm als Stan benannten Mann einem Verhör und bringt ihn dazu, die Ermordung und Vergewaltigung einer Frau zu gestehen, um ihn anschließend zu eliminieren. Ebenso wie in Jaz verdeutlichen in Big Shoot die Regieanweisungen durch den Gebrauch des Adverbs »peut-être«47 die Relativität des Dekors und die Konzentration Kwahulés auf das Wort, das durch die Stimme Fleisch wird, was eine VerbinEbd., 65. Ebd. 46 K. Kwahulé, G. Mouëllic, Frères de son. Koffi Kwahulé et le jazz: entretiens, Montreuil-sousBois 2007, 62. 47 K. Kwahulé, Big Shoot. P’tite Souillure, Montreuil-sous-Bois 2000, 9: »Une cage de verre. 44 45
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dung zum Christentum und insbesondere zum gematerten Leib Jesu herstellt. »Je me dis que le Christ ou Jeanne d’Arc n’ont peut-être pas existé. Mais une parole a surgi dans le monde, une parole tellement forte, tellement dense, qu’elle est devenue chair. C’est aussi le thème de Big Shoot«48 , führt er in den Gesprächen mit Mouëllic aus. Insofern ist es unerheblich, ob Big Shoot in einem Glaskäfig spielt, wie es zu Beginn in den Regieanweisungen heißt, oder vielleicht in einem Schlachthaus, was zählt, ist die Sprache, die als »quête de l’émotion suprême«49 das in sich erstarrte, indifferente Publikum bewegen soll. Die Wahl eines englischsprachigen Titels verweist zum einen auf die herausgehobene Bedeutung der amerikanischen Kultur im künstlerischen Kosmos Kwahulés und zum anderen auf die transkulturelle Ausrichtung seines Schaffens. Es geht ihm weder darum, ein spezifi sch ›afrikanisches‹ noch ein dezidiert ›französisches‹ Theater zu kreieren. Im Gegenteil, er versucht aktuelle Sujets einer globalen Welt-Literatur zu verhandeln und Antworten auf drängende Fragen zu geben wie nach dem (kollektiven) Umgang mit Gewalt, nach dem Weiterleben mit Traumata und der Zukunft einer »communauté décolonisée« im Sinne Mbembes. Auch wenn die Themen der Mehrzahl seiner Stücke einen zutiefst verstörenden Blick auf die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts werfen, insofern die Menschen weniger durch Liebe als durch Gewalt aneinander gebunden sind, bleibt ihr interner Fluchtpunkt der Glaube an einen möglichen Wandel der Welt, an ein »tout est possible« 50, das eine Zukunft ermöglicht. Rein formal betrachtet, spielt Kwahulé seit Jaz (1998) mit den gattungsspezifi schen Konventionen des Dramas, insofern sich der Nebentext auf einige wenige Regieanweisungen reduziert, die selbst weniger präskriptiven als poetischen Charakter haben. Weder Jaz noch Big Shoot sind in Akte unterteilt oder durch die Nennung der dramatis personae als szenische Rede ausgewiesen. Beide Stücke erinnern typographisch an Prosadichtung, die bald strophisch angeordnet, bald durch die Wiederholung wiederkehrender Syntagmen rhythmisiert ist. Kwahulé lenkt damit die Aufmerksamkeit des Lesers bzw. der Leserin auf den dominant literarischen Charakter seiner Theater-Texte, die bereits in einer szenischen Lektüre ihr verstörendes Potential entfalten. Big Shoot ist zu Beginn einer Tagung in Lausanne zu den Folgen von Gewalt im psychologischen Kontext laut vorgelesen worden. Trotz der anfänglichen Skepsis des Direktors der Klinik, einen literarischen Text über Folter und Vergewaltigung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung voranzustellen, konnten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Tagung im Zuhören eine Dimension von Gewalt erleben, die in der psychologischen Bearbeitung unsagbar bleibt. Es ist die ungebändigte Wort gewordene Kraft bzw. Energie, die dem französischen Begriff »violence« in seiner etymologischen Referenz auf das lateinische »vis« eigen ist, die bereits im Klang physisch erfahrbar wird. Dieser Kraft eignen Peut-être un abattoir. Sans odeur ou trace de sang. Un abattoir excessivement propre, nettoyé à l’ammoniaque, clean. Peut-être une arène. […]«. 48 Kwahulé, Mouëllic, Frères de son, 33. 49 Kwahulé, »Éloge de l’hérésie«, 46. 50 Kwahulé, Mouëllic, Frères de son, 78.
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destruktive wie kreative Dimensionen, insofern sie ebenso mit dem Begehren, den Anderen zu vernichten, wie ihn zu umschlingen verbunden ist. Schon der Titel des Dialogs evoziert eine Bandbreite an Bedeutungen, die im Kern die Relation zwischen Sexualität und Gewalt umkreisen. Das transitive Verb »to shoot« referiert im Englischen sowohl auf den Gebrauch einer Waffe, mit der auf ein Ziel geschossen wird, als auch in seiner umgangssprachlichen Wendung auf die Ejakulation. Es taucht auch in Zusammenhang mit der Wendung »to shoot a photo« oder »to shoot a fi lm« auf und assoziiert damit die photographische Momentaufnahme oder die fi lmische Vergegenwärtigung. Der Spektakelcharakter der Handlung in Big Shoot fi ndet sich insofern bereits im Titel akzentuiert. Gleichzeitig spielt Kwahulé parallel zu Jaz/Jazz mit der Möglichkeit einer Dopplung, denn durch den Wegfall eines Vokals wird aus »Big Shoot« der »Big Shot«. »Shot« als Partizip Perfekt von »to shoot« verweist auf den Akt des Schießens, bezeichnet den Schuss oder das Getroffensein von einer Kugel und in Verbindung mit dem Adjektiv »big« referiert die Wendung auf eine »person of consequence or prominence« (Merriam Webster). Im Stück selbst taucht zunächst das Substantiv »un shoot« auf, als der Monsieur davon erzählt, wie Männer, Frauen, Politiker, Katzen und Hunde kommen, um ihm ihren Hals darzubieten, damit er eine Kugel dort platzieren kann. Dieses Spektakel dient der Zerstreuung eines Publikums, das sich langweilt und den Tod als Stimulus benötigt. »Un shoot! La première fois, ça a été comme un shoot. La deuxième fois, la troisième fois… toutes les autres fois ça a été le même shoot.« 51 Am Ende des Dialogs, kurz bevor er Stan die Waffe aushändigt, mit der er Russisch Roulette spielen soll, lässt er ihn wissen, dass entgegen der Erwartung nicht er der berühmte »Big Shoot« ist, sondern Stan. »The Big Shoot! Parce que tu le sais ça, Stan, futé comme tu es, c’est toi le fameux Big Shoot ?« 52 Der außergewöhnliche Status, den der Folterer hier seinem Opfer zuschreibt, beruht auf seinem Wissen, dass Stan sich in den nächsten Sekunden vor den Augen aller erschießen wird, da er die Pistole entsprechend präpariert hat. Stan hatte nie eine Chance dem Tod zu entgehen. Russisch Roulette war ebenso eine Fiktion wie das gezwungene Geständnis Stans, die Frau am Fenster mit einem Feuerhaken ermordet und anschließend vergewaltigt zu haben. Insofern erweist sich der Titel als ambivalente Wendung, die bald den Moment des Schusses festhält, bald die unvergessliche Show. Während sich Jaz als Ineinander von Jazz-Instrument und weiblicher Stimme gestaltet, entsteht die Dynamik in Big Shoot durch die Interaktion zweier Männer, die sich physisch und verbal folgen, sich anziehen und abstoßen. Hat die Vergewaltigung in Jaz bereits stattgefunden, so resultiert die besondere Spannung in Big Shoot aus der latenten Drohung von Gewalt, die zunächst verbal explodiert und damit das Setting eines Verhörs oder einer polizeilichen Ermittlung evoziert.
51 52
Kwahulé, Big Shoot, 21. Ebd., 44.
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Shut up! Mother fucker! Salaud… salopard… Pauvre couillon… petit con… connard… Enfoiré… crétin… enflure…raclure… Fumiste… dissimulateur… pharisien… hypocrite… Saleté… fumier… ordure… pourriture… Fils de pute… bâtard… Il chante. Then the Lord said to Cain, »Where is your brother Abel?« »I don’t know«, he replied. »Am I my brother’s keeper?« 53
Das Stück beginnt in medias res in einer bereits stattfi ndenden Gesprächssituation, in der sich der Sprecher mit einem umgangssprachlichen Befehl an sein Gegenüber wendet, um ihm den Mund zu verbieten. Die Wendung »shut up« ist die Kurzform von »shut up your mouth« oder »shut your mouth up«. Ausgespart bleiben demnach sinnbildlich der Mund und damit die Rede des Anderen, die diesen Worten vorausgegangen sein muss. Die sich anschließende vulgäre Beschimpfung »mother fucker« ist eine populäre Floskel aus amerikanischen Filmen und fungiert als intermediale Referenz, die den Konstruktcharakter des Settings unterstreicht. Zugleich ist sie in Verbindung mit dem Mundverbot ein Hinweis auf die rhetorische Überlegenheit des Sprechers, der den Adressaten seiner Rede sanktioniert und degradiert. Es folgt eine Serie französischsprachiger Verunglimpfungen, die durch einen englischen Gospelgesang aus dem vierten Kapitel der Schöpfungsgeschichte unterbrochen wird. Dieser erste Redeschwall setzt sich aus asyndetischen Reihungen ähnlich klingender Substantive zusammen, die semantisch alle darauf zielen, die anwesende zweite Person zu demütigen, als »Abfall« (»ordure«, »pourriture«) zu qualifi zieren und damit zu verdinglichen. Die verbale Angriffs-Serie umkreist mit »salaud«, »salopard«, »coullion«, »fi ls de pute« und »bâtard« das Begriffsfeld der (männlichen) Minderwertigkeit, die historisch auf die außereheliche Zeugung von Nachkommen in der Schicht des Adels referiert. Eng verbunden mit der Diskriminierung aufgrund der Herkunft ist die moralische Deklassierung, die alle Äußerungen des Anderen unter den Verdacht der Täuschung stellt, was die Aneinanderreihung von »fumiste«, »dissimulateur«, »pharisien«, »hypocrite« verdeutlicht. In der zweiten Invektive nach der ersten Gesangseinlage kommt zu diesen beiden Wortfeldern »Herkunft« und »Charakter« noch die sexuelle Stereotypisierung als
53
Ebd., 9.
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Homosexueller hinzu, die bereits in »couillon« anklingt und in der anschließenden Beschimpfung als »enculé« und »trou du cul« manifest wird. Die maßlose Anhäufung von Injurien, die sich durch Alliterationen und Assonanzen zu einem Klangteppich verdichten, scheint durch eine vorausgehende Provokation des adressierten Anderen motiviert zu sein, die den Sprecher die Kontrolle verlieren lässt. Er redet sich in Rage und befi ndet sich in einem rauschartigen Erregungszustand, der sich in drei verbalen Ausbrüchen von Erniedrigungen artikuliert, die mit dem Gesang eines Gospels alternieren und mit der Androhung von physischer Gewalt enden, eingeschoben zwischen Redeverbot und Beschimpfung: »Shut up! tu veux mon poing dans la gueule? Mother fucker!« 54 Die eingelegten Gospelstrophen, die von Mal zu Mal länger werden, handeln von dem Gespräch zwischen Gott und Kain, der seinen Bruder Abel aus Eifersucht ermordet hat, die Verantwortung für seine Tat jedoch von sich weist. Das Aufrufen dieser Passage aus dem Alten Testament hat die Funktion einer mise en abyme der gespielten Szene, in der ein Ermittler offensichtlich den Beschuldigten zu einem Geständnis zwingen will. Diesem ersten Eindruck einer polizeilichen Vernehmung widerspricht der Fragende gleich in dem als Exposition fungierenden ersten Teil des Dialogs, in dem er herausstellt, dass er sich als Künstler versteht – »Seulement, voilà, je ne suis pas un petit bourreau merdeux. Je suis un artiste, moi.« 55 –, der gerade durch den Verzicht auf physische Gewalt ein Meisterwerk schöpfen will – »[…] cette fois, je veux créer un véritable chef-d’œuvre« 56. Der Ankläger ästhetisiert und sakralisiert sein Handeln als Schöpfungsakt und imaginiert sich gottgleich. Seine kreative Macht kommt auch darin zum Ausdruck, dass er seinem Opfer einen Namen gibt und damit zum Leben erweckt. Gleichzeitig konstituiert der Brudermord aus der Sicht Kwahulés das Gründungssetting des Gegenwartstheaters. In all seinen Stücken versucht er auf die Frage Jahwes »What have you done?« bzw. im Französischen »Qu’as-tu fais de ton frère?« eine Antwort zu geben, indem er den ermordeten Körper Abels auf die Bühne bringt und das Unsagbare zu bezeugen sucht.57 »›Le corps‹ est notre angoisse mise à nu« 58 , schreibt Jean-Luc Nancy in Corpus und stellt heraus, dass jeder Schreibakt bereits in der Versprachlichung des unkörperlichen Sinns eine körperliche Berührung des Anderen impliziert. Big Shoot lässt uns diese Begegnung in einer unerträglich physischen Intensität erfahren und inszeniert in dem bald aggressiven, bald erotisch-aufgeladenen Wechselspiel der beiden Männer die Unmöglichkeit einer Gemeinschaft jenseits der Gewalt, die zum Gegenstand eines Spektakels avanciert, an dem sich ein Publikum aus aller Welt ergötzt, das sensationslüstern nach einem außergewöhnlichen Ereignis und damit nach Erlösung aus der inneren Starre giert. In dem Maße, in dem die Zuschauer Ebd., 10. Ebd., 11. 56 Kwahulé, Big Shoot, 14. 57 Vgl. S. Chalaye, Afrique noire et dramaturgies contemporaines: Le syndrome Frankenstein, Paris 2004, 70. 58 J.-L. Nancy, Corpus, Paris 2006, 10. 54 55
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die Inszenierung des Todes auf der Bühne erwarten, sieht sich der Folterkünstler unter Druck gesetzt, das Setting zu variieren und zu verfeinern. Der hartnäckige Widerstand des Anderen, das vermeintliche Verbrechen zu gestehen, fordert ihn heraus und stimuliert ihn zugleich sexuell. Lässt ihn die Behauptung des Verdächtigen, dass ein Hund gebellt habe, als er die Frau am Fenster erblickte, die Fassung verlieren und zu einem Schlag ins Gesicht verleiten, so besinnt er sich im nächsten Augenblick auf eine neue Strategie, entledigt sich seiner Waffe, beginnt seine Jacke aufzuknöpfen und legt seine Uniform ab, was eine unverkennbar erotische Konnotation hat. Er verwickelt Stan in ein freundschaftliches Gespräch, bietet ihm eine Zigarette an und erzählt von seinem Leben als Serienmörder wider Willen, den seine Opfer aufsuchen mit der Bitte sie zu töten. In dem Augenblick, in dem Stan seinen Akzent im Englischen erwähnt, kippt das vertraulich-intime Miteinander der beiden Männer ins Formelle und der namenlose Uniformierte insistiert von nun an darauf, mit »Monsieur« angesprochen zu werden. »De l’accent… Stan, désormais ajoute ›Monsieur‹ quand tu me parles.« 59 Mit dieser Geste reaffi rmiert er seine Macht, die er vorübergehend suspendiert hatte, und das Vorspiel vor dem zentralen Akt des Geständnisses als Prämisse des öffentlichen Tötens ist beendet. In einem Interview hebt Koffi Kwahulé hervor, dass Stans Erwähnung des Akzents das Element in Big Shoot ist, das den Tötungsimpuls des Folterkünstlers auslöst.60 Ohne es zu wissen, hat Stan mit seiner Kritik den Knopf gedrückt, der die Entscheidung seines gewaltvollen Todes auf der Bühne bedingt. Zur offiziellen Legitimation seines Sterbens muss er in der perversen Logik des Ermittlers zunächst den Mord und die Vergewaltigung der nackten Frau im Fenster gestehen, wozu er jedoch nicht in der Lage ist. Der Folterkünstler ermuntert ihn mit der Schilderung der Situation fortzufahren, in der er die Frau erblickte, legt ihm Details wie die Perlenkette um ihren Hals in den Mund, die den Eindruck erwecken, er sei selbst zugegen gewesen, und beschleunigt die schleppende Erzählung, indem er Stan performativ in die Wohnung der Frau treibt, »OK… Stan? Tu es dans la maison… Stan!… Tu m’écoutes?« 61 Die Distanzierung des Tatverdächtigen von dem Erzählten kommt in einem Perspektivwechsel zum Ausdruck. Während er das Erblicken der Frau und den Moment des wechselseitigen Begehrens aus seiner Perspektive des Erlebens wiedergibt, geht mit dem Eingreifen des Fragenden in die Rede ein Akt der Entpersönlichung einher. An die Stelle des erlebenden Ich tritt Stan, der in der dritten Person Singular von sich spricht, als ob er selbst in der Szene nicht anwesend sei und nur das verbal ausgestaltet, was der Folterkünstler in seiner sadomasochistisch-sexuellen Obsession zu hören wünscht. Gleichzeitig mischt sich in die Rede des Befragten die Erinnerung an sein eigenes sexuelles Begehren der erblickten Frau, sodass in dem Changieren zwischen Er und Ich unklar bleibt, ob Stan nun wirklich in der Wohnung war oder nicht. Die Tat selbst bleibt in seinem Dis59 60 61
Kwahulé, Big Shoot, 28. Vgl. Kwahulé, »Éloge de l’hérésie«, 46. Kwahulé, Big Shoot, 34.
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kurs ausgespart und es ist der Folterkünstler, der das Unaussprechliche ausspricht und solcherart beide Rollen spielt, die des Opfers und die des Täters, sodass beide Stimmen eins werden und verschmelzen. »Go on Stan, go on! Nous y sommes… presque… Relax Stan, relax et lance-toi! Il y avait une barre de fer dans le feu…« 62 Auf diesem Höhepunkt sprachlicher Verführung, der den Tod Stans besiegelt, ändert sich die Tonlage und die unterschwellige sexuelle Aufl adung des Dialogs bricht sich Bahn in der vollkommenen Selbstentblößung des Folterkünstlers, der sich während der Geständnisszene komplett entkleidet hat. Er nötigt Stan nicht nur ihn anzublicken, sondern treibt ihn dazu, seine Hoden so fest zusammenzudrücken, wie es ihm möglich ist. Die Gewalt in diesem Moment erzwungener physischer Nähe ist so unerträglich, dass bei der Auff ührung von Big Shoot 2004 in New York eine Zuschauerin den Saal verlassen hat. Gleichzeitig eröff net dieser Akt sexueller Nötigung die letzte Phase des Duetts. Der Monsieur nimmt seine Waffe und richtet sie auf Stan, der, verbal unter Druck gesetzt, endlich gesteht, dass die Frau niemals existiert hat. Auf die Erwiderung des Folterkünstlers, dass er weder Stan noch eines seiner anderen Opfer jemals dazu gezwungen hat sich ihm auszuliefern, dass sie freiwillig ihrem Tod zugestimmt haben, weiß Stan nichts zu entgegnen, außer dass die Eitelkeit, Anonymität und Langeweile ihn dazu gebracht haben bei diesem Spektakel mitzumachen. Hier taucht nun das Adverb »peut-être« alternierend mit »Je ne sais pas« in der Antwort Stans auf und signalisiert, dass der Ursprung der Gewalt im Dunkel liegt, ja dass es in letzter Konsequenz keine Begründung für Gewalt gibt. Stan dit. Je ne sais pas. La vanité. peut-être l’anonymat. La vanité et l’anonymat et l’ennui peut-être Peut-être aussi parce que fi nalement la vie n’est qu’un brouillon de la mort c’est ce que Stan croit. Peut-être simplement la vanité Stan dit. Je ne sais pas. Peut-être parce que nous ne sommes que des êtres humains. Peut-être En fait je ne sais pas. Stan dit.63 62 63
Ebd., 35. Ebd., 40.
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Die wahre Macht, so der Monsieur, enthüllt sich in dem Verzicht, den Anderen zu töten, obwohl alle Umstände nahe legen, es zu tun. Die eigentliche Kunst besteht insofern darin, den Anderen freiwillig dazu zu bringen, sich vor den Augen aller zu erschießen. Auf die Frage Stans, der stets in der dritten Person Singular von sich spricht und damit seine Distanz zu seiner Rolle als Opfer markiert: »Et si Stan n’était pas The Big Shoot«, antwortet der Folter-Künstler: »Parce que tout simplement, Stan, the show must go on.« 64 Die Unausweichlichkeit des Todes ist Teil des Spektakels und zugleich einzige Möglichkeit der Begründung einer (post)modernen Gemeinschaft, die von der Gewalt als vollkommenem Kunstwerk träumt.
V. Auflösung(en) Im Anschluss an die Shoah stellte sich für Philosophen, Künstler und Schriftsteller die Frage, wie von der Massenvernichtung der europäischen Juden Zeugnis gegeben werden kann, ohne das historische Trauma in seinem unvorstellbaren Ausmaß zu relativieren. Die zahlreichen Texte der Überlebenden belegen eindrücklich die Vielfalt an narrativen, poetischen und dramatischen Formen der Bearbeitung und thematisieren immer wieder die Grenzen der Sag- und Vermittelbarkeit. Mit der systematischen Massenvernichtung der Tutsis in Ruanda 1994 ereignete sich unter den Augen der Weltöffentlichkeit ein weiterer Genozid, der für Patrice Nganang sowohl eine Zäsur in der afrikanischen Kulturproduktion impliziert, als auch als Gründungsmoment einer neuen »écriture africaine« fungiert. »On ne peut plus écrire aujourd’hui en Afrique, comme si le génocide de 1994 au Rwanda n’avait jamais eu lieu. Pas parce que la temporalité, et avec elle l’histoire, ne connaissent pas la régression. Le génocide qui eut lieu dans les Grands Lacs en 1994 n’est pas seulement la culmination sur le continent africain du temps de la violence qui, au Rwanda même, avait déjà plusieurs fois, bien avant, fait son apparition dans des tueries, des massacres, et même des génocides. Tragédie la plus violente que l’Afrique ait connu ces derniers temps, il est aussi symbole d’une idée qui désormais fait corps avec la terre africaine : l’extermination de masse perpétrée par des Africains sur des Africains.« 65
Die Auslöschung der Tutsis in Ruanda markiert in der Geschichte des afrikanischen Kontinents keine außergewöhnliche Zäsur, sondern reiht sich in die Serie von Massakern und gewaltvollen Auseinandersetzungen ein, die ebenso im Kongo, in Sierra Leone, in Darfur, an der Elfenbeinküste, in Liberia oder auch in Algerien stattgefunden haben. Er bildet den Höhepunkt einer Spirale der Gewalt, deren Ursprünge im Kolonialismus zu verorten sind, und katapultiert den aus euroEbd., 43. P. Nganang, Manifeste d’une nouvelle littérature africaine. Pour une écriture préemptive, Limoges 2017, 29 (kursiv im Original). 64 65
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päischer Perspektive stets als rückständig wahrgenommenen Kontinent in die Moderne, insofern er mit jenen Formen eines panafrikanischen Denkens bricht, die die afrikanische Andersheit positiv zu begründen suchten. Aus der Sicht Nganangs zeichnet sich der Genozid in Ruanda durch das Paradox aus, Afrika menschlich werden zu lassen. »Le génocide rend pleinement humain l’Africain, voilà le tragique paradoxe.« 66 Und auch wenn die internationale Öffentlichkeit zunächst das Ausmaß dieser Katastrophe zu minimieren suchte, stellt sich nach der Explosion autotelischer Gewalt in Ruanda die Frage nach den Konsequenzen für das (Weiter-)Leben in Afrika. 50 Jahre nach der Befreiung der afrikanischen Staaten von den europäischen Kolonialmächten drängt sich, so Alain Mabanckou, eine Verschiebung der historischen Wahrnehmung auf, insofern nicht die Unabhängigkeit als Gründungsereignis eines neu zu imaginierenden Afrikas fungiert, sondern der Genozid in Ruanda den Nullpunkt afrikanischer Geschichte und Denkens markiert. »En réalité – et c’est ce que je retiens de ce demi-siècle funeste de notre prétendue autonomie –, nous ne sommes pas les enfants des soleils des indépendances, nous sommes les enfants de l’après-génocide rwandais.« 67 Dieser Perspektivwechsel impliziert zugleich, die durch den Brudermord verursachte Zäsur als Herausforderung für die Neubegründung von Subjektivität zu verstehen, die sich jenseits rassistischer Weltvorstellungen situiert. In seinem Manifeste d’une nouvelle littérature africaine leitet sich für Patrice Nganang aus dem Genozid in Ruanda die Notwendigkeit einer »écriture préemptive« ab, die durch ihr fortwährendes Bezeugen der Auslöschung eine Wiederholung der Gewalt verunmöglicht. Eine Rückkehr zu dem Modell einer politisch engagierten Literatur, die sich als Sprachrohr gesellschaftlichen Auf begehrens versteht, lehnt er als anachronistisches Konzept der (post)kolonialen Befreiungsphase ab. Der immer wieder auftauchende Wunsch, eine afrikanische Literatur defi nieren zu wollen, erscheint angesichts der globalen Vernetzung und Zerstreuung afrikanischer Intellektueller obsolet und schürt die Vorstellung einer homogenen afrikanischen Identität, die ebenso wenig existiert wie eine europäische. »Asking the question of Wali again, ›What is African literature?‹, I would like to insist not on the adjective ›African‹,« schreibt Nganang in einem Beitrag zur aktuellen Kulturproduktion in Afrika, »since its defi nition either as ›language‹ or as ›race‹, from the Greeks to today, leads straight into an aporia, but rather on the word ›literature‹, thus on the letters of the alphabet.« 68 Essentialistische Defi nitionsversuche münden auf europäischer wie auf afrikanischer Seite in die Reproduktion stereotyper Setzungen und Aporien. Bereits Koffi Kwahulés Kritik an der Reduktion seines künstlerischen Schaffens auf seine afrikanische Herkunft enthüllte die tief verankerte Prägung französischer Kultur Ebd., 33. A. Mabanckou, Le sanglot de l’homme noir, Paris 2012, 175. 68 P. Nganang, In Praise of the Alphabet, in: Rethinking African cultural production, ed. by F. Ekotte, K. W. Harrow, Bloomington & Indianapolis 2015, 78‒93, 80. 66 67
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durch die Annahme einer nationalen und damit primär weißen Identität. In Jaz und Big Shoot arbeitet er durch die Auflösung eindeutiger Zuschreibungen und durch das permanente Ausstellen des Konstruktcharakters von Wirklichkeit an der Zersetzung einer identitären Logik der Ausgrenzung und Marginalisierung. Erinnert der Jazz in seiner Genese an das historische Trauma der Sklaverei, so aktualisiert sich die Geschichte der gewalttätigen Repression in der Stimme einer vergewaltigten Frau, die sprechend und handelnd gegen die körperliche Enteignung auf begehrt und sich als Text-Körper restituiert. Der Lotus als Symbol weiblicher Unberührtheit evoziert im europäischen Kulturraum die Farbe Weiß, die im Drama explizit in der weißen Maske auftaucht, an der Oridé erstickt. Mit der Referenz auf die »masque blanc« ist Fanons Gründungstext Peau noire, masques blancs aufgerufen, der an eine Kapitalismuskritik zurückgebunden wird. In der christlich konnotierten Bettlerszene konvertiert die Gabe der Brust Oridés als Ausdruck ihrer Nächstenliebe in ein Zerrbild kapitalistischen Warentauschs. Auch in Big Shoot ist am Ende unklar, wer der eigentliche Gewinner der Show ist: das Opfer Stan, der für den Folterkünstler in die Rolle des Mörders und Vergewaltigers geschlüpft ist und seinen eigenen Tod billigend in Kauf nimmt oder der Monsieur, der allein auf der Bühne zurückbleibt und vom Bellen eines Hundes verfolgt wird, das symptomatisch für sein Unvermögen der vollkommenen Ausrottung dieser Tiergattung steht. So gelten die letzten Worte des Stückes Stan, ohne den der Monsieur seiner Existenz beraubt ist: »Oh, Stan, Stan, Stan!« 69 Im Gegenzug lenken Jaz und Big Shoot den Blick des Publikums auf die Verwundbarkeit menschlichen Seins und auf den Umgang der Gemeinschaft mit dem Nächsten, dessen Hautfarbe wichtig, aber nicht das primäre Kriterium seines Menschseins ist. In dem Maße, in dem sich die menschliche Existenz im physischen Zusammenleben realisiert, rücken Kwahulés Dramen das Präsent-Werden des Körpers als performatives Ereignis in den Mittelpunkt. Das Theater ist nach Nancy ebendiese Verdopplung der Präsenz als Vergegenwärtigung der präsenten Körper oder als Präsentation ihres Präsentseins, »[…] le théâtre est la duplication de la présence en tant que mise en présence des présents ou que présentation de leur être-présent.«70 Dabei sind die evozierten räumlichen Settings auf unterschiedliche historische Kontexte übertragbar. Jaz kann überall dort spielen, wo rechtsfreie Räume entstehen und Frauen auf sich selbst gestellt sind, ob in einem Bus in Indien oder auf der Kölner Domplatte während der Silvesternacht. Big Shoot gemahnt ebenso an konkrete Foltersituationen wie an Reality Shows, die die Sehnsucht der postmodernen Gesellschaften nach Unterhaltung bedienen. In dem Maße, in dem die Frage der Herkunft keine Rolle spielt, fokussieren Jaz und Big Shoot gleichermaßen die von Gewalt geprägten intersubjektiven Machtverhältnisse der (Post-) Moderne. In der Schöpfung eines akustischen Resonanzraums sensibilisieren sie
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Kwahulé, Big Shoot, 46. Nancy, »Corps-théâtre«, 234.
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das Publikum für die Einschreibung der Gewalt in die Sprache, mit der Menschen einander täglich begegnen. Jenseits der Annahme einer universellen Menschlich- und Brüderlichkeit konkretisiert sich die »communauté décolonisée« in den Dramen Kwahulés in der Ko-Präsenz von Stimmen und Körpern, die sich anziehen und abstoßen, ohne die Differenzen auszulöschen. Die Kategorie Rasse, die seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts in Europa stets in Verbindung mit dem Begriff »Neger« gedacht wurde,71 hat in diesem Gegenwartstheater keine Funktion für die Handlung und wird allenfalls metonymisch aufgerufen. Die Irritationen in der Rezeption von Jaz und Big Shoot liegen eher in der Amalgamierung christlicher und post-moderner Bildwelten. In dem Ur-Setting des alttestamentarischen Brudermords reflektieren sich nach Kwahulé die aktuellen Gewaltverhältnisse und zugleich – in Analogie zur positiven Bedeutung von »violence« – die Konturen eines zukünftigen Menschseins, das sich nicht über abstrakte humanistische Ideale defi niert, sondern über das Bewusstsein der (eigenen) Sterblichkeit. Den Tod als Prämisse des Seins und den eigenen Körper als Bühne dieses Schauspiels zu denken, entmachtet jede Vorstellung eines selbstgewissen, autonomen Subjekts und intensiviert zugleich die Sensibilität für die Bedürftigkeit des anderen Menschen.
71
Vgl. Mbembe, Critique de la raison nègre, 10.
K ants Ästhetik im Kontext des kolonial gestützten K apitalismus Ein Fragment zur Entstehung der philosophischen Ästhetik als Sensibilisierungsprojekt Ruth Sonderegger
I. Zoom in. Von der Globalisierung im 18. Jahrhundert zum Fokus auf Kant Die folgenden Überlegungen sind von der Hypothese getragen, dass die allmähliche Herausbildung der neuen Disziplin der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert als Teil eines groß angelegten Sensibilisierungsversuchs seitens des wohlhabenderen Bürgertums in Westeuropa gesehen werden muss. Im Zentrum dieses Versuchs stehen die schier unüberschaubaren Debatten über den sog. Geschmack. Ebenso intensiv wie die Defi nition des Konzepts des Geschmacks wird im 18. Jahrhundert die Frage diskutiert, wer den ästhetischen Geschmack (nicht) lernen kann und ob bzw. wie die entsprechende Sensibilisierung vermittelt und angeeignet werden kann. Das ästhetische Sensibilisierungsprogramm des westeuropäischen Bürgertums fällt im 18. Jahrhundert jedoch nicht vom Himmel, und es ist auch keine geniale Erfi ndung. Ich verstehe es vielmehr als Versuch, auf die gewaltvollen Entwicklungen des kolonial gestützten Kapitalismus, der sich damals von England aus auszubreiten begonnen hatte, zu reagieren. Vor dem Hintergrund dieser Ausgangshypothese möchte ich im Folgenden zweierlei tun: Einerseits werde ich versuchen, in sehr groben Zügen die Verflechtung der neuen philosophischen Disziplin mit den Entwicklungen des kolonial gestützten Kapitalismus zu skizzieren. Dabei werde ich diesen Kapitalismus nicht so sehr und sicher nicht ausschließlich als Wirtschaftsform, sondern als eine Vergesellschaftungs- und Lebensweise (inklusive Alltagspraktiken, Überzeugungen und Affekten) im Sinne des dirty capitalism verstehen. Ich übernehme dieses Konzept von der Sozialwissenschaftlerin Sonja Buckel.1 Sie hat diesen Begriff entwickelt, um jene im Tandem mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise entstandene Form der Vergesellschaftung zu beschreiben, die auf vielfältigen, gewaltsamen Trennungen entlang hierarchisierender Achsen beruht. Als solche Achsen sind (m.E.) nicht nur Kategorien wie race, class, gender oder ability zu verstehen, sondern etwa auch die Hierarchien zwischen Menschen und Tieren, belebter und unbelebter Natur wie vielleicht überhaupt das Denken in Identitäten zulasten dessen, was keine klare Identität hat. Viele dieser Aufteilungen samt den ihnen innewohnenden HierarS. Buckel, »Dirty Capitalism«, in: D. Martin, S. Martin, J. Wissel (Hg.), Perspektiven und Konstellationen kritischer Theorie, Münster 2015, 29‒48. 1
ZÄK-Sonderheft 17 · © Felix Meiner Verlag 2018 · ISBN 978-3-7873-3544-2
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chien werden von der sich etablierenden Ästhetik gestützt oder sogar mit hervorgebracht. Der dirty capitalism ist also, so meine These, jene Lebens- und Denkform, als deren Teil die Entstehung der philosophischen Ästhetik gesehen werden muss. Auf der anderen Seite möchte ich, was die interne Logik der Ästhetik als eines Sensibilisierungsunternehmens betriff t, Elemente der Kolonialität herausarbeiten, und zwar exemplarisch am Beispiel Immanuel Kants. Die Gewalt der Kolonialität ins Zentrum zu stellen ist mir wichtig, weil sie in Bezug auf die Disziplin der Ästhetik bislang viel weniger Aufmerksamkeit bekommen hat als beispielsweise Fragen von Gender und Klasse. Den deutschsprachigen Autor Kant wähle ich als Fokus, weil in der bestehenden Forschung über den Zusammenhang der Geschichte der Ästhetik mit der Kolonialität der deutschsprachige Bereich bislang allenfalls am Rande eine Rolle spielt. Und dort wiederum, wo Kants Beitrag zu einem rassialisierenden Denken und Handeln diskutiert wird,2 spielt seine Ästhetik kaum eine Rolle, sondern in erster Linie Kants Anthropologie.3 Mir geht es dabei nicht so sehr um Kant als eine besonders wichtige, erratische oder – wie manche meinen: geniale – Einzelposition. Vielmehr sehe ich ihn als Teil eines Geflechts von akademischen und nicht-akademischen Diskursen – aber auch gesellschaftlichen Praktiken –, in dem gleichwohl manche Thesen und Positionierungen in der Verantwortung einzelner Personen standen, die Verantwortung übernommen haben – oder eben auch nicht. Das bringt mich zu einer letzten Vorbemerkung. Wenn ich im Folgenden vom Problem der Kolonialität in der Entstehung der Ästhetik spreche, verstehe ich ›Kolonialität‹ im Sinn des peruanischen Soziologen Aníbal Quijano: nämlich als eine Form der Gewalt, die sich um die Achse des Konzepts ›Rasse‹ bzw. einer hierarchischen Anordnung sog. ›Rassen‹ dreht und sich in politischen Strukturen der Arbeits- und daraus resultierenden Klassenteilung genauso ausdrückt wie in solchen des Denkens und der kulturellen Produktion; vor allem aber handelt es sich bei der Kolonialität um eine Macht, die mit der Befreiung ehemaliger Kolonien nicht verschwindet. Um genau diesen Kolonialismus nach dem Kolonialismus in Lateinamerika zu analysieren, hat Quijano den Begriff entwickelt.4 Im Umkehrschluss Vgl. R. Bernasconi, »Who Invented the Concept of Race? Kant’s Role in the Enlightenment Construction of Race«, in: R. Bernasconi (ed.), Race, Malden/MA, Oxford 2001, 9‒36; C. Mills, »Kant’s Untermenschen«, in: A. Valls (ed.), Race and Racism in Modern Philosophy, Ithaca, London 2005, 169‒193; C. Mills, »Kant and Race, Redux«, in: Graduate Faculty Philosophy Journal 35 (2014), 125‒157. In der 1. Anm. dieses Aufsatzes gibt Mills einen Überblick über die englischsprachige Literatur zu Kant und dessen Beschäftigung mit ›Rasse‹. Ein »Roundtable on Kant and Race« mit Bernasconi und Mills, der 2015 an der New Yorker New School stattfand, fi ndet sich online auf: https://www.youtube.com/watch?v=NJJ3cdIaf Bo [aufgerufen am: 2. 1. 2018] 3 Kants früher Text zur Ästhetik, seine Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), wird von jenen, die sich mit Kants ›Rassen‹-Theorie beschäftigen, eher als Beitrag zur Anthropologie gelesen. Vgl. etwa D. Bindman, Ape to Apollo. Aesthetics and the Idea of Race in the 18th Century, London 2002, insbes. das 3. Kapitel, 151‒189. 4 A. Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Wien 2016. 2
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gilt m.E. aber auch: Bei der Kolonialität der Macht handelt es sich um eine Herrschaftsform, die in Denksystemen und gesellschaftlichen Ordnungen präsent sein kann noch bevor bzw. unabhängig davon, ob die entsprechenden Gesellschaften Kolonialmächte im engeren Sinn waren, was man vom ›Deutschland‹ Kants wohl kaum behaupten kann.
II. Stichworte zur Entstehung der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert Da ich Kant als Gravitationszentrum des Sensibilisierungs- und Subjektivierungsprojekts diskutieren werde, als welches ich die philosophische Ästhetik begreife, möchte ich zunächst mit ein paar Stichworten daran erinnern, was sich mit der Herauslösung der – insbesondere deutschsprachigen – Ästhetik aus den Feldern der theoretischen und praktischen Philosophie zugunsten eines eigenständigen Bereichs verändert hat. (1) Mit der Entstehung dieses neuen philosophischen Teilbereichs ereignet sich eine Verschiebung der Ästhetik von der Wahrnehmungstheorie (des Schönen) in Richtung Kunsttheorie und die Ablösung der Rede von den Künsten zugunsten des Kollektiv-Singulars ›Kunst‹.5 Damit vollzieht sich eine folgenreiche Verabschiedung von bis dahin üblichen Verständnissen von künstlerischen Praktiken (techne, zu denen etwa auch die Rhetorik und viele Handwerke gehören), denen gemäß es verschiedene Künste mit jeweils spezifi schen Produktionsregeln, Betrachtungsweisen, Distributionsformen etc. gab, jedoch keine Kunst im Allgemeinen bzw. im Singular; dementsprechend auch keine Ästhetik im Sinn einer Theorie der Kunst. Dieser Singular ist eine – auch politisch – folgenreiche Setzung. In der Geschichtsschreibung der ästhetischen Theorie taucht sie jedoch wenig auf, sofern diese Geschichtsschreibung meistens erst danach einsetzt und damit den Kollektivsingular ›Kunst‹ als alternativlos setzt. Der von den Nazis aus Deutschland vertriebene Philosoph und Renaissance-Forscher Paul Oskar Kristeller hat dieser Problematik zwar schon am Beginn der 1950er Jahre einen viel zitierten und häufig wiederveröffentlichten Aufsatz gewidmet. Doch die Kritik Kristellers an der tradierten Geschichtsschreibung der Ästhetik, welche Kristeller richtigerweise von Anfang an als »western« und somit als nicht universell qualifi ziert, blieb insbesondere im deutschsprachigen Bereich weitestgehend unbeachtet.6 (2) In der Rede von der Kunst bzw. ihrer Theorie verbirgt sich ein kontrovers universalistischer Anspruch. Denn es sind in Europa – hauptsächlich in England, Vorbereitet wurde diese Entwicklung durch Baumgarten, sofern dieser eine Erkenntnisform, nämlich die sinnliche, verteidigte, die für die unterschiedlichsten Sinne galt. Allerdings ist die sinnliche Erkenntnis des Schönen oder der Kunst bei Baumgarten noch nicht kategorial von anderen Formen der sinnlichen Erkenntnis unterschieden. 6 P. O. Kristeller, »The Modern System of the Arts: A Study in the History of Aesthetics Part I«, in: Journal of the History of Ideas 12 (1951), 496‒527; Part II in: Journal of the History of Ideas 13 (1952), 17‒46. 5
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Frankreich und Deutschland – entwickelte ästhetische Theorien, die beanspruchen, über Kunst ganz generell urteilen zu können. Wie ich im Folgenden genauer ausführen werde, treten andere Teile der Welt in den Kunsttheorien ab dem 18. Jahrhundert gleichwohl massiv, allerdings hauptsächlich zur Abgrenzung des wahrhaft Kunsthaften vom als primitiv gebrandmarkten Handwerk in Erscheinung. (3) Bis ins 18. Jahrhundert existierten Ästhetiken, die freilich nicht ›Ästhetik‹ genannt wurden, im Sinn von Regel- und Vorbildsammlungen, die die Lern- und Lehrbarkeit einzelner Künste und Genres implizierten. Mit der Wende zum Kollektivsingular ›Kunst‹ vollzieht sich im 18. Jahrhundert insbesondere in Deutschland dagegen ein Wechsel zur Nichtkalkulierbarkeit und Nicht-Theoretisierbarkeit eines genialen Schaffens, was die Seite der Produzent_innen betriff t. (4) Auf der Seite der Rezipient_innen korrespondiert der künstlerischen Genialität das nicht weniger rätselhafte Konzept des Geschmacks (taste in der englischen Diskussion7). Im Unterschied zum angeborenen Genie bzw. Talent gilt der Geschmack als etwas, was geübt und – unendlich – perfektioniert werden muss; und dies ohne Obergrenze. An die Stelle der Betonung der Lernbarkeit der Künste treten Pädagogiken des unendlich perfektionierbaren ästhetischen Verhaltens. Damit korrespondiert in der ästhetischen Theoriebildung eine Verlagerung des Akzents von Produktions- zu Rezeptionsästhetiken. Geschmack wird das Distinktionsmerkmal des Bürgertums; zumindest dasjenige, worüber gerne geredet, ja geprahlt wird, während der dem Geschmack zugrunde liegende ökonomische Reichtum samt den dazugehörigen Freizeitprivilegien im Hintergrund bleiben soll. Theoretiker_innen wie z. B. Martha Woodmansee sehen sowohl den Kollektivsingular ›Kunst‹ als auch die Pädagogiken des richtigen ästhetischen Verhaltens, die der Durchsetzung des Kollektivsingulars dienen, als Antwort auf die gesellschaftliche Herausforderung, dass im 18. Jahrhunderts eine nicht unbeträchtliche Gruppe, die der Bürger_innen, einen bis dahin ungekannten Überschuss an Freizeit genoss. Diese Zeit galt es zu füllen.8 Die Pädagogiken zur Erlernung des unendlich perfektionierbaren Geschmacks müssen darüber hinaus im Zusammenhang der Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit verstanden werden, in der es auch – ja vielleicht vorrangig – um die Aushandlung ging, wer zivilisierter Teil dieser Öffentlichkeit sein oder zumindest werden darf und wer zum sog. Pöbel gehört. Vertrautheit mit den Künsten und Zur Frage des Geschmacks hat eine Gelehrtengesellschaft in Edinburgh 1755 sogar einen Wettbewerb ausgeschrieben, in dessen Kontext so wirkungsmächtige Texte wie Humes »Of the Standard of Taste« sowie das 25. Kapitel von Lord Kames Elements of Criticism, überschrieben mit »Standard of Taste«, gesehen werden müssten. Humes Text von 1757 sowie derjenige von Lord Kames sind online frei zugänglich unter: https://web.csulb.edu/~jvancamp/361r15.html; Kames, Elements of Criticism, Volume II, unter: http://lf-oll.s3.amazonaws.com/titles/1431/1252-02_ LFeBk.pdf [aufgerufen am: 7.2.2018]. 8 M. Woodmansee, The Author, Art, and the Market. Rereading the History of Aesthetics, New York 1994, 6 f. 7
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ihrer Beurteilung, also der Besitz von Geschmack, war dabei immer wieder ein wichtiges Kriterium der In- bzw. Exklusion.9 (5) Fünftens spiegelt sich im Übergang der Rede von den Künsten hin zum Kollektiv-Singular ›Kunst‹ auch die häufig als Ausdifferenzierung in verschiedene, mehr oder weniger autonome gesellschaftliche Sphären bezeichnete Veränderung europäischer Gesellschaften. Diese für das Funktionieren des sich industrialisierenden Kapitalismus notwendige Ausdifferenzierung, die mit neuen Formen der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung – Stichwort: männliche Produktion vs. weibliche Reproduktionsarbeit – und der Klassenaufteilung einhergeht, wird häufig mit dem Beginn der Moderne gleichgesetzt. Sie gilt als Zeichen der Fortschrittlichkeit oder, genauer gesagt, als Zeichen der Fortschrittlichkeit Nordwesteuropas.10 Gesellschaften hingegen, die nicht zwischen Kunst und z. B. Wissensproduktion oder Religion unterscheiden, gelten immer deutlicher als primitiv, vormodern. (6) Eng mit der Ausdifferenzierung in verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche verbunden ist schließlich auch der schillernde Begriff der Autonomie, der in ganz verschiedenen tagespolitischen Diskussionen und theoretischen Auseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielt. Nicht umsonst ist der Autonomiebegriff das Scharnier im sich etablierenden aufgeklärten bürgerlichen Subjektverständnis, das sich gegen die Bevormundung von Kirche, Adel und die als vorurteilsbehaftet geltende Tradition richtet. Zwar gilt für jedes der gesellschaftlichen Teilsysteme, die sich im 18. Jahrhundert gegeneinander ausdifferenzieren, dass sie (relative) Autonomie beanspruchen. Doch in jenem gesellschaftlichen Subsystem, das sich im 18. Jahrhundert als Kunstfeld zu separieren und institutionalisieren beginnt, ist die Berufung auf die Autonomie besonders massiv. Der Begriff ›moderne Kunst‹ wird geradezu zu einem Synonym der Bezeichnung ›autonomen Kunst‹. Dabei meint »Autonomie« im Kunst-Kontext zugleich die Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Sphären wie auch die Herauslösung der Kunst aus den klassischen Beauftragungsinstanzen Kirche und Adel bis hin zur Behauptung der vollkommenen Regellosigkeit, wie sie sich etwa bei Schlegel fi ndet. So heißt E. Kernbauer, Der Platz des Publikums. Modelle für Kunstöff entlichkeit im 18. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2011. Carmen Mörsch hat darauf hingewiesen, dass es in Sachen art education im 18. Jahrhundert einen beträchtlichen Unterschied zwischen England und Deutschland gibt. Während in England die Ausbildung zur Kunstproduktion in Bezug auf die untersten Schichten unter karitativen und gönnerhaften Vorzeichen eine große Rolle spielte, ging es im Deutschland des 18. Jahrhunderts vielmehr ausschließlich um die Bildung des Bürgertums. C. Mörsch, Die Bildung der Anderen mit Kunst: Ein Beitrag zu einer postkolonialen Geschichte der Kulturellen Bildung (= Kunstpädagogische Positionen 35), hg. von A. Sabisch, T. Meyer, H. Lüber, E. Sturm, Universitätsdruckerei Hamburg 2017. 10 Eine eindringliche Beschreibung der Durchsetzung neuer Arbeits- und Klassen-Aufteilungen im Zuge des entstehenden Industrie-Kapitalismus gibt Karl Marx im Kapitel »Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation«, in: K. Marx, F. Engels, Das Kapital, Erster Band, Berlin 1962, 740‒802. Zur damit einhergehenden Neuaufteilung der bestimmten Geschlechtern zugeschriebenen Arbeitsbereiche vgl. S. Federici, Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation, Wien 2012. 9
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es im 116. Athenäums-Fragment von Friedrich Schlegel über die ›Universalpoesie‹, die man als eine Universalkunst im Singular verstehen muss, denn sie umfasst nach Schlegel »alle Gattungen«: »Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.«11
III. Kant als Teil und Zäsur im Diskursgefl echt der Sensiblisierung Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass die von Kant entwickelte Autonomieästhetik Ausdruck von und Reaktion auf die drastischen gesellschaftlichen Veränderungen, massiven Spannungen sowie gewaltsamen Auseinandersetzungen ist, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts entfalten. Immerhin hat zum Zeitpunkt des Erscheinens der Kritik der Urteilskraft die Französische Revolution gerade stattgefunden und die Haitianische kündigt sich an. Die sich in Konstitution befi ndlichen Nationalstaaten Westeuropas schotten sich zunehmend voneinander ab, während die Globalisierung der Warenströme unauf haltsam intensiviert wird. Und die dem industriellen Kapitalismus geschuldete Arbeits- und damit auch Klassenteilung schreitet, ausgehend von England als der damals prosperierendsten Kolonialmacht, in Siebenmeilenstiefeln voran. Nicht umsonst wird der damalige ungezügelte Kapitalismus vor dem Wohlfahrtsstaat häufig mit dem heutigen nach dem Wohlfahrtsstaat verglichen.12 Dieser Kapitalismus wiederum verdankte sich massiv den in den Kolonien von versklavten Arbeiter_innen gewonnenen Rohstoffen und dem daran geknüpften atlantischen Dreieckshandel zwischen Europa, Westafrika und der Karibik bzw. der Ostküste der Amerikas.13 Mit diesem Handel kamen für Europäer_innen neue ästhetische Qualitäten in der Form von Rohstoffen, Lebensmitteln, Gerüchen, Geschmäckern und Menschen nach (West-)Europa und haben nicht zuletzt ästhetische Praktiken und Theorien verändert.14 Die Kaffee- und Teesalons haben als Formen der Öffentlichkeit, in denen stets auch Geschmacksdispute ausgetragen F. Schlegel, Kritische Schriften und Fragmente [1798-1801], hg. v. E. Behler, H, Eichner, Studienausgabe, Band 2, München 1988, 114 f. 12 Vgl. etwa L. Lowe, The Intimacies of Four Continents, Durham, London 2015, 196 Anm. 54. 13 Wie sehr soziale und politische Veränderungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts auf das System des transatlantischen Dreieckhandels zurück zu führen sind, hat Sidney W. Mintz exemplarisch und eindrücklich in Bezug auf die Zuckerindustrie zwischen der Karibik und in Europa – vor allem in England – rekonstruiert. (S. W. Mintz, Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History, New York 1985). Der Historiker Eric Eustace Williams (1911-1981), zugleich der erste Premierminister von Trinidad und Tobago, hat schon in einer 1944 erstveröffentlichten Studie auf den intrinsischen Zusammenhang zwischen Capitalism and Slavery, so der Titel seiner historischen Studie, aufmerksam gemacht. E. E. Williams, Capitalism and Slavery, Chapel Hill 1944. Vgl. auch P. Mortensen, Art in the Social Order. The Making oft he Modern Conception of Art, Albany 1977. 14 Joseph Addison, der als erster Theoretiker des taste gilt, erläutert den ästhetischen Ge11
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wurden, den Aufstieg des Bürgertums nicht nur stimuliert, sondern durchaus mit ermöglicht. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang auch die vielfältigen philosophischen Diskussionen über die Farbe Schwarz im 18. Jahrhundert. Sander Gilman hat die Obsession, mit welcher britische und deutsche Philosophen sich mit der ästhetischen Qualität der Wahrnehmung von Schwarz befasst haben, minutiös rekonstruiert.15 Immer mehr wurde auch über die Barbarei des europäischen Kolonialismus bekannt – also über die Umstände, die in Europa zu technischem Fortschritt und Reichtum führten, wenngleich nie für alle. Simon Gikandi, der dem Zusammenhang zwischen der Sklaverei und der Entstehung der europäischen Ästhetik als Disziplin im Allgemeinen und der englischen Kultur des guten Geschmacks (taste) im Besonderen seine eindrückliche Studie Slavery and the Culture of Taste gewidmet hat, schreibt über diesen Zusammenhang: »[…] modern slavery presented particular difficulties to European society, because it emerged in an age when legal bondage had disappeared in the cultures that were most active in the slave trade. The Atlantic slave trade thrived at a temporal juncture in which modern identity was predicated on the question of freedom and in an era when subjectivity depended on the existence of free and self-reflective subjects. As a modern institution, slavery was anachronistic simply because it seemed to be at odds with the aspirations of the age; however, it provided the economic foundation that enabled modernity. And yet, and perhaps because of this anachronism, slavery informed and haunted the culture of modernity in remarkable ways.«16 In einer von globalen Einflüssen, kolonial-kapitalistischer Gewalt, technischem Fortschritt und politischen, ja revolutionären Veränderungen geprägten Situation war das Bedürfnis nach einem Reich jenseits des Konkurrenz- und Vernichtungskampfs ebenso groß wie der Wunsch des westeuropäischen Bürgertums, eine halbwegs moralische Legitimation für die Ausgrenzung, Abwertung und in Kauf genommene Vernichtung großer Teile der Weltbevölkerung zu fi nden oder von diesen Phänomenen abzulenken. Für beide Zwecke eignete sich das neue Feld einer sich zunehmend als autonom verstehenden Kunst hervorragend;17 aber schmack an der Fähigkeit, verschiedene Teesorten unterscheiden zu können. Vgl. J. Addison, The Spectator, No. 409 ( June 19, 1712), ed. by D. F. Bond, 5 vols., Oxford 1965, III, 527. 15 S. L. Gilman, »The Figure of the Black in German Aesthetic Theory«, in: EighteenthCentury Studies 8 (1975), 373‒391. 16 S. Gikandi, Slavery and the Culture of Taste, Princeton/Oxford 2011, 32. 17 Eine ähnliche Diagnosen des Entstehens der ästhetischen Autonomie im 18. Jahrhundert fi ndet sich bei Elizabeth A. Bohls: »In a society moving irrevocably toward a capitalist market model, where private interests fuel the economy and cooperation is merely coincidental, as in Smith’s ‚invisible hand,‘ aesthetic experience thus became a potential location, as it were by default, for a sense of community, or at least for the wistfully projected fantasy of a community, as when Burke or Hume attempts to make a case for a universal standard of taste.« E. A. Bohls, »Disinterestedness and denial of the particular: Locke, Adam Smith, and the subject of aesthetics«, in: P. Mattick (ed.), Eighteenth-Century Aesthetics and the Reconstruction of Art, Cambridge et al. 1993, 16‒51, hier: 27. Zuspitzungen dieser Diagnose in Bezug auf Kant fi ndet sich z. B. bei
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erst, nachdem auch ästhetische Theorien für die nötige Sensibilisierung gesorgt hatten.18 Innerhalb des westeuropäischen Sensibilisierungsprojekts kommt Kant eine merkwürdige Schlüsselposition zu, weil seine Ästhetik zugleich als verbindendes Scharnier (insbesondere zwischen der deutschen und der englischen Diskussion) fungiert und gleichwohl eine Zäsur darstellt. Was den ästhetischen Autonomiebegriff betriff t, so hat Kant wohl am markantesten die Weichen neu gestellt – vor allem gegenüber der englischen Diskussion – und damit gerade auch die sich jenseits jedoch nicht unabhängig von der Kunst vollziehenden gesellschaftlichen Veränderungen mitgetragen.19 Kant tut das in direkter Nachfolge von Moses Mendelssohn und dessen Schüler Karl Philipp Moritz. Sie hatten die ästhetische Autonomie der Kunst nicht weniger behauptet als Kant. Doch Kants universitär abgesicherte Diskursmacht war wesentlich größer als die des immer wieder aufgrund seiner jüdischen Identität angegriffenen Mendelssohn und die von Moritz, der sich (Gebrauchstexte) schreibend seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Schon mit der einleitenden Unterscheidung zwischen verschiedenen Urteilstypen im ersten Paragrafen der Kritik der Urteilskraft (1790), die sich zunächst einmal wie terminologische Klärungen ausnehmen, ist die vielleicht entscheidende Zäsur, die Kant in der Entwicklung der Ästhetik – wie gesagt wirkmächtig, aber nicht als Erster – setzt, schon eingeführt: die absolute Eigengesetzlichkeit des Ästhetischen. Denn mit der kategorialen Abgrenzung zwischen Erkenntnis, Moral und Ästhetik samt ihren jeweiligen Urteilsformen hat Kant nicht lediglich zwischen Urteilstypen differenziert. Vielmehr hat er damit die These aufgestellt, dass es darüber hinaus keine weiteren Urteilstypen bzw. ihnen korrespondierende Wirklichkeitsbereiche gibt und dass die drei Bereiche nichts miteinander zu tun haben, sondern jeweils eigenen Logiken folgen – autonomen Logiken eben; nicht umsonst schreibt Kant genau drei sog. Kritiken. Kant spricht zwar nur von Urteilstypen und nicht von gesellschaftlichen Bereichen. Doch es dürfte offensichtlich sein, dass er mit der Mason und Mortensen sowie bei Shusterman in Bezug auf Hume und Kant. Vgl. J. H. Mason, »Thinking about genious in the eighteenth century«, in: Mattick (ed.), Eighteenth-Century Aestehtics, 210‒239; insbes. 231; P. Mortensen, Art in the Social Order. The Making oft he Modern Conception of Art, Albany 1977, insbes. Kap. 14, 151 ff.; R. Shusterman, »Of the scandal of taste: social privilge as nature in the aesthetic theories of Hume and Kant«, in: Mattick (ed.), EighteenthCentury Aestehtics, 96‒119. 18 Zudem eignete sich, wie Gikandi (Slavery and the Culture of Taste) mit Bezug auf das englische 18. Jahrhundert gezeigt hat, der immer autonomer werdende Bereich der Kunst auch prima, um kolonial verdientes Geld durch Investitionen ins entstehende Kunstfeld rein zu waschen; bisweilen karitativ verbrämt. 19 M. Mendelssohn, Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften, Berlin 2013, online auf: http://www.zeno.org/nid/20009223185 [aufgerufen am: 27.1.2018]; K. P. Moritz, »Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten. An Herrn Moses Mendelssohn« (1785), in: Ders., Die Signatur des Schönen und andere Schriften zur Begründung der Autonomieästhetik, Hamburg 2009, 7‒15.
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kategorialen Trennung zwischen drei Urteilspraktiken der als Inbegriff der Modernität geltenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Sphären zuarbeitet. Oder kritischer gesagt: dass er diese Ausdifferenzierung einfach reproduziert, theoretisch untermauert und ihr – soweit sie in Deutschland auf institutioneller Ebene noch nicht realisiert war – eifrig voraus läuft. Wie strikt Kant die Trennung zwischen dem Ästhetischen und vor allem dem Moralischen sieht, macht das Beispiel im § 2 der Kritik der Urteilskraft deutlich, das direkt auf die sich gänzlich deskriptiv ausnehmende Unterscheidung zwischen Urteilstypen im § 1 folgt. Kant beginnt hier damit, das erste von insgesamt vier charakteristischen »Momenten« zu erläutern, die er als notwendige Voraussetzungen für bzw. Implikationen des ästhetische Urteils und der Erfahrung, auf dem dieses Urteil basiert, ansieht: nämlich die Interesselosigkeit ästhetischer Urteile, die sich im von Kant so genannten »dritten Moment« – der »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« – spiegelt: »Wenn mich jemand fragt, ob ich den Palast, den ich vor mir sehe, schön fi nde: so mag ich zwar sagen: ich liebe dergleichen Dinge nicht, die bloß für das Angaffen gemacht sind, oder, wie jener irokesische S a c h e m , ihm gefalle in Paris nichts besser als die Garküchen; ich kann noch überdem auf die Eitelkeit der Großen auf gut Rou s s e a u i s ch schmälen, welche den Schweiß des Volks auf so entbehrliche Dinge verwenden; […]. Man kann mir alles dieses einräumen und gutheißen; nur davon ist jetzt nicht die Rede. Man will nur wissen, ob die bloße Vorstellung des Gegenstandes in mir mit Wohlgefallen begleitet sei, so gleichgültig ich auch immer in Ansehung der Existenz des Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag.« 20 So deskriptiv – bzw. im transzendentalphilosophischen Sinn re-konstruktiv – das klingt, Kant stellt mit der Interesselosigkeit, welche das ästhetische Urteil zum Ausdruck bringt, eine Forderung auf. Er defi niert eine neue Norm des Ästhetischen, indem er den Begriff der ästhetischen Erfahrung so (eng) anlegt, dass fast nichts von dem, was bis dahin als schön gegolten hat, mehr Platz fi ndet. Nicht nur wird das Schöne ins Subjekt verlagert und von allen bestimmbaren Eigenschaften eines Objekts abgetrennt. Das sinnliche Affiziert-Werden von einem Gegenstand, das den Begriff des Ästhetischen im Sinn des griechischen aisthesis bis dahin geradezu defi niert hat – so auch noch in Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) –, wird in der Kritik der Urteilskraft bedingungslos durchgestrichen. Wie das Zitat aus deren zweitem Paragraphen betont, geht es bei Kant in der Sache ästhetischer Schönheit nur darum, was ein Ich aus seiner Vorstellung eines Gegenstands macht, nicht um ein passives Affi ziert-Werden durch einen Gegenstand.21
I. Kant, Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Bd. X, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt/M. 1974, § 2, 116 f. 21 Das ist der Punkt, an dem Kant sich von der englischen Tradition trennt, mit der er das Interesse an der Konzeptualisierung des ästhetischen Geschmacks (taste) teilt. Im Unterschied zu Kant behaupten seine englischen Kollegen von Addison bis Hume einen engen Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem Guten. 20
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Es liegt auch auf der Hand, dass die Uninteressiertheit des ästhetischen Verhaltens im Sinn Kants außerordentlich voraussetzungsreich ist und viele de facto vom Bereich des Schönen ausschließt; der Tatsache zum Trotz, dass Kant – formal gesehen – zunächst einmal allen Wesen, die über Einbildungskraft und Verstand verfügen, fähig zu ästhetischen Erfahrungen und Urteilen erklärt, was eine geradezu unheimlich universalistische Öff nung des Bereichs des Schönen darstellt. Denn ohne ökonomische Absicherung etwa, ohne Befriedigtheit der Grundbedürfnisse und ausreichend Freizeit ist die Haltung der Interesselosigkeit zumindest nur schwer einzunehmen; auch wenn man sich immer Ausnahmen vorstellen kann. Und es fragt sich, ob die Abtrennung der ästhetischen von anderen Gesichtspunkten so einfach gelingen kann, wie Kant das von Menschen mit Geschmack behauptet, bzw. wie vieler Übung es bedarf, um sich diesen Geschmack anzueignen bzw. wem es unter welchen Umständen (leichter) gelingt, sich diese Haltung anzueignen. Dem Arbeiter, der das siebentorige Theben baut – um das Brecht Gedicht zu zitieren, das sich wie eine Antwort in Fragesätzen auf den § 2 der Kritik der Urteilskraft ausnimmt –, diesem Arbeiter wird die Abstraktion von den Produktionsbedingungen schwerer fallen als dem Auftraggeber, der davor nur allzu gerne die Augen verschließt.22 Im Licht der Tatsache, dass die von Kant postulierte Interesselosigkeit außerordentlich voraussetzungsreich ist, muss man sich schließlich auch fragen, ob dem von Kant konzipierten Ästhetischen nicht doch Zwecke zukommen; und zwar andere als jene, die es in der Systematik der Kantischen Philosophie ohnehin hat: das Schöne soll hier das Passen der Vernunft zur Empirie und das Erhabene die Moralität vernünftiger Wesen beweisen. Ich meine Zwecke wie etwa die Erholung vom ökonomischen Konkurrenzkampf und Ablenkung von unangenehmen ethischen und moralischen Frage, die sich mit der Intensivierung der Sklaverei und der kapitalistischen Ausbeutung immer mehr stellten; kurz das, was später als Eskapismus und Kompensationsfunktion der Kunst bezeichnet wurde. Ein weiterer möglicher Zweck des Ästhetischen, unbezweifelbar aber jedenfalls eine Implikation des Schönen, wie Kant es in der Kritik der Urteilskraft fasst, besteht darin, hellhäutige Menschen von dunkleren zu trennen und die dunkleren den helleren unterzuordnen; und zwar mit dem Ziel, auf genau dieser menschenverachtenden Trennung das Konzept des zivilisierten, ja kosmopolitischen, zunächst einmal nur männlichen Subjekt des Westens aufzubauen, das sich einem Prozess der Sensibilisierung verdankt, der mit den Argumenten der philosophischen Ästhetik verschiedene Wesen in unterschiedlichen Ausmaßen abgesprochen wird. Die wohl kategorischste Ausschließung aller dunkelhäutigen Menschen aus dem Bereich des Schönen fi ndet sich in einem relativ frühen Text Kants zur Ästhetik, nämlich in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.23 22
B. Brecht, »Fragen eines lesenden Arbeiters«, in: Ders., Die Gedichte, Frankfurt/M. 1986,
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In der Kant-Forschung wird meist zwar ein großer Unterschied zwischen dem sog. kriti-
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Dort heißt es unzweideutig: »Die [N*s 24] von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr Hume fodert [sic!] jedermann auf, ein einziges Beispiel anzuführen, da ein N* Talente gewiesen habe, und behauptet: daß unter Hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer andern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe, obgleich unter den Weißen sich beständig welche aus dem niedrigsten Pöbel empor schwingen und durch vorzügliche Gaben in der Welt ein Ansehen erwerben […].« 25 Abgesehen davon, dass Kant die Entwurzelung und Versklavung von »Hunderttausenden von Schwarzen« menschenverachtend als »anderwärts verführt [W]erden« bagatellisiert, sind seine Behauptungen sachlich schlicht falsch. So hat beispielsweise Simon Gikandi hat im Anschluss an David Bindman rekonstruiert 26 – und ich gebe die folgenden Beispiele, um den Diskurs-Kontext etwas dichter zu beschreiben, in dem Kant geforscht und gelehrt hat –, dass »Herr Humes« These von der Unmöglichkeit schwarzer Dichter und Denkerinnen, auf die sich Kant am Beginn der zitierten Passage stützt, auf eine Auseinandersetzung über den jamaikanischen Dichter Francis Williams zurück geht. Dies war eine Debatte darüber, ob der schwarze Dichter Francis Williams, der vom Duke of Montagu im Rahmen eines Experiments über die geistigen und ästhetischen Fähigkeiten schwarzer Menschen zum Studium nach England geschickt worden war, durch die englische Bildung ein echtes Dichtergenie geworden war oder nur Verse in Schullatein reproduzieren konnte. Der schottische Auf klärungsphilosoph David Hume (1711‒1776) schlug sich in dieser Debatte auf die Seite des wohl krassesten Vertreters der Leugner von Williams’ ästhetischen Fähigkeiten, nämlich auf die eines Vertreters der Plantagenaristokratie in Jamaica: David Long.27 Viele andere Debattenschen Kant der drei transzendentalphilosophischen Kritiken und dem vorkritischen gemacht. Gerade in Sachen rassialisierender oder sexistischer Ausschlüsse aus dem Reich des reinen ästhetischen Urteils ändert sich Kants Position durch seine gesamte Karriere hindurch aber kaum. Zwar spielt die Frage der ›Rasse‹, die Kant in seinen Vorlesung mehrmals ausgiebig behandelt, in der Kritik der Urteilskraft nur an wenigen Stellen eine Rolle. Gleichwohl wird die Fähigkeit zum reinen ästhetischen Urteil, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, weiterhin durch einen Sensibilisierungsmechanismus so künstlich wie gewaltvoll verknappt, indem sie nur jenen zugebilligt wird, die Teil der »auf den höchsten Punkt gekommene[n] Zivilisierung« sind. Zur Exemplifi zierung der niedrigsten Stufe wird Kant auf die Irokesen sowie die Bewohner_innen der Karibik verweisen. 24 ›N*‹ markiert die rassistische Begriffl ichkeit Kants an dieser Stelle. 25 I. Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schöne und Erhabene, Frankfurt/M. 1993, 70 f. 26 Vgl. S. Gikandi, Slavery and the Culture of Taste, 99-106; D. Bindman, Ape to Apollo, 34 und 151 ff. 27 In einer berühmt gewordenen Fußnote seines Aufsatzes »Of National Characters« (1742) schreibt Hume: »In Jamaica, indeed, they talk of one Negro as a man of parts and learning; but it is likely he is admired for very slender accomplishemts, like a parrot, who speaks a few words plainly:« D. Hume, Essays. Moral, Political an Literary, New York 2006, 202‒220, hier: 213.
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Teilnehmer sprachen sich allerdings für die große Qualität der Poesie von Williams aus. Man könnte auch auf die schwarze Dichterin Phillis Wheatley (1753‒1784) verweisen. Die 1753 in Gambia geborene Wheatley wurde mit sieben Jahren auf einem Sklavenschiff nach Boston gebracht und dort von einem Kaufmann namens Wheatley ersteigert, der ihr den Namen des Sklavenschiff s gab, das sie verschleppt hatte: Phillis. Obwohl versklavt, ließ er ihr den Unterricht seiner eigenen Kinder zukommen. Wheatly war in kürzester Zeit in Latein und Griechisch bewandert und begann Gedichte zu schreiben. Das musste sie auf Geheiß ihrer Besitzer, des Ehepaars Wheatley, auch in öffentlichen, exotisierenden Spektakeln tun, die die poetischen Fähigkeiten von Phillis Wheatley unter Beweis stellen sollten.28 Noch versklavt erschien von ihrer Hand das erste Buch einer afroamerikanischen Schriftstellerin und wurde in den USA sowie in London ein großer Erfolg und wichtiges Beweismaterial für die Kampagne der abolitionistischen Bewegung. Nicht zuletzt haben die zukünftigen englischen Romantiker sich von ihr vielfältig inspirieren lassen. Von Wheatleys Existenz hat Kant möglicherweise von seinen wichtigsten Freunden in Königsberg, den schottischen Unternehmern Joseph Green und Robert Motherby, gewusst, die zwischen London und Königsberg pendelten, als Wheatly ein Star der Londoner intellektuellen Szene war. Wie John S. Shields rekonstruiert hat, musste Kant diese afroamerikanische Schriftstellerin aber auf jeden Fall durch eine Schrift Blumenbachs, nämlich dessen Beyträge zur Naturgeschichte kennen gelernt haben. Denn nach dem Erscheinen der Kritik der Urteilskraft schreibt Kant an Blumenbach, wie wichtig Blumenbachs Schriften für das Verfassen der dritten Kritik gewesen sei.29 Damit kehre ich zur Kritik der Urteilskraft zurück, in welcher der Ausschluss nicht-weißer Menschen aus dem Universum der Ästhetik zwar deutlich subtiler ausfällt als in Kants Bemerkungen über das Schöne und das Erhabene, aber nicht verschwindet. Im Gegenteil: Trotz der Transzendentalisierung seiner Überlegungen bleibt Kant seinem früheren Text über das Schöne und Erhabene in Sachen Ausschluss befremdlich nahe; und auch Humes Verdikt. Der Tatsache zum Trotz, dass Kant den Hume’schen Empirismus ebenso ablehnte wie auch dessen typisch englische These vom Zusammenhang zwischen dem Ästhetischen und dem Moralischen. Was beide jedoch teilen, ist eine ästhetische Theorie der zivilisatorischen Sensibilisierung, die die Quadratur des Kreises ermöglicht: Die These von der universellen Fähigkeit zum ästhetischen Erfahren und Urteilen – Hume spricht vom universell gegebenen standard of taste, Kant vom sensus communis – wird Vgl. R. Raineri Zuck, »Poetic Economics: Phillis Wheatley and the Production of the Black Artist in the Early Atlantic World«, in: Ethnic Studies Review 33 (2010), 143‒168. 29 J. C. Shileds, Phillis Wheatley and the Romantics, Knoxville 2010, insbes. das 5. Kapitel mit dem Titel »Kant and Wheatley«, 85‒95. Blumenbach unternahm als Mediziner keineswegs unproblematische ›Rassen‹-theoretische Untersuchungen; allerdings um, im Gegenteil zu Kant, die geistigen und künstlerischen Fähigkeiten schwarzer Menschen zu beweisen und damit die abolitionistische Bewegung zur Abschaff ung der Sklaverei im Deutschland Kants zu stärken. 28
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vereinbar mit der Auffassung, dass es nur ausgewählte einzelne sind, die tatsächlich ästhetisch urteilen können. So schreibt Hume30: »and hence a true judge in the fi ner arts is observed, even during the most polished ages, to be so rare a character«. Wie fragil die gleichwohl immer wieder behauptete Universalität des Geschmacks in Kants dritter Kritik ist, zeigt bereits die schon zitierte Passage über den schönen Palast im § 2 der Kritik der Urteilskraft. Dort behauptet Kant scheinbar ganz nebenbei als Selbstverständlichkeit, dass der »Irokesische Sachen« sich nur für die Gaumenfreuden – konkret die Garküchen in Paris – interessiert und legt damit nahe, dass er zum uninteressierten ästhetischen Verhalten bzw. zu Urteilen über das Schöne nicht in der Lage ist. An einer späteren Stelle der Kritik der Urteilskraft werden Irokesen – zusammen mit den Bewohner_innen der Karibischen Inseln – grundsätzlich auf die niederste Stufe der sog. Zivilisation gestellt und nicht nur jener spezifi sche »Irokesische Sachen«, den Kant in Paris phantasiert.31 Das passiert im Rahmen von Kants Suche nach einem Prinzip, das die Allgemeinheit des ästhetischen Urteils trotz der Tatsache, dass es ein subjektives ist, sicherstellen soll. Zunächst scheint diese Allgemeinheit garantiert, sofern in der ästhetischen Erfahrung nichts anderes als das Spiel zwischen den Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand am Werk ist, über die alle denkenden Wesen verfügen. Aber, so fragt Kant: Wie kann das urteilende Subjekt dafür sorgen, dass sich in seine Lust keine materiellen Aspekte und Interessen gemischt haben, sondern nur das eine Rolle spielt, was alle denkenden Wesen teilen – nämlich Einbildungskraft und Verstand? Denn nur unter dieser Bedingung ist das Urteil ein wahrhaft allgemeines und darf allen andern mit Grund »angesonnen« werden. Kant zufolge kann diese Allgemeinheit nur durch den sensus communis sichergestellt werden; d. h. mittels der Fähigkeit, das eigene Urteil so mit Bezug auf mögliche versteckte Interessen zu testen, dass ich mich als Urteilende an die Stelle aller anderen vernünftigen Wesen versetze und die schöne Vorstellung aus deren Perspektive wahrnehme bzw. beurteile. Erst mit diesem Test des sensus communis, den Kant mit Geschmack und Zivilisiertheit gleichsetzt, ist das kosmopolitische Subjekt komplett. Nicht ohne Grund wird Hannah Arendt diese ästhetische Fähigkeit zum Kern ihrer politischen Philosophie machen.32 D. Hume, »Oft he Standard of Taste«, in: Ders., Essays, 231‒255, hier: 247. Dem »Stellenkommentar« der Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft im Deutschen Klassiker Verlag hg. von M. Frank und V. Zanetti (Frankfurt/M. 2009, 1331) zufolge bezieht sich Kant hier auf eine Schrift des Jesuitenpaters Francois-Xavier Charlevoix (1682‒1761). In einer Diskussion der beiden Stellen, an denen in der Kritik der Urteilskraft der Irokesische Sachen auftaucht, schreibt David Kazanijan: »[…] the Iroquois were represented in Dutch, French, British, and U.S. colonial discourses as a politicially savvy and militarily brutal empire. This dual interpretation of the Iroquios as a politically advanced federation but a socially barbaric or underdeveloped people persists with remarkable consistence, continuing to appear in the twentieth century […].« D. Kazanjian, The Colonizing Trick. National Culture and Imperial Citizenship in Early America, Minneapolis/London 2003, 156. 32 H. Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, hg. und mit einem Essay von R. Beiner, München, Zürich 1985, insbes. 92‒103. 30 31
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Zwar lässt Kant zunächst noch offen, ob der sensus communis angeboren ist oder gelernt werden muss, wenn er im § 22 der Kritik der Urteilskraft schreibt: »Diese unbestimmte Norm eines Gemeinsinns wird von uns wirklich vorausgesetzt: das beweiset unsere Anmaßung Geschmacksurteile zu fällen. Ob es in der Tat einen solchen Gemeinsinn, als konstitutives Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung gebe, […]; ob also Geschmack ein ursprüngliches und natürliches, oder nur die Idee von einem noch zu erwerbenden und künstlichen Vermögen sei […]: das wollen und können wir hier noch nicht untersuchen.«33 Doch später, im § 41, spricht er sich klar dafür aus, dass der sensus communis, von dem letztlich die gesamte ästhetische Urteilskraft abhängt, zwar der Anlage nach in allen vernunftbegabten Wesen angelegt sei, aber der Bildung bzw. Zivilisierung bedürfe. Und in eben diesem Bildungs- und Zivilisierungskontext tauchen auch die Irokesen wieder auf, und zwar auf der untersten Stufe der Zivilisation. Denn Kant schreibt 34: »und so werden freilich anfangs nur Reize, z. B. Farben, um sich zu bemalen (Rocou bei den Karaiben und Zinnober bei den Irokesen), oder Blumen, Muschelschalen, schönfarbige Vogelfedern, mit der Zeit aber auch schöne Formen (als an Kanots, Kleidern, u.s.w.), die gar kein Vergnügen, d. i. Wohlgefallen des Genusses bei sich führen, in der Gesellschaft wichtig und mit großem Interesse verbunden: bis endlich die auf den höchsten Punkt gekommene Zivilisierung daraus beinahe das Hauptwerk der verfeinerten Neigung macht […].« Einer solchen sog. Stadientheorie der Zivilisation oder, wie man auch sagen könnte, ästhetischen Sensibilisierungstheorie zufolge können zumindest prinzipiell alle Menschen für den sensus communis sensibilisiert werden, wenngleich sie dafür unterschiedlich viel Zeit benötigen. Doch dies ist lediglich der Auftakt zu Kants abschließender und viel krasser ausschließenden Bemerkung über den sensus communis im § 42. Dort heißt es: »[…] erstlich ist dieses unmittelbare Interesse am Schönen der Natur wirklich nicht gemein, sondern nur denen eigen, deren Denkungsart entweder zum Guten schon ausgebildet, oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich ist«.35 Damit stellt Kant nichts anderes als die Behauptung auf, dass manche Menschen prinzipiell für die Sensibilisierung in Richtung auf den sensus communis und somit für die Sensibilisierung zum ästhetischen Erfahren und Urteilen unempfänglich sind. Diese Fähigkeiten sind also alles andere als selbstverständlich oder gar universell, sondern letztlich eine Auszeichnung, die das Bürgertum samt seinen Intellektuellen im 18. Jahrhundert für sich reklamiert. Dabei geht es gleichermaßen um eine Abgrenzung nach innen gegenüber den unteren Klassen, die noch sensibilisiert werden müssen sowie gegenüber dem kolonialen Außen, das nur teilweise für die Pädagogik der Sensibilisierung in Frage kommt.
33 34 35
Kant, Kritik der Urteilskraft, § 22, 159 f. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 41, 230. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 42, 234.
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Genau an dieser Stelle setzt kurz nach dem Erscheinen der Kritik der Urteilskraft Schillers Manifest zur ästhetischen Erziehung an,36 das häufig auch als eines der Emanzipation (von der entfremdenden Arbeitsteilung) mit den Mitteln der Kunst gelesen wurde; vor allem aber als eines, das die bürgerlichen Subjekte zum politisch mündigen Umgang mit der Freiheit erziehen sollte. Schiller hat es unter totaler Beeindruckung von Kants dritter Kritik verfasst und weil seiner Meinung nach die Französische Revolution gezeigt hat, dass selbst Zentral-Europäer_innen – das Zentrum der ästhetischen Sensibilisierung – noch nicht zivilisiert genug sind, um mit politischer Freiheit umzugehen. Dabei hatte Schiller 1789 in seiner Antrittsrede als Professor für Geschichte in Jena noch behauptet: »Die Entdeckungen, welche unsere europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben […] zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herumstehen […]. Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben!«37 Die Verrohung der Menschen, welche in der Französischen Revolution manifest geworden ist, kann Schillers Ausgangsdiagnose zufolge – und im Unterschied zu Kants Theorie der Urteilskraft – vom damals neuen Kapitalismus nicht getrennt werden. Letzterer trennt Sinnlichkeit von Verstand, die bei Kant im ästhetischen Spiel noch mühelos zueinander gefunden hatten, und zwar so, dass daraus unterschiedliche Klassen entstehen. Abhilfe soll bei Schiller bekanntlich ein versöhnender, ästhetischer Spieltrieb leisten. Während die Menschen das wahre Spiel noch lernen müssen, ist es im Bereich der schönen Kunst in den Augen Schillers schon realisiert. Eben deshalb kann das Schöne zum entscheidenden Vorbild des neuen und freien Menschen werden, den Menschen also zu seiner wahren Natur emanzipieren und d. h.: sensibilisieren. Allerdings ist diese Natur Schiller zufolge ein Ideal, das Menschen in absehbarer Zeit nicht erreichen sondern nur anstreben können. Es geht im Lauf der Briefe zur ästhetischen Erziehung auch immer deutlicher nur mehr um den Sensibilisierungsprozess zur geistigen Freiheit weniger Auserwählter und nicht länger um die politische für alle. Gadamer hat diese Wendung der Schiller’schen Briefe um 180 Grad zu Recht mit den Worten kommentiert: »Bekanntlich wird aus einer Erziehung durch die Kunst eine Erziehung zur Kunst.« 38 Potenziert durch die massive Rezep36 F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Stuttgart 1979 (= Universal-Bibliothek Nr. 8994). 37 F. Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, [1789], online auf: Dt. Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/schiller_universalgeschichte_1789?p=1 [aufgerufen am 7.2.2018]. 38 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: 51986, 88. Vgl. auch M. Woodmansee, »›Art‹ as a weapon in cultural politics: rereading Schiller’s Aesthetic Letters«, in: P. J. Mattick, Eighteenth-Century Aesthetics and the Reconstruction of Art, Cambridge, New York, Melbourne, Madrid, Cape Town, Singapore, Sao Paulo 1993, 180.
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tion Schillers im Schulbereich beginnt damit die breitenwirksame Einübung des bürgerlichen Subjekts in einen Habitus des unterwürfigen Strebens und Perfektionierens, das sein ästhetisches Ziel nie erreicht.39 Und das Emanzipations- bzw. Aufstiegsversprechen der ästhetischen Sensibilisierung sorgt zugleich dafür, dass die Ausschlüsse, die dieser Subjektivierungsweise innewohnen, als Ausnahmen von der Regel im Hintergrund bleiben oder völlig unsichtbar gemacht werden.
IV. Fazit hinsichtlich der Kolonialität der Ästhetik als Sensibilisierungsprojekt Mein Fazit aus dem zugegebenermaßen viel zu lückenhaften Blick in die Geschichte lautet: Ästhetik, wie sie von Kant äußerst wirkmächtig formuliert wurde, ist in ihrem Fundament – dem sensus communis als Höhepunkt eines Sensibilisierungsprojekts – auf Superioritätsdenken, Ausschluss und Trennung angelegt: zwischen Subjekten, die Geschmack und damit das Vermögen des sensus communis bereits besitzen – aber auf stets noch perfektionierbare Art; solchen die den Geschmack prinzipiell lernen können; und solchen, für die auch Letzteres nicht in Frage kommt. Dabei geht es gleichermaßen um eine Abgrenzung nach innen gegenüber den niederen Klassen und Geschlechtern, die erst sensibilisiert werden müssen, wie gegenüber dem kolonialen Außen, das zumindest teilweise im Zustand der Nicht-Zivilisiertheit verbleiben soll. Hinzu kommt, dass auch für diejenigen Subjekte, die zum Entwickeln des sensus communis prinzipiell bef ähigt sind, ästhetische Sensibilisierungs-Erfahrungen äußerst voraussetzungsreich in Bezug auf materielle Bedingungen bleiben. Damit steigt die Gefahr, dass aus dem sensus communis, dem Vermögen, sich in die Position aller anderen zivilisierten Wesen zu versetzen, die Zementierung eines Zirkels von Eingeweihten wird und die Tendenz steigt, Kunst zur Kompensation zu nutzen – nicht zuletzt aufgrund der moralischen Fragwürdigkeit der Ausschlüsse, die die autonome Kunst im Singular fortlaufend produziert. Da diesem Kunstverständnis und den dazugehörigen Subjektivierungsprozessen sehr schnell Institutionen zuwachsen, verhärten sich die Grenzen zwischen den Geschmackbesitzer_innen und jenen, die Geschmack nur als Anlage oder nicht einmal das haben; nicht zuletzt durch Vererbung symbolischen Kapitals.40 Da, wo der Übergang dazwischen konzeptualisiert wird, wie etwa bei Schiller, gibt es eine Tendenz, die Übenden im Zustand des Übens zu halten, sodass das ästhetische Sensibilisierungsunternehmen zum nicht nur ausschließenden, sondern auch die Eingeschlossenen disziplinierenden Selbstzweck wird.
39 Vgl. I. Hunter, »Aesthetics and Cultural Studies«, in: L. Grossberg, C. Nelson, P. Treichler, Cultural Studies, New York, London 1992, 347‒372. 40 Wie dieses Vererbungssystem um 1800 (in Frankreich) entsteht, rekonstruiert Pierre Bourdieu in: Ders., Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt/M. 2001.
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Diese abgründige Grundlegung der westlichen Ästhetik sollten sich gerade jene vor Augen halten, denen an der emanzipatorischen Kraft der ästhetischen Sensibilisierung gelegen ist. Dieses Potential möchte ich mit den Hinweisen auf Widersprüche und problematische Ausschlüsse in der Kritik der Urteilskraft und in Schillers Beitrag zur neuen Disziplin der Ästhetik keineswegs ausschließen. Denn im Konzept der ästhetischen Sensibilisierung verbirgt sich ja zumindest die prinzipielle Lernbarkeit ästhetischer Fähigkeiten; eine Möglichkeit, die sich gegen alle Auffassungen von angeborenen oder auf bestimmte Gruppen beschränkten ›Talenten‹ richtet. In genau diesem Sinn gehört zur Kritik der Urteilskraft ebenso wie zu Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung und Humes »standard of taste« zumindest auch die Denkmöglichkeit einer Öff nung des Ästhetischen für alle menschlichen Wesen; auch wenn diese Öff nung im Moment des Erschließens auch schon wieder verschlossen wird – und zwar doppelt: einerseits, indem zugleich klare Ausschlüsse formuliert werden und andererseits, weil sich mit Hume, Kant und Schiller das bis heute herrschende Vorurteil installiert, Kunst sei grundsätzlich in einem emanzipatorischen Sinn sensibilisierend, auch wenn die von Kant, Schiller und verwandten Geistern konzipierte ästhetische Erfahrung allenfalls für Vertreter_innen des Bürgertums emanzipatorische Wirkung im Sinn des sozialen Aufstiegs hatte – und auch dies meist nur um den Preis ihrer Disziplinierung. Das führt zu einer, wie man mit Sara Ahmed sagen könnte, non-performativity41 der Sensibilisierung im Kunstfeld: zu einem kunstaffi nen Gutwort ohne emanzipatorische, dafür aber mit genial versteckt ausschließender Kraft. Aber wie gesagt: das heißt nicht, dass der emanzipatorische Anspruch grundsätzlich ideologisch ist. Phillis Wheatley etwa ist es zur Zeit Kants durchaus gelungen, sich dem bürgerlichen Sensibilisierungsprogramm nicht einfach anzupassen, sondern dieses für die eigene Befreiung zu nutzen. Ganz wörtlich, weil sie als gefeierte Dichterin schließlich aus der Versklavung entlassen wurde, und zudem poetisch: indem sie in Gedichten Alternativen zu ihrer von Gewalt verstellten Welt entwickelte. Und zwar solche Alternativen, die sich auch noch den exotisierenden Erwartungen und Verständnis-Horizonten ihrer eigennützigen Gönner_innen entzogen, wie insbesondere R. R. Zuck rekonstruiert hat: »Given her position as an enslaved woman, drawing on rhetorics of poetry as service was not unproblematic, but it allowed her to engage the ways in which she was marketed to and produced by eighteenthcentury readers. In the context of binaries of genius and ›barbarity,‹ imitation and originality, artist and commodity, using service as a metaphor for poetic production helped her carve out a kind of third space from which to offer her poems and speak a ›truth‹ about herself that was not already overdetermined by reader assumptions about black Africans and the creation of art.«42 41 S. Ahmed, »Declarations of Whiteness: The Non-Performativity of Anti-Racism«, in: borderlands, vol. 3, no 2, 2004, online auf: http://www.borderlands.net.au/vol3no2_2004/ahmed_declarations.htm [aufgerufen am: 7.2.2018]. 42 Vgl. R. R. Zuck, »Poetic Economics: Phillis Wheatley and the Production of the Black Artist in the Early Atlantic World«, 164 f.
STR ITTIGE TH EOR ETISI ERU NGEN ›NACH‹ NI ETZSCH E
Wie ist philosophische Sensibilität möglich? Anhaltspunkte in Nietzsches Gedicht Sils-Maria Werner Stegmaier
Burkhard Liebsch hat in seiner ebenso grundlegenden wie umfassenden Studie Menschliche Sensibilität – Inspiration und Überforderung 1 den Fokus auf moralische bzw. ethische Sensibilität auch und gerade in der Politik gelegt und die Philosophie Emmanuel Levinas’ dabei als stärkste philosophische Herausforderung betrachtet. Levinas hat seinerseits aus der jüdischen Tradition heraus in der griechischen Philosophie und ihrer Tradition starke Engführungen und einseitige Grundentscheidungen erkannt; sie blieb unsensibel gegen das ganz Andere, für das das jüdische Denken stets offen blieb.2 Dieser Beitrag soll mit Friedrich Nietzsche, der die Juden hoch schätzte, auf den Levinas sich aber nur zögernd einließ,3 zeigen, wie es zur Desensibilisierung der europäischen Philosophie kommen konnte und wie aus ihrer eigenen Entwicklung heraus ihre Resensibilierung möglich wurde. Am bündigsten hat Nietzsche die Desensibilisierung der Philosophie und durch Philosophie und die Möglichkeit ihrer Resensibilisierung im Aphorismus Nr. 372 des 1887 erschienenen V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft mit dem Titel Warum wir keine Idealisten sind zum Thema gemacht. Im Gedicht Sils-Maria, das er dem Buch anhängte, hat er dem Thema mit höchster poetischer Sensibilität Ausdruck gegeben.4
B. Liebsch, Menschliche Sensibilität – Inspiration und Überforderung. Weilerswist 2008. Vgl. W. Stegmaier, Levinas zur Einführung. Hamburg 22013; ders., »Der Umsturz der ethischen Orientierung des Menschen. Kommentar zu Emmanuel Levinas, Totalité et Infi ni, Abschnitt III 3: Antlitz und Ethik«, in: B. Liebsch (Hg.), Der Andere in der Geschichte – Sozialphilosophie im Zeichen des Krieges. Ein kooperativer Kommentar zu Emmanuel Levinas’ Totalität und Unendlichkeit, Freiburg i. Br., München 2016, 256‒276. 3 Zu Levinas’ Verhältnis zu Nietzsche vgl. W. Stegmaier, »Levinas’ Humanismus des anderen Menschen – ein Anti-Nietzscheanismus oder Nietzscheanismus?«, in: W. Stegmaier, D. Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 36). Berlin, New York 1997, 303‒323. Nietzsche nimmt auch bei Liebsch eine prominente Stelle ein. Er ist für ihn »der erste europäische Philosoph der Sensibilität« (Menschliche Sensibilität, 339), allerdings mit der für ihn beängstigenden Neigung zur Radikalisierung. 4 Andrea Christian Bertino, Karl Pestalozzi, Peter Villwock und Claus Zittel danke ich für ihre kritischen Lektüren des Beitrags. 1 2
ZÄK-Sonderheft 17 · © Felix Meiner Verlag 2018 · ISBN 978-3-7873-3544-2
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I. Desensibilisierung der Philosophie Der Aphorismus Warum wir keine Idealisten sind beginnt so:5 »Ehemals hatten die Philosophen Furcht vor den Sinnen: haben wir – diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt? Wir sind heute allesammt Sensualisten, wir Gegenwärtigen und Zukünftigen in der Philosophie, nicht der Theorie nach, aber der Praxis, der Praktik… Jene hingegen meinten, durch die Sinne aus ihrer Welt, dem kalten Reiche der ›Ideen‹, auf ein gefährliches südlicheres Eiland weggelockt zu werden: woselbst, wie sie fürchteten, ihre Philosophen-Tugenden wie Schnee in der Sonne wegschmelzen würden. ›Wachs in den Ohren‹ war damals beinahe Bedingung des Philosophirens; ein ächter Philosoph hörte das Leben nicht mehr, insofern Leben Musik ist, er leugnete die Musik des Lebens, – es ist ein alter Philosophen-Aberglaube, dass alle Musik Sirenen-Musik ist« (FW 372). In der Sprache der Sensibilität: Weil ihnen alles Sinnliche und damit alles Konkrete, Wahrnehmbare allzu verführerisch schien, mussten sich Philosophen desensibilisieren, um für die Ideen, durch die sie die Welt denkbar machen wollten, frei werden und so erst Philosophen sein zu können. Dabei verloren sie jedoch den Anschluss an das Leben, all das, was es verlauten und erleben, was hinhorchen und hinsehen lässt, was in Bewegung und zum Tanzen bringt, seine »Musik«. Je mehr sie ihre abgehobenen Ideen zu bindenden moralischen Verpfl ichtungen erklärten, wurden sie lebensfremd und lebensfeindlich. Nietzsche zeigt das hier krass und bewusst unsensibel, also eben im Stil der beschriebenen philosophischen Tradition, am Beispiel Spinozas, der an Schwindsucht litt. Seine mathematische Methode, der mos geometricus seiner Ethik, habe ihm »jeden Tropfen Blut« entzogen: »Diese alten Philosophen waren herzlos: Philosophiren war immer eine Art Vampyrismus. Fühlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spinoza’s, etwas tief Änigmatisches und Unheimliches? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das beständige Blässer-werden –, die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung? Ahnt ihr nicht im Hintergrunde irgend eine lange verborgene Blutaussaugerin, welche mit den Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und Geklapper übrig behält, übrig lässt?« (Ebd.) Spinozas »Sinne« seien ausgezehrt gewesen, »ja, wenn man uns glauben will, auch sein ›Herz‹«; von der »Musik des Lebens« sei in der Ethik nichts übrig geblieben als »Kategorien, Formeln, Worte«. Anders bei Platon selbst, dem Begründer des »philosophischen Idealismus«. Für ihn könnte der Idealismus, vermutet Nietzsche, noch »die Vorsicht einer überreichen und gefährlichen Gesundheit, die Furcht vor übermächtigen Sinnen« gewesen sein, »die Klugheit eines klugen Sokratikers« (ebd.): Er hatte noch seinen Lehrer Sokrates als unermüdlichen Jäger nach den schönsten und begabtesten Jünglingen 5 Zur Interpretation des Aphorismus in seinen Kontexten vgl. W. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der »Fröhlichen Wissenschaft«, Berlin, Boston 2012, 515‒538.
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vor sich und schilderte ihn in seinen Dialogen, insbesondere dem Symposion, dem Phaidros und dem Charmides, auch so. Platon sagte, fügt Nietzsche später, in den Streifzügen seiner Götzen-Dämmerung, hinzu, »mit einer Unschuld, zu der man Grieche sein muss und nicht ›Christ‹, dass es gar keine platonische Philosophie geben würde, wenn es nicht so schöne Jünglinge in Athen gäbe: deren Anblick sei es erst, was die Seele des Philosophen in einen erotischen Taumel versetze und ihr keine Ruhe lasse, bis sie den Samen aller hohen Dinge in ein so schönes Erdreich hinabgesenkt habe. […] Nichts ist weniger griechisch als die Begriff s-Spinneweberei eines Einsiedlers, amor intellectualis dei nach Art des Spinoza. Philosophie nach Art des Plato wäre eher als ein erotischer Wettbewerb zu definiren, als eine Fortbildung und Verinnerlichung der alten agonalen Gymnastik und deren Voraussetzungen…« (GD, Streifzüge 23). Bei aller eristischen Dialektik, aller Streitkunst in Begriffen und Argumenten, sei Philosophie einmal »philosophische Erotik« gewesen, und der platonische Sokrates habe mit seiner faszinierenden Dialektik eine »neue Kunstform des griechischen Agon«, des »erotischen Wettbewerbs« erfunden (ebd.). Wenn »wir Gegenwärtigen und Zukünftigen in der Philosophie« aber »allesammt Sensualisten« seien, den sinnlichen Zeugnissen nun mehr aufgeschlossen als den Theorien, die wir jetzt stets an jenen überprüfen (der spätere Falsifi kationismus), wenn wir also auch »der Theorie nach« mehr und mehr Sensualisten geworden sind, so vielleicht nur deshalb, fragt Nietzsche am Ende des Aphorismus, weil unsere Sinne durch die jahrtausendelange Tradition des Idealismus so desensibilisiert wurden, dass wir sie, jedenfalls als Philosophen (an Philosophinnen dachte er noch kaum), nicht mehr fürchten müssen? »Vielleicht sind wir Modernen nur nicht gesund genug, um Plato’s Idealismus nöthig zu haben? Und wir fürchten die Sinne nicht, weil — —« (FW 372) Weil – mit den Gedankenstrichen kehrt der Aphorismus an den Anfang zurück – wir »diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt« haben? Man mag diese Genealogie der Desensibilisierung der Philosophie, die Maßstäbe für die europäische Kultur im Ganzen setzte, akzeptieren oder nicht.6 Unbestreitbar ist, dass die europäische Philosophie in ihrer metaphysischen Ausprägung auf höchste begriffl iche Allgemeinheit drängte und drängt und dadurch in äußerste Distanz zum Erleben des Einzelnen gerät. Sensibilität aber ist vor allem Sinn der Einzelnen für das Einzelne und die Einzelnen. Will die Philosophie sensibel sein oder werden, muss sie sich von Grund auf neu justieren. So unentbehrlich der Gebrauch allgemeiner Begriffe in der Kommunikation der Gesellschaft auf allen Ebenen ist, so sehr desensibilisieren Verallgemeinerungen unvermeidlich den Umgang mit der Welt. Wir orientieren uns in stets wechselnden Situation immer neu und müssen darum sensibel sein und bleiben für jeden relevanten Anhaltspunkt, den die wechselnden Situationen bieten; Orientierung, die Leistung, in wechseln6 Philosophiegeschichtlich wird man die Genealogie erheblich differenzieren müssen, vor allem im Blick auf die italienische, die englische und vor allem die französische Tradition, deren Sensibilität auch Nietzsche durchaus sah, anerkannte und, jedenfalls die französische, pries.
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den Situationen anhand wechselnder Anhaltspunkte jeweils erfolgversprechende Handlungsmöglichkeiten auszumachen, setzt diese Sensibilität voraus.7 Sie ist die Sensibilität für eine unüberschaubare Komplexität in den Wechselbeziehungen des Einzelnen, die durch den Gebrauch allgemeiner Begriffe bis hin zu Ideen jeweils so weit reduziert wird und werden muss, dass sie überschaubar und handhabbar wird. Indem man etwas durch Begriffe feststellt, nimmt man es aus dem unablässigen Anderswerden der Situation heraus und hält es als Bleibendes fest, zumindest für die Dauer der jeweiligen Kommunikation. Vor allem im Recht, in den Wissenschaften und in der Philosophie versucht man es defi nitiv zu identifi zieren und so seiner Deutbarkeit von weiteren Anhaltspunkten der wechselnden Situationen her zu entziehen, die nun ihrerseits nur noch ins Spiel kommen dürfen, wenn sie sich ihrerseits defi nitiv identifi zieren lassen. Soweit Begriffe als dauerhafte Identifi kationen von scheinbar Feststehendem gebraucht werden, lassen sie Nachfragen nach weiteren Kontexten des Identifi zierten in wechselnden Situationen abperlen, immunisieren sie gegen sie. Ist etwas begriffen, braucht es keine Sensibilität für seine Situativität mehr. Die Desensibilisierung des Erlebens der Welt – oder mit Nietzsche: das Verstummen der Musik des Lebens durch seine begriffl iche Fassung – geht schrittweise, in Graden der Generalisierung vor sich. • In der individuellen Generalisierung kommt Jede und Jeder zu seinen eigenen Verallgemeinerungen und bildet seine eigenen Begriffe für sie zum eigenen Gebrauch in der eigenen Lebenswelt. Es spielen sich Routinen im Verhalten und im Begreifen ein, und wo sich Routinen einspielen, wird von wechselnden Anhaltspunkten in wechselnden Situationen abgesehen. Die Routinen bleiben in der Regel dennoch wandlungsfähig, können mit der Zeit gehen, sich unter neuen Umständen neu einspielen. • Individuelle Generalisierungen im Verhalten und Begreifen können von anderen übernommen und so interindividuell werden. Je weiter sich Begriffe im Sprachgebrauch verbreiten, desto stärker werden sie entindividualisiert oder depersonalisiert. Dabei bleiben mehr oder weniger große Spielräume in ihrem Gebrauch; nur so können sie auch von anderen in den anderen Situationen verwendet werden. Der späte Wittgenstein hat treffend von »Sprachspielen« gesprochen, deren Regeln zumeist nicht formuliert sind und, wie auch die formulierten Regelns des Schachspiels, Raum für jeweils unterschiedliche Züge lassen, die das Spiel erst interessant machen. Zum regelmäßigen Gebrauch »richten« miteinander Kommunizierende, nach Wittgensteins Begriff, einander »ab«; der individuelle Sprachgebrauch wird im interindividuellen marginalisiert, die Individuen für ihn desensibilisiert. Die »Gewalt« eines »durchschnittlich« gewordenen Sprachgebrauchs schließt, so Nietzsche in seinem Aphorismus Was ist zuletzt die Gemeinheit? aus Jenseits von Gut und Böse (Nr. 268), die »Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen«, kurz: die Sensibleren, aus, macht aus Einzelnen Vereinzelte und lässt sie nur 7
Vgl. W. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin, New York 2008.
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noch in besonderen Situationen zur Geltung kommen. Sensibilität für besondere Situationen wird zu etwas Besonderem. • Im interindividuellen Gebrauch der Begriffe wandeln sich die Begriffe weit träger. Durch die generelle Definition von Begriffen entschleunigt sich der Wandel weiter. Im Recht und in den Wissenschaften geht es gerade darum, ihren ›lebendigen‹ Bedeutungswandel aufzuhalten, und so stört die Sensibilität für den individuellen und situativen Gebrauch der Begriffe eher als sie nutzt. Aber auch Defi nitionen müssen, wenn im Recht und in den Wissenschaften signifi kant neue Situationen entstehen, verändert werden. Auch hier muss man für solche Situationen sensibel bleiben. • Die logische Hierarchisierung und die Systematisierung defi nierter Begriffe schränkt diese Sensibilität erneut ein. Sie hat ihren guten Sinn darin, Übersicht über die jeweils gebrauchten Begriffe selbst zu schaffen, in Gestalt immer ›höherer‹ und schließlich ›höchster‹ Begriffe, für die sich dann die Philosophie zuständig sieht. Ein logisch hierarchisiertes und systematisiertes Begriff sgebäude war für Spinoza und für die deutschen Idealisten das Ideal der Philosophie. Alles Individuelle sollte im Sinne Hegels darin aufgehoben sein. Doch solche Begriffsgebäude sind zumeist nicht mehr unmittelbar verständlich, sondern müssen eigens studiert werden und den Studierenden soll dabei, nach dem berühmten Wort Hegels, »Hören und Sehen« vergehen.8 Um nicht vom Begreifen des Begreifens abgelenkt zu werden, sollen sie, mit Nietzsches Begriff, für die »Musik des Lebens« gezielt desensibilisiert werden. • Das wird gefördert durch die Autoreferentialisierung, den Selbstbezug des Begreifens, den René Descartes zum Anfang und Markenzeichen der Philosophie der Moderne machte, als er von der fraglich gewordenen Referenz der Begriffe auf vorgegebene Gegenstände, dem ordre des choses, abging und auf Methoden setzte, die sich die Vernunft selbst geben sollte, um ihre eigene Ordnung, den orde des raisons, zu schaffen – der Anfang des modernen Konstruktivismus. Begriff ssysteme werden auf diese Weise autonom, ›selbstgesetzgebend‹ und damit – der Idee nach – situationsunabängig. • In der Autoreferentialisierung leitender Begriffe oder Unterscheidungen hat schließlich der philosophische Soziologe Niklas Luhmann die Chance der Autoimmunisierung der aus ihnen konstruierten Theorie erkannt – mit einem besonderen Dreh: Wird die leitende Unterscheidung eines Systems mit ihrem negativen Wert auf sich selbst bezogen, wie im berühmten Satz ›ich lüge jetzt‹, der zugleich wahr und gelogen ist, wird sie paradox. Lässt eine Theorie das Paradox ihrer eigenen Negation zu, wird sie immun gegen externe Kritik und zu einer unwiderlegbaren ›Supertheorie‹. Die stärksten Beispiele dafür sind eben die Theorien Hegels und Luhmanns. Sie machten aus der Selbstparadoxierung der Theorie jedoch Unter8 Vgl. G. W. F. Hegel, »Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin. Einleitung zur Enzyklopädie-Vorlesung, 22. Okt. 1818«, in: Werke, Bd. 10, hg. v. E. Moldenhauer, K. M. Michel, Frankfurt/M. 1970, 415: »In der Philosophie verläßt man allerdings den Boden des Anschauens, ihre Welt ist im Gedanken; es muß einem Hören und Sehen vergangen sein.«
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schiedliches: Luhmann nutzte sie zur Resensibilisierung der Theorie. Sie lässt sich auch zur Resensibilisierung der Philosophie nutzen.
II. Resensibilisierung der Philosophie Luhmann, dessen soziologische Systemtheorie man auch als Spitze der Philosophie der Moderne lesen kann, schließt philosophisch, auch wenn er das nicht wahrhaben wollte, in vielem an Nietzsche an.9 Er hat wie Nietzsche gegenüber Hegel entschieden von Identität auf Differenz oder von Einheit auf Vielheit umgestellt. Er ging dabei, im Anschluss an den originellen Mathematiker George Spencer Brown, von der begriff sbildenden Unterscheidung als solcher aus. Eine Unterscheidung ist als solche zugleich eine Einheit und eine Vielheit oder eine Identität und eine Differenz: eine Einheit oder Identität als Einheit der Unterscheidung (wie rechts/links, wahr/falsch, sensibel/unsensibel), eine Vielheit oder Differenz als Verschiedenheit der beiden durch sie unterschiedenen Seiten (rechts oder links, wahr oder falsch, sensibel oder unsensibel). Dies ist wieder eine Unterscheidung, hier der Unterscheidung selbst, also eine selbstbezügliche oder autoreferentielle Unterscheidung, und als Einheit von einander ausschließenden Gegensätzen (rechts – links, wahr – falsch, sensibel – unsensibel) ist sie auch paradox. Man kann aber offensichtlich mit beiden Argumenten (rechts und links, wahr und falsch, sensibel und unsensibel) operieren, nur nicht – das verbietet der Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs – nicht zugleich, in einem Satz (›gehen Sie rechts-links‹). Nacheinander kann man es wohl (›gehen Sie erst rechts, dann links‹). Durch die Zeit wird die Paradoxie entparadoxiert und damit handhabbar, sie hält Alternativen, Vielheit, Differenz offen. Und das macht wiederum schon das Unterscheiden selbst deutlich: Gebraucht man eine Unterscheidung, um etwas durch sie zu bestimmen (im Beispiel rechts/links den Weg, den der Fremde am besten gehen wird), wählt man die eine Seite der Unterscheidung (rechts) und lässt die andere (links) beiseite; die Unterscheidung stellt die andere Seite jedoch weiterhin zur Verfügung; man kann stets auf sie zurückkommen und kommt auf sie auch zurück, wenn man sich seiner Bestimmung unsicher wird (›oder doch besser zuerst links, dann rechts‹). Für welche Seite der Unterscheidung man sich jeweils entscheidet, hängt in der Regel von weiteren, zuvor oder danach herangezogenen Unterscheidungen ab. Da sie jedoch auf die gleiche Weise funktionieren, hängt am Ende alles von der Situation ab, in der Unterscheidungen gebraucht werden: Das Unterscheiden muss zuletzt situationssensibel, kurz: sensibel sein. Es verlangt ultimative Sensibilität. Das gilt auch dort, wo Begriffe hierarchisiert und systematisiert werden. Es ist bisher keiner Philosophin, keinem Philosophen gelungen, die Begriffe ihres Systems, soweit sie ein solches anstrebten, auseinander streng zu deduzieren, selbst 9
2016.
Vgl. W. Stegmaier, Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche, Berlin, New York
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Hegel nicht, wie Dieter Henrich und Hans Friedrich Fulda gezeigt haben.10 Stattdessen ergaben sich auch in dem ›notwendigen Gang‹, den Hegel für seine Unterscheidungen im Auf bau seines Systems reklamierte, von Fall zu Fall deutliche Entscheidungsspielräume, und Hegel nutzte sie lediglich so, dass seine Entscheidungen für bestimmte Unterscheidungen und in ihnen wieder für eine bestimmte Seite der Unterscheidung am Ende auf Identität, nicht auf Differenz, also zur Einheit des Systems und damit zu einer integralen gedanklichen Fassung des Weltgeschehens, hinausführten. Das forderte durchaus hohe Sensibilität, aber mehr für die ›Entwicklung‹ der Begriff slage selbst als für das dadurch Begriffene. Theodor W. Ador no hat mit seiner Negativen Dialektik gezeigt, dass man die hegelsche Dialektik mit erhöhter Sensibilität für die Unterscheidung von Identität und Differenz selbst statt auf Identität auch auf Differenz hinausführen und dadurch das Weltgeschehen (und in ihm die gesellschaftlichen Verhältnisse) von Grund auf anders erschließen kann. Luhmann, der gerne als Antipode der Frankfurter Kritischen Theorie gehandelt wird, aber auch einmal den Lehrstuhl Adornos vertrat, ließ, anders als er, die Dialektik hegelscher (und marxscher) Prägung vollends zurück und entfaltete die skizzierte Unterscheidungstheorie im Anschluss an den amerikanischen Soziologen Talcott Parsons als Systemtheorie. Er ging dabei nicht mehr von einem System aus oder zielte auf es ab, sondern von einer unübersehbaren Vielfalt jeweils anderer Systeme und fasste sie, philosophisch wiederum sehr grundsätzlich, als Systeme der Beobachtung. Beobachtungen werden dadurch zu Beobachtungssystemen, dass sie, um etwas zu beobachten, sich selbst von dem unterscheiden müssen, was sie beobachten – dass sie also ebenfalls selbstbezüglich, autoreferentiell werden. Die Selbstbezüglichkeit der Beobachtung ist Bedingung der Fremdbezüglichkeit der Beobachtung, ihrer Referenz auf anderes; der Fremdbezug aber ist der Anlass dieses Selbstbezugs. Beide schaffen Differenz und sie bleiben in Differenz, der Differenz von System und Umwelt. Mit ihr hat Luhmann das soziologische und philosophische Denken aus dem klassischen Systemdenken herausgeholt und für die Beobachtung dessen geöff net, was inzwischen auch im alltäglichen und politischen Sprachgebrauch ›Umwelt‹ heißt, tatsächlich aber nicht eine für alle Beobachtungssysteme gleiche, einheitliche Umwelt, sondern für jedes wiederum eine andere, differente ist. Jedes Beobachtungssystem unterscheidet durch die Wahl und den Gebrauch seiner Unterscheidungen auch seine Umwelt und das, was in ihr vorläufig ununterschieden bleibt und das Beobachtungssystem dann zu weiteren UnterD. Henrich, »Hegels Logik der Reflexion« [1965/71], in: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt/M. 1971, 95‒156; H. F. Fulda, »Unzulängliche Bemerkungen zur Dialektik« [1973], in: R.-P. Horstmann (Hg.), Seminar – Dialektik in der Philosophie Hegels, Frankfurt/M. 1978, 33‒69; D. Henrich, »Formen der Negation in Hegels Logik« [1974], in: ebd., 213‒229; H. F. Fulda, »Hegels Dialektik als Begriff sbewegung und Darstellungsweise«, in: ebd., 124‒174; ders., »Zum Theorietypus der Hegelschen Rechtsphilosophie«, in: D. Henrich, R.-P. Horstmann (Hg.), Metaphysik nach Kant? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1987, Stuttgart 1988, 44‒82. S. dazu W. Stegmaier, »Die Substanz muss Fluktuanz werden – Nietzsches Auf hebung der Hegelschen Dialektik«, in: Berliner Debatte Initial 12.4 (2001), Themenheft »Unauf hörliche Dialektik«, 3‒12. 10
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scheidungen herausfordern kann. Das heißt: Jedes Beobachtungssystem ist auf seine Weise umweltsensibel, jedes Beobachtungssystem lässt sich auf seine Weise von seiner Umwelt irritieren, reagiert auf seine Weise auf Anhaltspunkte in der Situation, die zur jeweiligen Zeit für es relevant sind. Sensibilität ist danach die jeweils spezifische Fähigkeit eines Beobachtungssystems, auf Irritationen seiner Umwelt zu reagieren.11 Es kann reagieren oder auch nicht, es bleibt jeweils seine autonome Entscheidung, wieweit es seine Umwelt beachtet oder sich von ihr abschottet. Damit ist eine hochdifferenzierte aktuelle Konzeption der Sensibilität erreicht, die zugleich auf eine ganz reale aktuelle Gefahr für die Menschheit antworten kann: die sich immer stärker abzeichnende ökologische Krise.12 Die Umstellung von Identität auf Differenz oder von Einheit auf Vielheit wurde im 20. Jahrhundert von vielen weiteren philosophischen Ansätzen, wenn auch sicher nicht von allen, geteilt. Die Ansätze, die sie mitvollzogen, sind gerne als ›postmodern‹ bezeichnet worden, allen voran die französischen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Jean-François Lyotard, der den Begriff bekannt machte, über Gilles Deleuze, Michel Foucault, Emmanuel Levinas und Jacques Derrida, um nur die berühmtesten Namen zu nennen. Sie alle haben auf jeweils eigene Weise der Philosophie eine starke neue Sensibilität für sich rasch wandelnde Welt- und Begriff slagen zurückgewonnen. Auch Ludwig Wittgenstein, der nach seinem ersten hierarchisch-systematischen Entwurf, dem Tractatus logico-philosophicus, unermüdlich an dessen Enttheoretisierung arbeitete und damit für die Desensibilisierung durch Theorie überhaupt sensibilisierte, wird man hier einbeziehen können. Wieweit darum das ›post‹ berechtigt ist oder nicht, mag offen bleiben. Nicht nur oder nicht erst im Blick auf die ökologische Krise ist nun klar, dass die letztlich unbegreifl iche Komplexität des Weltgeschehens mit der bisherigen auf Einheit ausgerichteten Art der Generalisierung, Theoretisierung und Systematisierung in den Wissenschaften und der Philosophie nicht mehr einzuholen ist. Man ging nun statt von überschaubaren Hierarchisierungen von unüberschaubaren Vernetzungen aus, die immer nur begrenzt und darum von möglichst vielfältigen Gesichtspunkten aus zu erschließen sind. Welche von ihnen zur Beobachtung des Weltgeschehens in Anschlag zu bringen sind, kann nicht mehr von einem scheinbar festen Fundament oder einem absoluten Gesichtspunkt aus vorgegeben, sondern muss sensibel ausgetastet und ausgetestet werden. Und damit begann sichtlich Nietzsche. Wohl hat die Philosophie, wie ihre Geschichte zeigt, im Lauf der Zeit immer wieder Luhmann betont ausdrücklich das Interesse der Systemtheorie an »Umweltsensibilität«, einschließlich »reflektierter sozialer Sensibilität«, im Ganzen an »Sensibilisierung […] fü r Zufälle, fü r Störungen, fü r ›noise‹ aller Art«. Mit der »Steigerung der Sensibilität fü r Bestimmtes (intern Anschlußf ähiges)« geht aber auch die »Steigerung der Insensibilität fü r alles übrige« einher. Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, 27, 133, 237, 250. 12 In einer Schrift unter dem Titel Ökologische Kommunikation – Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? (zuerst Opladen 1986) hat Luhmann selbst seine Systemtheorie im Ganzen als dezidiert umweltsensible Theorie vorgestellt. 11
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neue Entscheidungen über Begriffe und Unterscheidungen, Leitbegriffe und Leitunterscheidungen getroffen und Hegel konnte darum in der Vorrede zu seiner Philosophie des Rechts sagen, die Philosophie sei »ihre Zeit, in Gedanken erfasst«. Sie blieb auch in ihren hierarchisch-systematischen Formationen in the long run für neue Situationen sensibel und musste es bleiben, wenn sie sich selbst erhalten wollte. Dennoch tat sie es, immer auf ihre eigene Perfektion aus, eher widerstrebend. Nietzsche dagegen entschied sich ausdrücklich dafür, sich auf die Evolution in allem Weltgeschehen einzulassen und dafür die begriffl ichen Mittel zu schaffen in einer, nach seiner Formel, »Umwertung aller Werte«. Es war seine historische Rolle, die Philosophie zu einer, wie Burkhard Liebsch sie künftig nennen möchte, »theoretischen Form der Sensibilität« zu machen.13
III. Nietzsches Neuformierung der Philosophie als »theoretischer Form der Sensibilität« Nietzsche hat die Desensibilisierung und Resensibilisierung der Philosophie nicht so sehr durch eine Theorie eingeholt als praktisch vollzogen und damit die stärksten Wirkungen erzielt. Er wuchs im Überdruss an der Vielzahl philosophischer ›Systeme‹ auf, wandte sich wie viele seiner Zeitgenossen der spezifi schen Sensibilität der Sinne, dem individuellen Erleben des Lebens, dessen Zeitlichkeit und sprachlicher Deutbarkeit, den existenziellen Nöten von Einzelnen und Gruppen, die zu bestimmten Moralen nötigen, den Kulturen in ihren Eigentümlichkeiten, den Weltinterpretationen in ihren Unverträglichkeiten, den Werten in ihren Wandelbarkeiten, den Gesellschaften in ihren Gestaltbarkeiten und den Logiken in ihren Entscheidbarkeiten zu.14 Er paradoxierte gezielt die Grundunterscheidungen der überlieferten Philosophie und legte die individuellen Antriebe allen Philosophierens frei. Eine solche Philosophie war nicht mehr in der Form strenger Wissenschaft möglich; im »Willen zum System« sah Nietzsche einen »Mangel an Rechtschaffenheit«.15 Die systematische Philosophie herkömmlicher Gestalt begann sich zu seiner Zeit als Philosophie der Logik und Mathematik, Erkenntnisund Wissenschaftstheorie und logische Analyse der Sprache abzuspalten, und vor allem für sie blieb Nietzsche umstritten. Denn er trat bewusst paradox auf, forderte einerseits zum Misstrauen gegen alle Generalisierungen auf16 und wagte andererLiebsch, Menschliche Sensibilität, 19 u. 340. In vielem nahm er dabei, ohne sich ausdrücklich dazu zu bekennen, das Erbe Johann Gottfried Herders auf. Vgl. A. C. Bertino, »Vernatürlichung« – Ursprünge von Friedrich Nietzsches Entidealisierung des Menschen, seiner Sprache und seiner Geschichte bei Johann Gottfried Herder (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 58), Berlin, Boston 2011. 15 Nietzsche, Götzen-Dämmerung [= GD], Sprüche und Pfeile, Nr. 26. 16 Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse [= JGB], Nr. 198: Insbesondere Moralen und Moralphilosophen »generalisiren, wo nicht generalisirt werden darf —, allesammt unbedingt redend, sich unbedingt nehmend, allesammt nicht nur mit Einem Korne Salz gewürzt, vielmehr 13 14
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seits selbst extreme Generalisierungen wie seinen »›Wille[n] zur Macht‹ und nichts ausserdem«17 oder die Lehre von der »ewigen Wiederkunft«, die er den Tieren seines Zarathustra in den Mund legte.18 Zugleich paradoxierte er seine eigene Philosophie der Interpretation unbefangen durch deren Autoreferentialisierung.19 Er versuchte eine »Experimental-Philosophie« nicht nur zu denken, sondern auch zu leben und sich dabei dem »grundsätzlichsten Nihilismus« auszusetzen,20 der auf keinerlei feste Fundamente mehr baut, weder im Weltgeschehen noch in dessen Interpretation. Von Anfang an arbeitete Nietzsche an der Resensibilisierung der Philosophie, zunächst im Anschluss an Arthur Schopenhauer und Richard Wagner, indem er das Wagner’sche Gesamtkunstwerk als Wiedergeburt der griechischen Tragödie deutete und deren »Geburt« dem »Geist der Musik« zuschrieb, von dem Schopenhauer wenigstens zeitweilige Erlösung vom »Willen zum Nichts« erwartete. In der alten Tragödie hätten das Rauschhaft-Dionysische und das Abgeklärt-Apollinische einander durchdrungen – bis der »Sokratismus« in Gestalt des Euripides ihr ein Ende gemacht habe.21 Zugleich führte Nietzsche in seinem »geheim gehaltenen Schriftstück« 22 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne die Begriffe, darunter auch die philosophischen, auf stets in ihrem Gebrauch verschiebbare Metaphern zurück. So enttheoretisierte er sie und öff nete sie für Fortbildungen aus situativen Bedürfnissen: »jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des NichtGleichen. […] Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefi nirbares X.« 23 Metaphern können, stärker als Begriffe, sensibel auf neue Situationen ihres Geerst erträglich, und bisweilen sogar verführerisch, wenn sie überwürzt und gef ährlich zu riechen lernen, vor Allem ›nach der anderen Welt‹« (zitiert nach: F. Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. G. Colli, M. Monti nari, München, Berlin, New York 1980 [= KSA]). 17 Nietzsche, JGB 36. 18 Nietzsche, Also sprach Zarathustra [= Za]. III. Teil. Der Genesende 2, KSA 4.275 f. 19 Vgl. JGB 22: Wenn alles Interpretation ist, dann ist »auch dies nur Interpretation — und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? — nun, um so besser.« S. zum ›Subversiven‹ seines Philosophierens J. Dellinger, »Zwischen ›Meinung‹ und ›Maske‹. Überlegungen zum Umgang mit Nietzsches Techniken der Subversion«, in: Nietzscheforschung 19 (2012), 317‒326. Luhmann schätzte Nietzsche eben wegen dessen Theorieferne nur wenig, ausdrücklich aber für seine produktive Arbeit mit Paradoxien. 20 Nietzsche, Nachlass 1888, 16[32], KSA 13.492 (korr.). – Vgl. F. Kaulbach: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln, Wien 1980. 21 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872). 22 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches [= MA] II, Vorrede 1, KSA 2.370. 23 Nietzsche. Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [= WL] 1. KSA 1.879 f.
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brauchs reagieren; sie haben gleichsam die Lizenz dazu. Die konventionelle, wissenschaftliche und philosophische Begriff sbildung beschreibt Nietzsche ihrerseits metaphorisch als »Hart- und Starr-Werden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse«; so verbürgt nichts »die Nothwendigkeit und ausschliessliche Berechtigung« einer zum Begriff gewordenen Metapher.24 Die »unendlich complicirten Begriff sdome«, die gleichwohl errichtet werden, müssen, »um auf solchen Fundamenten Halt zu fi nden,« ihrerseits Bauten »wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden.« 25 So können sie sensibel und elastisch auf neue Bedürfnisse der Weltinterpretation reagieren. In seinen Aphorismen-Büchern Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe, Die fröhliche Wissenschaft und Jenseits von Gut und Böse führte Nietzsche bewusst ohne ›System‹ und stattdessen in vielfältigen Variationen eben dies vor: wie sich die gängigen alltäglichen und philosophischen Begriffe sensibel, elastisch und produktiv umbilden lassen: sodass sie zahllose neue, oft grundstürzende Einsichten eröff nen. Zugleich ging er gegen das bedenkenlose Gleichsetzen besonders in jeder »herrschenden Moral« 26 vor. Dabei vermied er weitestgehend eine eigene Terminologie. Die Begriffe, die er prägte oder seinen Zarathustra prägen ließ, gebrauchte er in weiten Spielräumen, die immer neue Verschiebungen zuließen; den scheinbaren Begriff »Übermensch« entwickelte er in Fluss-, See- und Meer-Metaphern.27 Mit der Enttheoretisierung drängte er auch auf die Entdistanzierung der Begriffe zugunsten der Beachtung der »nächsten Dinge«, die der Philosophie bisher unwürdig schienen und die im Ganzen doch einen guten Teil der »Musik des Lebens« ausmachen wie »Essen, Wohnen, Sich-Kleiden, Verkehren«.28 Er trug das alles aus eigener Erfahrung, im eigenen Namen und auf eigene Verantwortung, nicht unter Berufung auf eine ›höhere‹ Instanz wie der Vernunft vor, an deren Gemeinsamkeit unter allen Menschen er nicht mehr glaubte: Wer in ihrem Namen spreche, benutze sie lediglich als Maske für eigene Nöte, Bedürfnisse und Interessen. In der Folge exponierte er sich selbst wie keiner der großen Philosophen vor ihm mit seinen Nöten, Bedürfnissen und Interessen, seiner quälenden Krankheit und »krankhaften Vereinsamung«, aber auch seiner »Genesung« von ihr zu einer »grossen Gesundheit«. Eben sie gab ihm, einem auf diese Weise frei gewordenen Geiste, »das gefährliche Vorrecht […], auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen«.29 Das Abenteuer aber beschrieb er als Glück einer neuen Sensibilität eben für die nächsten Dinge um ihm: »Ein Schritt weiter in der Genesung: und der Ebd., 883 f. Ebd., 882. 26 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft [= FW], Nr. 29. 27 S. dazu W. Stegmaier, »Der See des Menschen, das Meer des Übermenschen und der Brunnen des Geistes. Fluss und Fassung einer Metapher Friedrich Nietzsches«, in: NietzscheStudien 39 (2010), 145‒179. 28 Nietzsche, MA II, Der Wanderer und sein Schatten [= WS], Nr. 5. 29 Nietzsche, MA I, Vorrede 4. 24
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freie Geist nähert sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspänstig, fast misstrauisch. Es wird wieder wärmer um ihn, gelber gleichsam; Gefühl und Mitgefühl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen über ihn weg. Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen für das Nahe aufgiengen. Er ist verwundert und sitzt stille: wo war er doch? Diese nahen und nächsten Dinge: wie scheinen sie ihm verwandelt! welchen Flaum und Zauber haben sie inzwischen bekommen!« 30 Nietzsche sah in seiner Genesung einen Weg auch zur Resensibilisierung des europäischen Philosophierens, dessen Hang zur Generalisierung und Übergeneralisierung bis hin zu seiner desensibilisierenden Metaphysik er seinerseits als Krankheit einstufte, die nach dem Unglaubwürdigwerden von Religion und Metaphysik nun als lähmender Nihilismus auszubrechen drohte. Und als der, der sich dazu bestimmt sah, dies zu sehen, verstand er sich selbst als Tauwind, der in einer »zerbrechlichen zerbrochnen Uebergangszeit« das Eis der in Jahrtausenden erstarrten Begriffe zerbrechlich machte und einbrechen ließ: »Das Eis, das heute noch trägt, ist schon sehr dünn geworden: der Thauwind weht, wir selbst, wir Heimatlosen, sind Etwas, das Eis und andre allzudünne ›Realitäten‹ auf bricht…«31 Er trat, um nicht seinerseits einen ›höheren‹, den Alltagsdingen enthobenen Standpunkt einer Überwissenschaft und Überphilosophie zu beanspruchen, immer stärker polemisch auf, als jemand, der in der Auseinandersetzung mit anderen für seine Perspektive kämpft, die zwar von anderen mehr oder weniger übernommen werden kann, doch auch dann eine begrenzte Perspektive in einer Situation begrenzter Übersicht bleibt. Perspektiven, die sich ihrer Perspektivität bewusst sind, bleiben sensibel für andere Perspektiven, auch wenn es in ihrer jeweiligen Entscheidung liegt, wie weit sie sich von ihnen irritieren und faszinieren lassen oder nicht. Die Grenzen der Sensibilität und Sensibilisierung lassen sich, wie Nietzsche klar sah, ihrerseits nicht generell festlegen. Es mangelte seiner Zeit nicht an Sensibilität. Nietzsche erfuhr sie geradezu als Zeit der Hypersensibilisierung und als deren Symptome die rege Thematisierung von Idiosynkrasien und Hysterien, sog. Nervenkrankheiten aller Art, die Passion für den Rausch, die sich in der französischen Dichtung breit machte, besonders aber Richard Wagners Musik. Er nahm dafür den französischen Begriff der décadence auf, des Niedergangs oder Verfalls des Lebens oder dessen, was man für ein ›gesundes‹ Leben halten konnte. Sensibilität ist sichtlich nicht an sich schon etwas Gutes, sondern braucht ihrerseits ein Maß, und dieses Maß kann, soweit es um das Leben, seine Erhaltung und Steigerung geht, nur dessen Gesundheit sein. Aber auch was Gesundheit ist, lässt sich nicht generell fassen, der Blick auf die zeitgenössische französische und russische Literatur (mit Tolstoi und Dostojewski hier und Flaubert, Baudelaire und Bourget dort) zeigte das deutlich. Nietzsches Maß für sie war, ob sie ein neues sensibles Philosophieren ermöglichte und mit ihm Leichtigkeit und Heiterkeit, das, was er »fröhliche Wissenschaft« nannte. Sie sollte mit dem Ernst der Wissenschaft Unbefangenheit in der 30 31
Nietzsche, MA I, Vorrede 5. Nietzsche, FW 377.
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Überschreitung ihrer Grenzen möglich machen. Nietzsche überschritt sie vor allem zur Kunst hin, von der er sich die höchste Sensibilität versprach. Und so gestaltete er schon in seinen Aphorismen-Büchern und mehr noch in seiner episch-dramatischen Lehrdichtung Also sprach Zarathustra sein Philosophieren künstlerisch, nicht um des schönen Scheins willen, sondern wiederum in philosophischer Absicht: als unbefangenes, aber nie theoretisierendes und systematisierendes Generalisieren in perspektivisch aufeinander ausgerichteten, sich vielfältiger schriftstellerischen Formen bedienenden, gleichsam kubistisch angelegten und musikalisch komponierten und koordinierten Aphorismen – oder Reden eines zunehmend einsamer durch seine Gebirge wandelnden halb mythischen, halb historischen außereuropäischen Propheten. Bei dessen »Untergang« – seinem Herabsteigen zu den Menschen, unter denen er untergeht, weil er kein Verständnis bei ihnen fi ndet,32 – stellen sich seine berühmten Lehren als metaphysikkritische Anti-Lehren heraus. Sie zielen, wenn man sie nicht, wie es immer wieder geschah, ihrerseits metaphysisch versteht, auf Entgeneralisierung und Reindividualisierung, also Sensibilisierung: • Wenn alles »Wille zur Macht« ist, steht alles in unablässiger Auseinandersetzung mit allem andern und kommt zu keiner gemeinsamen Ordnung, es sei denn durch Einverleibung von anderem, dem dann aber wieder anderes entgegensteht; Generalisierungen sind danach immer individuelle Generalisierungen; • wenn Menschen mit anderen Menschen immer andere Menschen zeugen und heranziehen, kommt es nicht zu einer einheitlichen Gattung gleicher Menschen, sondern die Gattung und ihr Begriff wird laufend über sich selbst hinausgeführt; der Mensch ist »Übermensch«, sofern er in diesem Sinn unablässig über sich hinausgeht; er kann das, wenn er sich einmal von metaphysischen oder ›letzten‹ Begriffen ›des‹ Menschen gelöst hat, auch bewusst tun und dadurch anderen Menschen überlegen werden; • wenn in die metaphysische Vorstellung der »Ewigkeit« von immer »Gleichem« die Zeit in Gestalt der »Wiederkehr« eingetragen wird, wird sie paradox und das immer Ungleiche, Individuelle tritt hervor; das Gleiche, das da wiederkehrt, ist nur in seiner Wiederkehr gleich, tatsächlich kehrt Ungleiches gleich wieder; • wenn Werte »Schätzungen« individueller Menschen zu verschiedenen Zeiten sind, stehen auch sie in unablässiger Konkurrenz zueinander und werten einander dabei laufend um; Werten als individuelles und situatives Werten verstanden, ist ein unablässiges »Umwerten aller Werte«. Für das traditionelle Philosophieren sind solche Paradoxierungen traditioneller Maßstäbe schwer zugänglich und erträglich. Nietzsche kam mit seinen Schriften denn auch lange nicht an, sah sich nicht verstanden. Im Rückblick auf seinen philosophischen Erstling Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik sagte er sich Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra [= Za], Zarathustra’s Vorrede 1: »Also begann Zarathustra’s Untergang.« (KSA 4.112) 32
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denn auch, diese »mystische und beinahe mänadische Seele, die mit Mühsal und willkürlich, fast unschlüssig darüber, ob sie sich mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in einer fremden Zunge stammelt [, sie] hätte singen sollen, diese ›neue Seele‹ — und nicht reden!« 33 Und so ging Nietzsche immer entschiedener dazu über, sich in Liedern auszusprechen oder auszusingen. Lyrisches Sprechen oder Singen nutzt traditionell alle Nuancen einer Sprache, bringt es, wenn es gelingt, zu feinster Sprachsensibilität. Es muss darum weniger verstanden als seinerseits sensibel erlebt werden. Eine Nuance ist, bei Farben, bei Geschmäckern, aber auch bei Worten, etwas nicht mehr begriffl ich Fassbares. Sie braucht einen Begriff als Ausgangspunkt und weicht zugleich von jedem Begriff ab, unter den man sie zu bringen versucht (›es ist rot, aber nicht dieses oder dieses Rot‹). Die Abweichung ist ihrerseits nicht auf Begriffe zu bringen: Eine Nuance ist die unbegreifl iche Abweichung vom Begriff und als solche wieder paradox. Nietzsche bestimmte sich selbst zuletzt eben so: »ich bin eine nuance«.34 Es ist sein letztes und knappstes Wort für sein sensibles Philosophieren. Die exemplarische Situation eines solchen sensiblen Philosophierens aber hat er, konsequent, in einem Gedicht beschrieben oder, in seinen Worten, besungen: dem Gedicht Sils-Maria. Es dürfte zu den Texten gehören, mit denen es ihm gelang, »die philosophische Sensibilität, welche mich unterscheidet, bis zu ihrer letzten Folgerung zu formulieren.« 35
IV. Philosophische Kreativität aus Sensibilität: Nietzsches Gedicht »Sils-Maria« Sils-Maria Hier sass ich, wartend, wartend, — doch auf Nichts, Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei – – Und Zarathustra gieng an mir vorbei… 36 Nietzsche, GT, Versuch einer Selbstkritik 3 (KSA 1.15). Nietzsche, Ecce homo [= EH], Der Fall Wagner 4, KSA 6.362. 35 Brief aus Nizza an Heinrich Köselitz in Venedig, 6. Jan. 1888, zitiert nach: F. Nietzsche, Sämtliche Briefe – Kritische Studienausgabe, München, Berlin, New York 1985 [= KSB], 8.226. 36 Nietzsche, Lieder des Prinzen Vogelfrei, Anhang zur Neuausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1887, KSA 3.649. An der Deutung des Gedichts, einem der berühmtesten von Nietzsches Gedichten, haben schon viele gearbeitet, und viele werden an ihr noch zu arbeiten haben. Dabei ragt in philosophischer Hinsicht die ausführliche Interpretation von M. Riedel, »Nietzsches Gedicht Sils-Maria – Entstehungsgeschichte und Deutung«, in: Nietzsche-Studien 27 (1998), 268‒282, heraus. Riedel legt sich freilich von vornherein darauf fest, das Gedicht »sublimiere« den Gedanken der ewigen Wiederkunft. Das macht ihn wenig sensibel für seinen Wortlaut. G. 33
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Der Sinn des Gedichts scheint ganz klar zu sein: Unter den Stichworten »SilsMaria«, »See« – Sils-Maria ist von zwei Seen, dem Silser und dem Silvaplaner See, umgeben –, »Jenseits von Gut und Böse« – Nietzsches kurz vor dem Gedicht erschienenes Aphorismen-Buch –, »Freundin« – Lou von Salomé – und »Zarathustra« erinnert sich Nietzsche an eine stille Stunde am See, in der ihm die Figur Zarathustra einfiel oder der Grundriss seines Werks Also sprach Zarathustra oder der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen, der darin zur Sprache kommt. Doch all das stimmt doch nicht so recht: Jenseits von Gut und Böse entstand nach Also sprach Zarathustra, den »Ewige-Wiederkunfts-Gedanken« erklärt Nietzsche erst später, im Rückblick des Ecce homo, zur »Grundconception des Werks«,37 der »pyramidal aufgetürmte Block«, bei dem ihm im August 1881 »dieser Gedanke« gekommen sei, wovon er ebenfalls in Ecce homo erzählt, liegt eine Spazierstunde entfernt von SilsMaria »am See von Silvaplana […] unweit Surlei«, und die »plötzliche und unter den unwahrscheinlichsten Verhältnissen eintretende Niederkunft« mit Also sprach Zarathustra verlegt Nietzsche später auf den Februar 1883, die »heilige Stunde«, »in der Richard Wagner in Venedig starb«. Da lebte er in Rapallo, von wo aus er oft nach Portofi no wanderte, und das Gedicht hatte zunächst auch den Titel Portofino. Es umfasste da nur vier Verse und lautete so: Portofi no Hier sass ich, wartend – wartend? Doch auf nichts, Jenseits von gut und böse, und des Lichts Nicht mehr gelüstend als der Dunkelheit, Dem Mittag Freund und Freund der Ewigkeit.38
Figal, Nietzsche – Eine philosophische Einführung, Stuttgart 1999, 181‒186, arbeitet im Gedicht stattdessen das Moment des Genusses heraus und führt so an das Thema der Sensibilität heran. Damit muss man nicht schon, wie H. Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Mü nchen 2014, 34, es tut, einen mystischen Zustand verbinden. H. Detering, »Stagnation und Höhenfl ug. ‚Die Lieder des Prinzen Vogelfrei’«, in: J. Georg, C. Benne (Hg.), Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (Klassiker auslegen), Berlin, Boston 2015, 151–174, hier 170 f., verbindet ewige Wiederkunft und Mystik im »nunc stans der Ewigen Wiederkunft«. Dagegen zeigt Claus Zittel: »In öden EisbärZonen«. Nietzsches »Aus hohen Bergen. Nachgesang«, in: M. Born (Hg.), Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse (Klassiker auslegen), Berlin, Boston 2014, 207‒236, am »Schwestergedicht« Aus hohen Bergen. Nachgesang zu Jenseits von Gut und Böse, wie man mit Hilfe des inzwischen erarbeiteten umfangreichen Instrumentariums der Nietzsche-Philologie vorschnelle Festlegungen (auch autobiographischer Art) in der Deutung gerade von Nietzsches Gedichten vermeiden und zugleich ihrem Pathos widerstehen kann. K. Grätz, »Portofino in der Schweiz? Textgenese und Deutungsperspektiven von Nietzsches Gedicht ›Sils Maria‹«, in: C. Benne, C. Zittel (Hg.), Nietzsche und die Lyrik. Ein Kompendium, Stuttgart 2017, 283‒298, erschließt das Gedicht vorwiegend literaturwissenschaftlich (hier ist kaum noch etwas hinzuzufügen) und hält sich mit philosophischen Deutungen zurück. 37 Nietzsche, Ecce homo [= EH], Za 1 (KSA 6.335). 38 Nietzsche, Nachlass 1882, 3[3], KSA 10.107 f.
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In der Endfassung mit dem Titel Sils Maria hat Nietzsche nicht nur die Syntax, die Interpunktion und die Groß- und Kleinschreibung verändert, sondern auch die »Dunkelheit« ausgespart und vor allem den Begriff »Ewigkeit« fallen lassen.39 In der Ecce homo-Passage spricht Nietzsche wohl auch von der »jungen Russin, mit der ich damals befreundet war«, dem »Fräulein Lou von Salomé«, schreibt dort aber ihr eine »erstaunliche Inspiration« zu, und zwar die Inspiration zu deren Gedicht Hymnus an das Leben, für das Nietzsche schon eine Kompostion bereit hatte. Zuletzt kommt er auch auf die eigene Inspiration zu sprechen: Auf den Wegen um Rapallo und Portofi no, schreibt er, »fiel mir der ganze erste Zarathustra ein, vor allem Zarathustra selber, als Typus: richtiger, er »überfi el mich …«. Im Sils-Maria-Gedicht aber heißt es: »Und Zarathustra gieng an mir vorbei…« Das kann eine Eingebung sein, vielleicht ein Einfall, aber kaum ein Überfall. Es scheint um etwas Sensibleres, um Kreativität aus Sensibilität zu gehen. Nietzsche beschreibt die Szene, die er nun in Sils-Maria, seinem später bevorzugten Sommerort im Schweizer Oberengadin, ansiedelt, nicht mehr als Gegenwart (»Hier sitz ich«), sondern im Rückblick, als etwas Vergangenes (»Hier sass ich«). Ein sensibles Verhalten und auch ein sensibles Philosophieren lässt sich nicht in dem Augenblick beschreiben, in dem es geschieht; sonst drängt sich schon die Reflexion durch angestammte Begriffe in es ein, kontaminiert die Sensibilität durch Reflexivität. Das »ich«, das hier spricht, saß »wartend, wartend«, das Warten wird nicht mehr sogleich in Frage gestellt, sondern im verdoppelten Wortlaut selber spürbar.40 Gewöhnlich ist Warten ein Warten auf etwas Bestimmtes, hier jedoch ein Warten »auf Nichts«. Man hat, zumal da Nietzsche »Nichts« nun groß schreibt, gleich wieder eine Ankündigung des Nihilismus vermutet, und das vorausgehende V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft handelt in der Tat auch vom (noch heiteren) Warten darauf, dass die Botschaft sich, mit verheerenden Wirkungen, verbreitet. Doch im Gedicht sitzt oder saß das sprechende Ich einfach da, ohne auf etwas Bestimmtes zu warten – auch wenn es weiß, dass irgendwann irgendetwas geschehen wird, das diesem Warten ein Ende machen wird. So geht es um das Warten selbst. Dessen gewohnter Begriff verschiebt sich vom Warten auf Etwas zu einem Warten auf Nichts, sodass man kaum noch sagen kann, es sei ein Warten: Der Begriff geht in eine kaum mehr fassbare Begriff s-Nuance über. Aber gerade in einem solchen Warten auf Nichts entspannt sich das Beobachten und wird, weil die Situ39 So wie auch im vorausgehenden Gedicht Nach neuen Meeren. Dort ersetzte er ihn durch »Unendlichkeit«, dessen »Auge« ihn »ungeheuer« anblicke. Vgl. W. Stegmaier, »Im Auge der Unendlichkeit. Die Häutungen von Nietzsches Gedicht ‚Nach neuen Meeren’«, in: Benne, Zittel (Hg.), Nietzsche und die Lyrik, 254‒268. 40 Nietzsche fand erst schrittweise zu diesem Wortlaut. In Zwischenstufen hatte er »sehend, sehend – doch hinaus!« und »liebend, liebend – unbewegt« (Nachlass 1884, 28[31], KSA 11.311) erprobt, für das Gedicht, das dann zu Aus hohen Bergen. Nachgesang zu Jenseits von Gut und Böse wurde. Er probierte es auch mit »Jüngst saß ich wartend hier, – jetzt wart ich nicht« und »Weß wart und wart ich noch? Ich weiß es nicht –« (Montinari, Kommentar zur KSA, KSA 14.375). Zur Textgenese und weiteren Varianten s. Grätz, Portofino in der Schweiz?, 293-297.
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ation jederzeit umschlagen kann, doch nie ganz frei von Spannung. Das Warten wird nicht langweilig. Vielmehr schweifen die Beobachtungen und das Denken und sind bereit, sonst kaum auff ällige Anhaltspunkte wahrzunehmen – genau das ist die Bedingung eines sensiblen Philosophierens. »Jenseits von Gut und Böse«, der Name des vorausgehenden Aphorismen-Buchs, das Nietzsches bisher prägnanteste Metaphysik- und Moralkritik enthielt, wird ebenfalls in seinem Sinn verschoben. Die Formel beschreibt hier eine Situation: Das sich erinnerende Ich fi ndet sich selbst jenseits von Gut und Böse, hat kein Bedürfnis mehr nach letzten Gründen und nach Imperativen, das Meer der philosophischen Begriffe liegt, wie es im vorausgehenden Gedicht Nach neuen Meeren heißt, wieder offen da. Ein Zustand des Genusses tritt ein, Genuss mit Günter Figal verstanden als »ein Schillern zwischen Differenz und Indifferenz, ein Unterschiedensein, das sich doch nie zu einem Unterschied verfestigt und auch nicht in den übergreifenden Bindungen des Gemeinsamen untergeht.«41 Genuss ist eine Form von Sensibilität. Das doppelte »bald«, dann das vierfache »ganz« spiegelt die Vielfalt des Genießens, das »ganz« zugleich das Aufgehen, die Selbstvergessenheit in ihm. Die Begriffe »Spiel«, »See«, »Mittag«, »Zeit ohne Ziel«, mit denen das Gedicht die Vielfalt beschreibt, werden nicht durch nähere Bestimmungen voneinander abgesetzt, sondern gehen ineinander über, interpretieren oder, mit einem Ausdruck Luhmanns, interpenetrieren einander, konfigurieren zusammen ein für sich sprechendes Netz von Bildern. Das Licht spielt am Mittag auf dem See, immer gleich und zugleich immer anders – wie die Zeit, ohne dass die Zeit auf irgendetwas hinauslaufen oder sich zu einem Kreis schließen würde. Der See könnte der Silser See sein, in den die Halbinsel Chastè hineinragt, auf der Nietzsche besonders gern nachzudenken liebte. Aber auch dafür gibt es keine näheren topographischen Anhaltspunkte; »Mittag schläft«, wie in Nach neuen Meeren, »auf Raum und Zeit«. Spiel, so Figal, »ist auch Freiheit, die Offenheit, daß etwas überhaupt in neue Verhältnisse zu anderem treten kann.«42 Es bringt die heitere Stimmung, die der fröhliche Wissenschaftler sucht. Vielleicht ist philosophische Sensibilität nie so beschrieben worden. Nietzsche hat zu etwa derselben Zeit noch eine – freilich weit wortreichere – Beschreibung eines solchen Zustands in Prosa versucht, in der neuen Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches: »ein blasses feines Licht und Sonnenglück ist ihm zu eigen, ein Gefühl von Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, Vogel-Uebermuth, etwas Drittes, in dem sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben. Ein ›freier Geist‹ – dies kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe. Man lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne Ja, ohne Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschlüpfend, ausweichend, fortfl atternd, wieder weg, wieder empor fl iegend; man ist verwöhnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures VielerFigal, Nietzsche – Eine philosophische Einführung, 182. Ebd. Figal, ebd. 186, identifi ziert allerdings die »Zeit ohne Ziel« wieder mit der »Zeit, die nur Weile ist, Ewigkeit« und sieht darin den »Namen Zarathustra«. Doch »Ewigkeit« hat Nietzsche aber gerade getilgt, und so setzt Figal selbst mehrere Fragezeichen. 41
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lei unter sich gesehn hat, – und man ward zum Gegenstück Derer, welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen nunmehr lauter Dinge an – und wie viele Dinge! – welche ihn nicht mehr bekümmern…« (MA I, Vorrede 4) Es ist, könnten wir mit Luhmanns seinerseits kühlen Begriffen sagen, der Zustand zwischen Selbstbezug und Fremdbezug, in dem ein Beobachtungssystem, wenn man ein lyrisches Ich so nennen darf, sensibel für Irritationen wird, ein Zustand des Nicht-schon-festlegt-Seins, Nicht-schon-geurteilt-Habens, Nicht-schon-etwas-identifi ziert-Habens, Noch-nichts-Wollens, in dem das »ungeheure Vielerlei« der Dinge sichtbar und die stille Musik des Lebens hörbar wird. Spricht man hier von »Indifferenz«, so ist nicht »Gleichgültigkeit« gemeint, sondern ein Zustand, in dem die Beobachtung und das Urteil noch nicht differenziert sind. Man ist, so noch einmal Figal, »bei der Sache, ohne ganz und gar von ihr beherrscht zu sein«.43 Man sieht auf nichts und sieht alles, man lauscht auf Nichts und hört alles. Nach einer Leerzeile folgt die zweite, nur halb so lange Strophe mit dem harten Einsatz »Da, plötzlich«. Äußerlich, in der Szene am See, geschieht nichts. Doch das Gedicht spricht so, als geschähe etwas Greif bares: »Zarathustra gieng an mir vorbei …«. Aber das Wort »Zarathustra« in seiner Unbestimmtheit – mythisch-historische Figur, Nietzsches »Typus« Zarathustra, sein Werk Also sprach Zarathustra? – dementiert die Greif barkeit zugleich, die Realitäten verschwimmen. Das »gieng vorbei« ist nach dem »sass ich« das Handfesteste, was im Gedicht gesagt wird, und doch kann Zarathustra in keiner der genannten Gestalten real vorbeigegangen sein. Ebenso unvermutet und unbestimmbar taucht die »Freundin« auf. Im Gedicht saß sie offenbar nicht wirklich neben dem Sprechenden; sonst hätte er nicht mit »Hier sass ich« beginnen können. Aber sie ist als zweite reale Person in dieser Situation doch denkbar. Wird sie vom sprechenden Ich erinnert als Gesprächspartnerin, der man das Geschehene erzählen kann, die, vielleicht als einzige, Verständnis dafür haben wird? Oder löst sie, der Gedanke an sie und der frühere Austausch mit ihr den Einfall aus? Den Einfall einer neuen Einheit in der Zweiheit oder Zweiheit in der Einheit? Einer neuen Identität der Differenz oder Differenz der Identität? Das »wurde Eins zu Zwei« hat stets Rätsel aufgegeben und entsprechend kryptische Deutungen hervorgerufen.44 Im »Schwestergedicht«, wie es Claus Zittel nannte,45 Aus hohen Bergen. Nachgesang zu Jenseits von Gut und Böse, in dessen Schluss Nietzsche den Vers »Um Mittag war’s, da wurde Eins zu Zwei ….« ebenfalls einfügte, lässt er selbst einen Zauberer zaubern – »Ein Zaubrer that’s, der Freund zur rechten Stunde, / Der Mittags-Freund«, um dann gleich hinzuzusetzen: »– nein! fragt nicht, wer es sei –«. Wie bei guten Zauberern wird eine Fiktion zur Realität, von der man freilich weiß, dass sie eine Fiktion ist. In den beiden Schwestergedichten aber ist es offenbar eine Fiktion, die das sprechende Ich braucht, die für es Figal, Nietzsche – Eine philosophische Einführung, 182. Auch noch bei Figal, ebd., 184 f., der hier eine Zweiheit von »Erscheinung« oder »Ereignis« und »Namen« fi ndet. 45 C. Zittel, »In öden Eisbär-Zonen. Nietzsches ‚Aus hohen Bergen. Nachgesang’«, in: M. Born (Hg.), Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Berlin, Boston 2014, 207‒236, hier 214. 43
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lebensnotwendig ist: In weiteren Varianten ist Zarathustra der letzte Freund in der Einsamkeit, der es nicht verlassen wird oder doch nicht verlassen soll – »Freund Zarathustra bleib, verlass mich nicht« –, aber auch »mein höheres Gewissen« (W I 8.103).46 Zauberer, vor allem den musikalischen Zauberer Richard Wagner, und auf andere Weise das Gewissen hat der spätere Nietzsche sehr kritisch gesehen und blieb beiden dennoch, wenn man sie so nebeneinander stellen darf, tief verpfl ichtet. Im Gedicht Sils-Maria lässt er auch sie beiseite. Hier ist noch nicht einmal zu entscheiden, wer die zweite Gestalt ist, in der das sie beobachtende Ich auseinandertritt (»aus Eins wird Zwei«), die Freundin oder Zarathustra. Sie tritt hier jedenfalls vor den zwei Gedankenstrichen hervor, die für Nietzsche immer auch Pausen für unausgesprochene Gedanken sind und zwischen die er hier noch eine Leerzeile einfügt. An seine Schwester, mit der er kaum Gedanken austauschen konnte, schrieb er während der Arbeit an Jenseits von Gut und Böse: »Man hat es aber nicht in der Hand, sich mitzutheilen, wenn man auch noch so mittheilungslustig ist, sondern man muß den fi nden, gegen den es Mittheilung geben kann. Das Gefühl, daß es bei mir etwas sehr Fernes und Fremdes gebe, daß meine Worte andere Farben haben als dieselben Worte in andern Menschen, daß es bei mir viel bunten Vordergrund giebt, welcher täuscht — genau dies Gefühl, das mir neuerdings von verschiedenen Seiten bezeugt wird, ist immer noch der feinste Grad von »Verständniß«, den ich bisher gefunden habe. Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist Vordergrund; für mich selber geht es erst immer mit den Gedankenstrichen los. Es sind Dinge gefährlichster Art, mit denen ich zu thun habe; daß ich dazwischen in populärer Manier bald den Deutschen Schopenhauern oder Wagner’n anempfehle, bald Zarathustra’s ausdenke, das sind Erholungen für mich, aber vor Allem auch Verstecke, hinter denen ich eine Zeit lang wieder sitzen kann.«47 Er rechnet, und nun kompliziert sich die persönliche und philosophische Sensibilität Nietzsches, sensibel mit unterschiedlichen Sensibilitäten der andern für seine eigenen Sensibilitäten – das nennt man auch Takt und gilt mehr oder weniger für jeden, für Nietzsche aber in einem so gesteigerten Maß, dass er darunter litt. Die Komplexion der Sensibilitäten bedeutet für ihn, dass er in der Einheit mit anderen, wer oder was sie auch sein mögen, nicht aufgehen kann und will, auch nicht mit seinem »Sohn Zarathustra«, über den er ebenfalls an seine Schwester schrieb: »Glaube ja nicht, daß mein Sohn Zarathustra meine Meinungen ausspricht. Er ist eine meiner Vorbereitungen und Zwischen-Akte.«48 Andere sind für ihn, der so sehr auf seine Einsamkeit hielt, vor allem Herausforderung zur Kommunikation,49 Nietzsche, Notizheft W I 8, transskribiert in Nietzsche Werke: Kritische Gesamtausgabe, Abteilung IX, Band 5, Berlin, New York 2005, 106 u. 103; vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.375. 47 Brief aus Venedig an Elisabeth Nietzsche in Naumburg, 20. Mai 1885, Nr. 602, KSB 7.52 f. 48 Nietzsche, Brief aus Venedig an Elisabeth Nietzsche in Naumburg, 7. Mai 1885, Nr. 600, KSB 7.48. 49 Auch Grätz, Portofi no in der Schweiz, 289, betont, dass das sprechende Ich »sich in einer dialogischen Sprechsituation und also in kommunikativem Austausch befi ndet«. 46
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einer Kommunikation, die ihn kaum je befriedigte und umso mehr Mühe machte. Doch ein Gedanke, ein Einfall wird, soweit er erinnert werden kann, in Begriffen, mehr oder weniger allgemein verwendeten Begriffen, erinnert, und als solche bieten sich Begriffe der Kommunikation an, ja, verlangen nach Kommunikation (auch in der Gestalt, dass man sie notiert). Die hochsensible Situation, die das Gedicht Sils-Maria entwirft, drängt, sobald »plötzlich« ein Einfall kommt, der Gestalt gewinnt und zu Bildern und Gedanken wird, zur Kommunikation und damit zu dem ›Eins wird Zwei‹. So beschreibt das Gedicht mit der Kreativität auch die Kommunikativität, die aus der Sensibilität entspringt. Das könnte zuletzt helfen, auch das Vorbeigehen Zarathustras (in welcher Gestalt auch immer) zu verstehen – die Gestalt stand nicht auf einmal vor dem lyrischen Ich, sondern ging, merkwürdigerweise, vorbei. Was immer es war, es blieb in Distanz zu ihm, es ging nicht in ihm auf, und das Ich ging nicht in ihm auf. Die Distanz, das »Pathos der Distanz«, das Nicht-aufgehen-Ineinander, sei es von Personen oder von Begriffen, die sie gebrauchen, oder Ideen, die sie haben, oder Gestalten, die sie entwerfen, war die Lebensbedingung und das Lebenselement Nietzsches und ein Grundthema seines Philosophierens. Im Pathos der Distanz bleibt die, der oder das Andere in begriffloser Differenz; wer in ihm lebt, muss sie nicht auf Begriffe bringen und damit seinem Urteil und seiner Wertung zu unterwerfen, sondern kann sie vorbeigehen lassen. Im bibelfesten Pastorensohn Nietzsche könnte hier die Erinnerung an die Erzählung aus Exodus 33 nachgewirkt haben, nach der der HERR, nachdem er Mose die Gesetzestafeln übergeben hatte, regelmäßig in einer Wolkensäule herabkam, um mit ihm in der dafür errichteten Stiftshütte zu sprechen. Als er ihm aber befahl, das Volk Israel in das Gelobte Land zu führen, und Mose ihn bat, dabei voranzugehen und ihm, damit er ihn erkenne, sein Gesicht zu zeigen, widersprach der Herr mit der Begründung, niemand könne überleben, der in sein Angesicht gesehen habe. Doch zugleich schlug er ihm vor, sich in eine Felsspalte zu stellen, an der er, die Hand über ihn haltend, vorbeigehen werde; wenn er vorüber sei, werde er die Hand zurückzuziehen, so dass Mose ihn hintennach im Rücken sehen könne. Die Erinnerung an die Herrlichkeit des HERRN in der Bibel ist vielleicht nicht zu weit hergeholt. Nietzsche schrieb zuletzt von der Herrlichkeit seines Zarathustra in Ecce homo: »Der grosse Dichter schöpft nur aus seiner Realität — bis zu dem Grade, dass er hinterdrein sein Werk nicht mehr aushält … Wenn ich einen Blick in meinen Zarathustra geworfen habe, gehe ich eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab, unfähig, über einen unerträglichen Krampf von Schluchzen Herr zu werden.« 50 Doch das Pathos der Distanz ist, gerade vor der Herrlichkeit, schwer durchzuhalten, das Feststellen-, Auf-den-Begriff-bringen-Wollen, was der, die oder das Andere ist, kehrt immer wieder mit Macht zurück. Die Begriffe aber hat man aus der Kommunikation der Gesellschaft aufgenommen, und sie wollen nun wieder kommuniziert werden. Die
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Nietzsche, Ecce homo, Warum ich so klug bin 4, KSA 6.287.
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Kommunikation der Gesellschaft drängt sich in der Distanz des Einen zu Anderen und Anderem als Drittes wieder ein. Im Abschnitt Vom Freunde aus dem I. Teil von Also sprach Zarathustra hatte Nietzsche dazu geschrieben: ›Immer Einmal Eins – das giebt auf die Dauer Zwei!‹ Ich und Mich sind immer zu eifrig im Gespräche: wie wäre es auszuhalten, wenn es nicht einen Freund gäbe? Immer ist für den Einsiedler der Freund der Dritte: der Dritte ist der Kork, der verhindert, dass das Gespräch der Zweie in die Tiefe sinkt. Ach, es giebt zu viele Tiefen für alle Einsiedler. Darum sehnen sie sich so nach einem Freunde und nach seiner Höhe. Unser Glaube an Andre verräth, worin wir gerne an uns selber glauben möchten. Unsre Sehnsucht nach einem Freunde ist unser Verräther.51
Danach würde die »Freundin« oder der Gedanke an sie die Gestalt, den Typus oder das Werk Zarathustra nicht nur evozieren und akzeptieren, sondern zugleich auch im Rahmen von Konventionalität und Kommunikabilität oder kurz: der Verständlichkeit halten. Die philosophische Sensibilität, die hier philosophische Kreativität eröff net hat, mündet in eine auch für andere sensible Gestalt. Sie bringt die Realität in die Schwebe, operiert mit komplexen Differenzierungen von Realität und Fiktion. Im Gedicht Sils-Maria kommen, um sie abschließend zu schematisieren und damit wieder zu desensibilisieren, vier solcher Differenzen zur Sprache: (1) die fi ktive Realität der erzählten Szene: »Hier sass ich« (V. 1-4), (2) die Realität innerhalb der fi ktiven Realität: die »Freundin« (V. 5), (3) die Fiktion innerhalb der fi ktiven Realität: »Zarathustra« – er kann, auch in der fi ktiven Realität der erzählten Szene, nicht vorbeigegangen sein (V. 6); (4) die Realität außerhalb der erzählten Szene: das Werk Also sprach Zarathustra war schon zur Zeit der Erscheinung des Gedichts keine Fiktion, sondern Realität. Solche Differenzen sind in sensiblen Beobachtungssituationen zunächst noch offen – bis die Beobachtungssysteme sich für bestimmte Unterscheidungen entscheiden und festlegen, was als Realität gelten soll. Das Gedicht zeigt, wie Realität sich in einer komplexen Mischung von Realität und Fiktion herausbildet, die sich im Zustand der Sensibilität der Beobachtung konfiguriert, bis die Festlegung in Begriffen die Beobachtung wieder desensibilisiert. Was das Gedicht zeigt, gilt mehr oder weniger für alle Weltbeschreibungen. Weltbeschreibungen leben von der Oszillation zwischen Sensibilisierung und Desensibilisierung. 51
Nietzsche, Za I, Vom Freunde, KSA 4.71.
Über das Un/Sinnliche Ereignis- und Zeitbegriffe in Deleuzes und Badious Ontologien unendlicher Mannigfaltigkeit Katja Diefenbach
I. Welches Ereignis? In der postmarxistischen Theorie stoßen wir auf zwei extreme Ontologien unendlicher Mannigfaltigkeit, die beide von großer anti-phänomenologischer Rigorosität sind, aber ganz und gar konträre Ansichten über das Sein des Seins vertreten. Kaum zwei andere Zeit- und Ereignistheorien der kontinentalen Philosophie stehen in einem konfrontativeren Verhältnis rund um eine Reihe gemeinsamer Fragen als Gilles Deleuzes und Alain Badious Theorien unendlicher Mannigfaltigkeit. Beim Versuch, Kausalitätsmodelle aus mechanischen oder totalisierenden Bestimmungsund Begründungsschemata herauszulösen, enden beide Autoren bei unterschiedlichen Differenz- und Zeitkonzepten, in denen das Ereignis einmal univok, das andere Mal äuqivok, einmal immanent, das andere Mal transzendent, einmal ontologisch, das andere Mal metaontologisch konzipiert wird. Dieser Streit um die Ereignishaftigkeit des Ereignisses lässt sich auf divergente Verständnisse des Un/ Sinnlichen und Un/Empfi ndbaren zurückverfolgen. Während Ereignisse bei Deleuze kritische Wendepunkte in den Emergenzleistungen des Seins darstellen, die mit Selbstsensibilisierungsprozessen anheben, bildet das Ereignis bei Badiou eine Unterbrechung der Individuation. Es drückt nicht die Differentialität affi zierbaren Seins in Form einer immanenten Wendung, sondern dessen Ausnahme in Form einer transzendenten Trennung aus, in der das auftritt, was nicht das Sein des Seins, sondern seine Außerkraftsetzung ist.1 Das Ereignis bildet die Selbstgegenwart eines »zeitlose[n] Augenblicks« (LW, 410), der die Dauer in Form einer Unterscheidung spaltet. Diese Differenz muss bei Badiou durch ein Subjekt verfestigt werden, das die Konsequenzen, die das Ereignis einfordert, zu leben wagt, indem es die herrschenden Empfi ndsamkeiten der Welten, die »Taten und Leiden« (LW, 411) der Körper sowie ihre Individuationen »zerstört« (LW, 25). Deleuze hingegen zielt auf die Erzeugungsprozesse von Empfi ndungen, Erfi ndungen und Begriffen, die in ihrer Unpersönlichkeit das Subjekt übersteigen, ihre Extremität aber nicht einem Akt verdanken, der anders als das Sein oder das Leben agieren würde. Das Ereignis wird als Potentialisierung der Zeit begriffen, in deren äußerstem Geschehen die Zukunft die Vergangenheit entgründet und in der Psyche einen Tod aufsteigen lässt, in dessen Differentialität sich kein Subjekt wiederkennen kann. Durch die 1
Vgl. A. Badiou, Logiken der Welten [im Folgenden LW], Berlin, Zürich 2010, 410.
ZÄK-Sonderheft 17 · © Felix Meiner Verlag 2018 · ISBN 978-3-7873-3544-2
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Zeit zerspalten tritt es hinter die unpersönlichen, unbewussten und chaotischen Kräfte zurück, auf denen seine »Erfi ndsamkeit« 2 beruht, zu deren Passionen und Aktionen es nachträglich, wie Nietzsche sagt, als Täter »bloss hinzugedichtet« 3 worden sei. Deleuze entwirft diese Potentialisierung der Zeit im Rahmen einer verschränkten Individuation von Materie, Psyche und Denken, die von einer »primären Sinnlichkeit«4 aus prozessiert und die Spannung zwischen dem Leben und seinen Formen, zwischen präindividuellen Kräftedifferentialen und subjektivierten oder objektivierten Individualitäten dramatisiert. Dieser Text zeigt, wie Badiou in existentialistischer Tradition zwischen Sartre und Lacan ein heroisches Subjekt aufruft, das sich als desensibilisierter Operator von der Empfi ndungsfähigkeit der Körper trennt, um dem Ereignis einen »körperlosen Körper« (LW, 20) konsequenter Entscheidungen zu schenken, während Deleuze in vitalistischer Tradition zwischen Nietzsche und Bergson unterhalb des Subjektiven einsetzende und weit über es hinausgreifende Materie-Zeit-Synthesen denkt, die mit präindividuellen Sensibilisierungen einsetzen. In ihnen bilden sich die Empfi ndungs-, Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten individuierter Lebewesen erst, um in Sprüngen und Wendungen außerordentlichen Sensibilitäten und problematischen Ideen stattgeben zu können, die die Sinn- und Zweckordnungen subjektivierter Lebensformen übersteigen. Es handelt sich um keine Anthropologie von unten, sondern, in Abwandlung eines Althusser’schen Begriff s, um einen »theoretischen Antihumanismus« 5 von unten, in dem das Menschliche des Menschen in einer »apokalyptischen« (DW, 13) Individuation zugunsten des Unzeitgemäßen und Differentiellen überschritten wird, das im Menschlichen eingefaltet ist, ohne dessen Eigentum zu bilden. Der tiefl iegendste Dissens zwischen Badiou und Deleuze betriff t das vitalistische Konzept »primärer Sinnlichkeit«, die im elementarsten Sinne Sensibilisierung darstellt, Empfänglichwerden nicht für, sondern des Heterogenen selbst. Bevor etwas empfunden und erkannt wird, ist das Sein selbst bei Deleuze Empfänglichkeit an sich, die sich in »passiven Schöpfung[en]« 6 vollzieht. Bereits auf biochemischer Ebene offenbart sich das Sein in der Fähigkeit zur Kontraktion oder Zusammenziehung von Elementen in Entitäten, die als passive, partielle, larvenhafte Ichs oder präreflexive Bewusstseine verstanden werden müssen. Elementar fähig, sich zu erleiden, sich empfi ndend zu empfangen, zieht eine Empfi ndung Empfundenes zusammen und lässt dieses Zusammengezogene als Selbst sich betrachten. In einer seiner vielen unerwarteten philosophiegeschichtlichen Bezugnahmen setzt F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, 1875–1879, Sommer 1875, Gruppe 6 (Fragment 48), Kritische Studienausgabe (KSA), Band 8, München 2005. 3 F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA, Band 5, München 21999, 279. 4 G. Deleuze, Diff erenz und Wiederholung [im Folgenden DW], München 21997, 102. 2
5 L. Althusser, »Ist es einfach, in der Philosophie Marxist zu sein?« in: ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 1977, 55. 6
252.
G. Deleuze und F. Guattari, Was ist Philosophie? [im Folgenden WP], Frankfurt/M. 2000,
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Deleuze Plotins Begriff der Kontemplation ein, um die Empfi ndung als Betrachtung dessen zu fassen, woraus sie sich bildet: »Die Empfi ndung füllt […] sich mit sich selbst aus, indem sie sich mit dem füllt, was sie betrachtet.« (WP, 252) In spinozistischem Sinne könnte man von einer Heterogenese sprechen, die sich psychisch als Freude an Komposition und Assoziation in ein basales Individuum einschreibt, als ein elementares, in die passive Synthese eingelassenes »self-enjoyment« (WP, 252). In dieser Aisthesiologie sind anders als in der Kantischen Ästhetik das objektive Element von Empfi ndung und Sinnlichkeit (Empfundenes und Wahrgenommenes) und ihr subjektives Element (Lust oder Schmerz) nicht gegeneinander getrennt. Der eigentliche aisthesiologische Gegenstand ist nicht das sinnliche Sein, sondern das »Sein des Sinnlichen« (DW, 182), d. h. jene biopsychische Empfindsamkeit, aus deren Genesen sich das, was den Sinnen gegeben ist, genauso wie die Empfi ndungs-, Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten erst bilden – und zwar indem sie sich am Unsinnlichen und Unwahrnehmbaren entzünden. In metaphysikkritischer Absicht verstehen sowohl Deleuze als auch Badiou unter dem Sein als reiner und unendlicher Differentialität nicht einfach das, was gegeben ist, sondern das, wodurch das Gegebene gegeben ist. Als Schlüssel dient Deleuze das Konzept unausgedehnter, präqualitativer und genetischer Intensitätsdifferenzen, die sich in den empirischen, ausgedehnten und raumzeitlichen Entitäten sowie deren Qualitäten entfalten, ohne je in ihnen ausgeglichen zu werden. Die Kontraktions- und Empfi ndungsfähigkeit des Seins gründet auf diesen intensiven Potentialen, die in der Welt der qualifi zierten Ausdehnung kaum empfi nd- und erkennbar sind bzw. durch die entfalteten Ausdehnungen und konstituierten Qualitäten verdeckt werden. So entspringen Empfi ndungs- und Wahrnehmungsf ähigkeit der Konfrontation mit dem, was in seiner reinen Differentialität empirisch nicht empfunden werden kann, ergo unsinnlich ist, gleichzeitig aber das bildet, was in den dynamischen Ausfaltungs- und Explikationsprozessen in der Materie und deren Qualitäten nur empfunden werden kann. Deleuze spricht deshalb von den Intensitätsdifferenzen nicht als aisthêton (Empfundenes, Wahrgenommenes), sondern als aisthêteon (Zuempfi ndendes, Wahrzunehmendes) (vgl. DW, 182). Die Intensität übersteigt die Sinne und die Sinnesdaten auf das hin, was ihnen in empirischer Hinsicht nicht zugänglich ist. Sie bildet die transzendentale Grenze der Sinnlichkeit, an der diese zur Ausübung »genötigt« (DW, 188) wird einem Objekt gegenüber, das sie kaum zu erfassen vermag. Denn die Intensitätsdifferenzen verwirren aufgrund ihres Dynamismus variierender Übergänge die Sinne, machen sie perplex und lassen sie so erst empfi nden, um in der Folge »das Gedächtnis wach[zu]rüttel[n] und das Denken [zu] erzwing[en]« (DW, 299). Deleuze erinnert an Platons Bestimmung der Gegenstände, deren Wahrnehmung die Empfi ndung herausfordern, weil sie sich in Übergängen von weniger zu mehr, kleiner zu größer, weicher zu härter und umgekehrt befi nden, d. h. »in die Sinne f[allen] zugleich mit [ihrem] Gegenteil«7: 7
184.
Platon, »Politeia«, VII, 524 d, in: Sämtliche Werke, Band 2, Reinbek 302004, 431. Vgl. DW,
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Man wird größer, als man war, aber auch zugleich kleiner, als man wird.8 Nur in paradoxalen und alogischen Überforderungen solcher Art kommen Deleuze zufolge die Vermögen in Gang. Anders als in der kantischen Rekognition agieren sie weder harmonisch noch gemeinsinnig, um ein identisches Objekt zu reproduzieren, das zugleich vorgestellt, erinnert und begriffen werden könnte. Sie entspringen einer schockhaften und überfordernden Konfrontation mit dem Unempfi ndbaren, Unerinnerbaren und Undenkbaren und imaginieren jeweils anders als sie erinnern oder begreifen. Sie heben mit einer gewaltigen Distorsion der Empfi ndungsfähigkeit an, die Deleuze im Kontext eines höheren oder transzendentalen Empirismus mit der Schwindelerfahrung, der Pharmakodynamik und dem Drogenkonsum gleichstellt (vgl. DW, 300). Dem Sinnlichen kommt dabei das Privileg eines Quasiursprungs zu, weil hier das, was (als Unempfi ndbares) zur Empfi ndung zwingt, und das, was nur empfunden werden kann, ein und dasselbe sind – nämlich jenes die Sinnlichkeit (Fähigkeit) und das sinnlich Gegebene (Dinge, Qualitäten) generierende Sein des Sinnlichen. Dass das Intensive Empfi ndung und Empfundenes zugleich generiert und übersteigt, ist Kennzeichen eines Vitalismus, der die Spannung zwischen Lebenspotenzial und Lebensform nicht einfach in der Destruktion des Geformten engführt, um die Schöpferkraft des Lebens auf Kosten der individuellen Lebensformen zu bejahen, wie es in der lebensphilosophischen Tradition seit Schopenhauer so oft der Fall war. Im Gegenteil, Deleuze zielt auf außerordentliche Empfi ndungen, unerwartete Erfi ndungen sowie nicht auf Ziele und Zwecke fi xierte politische Handlungen, die sich im Überstieg der Lebensformen (und nicht in ihrer Zertrümmerung) ereignen. Er spricht vom »Zu-Grunde-Gehen« (DW, 364) der Formen im Sinne ihrer Öff nung auf eine ungeformte Differentialität, die in den Formen eingefaltet ist und diese umhüllt. Anvisiert wird der Schnittpunkt zwischen dem Leben und den Lebensformen, zwischen intensiver Differentialität und raumzeitlicher Differenzierung. Anvisiert wird die Schwelle, wo Leben und Lebensform in etwas, das Deleuze »ein Leben« 9 nennt, »ihre gemeinsame effektive Wirklichkeit«10 haben. Diese Affi rmation des Unpersönlichen in unseren Leben beschreibt Deleuze als eskalatorischen Überstieg vom Narzissmus der Selbstsensibilisierungen über die erotische Besetzung zeitlicher Begehrens- und Erinnerungsobjekte hin zur desexualisierten Kälte eines Denkens ohne Ziel und Subjekt. Hier zeichnet sich eine extreme Individuation kopfloser oder »azephalischer«11 Individuierung ab, wie Lacan gesagt hätte, die nicht vor katastrophalen Stürzen gesichert ist und dennoch bejaht wird, weswegen sie unauflösbar mit politischen Fragen verbunden ist. Vgl. auch G. Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt/M. 1993, 15‒18. Vgl. G. Deleuze, »Die Immanenz: ein Leben«, in: ders., Schizophrenie & Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975-1995, Frankfurt/M., 365‒370. 10 F. Worms, Über Leben, Berlin 2013, 118. 8 9
11 J. Lacan, Die vier Grundbegriff e der Psychoanalyse, Das Seminar, Buch XI, Weinheim, Berlin 41996, 189. In der deutschen Übersetzung ist sujet acéphale als »Subjekt ohne Kopf« übersetzt worden.
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Für Badiou ist diese vitalistische Immanenz von Sein und Ereignis, Werden und Wendung, Individuation und Außerordentlichkeit unannehmbar. Der veranschlagte Kontinuitätszusammenhang von biopsychischer Sensibilisierung und Extremwerten künstlerischer, geistiger oder politischer Individuierung ist mit seinem auf einem antinatürlichen Heroismus basierenden Denkapparat inkompatibel. Wo Deleuzes Ontologie auf einer Theorie positiver Intensitätsdifferenz gründet, deren Individuation mit heterogenetischer Selbstempfi ndsamkeit anhebt, da zielt Badiou in umgekehrter Begriffl ichkeit auf ein durch Leere und Entzug charakterisiertes Sein unendlicher Mannigfaltigkeit. Wie bei Deleuze ist dieses Sein transzendental unsinnlich, aber nicht aufgrund der Varietät genetischer Differentialität, sondern der Entzogenheit subtraktiver Differentialität. Statt auf eine vitalistische Tradition stoßen wir auf eine in letzter Instanz mit der negativen Theologie kommunizierende Metaontologie, in der das Ereignis als Grundloses und Überzähliges ohne Bedingungen auskommt. Einmal ist das Sein intensiv und ausdrückend, eine paradoxale selbstempfi ndsame Heterogenität, das andere Mal leer und subtrahierend, eine indifferente entzogene Inkonsistenz. Einmal ist Implikation die leitende Kategorie, das andere Mal Inexistenz. Einmal ist die Individuation des Denkens mit dem Denken der Individuation verschränkt. Das andere Mal zerstört das Denken die Individuation, um einem unsinnlichen Körper der Wahrheit Raum zu geben. Diese Uneinigkeit, was unter Sein und Ereignis zu verstehen ist, erhält umso größeres Gewicht, berücksichtigt man die polemische Nähe, die Badiou Deleuze gegenüber seit den 1980er Jahren gesucht hat. Als er von einer Dialektik der Zerstörung, wie sie in Theorie des Subjekts umrissen wird, zu einer Metaontologie des Ereignisses übergeht, sieht er sich nach Jahren intellektueller Feindseligkeit in intimer Weise Deleuze verpfl ichtet, der »als erster wirklich begriffen ha[be], dass eine zeitgenössische Metaphysik aus einer Theorie der Mannigfaltigkeit und einer Affi rmation der Singularität zu bestehen hat«.12 Auf dieses Bekenntnis lässt Badiou eine Serie antideleuzianischer Konklusionen folgen, in denen das Un/Sinnliche entlang der Begriffe der Leere (Fehlen des Einen) und der bedingungslosen Ausnahme (sich selbst zugehöriges Ereignis, das ohne sinnliche Genese auskommt) bis zur Unkenntlichkeit umgewertet wird. Gucken wir also genauer hin: Wie lässt sich ein Ereignis denken und in welcher Zeit?
A. Badiou, »One, Multiple, Multiplicities«, in: ders., Theoretical Writings, London, New York 2004, 68. 12
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II. Badiou – Die Gnade des Ereignisses A. Von minimalem Marxismus zur Metaontologie des Ereignisses In zwei Anfang der 1980er Jahre auf Einladung von Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe gehaltenen Vorträgen verwirft Badiou die Marx’sche Verbindung von Ökonomiekritik und Revolutionstheorie.13 Statt sich mit den quasiobjektiven Verwertungsmechanismen und zeitlichen Herrschaftsformen des Kapitals zu beschäftigen, müsse sich das politische Denken mit der Entbindung (anstelle des sozialen Bands), mit der Maßlosigkeit des sozialen Schnitts (anstelle des Maßes gesellschaftlicher Verhältnisse) auseinandersetzen. Unter Bezug auf Martin Heideggers »Verwindung«14 der Metaphysik versucht Badiou, den Marxismus an ruinierter Stätte im Durchgang durch einen alternativen Anfang neu zu beginnen. Dabei behält er von Karl Marx nur eine minimale politische Gründungshypothese zurück, nämlich anhand der Arbeiter- und Handwerkeraufstände im Paris der 1830er und 1840er Jahre die »politische Fähigkeit eines jeden«15 herausgestellt zu haben, die »inegalitäre Anmaßung«16 der Gesellschaft beenden zu können. Diese Fähigkeit zur Politik kann sich nicht »von der Ordnung ableiten, die sie überschreitet«17, d. h. ihre Basis nicht in der Kritik der politischen Ökonomie fi nden. Diesen kaum erkennbaren Marxismus entwickelt Badiou im Zusammenhang einer neuen Ontologie unendlicher Vielheiten und einer Metaontologie des Ereignisses. Angeregt durch Jacques Derridas Kritiken an den präsenzmetaphysischen Restbeständen im Denken von Edmund Husserl und Martin Heidegger konzipiert er in Das Sein und das Ereignis eine aufs Äußerste gesteigerte antiphänomenologische Ontologie, in der sich das Sein nicht offenbart und grundlegend unzugänglich bleibt.18 Als reine unendliche Mannigfaltigkeit von Mannigfaltigkeiten ist es ohne Substanz, Festigkeit oder inneren Sinn. Badiou erweist sich hier als extremer Denker eines neutralen Seins, das unsinnlich, ungebunden und delokalisiert ist. Die ontologische Gründungsaussage, mit der er Das Sein und das Ereignis eröff net, bestreitet dementsprechend die kanonischen Anfänge der westlichen Philosophie im platonischen Parmenides und lautet: »Das Eins ist nicht.«19 Die Aufgabe der Ontologie besteht für Badiou darin, die Darstellung dieses inkonsistenten und an sich undarstellbaren Vgl. A. Badiou, Ist Politik denkbar?, Berlin 2010, 15‒30. Vgl. M. Heidegger, »Überwindung der Metaphysik«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 112009, 68. 15 Vgl. La distance politique, Heft vom 28.05.1998, 3. La distance politique ist die Zeitschrift der Organisation politique, einer kleinen postmaoistischen Gruppe, der unter anderem Alain Badiou, Sylvain Lazarus, Natacha Michel angehören. 16 A. Badiou, »Die Politik als Wahrheitsprozedur«, in; ders., Über Metapolitik, Berlin, Zürich 2003, 160. 17 A. Badiou, Ist Politik denkbar?, 28. 18 Vgl. Ray Brassiers Badiourezeption in Nihil Unbound. Enlightenment and Extinction (New York 2010, 97-117), die die hier vorliegende Argumentation inspiriert. 19 A. Badiou, Das Sein und das Ereignis [im Folgenden SE], Berlin 2005, 37. 13
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Mannigfaltigen zu erfassen, ohne es zu Einem zu machen, als Eins zu zählen oder begriffl ich zu defi nieren, da bereits die begriffl iche Vereinheitlichung die Vielheitlichkeit des Seins leugnen würde. Das Gleiche gilt für die Bestimmung der ontologischen Vorgehensweise selbst. Würde die Ontologie sagen – »ich akzeptiere nur die reine Mannigfaltigkeit« (SE, 44) –, gäbe sie sich ein eindeutiges Merkmal, »die Defi nition dessen, was sie ist« (SE, 44), wodurch sie selbst als Eins gezählt werden müsste. Badiou fragt deshalb, ob es ein Verfahren gibt, das in der Darstellung dessen, was sich als unendliche Mannigfaltigkeit darbietet, implizit vorgeht, ohne einen Begriff des Dargestellten vorzulegen? Seine Antwort ist positiv: Dieses Verfahren, das auf einem »System von Axiomen« (SE, 44) beruhen muss, fi ndet sich in der Mathematik. Die Mengenlehre Georg Cantors und ihre axiomatische Ausarbeitung durch Ernst Zermelo und Abraham Adolf Fraenkel erfüllt die entsprechenden Anforderungen einer rein impliziten ontologischen Vorgehensweise, die nicht begriffl ich benennt, worauf sie angewendet wird. Alle Terme werden hier kompositionell und nichtbegriffl ich erfasst: Jede Zusammensetzung, die die Regeln verletzt, ist verboten. Alles, was durch die Regeln erlaubt ist, ist vorgeschrieben. So werden Mannigfaltigkeiten von Mannigfaltigkeiten durch Zugehörigkeitssymbole zu einer Menge festgelegt. Zu sein, heißt einer Menge zuzugehören. Alles, was zugehört, ist selber eine Menge, und jede Menge wird in Funktion von Zugehörigkeiten bestimmt. Da Badiou davon ausgeht, dass jeder Zugang zum Sein durch Darstellung stattfi ndet und Darstellung immer Darstellung von etwas ist, beschäftigt sich seine Ontologie mit der Darstellung der Darstellung. Er begreift sie als eine Situation, in der die Darstellung undarstellbaren oder inkonsistenten Seins mathematisch präsentiert wird. Inkonsistent ist das Sein für Badiou, weil es reine »Vielheit-ohne-Eins« (SE, 52) ist, reines Nichtsein des Einen. Es manifestiert den von Platon ins Phantasmatische verbannten »Traum einer grenzenlos verzweigten Vielheit« (SE, 52), der in normalen Situationen stets zugunsten einer konsistenten Ordnung unterdrückt wird, in der alle Entitäten als Eins wahrgenommen werden. Badiou betont dementsprechend, dass in allen beliebigen nichtontologischen Situationen der symbolische Zugang zum Sein über Vereinheitlichung und Zählung-als-Eins funktioniert, das heißt über eine Rechenoperation, die das Vielheitliche konsistent macht, so dass es als existierende Einheit empfi nd- und ansprechbar und seine Inkonsistenz unterdrückt wird. Wo Platon im Parmenides schlussfolgert, »›[w]enn Eins nicht ist, dann ist Nichts‹«,20 erklärt Badiou in umgekehrter Bewahrheitung dieser Diagnose, dass das Sein das Sein dieses Nichts ist. Nicht nichts ist, sondern das Nichts ist. Dementsprechend ist das Sein das Sein der Leere. Statt des alten Gegensatzes Eins/Viele wird hier der nihilistische »Seinspunkt des Nichts« (SE, 51) ins Zentrum gerückt und damit die Leere als »Korrelat jener unbegrenzten bzw. inkonsistenten Vielheit […], deren nichtseiendes Eins [Platons] Traum auslöste« (SE, 51). Es läge nahe
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Platon, »Parmenides«, 165e, zitiert nach SE, 51.
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hier die transzendentale Unterscheidung zwischen den formalen Eigenschaften des Seins, die für das Denken oder für uns gelten, und dem Ding an sich, das vom Denken unabhängig ist, wiederzuerkennen.21 Aber das ist unzutreffend. Der Clou von Badious mathematischer Ontologie besteht im Aufweis, dass der Riss zwischen Struktur und Sein, zwischen vereinheitlichender Darstellung und Nichtdarstellbarkeit des Seins auf eine darunter liegende Ununterscheidbarkeit verweist: Die mathematische Ontologie ermöglicht zu zeigen, dass die Inkonsistenz der Struktur mit der Inexistenz dessen, was inkonsistent ist (dem rein manngifaltigen Sein), zusammenfällt. Das Verfahren der Zählung, das die Dinge darstellbar macht, ist ununterscheidbar von der ontologischen Inkonsistenz, deren Darstellung es unterdrückt. Der Zirkel der ontologischen Darstellung besteht darin, das Sein der Vielheit »durch Konsistenzsetzung jeder Inkonsistenz und [durch] die Inkonsistenz jeder Konsistenz« zu erfassen: »So dekonstruiert sie jeglichen Effekt des Eins, in der Treue zu dessen Nicht-Sein […]« (SE, 45). Zusammengefasst lässt sich über Badious Ausgangsproblem sagen, dass die Darstellung des Seins in Eins-Entitäten das Resultat einer Operation bildet, die sich ontologisch verrechnet. Sie unterdrückt die Inkonsistenz und spaltet die unendliche Mannigfaltigkeit von Mannigfaltigkeiten in konsistente und inkonsistente Vielheiten auf. Dadurch entsteht ein nichtpräsentierter Rest, der in die Struktur nicht hineinpasst und diese sowohl gründet als auch bedroht. Was die Ontologie zur Darstellung bringt, ist also, dass das Nichtsein der Eins, der bloß gesetzeslogische Status der Struktur, in letzter Instanz mit dem Nichtssein der inkonsistenten Vielheitlichkeit koinzidiert. Deshalb ist die Leere der eigentliche »Eigenname des Seins« (SE, 69). In der Logik der Struktur inexistent, unempfi ndbar und unpräsentierbar, garantiert die Leere, dass die Vielheiten als intelligible und zählbare Entitäten behandelt werden können, während sie zugleich diese Behandlung bedroht. Es handelt sich um kein bloßes »Nicht-Sein«, sondern um das »Sein des Nichts« (SE, 70), die »subtraktive Seite der Zählung« (SE, 72), die das Unempfi ndbare und Unsymbolisierbare des Seins registriert, ohne es auszudrücken. Die »illegale Inkonsistenz« (SE, 70) des Seins bezeugend bildet die Leere die negative Bedingung seiner Darstellung. Badious Kausalität des Inexistenten basiert in einem umgekehrten Platonismus auf der causa errante, der Irrlinie, der umherirrenden oder »umgetriebenen Ursache« (SE, 70) Platons, die den Subtraktionsüberschuss des Seins bildet, welcher die Leere selbst ist. Wo Deleuzes Temporalisierung mit elementaren Selbstsensibilisierungen einer Materie einsetzt, die zeitliche Differenzen einschließt, spricht Badiou eine creatio ex nihilo an: der Seinspunkt des Leeren, der mit dem bedingungslosen Einbruch eines Ereignisses korreliert ist.
21
Vgl. Brassier, Nihil Unbound, 101.
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B. Verneinung der Zugehörigkeit, Bejahung der Inexistenz Um in der Struktur das Fehlen des Einen aufzuheben und die Gefahr der umherirrenden Leere zu bannen, wird Badiou zufolge jede Zählung-als-Eins in ontologischen Situationen verdoppelt. Alles Als-Eins-Dargestellte wird noch einmal gezählt (vgl. SE, 113). Die Struktur wird um eine »Metastruktur« oder »Verfassung« (SE, 113) ergänzt. Badiou führt in diesem Zusammenhang eine Reihe mengentheoretischer Formalisierungen an, auf die ich nur kurz und beispielhaft eingehe.22 Die Logik der zweiten Zählung erklärt er mit Verweis auf das Potenzmengenaxiom bei Fraenkel und Zermelo, demzufolge es für jede Menge α eine Menge gibt, die alle Untermengen von α enthält. Besteht α aus den Elementen 1, 2, 3, besteht die Potenzmenge aus den Teilmengen {(1), (2), (3), (1,2) (1,3) (2,3) (1,2,3) ()}. Neben der Zugehörigkeit von Elementen zu einer Menge kommt ein zweiter Beziehungstyp ins Spiel, nämlich der Einschluss von Teilmengen in eine Potenzmenge. Die Menge der Teilmengen ist offensichtlich größer als die Ausgangsmenge. Keine Menge α kann mit ihrer Potenzmenge zusammenfallen. Jede Potenzmenge weist gegenüber ihrer Ausgangsmenge zumindest ein überzähliges Element auf, das von Badiou als »Exzesspunkt« bezeichnet wird: »[K]eine Vielheit ist in der Lage aus allem, was sie einschließt, Eins zu machen. […] Der Einschluss [oder die Metastruktur] schießt unausweichlich über die Zugehörigkeit hinaus.« (SE, 105) Aufgrund dieser Selbstabweichung der Struktur, die in ihrem zweiten Strukturierungsverfahren Inkonsistenz herstellt, ist die Struktur für Badiou mit dem Sein vernäht. Das Nichtssein der inkonsistenten Mannigfaltigkeiten drückt nicht nur den Spalt zwischen vereinheitlichender Präsentation (Zählung-als-Eins, Strukturierung) und der Grundlage der Präsentation (Vielheit-ohne-Eins) aus, sondern auch die interne Inkonsistenz der Metastruktur. Darüber hinaus problematisiert Badiou mit dem Trennungsaxiom, dass jede Menge eine vorausgehende Menge voraussetzt. Um einen infi niten Regress zu verhindern, wird eine ursprüngliche Menge angenommen, deren Existenz die Voraussetzung für jede folgende ist. Bei ihr handelt es sich um die leere Menge ѫ bzw. um die Menge, der nichts zugehört. Badiou bejaht hier das Nichtssein der Zugehörigkeit als das, zu dem keine Zugehörigkeit gehört. Ray Brassier zufolge basiert sein ontologischer Diskurs auf einer Verneinung der Zugehörigkeit, die einer Bejahung des Nichtzugehörens oder Inexistenten entspricht.23
22 Vgl. E. Palmetshofer, Theologie und die Realisierung des Begehrens – Lacan, Žižek, Badiou und die Ethik des Realen, Diplomarbeit, Universität Wien. http://othes.univie.ac.at/2871/1/2008-1001_9709139.pdf [aufgerufen am 10.10.2017]. 23 Vgl. Brassier, Nihil Unbound, 104; SE, 84‒87.
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C. Bekenntnis zum Ereignis Von dieser antiphänomenologischen Darstellung aus, in der die Entfaltung der Struktur mit ihrem Entzug zusammenfällt, entwirft Badiou eine metaontologische Theorie des Ereignisses, die sich auf geschichtliche Situationen bezieht. Von mathematischer Formalisierung geht er zu politischer Spekulation über. Das Resultat der zweiten Zählung wird nun nicht mehr als Metastruktur, sondern als »Repräsentation« oder »Staat« (SE, 123 ff.) der Struktur bezeichnet. Die etymologische Nähe zum Begriff des Staatsapparats ist gewollt. Die Unterscheidung von Präsentation und Repräsentation wird mit einer Staatstheorie kombiniert, die verglichen mit den Ansätzen von Poulantzas oder Jessop recht reduktiv ausfällt. Die »marxistische Aussage« (SE, 125), dass der Staat stets »der Staat der herrschenden Klasse« 24 sei, sieht Badiou in der zweiten Zählung bestätigt: Er erkennt im Staat eine Zähloperation, die »die unmittelbare soziale Verbindung« (SE, 126) der Elemente einer Gesellschaft durch fortgesetztes Durchzählen, Ein- und Zuteilen leistet. Der Staat wird auf ein Rechenverfahren verkleinert, das die »universale Rückversicherung der Eins« (Se, 126) garantiert. Badiou geht u. a. von folgendem Szenario aus: Es gibt Personen (Handlungen), die nach der ersten Zählung einer gesellschaftlichen Situation zugehören, nach der zweiten Zählung aber nicht in ihr eingeschlossen sind. Sie sind präsentiert, aber nicht repräsentiert. Sie sind Elemente der Situation (zugehörig), »aber keine Teile« (SE, 200) (nicht eingeschlossen). Während »normale« und »beständige« Mannigfaltigkeiten präsentiert und repräsentiert werden, bezeichnet Badiou nichtrepräsentierte Mannigfaltigkeiten als »singuläre« (SE, 119) Entitäten. Er gibt das Beispiel einer Familie, in der ein Mitglied im Untergrund lebt oder – angeregt von den Streiks bei Talbot Poissy 1984 – von radikalen Fabrikaktivist/innen, die dem Raum der Fabrik zugehören, in der Logik der Tarifverhandlung aber nicht eingeschlossen sind.25 Zugehörig, ohne repräsentiert zu sein, bilden diese Personen (Handlungen) ausnahmelogische Entitäten, die die Stätte eines kommenden Ereignisses darstellen können. Das Omnipräsentwerden derartiger Singularitäten bereitet den Einbruch des Geschichtlichen oder Ereignishaften vor, während das staatliche Sein durch eine Omnipräsenz des Beständigen, also durch Ahistorizität geprägt ist. Das Ereignis ist dennoch durch seine Stätte nicht zureichend bestimmt. Trotz hoher Singularisierung gesellschaftlicher Positionen kann ein Ereignis ausbleiben, weil Politik Kontingenz, vor allem in Form mangelnder Konsequenz einschließt. Tritt ein Ereignis ein, versammelt es die Elemente der Stätte und sich selbst zu einer »Eins-Vielheit«, indem »das Bewusstsein der Zeit – und der rückwirkende Eingriff unseres Bewusstseins – die gesamte Stätte 24 SE, 124. Vgl. F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MarxEngels-Werke, Band 21, Berlin 51975, 170. 25 Vgl. SE, 200, sowie ders., »The Factory as Event Site. Why Should the Worker Be a Reference in Our Vision of Politics«, in: Prelom, Heft 8 (2006), 174, und ders., Ist Politik denkbar?, 83‒89.
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durch das Eins ihrer ereignishaften Qualifi zierung fi ltert« (SE, 207). Aufgrund dieser ausnahmelogischen Selbstpräsentation und Selbstzugehörigkeit des Ereignisses, das eine Synthetisierung der mannigfaltigen Spuren, Personen, Handlungen der Stätte zu leisten vermag, bezeichnet Badiou das Ereignis als »Ultra-Eins« (SE, 209). Es steht jenseits der ontologischen und der sozio-symbolischen Gesetze und bildet eine nach den Regeln der Mengenlehre unmögliche, sich selbst zugehörige Menge. Es impliziert einen Bruch mit »der Autorität der mathematischen Gesetze des Seins« und den Strukturlogiken der Welten. Es schaff t »Ausnahmen vom Werden« (LW, 410 f.) Das Ereignis selbst ist deshalb ein »zeitloser Augenblick«, ein »trennendes Verschwindendes«, das zwischen Vergangenheit und Zukunft stehend »den früheren Zustand eines Objekts von seinem folgenden trennt« (LW, 410). Als Riss in der Zeit wird es unerkannt verschwinden, solange sich Subjekte nicht zu ihm bekennen. Da die mit dem Ereignis verbundene Wahrheit mathematisch nicht erfasst werden kann, steht sie den Subjekten nicht in Wissensform zur Verfügung. Die Wahrheit ist Badiou zufolge »translogisch« (LW, 541), so dass das Bekenntnis auf Wagnis, nicht auf Wissen beruht. Badiou greift hier die cartesische Unterscheidung zwischen einer Transzendenzbeziehung zum Wahren (Unendlichen, Antinatürlichen, Äquivoken) und einer Immanenzbeziehung zum Objektiven (Beständigen, Natürlichen, Qualifi zierbaren) auf. Wie Descartes rückt er das Subjekt an die Stelle, an der sich der unbestimmte Bereich menschlicher Freiheit (Entscheidung) vom determinierten Bereich der Naturverhältnisse spaltet. In Nancys Worten: das Subjekt steht zwischen der »Sache des Wissens« und dem »Wissen dieser Sache« 26 an der Grenze, an der Akt und Inhalt auseinanderklaffen. Als die Kluft selbst erfährt sich das Subjekt auf ein Ereignis bezogen, das aus dem Bereich des Wissens herausragt. Es kann zu dessen Unentscheidbarkeit und Unobjektivierbarkeit keine vollständige Beziehung aufnehmen, so dass es retroaktiv von ihm verunvollständigt wird. So bleibt das Ereignis selbst der Erfahrung entzogen. Unsinnlich, unerkennbar und gesetzlos stellt es in seiner ontologischen Grundlosigkeit eine »transzendentale Diskontinuität« (SE, 414) dar, die mit der Individuation des Lebens bricht, das Badiou in biologischer, sinnlicher und symbolischer Hinsicht durch Überlebenwollen determiniert. Fassen wir noch einmal zusammen: In Das Sein und das Ereignis verbindet Badiou eine ontologische Reflexion über die Darstellung der Seinsdarstellung mit einer politischen Reflexion über geschichtliche Situationen, in denen ein Ereignis das Gesetz der Eins und der Repräsentation der Zählung unterbricht. Von einer mathematisch formalisierten Spekulation über die subtraktive Gestalt des Nichtsseins springt Badiou in eine politische Metaontologie, die sich mit dem Ereigniseinbruch beschäftigt. Werden ontologische Situationen in die Inkonsistenz der Leere und die Affi rmation der Nichtzugehörigkeit entgründet, steht in geschichtlichen Situationen eine andere Inkonsistenz auf dem Spiel, die nicht mehr die Leere des
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J.-L. Nancy, Ego sum, Zürich, Berlin 2014, 20.
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Seins, sondern die Einheit des Sozialen betrifft. Wie Ray Brassier erklärt, kommt es im Übergang von einem Inkonsistenztypus zum anderen zu einer idealen, nur auf einer Denkannahme begründeten Umkehrbewegung zwischen mathematischer Ontologie und politischer Ereignislehre: Von einem »immanenten Einschnitt in der ontologischen Darstellung« springt Badiou zu einer »transzendenten Unterbrechung der […] [gesellschaftlichen] Konsistenz«. Das Ereignis wird mit einem bombastischen Surplus an Kausalitätsmacht ausgestattet, die »unkalkulierbar, unverifi zierbar, unobjektivierbar« 27 ist. Unempfi ndbar, unentscheidbar und überzählig, ist es objektiv nicht beweisbar. Es ist weder vorgeschrieben noch verboten. Nur durch Wahl und Bekenntnis kann eine Beziehung zu ihm gelingen. Dabei fährt Badiou das Subjekt in den Bereich eines anti-naturalistischen und anti-sinnlichen Heroismus ein. Anders als bei Jacques Lacan, dessen Cartesianismus des Seminars XI Badiou hier aufgreift, wird das Subjekt nicht mit der Leere des Seins, sondern mit dem Einbruch eines Ereignisses verbunden. Statt eine Funktion des Unbewussten zu bilden, das als Korrelat zum Unsinn in der Existenz auf- und abtaucht, manifestiert das Subjekt die Konsistenz einer ereignislogischen Unterbrechung. Es bildet eine seltene, metastrukturale Instanz, die vom »Vorkommen des Ereignisses abhängig« (SE, 483) ist und dieses in seiner ewigen Dimension bewahrheitet. Damit widerspricht Badiou der Lacan’schen Einsicht, dass die Wahrheit wie eine Fiktion strukturiert sei, und das Subjekt nicht das Gegenteil der Natur, sondern eine ihr »völlig inhärente Spannung« 28 darstelle. Als Bekenntnishandlung wird die Treue von Verkehrungen gereinigt. Ihr kann es nur an unzureichender Konsequenz oder Verknüpfung mangeln. Scheitern oder reaktionäre Wendungen gehören nicht ihrer Aktivität, sondern ihrem Auf hören an.29 Das Bekenntnis bildet einen ethischen Unterscheidungsoperator, der Handlungen, die mit der Logik des Ereignisses nicht verknüpf bar sind, von denen trennt, die dem Ereignis zugehören. Die Politik kommt hier ohne sinnliche und affektive Genese aus und basiert auf einer zweiwertigen Logik des Nicht – Sondern, die im Milieu der Entscheidung verankert ist. Mit der Hypothese vom Nichtfehlgehenkönnen von Treue und Ereignis erreicht Badiou eine ungekannte Tautologisierung des politischen Akts, der von den heteronomen Bedingungen, unter denen er agiert, nicht markiert ist. Die Konstitution des Politischen wird im Bereich existenzialer Tugenden wie der Entschlossenheit versammelt. Hier soll ein »neue[r] Heroismus« der Politik entstehen, der sich nicht allein durch Opfer oder Askese, sondern durch die »Freude« (LW, 542) rechtfertigen will, für eine Idee den Sprung in ein anderes Leben zu wagen, das mit den Gesetzen des Überlebens, des Sinnlichen und der Bedürfnisse bricht. Welche Modifi kationen die Kräfteverhältnisse durchlaufen können, auf denen dieser Sprung basiert, davon schweigt Badiou. Wie die Freiheit bei Sartre Brassier, Nihil Unbound, 113. S. Žižek, Die Tücke des Subjekts, Frankfurt/M. 2001, 217, Fußnote 39. 29 Vg. A. Badiou, »Die Politik als Denken. Das Werk von Sylvain Lazarus«, in ders., Über Metapolitik, 60. 27
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triff t das Ereignis die Subjekte, die es empfangen, »wie ein Blitz.« 30 Und wie bei jedem Gnadenerlebnis stellt die Bezeugung, die auf diesen Blitz folgt, eine Wette dar, an deren Einsatz man glauben muss, während die Kräfteverhältnisse, die ihn tragen, aus dem Blick geraten.
III. Deleuze – Apokalyptische Individuation A. Kant mit Bergson: Materie-Zeit-Synthesen In Was ist Philosophie? erklären Deleuze und Félix Guattari, dass Badiou mit der Kopplung von Leere und Ereignis, Subtraktion und Ultra-Eins eine »ImmanenzKonversion« leistet, die den »Überschuss ins Leere« umkehrt, um von dort aus das »Transzendente« wieder einzuführen. Mitten in der »DER Wahrheit« des Inexistenten lasse sich über die Zugehörigkeit des Ereignisses zur Situation nichts aussagen, so dass das »Machen des Ereignisses« (WP, 177) in der Kontingenz verschwinde statt in ihr aufzutauchen. Während Badious Ontologie auf die causa errante des Leeren ausgerichtet ist, die mit dem Einbruch eines überzähligen Ereignisses kommuniziert, verfasst Deleuze, vor allem in Differenz und Wiederholung, eine Theorie ursprünglicher Differentiation, die im »Machen des Ereignisses« kein Anders-als-das-Sein kennt, da das Sein selbst anders in sich ist. Es sagt sich von reiner Differentialität aus und ist weder durch das Prinzip des Einen (Ultra-Eins) noch durch das Prinzip seines Fehlens (Inkonsistenz) bestimmt. Kants erste Kritik unter dem Eindruck von Bergsons Materie und Gedächtnis umschreibend, entwickelt Deleuze in Differenz und Wiederholung in einem dichten, Die Wiederholung für sich selbst betitelten Kapitel eine verschränkte Individuation von Materie, Psyche und Denken, die ihn als Autor einer transzendentalen Aisthesiologie ausweist. Ausgehend von elementaren Sensibilisierungsprozessen verbindet er drei Synthesen der Zeit mit drei Synthesen des Raums. Die Produktion der Gegenwart ereignet sich im Paradigma der Gewohnheit und der narzisstischen Empfi ndsamkeit, die Produktion der Vergangenheit im Paradigma des Gedächtnisses und der zeitlichen Partialobjekte, die Produktion der Zukunft im Paradigma des Todes und des unpersönlichen, desexualisierten Denkens. Die räumlichen Synthesen ereignen sich in der Form von Explikation, Implikation und Entgründung. In allen Synthesen bricht sich die Differenz in dem Bahn, was sich wiederholt. Anders als bei Badiou sind biologisches Leben, Psyche und Denken nicht voneinander getrennt. Wechselseitig verschränkt gehören sie einer »biopsychischen Individuation« (DW, 130) an, die Deleuze in einer nichtbegriffl ichen Synthese von Sinnlichkeit und Vernunft, Realem und Idealem erfasst. Die kantische Logik der Repräsentation erfährt eine Kritik, in der die vermittelnde Funktion des begriffl ichen Verstandes annulliert wird. Die Transzendentalanalytik wird durch eine Lehre von Materie30
Vgl. J.-P. Sartre, Die Fliegen, Reinbek 1991.
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Zeit-Synthesen ersetzt, in denen die ästhetische Mannigfaltigkeit keiner begrifflichen Subsumption bedarf, da sie »die dialektischen Strukturen idealer Vielheit«31 impliziert. Ausgangspunkt und Schlüssel ist die Theorie intensiver Differenz, mit der Deleuze der Neutralisierung der Intensität in der westlichen Philosophie entgegentritt. Statt von der Konversion intensiver in extensive Quantitäten und schließlich in Qualitäten auszugehen, unterstellt er eine Ordnung der Implikation, in der intensive Quantitäten als reine unausgedehnte Differentialverhältnisse sich in der Ausdehnung entfalten, ohne in ihr ausgeglichen zu werden. Die Intensität präsentiert, was es an Unauf hebbarem im Quantitativen gibt und damit die der Quantität eigene Qualität (vgl. DW, 294). Deleuze verfeinert hier Bergsons Dualismus von Quantität und Qualität, Grad- und Wesensdifferenz, Raum und Zeit, indem er die Koimplikation von Materie und Zeit radikalisiert. Bergson zufolge denken wir so sehr in Mischungen von Zeit und Raum, dass wir ihre unterschiedlichen Mannigfaltigkeitstypen übersehen: Die zeitliche Dauer stellt eine kontinuierliche, der Raum eine diskontinuierliche Mannigfaltigkeit dar. Der Raum ist ein homogenes Medium diskontinuierlicher Schnitte, das durch die Logik von Teilung und Zählung bestimmt ist. Die zeitliche Dauer aber ist an sich heterogen, differentiell und transformativ. Sie ist eine intensive, keine ausgedehnte Größe. Sie kann nicht wie ein Stück Holz in Teile zerlegt werden, deren Natur unverändert bliebe. Mit jedem Schnitt ändert sich die Qualität zeitlicher Dauer, weil sie einer Logik der Kovariation gehorcht. Deleuze betont, dass sich Dauer, Werden, Fluss in der ausgedehnten Materie entfalten, in der sie als präindividuelles Differential zugleich impliziert bleiben. Dabei gilt es zu beachten, dass das »Verhältnis zwischen dem Raum als maximaler Kontraktion zeitlicher Intensität und der Zeit als minimaler Entspannung räumlicher Extensität […] gänzlich der Zeit intern«32 ist. Aufgrund der Unausgleichbarkeit des Intensiven begreift Deleuze das Quantitative nicht als das Mechanische, vor dem das Leben Bergson zufolge zu schützen sei. Gegen dessen Präferierung der Wesensdifferenz (in der Qualität) vor der Graddifferenz (in der Ausdehnung) erkennt Deleuze bei Bergson selbst den Einschluss des Graduellen in die Qualität, denn »[i]m Übergang von einer Qualität zu einer anderen gibt es, selbst bei einem Maximum von Ähnlichkeit oder Kontinuität, Verschiebungs- und Stufenphänomene, Differenzschocks […]« (DW, 302), so dass sich das Graduelle als Wesen der Differenz erweist.
B. Kontemplation und Gewohnheit Von hier aus entwirft Deleuze eine erste Synthese der Zeit, die mit der Kontraktion homogener oder empirischer Wiederholungen im Raum anhebt, welche in einem intensiven Empfi ndungserlebnis zusammengezogen werden. Deleuze 31 32
Brassier, Nihil Unbound, 163. Ebd., 178.
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wählt zwei klassische Beispiele, David Humes Kausalreihen und Bergsons Wiederholungen der schlagenden Uhr. Hume präsentiert eine Wiederholung nach dem Muster AB, AB. Bereits nach der zweiten Wiederholung wird B als Nachfolge eines A erwartet. Die Elemente A und B ändern sich nicht durch ihre Wiederholung. Nichts prädestiniert sie in Serie zu erscheinen. Aber im betrachtenden Geist hat sich etwas verändert. In Form einer Erwartung ist eine Differenz entstanden: Wenn A erscheint, wird B antizipiert (vgl. DW, 99). Die Einbildungskraft hat getrennte Fälle zu einem qualitativen inneren Eindruck zusammengeschmolzen. Eine Gewohnheit ist entstanden, die auf Zusammenziehung von räumlichen Wiederholungen zu einer geistigen Differenz basiert (vgl. DW, 106). Hume spricht vom Geist als Assoziationsmaschine, die eine »bunte Harlekinwelt aus nicht totalisierbaren Fragmenten« 33 durch Relationen verbindet, die den Fragmenten äußerlich bleiben. Eine minimale Strukturierung ereignet sich, in der Sprache der Transzendentalanalytik, eine Synthese. Aber sie wird nicht von einem aktiven Geist erzeugt, sondern bildet sich im Geist als selbstaffi zierende »Betrachtung« (DW, 105) oder Kontemplation, wie Deleuze in neuplatonischer Begriffl ichkeit erklärt. Diese subrepräsentative Gewohnheit »geht jedem Gedächtnis und jeder Reflexion voraus« (DW, 100). Es handelt sich mit Husserl gesprochen um eine passive Synthese, die unterhalb der Schwelle eines reflexiven Bewusstseins verbleibt. Erst eine Gewohnheit entlockt dem homogenen Nacheinander verschwindender Momente das Heterogene der Differenz, d. h. das psychische Erlebnis einer Erinnerung und Erwartung implizierenden Dauer. Diese »gelebte Gegenwart« (DW, 100) hält die Vergangenheit in Form vorangegangener Fälle fest und erschließt die Zukunft qua Erwartung. Vergangenheit und Zukunft sind die Dimensionen einer Gegenwart, die sich zwischen Vergehen und Kommen ausspannt. So richtet sich in der passiven Synthese der »Vektor der Zeit« (DW, 100) aus. Vergangenheit als Retention sowie Zukunft als Erwartung sind der Gegenwart intern. Die Zusammenziehung einer Gegenwartserfahrung präsentiert eine ursprüngliche Wiederholung, die in einem elementaren Bewusstsein verkörpert ist, das weder repräsentierend noch repräsentiert ist, sondern von jeder Repräsentation vorausgesetzt wird. Diese Synthese defi niert Deleuze als Selbstsensibilisierung.34 Hume und Bergson, der in Zeit und Freiheit die Hume’sche Problematik aufgreift, entwerfen sinnliche Synthesen, in denen aus einer Kontraktion augenblicklicher Entitäten ein zeitliches Objekt hervorgeht, das mit einer intentionalen Qualität verknüpft ist. Deleuze aber überschreitet diese sinnlichen Synthesen auf tieferliegende organische und biochemische Synthesen. Er führt »die Sinnlichkeit der Sinne« auf eine »primäre Sinnlichkeit« (DW, 102) von ontologischer Dimension zurück, in deren Selbstsensibilisierungsprozessen die Fähigkeit zur Empfi ndung mit dem Empfundenen erst entsteht. Bis in unsere biochemischen Zusammen33 G. Deleuze, »Hume«, in: ders., Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1973‒1974, Frankfurt/M. 2003, 238. 34 Vgl. Brassier, Nihil Unbound, 175.
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setzungen bilden wir eine »Summe von Kontraktionen, Retentionen und Erwartungen« (DW, 102), in denen sich die Gegenwart zwischen der Vergangenheit des Erbguts und der Zukunft organischer Erwartungen, Bedürfnisse und Triebe zeitigt: »Wir sind Kontraktionen aus Wasser, Erde, Licht und Luft«, schreibt Deleuze, »nicht nur bevor wir diese erkennen und repräsentieren, sondern noch bevor wie sie empfi nden.« (DW 105) Wie in den sinnlichen Synthesen affizieren sich in den organischen Synthesen heterogene Entitäten zu minimal einheitlichen Gefügen: »[M]an […] [kehrt sich dem zu], woraus man hervorgeht.« (DW 105) Es geht nicht um Rezeptivität, sondern um ein sich zusammenziehendes Empfi ndsamsein, aus dem Organismen noch vor der Ausbildung ihrer Empfi ndungen hervorgehen. Immer ist es ein »Dritter« (DW, 106), eine Dritte, die oder der hier ›ich‹ sagt. Heterogenes sensibilisiert sich zu einem minimalen Selbst im Zuge einer elementaren Gewohnheitsbildung: »Die Pfl anze betrachtet, indem sie die Elemente betrachtet, aus denen sie hervorgeht, das Licht, den Kohlenstoff und die Salze, und füllt sich selbst mit Farben und Gerüchen, die jedes Mal ihre Varietät, ihre Komposition bestimmen. Sie ist Empfi ndung an sich.« (WP, 253) In diesen präindividuellen Sensibilisierungen erschaffen sich lokale Ichs, embryonale oder Larvensubjekte, die »unter dem handelnden Ich liegen« als Unsummen von »kleinen Ichs« (DW, 106), von tausenden betrachtenden Zeugen, die Wiederholungen in einer Differenz, d. h. einer Selbstsensibilisierung zusammenziehen und die globaleren Handlungen eines aktiven Subjekts erst ermöglichen. Organische und sinnliche Synthesen greifen Deleuze zufolge ineinander, interferieren, bedingen aktive Synthesen des Gedächtnisses und des Geistes, mit denen sie sich rekombinieren, so dass zwischen biochemischen Kontraktionen und Sensibilisierungen, Gewohnheiten und Bedürfnissen, Trieb- und Lernprozessen, Gedächtnis und Denken komplexe Interferenzmuster zwischen passiven und aktiven Synthesen entstehen (vgl. DW, 103). Wenn Deleuze diese primäre und vitalistische Aisthesiologie biopsychischer Individuation für zutreffender als die Kantische hält, dann aus folgenden Gründen: »Mit der Definition des passiven Ichs durch bloße Rezeptivität gab sich Kant bereits die fertigen Empfi ndungen vor, indem er sie nur auf die Form a priori ihrer als Raum und Zeit bestimmten Repräsentation bezog. Damit vereinheitlichte er nicht nur das passive Ich, indem er es sich versagte, den Raum nach und nach zusammenzusetzen, damit beraubte er nicht nur das passive Ich jeglicher synthetischen Kraft […], sondern er riß überdies die beiden Teile der Ästhetik auseinander, das objektive Element der Empfi ndung, das durch die Form des Raums verbürgt wird, und das subjektive Element, das in Lust und Schmerz verkörpert ist.« (DW, 132) Deleuzes Bestimmung biochemischer und biopsychischer Sensibilisierungen als Teilprozess ontologischer Affi zierungsgeschehen steht nicht nur in Dialog mit Hume und Bergson, sondern auch mit Freud und Lacan.35 Die gewohnheitsgenerierende Kontraktion von Entitäten schaff t eine autistische und ungezielte BeVgl. u. a. M. Ott, »Minimalaktivität. Affi zierungen aus ästhetischer Sicht«, in: Theorien der Passivität, hg. von K. Busch, H. Draxler, Theorien der Passivität, München 2013, 112‒129; 35
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friedigung, die narzisstisch diesseits imaginärer Selbstverkennung ist. Sie drückt eine elementare Lust aus, die Verbindungen und Assoziationen entspringt. All die Kontraktionen vergangener und zukünftiger Gegenwarten in einer Gewohnheit laufen Deleuze zufolge ohne vorgegebenen Plan ab, sie folgen keiner Intention und erfüllen keinen Zweck. Sie prozessieren blind und automatisch, durch nichts motiviert als durch eine »Leidenschaft für Wiederholungen« (DW, 130), eine Passion der Empfi ndungen. Wenn diese Empfi ndungen und Erregungen qua Rekombination Elemente einer neuen Kontraktion werden, bilden sich Freud zufolge Triebstrukturen, in denen die Erregungen rund um Differenzbildungen gebunden werden. Freud geht davon aus, dass der Säugling psychische Gewohnheiten entwickelt, um hohe, disparate Reizmengen zu binden und dadurch Unlust zu vermeiden. Das Lustprinzip kommt unter dem Interesse in Gang, Spannungen abzubauen und Ausgleich zu schaffen. Deleuze aber weigert sich, der präreflexiven, auf Autosensibilisierung beruhenden Gewohnheitsbildung einen transzendenten Zweck zu unterstellen. Wo der Organismus Lust fi ndet, hängt Deleuze zufolge von der habituellen Wiederholung selbst ab. Die Intention, »eine Erregung zu meistern«, ist nicht der Bildungsgrund der Gewohnheit, auch wenn »sie diese Wirkung ha[ben kann]« (DW, 61). Als passive Synthese geht die Gewohnheit dem Lustprinzip voraus. Die Ambivalenz der ersten Synthese der Zeit liegt also darin, dass in das Leben nachträglich ein Prinzip fi ktiver Zweckorientierung eingeschrieben wird, obwohl sich die Lust der Wiederholungen nicht auf die Absicht verkleinern lässt, eine Reizabfuhr zu organisieren (vgl. DW, 131). Deleuze liest Beckett, weil niemand die Tendenz der Menschen, den Stoff der Gewohnheit unter ein aktives Ich zu subsumieren und sich zum fi ktiven Herrn und Meister der Gewohnheiten und Triebe aufzuschwingen, großartiger verschriftlicht hat als Beckett. Er deckt auf, wie die Menschen noch die abseitigsten Gewohnheiten und kuriosesten Ticks als ihr Eigentum inventarisieren: »[D]ie Reihe von Molloys Kieselsteinen, Murphys Keksen, Malones Besitzstücken, immer geht es darum, der Wiederholung der Elemente oder der Organisation der Fälle eine kleine Differenz, eine armselige Allgemeinheit zu entlocken« (DW, 110), die dann von einem aktiven Ich kapitalisiert werden kann. Aber noch die Lächerlichkeit dieser Anmaßung bezeugt die Existenz der passiven Mini- und Larven-Ichs, auf deren Empfi ndungen die handelnden Ichs basieren. Beckett öff net die Gewohnheiten auf die Empfi ndungsfähigkeiten, aus denen sie hervorgegangen sind. Er zielt dabei auf die Grenzen der Synthesen, wenn die Gewohnheiten sich zu erschöpfen beginnen, die Müdigkeiten anheben, wenn man immer schlechter kontrahieren kann und die Sensibilitäten abnehmen, das Ich verrutscht, das Subjekt verfällt. Man wartet ab, die Probleme werden unscharf, die Antworten selten. Die Gegenwart hört auf, ihren Erwartungshorizont zu bedienen. In einem seiner letzten Texte unterscheidet Deleuze Erschöpfung von Müdigkeit. Sich erschöpfen, ja das Leben erschöpfen, heißt Gewohnheiten M. David-Ménard, Deleuze und die Psychoanalyse. Ein Streit, Berlin, Zürich 2009; A. Schuster, The Trouble with Pleasure. Deleuze and Psychoanalysis, Cambridge, London 2016.
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anzunehmen, aus denen sich nichts ergibt: »[M]an ist nicht untätig, man tut etwas, aber zu nichts.« 36 So wie Becketts Murphy, der mit seinen fünf Keksen alle Anordnungsvarianten durchspielt, um die Welt der Möglichkeiten samt ihrer wechselnden Vorlieben und Entscheidungen, ihrer ganzen Vorhaberei zu erschöpfen: »Von diesen Aussichten überwältigt, fiel Murphy vornüber ins Gras neben die Kekse, […] die er jedoch nicht in ihrer Fülle genießen konnte, solange er nicht gelernt hatte, irgendeinen irgendeinem anderen nicht vorzuziehen.« 37
C. Die Paradoxa der Vergangenheit Die Gewohnheitsbildung konstituiert die Zeit in einer Zeit, die selber unkonstituiert ist. Sie hat eine Gegenwart generiert, die als vorübergehende beständig in die Vergangenheit stürzt und die zukünftige Gegenwart qua Erwartung aufruft. Die Annahme aber, dass die Vergangenheit aus dem Vergehen der Gegenwart entsteht, ist Bergson zufolge irreführend. Wenn die Vergangenheit auf eine neue Gegenwart warten müsste, um Vergangenheit zu werden, könnte die alte Vergangenheit nicht vergehen und die neue nicht ankommen.38 Statt die Vergangenheit zwischen zwei Gegenwarten vermitteln zu lassen und die Zeit als Sukzession von Gegenwarten zu denken, erklärt Bergson, dass die Vergangenheit der Gegenwart zeitgleich ist und mit ihr koexistiert. Das ist der Ausgangspunkt für Deleuzes Entwurf einer zweiten Synthese der Zeit: Neben die empirische Vergangenheit (als vorübergegangener Gegenwart) stellt er mit Bergson eine ontologische Vergangenheit, die in ihrer Inaktualität die Voraussetzung aller Zeit bildet. Im strengen Sinne hat sich diese Vergangenheit nie ereignet und ist nie vergangen. Sie existiert nicht, sondern insistiert. Als apriorisches Element aller Zeit präexistiert die reine Vergangenheit vor der vergehenden Gegenwart. Diese Sichtweise umfasst drei Paradoxa, die Deleuze für eine passive Synthese des Gedächtnisses fruchtbar macht, die alle einfachen Analogieschlüsse zwischen dem Vorher und Nachher durchkreuzt: 1. Die Gleichzeitigkeit der Vergangenheit mit der Gegenwart, die sie gewesen ist. 2. Die Koexistenz der Vergangenheit mit der Gegenwart, deren Vergangenheit sie ist. Da die Vergangenheit immer als Ganzes mit jedem Gegenwartsmoment koexistiert, erweist sich jede Gegenwart als der kontrahierteste Punkt der gesamten Vergangenheit. Daraus ergibt sich 3. die Prä-Existenz der Vergangenheit gegenüber der vorübergehenden Gegenwart. Diese paradoxale Vergangenheit gründet die passive Synthese der Gewohnheit und bildet die Voraussetzung für eine aktive Synthese des Gedächtnisses. Sie umfasst auf unterschiedlichsten Ebenen und in unterschiedlichsten Spannungsgraden 36 G. Deleuze, »Erschöpft«, in: S. Beckett, Quadrat, Geister-Trio, …nur noch Gewölk…, Nacht und Träume. Stücke für das Fernsehen, Frankfurt/M. 1996, 53. 37 S. Beckett, Murphy, Werke, Band 3, Romane, Frankfurt/M. 1976, 75. 38 Vgl. G. Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 21997, 77 f.
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die Totalität aller virtuellen Vergangenheitsbeziehungen: »Sie ist [immer] als ganze im Spiel und auf einmal im Vollzug, sie wiederholt sich gleichzeitig auf all den Stockwerken, die sie aufgetürmt hat«, schreibt Deleuze.39 Diese Vergangenheit versorgt die Gegenwart mit der unausgedehnten Tiefe und dem Reichtum akkumulierter Zeitschichten, die in ihrer Differentialität unbestimmt, unentschieden und unaktualisiert sind.40 Diese reine Vergangenheit ist an sich unrepräsentierbar und unerinnerbar. Unser aktives Gedächtnis dringt kaum in sie ein, denn im Bemühen das Vergehen der Gegenwart zu meistern, interpretiert das aktive Gedächtnis die gegenwärtige Gegenwart beständig entlang einer ähnlichen oder gegensätzlichen Erfahrung, die es in einer vergangenen Gegenwart gemacht hat. Das aktive Gedächtnis ist in dieser Hinsicht handlungsorientiert und intentional. Es gehört einem reflektierenden Selbst an und stiftet Vergleichsbeziehungen zwischen früher und heute, indem es Erinnerung und Reflexion, Gedächtnis und Verstand kombiniert. Die aktive Synthese des Gedächtnisses reproduziert eine frühere Gegenwart und reflektiert darin die aktuelle.41 Aber die virtuelle Vergangenheit, in der das Sein in verschiedenen Graden zeitlicher Entspannung und Kontraktion sich an sich selbst bewahrt, konfrontiert das Gedächtnis mit einer unbeherrschbaren Komplexität. Wie das Sein dieser Vergangenheit erleben? Einen Umweg über Marcel Proust einschlagend, nimmt Deleuze die kritische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse wieder auf. Er konzipiert eine unpersönliche, passive, unwillentliche Erinnerung, die Fetzen aus der reinen Vergangenheit reisst, zeitliche Objekte, die mit Partialobjekten gleichzusetzen sind. Auf der konventionellen Zeitschiene sind diese Objekte verschoben. Sie durchkreuzen die subjektiven Repräsentationen, sie unterbrechen die interpretierenden Rückführungen des heute auf das gestern, der »heutigen Lieben auf [die] Kinderlieben« (DW, 118). Die Performativität dieser virtuellen Objekte widerspricht der Idee eines ersten, ursprünglichen oder urverdrängten Terms, der in der Psychoanalyse noch so zentral ist.42 Das passive Gedächtnis ist für Deleuze in einem triebtheoretischen Sinne erotisch und sexuell. Es besetzt wechselnde zeitliche Fragmente einer virtuellen Vergangenheit mit Libidoenergie, ohne sie in die geordneten Abfolgen eines nach imaginärem Sinn suchenden Gegenwartsbewusstseins einzufügen. Dieses Gedächtnis stört das aktive Ich, das seine Erinnerungen teleologischen Imperativen unterstellen will. Der unbewusste Strom der reinen Vergangenheit unterspült die sinnhaften Interpretationen und öff net das Leben aus einer Vergangenheit heraus, die nie gegenwärtig war, auf »Fernwirkungen«, »nicht lokalisierbare Verbindungen«, »objektive Zufälle, Signale und Zeichen, Rollen, die die räumlichen Positionen und zeitlichen Abfolgen transzendieren« (DW, 115). Wenn Swann im ersten Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Combray, den Ort seiner Kindheit wiedererinnert, 39 40 41 42
Ebd., 80. Vgl. ebd., 79. Vgl. Brassier, Nihil Unbound, 176. Vgl. David-Ménard, Deleuze und die Psychoanalyse, 64.
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taucht dieser Ort nicht auf, wie er in der vergangenen Gegenwart war oder heute sein könnte, sondern als »wunderbare Kontaktaufnahme mit einer anderen Welt«: »[U]nd diese Straßen von Combray«, schreibt Proust, »fristen ihr Dasein in einem so entlegenen Teil meines Gedächtnisses, der mit so anderen Farben getönt ist, als sie heute die Welt für mich trägt, daß sie mir in Wahrheit alle samt der Kirche, die den Platz beherrschte, noch unwirklicher erscheinen als die Projektionen der Laterna magica […].«43 Fassen wir zusammen: Die Gewohnheit basiert auf einer zeitlichen Sensibilisierung, die sich in der Wiederholung diskontinuierlicher Teile ereignet und als elementare Lust empfunden wird: »Wir alle sind Narziß in der Lust, die wir in der Betrachtung empfi nden, obwohl wir etwas ganz anderes als uns selbst betrachten.« (DW,104) Die Synthese des Gedächtnisses operiert hingegen nicht von räumlichen oder nackten Wiederholungen aus, sondern im Innern eines differentiellen, verkleideten Ganzen. Einmal bezieht sich die Synthese auf ausgedehnte Teile, denen sie eine zeitliche Differenz und eine narzisstische Befriedigung entlockt, das andere Mal auf intensive oder differentielle Totalitäten, denen sie zeitlich verrückte und verschobene Partialobjekte entnimmt. Einmal geht es um die Explikation räumlicher Elemente, das andere Mal um die Implikation in reiner unausgedehnter Virtualität. Die Bezugnahme beider Synthesen aufeinander zeigt, dass zeitliche oder intensive Differenzen für Deleuze gleichzeitig an sich impliziert sind und in der Ausdehnung expliziert oder aktualisiert werden. Die extensive Explikation gleicht die Differentialverhältnisse in der Virtualität reiner Vergangenheit nicht aus. Die unausgedehnten Intensitätsdifferenzen bleiben impliziert und implizierend, sie sind umhüllende Tiefen, aus denen die Beziehungen zwischen den Dingen emergieren (vgl. DW, 291f. ). Das Verhältnis zwischen der Kontraktion der Gegenwart in der Gewohnheit und der Kontraktion der Vergangenheit im Gedächtnis zeigt, wie intensive Differenz in extensiver Wiederholung impliziert ist. Die passive Synthese des Gedächtnisses konstituiert die ursprünglichen, subrepräsentativen Tiefen intensiver Differenz, ohne die die kontrahierenden Sensibilisierungen in der Ausdehnung unmöglich wären. Das Gedächtnis ist also der Gewohnheit immanent, so wie umgekehrt der extensive Raum die Ausdifferenzierung und Aktualisierung intensiver Zeit bildet, ohne dass die Zeit dadurch aufgebraucht oder erschöpft würde. Deshalb kann Deleuze mit Bergson sagen, dass die Materie die Empfi ndung, den »Traum« beziehungsweise »die entspannteste Vergangenheit des Geistes« (DW, 117) bildet. Beide Synthesen, die der Gegenwart und die der Vergangenheit, sind von Ambivalenzen geprägt. Die Gewohnheit kommuniziert mit der Einsetzung des Lustprinzips, das Gedächtnis mit der Fiktion einer ursächlichen Verdrängung oder eines ersten Terms, dem wir noch bis in die Virtualitäten der reinen Vergangenheit nachstellen, um hinter allen Verschiebungen, Verkleidungen und Metamorphosen
M. Proust, Unterwegs zu Swann (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1), Frankfurt/M. 71994. 43
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das Geheimnis unserer Geschichte, den vorgeblich verlorenen Sinn zu entdecken, wo doch hinter jeder Maske nur »weitere Masken« (DW, 141) stehen.
D. Die dritte Zeit: Gespaltenes Ego und Todestrieb In der dritten Synthese der Zeit, der Synthese der Zukunft, entsteht mit dem Denken ein Vermögen, das noch die partialen Begehrensinhalte des Gedächtnisses aufgibt und sich desexualisiert. Es kommt ohne gegenständliche Inhalte aus. Deleuze verbindet an dieser Stelle den psychoanalytischen Begriff des Todestriebs mit dem Modell des gespaltenen Cogito, das er im Rahmen einer heterodoxen Kantlektüre entwickelt und der Rimbaud’schen Formel »Ich ist ein anderer« unterstellt. In den Paradoxa der reinen Vernunftideen und des inneren Sinns fi ndet Deleuze Ressourcen für eine dekonstruktive Lektüre, in der er Kants immanente Vernunftkritik gegen ihre eigenen Grundlagen wendet. Einer der Geniestreiche der Kritik der reinen Vernunft besteht Deleuze zufolge darin, die Vernunft immanent zu kritisieren, ohne ihren Irrtümern eine äußere Herkunft »aus dem Körper, den Sinnen oder Leidenschaften« anzuhängen. Indem Kant die Täuschungen und Fehlschlüsse aufdeckt, »die innerhalb der Vernunft selbst ihren Sitz und Ursprung«44 haben, verschiebt er das Denken in den Bereich des Problematischen und entdeckt in der Vernunft das dilemmatische »Vermögen zum Aufwerfen von Problemen überhaupt« (DW, 217). Dieses Fragen und Hinterfragen, das auf das Nichtrepräsentierbare im Denken zielt, schreibt Kant den erfahrungsunabhängigen Objekten der Vernunft zu, also den ideellen Gegenständen oder metaphysischen Objekten der reinen Ideen, die keine empirischen Bezugsgrößen besitzen. Dennoch haben sie im Problematischen oder Dilemmatischen selbst einen realen, »zugleich objektiven wie unbestimmten Wert« (DW, 218). Sie drücken keinen »Mangel im Objekt«, keine »Unvollkommenheit in der Erkenntnis« (DW, 218) aus. Aber dieses Konzept eines positiv Unbestimmten, das weder limitativ noch negativ begriffen wird und der Idee von einer schöpferischen Bestimmbarkeit in der Zeit den Weg bahnt, wird von Kant sofort wieder verschlossen. Bei der Gründung der logischen Strukturen der Erfahrung in der transzendentalen Einheit der Apperzeption bezeichnet er das Unbestimmte der metaphysischen Objekte nur als einen ersten Aspekt der Ideen, der gleich um die Funktion der Systematisierung der Verstandesbegriffe ergänzt wird. Indem die Objekte der reinen Ideen den Verstandesbegriffen maximale Einheit verleihen, werden sie indirekt bestimmbar – nämlich in Analogie zu den Objekten der Verstandeshandlungen, deren Zusammenhang sie vereinheitlichen. Auf einer dritten Ebene drückt das Objekt der Vernunftidee schließlich das Ideal einer unendlichen und durchgängigen Bestimmung aus, indem es die »Spezifi kation der Verstandesbegriffe gewährleistet, durch welche diese mehr und mehr Differenzen umfassen« (DW, 219) und in ein unendliches 44
G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, München 1976, 100.
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Kontinuitätsfeld eingetragen werden können. Drei Aspekte prägen also die reine Idee: »unbestimmt in ihrem Objekt, bestimmbar im Verhältnis zu den Objekten der Erfahrung, Trägerin des Ideals einer unendlichen Bestimmung im Verhältnis zu den Verstandesbegriffen« (DW, 219). Deleuze betont, dass diese drei Aspekte – Unbestimmtes, Bestimmbares, Bestimmung – den drei Aspekten des kantischen Cogito entsprechen: die unbestimmte Existenz des »Ich bin«, die Zeit als Form, in der die Existenz des »Ich bin« bestimmbar wird, das »Ich denke« als Bestimmung. Deleuze will hier Kant gegen Kant in Anschlag bringen und die Äußerlichkeit auf heben, die den zweiten und dritten Aspekt der reinen Ideen prägen, die nur in einem externen Verhältnis zu den Objekten der Erfahrung bestimmbar sind und das Ideal der Bestimmung in einer allein äußeren Relation zu den Verstandesbegriffen mit sich führen. Der Weg dieser Berichtigung führt über Kants Kritik des cartesischen Cogito. In den Meditationen hat Descartes ein Subjekt vorgestellt, das in einem langen Denkgang alles bezweifelt, selbst noch die Naturgesetze und die Logik. Nachdem es jede Wissenskonvention, jede intellektuelle Garantie entfernt hatte und quasi nackt und wahnsinnig im Denken stand, stößt das Ich auf eine letzte irreduzible Garantie – die augenblickliche Gewissheit, dass es selbst es ist, das hier zweifelnd denkt. Kant zufolge geht Descartes eindeutig zu schnell vor. Die Sicherheit, mit der er das bestimmende »Ich denke« und das unbestimmte »Ich bin« in der Formel »Ich bin ein denkendes Ding« zusammenfasst, übergehe den dritten logischen Wert dieser Formel – nämlich die Form der Bestimmung, d. h. die Zeit selbst. »Die gesamte kantische Kritik«, schreibt Deleuze, »läuft auf den Einwand gegen Descartes hinaus, daß die Bestimmung unmöglich direkt auf das Unbestimmte bezogen werden könne.« (DW, 118) Kant erklärt, dass die Zeit als »die Form der Anschauung nichts anderes sein kann als die Art, wie das Gemüt durch eigene Tätigkeit, nämlich dieses Setzen seiner Vorstellung, mithin durch sich selbst affiziert wird«.45 Der Skandal dieser Einsicht liegt darin, dass vor aller aktiven Synthese, »vor aller Handlung, irgend etwas zu denken«,46 sich das unbestimmt existierende Ich in der Zeit als veränderliches, phänomenales und notwendig rezeptives und sensibles Ich selbst affiziert. Ohne vorausgesetzte Ich-Identität erlebt das Subjekt eine immanente Genese, in der sich das »Ich denke« in der Selbstaffektion eines passiven Ichs erfährt, d. h. in der Zeit gegen sich selbst verschoben ist. Kant zufolge können wir uns »nur anschauen, wie wir innerlich affiziert werden […], wenn wir uns gegen uns selbst als leidend verhalten«.47 Das denkende Subjekt ist ergo nicht, wie Descartes annimmt, ein substanzielles, mit sich identisches Ding. Im Gegenteil, Kant kommt zu dem Schluss, dass das »denkende Ding […] zunächst ein rezeptives und passives Ich [sein muss], das Veränderungen in der Zeit durchmacht. […] Ich kann mich also nicht als ein einziges und aktives Subjekt konstituieren, sondern nur als 45 46 47
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1976, 89, B 68 f. Ebd., B 68. Ebd., B 152 f.
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ein passives Ich, das sich die Aktivität seines eigenen Denkens vorstellt, das heißt, das Ich als ein anderer, der es affiziert. […] Ich bin von mir selbst durch die Form der Zeit getrennt […] Die zeitliche Form des Bestimmbaren führt dazu, dass das bestimmte Ich sich die Bestimmung als ein Anderer vorstellt […]. So geht die Zeit ins Innere des Subjekts ein, um in ihm das Ich [moi] und das ich [ je]48 zu scheiden.«49 Diese Einführung der Zeit ins Denken bringt unabsehbare Konsequenzen mit sich, die Deleuze gegen Kants eigene Denkentwicklung ausbaut: Die tätige Spontaneität, der sich das Cogito im Akt des Denkens bewusst wird, muss als Selbstaffektion und Selbstempfi ndung eines passiven Ichs verstanden werden, »das fühlt, daß sein eigenes Denken, seine eigene Intelligenz, dasjenige wodurch es ICH [ Je] sagt in ihm und auf es – und nicht durch es – wirkt« (DW, 119). Das Denken wird in einen Akt verwandelt, der die Identität des Ichs zerbricht und die Ähnlichkeit des Selbst auflöst. Kant entdeckt hier eine innere Differenz, nicht die Differenz zwischen zwei Bestimmungen, sondern eine transzendentale Differenz im Innern des Seins und des Denkens selbst, deren zeitlicher Dynamismus das Denken ins Sein zwingt im Zuge einer passiven und sinnlichen Synthese. Zwischen dem »Ich denke« und dem »Ich bin«, zwischen geistige Bestimmung und unbestimmte Existenz schiebt sich die Produktivität dessen, was Kant die Rezeptivität der Anschauung nennt und von Deleuze zu einer vollen passiven Synthese ausgebaut wird. Die Zeit als Form der Bestimmbarkeit führt in die Genese des Seins eine innere Differenz ein, die das Denken initiiert und das ego cogito von sich selbst entfremdet und zum Korrelat, ja zum Effekt eines passiven Ichs macht. Indem die Determination des passiven Ichs durch das Cogito in Form zeitlicher Bestimmbarkeit metonymisch, verschoben und nichtidentisch verläuft, wird die Bestimmung selbst zu einem Effekt innerzeitlicher Prozesse passiver Affektion, die das Cogito spaltet.50
E. Das Leben des Todes An dieser Stelle fügt Deleuze eine dritte Synthese der Zeit an, die das gespaltene Cogito und das passive Selbst mit dem Begriff des Todestriebs in einer Zeit verbinden, die sich auf den Ungrund öff net, aus dem nicht das Nichts, sondern die Differenz als das »Zu-Kommende« (DW, 125)51 wiederkehrt. Die dritte Zeit schaff t eine ihr eigene Kohärenz, »die die des Ichs ausschließt [und] es in tausend Stücke auseinanderschleudert« (DW, 123). Mit der Bezugnahme auf den Freud’schen Todestrieb gerät Deleuze in ein punktuelles Nahverhältnis zu Lacan und gleichzeitig Das französische moi bezeichnet hier das phänomenale, rezeptive Ich, das je das tätige Ich der intellektuellen Synthese. 49 G. Deleuze, Kants kritische Philosophie, Berlin 1990, 9–11. 50 Vgl. ausführlich R. Krause, Deleuze – Die Diff erenz im Denken, Berlin 2011, 49‒80. 51 Vgl. auch M. Rölli, »Phänomenologie der ewigen Wiederkunft. Deleuze liest Nietzsche«, in: Deleuze online. International Deleuze Studies, https://deleuze.online/2011/05/29/deleuze-liestnietzsche/ 48
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in maximale Distanz zur Badiou’schen Dimension subjektiver Treue. Wie Lacan interessiert er sich für die partielle, derangierende, nichtökonomische Perspektive, die Freud an den Trieben erkennt. Er betont an ihnen nicht die bindenden und entladenden Funktionen, sondern das, was den Körper von innen stört, den Organismus desorientiert und fragmentiert, ergo über Nutzen, Befriedigung, Erhaltung oder Homöostase hinaustreibt. Mit Freud gegen Freud versteht Deleuze den Todestrieb nicht als Strebung zurück zum Anorganischen, zur desinteressierten und zweckfreien Dekontraktion des Leblosen, sondern zu einer Wiederholung, die nur Differenz wiederkehren lässt und daher jede Subjektivität übersteigt. Im Unterschied zu Lacan macht Deleuze den Todestrieb zu einer Potenz des Lebens jenseits von Kastration und Denaturierung. Es handelt sich um keinen persönlichen Tod, der das Ende des Lebens markiert, sondern um einen unpersönlichen Tod, der als freie Differenz organisierte Körper, geschlossene Arten, individualisierte Lebensund Sinnformen übersteigt. Der Tod bildet »die letzte Form« (DW, 123) oder den Prototypen des Problematischen. Er ist die »Quelle von Problemen und Fragen, das Zeichen ihrer Beharrlichkeit jenseits jeder Antwort« (DW, 123).52 Der Todestrieb ist deshalb kein Vermögen der Negation, sondern »eröff net sich an dritter Stelle als Ungrund« (DW, 152), d. h. jenseits des Grundes, den das erotische Gedächtnis der reinen Vergangenheit bildet, sowie jenseits der Gründung der Gewohnheit in der lebendigen Gegenwart der Sensibilisierungen. Frédéric Worms erläutert, dass Deleuze im Paradigma des Todes über die passiven Synthesen der Gewohnheit und des Gedächtnisses, der Empfi ndung und der libidinösen Besetzung hinausgreifend ein unpersönliches Leben entwirft, das »keinen Widerpart« besitzt, sondern sich als Extremwert immanenten Selbstüberstiegs präsentiert: »Dieser Vitalismus lässt jeden äußerlichen, aber auch innerlichen Gegensatz zum Tod hinter sich. Diese Bejahung der Differenz hat keine negative Rückseite und schon gar keine Negation, die sie aushöhlt und auf hebt.« 53 Diesem Prozess ordnet Deleuze in einer klassischen Geste das Höchste, das Denken zu, aber es handelt sich um ein radikal verwandeltes, keinem Subjekt gehörendes und keinem Objekt zugeordnetes Denken. Es prozessiert ohne Negation und ohne Begehrensinhalte. Es lässt die Objekte fallen. Es bejaht die reine Differentialität. Die Lust, schreibt Deleuze, »besetzt nurmehr ein reines, kaltes, apathisches und eisiges Denken, wie man am Fall des Sadismus und Masochismus sieht« (DW, 152). Hier erreicht die Individuation von Materie, Sein und Denken eine äußerste Potentialisierung. Sie kommt Deleuze zufolge einer »Science Fiction« (DW, 23) und mit dem Ende des Menschlichen einer Apokalypse gleich. Affi rmiert wird ein fragendes und problematisierendes Leben, das als eventum tantum, als bloßes Ereignishaftes, die subjektiven Grenzen der Lebensformen übersteigt und sich auf die Kräfte des Außen öff net. Der Tod ist hier das höchste Paradigma einer passiv-aktiven Individuation, die von unpersönlichen, präqualitativen Potentialen getragen ist. Sie hebt damit an, dass Elemente der Materie sich 52 53
Vgl. auch David-Ménard, Deleuze und die Psychoanalyse, 72. F. Worms, Über Leben, 123.
Über das Un/Sinnliche
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qua Empfi ndung zusammenziehen und für ein passives, lokales, keimartiges Selbst sensibilisieren, das in Unmengen dem aktiven Ich unterliegt, um sich von hier aus in radikalen Sprüngen psycho-intellektuell auf die Potentiale zu öff nen, die diese Heterogenesen antreiben. Deleuzes Denken des Ereignisses eskaliert in der Spannung zweier Perspektiven: Auf der einen Seite steht die Apokalypse, das Leben als Zerstörung objektiver und subjektiver Individualität. Auf der anderen Seite aber – und da liegt die eigentliche Herausforderung für ein Denken der Heterogenese, die alles weitere Schreiben Deleuzes motiviert – steht die Erfassung dieses unpersönlichen Nihilismus in den Lebensformen selbst, wo er eine Bahn reißt für nichtkonsensuelle ästhetische Empfi ndungen, wissenschaftliche oder begriffl iche Neuschöpfungen, aber auch für eine politische Aktivität, die sich nicht mit ihrem Bild oder ihrem Sinn identifiziert und den Heroismus der Militanten verrät (oder vergisst).54
F. Entidealisierung der Politik Ihre letzte Zuspitzung erfährt die Kontroverse zwischen Deleuze und Badiou im Vorwurf, dass Deleuzes Denken jeder politische Charakter fehle. Badiou erklärt, dass Deleuze eine geschichtliche Analyse kapitalistischer Gesellschaftsformationen und eine ethische Maxime schöpferischen Lebens auf biete, nie aber behandele er die Politik als Gegenstand eigenen Gewichts, »als etwas, das per se zu denken wäre«.55 Badiou kann eine derartige Abwesenheit der Politik in der Philosophie von Deleuze (und Guattari) konstatieren, weil er alle biopsychischen Dimensionen der Sensibilisierung, Affi zierung und Affektivität aus der Politik evakuiert, um sie an einem Ort zu fi xieren, an dem die Politik Deleuze zufolge niemals zu fi nden ist: am Ort des »Konsequenzprinzip[s]« (LW, 44) und des existentialen Voluntarismus, der die Zeit vor das »Tribunal der Alternative« (LW, 426) ruft, vor die Wahl zwischen Wahrheit und Verrat. Die Idee einer anarchischen, unwillentlichen, Subjekt, Bewusstsein und Ziel abweisenden Politik, die einer von Sensibilisierungs- und Affizierungsprozessen her einsetzenden Individuation angehört, fällt nicht nur bei Badiou unter Mystizismus-Verdacht, obwohl sie den Begriff der politischen Praxis in ungekannter Weise entidealisiert. So nimmt Deleuze in der postmarxistischen Debatte um die Neubestimmung der Politik eine gewisse Alleinstellung ein: Auch wenn die kontinentalen politischen Philosophien der Gegenwart ohne Rekurs auf erste Ursprünge und höhere Zwecke auskommen, sind sie durch die Tendenz zur Reinigung und Tautologisierung des Politischen ausgezeichnet. Denken wir an die Prinzipien der Untätigkeit bei Agamben, der Treue bei Badiou, der Freude bei Negri, des Streits und der Anteillosigkeit bei Rancière. Diese Prinzipien mögen Vgl. Worms, Über Leben, 122. A. Badiou, »Existe-t-il quelque chose comme une politique deleuzienne?«, in: Cités, Heft 40, Paris 2009, 15. 54 55
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rar oder selten sein, aber sie unterscheiden sich nicht in sich selbst, weichen nicht von sich ab, unterlaufen oder verkehren sich nicht. Gegenüber solch invarianten Konzepten der Politik fragt Deleuze, wie quantitative Veränderungen in den Empfi ndungs-, Begehrens- und Denkgraden qualitative Transformationen zwischen Unterwerfung und Befreiung anzeigen. Mit Spinoza und Nietzsche geht er davon aus, dass es dieselben Kräfte in unterschiedlichen Formen sind, die der Reaktion und der Emanzipation unterliegen. Da Befreiungen sich in neue Formen theologisch-politischer Herrschaft oder freiwilliger Knechtschaft, in Vernichtungs- oder Zerstörungsprojekte vewandeln können, wird Politik bei Deleuze als immanente Behandlung dieser Ambivalenz begriffen. Es geht um die exzessive Fähigkeit, die sinnlichen, affektiven und geistigen Genesen von innen unterbrechen zu können. In dieser Perspektive wird die Fähigkeit der Massen, imaginäre Stereotypisierungen der Gemeinschaft, identitäre Gruppenbilder und Zugehörigkeitsfi ktionen zu überwinden, und zwar noch denen der politischen Gruppe und des Aufstands selbst, als primäre Manifestation der Politikmächtigkeit erkannt. Die Temporalisierung von Sensibilität, Erinnerung und Denken, die Deleuze in Differenz und Wiederholung entwirft, zielt in letzter Instanz auch auf die Entidentifi zierung und Entstereotypisierung der Politik. Die unausgleichbare Unruhe der differentiellen Kräfte, die der Politik unterliegen, begründet einen minimalen Optimismus spinozistischer und nietzscheanischer Herkunft, der anzunehmen erlaubt, dass das Reaktionärwerden der Kräfteverhältnisse von den Kräften selbst überwunden werden kann. Dieser Optimismus ist aber deshalb minimal, weil hier zugleich zur Kenntnis genommen wird, dass die Emanzipation oder der Kommunismus, den Deleuze zu bejahen nie aufgehört hat, keine Ausnahmen vom Sein bilden, sondern einen seiner prekären chaosmotischen Prozesse, dem keine geschichtlichen Garantien und keine Heilsversprechen mitgegeben sind. Die Politik muss ohne sie auskommen und wird so erst im eigentlichen Sinne zur Politik. Die Radikalität dieser politischen Pragmatik ist schwer zu erkennen, da der berechtigte Hass auf das Bestehende rät, die schnelle Wiedererkennbarkeit der großen Losungen und sicheren Ziele, der höheren Normen und oberen Werte zu präferieren, d. h. die Revolution dem Revolutionärwerden vorzuziehen und das Politikmachen mit existentialer Askese und heroischer Identifi kation zu verwechseln.
A ffekt und Gabe Zwei konkurrierende Paradigmen Dieter Mersch
I. Affectus und Emotion Affekt und Emotion gehören zusammen. Dennoch scheint vorderhand unklar, welchen Ort der Affekt in der Auslösung einer Emotion besitzt bzw. in welchem genauen Verhältnis Affekt und Emotion zueinander stehen. Affectus, wie das deutsche Wort ›Gefühl‹ ein Zustand, und afficere, anregen oder angeregt werden mit dem Doppelsinn einer actio und passio, verweisen letztlich auf das Griechische pathos, das sowohl das Erleiden als auch die Leidenschaften und die Fähigkeit zu leiden bezeichnet. Blick man auf die Etymologie des Ausdrucks, rührt pathos vom indoeuropäischen spa oder span her, das eine primär passivische Bedeutung besitzt und die (An-)Spannung im Sinne einer primären Attentionalität sowie den Empfang eines Eindrucks anzeigt, wie überhaupt pathos ebenfalls im Griechischen vor allem das Ereignis oder Erlebnis in der Bedeutung eines Abdrucks oder einer Abzeichnung von etwas in der Seele meint. Die pathemata wiederum, die Aristoteles an den Beginn seiner Zeichenlehre stellte,1 beinhalten neben den eigentlichen ›Erleidnissen‹ als ›Eindrücke‹ mit dem Verb pathaino ebenfalls die Ergriffenheit oder auch das Ergriffensein von Gefühlen. Die Konnotationen sind also vielfältig, insbesondere scheinen die ›Affekte‹ von Anfang an mit Mehrdeutigkeiten belegt zu sein. Denn nicht nur schwanken sie zwischen Aktivität und Passivität, sondern auch zwischen dem, was von außen kommt und unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt und dem, was wir selbst hinzutun und unsere Sensitivität und Emotionalität betriff t. Dennoch dominiert von Anfang an in beiden Fällen eine Unbeherrschbarkeit oder primäre Dekontrollierung, wie sie Homer durchweg dem Einfluss der Götter zugeschrieben hat und deren Regierung seit den sokratischen Schulen dem nous und später, vor allem in stoischer Zeit, der ask ēsis als einer Einübung in die Selbstbeherrschung und Selbstsorge oblag.2 Offenbar wurden die Gefühle seit jeher nicht nur als Quelle der Sensibilität, sondern auch als Bedrohung erlebt, die gebannt werden müsse. Geht man vom Griechischen zum Lateinischen über, gewinnt demgegenüber der lateinische Ausdruck affectus einen vornehmlich aktivischen Sinn, denn afficere wurzelt im indoeuropäischen fa oder dha, das mit facere, dem Tun, Machen oder Verfertigen, verwandt ist und mit affectare und affecto auch das Erreichen eines Ziels anspricht. Allerdings bleibt die linguistische Rückführung von affectus zweideutig, weil auch das lateinische adfectus in Frage kommt, das mit dem Präfi x ›ad‹ 1 2
Aristoteles, Lehre vom Satz (Peri hermeneias), 16a, Hamburg 1958, 95. Vgl. P. Hadot, Wege zur Weisheit, Frankfurt/M. 1999, v.a. 54 ff., 161 ff.
ZÄK-Sonderheft 17 · © Felix Meiner Verlag 2018 · ISBN 978-3-7873-3544-2
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ein Zukommen ausdrückt, mithin ein Geschehen, das von Anderem herrührt, das ›be-rührt‹ oder ansteckt und die Gefühle allererst tingiert, um von ihnen in Besitz genommen zu werden. Tatsächlich scheint die Affektion also ›älter‹ als die Emotion, auch wenn sie mit ihr in direkter Resonanz steht und ununterscheidbar mit dem verschmilzt, was sie fühlt. Im zweiten und vor allem dritten Teil seiner Ethik hatte Spinoza den Affekten genau diese Wirkung zugeschrieben: »Unter Affekt verstehe ich die Affektionen des Körpers, durch die die Wirkkraft des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird; und zugleich die Ideen dieser Affektionen.« 3 Affekte sind demnach gleichermaßen Tätigkeiten (actio) wie Widerfahrnisse (passio), weil sie durch andere Körper erregt werden, indem sie den eigenen ›autoaffi zieren‹. Der Förderung von dessen Vermögen kommt dabei ein positiver, der Hemmung ein negativer Wert zu, doch handelt es sich immer um eine Zustandsveränderung, denn der Affekt bezeichnet diejenige Modalität, die eine Handlung modifi ziert, indem sie auf deren Potentiale Einfluss nimmt (potentia agendi). Überall kommt es Spinoza auf diese Wechselseitigkeit an, wie die Postulate 3 und 6 des 2. Teils sowie die Lehrsätze 14 und folgende des 3. Teils deutlich machen, denn »(d)ie Individuen, die den menschlichen Körper zusammensetzen, und folglich auch der menschliche Körper selbst werden von äußeren Körpern auf sehr viele Arten affiziert« wie »(d)er menschliche Körper […] die äußeren Körper auf sehr viele Arten bewegen, und auf sehr viele Arten einwirken (kann)«.4 Erregtwerden und Sicherregen oder ›Aufregen‹ korrespondieren also miteinander, wobei die Affektionen nicht allein die Sinne betreffen, sondern alle leiblichen Sensationen, seien es Kräfte, Flüssigkeiten oder Berührungen und Organ-Reaktionen und Ähnliches, sodass Spinoza weit über die klassischen, zumeist aristotelisch inspirierten Affektlehren hinausgeht. Wir sind vielmehr mit einem multiplen Geschehen konfrontiert, das die gesamte Person und ihre Leiblichkeit ergreift, die sich als aus vielen Agenten zusammengesetzt vorgestellt werden, wobei die Art dieser Ergriffenheit und die von ihr induzierte Wirkung den Affekt allererst defi nieren und Auskunft über seine Natur verleihen. Es sind, anders ausgedrückt, differenzielle Mikrobewegungen, die eine Affektion ausmachen, die einer unabzählbaren Mannigfaltigkeit von modularen Einflüssen entspringen, die die Körper tangieren und denen umgekehrt ihr Pluralismus antwortet, trotz aller begriffl ichen Klassifi kation der Gefühle, die Spinoza dennoch vornimmt.5 Gleichzeitig, und das bildet die zweite Besonderheit des spinozistischen Auffassung, gehören Affekte sowohl dem körperlichen als auch seelischen
B. de Spinoza, Die Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg 1967, 3. Teil Definition 3, 110, bes. auch 108 ff. 4 Ebd., Teil 2, 68 ff . 5 So ist von Freude, Trauer, Wollust bis zum Neid die Rede, eindeutige Zuschreibungen, die es eigentlich gar nicht geben dürfte, bestenfalls nur unendliche Abstufungen von dem, was man sehr grob ›Wut‹ oder ›Anteilnahme‹ nennen könnte und zwischen deren Registern wiederum unendliche viele Möglichkeiten spielen. 3
Affekt und Gabe
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Sein an, zwischen denen nicht getrennt wird, sodass auch die Affektivität bereits unter die Gedanken und ihre ›Bilder‹ oder Vorstellungen fallen, d. h. denkend sind, auch wenn sich die Ethica, ordine geometrico demonstrare ihrem Wissensanspruch und Wahrheitsgehalt verschließt.6
II. Attentionalität Allerdings bleibt die Beziehung zwischen Affekt und Impetus (conatus) unklar, insbesondere auch deswegen, weil sich Spinoza, wie zuvor schon Descartes, trotz aller Anerkennung der Affektion und ihres notwendigen Ausgangspunktes, um deren Ausgleich und Beherrschung bemühte, um zuletzt, zwischen den drei Hauptaffekten Lust, Unlust und Begierde, doch zu einer Befreiung von ihren negativen Effekten zu gelangen. Demgegenüber haben jüngere Affekttheorien – man denke vor allem an Gilles Deleuze und Brian Massumi – stärker sowohl an den widerfahrenden Charakter der Affektion erinnert als auch der Affi zierung eine präpersonale Dynamik zugeschrieben, wobei beide, mit Spinoza, ebenso sehr auf die primär körperliche Dimension des Affekts wie seiner ›Differenzialität‹ abgehoben haben.7 Die maßgeblichen Passagen fi nden sich in Deleuzes und Guattaris Tausend Plateaus, die von Massumi ins Englische übersetzt wurden, wo sich der lapidare Satz fi ndet: »Ist schließlich Spinozas Ethik nicht das große Buch über den o K (organloser Körper, H.v.m.)?« 8 Ferner heißt es unter dem Lemma Erinnerungen eines Spinozisten, II: »Die Beziehungen, die ein Individuum zusammensetzen, es auflösen oder modifi zieren, entsprechen Intensitäten, die es affizieren, die sein Handlungsvermögen steigern oder verringern […]. Affekte sind Arten des Werdens.« 9 Und weiter: »Wir wissen nichts von einem Körper, wenn wir nicht wissen, was er vermag, das heißt, welche Affekte er hat, wie sie sich mit anderen Affekten, den Affekten eines anderen Körpers, verbinden können oder nicht, um ihn entweder zu zerstören oder
Siehe ebd., Teil 2 Lehrsatz 29, 80: »Die Idee der Idee von einer Affektion des menschlichen Körpers, es sei welche es wolle, schließt die adäquate Erkenntnis der menschlichen Seele nicht in sich«, sowie Lehrsatz 30, 81: »Wir können von der Dauer unseres Körpers nur eine sehr inadäquate Erkenntnis haben«. 7 Bes. G. Deleuze, F. Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1997, Kap. 10, 316 ff . 8 Ebd., 211. In den seiner Übersetzung vorangestellten Notes on the Translation bemerkt Massumi unter dem Stichwort Affekt/Affektion »Neither word denotes a personal feeling (sentiment in Deleuze and Guattari). L ’affect (Spinoza’s affectus) is an ability to affect and be affected. It is a prepersonal intensity corresponding to the passage from one experiential state of the body to another and implying an augmentation or diminution in that body’s capacity to act. L’affection (Spinoza’s affectio) is each such state considered as an encounter between the affected body and a second, affecting, body (with body taken in its broadest possible sense to include »mental« or ideal bodies).« G. Deleuze, F. Guattari, Thousand Plateaus, transl. by B. Massumi, University of Minnesota Press 1987, 17. 9 Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, 349. 6
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von ihm zerstört zu werden, um entweder zu handeln oder zu leiden, oder um mit ihm einen Körper zu bilden, der noch mehr vermag als er.«10 Deleuze und Guattari geht es dabei vor allem um die Abweisung jeglicher Subjekt-Konnotation, an deren Stelle interdependente Intensitäten treten, die den ununterbrochenen Strom leiblicher Transformationen beschreibbar machen. Durchaus bedürfen sie eines Ausgangspunktes bei einem Anderen, der aber unvordenklich bleibt, weil es allein um Reaktionen und deren Verwandlung in Handlungspotentiale geht, die zuletzt in Anfangslosigkeit zerfl ießen. Deswegen ist auch von einer ›primären Affizierung‹ die Rede, wobei die Affekte bereits Mittler, Zwischenzustände oder Passagen sind, die einer Interaktion zwischen Körper entspringen. Sie setzen damit folglich deren Relationen und Relationierbarkeiten noch voraus, deren einzelne Verhältnisse und Stadien wiederum Massumi einer Mikroanalyse zu unterziehen versucht hat.11 Dabei ist entscheidend, dass keine zwei Affektionen sich miteinander gleichen: Affekte dulden weder eine Identität noch eine Wiederholung oder Konzeptualisierung, vielmehr dispersieren sie in ihrer Zeitlichkeit und bilden einen fortwährenden Fluss der Differenzierung, der erst das hervorbringt, was als Gefühl oder Sensitivität bezeichnet werden kann.12 Affekte gleichen somit einem Kontinuum aus passiv-aktiven Intensitäten, doch bleiben sie die Antwort auf die Frage ihres ›Herkommens‹ wie ihrer ›Attentionalität‹ schuldig. Offenbar besitzen sie keinen Auslöser – doch muss ihnen nicht, um sie überhaupt aufzuweisen und von ihnen sprechen zu können, etwas vorhergegangen sein, das sie als Kräfte adressiert, eine Ereignung, die zu benennen Deleuze und Guattari gerade aussparen wollen, um die Autoaffektion der Körper als Grundlage oder Quelle aller Sensibilisierung zu betonen? Was stattdessen ihnen immer schon vorausgegangen sein wird, ihre Heterogenese, weist auf jenes Andere oder Außen, das nicht bezeichnet werden kann, sowenig wie sich auf es zeigen ließe, das sich vielmehr selbst zeigt und alle Aufmerksamkeit, alles Fühlen, Gewahren, Denken und Erfahren als einem primären Zuvorkommen auf sich zieht. Unverfügbar erscheint es als dasjenige, das uns gleichwohl ›zieht‹ oder ›anzieht‹, insofern es sich in dem, was es ist, ›ent-zieht‹. Wir werden auf diesen Umstand noch genauer eingehen; hier stellt sich zunächst nur das Problem einer Verbindung zwischen den Affekttheorien und dem, was Maurice Blanchot als ›Arché-Passivität‹ bezeichnet hat,13 von der ebenfalls Levinas handelt, wenn er die Möglichkeit einer Passivität einräumt, die ›passiver‹ sei als jede Passivität14 – ein Passivsein außerhalb des Pathos und seiner ›Erleidnisse‹, vielmehr als Befallenheit oder Besessenheit im Sinne einer primorEbd., 350. Vgl. B. Massumi, Ontomacht, Berlin 2010. 12 Vgl. dazu auch M. Ott, Affi zierung. Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur, München 2010; dies., Dividuation. Theorien der Teilhabe, Berlin 2015. 13 M. Blanchot, Warten Vergessen, Frankfurt/M. 1987; ders., Das Unzerstörbare, München 2007. Vgl. auch K. Röttgers, »Die Möglichkeit einer an-archischen Praxis«, in: T. Alkemeyer, V. Schürmann, J. Volbers (Hg.), Praxis denken, Wiesbaden 2015, 51‒79. 14 Vgl. E. Levinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philipp Nemo, Wien 1992, 39; ders., 10 11
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dialen Inanspruchnahme durch Anderes. Wir vermögen ihr auf keine Weise zu entgehen noch beizukommen, weil es uns allererst als das, was wir sind und empfangen können, d. h. auch in unserer jeweiligen Sensibilität und Sensitivität, konstituiert.15
III. Widerfahrnisse In der Tat neigen Affekttheorien dazu, zwar den Akkusativ hervorzuheben und damit Affekt und passio miteinander zu assoziieren, dennoch bleibt die eigentliche Relation zwischen Affektion und Attention sowie zwischen Autogenese und Heterogenese unklar. Entsprechend führen sie ungewollt die Spur des Subjekts in Gestalt der ›großen‹ Leiblichkeit fort, insofern, wie Deleuze in seinem kleinen Text Spinoza: Praktische Philosophie in beinahe überspinozistischer, aber völlig auf den Kopf gestellten Manier schreibt, »ein Körper andere Körper (affi ziert) oder […] von anderen Körpern affiziert (wird): diese Macht zu affi zieren und affiziert zu werden defi niert […] einen Körper in seiner Individualität«.16 Affekte sind danach nicht von bereits identifi zierbaren und damit individuierten Körpern und deren Handlungspotenzialen zu trennen, die somit als Affektsynthesen jenseits aller Streuung vorzustellen sind, sodass sich die Affektionen immer schon in deren potentia agendi eingeschrieben haben, die so zum eigentlichen Ort einer Subjektivierung avancieren. Michaela Ott hat sie insbesondere als »passionelle Autogenesen« charakterisiert,17 wie sie in Ansätzen bereits in Deleuze’ erstem Buch Empirisme et subjectivité: Essai sur la nature humaine selon Hume von 1953 zu fi nden sind, um dann spätestens seit dem Antiödipus und besonders in den Mille Plateaux zusammen mit Guattari en détail ausgearbeitet zu werden. Das bedeutet aber, dass Affekttheorien, um die Sensibilität zu beschreiben, gleichsam ›zu spät‹ bzw., wie Massumi konstatiert, »in der Mitte«, einem relationalen Gefüge gleich, einem unbesetzten ›Zwischenraum‹ ansetzen. Das ›Zwischen‹ der Affekte erlaubt dann einen ursprünglichen »Übergang«, soweit etwas unterhalb der Wahrnehmungsschwelle mit Körpern und durch ihre leibliche Konstitution geschieht, um eine »gefühlte Erfahrung« aufzulösen, noch bevor sich ein selbstbewusstes, herrschaftliches Subjekt einstellt, das sich und seine Handlungsweisen meistert18 – eine Präsubjektivität, die gleichwohl doch,
Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, 434 f.; ders., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 21998, 191, 246 ff. 15 Unter der Hand haben wir damit ›Andere‹ unbestimmter durch ›Anderes‹ ersetzt. Die Philosophie von Levinas erlaubt diese Möglichkeit, doch ergibt sich in ihr die Reihenfolge anders herum: der unbestimmte Ausdruck ›Anderes‹ ist erst ein Derivat des Anspruchs ›Anderer‹, der erst die Ethik als prima philosophia begründet, während der Primat von ›Anderem‹ zum Vorrang einer Ökologie führt, die nicht notwendig ethisch terminiert sein muss. 16 G. Deleuze, Spinoza: Praktische Philosophie, Berlin 1988, 159 f. 17 M. Ott, Gilles Deleuze. Zur Einführung, Hamburg 2014, 49. 18 Massumi, Ontomacht, 70, 73 passim.
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wie man ergänzen müsste, eines bereits subjektivierten Leibes bedarf, um Affekte aufzunehmen, zu spüren und an andere weiterzugeben. Anders gewendet: die potentia agendi berufen sich auf eine Instanz, die kein Grund sein kann, weil sie bereits ›zu viel‹ darstellen und mit ihnen ›zu viel‹ begonnen hat, um ihnen ihre Agenzialität erteilen zu können. Wir befi nden uns m.a.W. im Rahmen einer primären Relationalität, oder besser: einem Relationsnexus als einem Geflecht von »auf keimenden Beziehungen«, wie Massumi sich ausdrückt, welche es – in einem nichthermeneutischen Sinne von Rezeptivität und Sensitivität – in ihrer Heterogenität entgegenzunehmen gilt – »(e)in Zucken am Rande des Gesichtsfeldes«, wie Massumi ergänzt, »das die Aufmerksamkeit unseres Blicks auf sich zieht«19 und deren ›Zug‹ als Fundament unserer Rezeption und Empfänglichkeit unbestimmt, ja geradezu enigmatisch bleibt. Affekttheorien erweisen sich mithin im letzten Sinne als leiborientierte Rezeptionstheorien, und ›Blick‹, ›Aufmerksamkeit‹ oder ›Anrührung‹ und ›Anspruch‹ sind bereits da, ermöglichen oder verstellen und unterbinden Reaktionen; aber es sind nicht die Ereignisse und ihr Woanders, welche die Sensibilität formen, vielmehr einzig die Modalitäten von ›Erregbarkeiten‹ (Spinoza), deren Effekte Subjektivität anleitet. Demgegenüber gehen phänomenologische Sensibilitätstheorien, wie sie etwa Bernhard Waldenfels vertritt, eher vom Ereignis eines Widerfahrnisses aus, das mögliche Erfahrungen allererst konstituiert.20 Gedacht wird so vom Punkt eines wesentlichen Überschusses aus, dessen Ort ein Außerhalb bezeichnet, das noch nirgends eine identifi zierbare Kontur, eine Bestimmung oder Lokalität besitzt, sodass Waldenfels insbesondere von solchen Widerfahrungen sprechen kann, die gleichsam wie eine Affektion sind, allerdings »ohne etwas, das uns etwas affi ziert«.21 Die paradoxe Formulierung trennt den Begriff des Widerfahrnisses vom Affekt, denn dem Affekt eignet immer schon der Modus einer Nachträglichkeit, soweit die ›An-Rührung‹ durch die leibliche Affi zierung und deren potentia agendi bereits verwandelt worden ist. Insonderheit erweist sich jedes ›Widerfahrnis‹, das nicht schon als ›Er-Fahrung‹, d. h. als etwas, das mir zu Bewusstsein gekommen ist, vestanden werden kann, als negativer als jedes Vokabular einer leiblichen Ansteckung oder Erregung, weil es zunächst nur ein ›Dass‹ aufruft, ohne schon ein ›Was‹ zu sein. Vielmehr hält es sich in einer zeichenlosen Unbestimmtheit, die mich gleichwohl ›be-triff t‹ oder mir zustößt, um mich wie das Barthes’sche punctum anzugehen, zu durchbohren. Das bedeutet: Widerfahrnisse geschehen mir, sodass vor dem Akkusativ noch der Dativ steht, der zunächst ohne Referenz auskommt. Grammatisch dient der Akkusativ, vom lateinischen casus accusativus oder dem griechischen aitiatik ḗ, der Markierung eines Objekts, das als Ursache gilt; hingegen eröff net der Ebd., 74. Vgl. bes. B. Waldenfels, Buchlinien der Erfahrung. Phänomenologie – Psychoanalyse – Phänomenotechnik, Frankfurt/M. 2002; auch ders., Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt/M. 1997; ders., Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Frankfurt/M. 2015. 21 Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, 99. 19
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Dativ eine andere Verknüpfung, denn er weist, entlehnt aus dem lateinischen casus dativus, dem die Worte dare für ›geben‹ bzw. datum für ›Gegebenes‹ zugrunde liegen, auf einer Indirektheit, das weder ein Objekt ist noch einen Empfänger besitzt, sondern den Empfang selbst und seine Ereignung ausdrückt. Darum stehen, zumindest im Deutschen, vorzugsweise die Verben des Gebens und Nehmens wie auch des ›Bringens‹, ›Antwortens‹ oder ›Zeigens‹ im Dativ, für den ein anderes activum bzw. ein activum des Anderen maßgebend ist, das auf mich zukommt, mir etwas gibt, schenkt oder übereignet, sodass wir es nicht mit einem vorgängigen Objekt zu tun bekommen, das als Objekt immer schon eine Grenze, eine ›De-fi nition‹ und ein ›Determinandum‹ enthält,22 sondern mit einem Prozess, der im Fall der Widerfahrnis sogar lediglich ein ›Es‹, ein Neutrum beinhaltet, das mich gleichsam auffordert oder mir im wörtlichen Sinne eine Frage oder Aufgabe stellt.23
IV. Responsivität Folgerecht hat Waldenfels die Widerfahrnisse aus einem Wechselspiel von Ereignung und Antwort abgeleitet, denn wesentlich sei »der Übergang vom Wovon des Widerfahrnisses zum Worauf des Antwortens«. Ihr Zusammenhang ist als Aufforderung zu betrachten, oder, wie es in den Bruchlinien der Erfahrung heißt: als »Appel, der aus einem bloßen Effekt eine Af-fektion macht und das Factum in ein Faciendum verwandelt«.24 Leitet hier Waldenfels das lateinische affectus wesentlich von adfectus mit Bezug auf ein Faktum ab, das nicht verneint werden kann und daher in seiner doppelten Negation einen unbedingten Anspruch erhebt, dann erscheint umgekehrt das Widerfahrnis als etwas, das sich mir zuweist, d. h. ein Sich bezeichnet, das nicht als objektivierbares Geschehen, auch nicht als ein Vorkommnis aufzufassen ist, das, wie beim direkten Objekt des Akkusativs, einem Subjekt gegenübertritt; vielmehr wird ›es‹ erst dadurch konkret, dass wir antworten, d. h. uns auf ›es‹ beziehen, ihm durch unser Antworten eine Bestimmung oder einen Sinn, zumindest aber eine Relevanz oder Aufmerksamkeit erteilen. Betont wird auf diese Weise der Eigencharakter des Widerfahrnisses, das als ein Auftauchendes oder Entgegenkommendes genommen werden muss, das nicht auf einen Affekt und seine Relation reduziert werden kann, sondern vor allem einen Überschuss birgt, d. h. immer schon ›mehr‹ ist, als der affectus auslöst. Dezidiert hat Waldenfels dann diese Übergänglichkeit nachzuzeichnen versucht, die vom ›ur-sprünglichen‹ Eines der Grundprobleme gewisser Ansätze des sogenannten Spekulativen Realismus, vor allem der Objekt-orientierten Ontologie Graham Harmans beruht darauf, schon von Objekten und damit ›zu spät‹ anzusetzen, insofern die Rede von ›Objekten‹ buchstäblich schon ›zu viel‹ voraussetzt. Vgl. G. Harman, Vierfaches Objekt, Berlin 2015. 23 Mit dem Vorrang der Fraglichkeit des »Geschieht-es?« vor aller Bestimmung des Geschehens ist in der Tat das Grundproblem des gesamten Lyotardschen Denkens bezeichnet; vgl. J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 21989, 16. 24 Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, 98. 22
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und ursächlichen Widerfahrnis zu seiner Annahme und Bestimmung überleitet, um dem zunächst noch Offenen und Unkenntlichen seine sekundäre Bedeutung zu verleihen. Wir beginnen stets woanders, heißt es entsprechend bündig, sodass die Widerfahrnis in erster Linie das Ereignis einer Alterität bezeichnet, dem der Affekt als zweites nachfolgt; es ist zudem ein ›Zukommen‹, wie es lateinisch durch das ›ad‹, im Deutschen durch die Vorsilbe ›An‹, wie in den Ausdrücken ›Anruf‹ oder ›Ankunft‹, angezeigt wird. Das Zukommende stellt uns. Das ›Stellen‹ wiederum fordert heraus, fordert zu etwas auf und provoziert damit einen Respons, wobei der Aufforderungscharakter der Widerfahrnis nicht notwendig leiblich ›angeht‹, sogar nicht einmal affektiv geschehen muss, vielmehr reicht es aus, ihm das ›Nicht nicht‹ der doppelten Negation zuzuweisen. Es handelt sich also auch nicht zwangsläufig um eine körperliche Reaktion, vielmehr geht es überhaupt nicht primär um eine ›Re-aktion‹, sondern um eine Forderung, die im Sinne eines Angesprochenwerden zu etwas, zu einer Bewegung, einem unwillkürlichen Akt oder Ähnliches auffordert, womit sich, wie Waldenfels weiter betont, die »Dimension des An- […], die alltagssprachlich in Worten wie Anreiz, Anregung, Angehen […] Anrede, Antun beziehungsweise Appell« usw. zum Tragen kommt, aufschließt 25 und deren Vektor auf uns zu kommt, statt dass ihr Reiz, ihre ›Erregung‹ durch uns hindurchgeht oder von uns oder irgendjemand anders angeregt wird. Darum kann solche Widerfahrung auch nicht auf Dinge und ihren Dingcharakter projiziert werden, von deren Affordance oder Aufforderungscharakter neuerdings der sogenannte Neue Realismus in der Spielart Maurizio Ferraris wie ebenfalls die Objekt-orientierte Ontologie spricht, ohne diese freilich zu spezifi zieren.26 Kurz: ein Anspruch, von dem wir nicht wissen, was er ist, terminiert eine Affektion und nötigt zu einem Respons, der ebenso wenig weiß, worauf er antwortet. Anders gewendet: Wir antworten wider Willen, sodass die Antwort stets schon vor-geht und einen riskanten Anfang setzt. Noch anders gewendet: Das Antworten kommt vor der Frage, denn die Frage selbst ist schon Antwort, die ihr Worauf verweigert.
V. Zug und Entzug Widerfahrnis und Respons gehören somit auf eine Weise zusammen, die weder von einer Affektion und ihrer leiblichen Ansteckung gedeckt noch affektiv im Sinne einer Handlungsmodifi kation ›ausgetragen‹ werden kann: Ihr Spiel spielt gleichsam auf einer anderen Ebene. Gleichfalls gilt umgekehrt, dass der Affekt nicht zu einem Respons nötigen muss, sodass im Primat der Affektion das Wechselspiel Ebd., 103. Vgl. u. a. M. Ferraris, »Eine kurze Geschichte des neuen Realismus«, in: M. Marszalek, D. Mersch (Hg.), Seien wir realistisch. Neue Realismen und Dokumentarismen in Philosophie und Kunst, Berlin, Zürich 2016, 31‒58. 25
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beider bereits verwischt wird. Affekttheorien bleiben deswegen buchstäblich ihre Antwort schuldig. Ihnen ermangelt es an jeder Ethizität des Antwortens, d. h. an der Duplizität von Responsivität und Responsibilität. Genauso wenig lässt sich aber auch das Antworten allein auf der Ebene der Sprache, der Linguistizität der Rede verorten, vielmehr genügt es, von einer Attentionalität im Wortsinne eines Aufmerkens, der Plötzlichkeit eines Angangs auszugehen, der uns zustößt und dabei auf uns zeigt, dessen Anspruch wir nicht zurückweisen können, der uns mithin zu einer Reaktion oder Resonanz zwingt. Das Zwingende des Zwangs ergeht dabei aus keiner Pfl icht oder Norm, vielmehr abermals aus der doppelten Negation eines Unverneinbaren. Alle auf diese Weise in die Reflexion einbezogenen Ausdrücke erscheinen somit relevant, vor allem ihre jeweiligen Präfi xe, die auf unterschiedliche Trajektorien hindeuten, um jedes Mal ein anderes ›Zukommen‹ zu adressieren. Ihnen ist die Unwillkürlichkeit einer Hinwendung oder Umwendung immanent – ein ›Wenden‹, das schon geschehen ist, sobald etwas geschieht, ein ›Etwas‹, das sich nach Jean-François Lyotard bezeichnenderweise vor dem ›Was‹, dem quid, im Dass, dem quod bzw. in der Dassheit der Quodditas manifestiert, wie sie auch Schelling postuliert hat.27 ›Dass‹, im Wortsinne einer Ekstasis, einer ›Ex-sistenz‹ – es ist dasselbe Wort 28 – bezeichnet mit ›Ek-‹ oder ›Ex-‹ ein aus sich Hervortretendes, eine Ereignung, die immer anders ist als ihre Gewahrung, ihre Kennzeichnung, auch als ihre Affektion als ›dieses‹. Beides, Widerfahrnis und Antwort, entspringen vielmehr einer primären Alterität, die ihren Begriff und ihre Ankunft verweigert, die aber gleichzeitig einen unabweisbaren Zug auslöst – einen Zug, der abermals nicht zu verneinen ist, der ›zieht‹, indem er sich ›ent-zieht‹ und sich in seinem Zug verweigert.29 Nichts anderes meint das Wort ›Be-zug‹, dessen Suffi x das Ziehende betont, das keine Affektion oder Handlung meint, sondern »Wendung«.30 Ihn als Affekt zu modellieren hieße, für ihn bereits ein Organ, eine Sensibilität oder körperliche Erregbarkeit reklamiert zu haben, denen jeweils ein Fühlen, Spüren oder dergleichen korreliert, auch wenn diese noch nicht explizit im Verbund mit einem ›Ich‹ oder Subjekt in Erscheinung getreten sind. Zwar beruft sich der Doppelpass von Entzug und Zug durchaus auf eine analoge Figuration der Wechselseitigkeit, wie sie ebenfalls, vor allem bei Deleuze, für die Affektion reklamiert wird, dennoch erweist sie sich insoweit als weiter gefasst, als sie die vorgängige Leiblichkeit auf eine vorgängige Passivität – Blanchots ›Archepassivität‹ – hin übersteigt und somit
Vgl. J.-F. Lyotard, »Das Erhabene und die Avantgarde«, in: Merkur 424 (1984), 151‒164, bes. 152; ferner zum Unterschied zwischen »quidditativem« und »quodditativem Sein« F. W. J. Schelling, Philosophie der Off enbarung [1841/42] (Paulus-Nachschrift), hg. v. M. Frank, Frankfurt/M. 1977, 99 ff. Vgl. auch D. Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, bes. 3. Teil, 2. Kapitel. 28 Vgl. D. Mersch, Posthermeneutik, Berlin 2010, 15. 29 Zum Motiv des ziehenden Entzugs ebd., 14 f. 30 Ebd., 287‒308. 27
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mit jener vorgängigen Negativität einhergeht, die im ›Entzug‹ statthat und zugleich die Entmächtigung des Subjekts wie seiner Leiblichkeit besorgt. Mit anderen Worten: Jeder in einer radikalen Alterität fundierte Respons ist schon von dieser doppelten Figur der Negativität und des Überschusses gestimmt, doch nie zur Gänze determiniert; sie weiß nicht, woher sie gerührt wird und was ihr widerfährt, vielmehr bezeichnet das Ereignis der Widerfahrnis ein überschießendes Moment, das lediglich ein Feld von Möglichkeiten eröffnet, denen gegenüber die je und je gegebene Antworten eine Spezifi kation bilden, die darin besteht, ihrem Aufforderungscharakter auf eine bestimmte und stets besondere Weise zu ›ent-sprechen‹, mithin ihren Singularitäten eine je einmalige und unverwechselbare Attentionalität zu schenken und folglich eine Achtung entgegenzubringen. Die Konstitution von Sensibilität geschieht erst von dort her. Sie ist weder eine Fähigkeit noch erscheint sie verfügbar, vielmehr vollzieht sie sich mit der Entgegennahme der Ereignung einer Alterität. Mit ihr korrespondiert gleichzeitig die Haltung der Zu- oder Abwendung, die, noch bevor sie affektiv werden könnte, bereits in sich ethisch konnotiert ist. Anders formuliert: Im Unterschied zur Leiblichkeit der Affektion eignet dem Verhältnis von Widerfahrnis und Respons eine genuine Ethizität, von der noch nicht klar ist, was sie sein kann und was mit ihr auf dem Spiel steht. Doch gehorcht sie jener ›Arché-Passivität‹, deren apriorischer Dativ und dessen nichtfeststellbares Objekt den Vorrang des Nominativs und damit jeden privilegierten Status eines Subjekts, und sei es auch nur der Subjektivität von Nietzsches ›großer Leiblichkeit‹, unterläuft.
VI. Gabe Dem sei, noch einen Schritt weiter zurückgehend, der Begriff der Gabe gegenüber gestellt – ›Gabe‹ allerdings verstanden in einem so weiten Sinne, dass nicht nur das ›Geben‹ als sozialer Akt, sondern zugleich ›Ge-Gebenes‹ überhaupt gemeint ist, das in keinem Akt, nicht einmal einem Akt der Schöpfung fundiert werden kann. Ein solches Denken der Gabe sei dem Denken des Affekts entgegengestellt. Um nicht missverstanden zu werden, sei allerdings gleichzeitig eine Einschränkung hinzugefügt. Denn seit Marcel Mauss’ Untersuchung über Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften31 ist die Frage nach ihrer sozialen Rolle und Konstitution nicht mehr verstummt. Erinnert sei vor allem an die Auseinandersetzungen zwischen Claude Lévi-Strauss und Mauss im Rahmen von dessen Begründung einer strukturalen Anthropologie,32 an die Weiterführung der Diskussion im Poststrukturalismus sowie an die dekonstruktiven Lektüren Jacques Derridas über 31 M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1968. 32 Vgl. C. Lévi-Strauss, »Einleitung in das Werk von Marcel Mauss«, in: M. Mauss, Soziologie und Anthropologie, Bd. I, München 1978, 7‒41; sowie E. Leach, Claude Lévi-Strauss. Zur Einführung, Hamburg 2008.
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die aus jeder Zirkularität herausfallenden Singularität der Gabe.33 Sie impliziert deren wesentliche Unbeantwortbarkeit. Ethiken der Gabe widersprechen damit der Ökonomie des Tausches; sie überschreiten aber ebenfalls die Dimension des Affekts, denn die Gabe und ihre soziale Funktion kann aus einer Logik der Affektion nicht rekonstruiert werden. Alles dies kann hier nur angedeutet werden, viel eher soll es mit Blick auf ›Gabe‹ und ›Geben‹ an dieser Stelle um eine Radikalisierung des Diskurses der Phänomenologie gehen, die von Husserls Begriff des Gegebenen und seiner Gegebenheitsweisen ausgeht, um jenseits der Begriffe von Intentionalität und Erfüllung eine ›Ge-gebenheit‹ als ›alteritäre Ex-sistenz‹ anzunehmen. Sie wendet das ›Es gibt‹ des Existenzsatzes in das Ereignis einer Gabe. Tatsächlich sprengen diese Überlegungen zur Gabe sowohl die Transition von der ›Er-fahrung‹ zum ›Widerfahrnis‹ als auch von der Affektion zur Erscheinung. Zugleich wenden sie sich dem liegengebliebenen Problem des Auftauchens (Okkurenz) zu, die nicht nur Affekttheorien, sondern auch die Widerfahrungsdiskurse auf seltsame Weise ausgeblendet haben. In den Mittelpunkt tritt damit ein genuines Thema phänomenologischer Forschung. Denn fasst Edmund Husserl – sehr verknappt und aus der Perspektive seiner späteren ›transzendentalen Phänomenologie‹ –, die Phänomene von ihren bedeutungsverleihenden Akten und deren Modalitäten her, haben spätere Phänomenologen, in erster Linie Heinrich Barth, Jan Pato čka, aber auch Martin Heidegger, Emmanuel Levinas und ganz besonders Jean-Luc Marion über die Priorität der intentio hinaus nach der Selbstmanifestation der Erscheinungen gefragt, und zwar wesentlich in Begriffen der Gabe und ihrer ›Ge-gebenheit‹. Die sprachlichen Vorschläge variieren, doch erweisen sie sich als ebenso mannigfaltig wie verwandt. So spricht Heinrich Barth vom »Erscheinen der Erscheinung«, wobei die vermeintliche Dopplung jener Nuance entstammt, die die Frage danach stellt, wie das Erscheinen selbst »in Erscheinung tritt« deren Beantwortung aus dem Übergang vom Substantiv zum Verbum, vom Resultat zum Prozess erfolgt.34 Die »Erscheinung«, die im »Erscheinen« ihren eigentlichen ›Augen-Blick‹ und ihre Singularität besitzt, habe, wie Barth es in seiner Erkenntnis der Existenz ausdrückt, in der »›klassischen‹ philosophischen Überlieferung« keinen angemessenen Platz und keine »Anerkennung« gefunden; bestenfalls verbleibe sie in der Randzone des Ästhetischen. Hingegen habe sie, so Barth weiter, für »die Erfahrung der ›Wirklichkeit‹ eine fundierende Bedeutung. […] Von der
J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben 1, München 1993, v. a. 143 ff.; ders., »Wenn es Gabe gibt – oder: ›Das falsche Geldstück‹«, in: M. Wetzel, J.-M. Rabaté (Hg.), Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida, Berlin 1993, 93‒136. Ferner I. Därmann, Theorien der Gabe. Zur Einführung, Hamburg 2016; H. Holleis, Die vergebliche Gabe. Paradoxien der Entgrenzung im ethischen Werk von Jacques Derrida, Bielefeld 2017. 34 Vgl. K. Barth, Erkenntnis der Existenz, Basel, Stuttgart 1965, 104 f. Vgl. dazu auch D. Mersch, »Phaneisthai. Zu Heinrich Barths Phänomenologie des Erscheinens«, in: ders., M. Fliescher, F. Goppelsröder (Hg.), Erscheinen. Zur Praxis des Präsentativen, Reihe Sichtbarkeiten, Bd. 1, Zürich, Berlin 2013, 109‒120. 33
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›Erscheinung‹ nimmt alle Frage, nicht erst die Frage der Philosophie, ihren Ausgang.« 35 Heidegger hat wiederum für diese Selbstheit des phaenomenons in Sein und Zeit einen Ausdruck vorgeschlagen, der ebenfalls in maßgeblicher Weise auf ein verbum zurückgeht, nämlich das Sichzeigen.36 Am Sichzeigen ist aber das ›Sich‹ entscheidend, d. h. es handelt sich nicht um ein transitives Zeigen, eine Deixis, sondern um eine Intransitivität, die ihren Grund in keiner anderen Ursache hat, als allein in sich selbst bzw. in dem, was das ›Sich‹ an Aufschluss oder Offenbarung bietet. Offenbarung aber gemahnt an das Offenbarwerden eines Unverborgenen, d. h. an al ētheia oder den Prozess jener »Entbergung«, die – im Sinne von ›Wahrnis‹ – in der Zeit als ihre Zeitigung geschieht. Sie erweist sich als ›ekstatisch‹. ›Ek-stasis‹ und ›Ex-sistenz‹ verweisen, wie bereits angedeutet, aufeinander, auch wenn Heidegger diesen Zusammenschluss auf das Ereignis des Sinns, nicht des Geschehens selbst bezieht. In seinen späteren Vorträgen: Was ist das – die Philosophie? und Was heißt Denken?, die bekanntlich in einer Verschiebung der Formulierung dem nachgehen, was uns allererst ›ins Denken heißt‹, d. h. was dem Denken seinen Anlass, sein ›Geheiß‹ ›gibt‹, ergänzt Heidegger, angeregt von der klassischen Frage nach dem Sein und der Behauptung: ›Es gibt Seiendes‹ sowie dem Grundproblem des Grundes ›Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts‹, die verschobene Version: ›Es gibt‹ mit dem Neutrum ›Es‹ und einer Betonung auf das ›Geben‹, das nicht Akt, sondern Geschehen ist, was gleichzeitig die Phänomenalität des Sichzeigens zur Ereignung eines Sichgebens transformiert.37 Das Ereignis des Sichgebens aber ›vergibt‹ eine Gabe. Das »Erscheinen der Erscheinung« sowie das »Sichzeigen« und die ›Gabe‹ gehören folglich zusammen. Sie bezeichnen im Namen des Phänomens das, was Husserl das ›Gegebene‹ nannte und das nunmehr, versehen mit einem Bindestrich, als GeGebenheit‹ oder Gabe bzw. als Präsent und Präsenz verstanden wird, ohne mit ihnen sogleich schon theologische Konnotationen zu verbinden, auch wenn deren Assoziation mit Blick auf die Geschichte der Schöpfung und ihrem vom Menschen nur Annehmbaren nicht zu vermeiden ist.
VII. Ethik der Donation und der Anspruch des Anderen Die konsequenteste Verfolgung dieses Gedankens fi ndet sich allerdings mit deutlichem Bezug auf eine philosophische Begründung von Theologie bei Jean-Luc Marion, wobei dieser eindeutiger das ›Es gibt‹, Il y a im Französischen, mit Cela donne übersetzt und die ›Gegebenheit‹ überhaupt als donation fasst.38 Dann gehört Barth, Erkenntnis der Existenz, 105. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 121972, § 7, 28 ff. Der Ausdruck ›Sichzeigen‹ ist ebenfalls maßgeblich für meine eigenen Überlegungen in: Mersch, Was sich zeigt. 37 M. Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, Pfullingen 1956; ders., »Was heißt denken?«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 41978, 123‒137. 38 Vgl. Beiträge Jean-Luc Marions zur Phänomenologie der Gabe, in: M. Gabel, H. Joas 35
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nach Marion die »Selbstheit des Sich-gebens« zu »jeder Selbstgegebenheit«, sie geht ihr sogar voraus, wie gleichzeitig zur Phänomenalität des Gegebenen der absolute Vorrang des ›Sich‹ gehört.39 Ohne das ›Sich-geben‹ und die ›Ge-gebenheit‹ der Gabe ließe sich dann weder etwas sehen noch denken, wobei das ›Ge-gebensein‹ als reiner Überschuss gedacht wird, der keine Grenze kennt. Erneut sind wir mit einem Überschuss konfrontiert, der zudem im Menschen weder Grund noch Ursache hat, vielmehr bedeutet er eine reine Alterität. »Was erscheint, gibt sich«, lautet deshalb Marions Bescheid in seinem Aufsatz Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit: »Das heißt, es erscheint ohne Rückhalt und Rest. Es tritt […] ein, ereignet sich und erlegt sich als solches auf, und zwar nicht als der Schein […], sondern als es selbst […].«40 Umgekehrt heißt es: »Nichts erscheint leibhaft, wenn es sich nicht gibt«, sowie schärfer: »Das Gegebene stellt sich dar«, und zwar im wörtlichen Sinne einer Exposition, und zwar »weil es explodiert«. 41 Dass nichts leibhaft erscheint, »wenn es sich nicht gibt«, unterläuft deutlich die Lehren des Affekts. Dabei erweisen sich das ›Ex-‹, das Herausstehen, sowie die Selbstausstellung der Gabe als wesentlich. Deshalb schreibt Marion weiter: »Sich-geben entspricht daher genau dem Sich-zeigen. Was sich gibt, zeigt sich.«42 Geben, die Gabe, ebenso wie Erscheinen und Widerfahren, wird dabei unmittelbar mit dem Ereignis, dem gleichermaßen Entgegenkommenden wie Sich-Aufdrängenden in Beziehung gebracht: »Dieses Gegebene gibt sich mir, weil es sich mir aufdrängt, mich vorlädt und mich bestimmt. Kurz: Weil ich nicht sein Urheber bin. Das Gegebensein verdient seinen Namen, da es mich vor vollendete Tatsachen stellt, es stößt mir zu. Darin unterscheidet es sich von jedem berechneten, synthetisierten und konstituierten Objekt, da es als ein Ereignis geschieht.«43 Aus diesem Grunde führt die Philosophie der Gabe für Marion zu einer anderen »Ersten Philosophie«, die weder Ontologie noch Epistemologie ist, sondern Phänomenologie, die durchaus mit den Phänomenologien des Alteritären bei Levinas, Bernhard Waldenfels und anderen, auch wenn diese einem anderen Anfang, dem Anfang des Anderen zu genügen suchen, die in die Ethik als Erster Philosophie münden, eine tiefe Verwandtschaft unterhält. Man könnte sagen: Phänomenologie, dort wo sie bis zum Äußersten geht, impliziert nicht nur, wie bei Heidegger und Levinas, eine Metaphysik- oder Rationalitätskritik, sondern eine Rückbeugung auf das Ereignis oder die Ekstatik (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg i. Br., München 2007, 15‒139. Insbes. auch H. Joas, »Die Logik der Gabe und das Postulat der Menschenwürde«, sowie I. Dalferth, »Alles Umsonst. Zur Kunst des Schenkens und den Grenzen der Gabe«, beide ebd., 143‒158; 159‒191. 39 J.-L. Marion, »Reduktive ›Gegen-Methode‹ und Faltung der Gegebenheit«, ebd., 37‒55, hier: 39. 40 J.-L. Marion, »Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit«, 56‒77, hier: 67. 41 Marion, »Reduktive ›Gegen-Methode‹«, 53. 42 Ebd. 43 Marion, »Eine andere ›Erste Philosophie‹«, 72.
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der Welt, die – sogar über Heidegger hinaus – aller Hermeneutik wie auch Transzendentalphilosophie oder Fundamentalontologie widersteht, um sich an das zu kehren, wo unser elementarstes Verhältnis zur Wirklichkeit beginnt: bei der absoluten Gabe der Ex-sistenz, die ohne Geber ist und die nur in der absoluten Negativität ihrer Bestimmungslosigkeit wie Offenheit manifest werden kann. Blickt man von diesem extremen Punkt auf den Gegensatz von Affekt und Gabe zurück, folgt daraus, dass der Affekt sich an die Leiblichkeit als seinen Meister bindet und bestenfalls als Leib, der immer schon mein Leib ist, wie unbestimmt, präsubjektiv, partial oder unbewusst auch immer, antwortet; er entkommt daher seiner ebenso egologischen wie solipsistischen Mythologie nicht. Was dabei der Affekt nur andeutet, entwickelt der Begriff der Widerfahrnis, der dem Affekt vorausgeht, entschiedener, weil er die Erfahrung überhaupt in dem fundiert, was von einem Anderen oder Außen herkommt, das im Sinne einer ursprünglichen passibilité, der Fähigkeit zur Annahme und Aufnahme, nur angenommen werden kann, weil es uns in seinen Anspruch stellt. Doch setzt jede Widerfahrung noch voraus, dass es ›etwas‹ gibt bzw. etwas ›ge-geben‹ worden ist, das ekstatisch auf uns zukommt, kein ›etwas‹ im Sinne einer distinkten Entität, sondern als Ereignis einer Alterität, auf das wiederum die ›Gabe‹ als ein unwiderrufl iches Zuvorkommen verweist. Sie erinnert uns daran, dass wir in etwas hineingestellt sind, das uns übersteigt, das wir nicht gemacht haben und dessen ›Herrschaft‹ wir nicht zu übernehmen haben. Aus der ›Gabe‹ und der daraus folgenden Sekundarität und Abhängigkeit des Subjekts leitet sich erst die Empfi ndung ab. Sensibilität begründet sich daher als Ethik und aus einer Ethik der ›Gabe‹. Sie ist noch nicht eine soziale oder politische Sensibilität, sondern zuvorderst eine ästhetische. Ethik und Ästhetik gehören dabei zusammen. Bleibt jedoch das Widerfahrnis noch auf der Schwelle von Erfahrung und Aufmerksamkeit, die eine ›Wendung des Bezugs‹ induziert, mündet sie zugleich in einer Ethik des Antwortens, die auf der Ebene des Affekts nicht zu beschreiben ist. Nochmals über eine solche Ethik hinaus setzt der Topos der Gabe auf ein Sichgeben absoluter Ex-sistenz, die auf keine Antwort wartet. Die Ethik der Gabe erweist sich daher einer Ethik der Responsivität als vorgängig. Sie ist wie diese in Asymmetrie fundiert. Erst von dort her stellt sich die Frage nach dem Sozialen und seiner Sozialität, nach dem Politischen, den Ökonomien des Ausgleichs, der Gerechtigkeit und Symmetrie.
VIII. Fremdheit, Feindschaft, Gewalt Dies führt zu der letzten Frage, inwieweit ein solcher Diskurs, wie auch jener, der sich von Levinas’ Philosophie des Antwortens her schreibt, eine Restitution des theologischen Denkens impliziert. Dem ist indessen entgegenzuhalten, dass es einen entschieden nichttheologischen Sinn der Gabe gibt, die sie von aller Schöpfungsgeschichte entkoppelt, sodass ihre Rekonstruktion als Gabe der Ex-sistenz und einer damit verbundenen Ethik der Ex-sistenz auf jenen gemeinsamen Grund von Philoso-
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phie und Theologie führt, an dem die Philosophie im Augenblick des Innewerdens absoluter Immanenz halt macht, während ihr die Theologie mit der fortwährenden Anrufung einer abstrakt und hypothetisch bleibenden Transzendenz gerade zu entfl iehen sucht. Nicht der Diskurs der Gabe wurzelt in Theologie, sondern Theologie im Diskurs der Gabe. Deswegen nennen wir die aus ihm begründete Sensibilität ästhetisch, nicht religiös. Und doch bleibt eine offensichtliche Verwandtschaft, weil sich das Ästhetische in einer Haltung der Bescheidung, der Demut und Selbstzurücknahme realisiert, aus der eine Ehrfurcht spricht, die mit religiösen Haltungen, aber auch mit tiefer Spiritualität, wie sie vorzugsweise ganzheitlichen Ökologien entspringen, eine direkte Verbindung unterhält. Gleichwohl lässt sich aus den theologischen Diskursen lernen, denn mit jeder Theologie stellt sich gleichermaßen auch das Problem der Theodizee.44 Es wäre in ähnlicher Weise ebenfalls hier aufzuwerfen, nicht im Sinne eines radikal Bösen, sondern in der Bedeutung absoluter Gewalt. Keine Gabe erweist sich als einfaches oder ›unschuldiges‹ ›Geschenk‹, vielmehr gibt es ebenso negative Gaben wie zum Geschenk selbst die Ambivalenz, die Nötigung oder Beschämung gehören kann. Darum bricht sich das Denken der Gabe an solchem Geben, dem die Aggression, die Verderbnis selbst innewohnt. Es sind gleichsam die Gaben des Epimetheus, die es den prometheischen Gaben, den Vermögen zu Kunst und Technik, die dem Wortsinne nach der ›klugen Vorsorge‹ entstammen und sich gegenüber den Unbilden der Gewalt zu schützen wissen, gleich zu tun suchen, aber in einer stets zu spät kommenden ›dummen Nachsorge‹ verenden, die die Gewalt nur weiter herauf beschwört.45 Ihnen mit den apostrophierten Haltungen der Bescheidung oder Demut und Selbstzurücknahme zu begegnen, hieße, sich der Gefahr der eigenen Vernichtung preiszugeben. Dasselbe gilt im politischen Diskurs für die exzessive Feindschaft.46 Sie stellt sich der Annahme und Aufnahme der Gegnerschaft bis zu dessen Vernichtung. Sie konterkariert damit die aus asymmetrischer Zuvorkommenheit geborene Ethik der Alterität und bildet so, wie auch Burkhard Liebsch mehrfach unterstrichen hat, den eigentlichen Prüfstein einer Theorie der Sensibilisierung, sei sie als ästhetische, ethische oder soziale entwickelt. Die eigentliche Frage lautet dann: Wie ist Sensibilität, Empfi ndlichkeit und Empfänglichkeit im Angesicht äußerster Feindschaft möglich? Das bedeutet auch: Nicht der Andere schlechthin, seine mit nichts zu vergleichende Andersheit und Fremdheit, erscheint als die entscheidende Provokation von Sensibilität, sondern der Feind in seiner äußersten Desensibilisierung und Dehumanisierung bis zur Verleugnung von Gemeinschaft
Vgl. P. Stoellger, »Figuration und Funktion ›un/heiligen Personals‹. Zur Figurenlehre medialer Anthropologie«, in: C. Voss, L. Engell (Hg.), Mediale Anthropologie, Paderborn 2015, 201‒250. 45 Vgl. dazu B. Stiegler, Technik und Zeit: Der Fehler des Epimetheus, Berlin, Zürich 2009. Allerdings stellt Stiegler die Verhältnisse auf den Kopf. 46 B. Liebsch, Renaissance des Menschen? Zum polemisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart, Weilerswist 2010, 53 ff. 44
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und Gemeinsamkeit. Alle genannten Attribute einer anvisierten Ethik der Gabe scheinen dann ausgesetzt, umgekehrt, ja bis zur Absurdität entstellt. Dennoch scheinen diese – die Gewalt wie die Feindschaft – eine solche Ethik noch zu beanspruchen. Denn stehen nicht die Einsichten in die genuine Asymmetrie des Alteritären sowie die Praktiken des Antwortens und der Zuwendung oder Anerkennung den ebenso asymmetrischen Figuren der Feindschaft gegenüber, nur dass diese zuvor schon eine Symmetrie in Anspruch genommen haben muss, um sie sekundär zu verwerfen? Rechtfertigt sich nicht jede Strategie einer radikalen Negation durch eine Inversion oder Spiegelverkehrung, die sich einer Ethik der Alterität bereits bedient haben muss, um sich zu artikulieren? Die Denunziation Anderer als Unmenschen oder Untermenschen, ihre Exklusion aus der Gleichheit, beruft sich geradezu darauf, es mit anderen Menschen und menschlich Anderen zu tun zu haben, zwischen die der Keil einer Diabolisierung, einer Depravation und Verächtlichmachung geschoben worden ist. Der Feind zehrt folglich von derselben Kategorie der Akzeptanz. Das hatte auch Carl Schmitt mit fast psychoanalytischer Klarsicht erkannt: »Der Feind ist unsere eigene Frage«, heißt es im Glossarium, seinen Aufzeichnungen aus den Jahren 1947‒51. »Feind ist, wer mich in Frage stellt […]. Wer kann mich denn in Frage stellen? Im Grunde doch nur ich mich selbst.« Das bedeutet: »nur mein Bruder kann mich in Frage stellen und nur mein Bruder kann mein Feind sein.47 Deshalb gehört zur Feindschaft die Anerkennung als Feind, deren Anerkenntnis die Anerkenntnis als Anderen, der mir gleicht und würdig erscheint, inkludiert. Es ist dann der Weg nicht weit, dass sich mein Unbewusstes und dessen unerfüllbare Wunschordnungen in der Figur der Feindschaft mit derselben Leidenschaft wie gegenüber der Freundschaft ausdrückt,48 sodass es schließlich nicht verwundert, dass sich ein Feind durch nichts Spezifi sches auszeichnet, dass er sich gerade nicht unterscheidet, dass er mich verfolgt, so wie ich mich selbst verfolge, dass folglich seine Bedrohung meine eigene angenommene Projektion ist. Aus diesem Grunde heißt es auch, dass der Hass der Liebe zum Verwechseln ähnlich sieht: dieselbe Bindung, die gleiche spektakuläre Besessenheit. Das Feindbild ist folglich Zerrbild als Abbild. Es besticht, in seiner befremdlichen Diabolik, durch Ähnlichkeit. Die Angst vor dem Anderen ist mithin homolog der Angst vor dem Fremden in mir, sodass seine Dämonisierung mit meinen Dämonen zusammenfällt – und damit zuletzt gegenstandslos wird. Allerdings verbleibt diese Argumentation, so zutreffend sie auch sein mag, überall auf der Ebene des Sozialen, setzt sie und damit die Vorgängigkeit des Alteritären voraus – denn wir sind, in einem wesentlichen Maße, soziale Wesen, nichts ohne die Anderen, die uns vorausgehen, die unser Gedächtnis und unsere Geschichte sind. Vor dem Sozialen aber kommt das Ästhetische, das Zuvorkommen selbst und seine Gabe als einer Ethik der Ex-sistenz. Die Feindschaft fi ndet darum nicht nur ihre Grenze an der Unabdingbarkeit des Sozialen, die sie zugleich mit dem 47 48
C. Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947‒1951, Berlin 1991, 217 passim. Auch Liebsch, Renaissance des Menschen?, 62 f.
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Anderen als Gegner negiert, sondern ebenfalls an der Gabe der Ex-sistenz selbst, die uns noch eine Verantwortung dem gegenüber auf bürdet, das von solcher Verantwortung nichts weiß, ja, das nicht einmal von uns etwas wissen will. Ist nicht vielleicht diese unbedingte Bürde der Grund der Gewalt? ›Ver-antwortung‹ ist gewiss unteilbar; aber in erster Linie kann es keine Übernahme von Verantwortung so wenig wie eine Stellvertretung für den Anderen geben, so wie die Gabe im gleichen Maße beantwortbar ist, wie sie als unverantwortbar erscheint. Und dennoch bleiben wir überall von ihr adressiert, gestellt und beansprucht, sodass es nicht das Antworten allein ist, das im letzten Sinne die Sensibilität terminiert, sondern der immerwährende und nirgends zu tilgende oder zu verdrängende ›An-spruch‹ unverfügbarer ›Ex-sistenz‹ selbst.
The A mbiguity of a K iss Andrew Haas
What does it mean to be sensitive to another? How can we become sensitized to the other? One way—Levinas’ example—is with a kiss, with the ambiguity of a kiss that exposes us to another kind of sensibility, makes us susceptible to the proximity of the other, vulnerable to the trace of an absence qua absent, the approach qua approach. And this is a praxis that resists the history of philosophy’s attempt to disambiguate the kiss, that steps back from the desensitized violence of translating the saying of an infi nite alterity into a fi nite said. For the ambiguity signifies that which metaphysics as onto-henology cannot think, namely, the other of being, and the kiss that is otherwise than being. But if we are to become sensitized to such an otherness, it is by kissing in such a way that we—taking a clue from what Levinas fi nds in language—also think the verbality of the verb, that is, the diachronic tense and incomplete aspect of the kiss. We sensitize ourselves thereby, to a way of kissing otherwise, a praxis that allows the ambiguity of a kiss to signify, not merely the presence, but far more the absence of the other—and verbalize thereby, the otherness of the other. Or does it? For the ambiguity of the kiss could also imply another way of verbalizing, one in which the verb is neither present nor absent, but implied—and this sensitizes us to a way of kissing that suspends the presence and absence of the one who is supposed to be kissed, suspends the act of kissing itself, even suspends any possibility of sensitization whatsoever. We are then left with the problem of kissing, and that which is implied by the ambiguity of the kiss.
I. Invitation to a Kiss “The ambiguity of a kiss”—this is Levinas’ example of sensibility in Otherwise than Being.1 Kissing is contacting, but contact is ambiguous: on the one hand, I traverse and overcome the distance between us by touching the other; on the other hand, the other remains infi nitely removed from me, distanced by an infi nite transcendence—and the touch overcomes nothing. Sensibility then, does not merely open us to another; it exposes us to ambiguity, contact and non-contact. Or rather, the ambiguity of a kiss makes us susceptible to the proximity or the nearness of the other—like Heraclitus’ ἀγχιϐασίην2 , or Joyce’s “almosting it”.3 The kiss both reaches
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E. Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Dordrecht 1978, 121 (=AE). H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1903, Fr. 122. J. Joyce, Ulysses, London 1986, 366-67. It would have been possible, perhaps in another
ZÄK-Sonderheft 17 · © Felix Meiner Verlag 2018 · ISBN 978-3-7873-3544-2
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the other and does not reach, touches and does not touch—for “sensibility is being affected” by the other, by the alterity of the other, that is, the infi nite otherness of the other (AE, 121). And yet, how can I be affected by that which I cannot reach? How can sensibility allow me to touch (or kiss) that which is infi nitely far? Or rather, not quite kiss, but come close to kissing, come into proximity with the other—and thereby, expose myself to the truth of the impossibility of kissing (which is the inadequacy of truth, and truth qua inadequacy), of reaching or touching the otherness of the other? In fact, for Levinas, the kiss sensitizes me in a way that I cannot know or imagine—for the sensible is beyond cognition, understanding, knowledge, thinking, and beyond imagination, representation, mediation. The concept (or image) of a kiss would have to symbolize the whole, just as the concept—if it is to be a true concept—would have to correspond or correlate perfectly, completely, totally, homogeneously, with its object; and an incomplete or one-sided concept (like a disharmonious or heterogeneous image), would be no concept at all. As Kant writes: “in all subsumptions of an object under a concept the representation of the object must be homogeneous with the concept”.4 But the kiss breaks the homogeneity of concept and object, and announces itself as beyond the image—for kissing is not merely an idea, and picturing lips (however realistic or explicit) is not the same as kissing them. In other words, the idea or ideal of kissing maintains an aura of what transcends all idealization; just as the image of a kiss refers to what it claims to represent. And the act or activity of putting the kiss into language simply continues the trend: when the actual lived-experience of kissing is put into words—said in text, to consider the ambiguity of the kiss in Levinas and Othello (as I have tried to think ambiguity in The Ambiguity of Being, Heidegger in the Twenty-First Century, Dordrecht 2015). For as Othello kisses, he kills himself and kills another, a murder-suicide: “I kissed thee ere I killed thee—no way but this: // Killing myself, to die upon a kiss (Shakespeare, 2005, 5.2.58). And not just the kiss—for the play is full of ambiguities: “Othello: I think my wife be honest, and think she is not // I think that thou art just, and think thou art not” (W. Shakespeare, The Complete Works, Oxford 2005, #3.3.385). And the ambiguity of the kiss comes out of jealousy, that is, threat or suspicion of adultery, rumour or insinuation of betrayal; or more precisely, an implied aff air. But here, a double-impossibility—even if they change places in Othello’s good graces, substituting one-for-the-other: on the one hand, Desdemona cannot prove that she has been faithful and pure; on the other hand, Iago cannot prove that she been unfaithful and contaminated (probably as little as that she was a virgin). And the evidence of a handkerchief, like a slanderous word or besmirched name, is not just inconclusive, but open to a host of interpretations and misinterpretations. Othello’s sensitization to this fi nitude, and its infi nite other, comes from Iago; it is, however, no mere “intellectual lack” (S. Cavell, Disowning Knowledge, Cambridge 2003, 137)—for this would simply resign thinking to impotent ignorance or ethico-political quietism, while mystifying the otherness of the other into a metaphysical or theological unknowable unknown. On the contrary, sensitization to the ambiguity of a kiss is precisely what makes the sense to sensibility possible, and illuminates the significance of the impossibility of approach the other. So do Othello and Desdemona know or touch one another? Have they known each other, being infi nitely close, and infi nitely far? 4 I. Kant, Gesammelte Schriften: Akademie-Ausgabe, Berlin 1900, IV A137; III B176.
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the form of a said, un Dit, which absorbs and sublates the saying, le Dire—it is transformed into what it is not, and becomes a mere linguistic formula.5 But both the “immediacy of sensible kissing,” and its incomplete aspect (the continuous action of the verb) is lost, if it is translated into a complete kiss, a kiss that is done, accomplished (AE, 102). And the enjoyment (the excessive wounding and overflowing suffering that, in restless proximity, opens up our vulnerability to the other, like our nearest and dearest) of kissing another is de-sensibilized and anaesthetized in being kissed. For sensation is not reducible to the idea or cognition of sensation any more than the sensible is to sensible intuition or image; although the motivation for such a dominating reduction or repressive abstraction—however normal and normalizing—remains dominant in the present age (and in ontology as a whole). Thus, the task is to illuminate how the sensibility of the kiss has a pre-cognitive or pre-conceptual sense, a pre-intuitive and pre-mediated meaning, as well as a pre-ontological significance—for as Levinas insists: “sensibility qua vulnerability nonetheless signifies” (AE, 104). How then, can a kiss signify, if it is neither in knowing intelligibility, nor in theoretical intentionality6 , nor in imagination and its representations, nor in predicative judgments and being said? Levinas is quite clear: kissing signifies in desire, in what cannot be reached and grasped, had and possessed—it manifests itself in proximity to the other (and in responding to another, like a next-door neighbor which is a relation of responsibility for another). For the sensation of kissing signifies in a non-representational way, pre-consciously and pre-naturally, before being understood or known, prior to any ontological thematization. Thus, sensibility illuminates by revealing the other of the kiss—which is the kiss of the other (not of the same)—the light before its gets perverted by the privilege and privileging of thought, a light that signifies “before it gets bent into perseverance in being” (AE, 108). But how can kissing have meaning for us, if we are the ones who are supposed to sense its significance? Again, Levinas is clear: we get a sense of kissing insofar as it separates (de-phases, loosens, unclamps) us from ourselves. The kiss unclamps us from our identity—and in this rupture, “I am [est] an other”7 (Rimbaud), out of joint, and the other is in me. Indeed, in kissing, another substitutes for me, enters into me and exposes me to the other, to alterity in identity. In other words, the kiss has meaning insofar as I am no longer myself, no longer a normal psyche constituted by a linguistic system in which subject and object are brought into simultaneous correlation; rather, the sensible psyche is animated by “the significance of the-one-for-the-other” (AE, 113). But no longer being myself, no longer being self-same, no longer correlating or corresponding to myself, I still relate to myself, 5 AE, 101; A. Haas, Metaphysik und Gewalt: Unendlichkeit bei Descartes und Levinas, Paderborn 2008. 6 F. Brentano, Von der mannig fachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, Freiburg 1862. 7 A. Rimbaud, “La lettre du voyant to Paul Demeny” [15 May 1871], in: Œuvres complètes, Paris 1972, 250.
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albeit in a relation of different terms in different times. In other words, I have an uneven relationship with myself, but I am not indifferent thereto; on the contrary, the unevenness is one to which I am far more quite animated. Thus, I have a sense of kissing insofar as it exposes me to the other, another who is separated from me, but simultaneously united with me. And the sensation of the kiss—what is that? For Levinas, it is orgasmic: kissing is coming, la jouissance. On the one hand, in kissing, the sensible subject fulfi ls a hunger, a desire for the other: I become full. On the other hand, what I want in wanting is precisely not fulfi lled: I remain empty, frustrated. In this way, my desire is not just mine; rather, desire is desire of desire (that is, both the desire to desire; and the desire that belongs to desire itself, which I am fulfi lling). And if my orgasm is mine, it is because “orgasm is the orgasm of the orgasm” (AE, 118). Thus, desire has significance for us, orgasm signifies for beings of flesh and blood—prior to any reflection, representation, cognition—because it makes me want what I want, exposing me to the meaning of its substitution (one-for-the-other, the other in or as me, insofar as I want in spite of myself ), making me vulnerable to desire, to the desire of desire, to the immediacy of an orgasm, to jouissance materialized in the sensation of a kiss. The ambiguity of the kiss then, is precisely the frustrated fulfi lling and rekindling of desire that exposes me to the other; it is the materialization or putting into action of a sensibility that makes me vulnerable to desire that is beyond me, beyond my control, a coming from which there is no protection—and it is a praxis from which there is no holding back. For desire in the kiss has an ambiguous meaning: on the one hand, it is mine and I want to kiss the other, to put my desire into action; on the other hand, desire is desire of the other—it comes over me and makes me come. But this is why the kiss qua sensible exposure to the other is an act qua desire that is never done in the present: I do not want; rather, wanting has already been given to me—in the past—and so I want. In this way, as the grammar of sensibility shows, the action of the verb (to want, to desire, to come, to want to kiss, to desire to come) has already happened in past tense, avoir-été-offert, which is how it can come to presence in the kiss—for the deed has been done and sensibility is not my doing, but is done to me; so, it is the putting into action of a desire that has always already acted, the presentation of a past (non-present) wanting, the beginning of what has already been fi nished. And not just past—for the action of the verb is far more inactive, non-active or passive: desire is always already happening to me, and in desiring, I am not free; rather, desire itself determines my desire. Or, I am sensitive because sensibility is originally given to me as mine. As Levinas insists, sensibility itself has no origin—and it needs none because it is infi nite, which is why the action of the verb is in the infi nitive, avoir: “the passive past infi nitive form underlines the non-present, the non-commencement, the non-initiative of non-initiative sensibility which is older than any present, and is not a passivity contemporaneous with and counterpart of an act” (AE, 120). In other words, the infi nite action of the past-passive verb is an-archaic,
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and so serves as the ground of my fi nitude, gives or offers, offert, me the possibility of sensing, thereby allowing the coming to presence of coming, as much as the desiring of desire. Thus, the grammar of infi nite sensibility is the clue to the discovery of any possible fi nite sensation whatsoever. But the gift of sensibility that comes to presence in the ambiguity of the kiss, in the contact of the lip, the pressing of flesh—what is that? Levinas is clear again: the essence of sensibility is vulnerability. And in sensation, I am vulnerable to the alterity of the other—or, in exposing myself to the other, infi nite vulnerability comes to presence in the ambiguous fi nitude of kissing. In other words, I kiss another and become sensitive to the fact that I have been given sensibility. I come into contact with the other and sense that I am vulnerable thanks to the gift of fi nite vulnerability that has always-already been given to me—without exchange, without any demand for return or a counter-gift—and this is how kissing can sensitize me to the infi nite givenness of vulnerability (AE, 120). And yet, the kiss that puts me in contact with another also sensitizes me to what I am missing, to the hither side, behind and beyond—which Levinas names: proximity (AE, 121). For sensing the presence of the other’s fi nitude also marks out the absence of the infi nite, indicates the alterity that does not manifest itself in the manifestation. In other words, in kissing, sensibility is affected both by a phenomenon and a non-phenomenon, an appearance and a non-appearance, a being that is present to the touch and a non-being that is absent and untouchable. On the one hand, in contact with the other, I can grasp their fi nitude; but on the other hand, I cannot contact the other’s infi nity—rather, I can only come close, come into proximity with their infi nity, at least if it is to remain infi nite. And if I claim to have grasped infi nity, it is only because I have translated it into the language of the fi nite, because I have transformed grasping into the grasp of the graspable, or transmogrified the ungraspable into the graspable. But like an always-to-come-Messiah or an ever-withdrawing-God, infi nite proximity continues to be non-thematized, unknown, beyond all possible experience, non-objective—for what is proximate can never be breached, at least without the violence that turns it against itself, thematizes and objectifies it, claims to be able to know and experience it, that makes or remakes it into what it is not, slips it into a Procrustean bed, not of its making. And it is precisely this violence that, in the ambiguity of a kiss, sensitizes me to the proximity of what makes no sense, what I cannot have or possess, which is why I am obsessed with the other’s infi nity, with non-thematizable alterity, with infi nite singularity, the τόδε τι of the one that does not appear. Thus, proximity is neither a matter of a space to be detected and measured, estimated and overcome, like some “infi nitesimal degree of quantity”; nor a subjective experience (whether purely particular or universal, possible or necessary) to be had and repeated, of what presents itself in consciousness; nor an objective sense or meaning to be grasped and said, known and gathered and articulated—rather, “proximity signifies as proximity” in the ambiguity of a kiss that sensitizes me to the infi nite otherness of the other which cannot be brought to presence, and so, to the significance of approach, to
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the truth that “adequation is impossible” because “proximity is an impossibility” (AE, 128, 138, 140, 143). The ambiguity of the kiss then, sensitizing me to the proximate other—but it also makes me responsible for responding to proximity. And this is, Levinas insists, an inescapable and unexceptional responsibility: (1) unexceptional insofar as it signifies prior to every consent or contract, every pact or promise; (2) inescapable insofar as it accuses me in every kiss, even prior to kissing (AE, 141). For I am sensitized to the other’s infi nity, but unable (as a fi nite being) to respond adequately; which is why, “each of us is guilty in everything before everyone, and I most of all”.8 Thus, insofar as the infi nite alterity of the other, neither appears nor comes to presence, neither presents nor represents itself, and is “sought as though it were not there…like an absence which, however, could not be more there”; the ambiguity of kissing, nevertheless, exposes and accuses me, demands that I respond to a responsibility that is beyond me (but to which I cannot be indifferent)—and this is what Levinas names: “the very birth of signifi cation beyond being” (AE, 144). But how can the kiss give birth to significance beyond being, and how can I get a sense of it? Levinas is quite clear: in kissing a trace of the infi nite. Indeed, faceto-face with the other I kiss, we are infi nitely close, and infi nitely far—so we are exposed to a sensation of our proximity, of what is nearest and dearest, which has a trace of vulnerability and obsession, and a trace of guilt and responsibility. For the trace is not the trace of what is or was (or will be) present; it is not the trace of presence in any way whatsoever—on the contrary, the trace is the “trace of an absence” (AE, 148). In other words, the infi nite (and the infi nite alterity of the other) qua infi nite cannot come to presence; for if it did so, it would contradict itself, betray its own infi nity, translate itself into a language of fi nitude (the said, a sign of a departed referent, an appearance of reality, revealing of a concealed, corresponding or correlating with what is, namely, being, the being of beings of ontology), or transform itself into what it is not (the fi nite). Unable to present (or represent) itself then, irreducible to present modalities of meaning, to the givenness of gifts, presentation of presents, the trace only signifies qua trace. Thus, as Levinas insists: the trace is an invitation, an invitation to a kiss, an invitation to a risk, the fi ne risk of sensitizing ourselves to what only has significance in the “approach qua approach,” to kiss the trace of the infi nite other, another that is beyond being, that is not and “has never been present,” so a “trace lost in a trace”—and to feel nothing, indeed, “less than nothing” (AE, 146, 150, 155).
F. Dostoyevski, Брaтья Карамaзовы, St. Petersburg 1879-80, 327, 317, Bk. 6; IIa; Levinas, AE, 228. 8
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II. Metaphysics and Violence But where does responsibility lie for our loss of sensibility? For our desensitization to the totalizing violence of the same on the other, and the said on the saying? The translation or transformation, the presentation or representation, of the infi nite other qua fi nite? For failing to allow proximity to signify as proximity, approach as approach, trace as trace? That is, for disambiguating the ambiguity of the kiss? In fact, Levinas is quite clear: Western philosophy—as the ground of the arts and sciences, words and deeds, thoughts and things, of a desensitized culture as a whole—is the doer of the deed. And this means essentially: the history of philosophy as metaphysics. For the λόγος that gathers and assembles, brings to presence the ἀπόφανσις of everything that is or could be, presents being as a whole and beings in particular, allows a system of concepts and terms to make reality intelligible (whether comprehended or constituted or conceiving, or using and assimilating), and so permits λέγειν and νοεῖν to correspond or correlate (and gives it the name of truth)—this is the metaphysics that reduces the infi nite beyond all possible experience to that which can and must be (experienced as) thought. In other words, Western philosophy translates the saying of being into the said, into what is being said, into what is and has been said—dictating thereby, what can and cannot be said (about being itself, and about any being whatsoever, the kiss included), and legitimating the wholesale desensitization of the present age. And it would be easy enough to multiply the examples of insensitive indifference, if not simple silence: the ethical indifference over and against others, such as refugees, victims of famine and war; the political indifference to poverty and state violence, the privilege and power of the few over the many, as well as the fate of the Earth in a time of global warming; the aesthetic indifference to the transformation of ποίησις and τέχνη, words and deeds, objects and subjects, into goods and services in order to maximize production and distribution, exchange and consumption, etc. It would be possible then, to trace out the history of the philosophical ground of this desensitization, and of those complicit in the project of the absorption and nominalization (and normalization) of the saying into the said, as well as those conformists who aid-and-abet the translation or transformation of the infi nite into the fi nite, and those privileging disambiguation over ambiguity, while claiming the power to overcome the problems of proximity, approach, trace, and to “explicate these implications” (AE, 101). A few clues from Levinas—toward a history of philosophy of the said, not the saying: Here, Plato is not the thinker of the ἐπέκεινα τῆς οὐσίας9 —but rather of the theory of the ideas, and the idea of ideas, the idea of the Good qua eternally present foundation of truth. And sensibility, which is lowest on the divided-line, is taken to belong to the body (hence, something to be transcended)—for it is the separable and non-corporal soul that partakes, μετέχειν, in the invisible intelligible by (non9
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sensible) thinking, by grasping what is always the same (that is, the “perseverance in being”) about appearances and the visible world (so never absolutely other). Indeed, knowledge is only significant if it allows the ideal to totalize the multiplicity of the real—or else it is images or opinion, approximate knowledge or the mere approach to knowing. In other words, true knowledge is not an infi nite quest for an infi nitely receding other; it is coming out of the cave in order to contemplate the unchanging originals, and articulate what can be said about the ever self-same, that is, the “ontological fi nality” as the presentation and representation, παρουσία, and “exposition of being” (along with “mathematical functionalism”) which, “in the main tradition of Western philosophy, supplies the norms of intelligibility and sense” (AE, 152, 157). Thus, Plato’s idealism of the same and the said, the “philosophy of success” that succeeds in presenting and representing a fi nitizing and totalizing ontology (the unity of being and the univocity of its esse), inaugurates the desensitization that dominates to this day—whether it collaborates or colludes with the privilege of translating “totality into totalitarianism” or not (AE, 151). And Aristotle is not the thinker of implication and following, ἀκολουθεῖν; but rather, of the divine as νόησις νοήσεως νόησις , that is, the one God that only thinks itself, that infi nitely encompasses the infi nite, circulates in and of itself, that “only relates to itself ”—and has no other.10 Then creation is only possible on the basis of the eternal presence of matter, just as the becoming of beings presupposes the continuous being of their being, and the fi nite unity of infi nite being as a whole. But then, insofar as being and unity imply one another—for anything that is, both is and is one—metaphysics is onto-henology.11 So Western philosophy is a metaphysics of the same, the self-same, not the other; it is a thinking of what is necessary and/or possible for everything that is. And what is, being, is understood essentially as οὐσία, the presencing of what is present, what comes to presence (παρουσία, and the presence of what is not present, ἀπουσία, what goes out into non-presence or absence). But in this way, metaphysics is a thinking of what is and can or must necessarily or possibly be said—and precisely not of what is impossible or cannot be said (that is, the saying of the other). So, in the Third Meditation, although Descartes is the thinker, who recognizes a noesis that exceeds its noema, an ideatum that surpasses its idea, or a cogito unable to correspond with its cogitatum; he is also the one who doubts that sensibility can provide any significance. And it is for this reason that Descartes needs a good God in the Sixth Meditation to guarantee the possibility of truth qua correspondence of ideas in the mind with things in the world (TI, iv). For if we are to become the masters and possessors of nature, the ambiguity of a kiss must be bracketed out of philosophy, for the sake of a fi rm foundation—namely, the ego cogito, not the other—upon which the mathesis universalis, and the objectively valid sciences, can 10 Aristotle, Metaphysica, Oxford 1957, 1003b23, 1074b34-5; E. Levinas, Totalité et infi ni, Dordrecht 1971, 214 (=TI). 11 Aristotle, Metaphysica, 1003b22-24.
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be established. In other words, Cartesian doubt desensitizes us to sensibility, and to the body as source of sensation, precisely in order to discover the Archimedean point of fi nite subjectivity: ἀν-αρχία is avoided thanks to the ἀρχή of the “I think,” the “fi rst certitude”—albeit one that rests on the certitude of God, and one which Hobbes says is just a “mental fiction.”12 Thus, the infi nite saying, an infi nity that transcends all my powers, is fi nitized, totalized: the distance between me and God is overcome by a violence that excludes whatever cannot be said—and the relation with the absolute renders the absolute relative (TI, 42). Then Kant, as the thinker of “the ground of philosophy, if philosophy is ontology,” remains loyal to the “indeclinable” unity of the “I think” qua transcendental apperception—and he is not the thinker of the problem and the problematic.13 Rather, in order to avoid our peculiar fate, the all-too-human embarrassment of being burdened with questions we can neither ignore nor answer, Kant allows infi nity to be said as an unconditional unity or totality; that is, like a transcendental idea of reason or thing-in-itself, a “concept” that is beyond all possible experience, and so cannot be known, but must be thought.14 So then, although the infi nite is not constitutive for experience—for no corresponding schema of sensibility can be given for it, and it can have no object (like the face or trace, proximity or approach) in concreto—it can function as a limit-concept (not a number, but that above which there is no other), like a regulative principle of reason. In this way, Kant avoids falling prey to the Scylla and Charybdis of dogmatism and scepticism by thinking infi nity as what must necessarily be said to be beyond all possible experience—but it is the very non-experience of this beyond experience that desensitizes us, as it stops us from saying what is infi nite about infi nity.15 Thus, the saying is encompassed or totalized by the idea of the said (AE, 140). And Hegel is not the thinker of the identity and difference of identity and difference; but of the Aufhebung, sublation of the other, the (one-sided and unambiguous) “identity of identity and non-identity,” the unity of being and non-being, differentiated and undifferentiated being.16 Here, the other is (abstractly or determinately) negated in the name of one and the same absolute spirit (as consciousness learns) in the Phenomenology of Spirit, which is why fi nitude is equated with untruth in the Science of Logic, and why one and the same reason rules the world in the Philosophy of Right. For “positing the infi nite as the exclusion of every ‘other’ that might maintain a relation with the infi nite and thereby limit it…the infi nite Levinas, TI, 93; R. Descartes, The Philosophical Writings of Descartes. Vol. II. Cambridge 1984, 136. 13 A. Haas, A., “What is a Problem?”, in: Horizon: Studies in Phenomenology 4, no. 2 (2015), 71–86. 14 Kant, Gesammelte Schriften III, B xxvii; Levinas, AE, 94, 275. 15 Kant, Gesammelte Schriften IV, A561, 664, 761/III B589, 692, 789; cf. A. Haas, Metaphysik und Gewalt. 16 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Stuttgart 1832, Intro; E. Levinas, Ethique et infi ni, Paris 1982, 68; A. Haas, Hegel and the Problem of Multiplicity, Evanston 2000, xx. 12
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must encompass all relations…though now in terms of a history”—which is why the bad infi nite’s infi nite infi nity must be superseded by (that which Hegel thinks as) the good infi nite’s fi nite infi nity.17 And “in the situation we have described, the other does not become likewise an other, the end is not reborn, but moves off, at each new stage of the approach, with all the alterity of the other” (AE, 149n). Thus, the beginning is the end of what is said (and can be said) on the totalizing circle of the sublation of the other in the name of the same—and this is “the whole trend of Western philosophy culminating in the philosophy of Hegel.”18 Then Husserl is not the thinker of the ἐποχή as suspension.19 Rather, according to Levinas, from the Logical Investigations to the Ideas, phenomenology transforms “every non-theoretical intentionality into a theoretical intentionality” in which sensation “participates in the meaningful only inasmuch as it is animated by intentionality, or constituted,” in such a way that the enjoying or coming or suffering of these sensations “do not signify” (AE, 106-7). For Husserl “situates the significance of significations in ‘significative intentions’ which fi ll objects with their ‘real presence’” (AE, 1978, 153). But if ego cogito, is always ego cogito cogitatum, then intention has been translated into a non-intentional relation; and there is no longer any significant intending, no subject under way towards an object (as τέλος ), no meaningful lack, negativity, aspiration, thirst or hunger. For the intentionalrelation is realized or realizable, actual or potential, necessarily or possibly fulfi lled or fulfi llable—and precisely not unrealizable and impossible, or unrelateable and unintentional. In other words, for Husserl, it is impossible to be related to an other with which I can have no relation; but for Levinas, the impossibility of this nonrelationality is precisely the otherness of the other, an otherness which infi nitely transcends me, which I cannot appropriate, and of which I can have no concept. Thus, Husserl has no sense of that which does not appear and come to presence, that which has not happened and will not happen, or the alterity that can never appear, that can neither present nor represent itself in intuition, that is not a being or the being of beings (regardless of how broad the horizon); and phenomenology cannot approach that which is otherwise than being, so infi nitely far from me, always only in proximity—for “an approach is not a representation, however detheoreticized its intentionality would be, of a being beyond being” (AE, 155). Indeed, it is easy enough to multiply the examples—especially if Western philosophy is “reification itself ” (AE, 174). But this is not merely to accuse philosophy of metaphysical violence, and collusion with the violence of the other areas of philosophical reflection, and complicity with that of the arts and sciences, as well as being implicated in desensitizing us to the violence of everyday life in the present age. On the contrary, it is to point to the possibility of another way of thinkLevinas, TI, 214; Hegel, Wissenschaft der Logik, §93-4. Levinas, Ethique et infini, 80; J. Derrida, „Violence et métaphysique: Essai sur la pensée d’Emmanuel Levinas“, in: L’écriture et la diff erence, Paris 1967, 120. 19 E. Husserl, Husserliana 3, Den Haag 1950, §32; A. Haas, On the Unity of the World. Natur und Kosmos, Nordhausen 2017. 17
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ing, one in which the saying is not immediately translated into what is being said (and the said of being), one in which the ambiguity of a kiss is not simply disambiguated; but rather speaks in its own language, and sensitizes us to the language of proximity and approach, the infi nite otherness of the other—that is, Levinas’ thinking of what is otherwise than being, and the language of what cannot possibly be said, but remains impossible.
III. The Said and the Saying, the Unsaid and the Unsaying Levinas’ response then, to this (somehow motivated) history of metaphysics is not simply to refuse or repudiate its privilege, overcome or destroy, destructure or deconstruct its dominance—nor is it merely to enjoy the power of what can or must be said, nor fi nally to remain silent. It is rather, three-fold: (1) to sensitize us to the necessity of what is said, (2) to the possibility of saying, and (3) to the significance of the impossibility of saying the unsayable. And this means passing (or transcending) from being (the metaphysics of the said as the science or study of τό ὄν ᾗ ὄν, being qua being, the λόγος of being, ontology, or onto-hen-ology) to the “human possibility” of hearing that which is otherwise than being, to a “praxis” derived from thinking otherwise than ontologically. Thus, Levinas does not simply seek to “be otherwise”; but rather, to sensitize us to a saying “uncontaminated by being,” and to make us susceptible to what signifies—in every kiss, in any sensation whatsoever, and in every thought, every word and deed—as the unsayable “other of being” (AE, 10, 13). The process of sensitizing then, although it can begin in many ways, can also begin with saying. For here, we become sensitized to what cannot be closed-up or closed-down by what is, and so what is said; rather, we are asked to listen for that which is close to being said, nearly said, but which could not be said without violating its way of signifying. In saying, we approach what is being spoken about; just as in proximity, we have not arrived at our destination, but are underway thereto. As Levinas warns: if we interpret approaching as approached (or reinterpret it as arrived), or translate proximity into a destination—a translation which is always possible, although never necessary—then we have missed the hint that gives significance to both. Thus, as Levinas says: saying (like approaching or coming into proximity) only remains saying insofar as it is not twisted or transformed into the said—a “translation” which would bring it to a standstill, and betray what signifies qua not being said (AE, 17). Saying then, is only saying, and otherwise than the said, insofar as it approaches the said. But this does not mean that saying is outside of language. On the contrary, language permits us to utter both what is said and the saying thereof, both what is (being) and what is otherwise than being. For the saying is an exception in relation to the said, just as being otherwise than being only signifies in relation to being. As Levinas remarks: “in fact, for me, the said does not count as much as
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the saying”20; but it still counts—and if the said does not exhaust the saying, it is merely superficial (if not violent) to assert that what is otherwise than being also is. In this way, we would fail to take the hint of what is untranslatable in the language of saying, in the significance of what is otherwise than being. But sensitization to saying, would mean taking up the praxis of resisting translation, learning to hear the language of saying, to see what fails to show itself in the ἀπόφανσις of what is said, and to speak “beyond the measure of being,” even “outside of being” (AE, 18). As Benjamin suggests: our task is not to translate a foreign language (of saying) into our own, thereby preserving what is being said; on the contrary, it is to translate our tongue into another—and ourselves as well; to learn to speak and think and act otherwise than being.21 If we have then, been sensitized to saying, if we fi nd it impossible to deny how it is otherwise than being—or to abrogate responsibility, excuse our collaboration or collusion with what is said—how can we hear it signifying? Or, how can we see it approaching, without transforming it into what has approached, what is here and now, present and accounted for? How can we speak its language, without translating it into the said? In fact, we cannot—for betrayal of the saying, of what is unsayable in the said, is “the very task of philosophy” (AE, 19). We can, however, take responsibility for our betrayal, think the saying we betray, and unsay it in order to announce the significance of the impossibility of not betraying it. As Levinas insists: “the otherwise than being announces itself in a saying that must also be unsaid in order to thus extract the otherwise than being from the said,” a said in which the otherwise than being merely signifies as being otherwise (AE, 19). In this way, we become sensitized to the saying and unsaying, whereby saying signifies otherwise than being said—or simply, otherwise than being. But is saying and unsaying then—and the said—simultaneous? On the contrary, “we must stay with the extreme situation of a diachronic thought” (AE, 20). Synchronic assembling or gathering, λέγειν, saying and unsaying in a unity, or the oneness of saying and said, would betray the diachronic time of the other. Similarly, thinking (or saying) being and non-being, not-being, nothing, simultaneously— whether in accordance with the law of non-contradiction that characterizes formal logic from the Greeks to the present; or with an alternative logic, like Hegel’s, in which “all things are in themselves contradictory”22 —cannot think (or say) how “signification signifies beyond synchrony” (AE, 20). In other words, diachrony is the temporality of saying in a way that is otherwise than being, while synchrony is how the same is said (and unsaid). Thus, the significance of saying is not just Levinas, Ethique et infini, 39. W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1972, IV/1, 20; A. Haas, “The Birth of Language out of the Spirit of Improvisation”, in: International Journal of Philosophical Studies 20, no. 3 (2012), 331n3. 22 Hegel, Wissenschaft der Logik, I:2, 77, An. 3. 20 21
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outside of time, non-temporal or a-temporal—it is far more diachronic, which is how it is otherwise than being.
IV. The Signifi cation of the Verb The ambiguity of a kiss then, exposes us to another kind of sensibility, makes us susceptible to the proximity of the other, the nearness of alterity, the trace of an absence, approach qua approach, the saying of infi nity. But such a kiss nonetheless signifies, uncontaminated by being, beyond being, which makes us vulnerable to a desire that comes over us and separates us from ourselves. And this is what we kiss—not a way of being otherwise, but otherwise than being. And yet, how are we to become sensitized to such a sensibility? How are we to have such a sensation, especially in the present age of wide-spread reification, an age that continues to capitalize on the prejudices and promises, the translations and transformations, of philosophical violence? In other words, how can we sensitize ourselves to the other in an era committed to desensitization? And then, how can we sense that which is otherwise than being? In fact, Levinas fi nds a clue in language: sensing and sensitizing, saying and unsaying, kissing and approaching, inviting and risking, coming and enjoying, acting and suffering, knowing and thinking, having and being and being otherwise, announcing and signifying—these are all verbs. It is, therefore, to the “verbality”23 of the verb that we must turn, if we are to consider how to sensitize ourselves. And it is to verbalization that we must look, if we are to think the significance of sensibility as the substantialization of sensing (that is, a nominalization of the verb—as in the said, le Dit—which is characteristic of the violence of the history of philosophy as metaphysics); or, if sensing is a verb, then sensitizing is verbalizing. So, how is it possible to verbalize (or announce the significance of ) the ambiguity of a kiss? Levinas is quite clear: the verb is διαχρονικός; it signifies through temporality, that is, insofar as it is temporally diachronic. But time here is neither a counting or numbering of motion 24, nor a form or schema of intuition 25; nor is it a number, nor is number time—rather, it is the how of sensibility, and so how we can sense (or say, think or do) anything whatsoever.26 In other words, time is not that “in” which we sense (like some kind of fi sh in water); it is the way we sense. Thus, we do not just have sensibility; and we are not merely sensitized in time— rather, we sense temporally (the other we kiss and cannot kiss, the approach of an infi nitely far alterity, the otherness with which we cannot possibly synchronize, but which remains impossibly out of reach). 23 24 25 26
Levinas, Ethique et infini, 34. Aristotle, Physica, Oxford 1950, 219b1-5. Kant, Gesammelte Schriften IV, A142-3; III B182. M. Heidegger, Gesamtausgabe Bd. 64, Frankfurt/M. 1977, 124 (=GA).
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And the temporality of the verb announces itself as tense (which is why the Germans call verbs, Zeitwörter, time-words). In this way, we kiss in present tense, or have kissed in past tense, or will kiss in future tense—or, we kiss now (in present time) or not now, but then (in non-present time, whether past or future). For all verbality—kissing included—is “characterized by time.”27 The ambiguity of kissing then, lies in (1) its synchrony through which the other comes to presence as being kissed now, and (2) in the diachronic absence of the other (in a then or not-now, future or past) that remains infi nitely far from (and close to) being kissed. In other words, as we now kiss—whether we are the kisser or the kissed, or some combination or permutation of both (active or passive or middle voice)—we also sense that we are not-now kissing. Thus, the time of the kiss, presenting itself as verbal-tense, is that which makes kissing (and its ambiguity) possible and impossible—for temporality sensitizes us to the possible significance of the otherwise than kissed, and allows the impossibility of being kissing to announce itself. But if kissing is a verb, and every verb has tense, then how can we kiss and be kissing at the same time, now, in the present? How can we have kissed and have been kissing in the past, then, in the non-present? And how can we even say that we will kiss and will be kissing—if both are to be done (or not done) in the future tense? In other words, how can we announce the difference between the way in which we kiss and are kissing, if they are done at one and the same time (now), and so announce themselves in one and the same tense (the present)? In fact, the verbality of the verb is not just temporal, but also aspectual—for every verb (kissing, sensing, saying, approaching, thinking, being, announcing) has both tense and aspect.28 And the temporal difference of synchrony/diachrony cannot take account of the verbalizing significance of aspectual difference. Rather, at one and the same time (present time, now), we kiss (with complete aspect) and are kissing (with incomplete aspect); or we kissed (past time, complete aspect), but were kissing (past time, incomplete aspect); or will kiss (future time, complete aspect), but will be kissing (future time, incomplete aspect). And even the unkissed (or unkissable qua infi nitely far), if it signifies in the ambiguity of a kiss, announces itself aspectually: the sense of approaching the other (whom we are not-now kissing, and whom it is impossible to kiss) verbalizes itself through incomplete aspect. Thus, the aspect of the kiss, coming to presence as verbal-aspect, is the other of time— for failing to kiss the impossibly distant other, announcing the trace of an absence which is otherwise than being, is only possible (or impossible) in non-present time and with incomplete aspect, then and there. The praxis then, of kissing, of sensitizing ourselves to the ambiguity of the kiss, of making us vulnerable to the other, of exposing ourselves to that which signiHeidegger, GA 21, 199. G. Herbig, „Aktionsart und Zeitstufe“, in: Indogermanische Forschung 6, Nr. 1. (1896), S. 157; J. Holt, Études d’aspect, Copenhagen1943, 6; B. Comrie, Aspect, Cambridge 1976, 3; A. Haas, “Notes on Time and Aspect,” in: International Journal of Philosophical Studies 22, No. 2 (2015), 504-517. 27
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fies otherwise than being, of announcing the proximity of infi nite alterity—this only has significance thanks to the time and aspect of verbality. For all praxis has the form of a verb, and all verbality—whether synchronic or diachronic, complete or incomplete—is temporal and aspectual. And the reification or substantiation of praxis, the transformation of saying into the said, kissing into the kiss, sensing into sensibility, announcing into the announcement, even “to be” into “being”—all this is the translation of the verb into the noun, and the disambiguation of ambiguity. Thus, the nominalization of verbality, so characteristic of the violence of metaphysics, remains a possibility—perhaps even a necessity; but it is also possible to verbalize otherwise, to announce the otherwise than being, to extract the saying of infi nite otherness from the said of fi nite sameness, to sensitize ourselves to the (temporal-aspectual) praxis through which the impossible qua impossible, the approach qua approach, signifies in the ambiguity of a kiss.
VI. A Sense of Implication The kiss then, sensitizes us to the other, which signifies and announces itself, temporally and aspectually. But how can we get a sense of this other? In fact, it is only insofar as the other is neither simply present (which would reduce otherness to sameness) nor merely absent (of which we would sense nothing). In other words, we must fi nd a way of sensitizing ourselves to the other which neither comes to presence, nor remains in absence; and a way of kissing another that is neither there to be kissed, nor not-there. But how can we sensitize ourselves to another that neither is nor is-not? Another clue from language: if sensitizing is verbalizing (with tense and aspect), then how does a verb verbalize? Or how can we sense what is verbalized in kissing, that is, in the ambiguity of a kiss? Or rather, what is the verbality of the verb—for instance, the verb “being” or “to be”—such that we can verbalize the otherness of the other? Just one example—from Heraclitus: ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων.29 That is: “a person’s character is his divinity”30; or, “the (familiar) abode for humans is the opening for the presencing of the (un-familiar) god”.31 But in the Greek, there is no verb—or more precisely, the verb is neither present nor absent—it is implied.32 In this way, Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, B119. R. McKirahan, A Presocratics Reader, Indianapolis 1996, 40. 31 Heidegger, GA 49, 356. 32 In many languages, being is neither present nor absent, but (tertium datur) implied (A. Haas, Unity and Aspect, Würzburg 2018, 138). In English: “Beauty is truth, truth beauty” ( J. Keats, Transcripts of Unpublished Poems, Boston 1814‒1891, 3.2; A. Haas, “Truth Beauty,” in: Cordite 47 [2014])). In Russian: Я человек больной...Я злой человек (F. Dostoyevski, Записки из подполья, St. Petersburg 1864, 1; A. Haas, “On Threat,” in: Crisis and Critique 4, no. 1 (2017), 139n44); that is, “I sick man…I wicked man.” The question then becomes: if being implies unity and unity 29
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Heraclitus is saying: being neither comes to presence, nor remains in absence. Thus, the verbality of the verb is implication. Now, how can we sensitize ourselves to implication? To implied verbality? Or, what are the implications of sensing being qua implied—even in the kiss? First, we would have to become sensitized to kissing another who is neither present nor absent. This means suspending, on the one hand, our sensation of the other’s presence, οὐσία or παρουσία, Anwesenheit; and the ontology (or onto-henology—indeed, the entire philosophy) of presence, or the presence of absence, and its privative ἀπουσία, like some kind of Deus absconditus.33 On the other hand, it means becoming suspicious of Levinas’ announcement that we can get a sense of the absence of another, pick-up the scent of what is (or was, or will be) absent, or approach what fails to come to presence (like the infi nite alterity of an infi nitely far other; or the impossibility of what cannot possibly present or represent itself to us). In other words, becoming sensitive to the kiss of what is neither present nor absent means suspending our sense of another who is kissing us right here and now, continuously or again and again—even suspending ourselves, our very being (which is itself merely implied); and suspending the absence of the other that “has never been present” (AE, 155), and so never kissed, perhaps unkissable. Second, becoming sensitized to what is neither present nor absent, we would have to become sensitive to the kiss (and its ambiguity) that neither comes to presence nor remains in absence. This means that kissing would be suspending—for the deed might never be done (with time and aspect), at least if there is no one here to kiss, no one presenting or representing themselves to be kissed, so no memory of past kisses or hope of future ones, and no saying that I want to kiss or be kissed, nor that which can be said about the kiss. Rather, if the what of kissing is determined by its how, then kissing would have to be suspended—which does not simply mean no kissing allowed, nor that all can kiss all, nor that jouissance should be avoided. On the contrary, it means that the project of determining that a kiss had taken place, the privilege and the power to say or have said that it is or will happen (or cannot happen)—this would have to be suspended. Thus, the suspension of kissing implies the suspension of any praxis whatsoever (and so too, the presence—or absence—of the verbality of the verbs of saying and doing, announcing and signifying, sensing and approaching, thinking and being, even implying and suspending). Third, becoming sensitized to the kiss that neither comes to presence nor remains absent, we would have to suspend the possibility of sensation, of sensibility itself—at least if sensibility means “being affected” (AE, 121). But then, we might only be able to get a hint of what we cannot sense (which is not to say we merely desensitize ourselves)—or a hint of a hint of what we cannot even sense that we implies being, what is the sense of implying here, ἀκολουθεῖν (Heidegger, GA 2, 213; GA 24, 345)? As I have argued, there are essentially three ways of implying: necessarily, possibly, problematically; A. Haas, “What is a Problem?”: in: Horizon, 71–86. 33 D. Allison, “Derrida’s Critique of Husserl and the Philosophy of Presence,” in: Veritas 50, no. 1 (2005), 89; Heidegger, GA 2, 25-6; GA 24, 442, 448-9; Haas, “On Threat,”, 138–142.
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cannot sense. As Heidegger writes: “Hints only remain hints, if thought stands by them, and does not translate them into announcements. Hints are only hints as long as thought follows their implications, insofar as it considers them” (GA 10, 188).34 And the refusal to “explicate these implications” (AE, 101), the resistance to translating hints into assertions, the failure to present or represent kissing as signifying the presence (or absence of the possibility or impossibility) of sensibility—this is not merely the refusal of the history of metaphysics and violence that continues in the present age, but just as much the suspension of implications, and the problematization of being itself. How then, can we get a hint of that which—in a kiss, perhaps—cannot announce itself ? Of that which—neither coming to presence, nor remaining in absence—fails to signify? Of that problem which is only implied? Perhaps by listening to what Aristotle is implying when he gives this hint: “being and unity are the same and one thing insofar as they are implied by one another as principle and cause.”35
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Cf. A. Haas, Unity and Aspect, Würzburg 2018. Aristotle, Metaphysica, 1003b 22-3.
Zu M ario Perniolas Durchquerung der sensologischen Gesellschaft Erik Vogt
Nach Mario Perniola ist das Denken der Gegenwart in einer gesellschaftlichgeschicht lichen Wirklichkeit verwurzelt, »die keine Erinnerungen mehr besitzt, sondern Gedächtnisse, die ständig verfügbar sind; die keine Hoff nungen mehr hat, sondern nur Tröstungen: ihre emotionale Tonalität wird durch einen vertrauensvollen und aktiven Gleichmut gekennzeichnet, der mit plötzlichen Blitzen und Verzückung durchschossen«1 sei. Als Erbe der Moderne sei für dieses Denken die Reflexion über die zeitgenössischen soziokulturellen Bedingungen zwar weiterhin wesentlich, allerdings erfolge diese Reflexion nicht mehr innerhalb des traditionellen linearen und/oder dialektischen Zeitrahmens. Dieser Sachverhalt habe nicht nur eine änigmatisch gewordene soziokulturelle Gegenwart, sondern umgekehrt auch ein änigmatisch gewordenes Denken zur Folge. Diese Beziehung wechselseitiger Zugehörigkeit zwischen der änigmatischen Wirklichkeit und dem änigmatischen Denken lege überdies nahe, dass die Gegenwart nicht länger einfach als ein Objekt des Denkens fi rmiere, sondern vielmehr als dessen Subjekt aufgefasst werden müsse. Eine der Konsequenzen dieses Wechsels hinsichtlich des Stellenwertes der soziokulturellen Gegenwart für das Denken bestehe folglich in der Dringlichkeit für das änigmatische Denken der Gegenwart, seine Aufgabe neu zu bestimmen. Es müsse »sich in ein Nichts umwandeln, um der Gegenwart und allen ihren Änigmas Gehör schenken« zu können, d. h. »in eine Zone des Übergehens und in ein Einfallstor für Phänomene, die, da sie sich auf eine unerwartete und unvorhersehbare Art und Weise darbieten, überraschen, verstören und erstaunen«.2 Worin besteht nun nach Perniola das Wesen der gegenwärtigen änigmatischen Gesellschaft? Dieses werde am besten als »die Koinzidenz von Antagonisten, die Verknüpfung von Gegensätzen, als Kontakt von divergierenden Dingen und sogar Antagonismus von Dingen, die […] einander berühren« 3, wiedergegeben. Demgemäß stelle nun insbesondere das änigmatische Denken eine Denkweise dar, welche nicht nur »das geistige, emotionale und praktische Leben in einer singulären Art von Wachsamkeit«4 zusammenführe, sondern auch »ein Übergehen, d. h. einen Prozess, der vom Selben zum Selben reise« solcherart mit sich bringe, dass die »Ausgangs- und Zielpunkte zugleich identisch und different« 5 seien. Folglich dürfe das änigmatische Denken nicht länger als eine Aktivität vorgestellt werden, welche M. Perniola, Enigmi. Il momento egizio nella societàe e nell’ arte, Milano 1990, 49. Übersetzungen aus dem Italienischen sind meine eigenen. 2 Ebd., 51. 3 Ebd., 24. 4 Ebd., 25. 5 Ebd., 18. 1
ZÄK-Sonderheft 17 · © Felix Meiner Verlag 2018 · ISBN 978-3-7873-3544-2
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einem selbstidentischen Subjekt entspringe, sondern eher als ein komplexer Prozess von gleichzeitiger Vermittlung und Unbestimmtheit, d. h. als ein Denken von Differenzen im Übergehen vom Selben zum Selben, welches überdies in einem Gegensatz zur »Banalität« stehe, deren »vornehmlicher Ort« die »Gesellschaft des integrierten Spektakels mit ihren Prozessen von Reduzierung, Standardisierung und Einebnung« 6 sei. Aber welche Art von Erfahrung befi ndet sich nun genau im Herzen der gegenwärtigen änigmatischen Gesellschaft? Diese gilt es zunächst nachzuvollziehen.7 Nach Perniola habe man es bei dieser Erfahrung mit einem »Prozess einer wechselseitigen Osmose zwischen dem Menschen und den Dingen« zu tun, mit dem Ergebnis, dass die Menschen den Dingen ähnlich geworden seien, während die Dinge zunehmend humane Charakteristika angenommen hätten.8 Perniola weist also auf eine Umkehrung im Verhältnis zwischen den Menschen und den Dingen hin, die jedoch nicht nur das Wissen, den Glauben und das Handeln affi ziert habe, sondern vor allem »das Fühlen quer durch das ganze Bedeutungsregister jenes Begriff s hindurch, von der Sensibilität zur Emotivität, vom Hören zur Affektivität«.9 Das heißt: »Einerseits sind die Dinge nun in der Lage, an unserer Stelle zu fühlen; andererseits werden wir einem Verdinglichungsprozess unterworfen, der radikaler und grundlegender ist als alles, was wir in der Vergangenheit gekannt haben, da er den unmittelbarsten und intimsten Aspekt der Existenz triff t«.10 Diese radikale und grundlegende Erfahrung von Verdinglichung markiere einen Wechsel hinsichtlich des Status von Sensibilität, insofern Sensibilität nicht länger auf die innere Erfahrung des (modernen) Subjekts reduziert werden könne, sondern eher in ihrer ausdrücklichen Äußerlichkeit und Passivität erfasst werden müsse; diese Übertragung der Sensibilität vom Menschen auf die Dinge lasse überdies erkennen, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen organischer und anorganischer Existenz zusammengebrochen und dass der Mensch zu einem »Ding, das fühlt«11, geworden sei. Kurzum, die gegenwärtige änigmatische soziohistorische Wirklichkeit, ihre »ägyptische« Dimension, könne als extreme Manifestation des von Marx beschriebenen Entfremdungsvorganges begriffen werden, obgleich dieser Entfremdungsvorgang nicht nur aufgrund der Tatsache äußerst tiefgreifend sei, weil die Entfremdung auf das Fühlen, d. h. auf »das ganze Feld der Sensibilität und Emotion« übergegriffen habe, sondern auch weil dieser zur Etablierung »eines Sinneshorizontes, der sowohl kollektiv als auch vergesellschaftet ist«12 , geführt habe. Ebd., 18. Der vorliegende Text vollzieht Perniolas Theorie der Sensologie deshalb vorwiegend immanent nach, weil sie im deutschsprachigen Raum vielleicht noch nicht die Aufmerksamkeit gefunden hat, die sie meines Erachtens verdient. 8 Perniola, Enigmi, 52. 9 Ebd., 52. 10 Ebd., 52. 11 Ebd., 36. 12 Ebd., 35. 6 7
Zu Mario Perniolas Durchquerung der sensologischen Gesellschaft
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Perniola verortet das Auftauchen dieses kollektiven und vergesellschafteten Sinneshorizontes in der Video- und Audiokultur der späten 1960er Jahre und präzisiert, dass das Fühlen infolge dieses entfremdenden und verdinglichenden Sinneshorizontes als etwas Bereits-Gefühltes vorgefunden werde. Das Bereits-Gefühlte als historisch-apriorische Formalbedingung sinnlicher Erfahrung bilde zugleich den neuen Ort der zeitgenössischen trans-subjektiven und unpersönlichen Macht. Die rezente Amalgamierung von Macht- und Gefühlsstrukturen habe Objekte, Individuen und Ereignisse in etwas verwandelt, das bereits-gefühlt sei und das »mit seiner bereits determinierten sensorischen, emotionalen, geistigen Tonalität«13 von uns Besitz genommen habe. Das Bereits-Gefühlte könne zudem »nur mehr gepaust« werden und stelle folglich eine bedeutsame geschichtliche Wende dar, insofern es »den Menschen aus Teilnahme oder Gleichgültigkeit, aus Sensibilität oder NichtSensibilität zu entlassen, ihn von der Mühe, Anstrengung, Verantwortung, Aufmerksamkeit, Entscheidung, Anteilnahme zu entbinden«14 scheine. Das heißt: »Das Fühlen hat eine Dimension angenommen, die, anonym, unpersönlich, sozialisiert, gepaust sein will.«15 Diesen Schematismus des Bereits-Gefühlten defi niert Perniola als »Sensologie«.16 Der Begriff legt nahe, dass Perniola die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung hauptsächlich als eine ästhetische Ordnung begreift, als eine spezifische Aufteilung des Sinnlichen,17 als ein Regime des Empfi ndens, welches die Grenzen des Fühlbaren und Denkbaren absteckt, indem es eine bestimmte, die zeitgenössische Selbsterfahrung wie auch die Ding- und Welterfahrung strukturierende Verteilung des Fühl- und Denkbaren generiert und festschreibt und auf diese Weise die Deutungen des Sinnes und des Sinnlichen zu kontrollieren und dadurch zu suggerieren sucht, die bestehende sinnliche Welt des Bereits-Gefühlten sei die einzig mögliche. Durchdringt folglich das Ästhetische für Perniola nicht nur den Bereich von Kunst und Hochkultur, sondern auch die Politik, die Ökonomie und das Alltagsleben, so muss das ihm entsprechende Denken wesentlich als ein ästhetisches, empfi ndendes Denken begriffen werden, welches nicht länger ausschließlich den Bereichen der philosophischen Ästhetik und der Kunst zugeordnet ist, sondern gerade auch die Bereiche der Alltagserfahrung und der Populärkultur durchquert, um sowohl die Bedingungen der Sensologie, ihre hierarchische Konfiguration zwischen Empfi nden und Bedeutung, zwischen empfangender Sinnlichkeit und bestimmendem Intellekt, sichtbar zu machen, als auch, wie weiter unten gezeigt werden soll, neue
M. Perniola, Über das Fühlen, Berlin 2009, 21. Ebd., 21. 15 Ebd., 21. 16 Ebd., 22. 17 Diese Formulierung ist selbstverständlich dem Werk von J. Ranciére entnommen. Während sich die Aufteilung des Sinnlichen bei Ranciére hauptsächlich für das Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren interessiert, steht bei Perniolas Sensologie das Verhältnis zwischen dem Fühlbaren und dem Denkbaren im Vordergrund. 13 14
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Beziehungen zur Subjektivität wie auch zu den Dingen und zur Welt einzurichten, die eine Neukonfiguration des Verhältnisses zwischen Empfi ndungsform, Dingen und Denkform in Aussicht stellen. In einer ersten Annäherung an den Begriff der Sensologie ist zunächst einmal festzuhalten, dass dieser laut Perniola Analogien zum Begriff der Ideologie unterhalte, insofern Ideologie als »Bereits-Gedachtes«18 wiedergegeben werden könne. Zwar scheint die Sensologie dem traditionellen Muster der Ideologie zu folgen, da sie sich auf ähnliche Weise an alle wie ein unmittelbarer Imperativ wende, dasjenige zu pausen, was von allen bereits versucht und approbiert worden sei; während die Ideologie einer traditionellen Auff assung zufolge mit einem »falschen Bewusstsein« assoziiert sei, zeichne die Sensologie allerdings die Neigung zu einer Identifi kation mit einem falschen Gefühl aus, welches gerade nicht mehr einer Kritik unterzogen werden könne, weil sie »gar nicht den Anspruch erhebt, Trägerin irgendeiner Wahrheit zu sein. Sie konstituiert sich vielmehr als schiere Wirklichkeit des Bereits-Gefühlten«.19 Die Sensologie weise aber nicht nur eine Familienähnlichkeit mit der Ideologie auf, sondern auch mit der Bürokratie, die nach Perniola als das »Bereits-Getane«, d. h. als die »Gesamtheit von vorgefertigten Verhaltensmustern, die so effizient wie politische Aktivitäten und so unumstößlich wie Rituale sind« 20, bestimmt werden könne und deren aktuelle Gestalt die »Mediakratie« darstelle, welche nicht nur den Übergang von der Vermittlungstätigkeit des Denkens hin zum Fühlen und die Übertragung der »Herrschaft des Fühlens, der Sensibilität und Affektivität von den Menschen auf unpersönliche Geräte und Apparate« leiste, sondern auch »als ein fortgesetzter Verhandlungs- und Handlungsprozess, der sich beispielsweise über Meinungsumfragen und Zuhörerquoten abwickelt«,21 zu begreifen sei. Diese »Umfragen und Quoten sind das BereitsGefühlte, das Bereits-Geschmeckte, das der Tatsache vorausgreift, ihr vorauseilt, ja sie regelrecht ersetzt«.22 Zusätzlich zur Mediakratie unterhalte die Sensologie schließlich auch eine Beziehung zu einem »Spekularismus«. Im Zusammenhang mit seiner Behauptung, gegenwärtige intime Erfahrungen erwiesen sich tatsächlich als bereits-gefühlte Erfahrungen, verweist Perniola auf eine allgegenwärtige spekularistische Struktur, die nicht nur präformierten Erfahrungen zugrunde liege, sondern sich auch auf substanzielle Art und Weise von bloßen imitativen und konformistischen Strategien, welche wesentlich auf eine Selbstanpassung an die Umwelt oder an die Erwartungen anderer abzielten, dadurch unterscheide, dass sie die Möglichkeit eröff ne, sich selber als ein Ort zu fühlen, »in dem sich das Äußere spiegelt« und die Erfahrung des Fühlens in das zu verlegen, »was wir widerspiegeln, tasten, widerhallen lassen, während uns ein stellvertretendes und nachfol18 19 20 21 22
Ebd., 22. Ebd., 24. Ebd., 25. Ebd., 26. Ebd., 26.
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gendes Fühlen als Widerschein, Wiederbearbeitung und Echo des ersten zufiele«.23 Im Lichte dieser Konstellation von Sensologie, Mediakratie und Spekularismus, welche die Möglichkeit beziehungsweise die Unmöglichkeit der Erfahrung des Fühlens heute bedinge, stellt Perniola nicht nur die kurrente Unterordnung des Denkens und Handelns unter das Fühlen fest, sondern auch die Präsenz einer radikal externalisierten, delegierten, unabhängigen, gesellschaftlichen und kollektiven Struktur des Fühlens, die überdies nicht länger überliefert, sondern bloß gepaust oder zurückgespiegelt werden könne. Die zeitgenössische soziokulturelle Wirklichkeit habe folglich die Gestalt einer vollends integrierten Totalität angenommen, welche nicht nur alle möglichen bereits-gefühlten Sensibilitäten und Emotionen beinhalte und kontrolliere, die letzten Endes nur akzeptiert und wiederholt werden könne, sondern auch eine Figur, die Perniola als »Ding-Mensch« bezeichnet und die sich einem tiefgreifenden Wandel in den Beziehungen »der Menschen zur anorganischen Welt« 24 verdanke. Um diese neue Figur des Ding-Menschen verständlich zu machen, entwickelt Perniola auf brillante Art und Weise eine Phänomenologie hinsichtlich derjenigen zahlreichen zeitgenössischen soziokulturellen Stile des Fühlens und Verhaltensweisen, welche die Bedingung des Bereits-Gefühlten teilen, und im Rahmen dieser Phänomenologie durchquert er nicht nur das Feld der Kultur, sondern auch die Felder der Politik, der Ökonomie und der Kunst. Er triff t zunächst eine Unterscheidung zwischen »warmen« Typen der Figuren des Bereits-Gefühlten – wie das Fühlen der Gegenkultur und des Fundamentalismus – und »kalten« Typen der Figuren des Bereits-Gefühlten, die den Neo-Zynismus und die Performativität einschließen.25 Obgleich diese Stile des Fühlens unter unterschiedlichen Bedingungen und in diversen Umständen hervorgetreten seien – während die Gegenkultur in einem primär politischen und der Fundamentalismus in einem vornehmlich religiösen Zusammenhang stehe, erscheine der Neo-Zynismus in einem hauptsächlich moralischen und die Performativität in einem vorwiegend technologischen Kontext ‒, beharrt Perniola dennoch auf der Tatsache, dass sie nicht nur Familienähnlichkeiten untereinander teilen und auch ein und demselben Zeitrahmen angehören, der es ihnen gestatte, ineinander überzugehen, sondern dass sie auch konstitutiv seien für die Art von ästhetischer Vergesellschaftung, welche die Sensologie kennzeichne. Diesen Figuren des zeitgenössischen Bereits-Gefühlten liege nämlich eine Erfahrung zugrunde, die »im Austausch mit allen historischen Manifestationen des Bereits-Gefühlten als deren allgemeines Äquivalent antreten will«.26 Die Figuren oder Stile des Bereits-Gefühlten besitzen folglich den Status von Waren; als solche sind sie Bestandteile eines »Weltmarkt[es] des Fühlens«, der gekennzeichnet sei durch »Emanzipation von der inneren Dimension oder von der unwieder23 24 25 26
Ebd., 31. Ebd., 40. Ebd., 44 f. Ebd., 49.
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holbaren Besonderheit der einzelnen Erfahrung«, und auf diesem Weltmarkt des Fühlens »gibt es alles, doch alles nur in der Form des Bereits-Gefühlten«.27 Gegenkultur, Fundamentalismus, Neo-Zynismus und Performativität erschöpfen jedoch keineswegs die gegenwärtigen Figuren des Bereits-Gefühlten; denn Kultur- und Medienphänomene wie beispielsweise die politische Korrektheit und der Neofaustismus, ebenso wie ästhetische und künstlerische Phänomene wie der Neoklassizismus und der Primitivismus, erweisen sich als gleichermaßen von der Sensologie abhängig.28 Der Neofaustismus sei, so Perniola, von einem Willen zur Überschreitung von traditionellen Grenzen durch technologische Erfi ndungen oder außerordentliche und extreme körperliche, intellektuelle oder psychische Leistungen und Auff ührungen gekennzeichnet, die vom Cyberpunk und Science Fiction zur »parasportlichen Welt der no limits« reichten und häufig auch das Risiko der Selbstzerstörung miteinschlössen.29 Die neofaustische Haltung zeichne ein Anspruch auf absolute Differenz vom jeweiligen Gegenspieler und eine Stimmung des Triumphalismus um jeden Preis aus. Die politische Korrektheit wiederum artikuliere ihren Anspruch auf absolute Differenz wie auch ihre Ablehnung jeglicher Gleichheit dadurch, dass sie auf eine paradoxe Art und Weise eine Opferrolle einnehme; das heißt, um zum Erfolg zu gelangen, setze sie die Strategie der Klage ein und beanspruche ihre eigene »Differenz« als eine, die im Leiden besteht; folglich fehle der politischen Korrektheit nicht nur jede echte politische und emanzipatorische Dimension, sondern sie sei auch in einer Art von »melancholischem Krieg« gefangen, der Schwäche zu Stärke umcodiere und die Klage in eine Waffe verwandle.30 Obgleich politische Korrektheit und Neofaustimus in einem ausgesprochenen Gegensatz zueinander zu stehen scheinen, sollten sie nichtsdestotrotz im Sinne ihrer spekulativen Identität begriffen werden – einer spekulativen Identität, welche in ihren jeweiligen Haltungen zur Gewalt und zur Intoleranz zum Ausdruck komme.31 Ähnliches kann auch bezüglich der zwei Figuren des Bereits-Gefühlten behauptet werden, die Perniola im ästhetisch-künstlerischen Bereich identifi ziert: die Figuren des Neoklassizismus und des Primitivismus. Während der Neoklassizismus sich einem feierlichen und pathetischen Ideal der Schönheit verschreibe und die Nachahmung von Vorschriften verfüge, die angeblich metaphysische Gültigkeit und Valenz besitzen, verordne der Primitivismus Formen, die vorgeblich elementare, einfache aber dennoch tiefgründige vitale Energien, die von allen Menschen geteilt würden, zum Ausdruck brächten. Wiederum versucht Perniola in diesem Zusammenhang, die Formen von Aggression und Intoleranz, die für NeoklassizisEbd., 51. Vgl. M. Perniola, Ekel. Die neuen ästhetischen Tendenzen, Wien 2003, 133. 29 Vgl. ebd., 26. 30 Vgl. ebd., 28. 31 Ihr Unterschied ist letzten Endes nur ein geringfügiger Unterschied. Während der Neofaustismus Gewalt und Intoleranz offen bejaht, tut dies die politische Korrektheit in Form einer Verleugnung. 27
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mus und Primitivismus konstitutiv sind, ans Tageslicht zu heben. Die Aggression des Neoklassizismus bestehe in dessen Willen, auf universale Weise seinen angeblich übergeschichtlichen Begriff der Schönheit allem überzustülpen; der gewaltförmige Charakter des Primitivismus enthülle sich hingegen in seinem ethnozentrischen Bestehen auf der Reproduktion von ausschließlich denjenigen Formen, die eine authentische künstlerische Tätigkeit wiedergeben, die selber in einem profunden Erlebnis verwurzelt sei und dieses zugleich zum Ausdruck bringen müsse.32 Neoklassizismus und Primitivismus seien überdies als Verkennungen ihrer jeweiligen Bezugswelten zu entlarven. Das heißt: Der Neoklassizismus verkenne die klassische Welt, indem er dieser fälschlicherweise die metaphysischen Werte von »edler Einfachheit, friedfertiger Größe und harmonischer Symmetrie« unterstelle; der Primitivismus bilde hingegen primäre Kulturen in den trügerischen Bildern von »Einfachheit, Innerlichkeit oder affektive[r] Überregung« ab. Angesichts dieser beiden trügerischen Konstruktionen könne man nur den Schluss ziehen, dass sie nicht nur »Hindernisse [sind] für das positive Studium der klassischen Welt und der primären Kulturen«, sondern auch für das Verständnis dessen, »was uns an die klassische Welt bindet und dessen, was uns von ihr trennt«, wie auch dessen, »was uns an die primären Kulturen bindet und dessen, was uns von ihnen trennt«.33 Die »postmoderne Bewegung« und die »neoethnische Bewegung« stellen wiederum problematische aktualisierte Spielarten des Neoklassizismus und des Primitivismus dar, die den Einfluss- und Herrschaftsbereich der Sensologie erweitert haben. Beide scheinen in einem Gegensatz zueinander zu stehen, vor allem hinsichtlich der Frage, wie sie das Identitätsproblem ansprechen. Während die Postmoderne Vergnügen an der Auflösung aller kulturellen Identitäten fi nde und einen spielerischen Umgang mit allen Identitätsbildern empfehle, verkünde das Neoethnische die Notwendigkeit einer Rückkehr zu einförmigen und homogenen gemeinschaftlichen kulturellen Identitäten. Ihr scheinbarer Gegensatz ende jedoch abermals in ihrer Identität oder zumindest in ihrer Konfluenz, denn beide erzielten die gleiche Wirkung, d. h. »die Verfl achung und die Angleichung aller kultureller Manifestationen in ein und demselben Register«. Letztlich stellen die Postmoderne und das Neoethnische die zwei Seiten derselben Medaille dar: »Die Postmoderne und das Neoethnische sind auf entgegengesetzten Wegen zu einer Vereinfachung und zu einer Banalisierung des privaten und kollektiven Lebens fortgeschritten: beide sind darin solidarisch, das Klima des spektakulären Neoobskurantismus, in den wir eingetaucht sind, zu verfestigen.« 34 Diese Kulturen und Verhaltensweisen des Bereits-Gefühlten erschöpfen allerdings immer noch nicht das Sensorium der Sensologie; vielmehr müsse die rezente Rückkehr zum Realismus, insbesondere in Gestalt des »extremen Realismus«, als einer der aktuellsten sensologischen Stile begriffen werden. Perniola beschreibt 32 33 34
Vgl. ebd., 134. Ebd., 135. Ebd., 144.
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den »extremen Realismus« folgendermaßen: Er repräsentiere einen Typus gegenwärtiger (künstlerischer) Sensibilität, der »als ein regelrechter Einbruch des Realen in die spezialisierte und hochsymbolische Welt der Kunst Gestalt annahm«;35 sein typischer Brennpunkt liege »auf den gewaltsamsten und krudesten Facetten der Realität« 36 , und er sei häufig auf die Themen von Tod und Sex fi xiert. Überdies versuche er, rohe und gewaltförmige Ereignisse nahezu ohne Rückgriff auf symbolische Vermittlung zu exponieren und so eine Erfahrung hervorzurufen, »in der Repulsion und Attraktion, Angst und Begehren, Schmerz und Lust, Ablehnung und Komplizenschaft sich vermischen und ineinander übergehen«.37 Ein weiteres entscheidendes Moment des extremen Realismus bestehe in der Evokation eines Aufeinandertreffens »zwischen Mensch und Maschine, zwischen Organischem und Anorganischem, zwischen Natürlichem und Künstlichem, zwischen Trieb und Elektronik, zwischen Mensch und Ware«. Er inszeniere einen Treff punkt, der von den Figuren des »Cyborg, [des] technologische[n] Versuchstier[s], [der] lebende[n] Münze, [des] Humankapital[s]« wie auch des »virtuellen Körpers« bevölkert werde, »der in die Netze eingeströmt ist und sich dort verbreitet hat« und zum »extrem anderen und beunruhigenden Objekt [wird], das auf die imaginäre und die symbolische Dimension irreduzibel ist«.38 Die Begegnung mit diesem Realen, das jedweder theoretischer und symbolischer Vermittlung beraubt erscheint, führe nicht nur zu einer Mortifi kation des Existierenden, sondern erzeuge zur gleichen Zeit die ambivalente und ambige Erfahrung des Ekels – eines Ekels, der, vom extremen Realismus zur Zentralkategorie erhoben, eine problematische Nähe zum Vitalismus verrate.39 Dieser extreme Realismus, der einen Großteil der zeitgenössischen Kunst kennzeichne, enthalte eine tatsächlich psychotische Dimension, die nicht nur auf den Kollaps jedweder Vermittlung zwischen der Kunst und dem Realen verweise, sondern auch zu einer Kunst führe, welche direkt und unvermittelt »eine physische Präsenz und Materialität [erlangt], die sie nie zuvor hatte: Die Musik ist Ton, das Theater ist Handlung, die bildende Kunst hat eine zugleich visuelle, taktile und konzeptuelle Konsistenz«.40 Die subjektive ästhetische Erfahrung werde vollends in die Oberfl äche der Außenwelt aufgelöst, begleitet von einem Übergang hin zu Körpern, die »in gefährlichen Experimenten« eingesetzt werden, die »auf die Entdeckung neuer Wahrnehmungs- und Empfi ndungsweisen gerichtet sind«. Ein prominentes Beispiel für diese extreme Körperkunst fi nde sich in Filmen und Videos, die »die Poetik der Reproduktion eines realen Phänomens, aufgenommen in dem Moment, in dem es passiert, zu ihren extremen Konsequenzen geführt« haben. Aber gerade die kinematografi schen Spielarten des psychotischen Realismus 35 36 37 38 39 40
M. Perniola, Die Kunst und ihr Schatten, Berlin 2003, 18. Ebd., 18. Ebd., 18 f. Ebd., 19. Vgl. ebd., 23. Ebd., 48.
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legen dessen Beschränkungen bloß. Denn: »Erstens ist es schwierig, das Business der unverblümten Wiedergabe der krudesten Realitäten (Sex, extreme Gewalt, Tod) als Manifestation der Differenz anzusehen: Es lässt sich schwer leugnen, dass Gore, Splatter und Trash banale Versionen von Erfahrungen darstellen, die nur sehr wenige tatsächlich kennen.«41 Andererseits gebe »es keine Garantie mehr, dass das, was wir sehen, wahr ist. Es ist in der Tat möglich, jedwedes Dokument elektronisch zu manipulieren. So entfällt jeder Wahrheitseffekt, der doch die Hauptursache der durch diese Art von Produkten provozierten Erregung bildete«.42 Der fragwürdigste Aspekt des psychotisch agierenden extremen Realismus sei jedoch sein Vergötzen der Abjektion; denn die Abjektion sei nicht nur ein Symptom der Unfähigkeit, die Differenz zu denken, sondern sogar »eine Manifestation absoluter Feindseligkeit gegenüber der Welt und dem menschlichen Körper. Mit anderen Worten: die Differenz empfi nden kann nicht bedeuten, sich auf das Niveau der rohesten und abstoßendsten Gegebenheiten zu begeben.«43 Letzten Endes setze der extreme Realismus »indirekt genau das wieder instand, wogegen das Denken der Differenz ankämpft: Wenn der Mensch nur ein Haufen Müll ist, dann bedeutet das: Das einzige, was glänzt, ist das Transzendente«!44 Der extreme Realismus, der sich immer wieder in der zeitgenössischen artistischen und ästhetischen Erfahrung bemerkbar mache, könne allerdings nicht vollkommen durch die negativen Kategorien von Ekel und Abjektion erfasst werden, zumal man im extremen Realismus und in seinem Versuch, die Kunst wie auch die Ästhetik vollständig in die gelebte Wirklichkeit aufzulösen, auch einen anderen Trend ausmachen könne: Kunst ununterscheidbar von der Mode, der Information und der Massenkommunikation zu machen. In diesem Fall verliere die Kunst nicht nur ihre Eigenart, sondern übernehme das Primat des (vitalistischen) Imaginären gegenüber dem Symbolischen und dem Realen – ein Primat, welches Mode, Information und Massenkommunikation auszeichne und eine auf bloß kommunikative Operationen reduzierte Kunst jedweder Widerstandsmöglichkeit beraube. Diese funktionale Spielart des extremen Realismus und seine Angleichung an die Massenkommunikation verweisen außerdem auf bestimmte entscheidende Fragen hinsichtlich des genauen Verhältnisses zwischen der Sensologie und der zeitgenössischen Massenkommunikation. Stellt die Massenkommunikation ein Phänomen dar, welches unter die Sensologie zu subsumieren sei? Oder ist sie eher ein »anderes Phänomen, das sich als eine bestimmte und relativ feststehende Botschaft, als eine […] relativ unveränderliche Weise zu fühlen nicht fassen lässt«?45 Die zeitgenössische Massenkommunikation zeichne sich zunächst einmal durch ihre schiere Omnipräsenz in der Gegenwart aus; sie durchdringe nicht nur Kunst, Kultur, Erziehung und Unterricht, sondern auch Wissenschaft und Politik. Perniola 41 42 43 44 45
Ebd., 50. Ebd., 50 f. Ebd., 51 f. Ebd., 52. M. Perniola, Wider die Kommunikation, Berlin 2005, 13.
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beschreibt ihre Ubiquität folgendermaßen: »Sie ist der Zauberstab, der Schwächefaktoren wie Zusammenhangslosigkeit, Widerruf und Chaos in Beweise der Stärke verwandelt und der an die Stelle von Erziehung und Unterricht nun edutainment, von Politik und Information infotainment, und von Kunst und Kultur entertainment setzt. Mit seiner unmittelbaren Wendung ans Publikum gibt sich das Ganze zudem noch einen nebenbei höchst demokratischen Anstrich: nicht zufällig ist zur Bezeichnung dieses Phänomens der Begriff democratainment geprägt worden«.46 Im Gegensatz zu sensologischen Identitäten, die noch ein gewisses Maß an Beständigkeit und Gewissheit gewähren, operiere die Massenkommunikation auf eine solche Weise, dass sie sowohl Gegensätze, Antagonismen und Konfl ikte evoziere als auch zur gleichen Zeit gerade diese Gegensätze, Antagonismen und Konfl ikte auflöse und sich damit jedweder Identifi kation und Defi nition entziehe. Sie habe eine Art Triumphalismus zur Folge, der in seiner Gewalttätigkeit eine Affi nität zur Kultur der Performance und ihrer ständigen Produktion von highs und von Abhängigkeit erzeugenden Erfahrungen zeige.47 Überdies bestehe der einzige und ausschließliche Zweck des Typus von Gewalt, der sowohl die Massenkommunikation als auch die Kultur der Performance durchdringe, darin, »das Individuum ins Bild der Welt einzurücken. Die gewalttätige Handlung hebt das Individuum unter Kraftaufwand auf die öffentliche Szene und versucht, es dort so lang wie möglich zu halten«;48 auf diese Weise werde das Öffentliche vollends dem Privaten unterstellt. Hier wird auch der Unterschied zwischen Sensologie und Massenkommunikation greif bar: Während die Sensologie ein gesellschaftliches Gewebe sinnlicher Erfahrung darstellt, welches Öffentlichkeit in Gestalt einer verdinglichten Ordnung des heteronomen Bereits-Gefühlten mit sich führt, ist die Massenkommunikation deren reaktive Privatisierung. Der sensologische Raum des Bereits-Gefühlten und der Privatismus der Massenkommunikation bilden folglich wiederum die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Obgleich die Massenkommunikation ein zeitgenössisches Problem darstelle, dürfe man sie dennoch nicht als Repräsentantin der sogenannten »neuen Ökonomie« missverstehen. Denn während in der neuen Ökonomie die Quelle für die Wertschöpfung vermittels Vermittlung und durch die Paradigmen von Netzwerk, Konjunktion und Übergang, welche allesamt Differenzen artikulieren, erfolge, stelle die Kommunikation eine reaktionäre Kraft dar, d. h. einen Restbestand der »alten Ökonomie«, und sie versuche, alles in Unmittelbarkeit, Spontaneität und Blitzesschnelle einzutauchen.49 Kurzum, sie fi rmiere als ein »totalitärer« Vitalismus, der keinerlei Differenzen kenne, dem die Erfahrung von Antagonismus fehle und der folglich nicht in der Lage sei, Antagonismus und Differenz zu denken. Die Kommunikation sei die Gefangene imaginärer Fixierungen und, genauer gespro46 47 48 49
Ebd., 11. Vgl. ebd., 19 f. Ebd., 20. Vgl. ebd., 26 f.
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chen, der psychotische Effekt der Verwerfung des Symbolischen.50 Dieser Sachverhalt vermag vielleicht auch die Bedeutungskatastrophe zu erklären, welche in der Massenkommunikation statthabe, da es im kommunikativen Kontext nichts gebe, was zum Gegenstand der Interpretation werden könne; vielmehr präsentiere sich das kommunikative Universum als unzugänglich, undurchdringlich und unentzifferbar, und es sperre sich zudem »einer dialektischen und post-dialektischen Mobilisierung«.51 Obgleich Perniola die zeitgenössische Sensologie und Massenkommunikation hauptsächlich durch Bezugnahmen auf rezent hervorgetretene kulturelle, künstlerische, soziohistorische und politische Phänomene zu erläutern sucht, beharrt er schlussendlich darauf, dass die Wurzeln der Sensologie (wie auch der Massenkommunikation) letzten Endes in der antiken griechischen Metaphysik und ihrer Behauptung hinsichtlich des Primats »der Handlung über das Vermögen, des Handelns über das Leiden, der Form über die Materie, des Seins über die Natur, der Seele über den Körper, der intellektuellen über die affektiven Fähigkeiten« 52 liegen. Das heißt: »Das emotionale Leben wird als ein Zustand der Untätigkeit und der Unterordnung unter das intellektuelle, aktiv und unempfi ndlich gedachte Leben aufgefasst.« 53 Bereits die (antike griechische) Metaphysik habe der Untätigkeit einen ontologischen Minoritätsstatus zugewiesen, und diese Entscheidung habe ein Projekt zur Folge gehabt, das auf die Unterwerfung der Erfahrung des Fühlens und der affektiven Erfahrung abziele, die überdies als »pathologisch, weiblich, knechtisch wahrgenommen wird«.54 Folglich sei die Sensologie als eine vollständige Verwirklichung des metaphysischen Aktivismus aufzufassen, insofern die metaphysische Unempfi ndlichkeit im Bereits-Gefühlten zur gesellschaftlichen Wirklichkeit werde; sie werde zum ausschließlich vorgeschriebenen Zugang zur Wirklichkeit: »Die Spektralität dessen, der lebendes Geld aus sich hat machen können, und die Spekularität des hingegen zum Ding-Menschen Gewordenen sind beides Aspekte derselben Ausschließung des Fühlens.« Diese metaphysische Abschaff ung der Erfahrung des Fühlens sei allerding zugleich der Niedergang der Metaphysik, denn »mit dem Fühlen ist zugleich auch die autonome intellektuelle Tätigkeit zerstört, in der die Metaphysik den Urgrund aller Bewegung sieht«.55 Wie soll man sich dann in die zeitgenössischen »Ideologien« der Sensologie und Massenkommunikation einschalten, insbesondere wenn man in Erwägung zieht, dass Sensologie und Massenkommunikation mit der Metaphysik ein Streben nach Totalität teilen? Wie könnten mögliche Fluchtwege aus der Sensologie und der Massenkommunikation aussehen? Müsste man nicht angesichts ihres gleichsam totalitären Charakters der Vermutung nachgeben, dass die einzigen Fluchtwege 50 51 52 53 54 55
Vgl. ebd., 37. Ebd., 38. Perniola, Fühlen, 132. Ebd., 132. Ebd., 132. Ebd., 133.
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entweder Strategien, welche auf die Überwindung der Entfremdung abzwecken, oder das Ausweichen in fremde, nicht-westliche Erfahrungsstile des Fühlens sein müssen? Was die Möglichkeit von nicht-westlichen Alternativen angeht, hält Perniola fest, dass jene Erfahrungen des Fühlens beziehungsweise Empfi ndens nur dann zu Formen eines Widerstandes gegenüber der Sensologie und der Kommunikation werden können, wenn sie in die Geschichte des westlichen Fühlens und der westlichen Sensibilität eingeschrieben werden; anderenfalls würden sie unwirksame Enklaven bleiben. Gegen die – vorwiegend humanistischen – Strategien, die auf eine Überwindung von Entfremdung und Verdinglichung setzen und folglich auf der Aufgabe bestehen, sich Erfahrungen von Entfremdung und Verdinglichung um einer Wiederherstellung der Integrität des Subjekts willen wieder anzueignen, legt er »homöopathische Mittel gegen die Entfremdung« nahe, um »sozusagen die Wunde genau durch diejenige Waffe zu behandeln, die diese Wunde verursachte«.56 Anstatt erneut die Möglichkeit einer Rückkehr zu subjektiver Innerlichkeit und Authentizität zu beanspruchen, sei »die Schlacht auf der Ebene des Äußerlichen zu schlagen«.57 Beschwörungen subjektiven Fühlens stellen folglich keine echte Alternativen dar, da sie nicht nur ihrem Wesen nach einer Epoche der bürgerlichen Gesellschaft angehören, die überwunden scheint, sondern weil sie zwangsläufig gerade diejenige Äußerlichkeit und Verdinglichung verfehlen, welche für das unpersönliche, post-subjektive Fühlen der Sensologie konstitutiv sind. Andererseits enthalte die Soziokultur der Gegenwart ein Arsenal von Gegenstrategien, welche die Herrschaft der Sensologie untergraben oder zumindest verrücken können. Beispielsweise stellen sowohl die »neue Apathie«, deren »Grundtonalität in einem vorsätzlichen Kult der Indifferenz besteht«, wie auch das »neue Heidentum«, dessen »Tonalität in einem vorsätzlichen Kult der Besessenheit besteht« 58 , vielversprechende Wege dar, insofern beide eine bestimmte Entvitalisierung von Bildern des menschlichen Körpers bewirken. Angesichts des Phänomens des »Looks« triff t Perniola die folgende Bemerkung: »Durch den Look wird ein ägyptischer Effekt erzielt: das Bild wird in ein Ding verwandelt. Dadurch wird nicht nur die Nacktheit annulliert, sondern auch die Kleidung […]. Der Look lehrt uns, den menschlichen Körper nicht als vitalistischen Leib zu betrachten […] sondern als einen Körper, der Ähnlichkeit zu einer Uniform aufweist.« 59 Obzwar das Wiederaufleben des »Heidentums« sicherlich nicht in direktem Zusammenhang mit der Apathie stehe, sondern eher mit anderen emotionalen Tonalitäten wie »Besessenheit, Delirium und Trance«, sollten diese emotionalen Tonalitäten nicht als vitalistische Ausdrucksformen verkannt werden; sie müssen im Gegenteil unter dem Aspekt des Problems betrachtet werden, »ein Ding zu werden […]. Die Prämisse der Besessenheit ist der Entzug beziehungsweise Enteignung, die Verwandlung des Selbst in ein Nichts, Perniola, Enigmi, 37. Ebd., 37. 58 Ebd., 55. 59 Ebd., 59. In einem anderen Text betrachtet Perniola den »Look« allerdings in eher ambigen Begriffen. Vgl. M. Perniola, Der Sex-Appeal des Anorganischen, Wien 1999, 65. 56 57
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um ein körperliches Gef äß für etwas zu bilden, was von Außerhalb eintriff t«.60 Letztlich repräsentiere das Wiederauftauchen von Heidentum und Polytheismus, die sich in diesen zeitgenössischen ekstatischen Zuständen manifestierten, nicht nur »die Antwort auf den Bedarf nach einer praktischen Philosophie, welche in der Lage ist, der universellen Standardisierung, welche die westliche Kultur über alles zu verhängen sucht, zu entkommen« 61, sondern in einem weit größeren Maße eine Folge »der extremen Ambiguität, Unbestimmtheit und Mehrfachbedeutung jedes Ereignisses, jeder Tatsache oder jedes Dings«.62 Weitaus größere Relevanz komme allerdings der »neoantiken« Sensibilität zu, die sich sowohl vom Neoklassizismus und Primitivismus wie auch von deren postmodernen beziehungsweise neoethischen Aktualisierungen dadurch abhebe, dass sie die klassischen Welten weder auf einen grundlegenden Ursprung der modernen Welt reduziere noch Phantasmen erzeuge, welche die außereuropäischen Kulturen mit einer uranf änglichen Vitalität identifi ziere.63 Die Betonung des haptischen Sinnes und des Rhythmus in der neoantiken Sensibilität erkläre einmal ihr Vermögen, Kunstwerke von ästhetisch-kontemplativen und vitalistisch-einfühlenden Deutungsrahmen zu befreien.64 Perniola sieht die Hauptaufgabe der neoantiken Sensibilität darin, »die Verbindungen, die Verknüpfungen, die Fesseln zu erfassen, die sie mit der Umwelt, mit dem Kontext verbinden«.65 Die grundlegende Vorstellung der neoantiken Sensibilität laute, dass »die Dinge der Welt miteinander verbunden sind, zwischen ihnen keine Leere ist […]. Wichtig ist in dieser Vorstellung der Welt einerseits die monistische Idee der Wirklichkeit, die einheitlich, kompakt und kontinuierlich gedacht ist, und andererseits die Tatsache, dass diese Idee den Empfang, die Vermischung der Körper untereinander nicht ausschließt.« 66 Die neoantike Sensibilität behaupte folglich keinen unbeweglichen Monismus, sondern vielmehr einen Monismus, den eine ständige Bewegung, die allerdings keine Sprünge und Brüche aufweise, auszeichne, und dessen Rhythmus folglich selber eine »flüssige Form, ein Transit, ein Übergang ohne Sprünge« 67 sei. Im ausgesprochenen Gegensatz sowohl zur postmodernen Aktualisierung des Neoklassizismus als auch zur neoethnischen Aktualisierung des Primitivismus unterstreiche die neoantike Sensibilität nicht nur die Differenzmomente in den klassischen westlichen Kulturen, sondern revoziere auch die metaphysische Unterscheidung Perniola, Enigmi, 60 f. Ebd., 63. 62 Ebd., 65. 63 Vgl. Perniola, Ekel, 136. 64 Perniola identifi ziert das Auftauchen dieser neuen Sensibilität hinsichtlich der klassischen Welten in der Wiener Schule und insbesondere im Werk von A. Riegl – vgl. Perniola, Ekel, 137. Was die rezente Forschung über nicht-westliche Kulturen betreffe, stelle sie einen Typus des ästhetischen Denkens zur Schau, der sich erfolgreich vom Primitivismus befreit habe – vgl. ebd., 139. 65 Ebd., 142. 66 Ebd., 142 f. 67 Ebd., 143. 60 61
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zwischen Denken und Fühlen; das heißt, sie erfasse Denken und Fühlen in ihrer Untrennbarkeit. Dadurch werde die Aktivität der Vernunft oder des Intelligiblen auf der angeblich passiven Sinnlichkeit außer Kraft gesetzt und das Verhältnis zwischen beiden neu strukturiert, insofern das hierarchische Verhältnis zwischen Intelligiblem und Sensiblem, welches die Sensologie zutiefst kennzeichne, in Frage gestellt werde. Darüber hinaus trachte sie nach Affi nitäten und Korrespondenzen zu/ in anderen, nicht-westlichen Kulturen und Zivilisationen, und ihr Ansatz zeichne sich einmal durch die »Fähigkeit des Staunens« aus, sowohl »über sich selbst und den Nächsten«, als auch durch die »Fähigkeit der Wiedererkennung des Anderen und des Fernen«.68 Folglich praktiziere die neoantike Sensibilität weder eine Art Abschließung, die das Hauptmerkmal des Neoethnischen ausmache, noch eine »apologetische und unkritische Akzeptanz anderer Kulturen«.69 Die neoantike Sensibilität könne folglich als Erbin jener Momente im antiken (griechischen und römischen) Denken verstanden werden, die bereits eine alternative Konzeption des Verhältnisses zwischen Fühlen und Denken nahelegten. Perniola vermag zu zeigen, dass es in der antiken Philosophie semantische Felder gibt, welche Sensibilität und Emotionalität gerade nicht vom Denken und Handeln abtrennen. Beispielsweise umgreife Aísth ēsis »sowohl die Wahrnehmung und das Verstehen«, während Ménos »sowohl die affektive Glut, wie den Handlungswillen mitumfasst«.70 Letzten Endes schießen Perniolas Ausgrabungen von alternativen Stilen des nicht-subjektiven Fühlens in verdichteter Form im Syntagma »farsi sentire« (»sich fühlen lassen«) zusammen, d. h. in einem Syntagma, welches »die operative, die rezeptive und die reflexive Dimension in sich vereint« 71, und das die Möglichkeit vorsehe, eine andere Konzeption von Fühlen und Denken zu entfalten, nach der die Sensibilität nicht länger mit einer untätigen Materie und das Denken nicht länger mit einer immateriellen Form gleichgesetzt werde, welcher die Gestaltung der Materie obliege; vielmehr entstehe die Sensibilität »aus einer Entscheidung, sie festig[t] sich mit der Praxis, sie verlang[t] nach einer Arbeit an sich selber, nach einer Askese im wörtlichen und etymologischen Wortsinn, die eben genau Einübung, Exerzitium bedeutet«.72 Wenn also der affektiven Dimension bereits eine intellektuelle Operation innewohne und der intellektuellen Dimension umgekehrt bereits eine affektive Rezeption,73 dann könne man das Denken als ein »Empfangen« dessen, »was von außen herkommt«, begreifen, als ein »AufEbd., 145. Ebd., 146. 70 Perniola, Fühlen, 136 f. 71 Ebd., 138. 72 Ebd., 139. 73 Ein besonders aufschlussreiches Beispiel dieser wechselseitigen Verschränkung des Affektiven und des Intelligiblen sei die Erkenntnistheorie, welche im Zusammenhang mit der Philosophie der Stoa entwickelt wurde – eine Erkenntnistheorie, welche zugleich »radikal sensualistisch und radikal logisch« sei; überdies fi nden sich Elemente der stoischen Erkenntnistheorie bei Alain, M. Merleau-Ponty und G. Deleuze – vgl. Perniola, Fühlen, 110; 113 ff. 68 69
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nehmen« und »Beherbergen« dessen, »was sich als fremd und rätselhaft darstellt«.74 Umgekehrt erweise das »Sich-Fühlen-Lassen« als ein »Sich-Selber-Darbieten«, damit »etwas in uns eine Möglichkeit des In-der-Welt-Seins fi nden kann: Auf diese Weise setzen wir uns als Manifestationsbedingungen dessen, was außerhalb, unpersönlich, überindividuell ist. Nicht wir als Subjekt fühlen etwas, sondern wir selber bieten uns ganz im Gegenteil einem Fühlen dar, das anderswo verortet ist«.75 »Die Differenz empfi nden«!76 Diese Losung kennzeichnet Perniolas ästhetisches Denken, welches sich gegen die Sensologie und gegen ihre verschiedenen Stile des Bereits-Gefühlten richtet. Er bemüht sich um eine Konzeption des Verhältnisses zwischen Fühlen und Denken, welche nicht länger unter die Metaphysik und unter die moderne Ästhetik mit ihren »Idealen der Harmonie, des Gleichmaßes, der organischen Einheit« subsumiert werden könne. Sie opponiere ebenso jedweder Fassung der Ästhetik als Vorschein von Versöhnung, als »Vorwegnahme eines Konfl iktendes, eines kommenden Friedens, eines Moments der Harmonie, in dem Schmerz und Kampf […] zumindest zeitweilig aufgehoben sind«.77 Allerdings könne die Tradition der philosophischen Ästhetik dennoch eine vielversprechende Alternative zur Sensologie und zur Kommunikation eröffnen, sobald einige ihrer Hauptkategorien dekonstruktiven Verfahrensweisen, welche einen Abstand zwischen ihnen und der nach präfabrizierten und privatisierten Erfahrungen strebenden sensologischen und kommunikativen Gesellschaft einführen, unterzogen werden. Vor allem die Interesselosigkeit des ästhetischen Wohlgefallens, die seit dem 18. Jahrhundert zu einer Zentralkategorie des modernen ästhetischen Denkens aufgerückt sei, sei von ihrer traditionellen ideologischen Interpretation zu befreien, da diese die Interesselosigkeit hauptsächlich im Sinne ihrer angeblichen öffentlich-gesellschaftlichen Wirkungslosigkeit begriffen habe. Denn einerseits könnte gezeigt werden, dass interesseloses Handeln in traditionellen Gesellschaften als öffentliche Regel fungierte und dass es Bestandteil einer »Ökonomie der Gabe« war. Noch wichtiger sei allerdings Pierre Bourdieus Nachweis, dass die ästhetische Interesselosigkeit niemals gänzlich ohne jedwedes öffentliches Interesse gewesen sei und dass sie folglich als eine Art von symbolischer Ökonomie aufgefasst werden könne, »die anders als die kapitalistische mit einer eigenen autonomen Rationalität ausgestattet ist«.78 Diese Ökonomie der symbolischen Güter fi nde sich nicht nur in traditionellen Gesellschaften, sondern auch in der »Welt der Bürokratie, der Bildungsberufe, der wissenschaftlichen Forschung und der Lehre«.79 Aus diesem Sachverhalt zieht Perniola den folgenden Schluss 80: »[M]it anderen Worten, die
74 75 76 77 78 79 80
Ebd., 139. Ebd., 139. Perniola, Die Kunst und ihr Schatten, 35. Ebd., 35. Ebd., 70. Ebd., 71 f. Ebd., 72.
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›interessierte Interesselosigkeit‹, deren radikalste Formulierung die Ästhetik darstellt, wäre das Dispositiv, auf dem die moderne Welt aufgebaut ist«. Eine unter dem Aspekt der »interessierten Interesselosigkeit« dekonstruierte Ästhetik mache nicht nur augenfällig, dass die Ästhetik als die Matrix der symbolischen Ökonomie fungiere, sondern lege überdies nahe, dass die verschiedenen Bereiche von Wissenschaft, Moral, Erziehung, (»neuer«, d. h. postindustrieller und kulturkapitalistischer) Wirtschaft und Politik als bedeutsame Komponenten dieser alternativen symbolischen Ökonomie behandelt werden sollten. Soll die Ästhetik die symbolische Ordnung gegen die imaginäre Kommunikation wiederherstellen, dann müsse sie der kommunikativen Gesellschaft und ihrem unauf hörlichen »spin« entgegenwirken. Die kommunikative Gesellschaft zeichne sich nicht nur durch systematische Praktiken der Desinformation und sofortiger Nachrichtenübermittlung aus, sondern sie funktioniere auch nicht länger nach den Regeln und Gesetzen der traditionellen Ideologie, insofern sie nicht länger Individuen anruft und diese in Subjekte mit stabilen Identitäten verwandelt. Stattdessen zersetze sie jedwede Art von Gewissheit und verwandle ihr Publikum »in eine Art tabula rasa […], die extrem empfi ndlich und empfänglich ist, aber unfähig, das, was auf ihr geschrieben steht, über den Augenblick des Empfangens und der Übermittlung hinaus zu behalten«.81 Stellt man sich nun der Aufgabe, das Publikum aus der Gefangenschaft des Hier und Jetzt, von Übertragungs- und Empfangsmodellen, die weder ein Gedächtnis noch ein Unbewusstes aufweisen, zu befreien, müsse man dem ästhetischen Denken ein »Mäntelchen«, einen »Habitus«, »Formen und Riten« zur Seite stellen, »die sich in ihrer Äußerlichkeit als etwas Feststehendes und Gebilligtes forterhalten, auch wenn sich ihre Bedeutung verloren hat oder ins Unbewusste abgeglitten ist oder überhaupt nie existiert hat«.82 In diesem Zusammenhang stellt Perniola fest, dass die Möglichkeit einer symbolischen Öffentlichkeit sich auf Dimensionen gründe, welche »eine unorganische Körperlichkeit darstellen«.83 Gerade diese anorganischen öffentlich-symbolischen Formen und rituellen Verhaltensweisen gelte es vor dem privatisierenden, expressionistischen Vorurteil, welches für die kommunikative Gesellschaft konstitutiv sei, zu schützen und zu bewahren. Gegen die falsche kommunikative Behauptung, dass rituelle Verhaltensweisen letzten Endes auf bloße subjektive Ausdrucksformen zurückgeführt werden können, müsse betont werden, dass sie Medien darstellen, die »die individuellen Subjektivitäten eher form[en]«.84 Indem er darauf besteht, dass der Ritus zugleich eine Handlung, ein Denken und ein Fühlen darstelle, möchte Perniola eine andere Deutung des Ritus vorschlagen. Das heißt, im Gegensatz zur mythologischen Aneignung von Riten und Verhaltensweisen, welche für die kommunikative Gesellschaft kennzeichnend seien, müsse man wieder »die Autonomie von Verhaltensweisen, Gesten 81 82 83 84
Perniola, Wider die Kommunikation, 105. Ebd., 104. Ebd. Ebd., 105.
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und Riten hinsichtlich von Glaubensvorstellungen, Erklärungen und Mythen« 85 bekräftigen. Denn nur Rituale könnten »mit ihrer relativen Undurchdringlichkeit und Unausdrücklichkeit dem trüben Fließen der Kommunikation […] die Stirn bieten« 86 , und nur sie könnten einen symbolischen Raum für Empfi ndungs- und Verhaltensweisen eröff nen, der nicht länger von der Psychose intimer Subjektivität überschrieben wird. Die symbolische Dimension von Ritualen zeige nicht nur deutlich, dass Rituale jedweder Subjektivierung vorhergehen, sondern auch, dass sie potenziell das Individuum von hegemonialen Subjektivierungsweisen befreien. Der Widerstand gegen den heute vorherrschenden gesellschaftlichen Imperativ ständiger Subjektivierung, der von den gegenwärtigen Normen von Hyperproduktivität, Hyperaktivität und Performativität beschworen wird, richtet sich ebenso gegen den kommunikativen Imperativ und seine Tendenz, den öffentlichen Raum privaten Interessen unterzuordnen und den öffentlichen Raum der Erscheinungen durch erzwungene Intimisierungsprozesse zu zerstören. Angesichts der von der Kommunikation erzeugten Entzauberung der Welt kann das anonyme, unpersönliche und autonome Fühlen als dissensuelles Fühlen aufgefasst werden, insofern es einen Abstand zur gegenwärtigen Kultur der Intimität einführt und einer Kultur des öffentlichen Scheins entgegenarbeitet. Obgleich sich bei Perniola keine Verknüpfung zwischen seinem ästhetischen Denken und einer expliziten Konzeption von Politik fi ndet, beinhaltet die von ihm formulierte Aufgabe, die Differenz zu empfi nden und ein anderes sinnlichöffentliches Gewebe des Fühlens (wieder) zu gewinnen, dennoch politische Implikationen, insofern ein wesentlicher Einsatz seines ästhetischen Denkens die Konstitution oder Konstruktion einer anderen Welt betriff t. In diesem Zusammenhang unternimmt Perniola eine faszinierende Ausarbeitung des »katholischen Fühlens«, die zeigt, dass das katholische Fühlen in sich nicht nur die bereits dargelegten Merkmale des anonymen, unpersönlichen und autonomen Fühlens konzentriert, sondern zugleich als weltliches Fühlen begriffen werden müsse, d. h. eine Bezogenheit auf die Welt als Differenz beinhalte. Zunächst einmal sei das katholische Fühlen eine »durchaus universalisierbare Erfahrung« 87, die strikt vom protestantischen Fühlen abzugrenzen sein, da Letzteres auf einer problematischen Identifi kation von religiösem Fühlen und Subjektivität beziehungsweise Innenschau beruhe. Während also das protestantische Fühlen als ein »VonInnen-Fühlen« Vorläufer des modernen intimen Fühlens samt seinem Weltverlust sei und somit auch das Politische in seinen visuellen und taktilen Eigenschaften verfehle,88 bewege sich das katholische Fühlen als ein »Von-Außen-Fühlen« in M. Perniola, Ritual Thinking, Amherst 2001, 47; meine Übersetzung (E. V.). Perniola, Wider die Kommunikation, 105. 87 M. Perniola, Vom katholischen Fühlen. Die kulturelle Form einer universellen Religion, Berlin 2013, 12. 88 Ebd., 68 f. 85
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einem Verhältnis »zum Außenbereich, zu den Dingen, zur Welt«.89 Das katholische Fühlen impliziere sowohl eine Distanzierung von der eigenen Subjektivität und eine Bewegung der Entäußerung, welche den Zugang zu einer neutralen äußeren Dimension eröff ne, deren Horizont wiederum eine gemeinsame Welt bilde, und folglich die Möglichkeit eröff ne, dass man sich zu einem Ding, das fühlt, mache.90 Hier stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Sensologie und ihren bereits-gefühlten Empfi ndungen einerseits, und dem katholischen Fühlen andererseits. Die Sensologie und das katholische Fühlen seien darin einander ähnlich, dass sie nicht nur der sensitiven Dimension der Erfahrung den Vorrang gegenüber der kognitiven Dimension der Erfahrung einräumen, sondern auch dem Von-Außen-Fühlen gegenüber dem Von-Innen-Fühlen. Obzwar ein »wesentlicher Unterschied« bestehe »zwischen der heterodukten und heteronomen Sensologie und dem unabhängigen, autonomen katholischen Fühlen«, entziehen sich beide doch »der subjektivistischen Alternative zwischen Glauben und Zweifel«. Allerdings erfolge dieser Entzug auf völlig unterschiedliche Art und Weise. Denn während die sensologische Welt eine Welt darstelle, in welcher Empfi ndungen ausnahmslos dem historischen Apriori des Bereits-Gefühlten unterstellt und folglich homogenisierte und gepauste Empfi ndungen sind, impliziere das katholische Fühlen »die Ent-Haltung aller subjektiven Gemütsbewegungen und den Eintritt in eine zwar losgelöste, aber dennoch nicht passive Erfahrung«.91 Das katholische Fühlen beschreibt also eine Bewegung von der Suspendierung der rigiden eigenen subjektiven Identität hin zu einer Indifferenz gegenüber der eigenen subjektiven Identität, wodurch eine Dimension des Unpersönlichen eröff net werde, die in einem Verhältnis handelnder Kontemplation oder »aktiver Passivität« sowohl zum Subjekt als auch zu den Dingen stehe und sich dadurch einen Sinn für die Differenz beziehungsweise einen »Sinn für die Möglichkeit anzueignen« 92 vermag. Die das katholische Fühlen kennzeichnende aktive Passivität bezeuge zudem dessen rituelle Dimension. Gegen die geläufige moderne Auffassung, der zufolge dem Fühlen Subjektivität, Spontaneität, und Unmittelbarkeit zuzuschreiben und »dem Ritus die Kennzeichen von Formalität, Konventionalität, Stereotypie und Strenge« zuzusprechen seien, beharrt Perniola nochmals darauf, dass diese trennende Zuschreibung dem modernen Vorurteil geschuldet sei, das »allem Spirituellen gegenüber dem Körperlichen, allem Inneren gegenüber dem Äußeren, dem Leben gegenüber der Form, der Absicht gegenüber dem Tätigsein den Vorrang gibt«.93 Perniolas Auffassung des Ritus widerspricht diesem Vorteil, und er erinnert zudem daran, dass die rituelle Erfahrung als ein Gewebe von Tun, Denken und Fühlen zu begreifen sei; dieses Gewebe werde allerdings nur »über die Ent-Haltung 89 90 91 92 93
Ebd., 14 f. Vgl. ebd., 70. Ebd., 36. Ebd., 153. Ebd., 60.
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des Alltagslebens« zugänglich, »nur über das Aussetzen der funktional zielgerichteten Tätigkeiten, nur über ein Verweilen in der Körperlichkeit«.94 Vermittels seines Verweilens in der anorganischen Körperlichkeit vermag das katholisch-rituelle Fühlen, von etwas bewegt zu werden, »das von außen kommt, das anders und fremd ist«.95 Dieses Andere und Fremde sei letztlich nichts anderes als die Welt der Differenz beziehungsweise als Differenz. Diese Welt der/als Differenz ist eine gemeinsame und anorganisch-öffentliche Welt, die eben nicht das Erzeugnis eines subjektiven Willens sei und die aus diesem Grund nicht einfach auf die Subjektivität, auf ein Kollektiv von Subjekten und auch auf »keine Idee, keinen Begriff, keinen Gedanken und keine Bedeutung« zurückgeführt werden könne. Vielmehr sei die als Differenz erfahrene Welt eine Welt ohne Grund und ohne Vernunft, die »das Erstaunen und die Verwunderung« 96 hervorrufe. Die als Differenz erfahrene Welt offenbare sich in der Bewegung der Dinge, im Werden, in der Geschichte, wodurch sich der große Unterschied zum starren, unbeweglichen und identitären Wesen der sensologischen Welt zeige. Während die sensologische Welt ein affektives Universum sei, »für das ein von den Massenmedien geschaffenes kollektiviertes und verdinglichtes Fühlen charakteristisch«97 sei, bewahre sich im katholischen Fühlen die Vorstellung einer gemeinsamen, nicht-subjektiven, von Gewohnheiten und nicht mehr von Gesetzen regierten, und auch deshalb grundsätzlich unberechenbaren und unvorhersehbaren Welt, die sich aus der Korrelation zwischen einer Vielzahl aktiver Passivitäten, »die in sehr unterschiedlicher Weise denken und fühlen, sich dabei jedoch auf etwas Äußeres beziehen, das sich nicht auf die einzelnen Subjektivitäten zurückführen lässt« 98 , und der unerwarteten Bewegung der Dinge beziehungsweise der Geschichte bestimmt. Die politische Tragweite des katholischen Fühlens besteht in seinem impliziten Appell für den öffentlich-politischen Raum, für eine symbolische Ordnung, welche sich jedweder Art von Psychologisierung entzieht. Das katholische Fühlen ruft nicht nur die Tatsache ins Gedächtnis, dass die »Politik an die erfahrbare und sichtbare Differenz der Welt gebunden« sei, sondern stellt auch alle diejenigen Tendenzen in Frage, »die das soziale Band auf eine starre Identität gründen, etwa ethnischen, sexuellen, biologischen, sozialen und religiösen Charakters«.99 Das katholische Fühlen unterschreibt überdies eine Kultur des Scheins beziehungsweise der Erscheinung, die im Gegensatz sowohl zu den verdinglichten kollektivierten Empfi ndungen der Sensologie als auch zu der neoliberalen kommunikativen Kultur privatisierter und individualisierter Empfi ndungen steht. Es weist überdies auf die Notwendigkeit von Haltungen des Empfi ndens hin, denen eine Distanz gegenüber Ebd., 67. Ebd., 111. 96 Ebd., 24. 97 Ebd., 29. 98 Ebd., 58. 99 Ebd., 58. Perniola entwickelt seinen Welt-Begriff in ausdrücklicher Anlehnung an H. Arendt. 94 95
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der Sensologie wie auch gegenüber den kommunikativen Zuschreibungen und Zumutungen einbeschrieben ist, und es ruft es zu einem Verzicht auf diejenigen Stile der (Selbst-)Subjektivierung auf, welche die Sensologie und die Kommunikation weiterhin auf gewaltsame Art und Weise vorschreiben, um so eine totalitäre Welt zu perpetuieren, die zwischen präfabrizierten Gefühlen und privatistischen Empfi ndsamkeiten oszilliert und sich für das Empfi nden und das Denken der Welt als Differenz gerade unempfänglich zeigt.
SIN N LICH-POLITISCH E SENSI BILITÄT U N D DI E SENSI BILITÄT DES POLITISCH EN
Ästhetik des Fleisches Sensibilität bei Claire Denis & Jean-Luc Nancy Kathrin Busch
»Ich bin keine besonders ausgeglichene Person. Ich bin fragil und traurig«,1 so schreibt die Filmemacherin Claire Denis über sich selbst. Die Fragilität diene ihr als das wichtigste Instrumentarium ihrer Kunst: »Ich will wahre Filme machen und dafür muss ich herausbekommen, wo meine Fragilität liegt«.2 An der Zerbrechlichkeit, dem Riss oder Knacks ansetzend,3 verschreibt sie sich einem Verfahren der Sensibilisierung, davon ausgehend, dass sich die gesellschaftlichen Konfl ikte und kulturellen Fragen in den Brüchigkeiten des Selbst abzeichnen, mit dem Ziel über die Empfi ndung – in einem als pathisch zu bezeichnenden Erkennen – sichtbar zu machen, was uns bestimmt. Auch ihre Filme operieren mit einer fast taktilen Sinnlichkeit, die nicht auf Überwältigung oder Affi zierung, sondern auf Sensibilisierung setzt. Die fi lmische Narration tritt in ihnen zurück – zugunsten von Stimmungen, Aufenthalten im Empfundenen, Zuständen des Fühlens, die sich über den einzelnen Körper hinaus erstrecken und bildlich auf die ganze Leinwand ausdehnen. Wenn man die Filme von Denis einem »Kino des Körpers und der Sinne«4 zuschlagen will, dann darf man ihre Konzentration auf den sensiblen und exponierten Körper nicht auf den menschlichen beschränken. Der Begriff des Fleisches ist dem fi lmischen Körperdenken von Denis wesentlich angemessener, weil eine ästhetische Sensibilität ihre Filme grundiert, in der die Körper mit ihren Umgebungen verflochten und in eine Zwischenleiblichkeit mit anderen Lebewesen eingebunden sind. Das sensorische Regime wird weit über das Menschliche hinaus ausgeweitet, auf nicht-menschliche Milieus, auf Landschaften und Tiere. Dabei sind ihre Filme trotz der verdichteten Stimmungen keineswegs fern jeder Theorie. Im Gegenteil ist ihr Kino der Sensibilität zutiefst theoretisch informiert. Und zwar so sehr, dass man es als Fortsetzung der Philosophie im Medium der Bewegtbilder verstehen kann. Zu den Autoren, die sie aufgreift und mit denen sie fi lmisch denkt, gehört neben Roland Barthes, der mit seinen Fragmenten einer Sprache der Liebe für ihren neuesten C. Denis, »›Fragilität ist die einzige Sache, die ich wirklich über mich weiß‹«, in: Fragile Identitäten, hg. von K. Stakemeier und S. Witzgall, Zürich, Berlin 2015, 99-103, hier 99. 2 Denis, »›Fragilität ist die einzige Sache, die ich wirklich über mich weiß‹«, 100. 3 Siehe hierzu G. Deleuze, »Porzellan und Vulkan«, in: ders., Logik des Sinns, übers. von B. Dieckmann, Frankfurt/M. 1993. Dort heißt es: »Wenn man fragt, […] warum der Riß wünschenswert sei, dann vielleicht deshalb, weil man noch nie ohne ihn und außerhalb seiner Ränder gedacht hat, und weil bei Leuten, die sich kurzerhand selbst zerstören, alles, was in der Menschheit gut und groß war, durch ihn ein und austritt« (201). 4 Vgl. M. Beugnet, Claire Denis, Manchester 2004, 132 ff . 1
ZÄK-Sonderheft 17 · © Felix Meiner Verlag 2018 · ISBN 978-3-7873-3544-2
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Film wichtig ist, auch Jean-Luc Nancy, dessen Buch L’Intrus5 sie im gleich namigen Film adaptiert – oder wie Nancy formulieren wird – adoptiert.6
I. Das fremde Herz – Nancy Der Text von Nancy trägt den Untertitel Das fremde Herz und entwickelt eine philosophische Körpertheorie ausgehend von der Erfahrung einer Herztransplantation, die für Nancy aufgrund eines Herzfehlers nötig wird und über die er im Jahr 1999 knapp zehn Jahre nach der erfolgten Operation berichtet. Bezugnehmend auf die am eigenen Leib erfahrene Versehrtheit, Hinfälligkeit und Ausgesetztheit befragt Nancy den Stellenwert des »Eigenen«. Er räumt mit der Vorstellung der Eigenheit des Körpers auf, der – phänomenologisch gesprochen – als sicheres Fundament und untrüglicher Nullpunkt aller Erfahrung gilt, um an dessen Grund den Bodensatz von Fremdheit, Beunruhigung und Störung aufzuwirbeln. Nancy beschreibt, wie ihm sein eigenes Herz fremd wird, weil es erkrankt und seinen Dienst immer mehr versagt bis ihm, um nicht zu sterben, das Herz eines anderen Menschen eingesetzt wird. Mit der vollzogenen Einpfl anzung des neuen Organs potenziert sich die Befremdung. Die oft suggerierte Intimität mit dem Spender weicht ihrem Gegenteil, einem regelrechten Ausbruch von Alterität, weil das neue, scheinbar rettende Herz als Fremdkörper vom eigenen Körper abgestoßen wird. Um diese Tod bringende Reaktion zu verhindern, wird die Immunabwehr unterdrückt, mit der Folge, dass der Körper fragil wird und damit all diejenigen Fremdkörper virulent werden, die man immer schon in sich trägt und den vormals anscheinend eigenen Körper zusehends entfremden.7 Zutage tritt eine latente Andersheit im Eigenen. »Der Eindringling befi ndet sich in mir: ich werde mir selber fremd«.8 Gerade »die lebendigsten und beweglichsten Feinde lauern im Inneren«.9 Das Selbst zeigt sich als immer schon vom Fremden bewohnt. Es dringt nicht von außen ein, sondern bricht im Inneren aus. Im weiteren Verlauf des Textes beschreibt Nancy wie das, was das Überleben sichern soll, zur Lebensgefährdung wird und wie es immer weitere Erkrankungen nach sich zieht, deren medizinische Behandlungen mit neuen J.-L. Nancy, Der Eindringling / L’Intrus. Das fremde Herz, übers. von A. G. Düttmann, Berlin 2000. 6 Vgl. J-L. Nancy, »L’Intrus selon Claire Denis«, (2005), 1-8, aufzurufen unter: http://www.lettre-de-la-magdelaine.net/IMG/pdf/_ Jean-Luc_Nancy_L_In trus_se lon_ Claire_Denis.pdf . Nancy hat Denis’ fi lmische Bezugnahme beantwortet, indem er seinerseits über ihre Filme schreibt, außerdem haben sie gemeinsam einen Kurzfi lm, mit dem doppeldeutigen Titel Vers Nancy, realisiert. 7 Vgl. Nancy, Der Eindringling, 15. Er fühlt sich in einer eigenartigen Selbstverdoppelung als Sterbender. Und resümiert: »Der vielgestaltige Fremde, der in mein Leben eindringt […], ist also kein anderer als der Tod, oder vielmehr: als das Leben/der Tod« (27) – ein vom Tod befremdetes Leben. 8 Nancy, Der Eindringling, 33. 9 Ebd., 37. 5
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Leiden, Gefährdungen und Zerbrechlichkeiten einhergehen.10 Das, was am Leben erhalten soll, infi ziert und bedroht. »Daß ich mir selbst fremd werde, bringt mich jedoch nicht dem Eindringling näher.«11 Das fremde Herz wird zwar nicht mehr abgestoßen, aber doch wird es nicht zum Eigenen – es bleibt fremd. In einer eigenartigen Figur der Ausstülpung exponiert es den eigenen Körper dem Außen. »Welch’ fremdes Selbst! Nicht weil man mich geöff net und durch die klaffende Öff nung ›mein‹ Herz ersetzt hat, sondern weil sich das Auf klaffende nicht mehr schließen läßt.«12 Am Ende des Textes heißt es: »Der Eindringling ist kein anderer als ich selber – als der Mensch selbst. Kein anderer als der Selbe, der nicht aufhört, sich zu verändern, […] Eindringling sowohl in der Welt als auch in sich selbst […].«13 Die Wahrheit des Subjekts – so Nancy – bestehe in dessen Äußerlichkeit, in seiner Exposition und Berührbarkeit. Das Subjekt ist, auch wenn es sich fortwährend zu immunisieren sucht, nicht nur Fremdheiten ausgesetzt, sondern in seiner Ausgesetztheit selbst ein Fremder, seinerseits ein Eindringling. Diese Erfahrungen und Überlegungen hat Nancy seither in Büchern wie Corpus, singulär plural sein oder Ausdehnung der Seele zur Grundlage einer eigenwilligen Körpertheorie gemacht. Sie entfaltet ein Denken radikalisierter Sensibilität und Ausgesetztheit. »Körper ist Exposition.«14 Aus empfi ndendem Fleisch gemacht, ist der Körper dem Außen ausgesetzt. In dieser Weise offen, roh und wund zu existieren, heißt, affizierbar zu sein und »erschüttert, betroffen, verwundet«15 werden zu können. Nancy nennt eben dieses Exponiert-sein des Körpers: die Seele. Ein Nachlass-Fragment von Sigmund Freud zitierend: »Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon«16 – gibt Nancy zu bedenken, dass die Passibilität, das Spüren und Gewahr-werden des Körpers eben das sei, was man gemeinhin Seele nenne. »Die Seele ist die Tatsache, daß ein Körper existiert, das heißt, daß es Ausdehnung (extension) und Ex-position gibt.«17 Nur über diesen exponierten Körper haben wir Zugang zu uns selbst. Gegen jede Verinnerlichung des leiblichen Empfi ndens gerichtet, insistiert Nancy darauf, dass Berührung und Berührbarkeit über das Außen verlaufen und der über das Außen verlaufende Selbstbezug das Selbstbewusstsein begründet. »Ich bin für mich selbst ein Außen«18 , ein »Innen, das sich als Außen spürt«.19 Subjekt-sein heißt, im Außen zu existieren. »Ego sum expositus« 20, Sein Körper wird durchleuchtet, geöff net, an Maschinen angeschlossen und pharmakologisch regiert. 11 Nancy, Der Eindringling, 35. 12 Ebd., 35. 13 Ebd., 47. 14 J.-L. Nancy, Corpus, übers. von N. Hodyas und T. Obergöker, Berlin 2003, 107. 15 Nancy, Corpus, 125. 16 S. Freud, Gesammelte Werke, Band 17: Schriften aus dem Nachlass, London 1941, 152. 17 Nancy, Corpus, 114. 18 Ebd., 115. 19 Ebd., 119. 20 J.-L. Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, übers. von G. Febel und J. Legueil, Stuttgart 1988, 68. 10
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formuliert Nancy. Weil der Körper diese Äußerlichkeit besitzt, ist er sich selbst fremd. Aufgrund der »Struktur des nach draußen Setzens« könne man nicht vom Körper sprechen, »ohne von ihm als einem Anderen zu sprechen, einem unendlich Anderen, einem Anderen unendlich weit draußen«.21 Der Körper widersteht aufgrund dieses Exponiert-seins seiner Verinnerlichung. Spüren und Berühren wären fälschlich beschrieben, wollte man sie als verinnerlichende Selbstversicherungen verstehen. Es sind Erfahrungen der Alterität. Denn Außer-sich-sein heißt immer auch, dem Anderen ausgesetzt zu sein. Der Körper ist nicht in sich abgeschlossen, er ist geöffnet, auf anderes bezogen und anderes begehrend. Diese von der körperlichen Fremdheit her entwickelten Thesen über die äußerste Sensibilität des Leibes sind nicht nur für die ästhetische, sondern auch für die politische Theorie folgenreich. Sie bestimmen Nancys Denken des Politischen, in dem Gemeinschaft gerade nicht identitär, sondern ausgehend von Differenz, Trennung undAlterität gedacht wird.
II. Trouble Every Day – Denis Claire Denis befasst sich mit dem Denken von Nancy bereits, während sie an dem Film Trouble Every Day, der 2001 in die Kinos kommt, arbeitet.22 Die Lektüre von L’Intrus habe sie während der Filmarbeiten zutiefst berührt, geradezu ergriffen und ihr Verhältnis zum Körper umgestülpt. Trouble Every Day handelt vom pathos in seiner unstillbaren Form – in Gestalt eines Begehrens, das nicht an den Körpergrenzen des Anderen Halt macht, sondern das zeigt, was man mit Nancys Begriffen der Öff nung und des Außer-sich-Seins umschreiben kann – wobei die fi lmische Konkretisierung das Ausgesetzt-sein radikalisiert und in ein exzessives grenzauflösendes Exponiert-sein überführt. Es gibt Szenen, in denen die Oberfl äche des Körpers gewaltsam geöff net und der Körper als blutiges Fleisch gezeigt wird. Sich locker an das Genre des Vampirfi lms anlehnend, erzählt der Film von zwei durch ein mysteriöses Übel befallene Menschen, einem Mann und einer Frau, die jeweils verheiratet, von einem monströsen Blutbegehren infi ziert sind. Dass es Denis nicht so sehr an einer Geschichte – sondern mehr an einem anderen Denken des Körpers – gelegen ist, zeigt sich schon in den ersten Szenen, wenn eine Verschiebung von der Narration auf die strukturelle Ebene des Films vollzogen wird. Man bekommt bildfüllende Flächen feucht glänzender Texturen zu sehen, in denen die Körper und Gewebe, blutverschwommen, ineinander übergehen [Abb. 1 & 2]. Die Figuration wird bildlich überschritten, um ein anderes Denken des Körpers einzuführen. Wenn später auch der Ort, die Stadt Paris, in wiederholt gezeigten Aufnahmen einer blutrot durch die unter- oder aufgehende Sonne glühenden Seine verflüssigt wird, ist klar, dass mit den körperlichen Grenzen auch die des Umraums verschwimmen. Nancy, Corpus, 125 f. Vgl. A. Streiter, »The Community according to Jean-Luc Nancy and Claire Denis«, in: Film-Philosophy 12, Nr. 1 (2008), 49-62. 21
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Abb. 1 und 2
Die zentrale Szene in der Mitte des Films zeigt, wie die Frau, gespielt von Béatrice Dalle, einen Mann verführt, die Haut ihres Liebhabers durchbeißt, den Körper mit ihren Küssen-Bissen regelrecht öff net und seine körperliche Integrität zerstört bis er verblutet [Abb. 3 & 4]. Filmisch, so scheint es, wird mit der geöffneten Haut auch das Bild defiguriert und mit dem austretenden Blut die Leinwand durchtränkt.23 Die sichtbare Hülle, das Abschließende der umrissenen Gestalt löst sich auf um des Fließenden und Bewegten willen – das auch der Film ist. Er präAbb. 3 und 4
sentiert das Geschehen aus nächster Nähe und zeigt, wie in der Intimität absolute Fremdheit auf bricht. Zunächst die Haut als Oberfl äche wie in einer Berührung abtastend, wechselt die Kamera von einem visuellen in ein taktiles Register und etabliert ein haptisches, berührendes Sehen, das sich in die Textur hineinbegibt und die Distanz zum Objekt unterschreitet – in einer »doppelten Poetik der Berührung und des Risses« 24, die in einer ›Ent-staltung‹ und Veräußerlichung des
Diese Szene wird gespiegelt durch eine ebenso tödlich endende Verführung, in der der männliche Protagonist, ein Amerikaner auf Hochzeitsreise in Paris, gespielt von Vincent Gallo, einem Zimmermädchen nachstellt und im Liebesakt ihr Geschlecht auf beißt. In beiden Szenen setzen die Bisse an den Körperöff nungen, einmal am Mund, das andere Mal am Geschlecht an, deren Offenheit sie aufreißen. 24 D. Eschkötter, »ZwischenFilmWelten. Zu Claire Denis’ Trouble Every Day«, aufzurufen unter: http://katrinmayer.net/index.php?/xx/daniel-eschkoetter-zwischenfi lm/ 23
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Motivs resultiert. Man kann den Körper auf beißen, in sein Inneres gelangt man nicht. Eben das meint der Begriff der Exposition auch bei Nancy: Der Körper ist reine Äußerlichkeit, weil er sich in kein Innen einschließen lässt. Er ist aufgrund seiner Berührbarkeit geöff net, das heißt durch seine Empfi ndsamkeit bis zur Zerrissenheit exponiert. Die Alltäglichkeit der Störung, auf die der Titel des Filmes anspielt, ist genau in diesem Körperkonzept zu verorten, das die Prekarität der Grenzen sichtbar macht. Eingetaucht ins Sensible, erweisen sich die Verläufe zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt, eigenem und fremden Körper als instabil. Berührung ist invasiv, Spüren verflüssigend. Hinzu kommt die »unerträgliche Zerrissenheit der Lust« 25, wie Nancy schreibt, der den Film in seinem Text Mal der Blutgier kommentiert. »Die blutende Bisswunde lässt die Seele verströmen.« 26 Die Rohheit des Fleisches, von der der Film handelt, zeigt eine extreme Sensibilität: einerseits als Verletzlichkeit, andererseits als exzessives und unstillbares Begehren.27 Die Wehrlosigkeit der Opfer, die als gleichermaßen leidend wie genießend im Film dargestellt werden, verstärkt die Ambivalenz und Ungeschiedenheit von Lust und Schmerz im reinen Empfi nden, das beiden als grundlegend vorgeordnet wird. Die Sensibilität wird verstanden als potenziertes pathos – als eine nicht mehr zu regulierende Leidenschaft, die im Exzess das Moment der Machtlosigkeit oder des Unvermögens zeigt. Die Kunst reflektiert sich als Auff ührungsort für die marginalisierten Aspekte des Fleisches und der Sensibilität, insofern sie ästhetische Kategorien sind. Der Aufenthalt im Sinnlichen, den der Film trotz der dargestellten Gewalt bietet oder geradezu ermöglicht, verdankt sich einer die Körper in Oberfl ächen überführenden und verflüssigenden Bildlichkeit. Durch sie wird die Sensibilität als Zone oder Raum der Ununterscheidbarkeit eingeführt – als ein Zustand der Formauflösung, in dem alle Aufteilungen, Kategorien und Konzepte noch ungeschieden sind, aber zugleich in Intensität überführt werden. In solch einer Sensibilität ist die Empfi ndsamkeit so sehr exponiert, als wäre das Innere nach Außen gestülpt. Hinausgetrieben aus der Innerlichkeit, ist die Empfi ndsamkeit nach außen gewendet: als offen daliegendes Fleisch.28
J.-L. Nancy, »Mal der Blutgier. Trouble Every Day von Claire Denis«, übers. von J. Beringer, in: Claire Denis. Trouble Every Day, hg. von M. Omasta und I. Reicher, Wien 2005, 52-61. 26 Nancy, »Mal der Blutgier. Trouble Every Day von Claire Denis«, 54. 27 Die kryptische Narration legt nahe, das Blutbegehren sei durch einen Unglücksfall in einem neurowissenschaftlichen Laborversuches verursacht worden, in dem mit der Übertragung pfl anzlicher Kräfte ins menschliche Nervensystem experimentiert wurde – mit der fatalen Folge, den Trieb zu deregulieren. In jedem Fall wird die biopolitische Dimension einer pharmakologischen Regulierung des Zusammenhangs von Körper und Psyche nahegelegt. Siehe hierzu Eschkötter, »ZwischenFilmWelten. Zu Claire Denis’ Trouble Every Day« und ders., »Die Alltäglichkeit der Störung«, in: Cargo, 3. 2009. 28 E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. von T. Wiemer, Freiburg i. Br., München 1992, 118 f. 25
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III. Fleisch – Merleau-Ponty Der Begriff des Fleisches ist – vor allem von Merleau-Ponty – aus seinem theologischen Zusammenhang herausgelöst worden und kann für ein neues Denken des Körpers fruchtbar gemacht werden, um zwei Verkürzungen zu begegnen: der Vorstellung vom Körper als einer von seiner Umgebung separierten Entität und der Annahme einer auf das Wahrnehmen fokussierten Sinnlichkeit. An die Stelle eines von seinem Umraum abgegrenzten Körpers tritt die Idee seiner leiblichen Verflochtenheit und Vernetzung, um damit zugleich ein neues Denken der Sinnlichkeit einzuführen, dessen zentrale Kategorien Sensibilität und Berührung sind. Bei Merleau-Ponty ist das Fleisch das »mir selbst eingeborene Anonyme« 29, das ich mit der Umgebung teile.30 Das Fleisch des Sinnlichen bezeichnet zunächst nichts anderes als die Inkarniertheit. Wenn der Unterschied zwischen Körper und Leib eben darin liegt, dass der Körper sich im Raum befi ndet, während sich ausgehend vom eigenen Leib dieser Raum öff net, man also durch die Eigenleiblichkeit situiert ist und einer Perspektivierung unterliegt, die sich in der Unmöglichkeit abzeichnet, nicht ausgehend von der eigenen Verleiblichung wahrzunehmen und zu empfi nden, dann akzentuiert demgegenüber der Begriff des Fleisches das Moment der sinnlichen Teilhabe des empfi ndenden Leibes am »Fleisch der Welt« 31. In der Empfi ndung verleibt er sich »das Empfi ndbare insgesamt ein, und in derselben Bewegung verleibt er sich selber einem ›Empfi ndbaren an sich‹ ein«.32 Das Empfi ndbare als Fleisch ist selbst empfi ndend: Fleisch ist »diese Generalität des Empfi ndbaren an sich«.33 Etwas empfi ndet außerhalb von mir, durch dessen Empfi ndungsfähigkeit mir Empfi ndungen eingegeben sind. In dieser Weise eingenommen vom Empfi ndbaren zu sein, meint, dass nicht ich wahrnehme, sondern etwas in mir wahrnimmt, da ich am Fleisch der Welt teilhabe.
M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, übers. von R. Giuliani und B. Waldenfels, München 1994, 183. 30 Der Begriff soll ein Denken einleiten, das die Dualität von Mensch und Welt überwindet. Dieses Anliegen ist keineswegs neu. Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart verschreibt sich beinah jede Philosophie diesem Versuch. Merleau-Pontys Version, den Dualismus von Subjekt und Objekt ausgehend von dem Stoff, aus dem Mensch und Welt gemacht sind, zu verabschieden, ist allerdings einzigartig. Zumal es Merleau-Ponty nicht an der Nivellierung von Differenz, sondern an der Beschreibung einer Ausdifferenzierung angesichts von Verflochtenheit, also an einem Differenzgeschehen, gelegen ist, durch das sich die sinnlichen Bezüge herausbilden. Siehe hierzu grundlegend: E. Alloa, »Maurice Merleau-Ponty II. Fleisch und Differenz«, in: ders. u. a. (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzeptes, Tübingen 2012, 37-51. Alloa zeichnet nach, wie sich der Begriff des Fleisches bei Merleau-Ponty im Zuge der ontologischen Wende seines Spätwerks wandelt. Er argumentiert, das Fleisch sei »eine Figur von diff érance« (51). 31 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, 116. 32 Ebd., 182. Weiter heißt es: »Es gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere« (ebd.). 33 Ebd., 183. 29
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Dies zeige sich in der Kunst, wenn man gleichsam unter dem Diktat dessen schreibt, malt oder fi lmt, was sich in einem denkt, sieht oder spürt.34 Die Idee, dass das, was ich wahrnehme, selbst sensibel ist, führt zu der ungewöhnlichen Einsicht, dass etwas in mir wahrnimmt, in mir fühlt, und die Sinnlichkeit als ein präsubjektiver (und ebenso präobjektiver) Weltbezug vorzustellen ist. Eben das meint das mir eingeborene Anonyme. Ich bin nicht mein eigenes Fleisch – mein Fleisch ist nicht Ich, oder ich bin etwas, das für mich anonym bleibt: ein verkörpertes, oder besser: inkarniertes Etwas. Dieses anonyme Fleisch des Leibes ist nicht das Äußere des Körpers als Ding in der Welt, sondern eine ungewählte, den eigenen Leib durchziehende Empfi ndsamkeit, die den jeweiligen Empfi ndungen vorgelagert ist. Das Fleisch des Selbst meint das Medium der Erfahrung, das als sinnliches Medium immer auch miterfahren wird. Darin liegt die Verflechtung – eine Verflechtung dank der Inkarniertheit des Sinnlichen. Anschaulich wird dies in der Beschreibung von Berührungen – exemplarisch an dem Berühren der eigenen Hände. Wenn sie berühren, sind sie zugleich berührt. Im Berühren wird man berührt: eine sensible Medialität oder sinnliche Reflexivität, die mindestens von gleicher Tragweite ist wie die bewusstseinsmäßige Selbstbezüglichkeit. Wahrnehmend-wahrgenommen ist man auch für andere wahrnehmbar, aufgrund einer Reversibilität, die Merleau-Ponty als Chiasmus bezeichnet, den man nicht als Vereinigung missverstehen darf.35 MerleauPonty akzentuiert die Zwischenleiblichkeit anders, nämlich nicht als eine intensivierte Innerlichkeit, sondern als ein exzentrisches Außer-sich-sein-können in der Berührung des anderen. Der Körper ist dank des sensiblen Fleisches nicht bei sich selbst, sondern in der Welt, bei anderen. Das Empfi nden dehnt sich über das empfi ndende Subjekt auf seine Umgebung aus.36 Fleisch ist nicht nur der Ort, an dem Innen und Außen ineinander umschlagen, sondern auch der Ort ihrer »Dehiszenz«, ihres Aufspringens, an dem sie auseinandertreten und sich differenzieren. Fleisch ist zugleich gemeinsame Textur und der Zwischenraum, aus dem sich die Pole des Empfi ndens-Empfunden-werdens bilden als »eingefleischter Bezug«.37 An anderer Stelle spricht Merleau-Ponty von einem »agencement charnel« 38 – einem fleischlichen Gefüge, ein Begriff, der die ungewöhnliche Idee zum Ausdruck bringt, die Struktur selbst sei sensibel, aus empfi ndungsf ähigem Material gemacht. Fleisch ist eine sensible Struktur, die, wenn sie mit einem »Selbstbezug« 39 ausgestattet ist, empfi ndungsfähige Wesen entstehen lässt.
M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, übers. von H. W. Arndt, Hamburg 1984, 21. Vgl. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, 172 ff. 36 Dieser Aspekt ist vor allem für die neueren Affekt-Theorien wichtig geworden. Siehe beispielsweise M.-L. Angerer, Aff ektökologie, Lüneburg 2017. 37 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, 116. Im französischen Original: »un rapport charnel« (Le Visible et l’Invisible, Paris 1964, 116). 38 M. Merleau-Ponty, La prose du monde, Paris 1969, 169. 39 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, 185. 34 35
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Trotz der Sensibilität, die Merleau-Ponty dem fleischlichen Gefüge zuschreibt, erscheint das Fleisch merkwürdig blutleer. Als würde die Philosophie die Rohheit des Fleisches, die mit ihm verbundene Animalität und Formlosigkeit ebenso verdrängen wollen wie die Tatsache, dass das sensible Fleisch Gewalt und Schmerz ausgesetzt ist. Aber, »wer Fleisch sagt, sagt auch Sensibilität«.40 Eben das zeigt Denis in ihren Filmen, dass dem Fleisch eine äußerst prekäre Sensibilität korreliert.
IV. Sensibilität – Levinas Sensibilität ist der entscheidende Begriff, um die Ästhetik der Filme von Denis zu beschreiben und der Verschiebung vom Sehen zum Berühren und vom Bild zum Fleisch gerecht zu werden. Zugleich wird damit das ästhetische Denken nicht an der sinnlichen Wahrnehmung, sofern diese gegenstandsbezogen ist,41 sondern am Empfi nden ausgerichtet. Die sinnliche Wahrnehmung ist Wahrnehmung von etwas – Subjekt und Objekt der Wahrnehmung sind unterschieden. In der Empfi ndung ist diese Unterscheidung unterschritten. Folgt man Emmanuel Levinas, liegt der sinnlichen Wahrnehmung die Sensibilität zu Grunde. Alles Sinnliche, schreibt er, müsse in erster Linie »als ein Berühren gedeutet werden«.42 Und nicht als Anschauung. Die Sinnlichkeit ist, bevor sie sich als sinnliche Intentionalität, als Wahrnehmung von etwas artikuliert, Sensibilität, Empfi ndsamkeit, Berührbarkeit, die einen passivischen oder pathischen Charakter hat. Das Empfi nden ist zunächst nichts anderes als ein Geöff net- oder Exponiert-sein, dabei dem Empfundenen so sehr ausgesetzt, dass es nicht zu distanzieren ist. Dieses Empfi nden oder Spüren ist unmittelbar beim Gespürten. Im Empfi nden sind, anders als in der Wahrnehmung, Spüren und Gespürtes untrennbar. Das sinnliche Empfi nden stellt im Vergleich zum sinnlichen Wahrnehmen also eine Beziehung anderer Ordnung her. In ihr geht es nicht um Erschlossenheit.43 40 A. Artaud, »Position des Fleisches«, übers. von G. Kamecke, in: Expanded Senses. Neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit in der Spätmoderne, hg. von B. Kracke und M. Ries, Bielefeld 2015, 40-42, hier 42. Weiter heißt es: »Sensibilität, das heißt Aneignung, intime, heimliche, tiefe, absolute Bemächtigung meines Schmerzes durch mich selbst, und folglich einsame und einzigartige Erkenntnis dieses Schmerzes.« 41 Vgl. W. Welsch, Grenzgänge der Ästhetik. Ästhetisierungsprozesse – Phänomene, Unterscheidungen, Perspektiven, Stuttgart 1996. Welsch schreibt: »Die Empfi ndung ist lustbezogen und gefühlshaft, die Wahrnehmung hingegen ist gegenstandsbezogen und erkenntnisartig« (26). Im Folgenden soll deutlich werden, inwiefern diese Unterscheidung, differenziert man sie mit Levinas aus, weitreichende Folgen für die Ästhetik hat. 42 E. Levinas, »Sprache und Nähe«, in: ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers. von W. N. Krewani, Freiburg i. Br., München 1987, 261294, hier 278. 43 Kunsttheoretisch ist die Sensibilität auch deshalb von Bedeutung, weil Levinas sie im Unterschied zum begriffl ichen Bedeuten als eine Kommunikation oder Sprache der Singularität zu denken versucht.
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Levinas kritisiert, die Sinnlichkeit als Anschauung am Modell des Wissens auszurichten, habe zum Vorrang des Sehsinns geführt: »Im Sehen hat sich die Sinnlichkeit als Wissen etabliert.«44 Als anderes Modell fungiert die Berührung, der Nahsinn, veranschaulicht an der unmittelbarsten Empfi ndung: dem Geschmackssinn, der interessanterweise den »Verzehr« einschließt und zwar weil – wie Levinas begründet – »die Welt zu empfi nden immer eine Art ist, sich von ihr zu ernähren«.45 Man »existiert aus Schmerz oder Freude«, als würde man davon leben. Sie würden nicht zum Gegenstand, würden nicht erschlossen. Vielmehr speise sich die Empfi ndung aus dem Empfundenen. Es geschehe ein Aufnehmen und Werden des Empfundenen.46 Levinas bezeichnet diese Unmittelbarkeit im Sinnlichen als »Ereignis der Nähe«47 – so nah, dass nicht etwas erscheint, denn dafür wäre Abstand vonnöten. Sensibilität bedeutet daher Anwesenheit des Gespürten im Spürenden oder wie man mit gleicher Berechtigung sagen kann: die Anwesenheit des Empfi ndenden beim Empfundenen, außerhalb seiner selbst, beim Anderen. Eine Subjektivität, die in dieser Weise »in Berührung ist«48 , ist in die Erschlossenheit und Bezüglichkeit eingegangen.49 Die Orientierung des Subjekts auf den Gegenstand hat sich in Nähe verwandelt, in der man füreinander Gewicht hat oder »sich bedeutet«50. Die Annäherung unterläuft die Ordnung des Bewusstseins. Es gibt nicht einen sinnlichen Gehalt, der in der sinnlichen Anschauung wie in einem Behälter gegenwärtig wäre.51 Den Sinnen wird nichts gegeben, sondern sie sind geöff net. Die Beziehung zum Wirklichen ist hier eine andere als die der Auffassung oder Gegebenheit für jemanden. Die Ordnung ist umgekehrt: Levinas denkt das Empfi nden 44 Levinas, »Sprache und Nähe«, 277. Entsprechend ist das Kino der Sensibilität nicht an der Visualität, sondern an der Taktilität ausgerichtet. Dass auch der Sehsinn an der Ordnung des Sinnlichen als Empfi nden teilhat und die Qualität der Nähe und Berührung aufweisen kann, drückt Levinas so aus: »Das Sichtbare liebkost das Auge« (279). 45 Levinas, »Sprache und Nähe«, 278. An anderer Stelle heißt es, »leben von…« trete an die Stelle des »Bewusstseins von…«, vgl. E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. von W. N. Krewani, Freiburg i. Br., München1993, 154 u. 181. 46 Levinas beschreibt die Sensibilität als Genießen anhand der Geschmacksempfi ndung mit Begriffen wie Kosten, Stillen, Beißen und Verschlingen, um zu kennzeichnen, dass der Sinn des Schmeckens gerade diesseits der »Bilder«, »Ansichten« oder »des Bewußtseins von…« verbleibt. Vgl. Levinas, Jenseits des Seins, 165. 47 Levinas, »Sprache und Nähe«, 275. Das »Ereignis der Nähe« meint eine »Annäherung«, die »das Bewußtsein durchstößt« (ebd.) oder »überspringt« (281). 48 Levinas, »Sprache und Nähe«, 275. 49 Man könnte dies auch so formulieren, dass sich aus dem Zustand der Berührung allererst die Pole des Spürenden und Gespürten herausbilden – siehe dazu weiter unten die Beschreibungen des Ausdrucksgeschehens. 50 Levinas, »Sprache und Nähe«, 274, Fn. 3. Dass Levinas dieses Für-einander-bedeuten und Gewicht-haben als Ethik bezeichnet, hat die Rezeption seines Ansatzes innerhalb der philosophischen Ästhetik wesentlich erschwert. 51 »Die Anschauung, die in einen Gegensatz zum Begriff gebracht wird, ist bereits Sinnliches in begriffl icher Gestalt«, schreibt Levinas in Jenseits des Seins, 146.
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als Exponiert-sein, was etwas ganz anderes meint als Rezeptivität, nämlich dem Empfundenen ausgesetzt, und nicht nur empfänglich für es zu sein. Weil dieses Ausgesetzt-sein nicht gewählt ist, spricht Levinas von Besessenheit.52 Das Ausgesetzt-sein schließt Verletzlichkeit ein. In der Sensibilität ist man gleichermaßen dem Genuss wie dem Leiden exponiert und vor allem selbst im Genuss verwundbar.53 Im Spüren existiert man gewissermaßen ohne Rückzugsmöglichkeiten in eine Innerlichkeit – ins Außen versetzt, dem anderen überlassen. Mit der Nähe als einer Relation, in der die Relata ungeschieden sind, geht ein Moment der Ungreif barkeit, des Entzugs oder der Abwesenheit einher. Sie sind zugleich zu nah, um er- oder begriffen werden zu können und nie nah genug, um zum Eigenen zu gehören. Sich »nähern, das bedeutet, noch das zu verfolgen, was schon gegenwärtig ist, noch das zu suchen, was man schon gefunden hat«.54 Die Nähe ist von Begehren durchsetzt, sie bleibt Annäherung, die Levinas durchgängig mit den Metaphern der Liebkosung und der Zärtlichkeit assoziiert,55 dabei – anders als Denis – nicht bedenkend, dass es in dieser unstillbaren Annäherung eine Ambivalenz, Bedrängnis oder Gef ährdung gibt und zwar aufgrund der radikal passivischen Form, die nicht gewählt, sondern – wie er es selbst beschreibt – als obsessive Nähe erlebt wird. Sie triff t ins Herz des Eigenen, das sie entreißt oder entkernt.56 Im schutzlos Sich-Darbieten oder »Rückhaltlos-Angeboten-gewesensein« 57 des Selbst liegt gleichermaßen die Fragilität wie auch eine gewisse Gastlichkeit der Sensibilität: »Entfremdung des (als Innerlichkeit isolierten) Ich« durch eine Sensibilität, die offen gegenüber einer Inkarnation des Anderen im Selbst ist, sei es ein Eindringling oder ein »anvertrauter Gast« 58.
V. L’Intrus – Denis Vollzieht Denis mit Trouble Every Day explizit den Übergang von einem Kino des Sehens zu einem – mit Merleau-Ponty und Levinas formuliert – Kino des Fleisches und der Sensibilität, dann gewährt sie gewissermaßen mit L’Intrus dem Text von Nancy auf einer als fleischlich und sensibel vorgestellten Leinwand Gastlichkeit. Sie bereitet einer an die äußerste Fragilität des Körpers rührenden Schrift ein Szenario, auf dem sich die geschilderten Erfahrungen verkörpern und versinnlichen. 52 Besessenheit meint bei Levinas »die Form, nach der das Ich affi ziert wird und die ein Ausbleiben des Bewusstseins ist.« Levinas, Jenseits des Seins, 225. 53 Vgl. Levinas, Jenseits des Seins, 147. 54 Levinas, »Sprache und Nähe«, 283. 55 Eine Liebkosung, die nicht personell gedacht wird. Levinas macht deutlich, dass auch die anderen Sinne ausgehend von der Logik der Berührung konzipiert werden können. »Die Sicht und das Gehör liebkosen das Sichtbare und Hörbare.« Levinas, Jenseits des Seins, 180. 56 Ebd., 149. 57 Ebd., 170. 58 Ebd., 178.
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Interessant ist, dass sich Denis einen gleichermaßen autobiographischen wie theoretischen Essay vornimmt, aus dem sie einen zwar fragmentarischen und rätselhaften, aber doch erzählenden Film macht, der den Text von Nancy übersetzt, ihn stellenweise anderes sagen lässt, indem sie dem, was darin implizit bleibt, eine konkrete Gestalt gibt und Szenen erschaff t, die das Gesagte zeigen, verkörpern und ebenso kontextualisieren wie kommentieren. Nancy hat Der Eindringling auf Insistieren von Jacques Derrida verfasst, der ihn mehrfach gebeten hatte, die Erfahrungen mit seinem fremden Herzen philosophisch zu verarbeiten. Nancy kommt diesem Wunsch erst nach, als in Frankreich über das Gast- und Asylrecht öffentlich gestritten wird. Nachdem Derrida als Intervention in diese Debatte ein Interview in Le Monde veröffentlicht, in dem er seine Thesen zur unbedingten Gastfreundschaft formuliert,59 fordert er auch Nancy auf, sich zu den Politiken der Gastlichkeit öffentlich zu äußern.60 Auf diese Bitte antwortet Nancy interessanterweise mit dem höchst intimen Buch, das die Auseinandersetzung mit dem Fremden im eigenen Körper lokalisiert. »Das Gesetz der Gastfreundschaft existiert nur«, wie Nancy in einem Gespräch mit Denis formuliert, »wenn es ein Eindringen gibt, wenn ein Eindringling den Raum betritt«.61 Der scheinbar rein autobiographische Text besitzt damit einen hochpolitischen Kontext, den Denis in ihrer Verfi lmung wiederherstellt und zugleich die Bezüge zu Fragen von Migration und Gastlichkeit, von Fremdheit und Zugehörigkeit vervielfältigt und verkompliziert. Die verschiedenen Szenen des Filmes entfalten verwickelte Verhältnisse zwischen dem Eigenen und dem Fremden, beschreiben poröse Grenzverläufe und verflochtene Verbindungen zwischen Körpern, Körperschaften und Identitäten – und zeigen, dass eine unbedingte Gastlichkeit die Immunität des Eigenen nicht wahren kann. Es werden prekäre Zugehörigkeiten zu Gattungen oder Nationen thematisiert, Abstammung und Verwandtschaft werden als Sujets aufgenommen – immer in einer Weise, dass sich in der Zugehörigkeit eine schmerzhaft Distanz, in der Nähe eine beunruhigende Fremdheit oder in der Intimität etwas Entzogenes artikuliert. Der Film beginnt – nach einem Prolog, in dem eine Frau im Dunklen vor einer Mauer rauchend, sagt: »Die schlimmsten Feinde verstecken sich im Inneren, sie sind versteckt im Schatten, versteckt in deinem Herzen« – mit Szenen des Eindringens. An einem Grenzübergang wird ein Drogenkurier von einem Spürhund enttarnt. Auch Substanzen, illegale Drogen wie heilende Medikamente, können als Eindringlinge angesehen werden, ebenso wie ihre Schmuggler. Zugleich wird mit dem Spürhund eine Sensibilität eingeführt, die erstens feiner ist als die des MenDas Interview erschien in Le Monde am 2. Dezember 1997, in der deutschen Übersetzung fi ndet es sich unter dem Titel »Das Prinzip der Gastfreundschaft«, in: J. Derrida, Maschinen-Papier. Das Schreibmaschinenband und andere Antworten, übers. von M. Szedlaczek, Wien 2006, 251255. 60 Vgl. Denis, »›Fragilität‹«, 101. 61 Ebd., 102. 59
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schen und zweitens nicht dem visuellen Register angehört. Der Film verschreibt sich so von Anbeginn an einem Spüren, das anders als der Sehsinn als Nahsinn zu verstehen ist. Die zweite Szene fächert das Eindringen weiter auf und verschiebt es in den Bereich der Erotik, wenn die Grenzbeamtin nach Hause kommend von ihrem Mann verführt wird. Auch in dieser Szene werden andere Sinne als das Sehen ins Zentrum gerückt. Die Verführung geschieht durch die Stimme – der Mann versetzt seine Frau sprachlich in eine nächtliche Szene im Wald, im Dunkel auf der Jagd, und zeichnet zugleich ein Bild der Gefahr wie der Erregung. Nach einem Schnitt sieht man eben diesen nächtlichen Wald, den Menschengruppen durchqueren, um die anfangs gezeigten Grenzposten zu umgehen. Erst hier endet der Vorspann und der Titel wird gezeigt, klanglich unterlegt mit einem eindringlichen repetitiven Motiv, das als einzige Musik an signifi kanten Stellen wiederholt wird. Dann beginnt der Film mit einer zweiten Frau, wiederum mit Hund: ein im Wald lebendes Mädchen, das aus einer dunklen Felshöhle heraustritt. Danach sieht man die Hauptfigur – nackt im Wald liegend, von der Sonne beschienen, im reinen Genuss, von zwei Hunden umgeben [Abb. 5 & 6], die er umarmt, dann in einem See schwimmend. Er badet in seiner Welt – lebt von seinem Milieu.62
Abb. 5
Abb. 6 62 In Totalität und Unendlichkeit beschreibt Levinas diese Form des Genusses als Bedingung der Sensibilität – dass man darin verletzlich ist, macht ihre Ambiguität aus: im Genießen = leben von… verwundbar zu sein. Daher ist es nicht zuf ällig, dass Trébor nach diesem Baden in den Elementen eine Herzattacke erleidet und als verletzlich eingeführt wird.
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Zunächst scheint der Film den Bericht von Nancy aufzugreifen und in eine vielschichtige Erzählung zu überführen. Der Mann Louis Trébor, gespielt von Michel Subor, wohnt im Grenzgebiet zwischen Frankreich und der Schweiz. Er hat ein schmerzendes Herz und muss sich einer Herztransplantation unterziehen, wofür er selbst Grenzen, geografische und rechtliche, überschreitet, nach Asien reist, um sich ein im illegalen Organhandel erworbenes Herz einpflanzen zu lassen. Anders als im Text treten im Film die pharmakologischen Komplikationen, die Angewiesenheit auf moderne Medizintechnik, die bei Nancy eine Reflexion auf die ursprüngliche Technizität des Körpers anregt, weitestgehend zurück. Stattdessen wird das Motiv der Fremdheit vervielfacht und politisch gewendet. Eindringlinge gibt es in diesem Film an jeglichen Grenzen, seien sie körperlich, geschlechtlich, generationenübergreifend, gattungsspezifisch, geografisch, politisch oder ökonomisch. Durchgängig wird die Frage des Herzens mit Liebe und Fremdheit verbunden und fi ndet metaphorisch in der verfehlten Liebe zum Sohn ihren Ausdruck – damit die Frage der Abstammung ebenso aufwerfend wie die des Fortlebens in einem anderen: »Der Sohn, das bin ich, der ich mir selbst fremd bin«,63 heißt es bei Levinas. Der Film hat einen symmetrischen Auf bau. Während in der ersten Hälfte, die im französischen Jura spielt, sich die Herzlosigkeit der Hauptfigur in der mangelnden Liebe zu seinem Sohn zeigt, der in der Nachbarschaft wohnt, spielt die zweite Hälfte auf der südlichen Hemisphäre, im Südpazifi k, auf Tahiti, wo Trébor einen zweiten Sohn gezeugt hat, dem er sich nähern möchte und den er aufzuspüren sucht. Dazwischen fi ndet in Korea die Herztransplantation statt, die mit dem neuen Herz die Liebe zum fernen Sohn antreibt.64 Denis’ Film endet mit einer befremdlichen Szene. Nachdem Trébor sich, todkrank, nach der erfolglosen Suche nach seinem unbekannten Nachkommen in der Südsee einschiff t und aufs offene Meer hinausbegibt, zeigt das Schlussbild die verschneite Landschaft des Jura und eine Frau, Béatrice Dalle, wie sie wild und in Pelz gehüllt auf einem von Hunden gezogenen Schlitten jublilierend die Bewegung genießt, die sich in der bebenden Bewegung des Filmbildes fortschreibt und den Exzess der Fahrt transportiert [Abb. 7 & 8]. Reines Genießen der Bewegung, mit pulsierendem Herzen, in der die menschliche, animalische und technische Bewegt- und Belebtheit ineinander greifen und sich gegenseitig steigern.65 Es ist ein Bild der Verausgabung und Überschreitung als Gegenbild zur Bewahrung des Lebens in dem Versuch, durch andere (fremde Herzen) oder in anderen (den vermeintlichen Söhnen) fortzuleben. Und es ist Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 391. An späterer Stelle formuliert er: »Die Vaterschaft ist eine Beziehung mit einem Fremden, der, indem er Anderer ist, ich bin« (405). 64 Die Bewegung von Körpern und Organen im globalen Raum manifestiert sich auch in der Filmarbeit. »Man muss sehen, dass die Filme selbst Bewegungen sind, über die Grenzen und Länder hinweg, von einer Hemisphäre zur anderen, auf fremde Menschen zu, in andere Kulturen hinein…«. A. Streiter, »Auf Leben und Tod. Jean-Luc Nancy und Claire Denis«, in: Der Einsatz des Lebens. Lebenswissen, Medialisierung, Geschlecht, hg. von A. Deuber-Mankowsky et al., Berlin 2009, 191-203. 65 Vgl. Streiter, »The Communication according to Jean-Luc Nancy and Claire Denis«, 54. 63
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Abb. 7 Abb. 8
die Ersetzung des Textes und seiner Darstellung durch ein reines Bild der Kraft: nicht-darstellende Affi rmation des Bildes, der Erregung, Intensität und Entgrenzung.66 Durch die Geschwindigkeit entsteht ein bildliches Delirium, in dem sich, wie man mit Gilles Deleuze formulieren könnte, eine neue Gesundheit und »Lebensmöglichkeit« ankündigt.67 Die Modifi kation, Erweiterung oder ästhetische Kritik, die der Film an dem Text von Nancy vornimmt, betriff t zum einen die politischen und ökonomischen Zusammenhänge der Herztransplantation. Denis spielt auf den illegalen, weltweiten Organhandel an und die Tode, die er motiviert. Sie erweitert die Figuren des Eindringens, indem sie Fragen der Migration und damit die Grenzen eines politischen Körpers thematisiert. Außerdem verkompliziert sie die Grenzziehung zwischen Fremdheit und Eigenheit, indem sie die Sphäre des Eigenen über den eigenen Körper hinaus ausdehnt und die »Eigenen« mitthematisiert: die Söhne, aber auch die Gefährten, mit denen man einen Haushalt teilt, wie die beiden Hunde, mit denen die Hauptfigur lebt. Hunde haben in dem Film entscheidende Rollen, sie beschützen nicht nur vor Eindringlingen, sondern sind sie mit einer anderen, feineren Sinnenwelt begabt, mit der sie Substanzen aufspüren, Gerüche vernehmen, Fremde bemerken bevor Menschen sie wahrnehmen. Die sensible Dichte und Opazität des Filmes speist sich auch aus dieser ahumanen Sensibilität, deren Potentialität das Wahrnehmbare grundiert,68 und die Denis den philosophischen Konzepten der Sensibilität hinzufügt. Die radikalste These des Films betriff t das Körperkonzept selbst. Der Körper wird – mit Merleau-Ponty gesprochen – verfleischlicht. Die Hauptfigur wird eingeführt als jemand, der in der Natur sich auf haltend, mit der sommerlichen LandIm Interview erklärt Denis, dass diese Szene ursprünglich als Scharnier zwischen den beiden Hälften des Filmes fungieren sollte: als Bild des Lebens, das das neue Herz verspricht. 67 Vgl. G. Deleuze, Kritik und Klinik, übers. von J. Vogl, Frankfurt/M. 2000, 16. 68 Vgl. L. McMahon, »Beyond the Human Body. Claire Denis’s Ecologies«, in: Alphaville. Journal of Film and Screen Media 7 (2014), aufzurufen unter: http://www.alphavillejour nal.com/ Issue7/HTML/ArticleMcMahon.html#textlm6 66
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schaft verschmilzt, sich der Umgebung hingibt, eingelassen in die Landschaften, in denen er wie in seinem Element zu »baden« scheint. Diese Verflochtenheit macht sich auch in den Landschaften selbst bemerkbar. So sind Jura und Südsee durch den Wind, oder besser: »ein Winden« verbunden, das sie animiert. Auch die Erde wird als bewegt markiert, wenn Tahiti als Drehort dient, ein Atoll, der versinkt. Denis verweist auf den Text »Ursachen und Gründe der einsamen Inseln« 69 von Deleuze, in dem das Leben der Erde im Entstehen und Vergehen von Inseln beschrieben wird. Eine agency der Bewegung und Formation, ein Belebt-sein, das der Idee des Fleisches als einer sensiblen Materialität der Welt Rechnung trägt. Die Bilder von Denis wechseln zwischen einer bewohnbaren und einer unbewohnbaren Sinnlichkeit. So wie man einerseits eingeladen ist, sich in ihrer dichten Sensibilität aufzuhalten, wird man an anderer Stelle durch die Instabilität der Bilder und die Verrätselung der Geschichte aus ihnen herausgetrieben. Der Film wirft damit die Frage seiner eigenen Hospitalität auf,70 die sich gleichermaßen als ästhetisch-sinnliche wie als ökologisch-politische Gastlichkeit erweist, insofern sie Tiere und Landschaften einbezieht.71 Denis’ Film ist »als Universum sinnlicher Erfahrungen aufgebaut« 72 und als fleischliches Gefüge aus Empfi ndungen konzipiert, in denen die Körper in einem fast chemisch zu Abb. 9 nennenden Sinn aufeinan73 der reagieren. Als eine »fleischliche Oberfl äche« gewährt der Film auch dem Text von Nancy Gastfreundschaft. Und zugleich ist er selbst ein Eindringling: »Wenn man will, spielt der ganze Film sich in Trébor, in seinem Körper, in seinen Gedanken, ab.«74 G. Deleuze, »Ursachen und Gründe der einsamen Inseln«, in: ders., Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, übers. von E. Moldenhauer, Frankfurt/M. 2003, 10-17. 70 Auch auf formaler Ebene wird dem Film ein fremdes Herzstück eingepfl anzt. Denis montiert Szenen aus Le Reflux von Paul Gégauff mit Michel Subor ein, eine Adaption eines Romans von Robert-Louis Stevenson, die im Film von Denis, weil sie auch in Polynesien spielen, wie eine Rückblende funktionieren. 71 Vgl. McMahon, »Beyond the Human Body. Claire Denis’s Ecologies«. 72 M. Beugnet, »Die sinnliche Leinwand: L’Intrus«, in: Claire Denis. Trouble Every Day, hg. von M. Omasta und I. Reicher, Wien 2005, 66-78, hier 66. 73 Vgl. A. Busch, »The Choice of Weapon. On the Texture of Claire Denis’s Trouble Every Day and White Material«, in: Aesthetics of the Flesh, hg. von F. Ensslin und C. Klink, Berlin 2014, 24-38, hier 33. 74 C. Denis im Gespräch mit M. Omasta, »›Es gibt keine Theorie, die auf jeden Film passt‹«, in: Claire Denis. Trouble Every Day, hg. von M. Omasta und I. Reicher, Wien 2005, 79-97, hier 96. 69
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Eingedrungen in das Körperinnere, hat der Film das Innere nach außen gestülpt [Abb. 9]: die Intimität eines fragilen Körpers (auch die des Textes) exponiert, einem Fortleben im Anderen ausgesetzt. Eingedrungen in den Text, ist er selbst zur Philosophie geworden. VI. Ästhetik der Sensibilität Bei Alain Badiou fi ndet sich die These, der Film sei ein philosophisches Experiment, weil er die Philosophie selbst verändere. Der Film habe das Vermögen im Ästhetischen zu denken und modifi ziere damit die Vorstellung von dem, was Denken sei,75 denn es operiere nicht nur im Begriffl ichen, sondern auch im Ästhetischen. Es gibt ein auf Sensibilität beruhendes Denken. Vor dem Hintergrund dieser fi lmphilosophischen These kann man L’Intrus als Philosophie ansehen,76 die mit fi lmischen Mitteln nicht nur philosophische Einsichten aufgreift, sondern in ihre Konzepte eingreift und die Ideen von Fleisch und Sensibilität transformiert. Denis zeigt, was dem philosophischen Begriff des Fleisches entgeht: eine radikalisierte Offenheit, Zartheit oder Fragilität. Mit ihrer fi lmischen Verschiebung zur Sensibilität liefert sie außerdem Anhaltspunkte einer anderen Ästhetik. Wenn Denis den Text von Nancy verfi lmt, dem sie – wie sie behauptet – nichts hinzu erfunden hat, dann unterzieht sie ihn einer künstlerischen Kritik. Im Medium des Films philosophiert sie mit künstlerischen Mitteln und vollzieht ein Denken im Ästhetischen, das die Idee des Ästhetischen selbst befragt und verschiebt. Die philosophische Ästhetik ist klassischerweise an der sinnlichen Wahrnehmung und, wie man mit Levinas kritisieren kann, am Modell des intentionalen Bewusstseins orientiert, in der dem wahrnehmenden Subjekt ein wahrgenommenes Objekt gegenüber steht. Obwohl Levinas demgegenüber eine Neubestimmung der Sinnlichkeit ausgehend vom Begriff der Sensibilität vorgenommen hat, verabsäumt er es, eine eigene Kunstphilosophie daraus abzuleiten. Merleau-Ponty und Nancy gewinnen zwar wesentliche Einsichten ihrer Philosophie aus der Beschäftigung mit der Kunst, eine Ästhetik der Sensibilität bleiben aber auch sie schuldig. Folgt man dem fi lmischen Denken von Denis, wäre eine solche Ästhetik als Gastlichkeit zu denken, die ästhetisches Denken ermöglicht, das sich der Fragilität aussetzt, sich affi ziert vom Anderen weiß und dessen Eindringen ins Denken nicht begrenzt. Ein solches auf Sensibilität beruhendes Denken vollzieht sich in Relation mit anderen, ohne Wahrung des Eigenen, als ein ausgesetztes, exponiertes Denken: ein Denken im Fleisch, in fleischlichen Gefügen, ein Denken des Sensiblen.
75 Vgl. A. Badiou, »Der Film als philosophisches Experiment«, in: ders., Kino. Gesammelte Schriften zum Film, Wien 2014, 279-320. 76 Vgl. D. Morrey, »Looking and thinking. The dialog in philosophy and fi lm between JeanLuc Nancy and Claire Denis«, in: European Film Theory, hg. von T. Trifonova, New York, London 2009, 122-133.
Der sensibelste aller Sinne Das Hören als Hoff nungsträger Christian Grüny
Aber weiter geht es, unermüdlich, um das Ohr, um dieses unterschiedene, differenzierte, artikulierte Organ, das den Effekt der Nähe, des absoluten Eigentums, die idealisierende Tilgung der organischen Differenz hervorbringt. Jacques Derrida1
I. Krise und Rettung 1983 schrieb Joachim-Ernst Berendt in seinem Bestseller Nada Brahma – Die Welt ist Klang: »Der Neue Mensch wird ein hörender Mensch sein – oder er wird nicht sein. Er wird in einem Maße Klänge wahrnehmen, von dem wir uns heute noch keine Vorstellung machen können.« 2 Wer in einem so hohen Ton beginnt, wird es schwer haben, wieder auf den Boden zurück zukommen – offenbar ist es tatsächlich so, dass die Beschäftigung mit dem Hören zum Überschwang verführt. Nicht immer nimmt dies so extreme Form an wie in Berendts Evokation einer neuen Weltkultur des Hörens, mit der der drohende Untergang der Mensch heit abgewendet werden kann, aber auch wenn vermutlich die wenigsten in die Nähe von Berendts esoterischem Enthusiasmus gerückt werden wollen, ist etwas davon auch bei deutlich nüchternen Autoren spürbar. Es scheint, als sei das Hören nicht lediglich ein Sinn neben anderen, sondern auf irgendeine Weise ausgezeichnet, und als könne man sich dem Sog dieser Besonderheit nur schwer entziehen. Man könnte sagen, dass sich verschiedene Bedeutungsdimensionen des Begriffs der Sensibilität hier auf besondere Weise bündeln; die Rede von Hören tendiert dazu, alle von ihnen gleichzeitig anzuspielen. Wenn Sensibilität als eine Sinnlichkeit begriffen wird, die konstatiert und in ihrer Gliederung in verschiedene Sinne und ihren historischen Prägungen, Veränderungen, Manipulationen und Versehrungen untersucht werden kann, ist Hören natürlich ein Teil davon, und es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die Teile einer Geschichte des Hörens zu schreiben versuchen; die elaboriertesten Ansätze gibt es hier naheliegender Weise in der Musik und der Medientheorie.3 J. Derrida, »Tympanon«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, 16-29, hier 19 f. J. E. Berendt, Nada Brahma – Die Welt ist Klang, Reinbek 21985, 16. 3 Vgl. etwa P. Szendy, Höre(n) – Eine Geschichte unserer Ohren, Paderborn 2015; Geschichte und Gegenwart musikalischen Hörens – Diskurse – Geschichte(n) – Praktiken, hg. v. K. Aringer u. a., Freiburg u. a. 2017; Welt auf tönernen Füßen – Die Töne und das Hören, hg. v. d. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1994. 1 2
ZÄK-Sonderheft 17 · © Felix Meiner Verlag 2018 · ISBN 978-3-7873-3425-4
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In deutlich stärkerem Maße als bei anderen Sinnen vermischt sich dies beim Hören aber mit einem normativen Verständnis von Sensibilität als einem Vermögen der Offenheit und Ansprechbarkeit auf der einen und der Differenziertheit auf der anderen Seite, die beide gesucht und kultiviert werden sollen, ohne dass klar wäre, was genau sie miteinander zu tun haben. Dem Gehörsinn wird in den beiden Hinsichten ein besonderer Status zugesprochen. Dabei ist nicht nur davon die Rede, im Hören Offenheit und Differenziertheit zu schulen, sondern immer wieder ist es das Hören selbst, das diese bereits auf ausgezeichnete Weise verkörpern soll. Man könnte sagen, dass das Hören als besonders sensibler Sinn, ja bisweilen als Inbegriff von Sensibilität gilt. Die Sensibilisierung, um die es bei Berendts »Neuem Menschen« gehen soll, wäre dann weniger eine kultivierende Veränderung als eine Einsetzung eines in sich wertvollen Sinnes in seine angemessenen Rechte. Ausgangspunkt ist dabei oft die Diagnose eines Okularzentrismus oder »Visualprimats«4 und korrelativ da zu einer »Hörvergessenheit« 5. Es wurde mittlerweile hinreichend oft festgehalten, dass die westliche Kultur eine wesentlich visuell orientierte ist6 und dass das Hören demgegenüber eher zu kurz kommt; Welsch bemerkt, wenn man dafür erst einmal »hellhörig« geworden sei, entdecke »man dieses Skandalon schier überall«7. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass mit der Orientierung am Sehen bestimmte Dimensionen der Sensibilität in den Hintergrund zu geraten drohen und dass dem mit einer verstärkten Kultivierung des Hörens und seiner strukturellen Mobilisierung entgegengearbeitet werden könnte. Die Frage ist, was dabei dem Sehen alles angelastet und dem Hören aufgebürdet wird. Am tiefsten hat hier sicher der späte Heidegger angesetzt. Bereits Zeit des Weltbildes von 1938 steht als Kritik der wissenschaftlich-technischen Weltaneignung deutlich im Zeichen einer Kritik am Primat des Auges, auch wenn dies noch nicht explizit im Fokus steht; mit den Vorlesungen zu Heraklit 1943/44 tritt dann auch das Hören als wesentlicher Bezugspunkt in den Vordergrund.8 Wenn der Mensch bestimmt wird als »[d]asjenige Wesen, das allein offen ist für das Offene und das nur zufolge dieser Offenheit sich auch gegen das Offene in gewisser Weise verschließen kann, indem er das Begegnende lediglich als Gegenstand und Objekt einlässt
Vgl. W. Welsch, »Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens?«, in: ders., Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996, 231‒259, hier: 236 ff. 5 D. Espinet, Phänomenologie des Hörens – eine Untersuchung im Ausgang von Martin Heidegger, Tübingen 2009, 3 ff. Ähnlich aus dem Musikbereich: Hören – eine vernachlässigte Kunst?, hg. v. K.-H. Blomann, F. Sielecki, Hof heim 1997. Interessanterweise sind die in diesem Band interviewten KomponistInnen eher nicht der Meinung, dass sie es mit einer vernachlässigten Kunst zu tun haben. 6 Einen guten Überblick bietet das erste Kapitel, »The Noblest of the Senses«, in: M. Jay: Downcast Eyes – The Denigration of Vision in 20th Century French Thought, Berkeley u. a. 1993. 7 Welsch, »Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens?«, 239, Fn. 15. 8 Vgl. M. Heidegger, »Zeit des Weltbildes«, in: ders.: Holzwege, Frankfurt/M. 1950, 75‒113; ders., Heraklit (GA 55), Frankfurt/M. 1979; insgesamt dazu Espinet, Phänomenologie des Hörens. 4
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und in seinem Berechnen und Planen ihm vorgreifend aufl auert« 9, so verkörpern das Hören paradigmatisch Offenheit, Gelassenheit und Sein-lassen und das Sehen Objektivierung, Berechnung und Planung. Dabei geht es um Hören in einem ausgezeichneten, eigentlichen Sinne, der nicht mit der Funktion des Sinnesorgans Ohr zusammenfällt, »ein Hören, ein Horchen, ein Gehorchen zu Solchem, dem wir schon gehören in einer Hörigkeit, die nichts von Knechtschaft hat, weil diese ursprüngliche Hörigkeit, das Offensein für das Offene, die Freiheit selbst ist«10. Die Berufung auf Gehorchen und Hörigkeit, deren etymologische Verwandtschaft mit dem Hören sie sicher nicht ausschließlich an diesen Sinn bindet, macht die problematischen Züge dieser Philosophie des Hörens deutlich. Diese wird man, zumal im Jahr 1944, nicht dadurch beseitigen können, dass man versichert, Gehorchen habe nichts mit Knechtschaft, sondern mit Freiheit zu tun (und die Berufung auf das Sprichwort »Wer nicht hören will, muss fühlen« macht es nicht besser). Auch wenn diese problematischen Züge immer wieder bemerkt worden sind, spielen sie in den wenigsten der emphatischen Theorien des Hörens eine Rolle. Dies legt den Verdacht nahe, dass Hören hier längst zu einer Metapher für ein bestimmtes Weltverhältnis geworden ist – eine Sensibilität, die nicht an einen bestimmten Sinn oder am Ende überhaupt nicht mehr an Sinnlichkeit gebunden ist –, wobei andere Dimensionen des Referenzfeldes systematisch ausgeblendet werden. Dabei kann man die beiden Seiten – Hören als reales Register der Sinnlichkeit und Hören als Metapher oder vielleicht besser als Figur – nicht wirklich voneinander trennen, und man kann sagen, dass der Diskurs über das Hören insgesamt von der Spannung zwischen ihnen geprägt ist. Hören als Figur steht für eine Offenheit und Differenziertheit, für deren Züge bestimmte Eigen schaf ten des realen Hörens als Ausgangspunkt genommen werden und andere eben nicht. Es wird schnell klar, dass Esoteriker wie Berendt und Philosophen wie Heidegger nicht ein fach über das reale Hören sprechen, wobei ausgerechnet Berendt mit seinem Ausgangspunkt bei der Musik und seinen zahlreichen Beispielen näher an ihm ist als Heidegger mit seiner Berufung auf Heraklit. Heidegger bewegt sich auf der Schwelle zwischen buchstäblichem und metaphorischem Bezug, wenn er schreibt: »Die Wissenschaften und das Denken unterscheiden sich wie Sehen und Hören«11, und im Folgenden erklärend hinzufügt, dass damit eher Figuren des Weltzugangs als tatsächliche sinnliche Register gemeint sind; ent sprechend spricht Espinet schließlich von »hörendem Denken«12 . Der Bezug auf das reale Hören soll dabei nicht fallengelassen werden, denn es ist offenbar immer noch der Sinn, in dem sich die emphatische Figur, die aus ihm abgezogen wurde, am besten realisiert – ohne dass dies wirklich konkret ausgeführt würde. 9 10 11
Heidegger, Heraklit, 245. Ebd. M. Heidegger, Anmerkungen I‒V (Schwarze Hefte 1942‒1948) (GA 97), Frankfurt/M. 2015,
269. 12
Espinet, Phänomenologie des Hörens, 190 ff.
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Die einander entsprechenden Diagnosen des Visualprimats und der Hörvergessenheit zeigen, dass auf der anderen Seite das Sehen nicht weniger als stilisierte Figur mobilisiert wird, und je holzschnittartiger dies geschieht, desto problematischer wird auch die Gegen figur des Hörens. Besonders deutlich wird dies in der von Heidegger inspirierten Philosophie des Hörens von Gemma Corradi Fiumara. Das Sehen wird hier auf eine Weise tota lisiert, dass es als Prinzip des abendländischen Logos selbst erscheint, der nicht nur ein objektivierendes und berechnendes Denken, sondern auch noch die Hermeneutik, letztlich jeg liche Form kulturellen Sinnes umfasst. Das Hören soll demgegenüber marginalisiert sein, ist aber Hoffnungsträger gegenüber einem »logocratic terrorism which may enslave the mind«13. Seine Vernachlässigung ist Symptom einer tiefgreifenden Krise, und »the absence of a philosophical analysis of listening […] might be considered as the peak of a despa rate and silent need, an interrogative that is too disquieting for western culture as a whole«14. In solcher Allgemeinheit lässt sich kaum sinnvoll diskutieren, aber selbst bei Corradi Fiumara bleiben die Spannung zwischen der hoff nungslos überlasteten Figur und dem rea len Sinn und auch die Herausforderung spürbar, die vom realen Hören ausgeht. An den Stellen, wo sie die Sache deutlich tiefer hängt und nicht mehr von einer machtlosen Gegenmacht gegen die totalisierte Herrschaft des visuellen Logos spricht, sondern lediglich von einer »philosophical propensity for that which is opaque, open, perplexing«15, bleibt die Frage, warum man diese Neigung zwangsläufig ans Hören binden muss – exemplarisch verkörpert fi ndet sie sich wohl im Denken von Maurice Merleau-Ponty, dem Philosophen der Wahrnehmung und der Leiblichkeit, bei dem allerdings der Vorwurf der Hörvergessen heit durchaus am Platze ist. In der Phänomenologie der Wahrnehmung taucht das Hören nur am Rande auf und hat keine systematische Relevanz; im Abschnitt über die Zeit spielen Hören und Musik erstaunlicherweise überhaupt keine Rolle mehr. Auch in der späten Philosophie, die Offenheit, Ambiguität und Nicht-Koinzidenz in den Mittelpunkt stellt, ändert sich daran nichts.16 Dass die genannten Motive, die für ein primär vom Visuellen ausgehendes Denken tatsächlich alles andere als nahe liegen, nun mit dem Hören assoziiert werden, hat vielleicht weniger mit dessen Eigenheit zu tun als mit der diskursiven Rolle, die es hier als positives Gegenbild einnimmt. Ich möchte der diskursiven Lage im Folgenden anhand von einem Blick auf die realen sinn lichen Register (II.) und die Musik (III.) nachgehen und abschließend einige Bemerkungen zur Rolle des Hörens im Feld des Politischen machen (IV.). 13
G. Corradi Fiumara, The Other Side of Language – A Philosophy of Listening, London 1990,
45. Ebd., 29. Ebd., 51. 16 Vgl. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966; ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986. Zur Rolle der Musik bei Merleau-Ponty vgl. L. Dousson, »L’ambiguïté sans système – La musique dans la philosophie de Merleau-Ponty«, in: Du sensible à l’œuvre. Esthétiques de Merleau-Ponty, hg. v. E. Alloa, A. Jdey, Leuven 2010, 209‒233. 14
15
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Die Spannung zwischen dem Hören als Sinn und dem Hören als Figur und die Gefahr des Überschwangs erscheinen mir dabei als untilgbare Aspekte der Diskussion, mit denen in jedem Fall umzugehen ist.
II. Sinnesregister Es gibt eine Reihe von Gemeinplätzen über das Hören, die in keinem Text fehlen dürfen: seine Passivität, seine Zeitlichkeit und der dynamische Charakter des Hörbaren, denen dann gern die Aktivität und Räumlichkeit des Sehens und der (möglicherweise) statische Charak ter des Sichtbaren gegenüber gestellt werden. Alle diese Eigenschaften sollen hier kurz thematisiert und problematisiert werden. Dabei zeigt sich, dass Erwin Straus’ Charakterisierung der Sinnesmodalitäten als spezifische Variationen des »Grundthema[s] Ich-und-das-Andere«17 es recht gut trifft – nicht als scharf voneinander abgrenzbare Ordnungen, sondern als Akzente, die über die Form der Variation miteinander kommunizieren. Die scheinbare Passivität des Hörens macht es so geeignet, als friedliches Gegenbild eines aggressiven, zergliedernden Sehens zu fungieren. Nun ist es mit dieser Passivität so eine Sache. Hans Jonas schreibt in seinem vielzitierten Text vom »Adel des Sehens«: »[D]er Klang, selber ein dynamisches Ereignis, drängt sich einem passiven Subjekt auf.« 18 Der Hörende sei dabei seiner Umwelt ausgeliefert, die über die Intensität nicht nur das Was des zu Hörenden, sondern auch die Wichtigkeitsordnung des Gehörten bestimme. Daran stimmt offenbar einiges nicht. Wohl ist es so, dass beim Hören anders als beim Sehen keine eigene körperliche Aktivität des oder der Hörenden erforderlich ist und dass die Geräusche Ereignisse und keine Dinge sind und insofern selbst dynamisch und prozesshaft. Auch ist es offensichtlich richtig, dass die Möglichkeit von Zu- und Abwendung und das Öff nen und Schließen des Auges beim Hören keine Entsprechung hat, so dass wir den Klängen weit eher ausgeliefert sind als den visuellen Eindrücken. So heißt es etwa einer Einführung zur Psychoakustik19: »Das Ohr hingegen ist ständig offen, bereit, Informationen von allen Seiten zu empfangen, und gegebenenfalls den Organismus vor Gefahren zu warnen, selbst dann, wenn er schläft.« Bereits diese elementare Funktion – die Autoren sprechen vom Ohr als Wächter – macht aber deutlich, dass sich mit der Offenheit ein grundlegendes Unterscheidungsvermögen verbindet, das Geräusche nach ihrer Qualität einschätzt und auch identifi ziert. Beim Hören muss offenbar eher als
17
E. Straus, Vom Sinn der Sinne – Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin u. a. 21956,
402. 18 H. Jonas, »Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne«, in: ders., Organismus und Freiheit – Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, 198‒225, hier 202. 19 J. Hellbrück, W. Ellermeier, Hören – Physiologie, Psychologie und Pathologie, Göttingen u. a. 2 2004, 19.
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beim Sehen daran erinnert werden, dass wir primär nicht einfach Geräusche und Klänge hören, sondern etwas – zunächst etwas Harmloses oder Gefährliches, als erwachsene Menschen aber ein identifi zierbares Geschehen 20: »›Zunächst‹ hören wir nie und nimmer Geräusche und Lautkomplexe, sondern den knarrenden Wagen, das Motorrad.« Überdies fi ndet der Großteil unserer Kommunikation in der akustischen Sphäre statt, und die Auffassung von Sprache und Musik ist ein alles andere als passiver Vorgang. Die Aktivität des Hörens beginnt nicht erst bei der Formauffassung komplexer Musikstücke, sondern beim »Heraushören« einzelner Klangereignisse aus einer klanglichen Umwelt, das anders vorgehen muss als die räumliche Zuwendung zu dem, was man in den Blick nimmt, und ohne das in einer lauten Umgebung kein Sprachverstehen stattfi nden könnte. Nur: Man kann diese Selektion nicht sehen (und auch nicht hören, muss man hinzufügen), denn es gibt hier kein manifestes Äquivalent des Blicks. Dabei muss ein Unterschied zwischen dem »bloßen« Hören, dem »sinnliche[n] Empfi nden von Schall und Laut mit dem Ohr« 21, und dem Zuhören gemacht werden, für die das Englische und das Französische verschiedene Worte haben: hearing und listening bzw. entendre und écouter. Bereits ersterem, der reinen sinnlichen Empfänglichkeit, eignet ein Differenzierungsvermögen, das nicht bewusst ins Spiel gebracht werden muss. Es ist eine Auffassung von Veränderungen noch mini malster Art, dem Verschiebungen in der Luft von der Größenordnung des Durch messers eines Wasserstoff atoms nicht entgehen.22 Die Differenziertheit oder vielleicht besser die Differenzierungsmöglichkeiten des Hörens erreichen damit ein Maß, dem kein anderer Sinn gleichkommt und die mit Passivität kaum angemessen beschrieben sind. Listening, écouter oder Heideggers »Horchen« schließlich implizieren eine aktive Zuwendung zum Hörbaren, die in ganz verschiedenen Hinsichten geschehen kann. Wenn von Offenheit und Differenziertheit und damit von der besonderen Sensibilität des Hörens die Rede ist, wird in der Regel auf dieses aktive Hören verwiesen: Sei es das »horchsame Achten« auf den Logos und das Sein oder das »strukturelle Hören«, das die musikalische Logik vollständig nachvollzieht, es ist das listening, um das es geht. Zwischen ihm und dem bloßen beiläufigen Hören gibt es aber keinen Bruch, denn Offenheit und Differenziertheit fi nden sich bereits dort. Besser als von Passivität könnte man daher vielleicht mit Plessner von »Eindringlich keit« 23 sprechen und dabei durchaus die Momente von Intensität und Nachdrücklichkeit einbeziehen, die er ausdrücklich nicht mitgemeint wissen möchte. Auch wenn das Hören zu Recht als Fernsinn gilt, erreicht mich das Gehörte dort, wo ich bin: hier. Wir können dies auch auf den zweiten Punkt beziehen, die ZeitM. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 171993, 163. 21 Heidegger, Heraklit, 245. 22 Vgl. Hellbrück, Ellermeier, Hören, 19. 23 H. Plessner, »Anthropologie der Sinne«, in: ders., Gesammelte Schriften III: Anthropologie der Sinne, Frankfurt/M. 1980, 317‒393, hier 345. 20
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lichkeit.24 Es greift zu kurz, das Sehen als Raum- und das Hören als Zeitsinn zu bezeichnen, denn in beiden Fällen sind Räumlichkeit und Zeit lich keit miteinander verwoben. Es gibt aber eine spezifi sche Zeitlichkeit des Hörens, und eine ihrer Dimensionen hat etwas mit dem Eindruck von Passivität zu tun: »Das Hörbare, der Laut oder das Wort hat uns stets schon ergriffen: im Hören haben wir schon vernom men. Wir haben keine Macht über den Klang, das Wort, die Stimme, die ›Stimmen‹.« 25 Der Punkt ist eine Vorgängigkeit, ein Immer-schon-gehört-Haben, das jeder ausdrücklichen Zuwendung vorausgeht. Man kann Ähnliches für das Sehen festhalten, aber es gibt doch einen Unterschied: Das Gesehene, aber noch nicht Registrierte, auf das wir leiblich bereits rea giert haben mögen, ohne es überhaupt bemerkt zu haben, bleibt uns vor Augen, und wir können uns an ihm weiter abarbeiten; das Gehörte, zu dem wir als bewusst Wahrnehmende zu spät dazukommen, ist vergangen und hat uns auf eine Weise in Anspruch genommen, die uns nicht mehr verfügbar ist. Die vielberufene Offenheit des Hörens hätte dann nicht nur da mit zu tun, dass wir die Ohren nicht schließen können, sondern auch mit der Vorgängigkeit des Gehörten, zu dem wir im Verhältnis uneinholbarer Nachträglichkeit stehen. Die geläufigste Unterscheidung hinsichtlich der Zeitlichkeit von Sehen und Hören ist allerdings die zwischen Simultaneität und Sukzessivität: Während eine visuelle Differenz gleich zeitig aufgefasst werden kann, weil sie vorzuliegen scheint, ist eine akustische Differenz nur in ihrem zeitlichen Nacheinander auffassbar, weil sie sich nur so entfaltet. Klänge und Geräusche sind in jedem Fall Zeitobjekte in Husserls Sinne, nämlich »Objekte, die nicht nur Einheiten in der Zeit sind, sondern die Zeitextension auch in sich enthalten« 26 , und die Melodie ist dafür das anschaulichste Beispiel. Von etwas Sichtbarem, das nicht die Dimensionen des Gesichtsfeldes sprengt, zu nah oder zu weit entfernt ist, hat man einen in stantanen, wenn auch vagen Gesamteindruck; man kann sich mit diesem Eindruck zu frieden geben und sich mit der Überzeugung, die Sache gesehen zu haben, abwenden, auch wenn einem Details und damit möglicherweise das Entscheidende entgehen. Bei etwas Hörbarem, das über ein kurzes Geräusch oder einen Ausruf hinausgeht und sich nicht in der Repetition eines überschaubaren Musters erschöpft, ist das nicht gut möglich – man muss sich die Zeit nehmen, die der Ablauf des zu Hörenden braucht, um es überhaupt als Ganzes zu erfassen. Zuhören dauert in jedem Fall, unabhängig davon, ob man analytisch, verstehend oder ohne sonderliche Aufmerksamkeit hört. Es ist diese Dauer, die zum Topos vom Hören als synthetischem gegenüber dem Sehen als analytischem Sinn geführt hat.27 Wie alle griffigen Entgegensetzungen, Vgl. für das Folgende auch C. Grüny, »Komplizierte Gegenwart. Zur Zeitlichkeit von Bild und Musik«, in: Erscheinung und Ereignis, hg. v. E. Alloa, München 2013, 39‒70. 25 Straus, Vom Sinn der Sinne, 402. 26 E. Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893‒1917) (Husserliana Bd. X), Den Haag 1966, 23. 27 Vgl. etwa Straus, Vom Sinn der Sinne, 401; mit der entsprechenden Emphase auf die Ganzheit lich keit des Hörens Berendt, Nada Brahma, 14 f. 24
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die in unserem Zusammenhang geläufig sind, unter schlägt auch diese die Komplexität der Sache, an dieser Stelle die differenzierende Fähig keit des Hörens und die Notwendigkeit der zeitlichen Synthese im Sehen. Wichtig ist auch das komplizierte zeitliche Verhältnis von Hören und Sehen zu ihren Gegen ständen: Das Gesehene, das sich notwendig in der Distanz hält, bevölkert den Raum des Verfügbaren. Der enge Konnex von Wahrnehmung und Bewegung verbindet vor allem das Sehen mit der Bewegung im Raum; die perspektivische Abschattung, die Räumliches ausmacht, gibt es nur für ein bewegliches, leibliches Subjekt,28 aber dieses räumlich Sichtbare ist gleichermaßen auf die Manipulierbarkeit bezogen, und als solches ist es bezogen auf dieses Subjekt in einem wichtigen Sinne eben nicht gleichzeitig, sondern zukünftig. In diesem Sinne spricht George H. Mead von Gegenständen als »Handlungsentwürfen« und verlegt sie in die Zukunft.29 Auch das Gehörte ist nicht einfach gleichzeitig mit mir als Hörendem. Die Präsenz des Gehörten ist keine momenthafte, sondern eine dauernde, aber es betriff t mich jetzt, und die Zuwendung, die es verlangt, fi ndet immer in meiner Gegenwart statt, oder besser: in einer Gegenwart, die gerade vergangen ist, sodass ich ihm gegenüber immer zu spät bin. Trotzdem war es nicht jemand oder etwas anderes, der oder das vom Gehörten betroffen wurde, sodass ich mit ihm gleichzeitig gewesen sein muss. Zu spät bin ich dann nicht nur dem zu Hörenden gegenüber, sondern auch mir selbst als Hörendem. Diese eigentümliche Verschiebung schlägt sich auch noch in der ausdrücklichen Aufmerksamkeit für das Kom mende, dem emphatischen listening nieder: Ich kann etwas kommen sehen, aber ich kann es nicht kommen hören. Wenn ich es höre, ist es schon da, und wie sehr ich mich auch anstrengen mag, ich habe es immer schon verpasst. Es gehört niemals der Ordnung des Ver fügbaren an, denn seine Zukunft ist die des noch Ausstehenden und nicht die des Hand lungsentwurfs. Die Eindringlichkeit des Gehörten und seine Prozesshaftigkeit weisen auf die dritte Eigen heit des Hörbaren, seinen dynamischen Charakter. Nicht nur ist Gehörtes für sich genom men Ereignis und nicht in sich beruhende Sache, es wirkt auch spürbar auf die Hörenden ein. Im Prinzip gilt dies natürlich für alle Wahrnehmung, die ohne kausale Inter aktion nicht denkbar ist, für das Sehen kann man aber mit Jonas von einer »dynamische[n] Neutralisierung« 30 sprechen, die diese Interaktion unsichtbar sein lässt. Das Gesehene hält sich in der Distanz und erscheint im Hinblick auf potentielle Interaktion, das Gehörte wirkt auf uns und fi ndet insofern auch dann hier statt, wenn es dort hinten ist. Um die reale Einwirkung des
Das ist natürlich seit Husserls zweitem Buch der Ideen ein zentrales Thema der Phänomenologie: Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, zweites Buch (Husserliana Bd. IV), Den Haag 1952, 143 ff. 29 G. H. Mead, »Die Genesis des sozialen Selbst und die soziale Kontrolle«, in: ders., Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie, Frankfurt/M. 1969, 69‒101, hier 80. 30 Jonas, Der Adel des Sehens, 210. 28
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Gehörten auf unseren Körper – oder: das Gehörte als reale Einwirkung – zu erfahren, muss es nicht einmal besonders laut sein. Dass der Zusammen hang von Intentionalität und Kausalität zum Problem werden konnte, als handelte es sich dabei um vollkommen unter schied liche Weltverhältnisse, hat offensichtlich mit der zentra len Stellung des Sehens und dessen dynamischer Neutralisierung zu tun. Für das Hören ist der Zusam menhang von Wahr nehmung und Einwirkung direkt erfahrbar.31 Nach dem Gesagten sind die Begriffe nicht unplausibel, unter die Jean-Luc Nancy in seiner Skizze die Sinne Hören und Sehen ordnet – Resonanz vs. Evidenz, Evokation vs. Manifestation 32 –, wobei man wiederum vorsichtig sein muss, die Entgegensetzung nicht zu verabsolutieren. Das zweifelsfrei Vorliegende und das Evozierte, das meine eigene Beteiligung impliziert, bezeichnen Akzente und nichts absolut Unterschiedenes, und in Bezug auf die reale Sinnlichkeit sollte man vielleicht eher auf der einen Seite von einer Evidenzsuggestion sprechen, die den eigenen Anteil zu verschleiern droht, während auf der anderen auch das deutlich und gegliedert Gehörte von schlagender Evidenz sein kann. Es gibt aber noch eine weitere wichtige Dimension, nämlich die des Zusammenhangs von Hören und Stimme. Wenn das Ohr noch im Schlaf als Wächter des Organismus fungiert, eignet dem Gehörten in seiner Eindringlichkeit ein Appellcharakter unabhängig davon, ob es von jemandem hervorgebracht worden ist oder als solches erkannt wurde. Dieser poten ziert sich noch, wenn dies tatsächlich der Fall ist. Die Stimme ist kein beliebiges Ereignis im Hörbaren, sondern in jedem Fall ausgezeichnet als Kundgabe und Ausdruck. Hier gibt es tatsächlich einen deutlichen Unterschied zwischen Hören und Sehen: Wenn Merleau-Ponty schreibt, dass der Sehende als leibliches Wesen »de iure sichtbar« 33, sodass es eine Verschränkung von Sehen und Sichtbarkeit gibt, ist Sichtbar-sein doch keine Ausdrucksform, sondern ein Faktum. Das Lautwerden eines Anderen ist dies aber sehr wohl, und der Unterschied zwischen Sichtbar- und Hörbarsein ist der zwischen Dasein und Äußerung. Entsprechend erstreckt sich die Hörbarkeit, anders als die Sichtbarkeit, dabei nicht auf das wahrnehmende Organ selbst: Man kann das Auge sehen, aber das Ohr nicht hören. Für das Hören der Stimme des Anderen kann man in besonderer, wenn auch nicht ganz so aufgeladener Weise wie Levinas von Nicht-Indifferenz 34 sprechen: Unabhängig davon, ob ich überhaupt ausdrücklich gemeint bin, habe ich die Stimme bereits gehört und muss mich irgendwie zu ihr verhalten, wobei ich mich Bezeichnenderweise geht Waldenfels in seinem wichtigen Versuch, diese Trennung als unangemes sen zu erweisen, nicht auf das Hören ein: Vgl. B. Waldenfels, »Intentionalität und Kausalität«, in: ders., Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt/M. 1980, 98‒125. 32 J.-L. Nancy, Zum Gehör, Zürich, Berlin 2010, S. 10, 29. 33 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, 181. 34 Bei Levinas selbst spielen Stimme und Hören eine nachgeordnete Rolle. Wenn von einem »Gehor sam, der allem Hören des Gebotes vorausgeht« die Rede ist (E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München 1992, 325), wird deutlich, dass er weder vom realen leiblichen Hören ausgeht noch das Hören als Figur der Offenheit in Anspruch nimmt. 31
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nicht vorab darauf zurückziehen kann, nicht gemeint zu sein. Diese untilgbare Nicht-Indifferenz reicht aber sicher nicht aus – Sensibilität muss in diesem Zusammenhang wesentlich als Ansprechbarkeit verstanden werden, als eine Offenheit, die nicht schließlich doch über die Stimme hinweg geht. Was es beim Hören sicher nicht gibt, ist ein Äquivalent des Sartreschen Blicks, der den Anderen festnagelt und objektiviert 35 – die Rede von einem stechenden, bohrenden oder sezierenden Hören hat keinen Sinn. Die Verschränkung zwischen Hören und Stimme gilt natürlich in besonderem Maße für die Sprechende/Hörende selbst; Mead hat an dieser Stelle den Ansatzpunkt für seine Theorie der kommunikativ vermittelten Konstitution des sozialen Selbst gesehen, deren Angelpunkt die »vokale Geste« ist – wobei er das Hören selbst dabei kaum thematisiert.36 Interessant ist dennoch die Frage, inwiefern die vokale Geste und das Hören hier besonders ausgezeichnet sind: Bisweilen neigt Mead dazu, sie als einzige Möglichkeit eines solchen Ineinanders von Fremdbezug und Selbstbezug anzusehen, während er sie andernorts als ausgezeichnete Möglichkeit versteht, an deren Stelle etwa bei Gehörlosen andere Formen kommunikativer Sozialität treten.37 Überdies gibt es seit längerem Theorien, die den Ursprung der Sprache gerade nicht bei Lautäußerungen, sondern in der körperlichen Gestik vermuten, was zwar nicht Meads grundsätzliche Rekonstruktion der Genese von Mind, Self and Society, wohl aber seinen Ansatz bei der vokalen Geste zweifelhaft erscheinen ließen.38 Argumente gibt es für beide Seiten, aber für die Frage des Hörens kann man doch festhalten, dass in einer Welt, in der der mit Abstand größte Teil der interpersonellen Kom munikation in der akustischen Sphäre stattfi ndet, das Hören der kommunikative Sinn schlechthin ist. Damit ist diese Sphäre derart mit Kommunikation aufgeladen, dass Gehörtes immer auch im Hinblick darauf aufgefasst werden wird. Mit der Kommunikation kommt noch einmal eine Grundbedingung des Hörens zum Tragen, nämlich die Notwendigkeit der zeitlichen Entfaltung: Wenn man auf jemanden hört, muss man zumindest so lange schweigen, wie er oder sie spricht. Tatsächlich gilt dasselbe auch für die im Visuellen stattfi ndende Gebärdensprache, ja für jede in der Zeit stattfi ndende Kommunikation – zwar kann man gleichzeitig sehen und gesehen werden, aber so wenig gleichzeitig gebärden und den Gebärden von jemand anderem folgen, wie man gleich zeitig zuhören und sprechen
Vgl. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, Reinbek 1993, S. 457 ff. Vgl. G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt/M. 1973, 100 ff. Das sich sprechen Hören steht dann gerade nicht für absolute Selbstpräsenz, wie Derrida bekanntlich meinte, sondern ist der Ort der Vermittlung der Selbstbeziehung durch die Anderen (vgl. J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen – Einführung in das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt/M. 2003). 37 Vgl. zu ersterem Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 105, zu letzterem Mead, »Die Genesis des sozialen Selbst und die soziale Kontrolle«, 93 f. 38 Vgl. M. Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt/M. 2009. 35
36
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kann. Dabei ist man allerdings versucht, auch im Falle der Gebärdensprache von Zuhören zu sprechen, womit sich der Begriff ein weiteres Mal als Figur nahelegte: als elementare Ansprechbarkeit und ein Reagieren auf die Ansprache des Anderen, das seiner Äußerung mit der entsprechenden Offenheit und Auf merk samkeit folgt, und zwar so lange sie dauert, ohne sie vorweg in Erwartungen zu pressen, denen sie möglicher weise nicht entspricht. Die Begriffe des Ansprechens oder des Angesprochenseins und des Entsprechens werden dabei ebenso zu Figuren wie der des Hörens, indem sie keineswegs auf die akustische Sphäre und auch nicht auf die der expliziten, absichtsvollen Kommuni kation begrenzt sind.
III. Das Versprechen der Musik Die Musik ist ohne Zweifel derjenige Bereich, in dem das Hören auf besondere Weise und systematisch kultiviert wird. So elementar Musik im menschlichen Leben ist, so voraussetzungsreich sind ihre Existenz und auch das ihr gewidmete Hören. Kinder werden in Musik, und zwar in je bestimmte Musik hineinsozialisiert, bis deren Grundformen ihren Ohren so selbstverständlich erscheinen wie die der eigenen Sprache (auch wenn die Unterschiede im Grad und der Differenziertheit dieser Sozialisation hier deutlich weiter auseinandergehen). So wichtig die Musik schließlich im Leben des Einzelnen und so grundlegend eine basale Musikalität für das Weltverhältnis und die Kommunikation auch sein mag,39 das Hören von Musik erscheint doch als Spezialfall, dessen Beziehung zum Alltag alles andere als geklärt ist; so kommt etwa der emphatische Begriff des Hörens, den Heidegger vertreten hat, ganz ohne Bezug auf Musik aus. Im Diskurs über die Musik hingegen spielt ein emphatischer Begriff des Hörens bis heute eine zentrale Rolle, die auch immer wieder über ihren eigenen Bereich hinweg ausgeweitet worden ist. Das mag zuerst einmal wenig überraschen, erscheint aber doch bemerkenswert, wenn man auf den parallelen Fall der bildenden Kunst und des Sehens blickt, wo die Lage eine andere ist.40 Dass sich dieser Unterschied auch im Alltagsver ständnis niedergeschlagen hat, kann man am Assoziationsraum bestimmter Begriffe festmachen: Die im musikalischen Bereich geläufige Rede vom noch Ungehörten evoziert geheimnisvolle, unentdeckte Welten, 39 Vgl. dazu Communicative Musicality. Exploring the Basis of Human Companionship, hg. v. S. Malloch, C. Trevarthen, Oxford 2009. 40 Die emphatische Berufung auf das reflexiv gewordene Sehen hat in der bildenden Kunst seinen Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Impressionisten und Theoretikern wie Konrad Fiedler und zieht sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Mit den Entwicklungen der sechziger Jahre und spätestens mit der alles durchdringenden Wirkung der konzeptuellen Kunst tritt es zunehmend in den Hintergrund, bis schließlich ein Kunsttheoretiker wie Peter Osborne von der »radical emptiness or blankness of the aesthetic itself« sprechen kann, womit der Wahrnehmung eine deutlich untergeordnete Rolle zugewiesen wird (P. Osborne. Anywhere or not at all – Philosophy of contemporary art, London 2013, 45).
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während die vom noch Ungesehenen wie eine sensationalistische Werbung für ein Spektakel wirkt, das vorweg als enttäuschend erkennbar ist. Könnte es also sein, dass die herausgehobene Rolle des Hörens in der Musik vor allem der eigentümlichen diskursiven Position des Hörens insgesamt zugeschrieben werden sollte? Da eine auch nur kursorische Wiedergabe der Diskussion innerhalb der Musik den Rahmen sprengen würde, möchte ich mich im Folgenden lediglich auf wenige exempla rische Positionen beziehen, die sich emphatisch und auf recht unterschiedliche Weise auf das Hören berufen haben und für die es Implikationen hatte, die weit über die Musik hinausgehen. Auch die wichtige Frage nach einer spezifisch musikalischen Sensibilität, die nicht nur das differenzierte Hören, sondern auch die Artikulationsmöglichkeiten und die Sensibilität für die spezifi sche Kommunikationsform des »gemeinsam Musizierens«41 umfasst, werde ich nur am Rande berühren. Beginnen werde ich mit Helmut Lachenmann, dessen Position mir exempla risch für ein von der Idee eines Fortschritts des Materials und seiner Reflexion geprägtes Musikverständnis erscheint, und dann entgegen der Chronologie zu John Cage kommen, der in den vergangenen Jahrzehnten einer der wichtigsten Bezugspunkte für zahlreiche Künstler unterschied lichster Sparten war. Danach werde ich auf F. Murray Schafer eingehen, der für eine radi kale Ausweitung des musikalischen Hörens steht. Seit der Verabschiedung der harmonischen Tonalität bei Arnold Schönberg steht die Neue Musik für einen radikalen Bruch mit der Tradition. Gerade für Schönberg und seine Schule war es aber von zentraler Bedeutung, gleichzeitig die Kontinuität zu betonen: Wenn die Entwicklung der Neuen Musik nicht auf das kontingente Handeln einer Reihe radikaler Komponisten zurückgeführt werden kann, sondern eine Konsequenz der Tradition selbst ist, ist sie der Ort der legitimen Fortentwicklung der Musik.42 Bei aller Pluralisierung der musi kalischen Entwicklung, die die Vorstellung eines linearen Fortschritts hat obsolet werden lassen, soll das von den unterschiedlichen Spielarten Neuen Musik geforderte Hören doch nicht der Spezialfall eines Spezialfalls sein, sondern den Stand musikalischer Sensibilität verkörpern. Helmut Lachenmann steht ganz in dieser Tradition. Anfang der siebziger Jahre hat er eine Position vertreten, die von einem noch ungebrochenen Vertrauen auf die widerständige Kraft der Musik geprägt ist, die sich aber vorerst gerade nicht auf das Hören, sondern in der Tradition Adornos auf die rationale Reflexion der Bedingungen des Materials und dessen Fortentwicklung gründet: »[E]s geht um den Widerstand, den das schöpferische Denken den Normen vorweg gegebener Ordnungskategorien leistet, einen Widerstand, der sich als rational durchdrungene, aus sich heraus fortent wickelte und damit ihren beste41 Alfred Schütz setzte bekanntlich hier an, um die Interaktion von Musikern als paradigmatisch für soziale Interaktion überhaupt zu beschreiben: Vgl. A. Schütz, »Gemeinsam musizieren. Die Studie einer sozialen Beziehung«, in: ders., Gesammelte Aufsätze II: Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972, 129-150. 42 Vgl. exemplarisch A. Webern, Der Weg zur Neuen Musik, Wien 1960.
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henden gesellschaftlichen Rahmen negierende Ordnung niederschlägt.«43 Die Negation des gesellschaftlichen Rahmens bezieht sich hier nur auf die Bedingungen der Musik selbst, und die Vorstellung einer direkten gesellschaftlichen Wirkung der Musik fi ndet Lachenmann naiv; die Forderung, »Reflexion und kritisches Verhalten […] mit aller Konsequenz heraus[zu]forder[n]«44 weist aber deutlich über sie hinaus. Dass Ordnungskategorien negativ und Widerstand emphatisch positiv zu werten ist, bleibt bei all dem selbstverständlich vorausgesetzt. Das Schlüsselwort lautet hier nicht Hören, sondern Denken, und so endet der Text mit dem einprägsamen Satz: »Hören ist wehrlos – ohne Denken.«45 Das heißt: Differenziertheit und kritisches Bewusstsein sind dem musikalischen Hören nicht inhärent, sondern werden pri mär durch ein als Korrektiv gebrachtes Denken ins Spiel gebracht. Die Hilflosigkeit des Hörens zeigt sich für Lachenmann darin, dass es dem Schwelgen in emotional aufgeladener Musik der Tradition und/oder der Popmusik, also der ungebrochenen Fortschreibung des Vergangenen und der alles dominierenden Trivialität der Popmusik von sich aus nichts entgegenzusetzen hat. Dieser Tendenz des musikalischen Hörens muss selbst Widerstand geleistet werden, und wenn es ein utopisches Moment der Musik gibt, so liegt es mindestens ebenso sehr in der kritischen Instanz des Denkens. Die Auffassung, dass eine strukturell »regressive« Musik – ein Vorwurf, der natürlich auch Komponistenkollegen triff t, für jede Form der populären Musik aber vollkommen selbst ver ständlich erscheint – nicht nur ein musikalisches, sondern ein grundlegendes gesell schaft liches Problem ist, bleibt bei Lachenmann auch in den Jahren und Jahrzehnten danach erhalten. Was sich ändert, ist die begriffl iche Konstellation, mit der dies gestützt wird: Hier kommt das Hören mehr und mehr zur Geltung und wird zur eigentlichen Instanz aufgebaut. Immer noch geht es um Struktur, aber diese wird nun mit der geläufigen Formel der auf sich selbst angewandten Wahrnehmung ins Hören selbst verlagert: »Der Gegenstand von Musik ist das Hören, die sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung. Und einzig, weil solche Sensibilisierung nicht gelingen kann ohne die kompositionstechnische Auseinander setzung mit der Verwaltetheit des musikalischen Materials, bildet Musik, als Produkt einer solchen Auseinandersetzung, die Wirklichkeit, auf die sie reagiert, genauer ab, als es jede rhetorische Anstrengung zuwege brächte.«46 Es fällt auf, dass genau hier plötzlich von Sensibilität und Sensibilisierung gesprochen wird. Der Text trägt den erstaunlichen, den oben zitierten Satz revidierenden Titel Hören ist wehrlos – ohne Hören, womit das Hören zwar auf andere Weise, aber mit kaum weniger Emphase überhöht wird als in den im ersten Abschnitt H. Lachenmann, »Zur Analyse Neuer Musik«, in: ders., Musik als existentielle Erfahrung – Schriften 1966‒1995, Wiesbaden 22004, 21‒34, hier 23. 44 H. Lachenmann, »Zur Frage einer gesellschaftskritischen (-ändernden) Funktion der Musik«, in: ders., Musik als existentielle Erfahrung, 98. 45 Lachenmann, Zur Analyse Neuer Musik, 34. 46 H. Lachenmann, »Hören ist wehrlos – ohne Hören. Über Möglichkeiten und Schwierigkeiten«, in: ders., Musik als existentielle Erfahrung, 116‒135, hier 117. 43
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zitierten Texten. Die Verdopplung des Begriff s zeigt, dass auch Lachenmann mit einem anspruchsvollen Begriff des Hörens arbeitet, der hier weniger von der bloßen Sinnlichkeit als von einem affektorientierten Genusshören abgegrenzt wird, das nichts als Selbstbestätigung ist und damit zur Reproduktion des Bestehenden beiträgt. Man könnte es so formulieren: Das sinnliche Hören ist weiterhin gefährdet, ins unreflektiert Affektive abzurutschen, aber die rettende kritische Instanz wird nun ins Innere der Sache verlagert. In der Formel ist das zweite, eigentliche Hören offenbar nicht so hilflos wie das erste, und es ist natürlich die Differenziertheit, die dabei im Mittelpunkt steht. Aber auch für Lachenmann ist dies kein strukturversessener Selbstzweck, und er bemüht Begriffe wie Geheimnis, Reinheit, Klarheit, Intensität, Reichtum und Mensch lich keit, um das zu kennzeichnen, was durch »strukturelle Brechung« erzeugt wird.47 Wieder um ist die Musik eine Art Propädeutikum, die durch einen bestimmten Typ Sensibilisierung über sich hinaus wirkt. Dass dabei nun ganz auf das Hören gesetzt wird, kann auf zwei konträre Weisen gelesen werden: Auf der einen Seite wird so die Selbstgerechtigkeit des Urteils mit seinen offenbar selbstverständlichen Ehrentiteln des Kritischen und des Reflektierten ein wenig abgemildert, indem die Auffassung in eine nicht vollständig zu kontrollierende Sinnlichkeit mit ihrer Wehrlosigkeit verlagert wird. Auf der anderen Seite kann genau darin eine weitere Im mu nisierung liegen, denn seine Situierung im Hören entzieht das weiterhin unverändert gefällte Urteil tendenziell der Kritik und hat bei allem historischen Bewusstsein etwas von einer Naturalisierung. Wer wollte oder könnte sich der Wahrheit eines solchen Hörens, das Wehrlosigkeit und Offenheit mit Differenziertheit und kritischem Bewusstsein verbindet, noch entziehen? Lachenmann könnte nicht so reden, wenn sich das Hören als Figur, der die Überhöhung bereits eingeschrieben ist, nicht ohnehin angeboten hätte. Innerhalb der Musik kann es mit einer schlichten Berufung auf das Hören als Inbegriff von Sensibilität offensichtlich nicht getan sein. Fordert man wie der frühe Lachenmann Differenzierungen, deren Maßstab auf einer anderen Ebene als der Sinnlichkeit liegt, wird diese exzeptionelle Sensibilität deutlich relativiert, oder vielleicht sollte man sagen: auf ein normales Maß zurechtgestutzt; die Verlegung des Maßstabs ins Hören selbst auf der anderen Seite schwenkt ganz in seine Überhöhung ein – überboten wird das Hören schließlich nur noch durch sich selbst. Sieht man aber einmal vom Pathos der kritischen Strenge und der massiven Normativität ab, so bleibt der Appell an ein Hören, das sich nicht durch Erwartungen und überkommene Formen ver schließt und auch nicht in den Dienst der affektiven Selbstbestätigung stellt, sondern sich offen für Vorgänge und Formen zeigt, die gerade nicht zu erwarten sind und sich selbst nicht nur bestätigt haben will, sondern auch in Frage zu stellen bereit ist.
47
Vgl. ebd., 135.
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Während bei Lachenmann diese Offenheit durch kritische Differenziertheit zumindest ausba lanciert wird, wird bei dem eine Generation älteren Cage die Offenheit noch einmal deutlich radikalisiert. Das Motiv einer quasi bedingungslosen Offenheit ist einer der schwierigen Aspekte in Cages musikalischem Denken, aber es ist auch einer derjenigen, die besonders wirkmächtig gewesen sind. Bereits in seinen frühen Texten spricht Cage von einer Erweiterung des musikalischen Materials über den traditionellen Tonvorrat hinaus auf jegliche Klanglichkeit: Es ist »the entire field of sound« 48 , das für die Musik zur Verfügung steht, wobei es erst einmal darum gehen soll »to capture and control these sounds«49. Aufnahmetechnik und die Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung, die er bereits hier (1937) anvisiert, geben den Komponisten Mittel in die Hand, mit denen sie weit über das Material der Tradition hinaus arbeiten können. Dabei ändert sich erst einmal nichts daran, dass Musik als spezifi sches Feld der Organisation von Klängen gedacht wird – Komponistinnen müssen neue Wege fi nden, dieses Material zu organisieren, Hörerinnen müssen mit ihm umgehen, aber ansonsten keine grundsätzlich andere Haltung zur Sache einnehmen. Capture and control auf der einen, sorgfältiger Nachvollzug auf der anderen Seite. Kurze Zeit später wird genau dieser Aspekt der Kontrolle für Cage zum eigentlich problematischen Zug der Musik und seine Zurücknahme zum Ziel seiner Praxis; man könnte die Haltung, die er seitdem propagiert hat, als »Seinlassen« bezeichnen. Seine kompositorischen Verfahren haben sich über die Jahre sehr stark verändert, geblieben ist aber die Vor stellung, man müsse die Klänge sie selbst sein lassen und nicht überformen oder symbolisch aufl aden. Kurz vor seinem Tod hat er dies noch einmal in seiner unnachahmlichen Weise bekräftigt: »I don’t want a sound to pretend that it’s a bucket, or that it’s a president, or that it’s in love with another sound. I just want it to be a sound.« 50 Konsequenterweise wird der Verkehr, der seine Wohnung an einer Ecke der Sixth Avenue in New York unauf hörlich umtoste, als interessanter und variantenreicher als Beethoven bezeichnet. An einer Stelle beschreibt er seinen Sinneswandel hinsichtlich des Attributs des »Experi mentellen«, in Bezug auf das er früher sehr skeptisch gewesen sei, mit einer aufschlussreichen Aussage: »What has happened is that I have become a listener and the music has become something to hear.« 51 Das Gegenbild zum Hörer ist hier der Komponist, der genau weiß, was er tut und getan hat, während die Hörer vom Erklingenden überrascht werden. Wenn der Komponist selbst zum Hörer wird, geht es ihm darum, sein eigenes Tun an dieser Haltung der Offenheit und des sich überraschen Lassens auszurichten und auf diese Weise auch als Gestaltender die Klänge sie selbst sein lassen zu können. Das ist kein triviales Unterfangen – wenn die Praxis des Komponisten sich nicht darin erschöpft, auf eine bestimmte Weise 48 J. Cage, »The Future of Music: Credo«, in: ders., Silence. Lectures and Writings, Middleton 1973, 3‒6, hier 4. 49 Ebd., 3. 50 John Cage im Interview im Film Écoute/Listen von M. Sebestik (1992), bei 0:34:36. 51 J. Cage, »Experimental Music«, in: ders., Silence, 7‒12, hier 7.
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dem Verkehr zuzuhören, muss es um den paradoxen Versuch gehen, das Unveranstaltete zu veranstalten oder durch Tun zu lassen. Der wichtigste Zug, der sich durch die verschiedenen Verfahren Cages zieht, ist der der Unbestimmtheit und des Zufalls in unter schiedlichen Aspekten und an unterschiedlichen Stellen des Realisierungsprozesses, der jeder Intention des Komponisten (und auch der Interpretinnen) einen Strich durch die Rechnung macht. Im zitierten Text steht an dieser Stelle die Offenheit für Umweltgeräusche, also das Einlassen des gerade nicht Geplanten in die Musik. Hinter all dem stand seit den fünfziger Jahren eine etwas eklektisch von der indischen Phi losophie, der christlichen Mystik und zunehmend vom Zen-Buddhismus inspirierte Haltung, die sich nicht nur auf die Musik erstreckt, sondern als eine Art Lebenshaltung des Nicht-Handelns begriffen wurde, ein Absehen von jeder Form des Ausdrucks, der intentionalen Einwirkung und des Urteils zugunsten der Selbstäußerung der Natur.52 Sozialität und Geschichte werden dabei eher über Bord geworfen als konstruktiv oder kritisch behandelt, und das Ergebnis ist eine eher krude, naive Art Anarchismus, der Individuen so behandelt wie die »sounds themselves«, nämlich im Vertrauen, dass die absolute Vereinzelung zu ei ner freien Gesellschaft führt. Die »uniqueness of the individual« 53, die die Politik nicht in spirieren oder herausfordern, sondern ersetzen soll, erscheint selbst als eine fast neutrale Gegebenheit, und nicht umsonst ist Cages Position als Ästhetik der Indifferenz bezeichnet worden.54 Was gehört wird bzw. werden soll, wären entsprechend keine individuellen Stim men, sondern individuelle Vorgänge, und es fällt schwer, in dieser Form der absoluten Offen heit des Hörens eine sozial relevante oder ethische Dimension zu erkennen. Die Musik kann hier eine gewissermaßen pädagogische Rolle erfüllen, indem sie das propagierte Hören einzuüben hilft, muss sich dabei aber von der traditionellen Vorstellung musikalischen Könnens und musikalischer Kompetenz vollständig verabschieden. Wenn Cage vom emphatischen Diskurs über das Hören in Anspruch genommen wird, darf man eins nicht übersehen: Zwar geht es um eine auf die Spitze getriebene Offenheit für die Welt, die noch dazu im Hören situiert wird, dieses ist aber weniger der Inbegriff dieser Offenheit als ihr Ort. Es ist für Cage eher selbstverständlich, dass die angezielte Haltung auch auf andere Weise und in anderen Bereichen erreicht werden kann. So heißt es an einer Stelle, bei der es genau um das Erreichen dieser Haltung geht, dass das Auge daran ebenso beteiligt ist wie das Ohr, denn 55: »An ear alone is not a being.« Und dennoch: Cage hat wesentlich dazu beigetragen, das Hören zu genau jener Figur der Offenheit zu machen, als die es in der Folge auch weit über die Musik hinaus aufgegriffen wurde – man muss sich Zu den problematischen Zügen von Cages Vorstellung von Natur als anonymer, aber autoritativer Größe vgl. B. Piekut, »Chance and Certainty – John Cage’s Politics of Nature«, in: Cultural Critique 84 (2013), 134‒163. 53 Musicage – Cage muses on Words, Art, Music, hg. v. J. Retallack, Hanover, NH, 51. 54 Vgl. M. Roth, »The Aesthetic of Indifference«, in: Artforum 10 (1977), 46‒53. 55 J. Cage, »Composition as Process«, in: ders.: Silence, 18‒56, hier 31. 52
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daran erinnern, dass seine Texte gleichzeitig mit denen des späten Heidegger entstanden –, und als das nicht schließbare Sinnesorgan, das dazu verurteilt ist, alles Hörbare zu registrieren, ist das Ohr der naheliegende Ansatzpunkt für die Offenheit, die ihm vorschwebt. Auch R. Murray Schafer war ursprünglich Komponist, bekannt und höchst einflussreich geworden ist er aber mit seiner Praxis der Erforschung der Umweltklänge und der Aufforderung, diese zu gestalten. Er hat den Begriff der soundscape, der Klangland schaft geprägt, der mittlerweile in die Alltagssprache übergegangen ist. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die von Cage propagierte und praktizierte Entgrenzung des musika lischen Klangmaterials, der er allerdings eine andere Wendung gibt. Schafer unter nimmt eine (eher freihändig durchgeführte) historische Untersuchung der Veränderungen der Klangumwelt, zu der er die Entwicklung der Musik in ein Verhältnis setzt. Der größte Einschnitt ist hier die industrielle Revolution, die mit den Lebensbedingungen auch die Klang lichkeit des Alltags vollkommen umgewälzt hat. In dem Maße, in dem der Lärm gewachsen ist, hat sich nun die Musik Schafer zufolge in ihre eigene Sphäre zurückgezogen und hier eine isolierte Kon zentration kultiviert: »[T]he string quartet and urban pandemonium are historically contemporaneous.« 56 Programmmusik im weitesten Sinne (seine Beispiele sind die Dar stellung von Vogelstimmen und das Horn als Natursymbol) ist für ihn eine Art Fenster in den Mauern dieser Isolation, Darstellungen eines nur noch vermittelt zugelassenen Draußen. Man kann sagen, dass die musikalische Entwicklung insgesamt mit einem deutlich kritischen Unterton dargestellt wird: Die Entfernung von der äußeren Klangwelt, die Parallelisierung des Orchesters mit der arbeitsteiligen Organisation der modernen Fabrik, die quasi-imperialistische Struktur der Sonatenform, die Gewalt der neuen Instrumente, etwa des Klaviers, und schließlich die Aufnahmetechnik, die zu einer Situation führt, die Schafer als »schizophonia«57 bezeichnet: Die Trennung des Klangs von seiner Quelle, die jenen als Klangobjekt isoliert, das für sich in seiner Struktur aufzufassen ist und nicht im Verhältnis zu dem, was ihn hervorgebracht hat,58 erscheint aus dieser Perspektive zuerst einmal nicht als Errungenschaft oder Erweiterung der Wahrnehmungs- und Kompositionsmöglichkeiten, sondern als hochproblematische Spaltung, die überdies die endgültige Eroberung der gan zen Welt durch eine imperialistische westliche Klangwelt ermöglicht. Auf der anderen Seite hat gerade die Aufnahmetechnik zu jener klanglichen Erweiterung der Musik geführt, von der er ausgeht: Erst die Verfügbarkeit der Klänge für Komposition und Manipulation hat die detaillierte Aufmerksamkeit auf die reale Klangumwelt ermög licht. R. Murray Schafer, The Tuning of the World, New York 1977, 103. Ebd., 90 ff. 58 Dies ist der Ansatzpunkt für Pierre Schaeffers Vorstellung eines »akousmatischen« Hörens. Von ihm stammt auch der Begriff des Klangobjekts: Vgl. P. Schaeffer, Traité des objets musicaux, Paris 1966. 56 57
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Bereits am Beginn des Buches macht Schafer deutlich, dass er von hier aus sein Unter neh men insgesamt als ein musikalisches versteht: »Today all sounds belong to a conti nuous field of possibilities lying with the comprehensive domain of music. Behold the new orchestra: the sonic universe! And the musicians: anyone and anything that sounds!« 59 Der Sinn dieser Entgrenzung ist aber ein anderer als bei Cage: Während die komponierte Musik bei diesem ein Werkzeug im Dienste der unterschiedslosen Aufmerksamkeit auf die Klänge als solche war, die auch den Verkehrslärm willkommen heißt, ist die Pointe bei Schafer eine kritische. Die Anwendung musikalischer Sensibilität auf die klangliche Umwelt geschieht im Hinblick auf ihre Gestaltung, die aber nicht mehr als musikalische im künstlerischen Sinne gedacht werden kann. Die erste Diagnose dieser Sensibilität ist die der Lärmverschmutzung, der man sich kaum entziehen kann, und der Notwendigkeit, daran etwas zu ändern. Während man sich darauf auch ohne besondere Fähigkeiten musikalischen Hörens schnell einigen kann, geht der Gestaltungswillen weiter in Richtung eines aktiven Sounddesigns. Wenn unser Lärmproblem, wie er vermutet, in erster Linie auf mangelnde Aufmerk samkeit auf unsere klangliche Umwelt zurückzuführen ist, liegt die Lösung für ihn in jener Schu lung des Hörens, der er sich seit Jahrzehnten verschrieben hat. Deren Möglichkeiten gehen aber weiter, da sich angesichts eines »richtigen« Hörens die grundsätzlichen Fragen hinsicht lich der Gestalt der soundscape von selbst zu erledigen scheinen: »I believe the way to improve the world’s soundscape is quite simple. We must learn to listen.« 60 Mehr noch als bei Lachenmann und Cage wird hier das Hören als solches mit einer inhä renten Normativität ausgestattet, die es zu einer unbefragten und unbefragbaren Qua lität macht. Das durch »ear cleaning« und Hörübungen befreite Hören ist nicht kritisch im Sinne eines geschärften historischen und gesellschaftlichen Bewusstseins und auch nicht die Verkörperung indifferenter Offenheit, sondern bloß in gesteigerter Form es selbst. Hören im eigentlichen Sinne ist nichts als gesteigerte Sensibilität ohne zusätzliche Qualifi kation, aber aus dieser Sensibilität ergibt sich sowohl die Art der Kritik als auch die Richtung der Um gestaltung. Das kann nur funktionieren, weil das Ganze schließlich doch einen deutlichen esoterischen Einschlag bekommt und das Hören zu einem Vernehmen der Struktur des Kosmos aufgebaut wird: Das Buch endet mit einer Beschwörung der Sphärenmusik. Ich habe hier auf Lachenmann, Cage und Schafer als exemplarische Beispiele des Umgangs mit dem Hören im musikalischen Diskurs zurückgegriffen, exemplarisch insofern, als sie bestimmte Richtungen der Mobilisierung des Hörens und deren Schwierig keiten und Gefah ren besonders deutlich verkörpern. Es ist sinnvoll, mit Lachenmann zwischen einem Hören als bloßer auditiver KenntnisSchafer, The Tuning of the World, 5. R. Murray Schafer, A Sound Education – 100 Exercises in Listening and Sound-Making, Indian River 1992, 11. 59
60
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nahme, einem Hören als eingeschliffener Rezeptionsgewohn heit und einem Hören als kritischem Bewusstsein zu unterscheiden – aber man wird dies nicht ohne eine weitergehende Qualifi kation dieses Hörens und seiner jeweiligen Geschichte tun können, über die sich auch streiten lässt. Mit seiner Eindring lichkeit und Nachträglichkeit ist das Hören vielleicht wirklich ein besonders geeignetes Bild für eine sensible Offenheit – aber um als Verkörperung absoluter Offenheit wie bei Cage zu dienen, muss ihm die Sensibilität für die Stimme des Anderen und das Vermögen evaluativer Differen zierung ausgetrieben werden. Schafers Arbeit an einer Sensibilisierung der Ohren und einer Umgestaltung unserer akustischen Umwelt ist ein wichtiges Unterfangen – aber mit einer bloßen Berufung auf ein bereinigtes, zu sich selbst gekom menes Hören ist es nicht getan. Musikalisches Hören ist ein Hören gesteigerter Sensibilität in den beiden Dimensionen der Offenheit und der Differenziertheit. Aber die Art und Richtung dieser Sensibilität versteht sich keineswegs von selbst.
IV. Politisches Hören? Mit dem Politischen betreten wir einen ganz anderen Bereich, in dem die Rolle des Hörens weit weniger selbstverständlich erscheint. Dabei könnte man vermuten, dass zumindest diejenigen Theorien des Politischen und des Sozialen, die die Kommunikation in den Mittelpunkt stellen, auch dem Hören einen entsprechenden Platz einräumen. Tatsächlich ist das aber nicht unbedingt der Fall, wie wir bereits bei Meads Sozialphilosophie gesehen haben. Auch in Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns tauchen Hörerinnen nur als sprechakttheoretische Position auf, die mit Geltungsansprüchen umzugehen hat: Angesichts einer »korrekt wahrgenommenen« Sprechhandlung versteht die Hörerin diese, nimmt Stel lung zu dem in ihr erhobenen Anspruch und richtet ihr Handeln nach »konventionell festgelegten Handlungsverpfl ichtungen« 61. Hören als Handeln, als Sensibilität auch leiblich miteinander interagierender Wesen spielt hier keine Rolle. Das Aushandeln von Geltungsan sprüchen und auch der herrschaftsfreie Diskurs scheinen zwischen Instanzen und nicht zwischen Menschen stattzufi nden. Nun haben nicht alle, die diesen Formalismus als für eine politische Theorie unzu länglich kritisiert haben, sich auf das Hören berufen; man kann aber sagen, dass die Thematisierung des Hörens den Finger genau auf diese Stelle legt. Habermas’ kontrafaktische, aber ihm zufolge auch in realen Diskursen operativ wirksame »ideale Sprech situation« 62 ist eine Situation vollständiger Transparenz, in der Sprechen und Hören zu einem widerstandslosen Austausch werden. Wenn man J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt/M. 41987, 399 (i. Orig. kursiv). 62 J. Habermas, »Wahrheitstheorien«, in: Wirklichkeit und Refl exion – Walter Schulz zum 60. Geburtstag, hg. v. H. Fahrenbach, Pfullingen 1973, 211‒265, hier 257 ff. 61
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hier überhaupt von Sensibilität sprechen wollte, so wäre diese qualitäts- und gestaltlos, aber vielleicht kann man bei aller Distanz hier von der Musik lernen, dass Offenheit und Differenziertheit immer spezifi sch sind: Worauf man hört, was sich einem hörend überhaupt erschließt und wie man das zu Hörende auffasst, ist nicht vorweg gesagt. Absolute Offenheit kann es so wenig geben wie Aufmerksamkeit für alle Unterschiede, und zwar aus dem schlichten Grund, dass die Rede von einer Totalität hier keinen Sinn hat. Wer auf etwas hört, hört etwas anderes nicht, wer bestimmte Unterscheidungen auffasst, dem entgehen andere – das ist keine zu behebende Schwäche des oder der Hörenden, sondern die Bedingung von Wahrnehmung überhaupt. Ich werde mich an dieser Stelle mit skizzenhaften Bemerkungen anhand einiger Texte begnügen, die das Hören im Bereich des Politischen in den Mittelpunkt gestellt haben, wobei es primär darum gehen wird, wie das Hören zwischen Figur und Wirklichkeit jeweils in Anschlag gebracht wird. Die Diskussion um die Rolle eines sozusagen politischen Hörens oder einer politisch relevanten auditiven Sensibilität, mit der Fragen des Zusam menhangs von Interaktion und Institution, von Sensibilität und Diskurs, von Kommuni kation und Macht mit angespielt werden, kann damit nur eröff net werden. In Benjamin Barbers kurze Zeit nach der Theorie des kommunikativen Handelns erschienenem, vollkommen anders ansetzendem Strong Democracy, das eine kommunita ristische Version partizipativer Demokratie fordert, wird die Forderung nach einem politischen Hören ausdrücklich. Barber spricht von einer »listening citizenry« 63, die sich nicht darauf beschränkt, in Wahlen ihre Interessen zu vertreten, sondern die in offenem Austausch miteinander steht. Für diesen Austausch ist das Hören so wichtig wie das Sprechen, er ist niemals rein kognitiv und seine Ergebnisse sind stets vorläufig. »Ich werde zuhören« heißt hier: Ich werde den Anderen wohlwollend und offen anhören und dabei nach einem gemeinsamen Boden suchen, auf dem eine Verständigung möglich ist. Denn: »Listening is a mutualistic art that by its very practice enhances equality. The empathetic listener becomes more like his interlocutor as the two bridge the differences between them by conversation and mutual understanding.« 64 Hier zeigen sich Gemeinsamkeiten zu Corradi Fiumaras Philosophie des Hörens in ihren weniger überschwänglichen Momenten, wo sie recht treffend von einem »interactive field of listening« 65 spricht, in dem es nicht nur von den Sprecherinnen, sondern auch von den Hörerinnen abhängt, was gesagt wird. In diesem Sinne ist auch die »voice« zu verstehen, von der Nick Couldry spricht, nämlich als »social process [that] involves, from the start, both speaking and listening« 66.
63 64 65 66
B. R. Barber, Strong Democracy – Participatory Politics for a New Age, Berkeley 22004, 207. Ebd., 175. Corradi Fiumara, The Other Side of Language, 190. N. Couldry, Why Voice Matters – Culture and Politics after Neoliberalism, London u. a. 2010, 9
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Interessanterweise weist hier ausgerechnet Corradi Fiumara auf die Spannungen und Brüche auch des gemeinsamen Raumes hin, die Barber mit seiner Evokation des Gemein samen und des Brückenbaus eher zudeckt. Auch Susan Bickford, die, so weit ich sehe, als Erste das Hören ins Zentrum der politischen Philosophie gerückt hat, betrachtet es als »part of a conception of adversarial communication« 67, also weit entfernt von allen harmonistischen Zuschreibungen. Dieses Korrektiv ist, sieht man sich den allgemeinen Diskurs um das Hören an, höchst bedeutsam, denn wenig läge näher, als es auch hier als gutes Gegenbild zu einer von Macht und Interessen geprägten politischen Sphäre aufzubauen. Für Bickford ist die Berufung auf das Hören die Möglichkeit, auch in von Konfl ikt und »Dissonanz« geprägten Situationen Handlungsmöglichkeiten zu eröff nen. Dabei geht auch sie das Hören primär als zu kultivierende Haltung an, die sie als »attitude somewhere between sheer defiance and sheer docility, one that allows us neither to ignore others nor to privilege them« 68 beschreibt, die von einer »tension between open ness and commitment« 69 geprägt ist. Von der Differenziertheit, die bei der Musik eine so große Rolle spielt, ist hier deutlich weniger die Rede; dennoch bleibt sie als die Bereitschaft und Fähigkeit im Spiel, den Anderen bis zum Ende zuzuhören, ohne ihnen mit Pauscha lisier ungen und vorschnellen Urteilen zu begegnen. Dabei zeigt sich eine naheliegende Tendenz, die mit einer Betonung des Hörens im Raum des Politischen einhergeht: Sie neigt dazu, auf den unmittelbaren kommunikativen Austausch unter Gleichen – oder: unter Menschen als Gleiche – zu fokussieren. Aber kann die Frage, was eine »hörende« Haltung gegenüber dem Anderen sein könnte, ohne die Thematisierung von Rederechten, Institutionen etc. auskom men? Für Barber liegt die Sache gerade andersherum; er ist hier sehr deutlich: Die Beru fung auf das Hören soll gerade als Antidot gegen eine liberalistische Philosophie fungieren, die auf Rechte, formale Gleichheit und klare institutionelle Strukturen setzt und die auf diese Weise Machtdifferenzen perpetuiert, statt sie in Frage zu stellen. Man kann also nicht sagen, dass hier Machtfragen ausgeblendet werden, denn Rechte, auch Sprechrechte, sind aus dieser Perspektive vor allem Durchsetzungsmechanismen, wogegen die Sensibilität des Hörens als Korrektiv eingesetzt werden soll. Es erscheint hier als machtlose Gegenmacht in einer ausschließlich auf das Sprechen und das Durchsetzen der eigenen Stimme setzenden Gesellschaft, die zu einer Art diskursiven Wettkampfarena, eines »war of all against all carried on by other means« 70 mutiert. Selbst wenn es nicht für einen Umgang miteinander steht, bei dem Sensibilität gleichbedeutend mit Konfl iktfreiheit zu sein scheint, hat das Hören hier einen deutlichen antiinstitutionellen Impuls oder wird doch als Komplement und Korrektiv von Institutionen ausgezeichnet, ohne das diese zu leeren Hüllen oder differenzblinden Maschinerien zu werden drohen. 67
S. Bickford, The Dissonance of Democracy – Listening, Confl ict, and Citizenship, Ithaca 1996,
68
Ebd., 168. Ebd., 186. Barber, Strong Democracy, 175.
19. 69 70
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In die Richtung eines sowohl harmonistischen als auch auf direkte Kommunikation setzenden Verständnisses scheint auch Les Back zu gehen, wenn er schreibt: »The Art of Listening is an invitation to engage with the world differently, without recourse to arrogance but with openness and humility.« 71 Genauer betrachtet triff t das nicht ganz zu, und es zeigt sich ein deutlich differenzierteres Bild; es ist aber doch bemerkenswert, dass auch Back sich entscheidet, sein Buch mit diesem Stereotyp zu beginnen. Es stellt vor allem die Selbstreflexion eines Soziologen über die empirische Arbeit dar, der er allerdings eine deut liche politische Aufgabe zuschreibt. Soziologisch betrachtet ist die Vorstellung naiv, man müsse letztlich nur das aufzeichnen, was die untersuchten Subjekte über ihre eigene Situation zu sagen haben, denn »the up-close worlds that people experience combine insight with blindness of comprehension and social deafness« 72 . Von daher kann Hören nicht gleichbedeutend mit der Enthaltung von jeglichem eigenen Urteil und eigener Interpretation sein, sondern ist als Verpfl ichtung auf Geduld, Aufmerksamkeit und kritisches Bewusstsein zugleich zu verstehen, die auf eine theoretisch reichhaltige dichte Beschreibung zielen. In einem seiner Kapitel geht es dabei um Hören in einem ganz realen Sinne, nämlich um die Aufnahme und Interpretation der Klänge Londons; auf der anderen Seite beschreibt er ein Projekt zur Straßenfotografie als »listening with the eye«73, womit er ganz auf die Seite des Hörens als Figur fällt. Ein politisches Projekt ist diese Form des soziologischen Forschens und Schreibens, weil sie auch denen eine Stimme – »voice« in Couldrys Sinne – verleiht, die sonst nicht gehört werden, und als »political intervention that realizes the limits of writing and the complexities of dialogue and listening«74 die Ohren für die Komplexität der verschiedenen Perspektiven öff net. Eine direkte Intervention in aktuelle Fragen kann diese Praxis allerdings nicht sein, zum einen weil sie schlicht zu langsam ist und zum anderen weil die Steigerung der Komplexität der soziologischen Forschung angemessen, allerdings nur schwer vereinbar mit der Notwendigkeit ist, in konkreten Situationen zu handeln. Die Notwendigkeit, gesteigerte Sensibilität mit der Notwendigkeit auszubalancieren, Entscheidungen zu treffen und zu handeln, ist dabei auch jenseits soziologischer Forschung eine der Grundfragen, die sich eine auf das Hören setzende Politik aussetzt. Leah Bassel stellt – von ihren Schwierigkeiten mit der Formulierung einer »Kunst« des Hörens abgesehen – an Back die naheliegende Frage, ob wir nun alle zu Soziologen werden sollen oder, weniger plakativ, ob die reflektierte Perspektive der Soziologin als Idealbild für das Selbstverhältnis und das Handeln sozialer Akteure taugt, was ihr nicht recht einleuchtet.75 Das führt aber auch auf die recht L. Back, The Art of Listening, Oxford u. New York 2007, 4. Ebd., 11. 73 Ebd., 97 ff . 74 Ebd., 162. 75 Vgl. L. Bassel, The Politics of Listening – Possibilities and Challenges for Democratic Life, London 2017, 4 f. 71
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grundsätzliche Frage, wer hier eigentlich hören soll. Backs Buch ist in erster Linie eine soziologische Selbstreflexion, und der Hörende ist hier zuerst einmal der Soziologe selbst. Seine Arbeit besteht aber darin, denjenigen, mit denen er zu tun hat, eine durch sein Schreiben vermittelte Stimme zu geben, die von anderen gehört werden müsste – aber wem? Und mit welchem Ergebnis? Bassel unterscheidet an dieser Stelle horizontalen von vertikalem Austausch: Während es im ersten Fall um ein Hören von Einzelnen oder Gruppen untereinander geht (und mit Horizontalität ausdrücklich nicht Gleichheit oder die Abwesenheit von Machtdifferenzen suggeriert werden soll), steht bei letzterem das Hören der politisch und wirtschaftlich Mächtigen zur Debatte. Dabei ist es durchaus nicht so, dass das »horizontale« Hören hier die unproblematische Seite ist: Bassels Beispiele aus der eigenen Arbeit als Sozialarbeiterin und Aktivistin zeigen das Gegenteil. Besonders anschaulich ist der Fall der Auseinandersetzung von Flüchtlings- und indigenen Aktivisten in Kanada, also von zwei gleichermaßen, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise rechtlosen Gruppen, deren politische Kämpfe sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, wenn sie nicht sogar in aktive Gegnerschaft führen. Bassel beschreibt, wie das Hören auf die Positionen und Geschichte(n) der jeweils anderen Seite die Slogans und Ziele der politischen Arbeit transformiert hat. Entscheidend war dabei ein vollkommen unterschiedliches Verhältnis zu Land und Grenzen, und die Flüchtlingsaktivisten mussten verstehen, »how their calls for ›open borders‹ may undermine struggles for title and against land loss, struggles to reclaim land and nation, and create divisions between communities already marginalised« 76. Unter solchen Bedingungen Solidarität herzustellen kann nicht auf »Verständigung« oder »Aushandeln« von Positionen reduziert werden, sondern erfordert ein Zuhören, das die eigene Position grundsätzlich in Frage zu stellen bereit ist und das nicht auf eine vage Offenheit für den Anderen reduziert werden kann. Die Differenziertheit des Zuhörens besteht hier darin, die jeweilig andere Sichtweise als nicht nur legitime, sondern für die Position des Anderen konstitutive zu erkennen und anzuerkennen. Die gerade in Kanada geläufige Evokation einer multikulturellen Gesellschaft, an der beide Gruppen teilnehmen können, deckt diese Probleme zu, statt sie ernst zu nehmen. Weitere wichtige Ansatzpunkte sind für Bassel die Unruhen in Paris 2005 und in London 2011, bei denen die Fragen bereits bei der Benennung der Ereignisse und Beteiligten anfangen: In England war selbstverständlich von »riots«, also Krawallen und nicht etwa Aufständen die Rede, die von Kriminellen, »pure and simple« (David Cameron), getragen worden seien, in Frankreich von »émeutes«, was auch Aufstand heißen kann, wobei der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy die Beteiligten zuvor als »racailles«, also Pack oder Abschaum bezeichnet und vorgeschlagen hatte, die entsprechenden Stadtviertel mit dem Kärcher zu säubern. Es ist nicht abwegig, die Unruhen selbst als Versuch bestimmter Bevölkerungsgruppen 76
Ebd., 77.
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zu verstehen, sich Gehör zu verschaffen, denn, wie Stafford Scott es ausdrückte: »We are only remembered when we riot.«77 Hier wird ein weiterer wichtiger Punkt deutlich, nämlich der, als wer die Betroffenen gehört werden wollen und als wer sie tatsächlich gehört werden. Susan Bickford hält fest, dass man dies im politischen Geschehen niemals kontrollieren kann – im »interactive field of listening« können diejenigen, die die Stimme erheben, auch vollkommen verzerrt oder überhaupt nicht wahrgenommen werden.78 Die mediale Berichterstattung der Unruhen war in beiden Fällen extrem einseitig, und die Zeit währenddessen und danach war geprägt vom fast aussichtslosen Kampf der Betroffenen, auf andere Weise wahrgenommen zu werden. Die Media and the Riots-Konferenz später im selben Jahr, bei der Scott den oben zitierten Satz äußerte und im Anschluss an die Bassel einen ausführlichen Bericht verfasste, war einer der Versuche, unter Beteiligung der Betroffenen ein differenzierteres Bild der Ereignisse und ihrer langen Vorgeschichte zu bekommen und die Medien zu einem selbstkritischen Blick zu veranlassen.79 Ging es im vorigen Fall um die gegenseitige Wahrnehmung und die Möglichkeit gemeinsamer politischer Arbeit zweier Gruppen, ist es hier eher die öffentliche Wahrnehmung und die Frage, inwiefern die Betroffenen von der Politik gehört werden. Dabei spielen natürlich die Medien eine wichtige Rolle. Die Zeit ist noch nicht lange vorbei, in der das Internet, die sozialen Medien etc. als uneingeschränkte Bereicherungen des öffentlichen Diskurses gesehen wurden, als Möglichkeiten für viele, ihre Stimmen hörbar und ihre Perspektiven und Bedürfnisse sichtbar werden zu lassen. Mittlerweile hat sich ein deutlich skeptischerer Grundton durchgesetzt: In unserem Zusammenhang könnte man fragen, ob wirklich damit zu rech nen ist, dass neue Äußerungsformen auch »new intensities of listening« hervorbringen, wie Couldry hoff t, denn, wie er formuliert: »Governments cannot any longer say they don’t hear.« 80 Tatsächlich nicht? Die Kultur des Hörens und Zuhörens, um die es hier geht, ist offenbar kein automatisches Nebenprodukt einer Vervielfältigung von Äußerungsmöglichkeiten.81 Der »citizen journalism«, von Zit. ebd., 37. Der Extremfall, dass ihr Sprechen überhaupt nicht als intelligible Rede gehört wird, bildet bekannt lich den Ausgangspunkt von Rancières politischer Philosophie. Vgl. J. Rancière, Das Unvernehmen – Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 2002. 79 Man könnte hier auch an die in verschiedenen Ländern eingerichteten Wahrheitskommissionen den ken, die sich mit systematischen Gewaltverhältnissen und Verbrechen weit größeren Ausmaßes beschäftigt haben und bei denen es wesentlich um Erzählen und Hören geht (und nicht um straf recht liche Verfolgung, politische Reform oder eine Veränderung ökonomischer Verhältnisse, was offensichtlich eigene Probleme mit sich bringt). Zur südafrikanischen Truth and Reconciliation Commission vgl. C. Grüny, »Widerstreit, Wahrheit, Versöhnung. Lyotard und die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission«, in: B. Liebsch, J. Straub (Hg.), Lebensformen im Widerstreit. Integrations- und Identitätskonfl ikte in pluralen Gesellschaften, Frankfurt/M. 2003, 525‒556. 80 Couldry, Why Voice Matters, 140 f. (Hervorhebung getilgt). 81 Für eine detaillierte historische und systematische Auseinandersetzung mit der Rolle von Medien und Öffentlichkeit unter der Perspektive des Hörens vgl. K. Lacey, Listening Publics – The Politics and Experience of Listening in the Media Age, London 2013. 77 78
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dem Bassel spricht, ist nicht einfach identisch mit der Masse des im Netz Veröffentlichten, wenn man es noch so nennen will, sondern fi ndet in zwar loser, aber doch organisierter Form statt und interveniert gezielt in Diskurse und Berichte, indem er deren Einseitigkeiten um andere Perspektiven, historische Tiefe und Verschwiegenes wie etwa Nachweise für Übergriffe staatlicher Organe ergänzt. Anders wird diese Form des Bürgerjournalismus kaum Gehör fi nden. Dabei bleibt die Frage, was genau damit gemeint sein kann, dass die Regierung »hört«. Andrew Dobson unterscheidet drei Ebenen, nämlich diejenige der direkten Kommunikation der sogenannten Volksvertreter mit denjenigen, die sie repräsentieren, die des Austauschs von Politikern untereinander abseits der öffentlichen Arenen und schließlich eben die, wo die Regierung auf die Bevölkerung hört, und fragt, wie auf allen diesen Ebenen eine Kultur des Zuhörens nun doch institutionalisiert werden kann.82 Während er in den ersten beiden Fällen wenig mehr als zwar plausible, aber doch eher hilflose Empfehlungen an Politiker zu bieten hat, die Fähigkeiten des Zuhörens systematisch zu schulen und die Parteiendisziplin nicht über den offenen direkten Austausch zu stellen, bezieht er sich in Bezug auf die letzte Ebene auf ein modellhaftes Projekt, GMNation?, in dem in aufwendigen Verfahren unter systematischer Bürgerbeteiligung eine Verständigung über die Zulassung gentechnisch veränderter Pfl anzen in Großbritannien stattfand.83 Ähnlich wegweisend erscheint mir die irische Citizens Assembly.84 Dass derartige Verfahren sich allgemein durchsetzen, ist allerdings kaum in Sicht. Iris Marion Young hat sicher recht, wenn sie an die Grenzen der Institutionalisierung erinnert: »No rules or for ma lities can ensure that people will treat others in the political public with respect, and really listen to their claims.« 85 Damit formuliert sie einen Einwand gegen ein formalistisches Verständnis politischer Prozesse, bestreitet aber nicht die Möglichkeit oder Notwendigkeit, Verfahren zu etablieren, in denen Zuhören und Gehörtwerden zumindest wahrscheinlicher sind. Die Kultur oder das Kultivieren des Zuhörens als Haltung im Politischen, ohne die es nicht gehen wird, sind auf sensible soziologische Forschung ebenso angewiesen wie auf eine kritische Aufmerksamkeit auf mediale Darstellungen und Beteiligung an ihnen und die Erfi ndung und Durchsetzung von Formen des Austauschs, die sie begünstigen.
V. Schluss Das Hören im Politischen und das in der Musik sind nicht identisch, natürlich nicht. In beiden Fällen geht es aber unvermeidlich um ein je neu auszutarierendes Verhältnis zwischen der realen Sinnlichkeit und der Figur einer Sensibilität, die für 82 A. Dobson, Listening for Democracy – Recognition, Representation, Reconciliation, Oxford 2014, Kap. 6: Institutionalizing Listening. 83 Ebd., 188 ff . 84 https://www.citizensassembly.ie/en/ (zuletzt abgerufen 1. 9. 2017). 85 I. M. Young, Inclusion and Democracy, Oxford 2000, 57.
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Offenheit und Differenziertheit steht, und um die Spezifität und den Gehalt dieser Offenheit und Differenziertheit. Und stets besteht dabei die Versuchung, in eine Idealisierung des Hörens zu verfallen, die ihm zu viel zumutet oder es als eine Art Allheilmittel gegen eine Welt in Anschlag bringt, in der das Sehen alles dominiert bzw. alle sprechen, aber niemand zuhören will. Der salbungsvolle Ton, der sich hier in vielen Fällen einstellt, ist verräterisch. Dabei fungiert das Hören auch diesseits dieses Überschwangs sowohl als Modus der Zuwendung zur Welt und zum Anderen als auch als richtige, gute, sensible Form dieses Modus. Die Unterscheidung zwischen einem von eigenen Vorurteilen und Schematisierungen gepräg tem und einem offenen Hören, das bereit ist, sich transformieren zu lassen – Dobson spricht hier in Anlehnung an Leonard Waks von »cataphatic« und »apophatic listening« 86 –, ist nicht immer explizit, denn das Hören selbst scheint für Letzteres einstehen zu können. Die Gefahren liegen hier im Politischen im hilflosen Appell und in der Musik zwischen einer harschen, selbst politisch aufgeladenen Normativität und dem esoterischen Überschwang, mit dem ich diesen Text eröff net habe. Überdies muss man sich offenbar vor zu großer Abstraktheit hüten. Barber hatte eine »listening citizenry« gefordert – eine sympathische Vorstellung, gegen die sich kaum etwas einwenden lässt. Vor allem Leah Bassels Beispiele zeigen aber, dass es mit einer allgemeinen Haltung nicht getan ist, weil jeweils sehr unterschiedliche Herausforderungen im Spiel sind, verschiedene Ausgangslagen und teilweise extreme Widerstände, die zu überwinden sind. Auch wenn es hier um etwas ganz anderes geht, gilt für die Musik ähnliches: Die merkwürdige, immer wieder erhobene Forderung, man müsse nur die entsprechende Offenheit mitbringen, dann erschlössen sich auch die fremdesten Musikformen, unterschlägt die Voraussetzungshaftigkeit jedes musikalischen Hörens. Sieht man sich allerdings das teils aggressive Unverständnis an, mit dem der Neuen Musik vielfach begegnet wird, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es hier um mehr geht als um »bloße« Musik, nämlich um Selbstverständnisse, die durchaus politische Relevanz haben können. Vielleicht kann man es so sagen: Offenheit ist anstrengend, und Differenziertheit muss jeweils neu gelernt werden. Oder auch, noch kürzer: Hören ist Arbeit. Trotzdem kann nicht geleugnet werden, dass auch die maßlose Überlastung des Hörens an Eigenschaften ansetzt, die es in der Tat auszeichnen. Wenn, um ein letztes Mal Corradi Fumara zu zitieren, Hören bedeuten soll, »welcoming nascent thought before it is irremediably ›shaped‹ by culture« 87, dann ist das offenbar überzogen. Dennoch könnte man sagen, dass das Hören der Sinn ist, für den der Überschuss jedes Erscheinens, jeder Äußerung und jeder Darstellung über das jeweils Verstehbare, also kulturell und gesellschaftlich Approbierte und den eigenen Vorstellungen Entsprechende, besonders deutlich ist. Wenn das Hören von einem Immer-schon-zu-spät-Kommen geprägt ist, bietet es etwas an, auf das zurückgekommen werden kann und muss, weil der aufgefasste Sinn sich nicht bei sich 86 87
Vgl. Dobson, Listening for Democracy, 66 ff. Corradi Fiumaram, The Other Side of Language, 158.
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beruhigen kann. Jene vorgängige Offenheit, die nie vollständig in die Formen des Sagbaren und Verstehbaren gebracht werden kann und die für leibliche Wesen insgesamt in Anschlag gebracht werden muss, fi ndet sich hier in der zeitlichen Struktur des Sinnes selbst verkörpert und ist insofern direkt erfahrbar. Das Gleiche gilt für seine Offenheit für die Zukunft: Hören bedeutet weiter Zuhören, weil es keinen wirklichen Abschluss hat und das Gehörte keine Sache ist, die als fertige ad acta gelegt werden kann oder auf die man beliebig zurückkommen kann. Gesagtes und Gespieltes können wiederholt werden, aber das Sagen und Spielen lassen sich nicht reproduzieren, sondern müssen jetzt gehört werden. Susan Bickford spricht im Hinblick auf soziales Handeln und Kommunikation von einem »underlying guide of keeping the field of action open, to act in a way so that future action is possible, so the field of freedom is maintained or expanded« 88. In gewisser Weise ist das tatsächlich nichts anderes, als sich aus den Notwendigkeiten des ganz realen Sinns Hören ergibt: Die Ohren bleiben offen, das Hörbare ist nie zu Ende.
88
Bickford, The Dissonance of Democracy, 170.
Zur politischen Stim mlichk eit Ästhetische Perspektiven aus der Dialogphilosophie Martin Bubers1 Lisz Hirn
Das Selbst der lebendigen Gegenwart ist ursprünglich eine Spur.2 Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren, solange nämlich, ohne ihr eigenes Zutun nur die einmalige Gestalt ihres Körpers und der nicht weniger einmalige Klang der Stimme in Erscheinung traten.3
Im Anfang war nicht das Wort, sondern die Stimme. Unter dieser Prämisse versuche ich im Folgenden einen kurzen Blick auf das Phänomen »politischer Stimmlichkeit« aus der Perspektive der Dialogphilosophie zu werfen. Diese möchte bekanntlich die neuzeitliche Vorherrschaft des Subjekts in den Diskursen abendländlicher Philosophie durchbrechen, indem Dialogphilosophie darauf hinweist, dass der Ausgangspunkt der Welterschließung nicht das »Ich«, sondern vielmehr das »Du« ist. »Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts IchDu und das Ich des Grundworts Ich-Es. Wenn der Mensch Ich spricht, meint er eins von beiden. […] Wer Du spricht, hat kein Etwas zum Gegenstand. Denn wo etwas ist, ist anderes etwas, jedes Es grenzt an andere Es, Es ist nur dadurch, dass Es an andere grenzt. Wo aber Du gesprochen wird, ist kein Etwas. Das Du grenzt nicht.«4 Der Unterschied zwischen Du und Es ist laut Buber der zwischen Gegenwart und Gegenstand, zwischen Resonanz und Verstummen. Dieser Beitrag will zeigen, dass die »dialogische« Beziehung nach Buber auch wesentlich am Phänomen der Stimmlichkeit, insbesondere der politischen Stimmlichkeit, wahrnehmbar wird. »Ich bin nicht nur aktiv, wenn ich spreche, sondern ich eile meiner Rede im Zuhören des Anderen voraus; ich bin nicht passiv, wenn ich zuhöre sondern ich spreche gemäß dem… was der Andere sagt.« 5 Die Stimme ist ‒ wie der Mensch selbst ‒ »zwiefältig«. »Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung.« 6 Und diese »Beziehung« setzt immer schon die leibliche ResoDieser Beitrag geht auf einen Vortrag im Rahmen meines Forschungsprojekts »Dialogue and Social Empowerment« am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover (fiph) im Dezember 2016 zurück. 2 J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/M. 2003, 115. 3 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 102011, 219. 4 M. Buber, Ich und Du, Stuttgart 1995, 4 ff . 5 M. Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, München 1993, 158. 6 Buber, Ich und Du, 5. 1
ZÄK-Sonderheft 17 · © Felix Meiner Verlag 2018 · ISBN 978-3-7873-3425-4
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nanzsensibilität des sprechenden »Ich« und des anderen, des hörenden »Du«, voraus. Diese Voraussetzung hat Folgen, unter anderem stellt sie uns die Fragen, wie und in welchen Modi Stimmlichkeit in »Erscheinung« tritt, ob die ästhetische für die politische Stimmlichkeit eine Rolle spielt und inwiefern sich durch die »schöne Stimme« die Resonanzsensibilität der Weltbeziehung, also die politische Sensibilität, erhöhen bzw. reduzieren lässt.
I. Der Schrei als erste Selbstaffektion Die Stimme ist ein Phänomen im phänomenologischen Sinne: Sie ist eine Erscheinung, ein mit den Sinnen wahrnehmbares einzelnes Ereignis und sie hat eine Urauff ührung, die Geburt. Der erste Schrei markiert unseren Eintritt in die soziale Welt, in der wir nun unsere Bedürfnisse und Gefühle bemerkbar machen, unser Wohlsein und unser Unbehagen. Es ist plausibel, dass das Neugeborene »[…] im Austausch gegen die Blutkommunion nicht nur die Atmung, sondern auch einen post-uterinen Gebrauch der Stimme hinzuerobert; durch diese übt es seine Macht, sich seiner Mutter im Bedürfnisfall beharrlich hörbar zu machen«.7 Vor allem macht es sich aber sich selbst gegenüber hörbar. Die Stimme ist immer schon rückbezüglich. Wir bemerken uns zuerst durch unsere eigenen Geräusche und indem wir diese modifi zieren lernen, kommen wir zum Bewusstsein unserer Stimme und der darin liegenden Möglichkeit zur Partizipation. Rancière hat Unrecht, wenn er meint, die Stimme würde einfach nur »anzeigen«, während der Logos (im Sinne von Sprache) »offen legt«.8 Der Logos ist vielmehr eine Folge unserer Stimmbeherrschung und unseres wachsenden Selbstbewusstseins, keineswegs ihr Ursprung. Derrida beschreibt die Operation des »Sich-sprechen-hörens« als eine Selbstaffektion von einer absolut einmaligen Art. Wenn ich spreche, dann gehört es zu meinem phänomenologischen Wesen dieser Operation, dass ich mich während ich spreche, (L. Hirn: meine Stimme) höre.9 Was aber höre ich, wenn ich meine Stimme höre? Zeigt nicht die stimmliche Lautspur die Gegenwärtigkeit meines Leibes an? Was ist denn diese Stimme, die immer schon auf andere Stimmen verweist? Die Stimme ist kein Organ des Menschen, sie existiert eigentlich nicht, sie erscheint, wenn wir Töne erzeugen. Der Ursprung eines jeden Tons unserer Stimme ist wiederum das Atmen - genauer gesagt das Ausatmen. Da beim Erzeugen der Töne verschiedene Muskeln und Körperteile des Menschen zusammenspielen müssen, ist sie auch kein geschaffenes Werkzeug des homo faber, sondern unserer spezifi sch anthropologischen Physiologie geschuldet. Sie macht zusammen mit Mimik und Gebärden die »psychosomatische« Seite einer Rede aus und ist somit am
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P. Sloterdijk, Sphären. Mikrosphärologie. Band I. Blasen, Frankfurt/M. 1998, 399. J. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 62016,14 f. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 103 ff.
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Zustandekommen von Bedeutung, Verständnis und Authentizität wesentlich beteiligt. Nicht nur, dass man sich mit der Stimme selbst enthüllen kann, man kann seine Stimme abgeben oder jemand anderem eine Stimme geben, eine Stimme haben, aber auch sein Stimmrecht verlieren. »Das Risiko, als ein jemand im Miteinander in Erscheinung zu treten, kann nur auf sich nehmen, wer bereit ist, in diesem Miteinander auch künftig zu existieren, und das heißt bereit ist, im Miteinander unter seinesgleichen sich zu bewegen, Aufschluss zu geben darüber, wer er ist, und auf die ursprüngliche Fremdheit dessen, der durch Geburt als Neuankömmling in die Welt gekommen ist, zu verzichten.«10 So bildet die Stimme nicht nur die Grundlage zur politischen, sondern auch sozialen Teilhabe des Neuankömmlings, der ursprünglich aus einem »vokalen Matriarchat«11 kommt. Mit dem ersten Laut unserer Stimme kommen wir zur Welt und zeigen uns an, noch bevor wir die Welt visuell oder kognitiv begreifen können. »Das Mitsichanfangen, von dem hier die Rede ist, bedeutet buchstäblich: Sichanfangen. Man muß diese Redewendung hören, als hieße sie: Sichscharfmachen, wie eine Bombe; Sich-zururauff ührungbringen, wie ein noch nie gespieltes Stück; Sichstarten, wie den Prototypus eines nur einmal vorhandenen Fahrzeugs; Sichentsichern, wie eine Waffe; Sichöff nen, wie ein bisher unertragbares Gewicht, das mit einem Mal doch zur Hochstrecke gebracht wird.«12 Der Laut kommt vor dem Gedanken, vor dem Wort, vor dem Anderen, aber er ist immer schon auf ein »Du« gerichtet. »Draußensein heißt Rufenkönnen; ich rufe, also bin ich; Dasein bedeutet von diesem Moment an im Erfolgsraum der eigenen Stimme existieren. So setzt die Symbolgenese, wie auch die Ichbildung, durch Stimm>>bildung