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German Pages 362 [364] Year 2016
Christian Seidel Selbst bestimmen
Ideen & Argumente
Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Thomas Schmidt
Christian Seidel
Selbst bestimmen
Eine philosophische Untersuchung personaler Autonomie
ISBN 978-3-11-047327-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047427-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047420-6 ISSN 1862-1147 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Umschlagkonzept: +malsy, Willich Druck und Bindung: Hubert und Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Eine Arbeit über Selbstbestimmung zu schreiben kann auch zur Herausforderung für die eigene Selbstbestimmung werden. Dass es dennoch zu einem gutem Ende gelangt ist, verdankt sich ironischerweise gerade nicht mir selbst, sondern einer Vielzahl anderer Personen. An erster Stelle möchte ich meiner Betreuerin Monika Betzler von ganzem Herzen für die fachliche und persönliche Unterstützung danken, die das, was man sich an Inspiration und Bestärkung erhoffen darf, bei Weitem übertrifft. So mancher Knoten in meinem Kopf hat sich erst dank ihrer Hinweise und Nachfragen gelöst. Besonders dankbar bin ich auch Gerhard Ernst – nicht nur für ein scharfsinniges Zweitgutachten und zahlreiche kluge Ratschläge während der Entstehungsphase dieser Arbeit, sondern vor allem für seine langjährige Unterstützung und seinen freundschaftlichen Rat, wenn mir der philosophische Überblick zu entgleiten drohte. Und schließlich gäbe es diese Arbeit vermutlich gar nicht, wenn Erich Ammereller nicht einst mein Interesse an Fragen der Selbstbestimmung geweckt hätte. Durch das, was ich über mehrere Jahre von ihm lernen durfte, ist diese Arbeit gereift. Großen Dank schulde ich auch Kirsten Meyer und Holger Baumann, die das gesamte Manuskript anlässlich eines Symposiums kritisch kommentiert und damit entscheidend dazu beigetragen haben, dass ich mir klarer darüber geworden bin, was ich eigentlich sagen wollte. Überhaupt sähe diese Arbeit wohl sehr anders aus, wenn Holger mir nicht zuvor in zahlreichen Diskussionen die Augen für die Vielschichtigkeit des Phänomens personaler Autonomie geöffnet hätte. Dafür danke ich ihm herzlich. Sehr hilfreiche Hinweise kamen auch von Paulus Kaufmann, der große Teile des Manuskripts gelesen und auf genaue wie weitsichtige Weise kommentiert hat. Außerdem danke ich zwei anonymen Gutachterinnen oder Gutachtern für weitere hilfreiche Hinweise zum Manuskript, Wilfried Hinsch und Thomas Schmidt für die Aufnahme meines Buches in die Reihe „Ideen & Argumente“ und Nancy Christ, Johanna Wange sowie Gertrud Grünkorn vom De Gruyter-Verlag für die gute Zusammenarbeit und Betreuung. Darüber hinaus haben zahlreiche Diskussionen mich auf neue Ideen gebracht, vor mancherlei groben Schnitzern bewahrt und mir dabei geholfen, meine Gedanken klarer auszudrücken. Dafür möchte ich mich bedanken bei Maike Albertzart, Christoph Baumberger, Susanne Boshammer, Michael Bratman, Georg Brun, Christian Budnik, Sarah Buss, Nils Carqueville, Stephen Darwall, Sabine Döring, Dina Emundts, Wolfgang Freitag, Jan Gertken, Benedikt Kahmen, Wulf Kellerwessel, Benjamin Kiesewetter, Andreas Maier, Erasmus Mayr, Christian Neuhäuser, Martin Rechenauer, Peter Schaber, Thomas Schmidt, Stephan Sellmaier, Ralf Stoecker, Konstantin Weber, Ulla Wessels und Hartmut Westermann. Der Studienstiftung
VI | Vorwort des deutschen Volkes und insbesondere Eva Boesenberg danke ich herzlich für die Förderung und Unterstützung während der Arbeit an der Dissertation. Für liebevollen Zuspruch, geduldigen Rückhalt und noch viel mehr gilt mein größter Dank aber der Person, ohne die nichts so schön wäre, wie es ist: Ulrike. Erlangen, Dezember 2015
Christian Seidel
Inhalt Vorwort | V Verzeichnis der Übersichtsdarstellungen | XI Einleitung | 1 Worum es (nicht) geht | 1 Was folgt | 4
Teil I: Das Problem 1 1.1 1.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4 1.5 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.6.1 2.6.2
Die philosophische Aufgabe | 11 Wie Autonomie untersuchen? Über den Zugang zur Autonomie | 11 Warum Autonomie untersuchen? Über praktische Erkenntnisinteressen | 16 Was an Autonomie untersuchen? Vier Perspektiven auf Autonomie | 21 Ein Schema zur Systematisierung | 22 Das Verhältnis der vier Perspektiven | 26 Ein methodischer Einwand: ein Begriff? | 31 Was eine Autonomiekonzeption leisten muss | 36 Das Rätsel personaler Autonomie | 38 Autonomie und das Selbst | 38 Autonomie und die (äußere) Welt | 41 Das Selbst und die (äußere) Welt | 45 Ein Trilemma | 50 Die therapeutische Lösungsstrategie | 54 Die skeptische Lösungsstrategie | 56 Die erste Spielart des Zweifels: radikales Weltverhältnis | 57 Die zweite Spielart des Zweifels: radikales Selbstverhältnis | 59
VIII | Inhalt
Teil II: Ansätze zur Lösung des Problems 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.5.1 3.5.2 3.6
Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien | 67 Das internalistische Projekt | 67 Frankfurt und das Autoritätsproblem | 72 Watson und das Abgrenzungsproblem | 76 Bratman und das Problem motivierender Transparenz | 83 Internalismus unter den vier Perspektiven | 90 Die lokale, erstpersonale Perspektive | 90 Die globale Perspektive | 95 Das grundsätzliche Problem des Internalismus | 97
4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.5 4.6
Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien | 99 Das externalistische Projekt | 99 Substanzielle Konzeptionen: Objektivität | 107 Das Konfundierungsproblem | 109 Das Problem mit der Individualität | 112 Optionsbasierte Konzeptionen: wertvolle Optionen | 114 Die explanatorische Priorität des Innenlebens | 116 Resilienz und fetischisierte Offenheit | 117 Die innere Reaktion auf Autonomieverluste | 119 Historische Konzeptionen: Unabhängigkeit | 121 Das Begründungsproblem | 122 Nochmals: die Herausforderung der inneren Perspektive | 127 Soziale Konzeptionen: Beziehungen | 131 Das grundsätzliche Problem des Externalismus | 137
5
Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien | 140 Das interaktionalistische Projekt | 140 Die konjunktive Variante des Interaktionalismus | 147 Am internalistischen Pol | 148 Am externalistischen Pol | 153 Zwischen den beiden Polen | 156 Die Schwierigkeit des konjunktiven Interaktionalismus | 159 Die ausgefeilte Variante des Interaktionalismus | 161 Das interaktionale Weltbild | 161 Sozial konstituierte, selbstbezogene Einstellungen | 167 Die Praxis sozialer Interaktionen | 174 Innere Offenheit für die äußere Welt | 178
5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4
Inhalt
5.3.5 5.4
| IX
Die Schwierigkeiten des ausgefeilten Interaktionalismus | 183 Das grundsätzliche Problem des Interaktionalismus | 185
Teil III: Eine normative Konzeption personaler Autonomie 6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.2.1 6.2.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.4 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.5.4
Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff | 189 Die Normativitätsthese | 189 Ein dicker normativer Begriff | 190 Autonomie als eine Form praktischer Autorität | 195 Die grundlegende Form und Funktion des Autonomiebegriffs | 203 Eine Präzisierung der Normativitätsthese | 204 Die Normativitätsthese unter den vier Perspektiven | 204 Was die Normativitätsthese nicht besagt | 209 Argumente für die Normativitätsthese | 214 Vorteile der Normativitätsthese | 222 Verteidigung der Normativitätsthese gegen Einwände | 226 Die Transformation des Problems | 235 Die Lösungsansätze im Lichte der Normativitätsthese | 238 Der Internalismus im Lichte der Normativitätsthese | 239 Der Externalismus im Lichte der Normativitätsthese | 243 Der Interaktionalismus im Lichte der Normativitätsthese | 251 Was noch zu zeigen ist | 257
7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.3 7.4 7.5 7.5.1 7.5.2 7.5.3
Normative Bedingungen personaler Autonomie | 259 Das grobe Bild | 259 Die ontogenetische Überlegung | 261 Das normative Können | 265 Die Bedingungen personaler Autonomie | 271 Mündigkeit | 274 Wehrhaftigkeit | 276 Mitsprache | 279 Die normative Relevanz der Bedingungen | 282 Drei Ergebnisse | 289 Die Flexibilität der Bedingungen | 291 Das persönliche Ideal der Autonomie | 299 Die Adäquatheit der normativen Konzeption | 308 Die Immunität gegen die Probleme der Standardstrategien | 309 Die Schärfung des Begriffs | 312 Die Bewährungsprobe an den praktischen Interessen | 318
X | Inhalt 7.5.4 7.5.5
Die Systematisierung des Gegenstands | 320 Die Lösung des Rätsels personaler Autonomie | 321
Zusammenfassung | 324 Rückblick | 324 Ausblick | 327 Literaturverzeichnis | 329 Personenregister | 341 Sachregister | 345
Verzeichnis der Übersichtsdarstellungen Tabellen 1.1 5.1 6.1
Vier Blickwinkel auf personale Autonomie | 25 Zuordnung von interaktionalistischen Positionen | 147 Vier Normativitätsthesen | 208
Thesen und Schemata Das Rätsel personaler Autonomie | 50 Das Grundschema der Analyse des Begriffs Autonomie | 69 Das internalistische Schema | 70 Das externalistische Schema | 102 Das interaktionalistische Schema (konjunktive Variante) | 142 Das interaktionalistische Schema (ausgefeilte Variante) | 144 Die Normativitätsthese (erste Näherung) | 195 Die Normativitätsthese (erste Präzisierung) | 203 Die Normativitätsthese (vollständiges Schema) | 208 Die normative Konzeption personaler Autonomie (erste Näherung) | 261 Die Semantik des normativen Könnens (kannnormativ ) | 269 Die normative Konzeption personaler Autonomie (erste Präzisierung) | 270 Die normative Konzeption personaler Autonomie (zweite Präzisierung) | 290 Die normative Konzeption personaler Autonomie (dritte Präzisierung) | 298 Die normative Konzeption personaler Autonomie (Endfassung) | 304 Die Lösung des Rätsels personaler Autonomie | 323
Einleitung Worum es (nicht) geht Die meisten Personen stellen sich irgendwann eine oder mehrere der folgenden Fragen: Was will ich eigentlich wirklich? Lebe ich mein Leben nach meinen eigenen Grundsätzen oder folge ich fremden Rollenbildern? War es wirklich ihre eigene Entscheidung oder ließ sie sich nur tätowieren, um dazuzugehören? Drückt diese Verfügung den wahren Willen der Patientin aus? Ist das seine eigene politische Meinung oder übernimmt er nur die Ansicht seiner Freunde? War das wirklich noch er, der diese grauenvolle Tat beging – oder hatte die Drogensucht von ihm Besitz ergriffen? Will ich eigentlich so viel arbeiten oder hat sich der Ehrgeiz in mir verselbstständigt? Hat man nicht subtil Druck auf den greisen Eigentümer ausgeübt, seine Anteile zu verkaufen? Kann ich mir selbst in diesem Umfeld, das nicht meinen Prinzipien genügt, noch treu bleiben? Welchen Wert hat es, ungehindert zu entscheiden, wenn man nur die Wahl zwischen Übeln hat? Und: Führe ich noch ein eigenständiges Leben, wenn ich mich in eine fixe Idee verrenne? Aus diesen Gedanken spricht eine tiefe Beunruhigung: Wir stellen in Frage, ob wir noch selbst über unser Handeln, Denken und Leben bestimmen – ob wir ein eigenes Leben führen, eigene Meinungen haben und eigene Entscheidungen treffen. Die Erfahrungen, die uns zu solchen Fragen treiben, sind Erfahrungen der Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, der Aneignung und Entfremdung von etwas. Diese Ideen der Selbstbestimmung und Aneignung werden oft auch mit dem Begriff Autonomie zusammengefasst.1 Wenn man dabei die Selbstbestimmung von Personen im Blick hat, so spricht man genauer von „personaler Autonomie“. In dieser Arbeit geht es um die Frage, was es mit der Autonomie von Personen genauer auf sich hat. Man kann diese Frage nicht nur für Personen stellen; von Selbstbestimmung und Autonomie kann man auch in Bezug auf Institutionen („Hochschulautonomie“), Regionen („das autonome Baskenland“), Kollektiven („das Selbstbestimmungsrecht des Volkes“) und bisweilen auch in Bezug auf komplexe technische Systeme sprechen. Hier wird aber nur von der Autonomie von Personen die Rede sein. Der Grund dafür ist, dass wir am Phänomen personaler Selbstbestimmung ein besonderes Interesse haben. Das lässt sich erstens an der tiefen Verstörung ablesen, die wir verspüren, wenn wir eine der eingangs genannten Fragen negativ beantworten und feststellen, dass nicht wir selbst, sondern jemand oder
1 Wenn ich in dieser Arbeit über einen Begriff spreche, verwende ich stets Kapitälchen.
2 | Einleitung etwas anderes über unser Denken, Handeln oder Leben bestimmt. In so einem Fall wollen wir gewöhnlich etwas an unserer Fremdbestimmung ändern. Und das impliziert, dass es aus unserer Sicht wünschenswert ist, nicht fremd-, sondern selbstbestimmt zu sein. Demgegenüber sind die Autonomie der Hochschule, des Baskenlandes und auch die Autonomie technischer Systeme nicht jedem geheuer; manche würden fehlende Autonomie in diesen Fällen gar begrüßen. Dass wir ein besonderes Interesse an der Selbstbestimmung von Personen haben, sieht man zweitens auch daran, dass das Phänomen personaler Autonomie nicht nur für uns selbst, sondern auch im Umgang mit anderen von zentraler Bedeutung ist: Gegenüber Personen, die in ihrer Autonomie eingeschränkt sind, verhalten wir uns anders. Wir bevormunden Kinder und demente Menschen; wir rechnen einer drogenabhängigen oder psychisch kranken Person ihre Straftat nicht oder nicht vollständig zu; wir loben jemanden für eine gute Tat nicht oder nur eingeschränkt, wenn die Tat gar nicht aus freien Stücken begangen wurde; wir bemitleiden die Freundin, die ihr Leben nicht so führt, wie sie es eigentlich will; wir kritisieren jene, die die Autonomie anderer gefährden oder verletzen. Ein besonderes Interesse am Phänomen der Selbstbestimmung haben wir also auch deswegen, weil wir immer wieder mit anderen Personen interagieren und Autonomie für den richtigen Umgang mit anderen entscheidend ist. Dass uns unsere Selbstbestimmung und die anderer Personen am Herzen liegt, ist auch der Grund dafür, dass die Erfahrung von Autonomie und Heteronomie in Kunst, Literatur, Gesellschaft und verschiedenen Wissenschaften zum Thema gemacht wird: Selbstbestimmung ist ein zentrales Motiv in Dystopien und Bildungsromanen (Jagow 2005); Gesellschaften streiten heute über Patientenverfügung, Sterbehilfe, informationelle Selbstbestimmung und die Möglichkeiten zur politischen Mit- und Selbstbestimmung von Bürgerinnen und Bürgern etwa im Rahmen der Europäischen Union; und auch für die Rechtswissenschaft, die Entwicklungspsychologie, die Erziehungswissenschaft und Soziologie ist personale Autonomie von praktischem und theoretischem Interesse (Pohlmann 1971). Angesichts des wichtigen Interesses an personaler Autonomie wundert es nicht, dass die Selbstbestimmung von Personen auch Gegenstand der Philosophie ist (vgl. zum Überblick Buss 2014; Christman 2015). Autonomie ist sogar ein Hauptbegriff der neuzeitlichen Philosophie, der aus verschiedenen philosophischen Debatten – etwa um moralische Verantwortung (Frankfurt 1988a), das Wesen der Person (Benn 1976; Cuypers 2001), die Begründung der Moral (Kant GMS), die Freiheit des Willens (Frankfurt 1988c), Fragen der biomedizinischen Ethik (Beauchamp und Childress 2001), die Begründung des Staates (Rawls 1971, 1999) und politische Freiheit (Berlin 2002; Pettit 2001; Raz 1986) – nicht wegzudenken ist. In all diesen Debatten spielt die Frage nach der Natur personaler Selbstbestimmung implizit oder explizit eine wichtige Rolle: Wann ist eine Person eigentlich autonom? Was
Worum es (nicht) geht | 3
genau heißt es überhaupt, autonom zu sein? Unter welchen Bedingungen handelt, denkt oder lebt man autonom? Um genau diese Fragen – um die Natur personaler Autonomie – geht es in dieser Arbeit. Und da Fragen nach der Natur oder dem Wesen einer Sache, die für unser Selbst- und Weltverständnis zentral ist, prototypische Gegenstände der Philosophie sind, kann man das Anliegen der Arbeit auch als eine philosophische Untersuchung personaler Autonomie bezeichnen. Damit ist auch etwas darüber gesagt, was diese Arbeit nicht leistet: Da es keine empirische Untersuchung ist, werden keine Erhebungen darüber folgen, wie Menschen faktisch ihre Autonomie gewinnen, ausüben oder verlieren. Da die Arbeit kein politisches und kein kulturkritisches Anliegen verfolgt, werde ich auch nicht für mehr oder weniger Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft plädieren oder die Auswirkungen eines möglichen Trends zu mehr Selbstbestimmung und Individualität auf unsere Kultur analysieren. Und da ich keine Lebenshilfe leisten kann, enthält diese Untersuchung auch keine Anleitung dazu, wie man im Einzelnen mehr Autonomie gewinnen kann – jedenfalls keine direkte. Mein Anliegen ist grundlegender: All diese anderen Auseinandersetzungen mit Autonomie setzen bereits einen Begriff von Autonomie voraus – man muss bereits wissen, was Autonomie ist, um sie empirisch zu messen, um ihre Über- oder Unterbewertung zu kritisieren oder um nach mehr Autonomie zu streben. Und es ist dieser bereits vorausgesetzte Begriff, um den es in dieser Arbeit geht. Dabei verstehe ich den Unterschied zwischen Autonomie und Heteronomie als einen Unterschied innerhalb des Bereichs der (intentionalen) Handlungen: Personen können selbstbestimmt oder fremdbestimmt handeln, aber in beiden Fällen handeln sie (intentional). Damit ist auch gesagt, dass es in dieser Arbeit nicht um den Unterschied zwischen Handeln (als charakteristisch menschliche Form von Aktivität, die wir durch Angabe der Gründe der Handelnden2 erklären) und dem, was uns nur passiv widerfährt oder zustößt, geht – und insbesondere nicht um die andere grundsätzliche philosophische Frage, wie man diesen Unterschied in einer naturwissenschaftlich beschreibbaren Welt verständlich machen kann (vgl. dazu Mayr 2011). Ähnliches gilt auch für eine weitere philosophische Frage, die man für den Gegenstand dieser Arbeit halten könnte: die Frage, ob wir überhaupt selbst bestimmen können. Mir geht es im Folgenden nicht um die grundsätzliche Möglichkeit von Selbstbestimmung oder die Möglichkeit eines freien Willens in einer (vermeintlich) deterministischen Welt. Denn auch diese Fragen setzen bereits einen Begriff von Selbstbestimmung und Willensfreiheit voraus: Allenfalls
2 In dieser Arbeit verwende ich feminine Nomen und Pronomen, um mich auf Personen jedweden Geschlechts zu beziehen. Männer sind stets mit gemeint.
4 | Einleitung nachdem man geklärt hat, worin Selbstbestimmung eigentlich besteht, kann man herausfinden, ob es sie in unserer Welt überhaupt geben kann. In dieser Arbeit geht es also weder um das Problem menschlichen Handelns noch um das Problem der Vereinbarkeit von Selbstbestimmung und Determinismus, sondern um die philosophische Untersuchung der Natur personaler Autonomie. Eine solche Untersuchung kann bereichsspezifisch sein. Beispielsweise kann man Wesen und Wert der Autonomie in der Medizin (siehe dazu Agich 2003; Faden und Beauchamp 1986; Hildt 2006; Thiele 2011), das Verhältnis von Autonomie und einem liberalistischen Staatsverständnis (siehe z. B. Christman und Anderson 2005; Colburn 2010; Sher 1997) oder die Rolle von Autonomie in der Erziehung (Marshall 1996; Nordström 2009; Winch 2002, 2006) philosophisch untersuchen. Die vorliegende Arbeit ist nicht in diesem Sinne bereichsspezifisch. Auch wenn die Frage, ob man den Begriff Autonomie nicht nur innerhalb eines spezifischen Bereichs sinnvoll untersuchen kann, durchaus eine Rolle spielen wird, so geht es hier eher um die Frage, was sich über die Autonomie von Personen ganz allgemein sagen lässt. Dahinter steht die Überzeugung, dass das, was sich allgemein über Autonomie sagen lässt, zwar einerseits durch eine Auseinandersetzung mit Autonomie in spezifischen Bereichen angeregt wird, dass es aber andererseits auch zur Lösung von bereichsspezifischen Problemen beitragen kann. Dementsprechend wird man in dieser Arbeit nur wenig über Patientenautonomie, das Verhältnis von Autonomie und staatlicher Neutralität oder Autonomie als Ziel der pädagogischen Praxis finden.
Was folgt Was aber wird sich dann in dieser Arbeit finden? Der Frage, was es mit der Autonomie von Personen genauer auf sich hat, wird in drei Teilen nachgegangen. Teil I schärft die Fragestellung der Arbeit in zwei Hinsichten: Kapitel 1 setzt sich mit dem methodischen Zugang zur Autonomie auseinander. Es grenzt das facettenreiche Phänomen der Autonomie etwas genauer ein und versucht, verschiedene Erfahrungen von Selbst- und Fremdbestimmung in eine systematische Ordnung zu bringen. Dabei werden vier Perspektiven unterschieden, aus denen man die Frage nach der Natur personaler Autonomie stellen kann. Unter jeder dieser Perspektiven ist die philosophische Untersuchung von Autonomie an ein praktisches Erkenntnisinteresse gebunden: Wir wollen wissen, was es mit der Autonomie auf sich hat, weil dies eine – je nach Perspektive unterschiedliche – Bedeutung für unser Handeln und Leben hat. Die philosophische Aufgabe besteht nun darin, den Begriff Autonomie zu schärfen, weil der Begriff für die mit ihm verfolgten praktischen Zwecke nicht scharf genug ist.
Was folgt | 5
Zu dem praktischen Erkenntnisinteresse gesellt sich bei näherer Betrachtung ein theoretisches. Denn wie Kapitel 2 aufzeigt, lässt sich bezüglich jeder der vier unterschiedenen Perspektiven auf Autonomie ein Rätsel formulieren, wenn man der Frage nachgeht, was personale Autonomie unter dieser Perspektive eigentlich genau ist: Einerseits nämlich scheinen sich autonome Personen durch ein besonderes Verhältnis zu sich selbst auszuzeichnen – sie sind ganz mit sich im Reinen, kennen sich selbst sehr gut und wissen genau, was sie wollen. In dieser Hinsicht ist Autonomie ein „Selbstverhältnis“. Andererseits scheint die Autonomie einer Person aber gar nicht so sehr von ihr, sondern vielmehr von Merkmalen ihrer Umgebung abzuhängen: Autonom ist man nur unter Abwesenheit von Druck, Zwang, Unterdrückung oder Manipulation und nur, wenn einem die Welt hinreichend viele Optionen offen hält. In dieser Hinsicht ist Autonomie eine besondere Beschaffenheit der äußeren Welt, ein „Weltverhältnis“. Ein Problem entsteht nun dadurch, dass Selbst- und Weltverhältnisse sich ganz fundamental unterscheiden: Beispielsweise liegt es an einem selbst, wie man zu sich selbst steht – man kann an sich arbeiten und sich verändern. Aber wie die Welt um einen herum ist, kann man oft gar nicht verändern; einem Weltverhältnis ist man meist einfach ausgeliefert. Unsere vortheoretischen Ansichten über Autonomie erzeugen also einen Widerspruch, der sich als ein Trilemma darstellen lässt, das ich „das Rätsel der Autonomie“ nennen möchte: (I) (II) (III)
Autonomie ist von der Art eines Selbstverhältnisses. Autonomie ist von der Art eines Weltverhältnisses. Ein Selbstverhältnis ist von ganz anderer Art als ein Weltverhältnis, so dass gilt: Wenn etwas von der Art eines Selbstverhältnisses ist, dann ist es nicht von der Art eines Weltverhältnisses.
Dieses Rätsel ist das, was das philosophische Nachdenken über die Natur von Autonomie antreibt; und dieses Rätsel ist folglich auch das, was eine Autonomiekonzeption letztlich zufriedenstellend lösen muss. Wenn man den Autonomiebegriff nicht als inkohärent aufgeben möchte, so gibt es drei Möglichkeiten, auf das Trilemma zu reagieren: Man kann je eine der drei Prämissen verwerfen und an den anderen beiden festhalten. Die drei Klassen von Autonomiekonzeptionen, die sich daraus ergeben, werden in Teil II anhand der neueren philosophischen Literatur diskutiert: Internalistische Positionen konzipieren Autonomie als ein reines Selbstverhältnis (und verneinen somit These (II) des Trilemmas). Gemäß dieser Auffassung entscheidet allein die innere Verfassung einer Person (die als ein Gefüge mentaler Einstellungen oder innerer Vermögen verstanden wird) darüber, ob eine Person autonom ist oder nicht. Verschiedene internalistische Positionen charakterisieren diese innere Verfassung zwar unterschiedlich; doch gemeinsam ist ihnen, dass sie versuchen, Autonomie allein aus
6 | Einleitung der Person heraus zu verstehen. In Kapitel 3 werde ich einige paradigmatische internalistische Ansätze kritisch diskutieren; letztlich vermag jedoch keine ganz zu überzeugen. Externalistische Positionen versuchen das Problem der Autonomie zu lösen, indem sie These (I) des Trilemmas ablehnen und Autonomie somit als reines Weltverhältnis verstehen. Dieser Auffassung zufolge hängt die Autonomie einer Person allein von Merkmalen ihrer Umgebung ab. Zwar ist unter externalistischen Ansätzen strittig, worin genau diese Merkmale der Umgebung bestehen; Einigkeit herrscht aber dahingehend, dass die Bedingungen personaler Autonomie außerhalb der Person zu suchen und zu finden sind. Eine kritische Diskussion dieser Klasse von Positionen in Kapitel 4 wird ergeben, dass auch diese Ansätze mit Einwänden konfrontiert sind, die sich innerhalb des externalistischen Rahmens nicht ausräumen lassen. Eine dritte Möglichkeit, auf das Trilemma zu reagieren, besteht darin, These (III) zu leugnen. Kapitel 5 setzt sich mit interaktionalistischen Autonomietheorien auseinander, die genau dies tun. Interaktionalistischen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie den Gegensatz zwischen Selbst- und Weltverhältnis für überzeichnet halten, weil es auch noch etwas Drittes gibt: Personen können sich auch zu der sie umgebenden Welt in Beziehung setzen, Einfluss auf die Welt nehmen und dabei von der Welt beeinflusst werden. Autonomie ist dieser Auffassung zufolge weder ein reines Selbst- noch ein reines Weltverhältnis, sondern besteht vielmehr aus einer Interaktion zwischen Selbst und Welt. Ein solcher Interaktionalismus tritt in zwei Varianten auf: Einige interaktionalistische Ansätze beschreiben die Interaktion als eine Mischung aus internalistischen und externalistischen Ansätzen; demnach wären sowohl die innere Verfassung als auch Merkmale der Umwelt ausschlaggebend für die Autonomie einer Person. Eine solche Mischung kann unterschiedlich stark sein – einige interaktionalistische Theorien liegen eher am externalistischen Pol, andere eher am internalistischen Pol. Wie sich zeigen wird, scheitern diese konjunktiven Varianten des Interaktionalismus daran, dass sie stets in entweder eine rein internalistische Position oder aber in eine rein externalistische Position zu kollabieren drohen – und sich damit natürlich auch deren Probleme einhandeln. Andere interaktionalistische Ansätze versuchen diese Schwierigkeiten zu umgehen, indem sie die Interaktion zwischen Selbst und Welt als eine wechselseitige Durchdringung beschreiben, in der die Aspekte des Selbstverhältnisses und die des Weltverhältnisses unauflösbar miteinander verwoben und verschränkt sind. Autonomie wäre hier am ehesten als ein „Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen“ zu charakterisieren. Wie ich zeigen werde, scheitern diese ausgefeilt interaktionalistischen Ansätze daran, dass sie mit der Ablehnung von These (III) des Trilemmas Selbst- und Weltverhältnis auf unplausible Weise einander angleichen und die offenkundigen Unterschiede zwischen diesen leugnen müssen.
Was folgt | 7
Das Ergebnis der Untersuchung in Teil II ist, dass bisher keine befriedigende Antwort auf die Frage nach der Natur personaler Autonomie gefunden worden ist. In Teil III möchte ich eine – aus meiner Sicht – befriedigendere Antwort auf diese Frage geben und verteidigen. Dazu schlage ich in Kapitel 6 zunächst eine diagnostische These vor: Der Grund dafür, dass die bisherigen Bemühungen zu keiner zufriedenstellenden Lösung geführt haben, liegt darin, dass ein wesentlicher Aspekt der Natur des Autonomiebegriffs verkannt worden ist – dass es sich dabei nämlich um einen sogenannten dicken normativen Begriff handelt, mit dem wir Personen den Status einer praktischen Autorität zusprechen, kraft dessen bestimmte Handlungsgründe vorliegen. Damit wird ein wesentliches Merkmal unseres Verständnisses von Autonomie erklärt: dass sich nämlich unser normatives Verhältnis zu Personen verändert, wenn diese an Autonomie verlieren oder gewinnen. In dem Kapitel möchte ich aufzeigen, dass man ausgehend von dieser Beobachtung und Diagnose die Einwände gegen internalistische, externalistische und interaktionalistische Autonomietheorien aus den Kapiteln 3 bis 5 vereinheitlichend verstehen kann: Die diskutierten Positionen scheitern deswegen, weil sie verschiedene Aspekte dieses „normativen Umschwungs“ in den Verhältnissen zwischen Personen nicht zufriedenstellend erfassen. Wenn Autonomie ein dicker normativer Begriff ist, dann sollte man die Antwort auf die Ausgangsfrage (und die Auflösung des Trilemmas) auf der normativen Ebene suchen. Dies geschieht in Kapitel 7, das eine normative Konzeption personaler Autonomie entwickelt. Dieser Konzeption zufolge zeichnet sich eine autonome Person dadurch aus, dass sie erstens ihre eigenen Angelegenheiten regeln kann, dass sie sich zweitens gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzen kann, und dass sie drittens in Dingen, die sie betreffen, aber gemeinschaftlich entschieden werden, mitreden kann. Das Kapitel erklärt, in welchem Sinne diese drei Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache als normative Bedingungen verstanden werden können und wie dieser Vorschlag die Probleme der zuvor diskutierten Autonomietheorien vermeidet. Zugleich skizziert es auch, wie man auf dieser Grundlage zu einer Konzeption von Autonomie als einem persönlichen Ideal gelangen kann: Die normativen Kriterien der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache lassen sich zu den regulativen Ideen Autarkie, Emanzipation und Engagement hin „entgrenzen“. Daraus ergibt sich schließlich doch noch eine – wenn auch nur grobe – Antwort auf die lebensweltliche Frage, was man tun muss, um an Autonomie zu gewinnen.
| Teil I: Das Problem
1 Die philosophische Aufgabe Wer die Frage nach der Natur personaler Autonomie stellt, fragt danach, was genau es heißt, dass eine Person autonom ist. Wenn man eine Frage stellt, so muss man sich im Klaren darüber sein, was zu ihrer Beantwortung beiträgt und was dafür irrelevant ist; und das heißt, dass man ein Bild von der Methode haben muss, mit der man die Frage beantworten möchte. Auch stellt man eine Frage nicht einfach völlig unmotiviert. In der Regel gibt es etwas, das einen antreibt; und man muss wissen, was dieser Antrieb ist, um zu wissen, wann eine Antwort auf die Frage zufriedenstellend ausfällt – man muss, mit anderen Worten, den Zweck der Untersuchung kennen. Schließlich sollte man sich bei Gegenständen, die nicht von vornherein klar bestimmt sind, um eine Eingrenzung der Untersuchung bemühen und klarstellen, worauf genau die Frage eigentlich abzielt. Bevor man die Leitfrage der Arbeit nach der Natur personaler Autonomie angeht, sollte man sich daher (mindestens) drei weitere Fragen stellen: Mit welcher Methode, zu welchem Zweck und welchen Aspekt will man untersuchen?
1.1 Wie Autonomie untersuchen? Über den Zugang zur Autonomie Wenn man fragt, unter welchen Bedingungen eine Person autonom ist, dann fragt man danach, wann man von einer Person korrekterweise sagen kann, dass sie autonom ist. Man sucht also eigentlich nach den Bedingungen dafür, dass der Begriff Autonomie auf jemanden zutrifft. Ganz allgemein scheint dies charakteristisch für den philosophischen Zugang zu einem Phänomen zu sein: Die Natur von etwas philosophisch zu untersuchen heißt, den entsprechenden Begriff bzw. den Gebrauch der entsprechenden Ausdrücke für den Begriff zu betrachten und die „Regeln“ offen zu legen, die die Anwendung des Begriffs bzw. den Gebrauch der Wörter leiten (vgl. Hacker 2007, Kap. 1). Auf einer allgemeinen Ebene kann man die philosophische Aufgabe dieser Arbeit daher als den Versuch verstehen, sich einen Überblick über die Verwendungspraxis des Begriffs personale Autonomie bzw. den Gebrauch der entsprechenden Ausdrücke zu verschaffen. Daraus lässt sich ein erstes Adäquatheitskriterium für eine philosophische Konzeption personaler Autonomie ableiten: Sie muss die (praxiskonforme) Verwendung des Autonomiebegriffs angemessen beschreiben. Wenn kompetente Sprecherinnen also übereinstimmend in einer bestimmten (tatsächlichen oder bloß möglichen) Situation sagen oder sagen würden, dass eine Person autonom ist, dann muss auch gemäß der vorgeschlagenen Konzeption gelten, dass diese Person
12 | 1 Die philosophische Aufgabe autonom ist – und umgekehrt. In der Debatte um personale Autonomie spielt dieses Kriterium der extensionalen und intensionalen Adäquatheit (im Sinne von Gupta 2002, 229 und Gupta 2015, § 1.4) überall dort eine Rolle, wo Autonomiekonzeptionen durch Beispiele und Gedankenexperimente gestützt oder widerlegt werden: Wenn wir die Person in einem Beispielfall klarerweise autonom nennen, sie unter der in Frage stehenden Autonomiekonzeption aber klarerweise nicht als autonom gilt, dann verwirft man die entsprechende Konzeption. Allerdings sollte man diesem Kriterium nicht allzu viel zutrauen, weil kompetente Sprecherinnen in der Verwendung des Begriffs Autonomie in weiten Teilen gerade nicht übereinstimmen und in Bezug auf relevante Fälle jemanden gerade nicht klarerweise als autonom oder nicht autonom einstufen. Der Autonomiebegriff zeichnet sich nämlich durch seine Wurzellosigkeit und Unschärfe aus: Erstens redet man außerhalb des philosophischen Seminars nur recht selten von „Autonomie“; Autonomie ist eher ein philosophischer Fachbegriff („a term of art“, Dworkin 1988, 6) und viele Menschen können mit dem Wort zunächst gar nichts anfangen (McKenna 2005, 206; Meyers 2000b, 151). Im Gegensatz zu anderen Begriffen, die Gegenstand philosophischen Nachdenkens sind (z. B. Wissen, Fühlen, Denken, Wahrheit oder Gerechtigkeit), ist der Autonomiebegriff nicht in unserer Normalsprache verwurzelt und daher scheinen Intuitionen darüber, wie man den Begriff nun richtig verwendet, auf dünnem Eis zu stehen. Zweitens ist die Praxis der Verwendung des Begriffs Autonomie selbst innerhalb der Philosophie verwirrend unscharf (vgl. Dworkin 1988, 5f.; McLeod 2005, 108). Zum einen ist nicht klar, auf welche Kategorie von Gegenständen er sich überhaupt bezieht (Christman 1988, 111): Können nur Personen als Ganzes (Oshana 2006, 2f.) oder auch mentale Zustände wie Wünsche (Bransen 1996, 1; Crisp 1987, 413), ein Vermögen wie der Wille (Kant GMS, 446), Handlungen oder Entscheidungen (DeGrazia 1994; Mele 1995, Kap. 12) autonom sein? Zum anderen ist man sich nicht einmal hinsichtlich der Einschätzung zentraler Fallbeispiele der Debatte einig: Manche Philosophinnen halten ein Leben in selbst gewählter Unterwürfigkeit (etwa als Nonne, Rekrutin oder Sklavin) für grundsätzlich unvereinbar mit Autonomie (Kristinsson 2000; Oshana 1998, 92f.), andere hingegen nicht (Dworkin 1988, 18, 29); für manche steht die Internalisierung von falschen moralischen Maßstäben in klarem Widerspruch zu Autonomie (Wolf 1987, 53), für andere klarerweise nicht (Henning 2009, 53f., Anm. 24). Unter den praxiskonformen Aussagen, mit denen personale Autonomie zu- oder abgesprochen wird, finden sich somit Aussagen über ganz verschiedene Gegenstände und zudem Aussagen, die einander widersprechen. Betrachtet man also die Verwendungspraxis des Begriffs Autonomie innerhalb und außerhalb der Philosophie, so scheint es auf den ersten Blick wenig Hoffnung darauf zu geben, dass unser Sprachgebrauch einen einheitlichen Satz von Regeln bereit hält, der
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uns sagt, wann man autonom ist. Sprachkompetenz allein entscheidet die Frage der Autonomie einer Person offenbar in vielen Fällen nicht. Vielleicht stellt sich die Situation besser dar, wenn man nicht den Begriff Autonomie selbst, sondern seine normalsprachlichen Entsprechungen in den Blick nimmt (vgl. den Vorschlag von McLeod 2005, 108). Denn auch wenn wir im Alltag nur selten von „Autonomie“ sprechen, so verfügen wir doch über eine Reihe von normalsprachlichen Formulierungen, mit denen wir Autonomie zu- oder absprechen: „über etwas selbst bestimmen“; „ein eigenes Leben führen“; „eine eigene Entscheidung treffen“; „die Wahl haben“; „sich selbst beherrschen“; „die Kontrolle haben/verlieren“; „fremdgesteuert sein“; „etwas wirklich wollen“; „außer sich sein“; „von etwas entfremdet sein“; „bevormundet werden“; oder auch „eigenständig denken“, „selbstständig leben“, „seinen eigenen Weg gehen“ und „etwas auf seine eigene Weise tun“. Im Hinblick auf die Unschärfe des Autonomiebegriffs ist mit dem Rückgriff auf normalsprachliche Entsprechungen allerdings noch nicht viel gewonnen. Man betrachte etwa die folgenden Beispiele (vgl. Raz 1986, 15 für ein analoges Argument in Bezug auf den Begriff politische Freiheit): (1)
Armut zwingt Adele dazu, einer Arbeit nachzugehen, die sie nicht wirklich ausüben will. Adele hatte keine Wahl, es gab nur diese eine Arbeit. Doch es war ihre eigene Entscheidung, und sie übt ihren Beruf frei aus. Sie kann nun ein eigenes Leben führen und sich ernähren. (2) Ein Schutzgelderpresser zwingt Beate dazu, ihm jeden Tag viel Bargeld zu übergeben. Beate hat keine Wahl, und es ist nicht wirklich ihre eigene Entscheidung, etwas abzugeben. Wenn sie dem Erpresser etwas übergibt, handelt sie nicht frei. Da die Beschaffung des Schutzgelds ihren Alltag dominiert, kann sie kein eigenes Leben mehr führen. (3) Clara muss ihr Haus verkaufen, um für die Pflege ihrer kranken Mutter aufzukommen. Sie ist gezwungen, es zu tun, und sie hatte keine Wahl. Doch es war ihre eigene Entscheidung, und sie handelte aus freien Stücken. (4) Dorothee versteckt sich in ihrem Haus, weil sie glaubt, draußen würde sie aufgrund ihrer Hautfarbe verhaftet. Sie wurde von ihrem Mann gezielt darin getäuscht, um sie von sozialen Kontakten fern zu halten. Dorothee wurde nicht dazu gezwungen, im Haus zu bleiben, sie hat die Wahl und will es wirklich. Dennoch führt sie kein eigenes Leben.
Falls meine Beschreibung der Beispiele nicht einleuchtet (auch bei normalsprachlichen Entsprechungen ist nicht immer eindeutig klar, ob sie anwendbar sind oder nicht), kann man sich andere Fälle überlegen, welche die folgenden beiden Punkte ebenso verdeutlichen: Die Beispiele zeigen nämlich zum einen, dass die vermeintlichen normalsprachlichen Entsprechungen des Autonomiebegriffs gar nicht immer zusammenfallen. Nicht immer, wenn man eine eigene Entscheidung trifft, will man etwas wirklich; und nicht immer, wenn man etwas wirklich will, führt man ein eigenes Leben. Damit wird allerdings fraglich, was eigentlich die richtige normalsprachliche Entsprechung des Autonomiebegriffs ist; ohne eine Antwort darauf kann man den Begriff Autonomie nicht auf eine normalsprachliche Grundlage
14 | 1 Die philosophische Aufgabe stellen. Zum anderen zeigen die Beispiele, dass die Unterschiede, die wir in Bezug auf personale Autonomie zwischen diesen Fällen machen wollen, von den normalsprachlichen Formulierungen nicht reflektiert werden: In Fall (3) scheint Claras Autonomie nicht gefährdet, doch der Fall ist bezüglich der normalsprachlichen Beschreibungen hinreichend ähnlich zu Fall (1), in dem Adeles Autonomie sehr fraglich ist. Umgekehrt scheinen (1) und (2) recht unterschiedlich beschrieben zu werden, während sie sich im Hinblick auf die Beurteilung von Adeles und Beates Autonomie gleichen. Und schließlich scheint ein Großteil der normalsprachlichen Formulierungen, die einen Autonomieverlust anzeigen, in Fall (4) gar nicht angewendet werden zu können, obwohl Dorothee keine Autonomie zukommt. Man könnte weitere Beispiele anführen, in denen Formulierungen wie „die Selbstbeherrschung verlieren“ relevant werden, die bisweilen mit mangelnder Autonomie einhergehen und bisweilen nicht. Eine zufriedenstellende Autonomiekonzeption kann man also aus den normalsprachlichen Formulierungen allein ebenfalls nicht ableiten, weil auch sie nicht scharf genug sind. Der Autonomiebegriff ist also unscharf. Aber er ist nicht überall in gleicher Weise unscharf. Es scheint so etwas wie klare Fälle zu geben, in denen alle kompetenten Sprecherinnen unserer Sprache darin übereinstimmen, dass eine Person autonom oder nicht autonom ist: Wenn jemand gegen seinen Willen versklavt wird, ihm alle Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten genommen werden, und er sich nicht in eine „innere Emigration“ flüchten kann, von der aus er seine Situation stoisch als belanglos hinnehmen könnte, dann fehlt es dieser Person an Autonomie. Und die Person, die ganz mit sich im Reinen ist, ihre Sozialisation kritisch reflektiert hat, ihr Leben selbst in der Hand hat und aktiv gestaltet und in harmonischen, respektvollen zwischenmenschlichen Beziehungen lebt, ist offenbar nicht nur glücklich, sondern auch autonom. Zugegeben, diese Fälle sind reichhaltig ausgeschmückt und es ist nicht klar, was genau die Merkmale sind, die in diesen Fällen für die Autonomie der Person relevant sind (das sollte eine Autonomiekonzeption ja gerade herausfinden). Aber das ändert nichts daran, dass es sich um paradigmatische Fälle für (mangelnde) Autonomie handelt. Der Autonomiebegriff ist also nicht einfach unscharf, sondern an seinen Rändern – dort, wo es sich eben nicht um paradigmatische Fälle handelt – unscharf. Wie die obigen Überlegungen zeigen, scheinen diese Ränder im Fall von Autonomie zwar recht breit zu sein. Doch dass Begriffe unscharfe Ränder haben, ist kein ungewöhnliches Phänomen: Auch bei Spiel, Mut oder (distributive) Gerechtigkeit gibt es Grenzfälle, in denen wir nicht sicher sind, ob eine Tätigkeit ein Spiel, eine Handlung mutig oder eine Verteilung gerecht ist. Zudem gibt es eine Reihe weiterer philosophischer Begriffe wie Supervenienz oder Analytizität, die ebenfalls nicht in Alltag und Normalsprache verwurzelt sind. Warum also sollte uns die Wurzellosigkeit und Unschärfe des Autonomiebegriffs kümmern?
1.1 Wie Autonomie untersuchen? Über den Zugang zur Autonomie | 15
Aus zwei Gründen: Erstens ist Autonomie keiner der philosophischen Fachbegriffe, die mit einem rein theoretischen Erkenntnisinteresse eingeführt wurden. Anders als bei Analytizität brauchen wir den Begriff Autonomie nicht, um innerhalb eines philosophischen Arguments eine Unterscheidung zu treffen (z. B. die zwischen Aussagen, die allein aufgrund der Bedeutung der in ihr vorkommenden Wörter wahr sind, und solchen, für die das nicht gilt); vielmehr ist der Autonomiebegriff für praktische Fragen des Umgangs mit anderen Menschen und der eigenen Lebensführung direkt relevant (mehr dazu im folgenden Abschnitt 1.2). Die Wurzellosigkeit des Begriffs Analytizität mag man verschmerzen können, weil sie für unser Leben im Regelfall keine Rolle spielt; die Wurzellosigkeit des Autonomiebegriffs hingegen hat zur Folge, dass dort, wo man nicht weiß, ob man eine Erfahrung als Erfahrung (mangelnder) Autonomie beschreiben soll, auch unklar ist, wie wir mit anderen Menschen oder uns selbst umzugehen haben – und das spielt für unser Leben im Regelfall durchaus eine Rolle. Zweitens ist die Wurzellosigkeit und Unschärfe des Autonomiebegriffs keine gewöhnliche, sondern eine eigentümliche Unschärfe: Wenn man in Bezug auf Mut mit einem unklaren Fall konfrontiert ist, weiß man in der Regel, wonach man suchen muss, um den Mut einer Person einzuschätzen; der Hinweis auf eine Gefahrensituation ist beispielsweise relevant, der Hinweis auf das Datum (für sich genommen) nicht. Wenn aber die Autonomie einer Person in Frage steht, ist manchmal nicht einmal klar, was genau eigentlich zur Beantwortung der Frage beiträgt. Untergräbt beispielsweise Unwissenheit oder eine moralische Zwickmühle die Autonomie? Diese spezifische Form der Wurzellosigkeit und Unschärfe teilt der Autonomiebegriff mit anderen Begriffen wie politische Freiheit (vgl. Raz 1986, Kap. 1), Menschenrecht (vgl. Griffin 2008, Kap. 1) oder Menschenwürde (vgl. Maier 2010, 35–42): Auch diese Begriffe haben eine wichtige praktische Funktion im Umgang mit anderen Menschen oder in der Ausgestaltung politischer Institutionen; oft ist es wichtig, genau zu wissen, was politische Freiheit ausmacht, was ein Menschenrecht ist, oder worin Menschenwürde besteht. Doch der normale Sprachgebrauch hilft auch in diesen Fragen nur selten weiter: Ist die verbrauchende Embryonenforschung eine Verletzung der Menschenwürde oder nicht? Ist das Recht auf Familienplanung ein Menschenrecht? Ist man in einer Gesellschaft ohne bedingungsloses Grundeinkommen wirklich frei? Was immer die Antwort auf diese Frage ist, sie ergibt sich nicht allein aus unserem Sprachgebrauch. Das heißt natürlich nicht, dass die Art und Weise, wie wir Autonomiezuschreibungen vornehmen, irrelevant ist für die Frage, wann eine Person autonom ist. Es heißt lediglich, dass man diese Frage nicht allein aufgrund unserer normalsprachlichen Autonomiezuschreibungen beantworten kann. Es kann, mit anderen Worten, nicht ausschließlich darum gehen, die Verwendungspraxis des Begriffs Autonomie zu beschreiben. Doch worum geht es dann?
16 | 1 Die philosophische Aufgabe
1.2 Warum Autonomie untersuchen? Über praktische Erkenntnisinteressen Mein Vorschlag ist, dass es darum geht, den Begriff Autonomie zu schärfen: Die eigentliche philosophische Aufgabe für eine Autonomiekonzeption liegt nicht darin, einen bereits bestehenden, scharfen Autonomiebegriff aus unserem normalen Sprachgebrauch zu rekonstruieren, sondern darin, die Trennschärfe oder Differenzierungskraft des Begriffs zu erhöhen, d. h. den Begriff präziser zu machen, als er in unserer normalsprachlichen Praxis ist. Zu dieser Ansicht gelangt man, wenn man sich fragt, warum man Autonomie eigentlich untersuchen sollte: Was genau treibt einen dazu, der Natur personaler Autonomie auf den Grund zu gehen? Auch hier hilft es, beim Begriff Autonomie anzusetzen. Begriffe sind – metaphorisch gesprochen – Werkzeuge, die einem bestimmten Zweck dienen: Sie machen Unterschiede, die für uns in unserem Umgang mit der Welt und in unserem Umgang mit uns selbst von Bedeutung sind (vgl. Wittgenstein 1984, §§ 569–570). Manche Begriffe wie Element, Entropie oder analytisch sind eher in theoretischer Hinsicht von Bedeutung; sie helfen uns, ein besseres Verständnis von der Welt zu entwickeln. Andere Begriffe wie gefährlich, schwer oder Gerechtigkeit sind eher in praktischer Hinsicht von Bedeutung; sie machen einen Unterschied dafür, wie wir agieren und reagieren: Gefährliche Situationen sollte man meiden, schwere Gegenstände besser zu zweit heben und Ungerechtigkeit bekämpfen. Welcher Unterschied wird nun von den Begriffen Autonomie oder Selbstbestimmung3 erfasst? Dazu muss man wissen, was sich ändert, wenn eine Person autonom wird oder ihre Autonomie verliert: Wir behandeln sie anders. Eine autonome Person bevormundet man beispielsweise nicht, heteronome Personen (wie Kinder oder Demente) hingegen haben einen Vormund; autonomen Personen rechnet man ihr Verhalten in anderer Weise zu als heteronomen, man zieht sie beispielsweise in anderem Maße zur Verantwortung; in die Angelegenheiten autonomer Personen mischt man sich nicht ein, heteronome Personen aber brauchen oft fremde Hilfe bei der Regelung ihrer Angelegenheiten; autonome Personen haben hinsichtlich ihrer politischen Partizipation andere Möglichkeiten als heteronome Personen; Menschen, denen es an Autonomie mangelt, bemitleiden wir manchmal gerade darum, während wir Menschen, die an Autonomie gewinnen, bewundern; die Willensbekundung der autonomen Patientin hat für die Ärztin ein anderes Gewicht als die Erklärung einer heteronomen Patientin. Kurzum: Autonomie macht einen Unterschied für unser Verhältnis zu und unseren Umgang mit anderen.
3 Im Folgenden verwende ich beide Begriffe stets synonym.
1.2 Warum Autonomie untersuchen? Über praktische Erkenntnisinteressen | 17
Aber nicht nur dies: (Unsere) Autonomie macht auch einen Unterschied für das Verhältnis zu und unseren Umgang mit uns selbst. Wir streben nach mehr Autonomie in unserem Leben; wir wollen eigene Entscheidungen treffen und uns von anderen abgrenzen; wir meiden ein Umfeld, das unsere Autonomie gefährdet (sofern wir das vorher absehen können); und wir wehren uns gegen den Autonomieverlust, wenn wir doch in ein solches Umfeld geraten sind. Wenn wir bemerken, dass wir an Autonomie verloren haben, bedauern wir das; und umgekehrt trägt es zu unserer Zufriedenheit bei, wenn wir ein autonomes Leben führen (und darum wissen). Wenn man sieht, welchen Unterschied die Begriffe für unsere Selbst- und Welterfahrung machen, sieht man auch, was uns dazu treibt, der Natur der Autonomie auf den Grund zu gehen: Wir haben ein Interesse daran zu wissen, was es mit der Autonomie von Personen auf sich hat, weil dies für unseren Umgang mit anderen und unseren Umgang mit uns selbst von Bedeutung ist. Insofern die Autonomie anderer oder unsere Autonomie einen praktischen Unterschied macht – einen Unterschied für unser Handeln und unsere Lebensführung –, kann man sagen, dass hinter der philosophischen Untersuchung personaler Autonomie ein praktisches Erkenntnisinteresse steht. Wenn das praktische Erkenntnisinteresse uns dahin treibt, die Frage nach der Natur personaler Autonomie zu stellen, dann ist es auch das, was bestimmt, wann die Frage beantwortet ist: nämlich dann, wenn das Interesse befriedigt ist – d. h. wenn uns klar ist, wie wir mit der Selbst- oder Fremdbestimmung anderer umgehen sollen, und wenn uns klar ist, wie wir in Bezug auf unsere eigene Selbstbestimmung agieren sollen. Doch wie die Überlegungen zur Unschärfe gezeigt haben, ist uns das derzeit in vielen Fällen noch nicht klar: Welche psychischen Störungen untergraben die Autonomie einer Patientin, welche nicht? Das ist eine relevante Frage für die Ärztin, die die Patientin behandelt. Wenn Autonomie eine erzieherische Zielvorstellung ist, wozu genau muss man Kinder dann erziehen? Das ist eine relevante Frage für Eltern und Lehrerinnen. Beschränken Armut oder Notverkäufe (also die Fälle von Adele und Clara, siehe S. 13) die Autonomie einer Person? Das ist eine relevante Frage für die Gesetzgeberin. Und tragen mehr Wissen und Bildung oder vertiefte Freundschaften dazu bei, dass ich ein autonomeres Leben führe? Das ist eine relevante Frage für uns alle (jedenfalls sofern uns etwas an einem autonomen Leben liegt). Die Antworten auf diese Fragen fallen nicht leicht und darum scheint unser Wissen über Autonomie zumindest ausbaufähig. Sowohl in Bezug auf andere als auch in Bezug auf uns selbst ist der Begriff Autonomie sozusagen nicht so scharf, wie wir ihn aufgrund des praktischen Interesses gern hätten. Aus diesen Überlegungen leitet sich nun die eigentliche Aufgabe einer philosophischen Autonomiekonzeption ab: Sie muss den Mangel an begrifflicher
18 | 1 Die philosophische Aufgabe Schärfe im Hinblick auf das praktische Erkenntnisinteresse beheben – den Begriff Autonomie also so schärfen, dass uns bei der Frage, wie wir mit der Selbstoder Fremdbestimmung anderer umgehen sollen oder woran man im Hinblick auf seine eigene Selbstbestimmung arbeiten soll, weitergeholfen ist.4 Diese These scheint auf den ersten Blick „revisionistisch“ und in Spannung zu stehen zu der „orthodoxen Methodologie“ in der Autonomiedebatte, einen scharfen Autonomiebegriff vorauszusetzen und spezifische Konzeptionen mittels Beispielen an diesem Begriff zu messen. Bei genauerer Betrachtung sind jedoch auch andere Debatten um Grundbegriffe der praktischen Philosophie weitaus weniger „orthodox“ strukturiert: Auch bei den Begriffen politische Freiheit (vgl. Raz 1986, Kap. 1), Menschenrecht (vgl. Griffin 2008, Kap. 1) oder Menschenwürde (vgl. Maier 2010, 59–61) besteht die philosophische Aufgabe nicht zuvorderst in der Rekonstruktion unserer normalsprachlichen Verwendungspraxis, sondern in einer Schärfung bzw. Verfeinerung der entsprechenden Begriffe, welche von einem praktischen Interesse ausgeht und über die normalsprachliche Verankerung dieser Begriffe hinausreicht. Insgesamt kann man den Revisionismus-„Vorwurf“ daher mit guten Gründen zurückweisen: Ganz so ungewöhnlich ist dieses Vorgehen nicht. Zudem sollte klar sein, dass das revisionistische Anliegen ohnehin eng begrenzt ist: Es geht nicht darum, die normalsprachlichen Zuschreibungen über Bord zu werfen und einen neuen Begriff zu schaffen, sondern den Begriff ausgehend von seinen kargen normalsprachlichen Wurzeln im Lichte der praktischen Interessen zu „formen“ (Wright 1963, 138). Die Frage, wann eine Person autonom ist, und die praktische Funktion, die der Begriff Autonomie für den Umgang mit uns und anderen hat, sind nach den bisherigen Überlegungen eng miteinander verknüpft. Es ist für den weiteren Verlauf der Arbeit wichtig, zwei verschiedene Thesen über diese Verknüpfung zu unterscheiden. Die erste These, für die gerade argumentiert wurde, ist eine methodologische: Wenn man die Frage nach den Bedingungen personaler Autonomie stellt, dann sollte man bei ihrer Beantwortung den Antrieb im Blick behalten, aus dem heraus man die Frage stellt. Denn der Antrieb (bzw. das Interesse) bestimmt, was eine gute Antwort ist. John Christman drückt dies (in Bezug auf die notorisch unklaren Fälle selbst gewählter Untergebenheit) so aus:
4 Man könnte auch sagen, dass es darum geht, eine explikative Definition (Belnap 1993, 116f.) bzw. Explikation im Sinne Carnaps zu geben: „By the explication of a familiar but vague concept we mean its replacement by a new exact concept“ (Carnap 1947, 7; vgl. auch Carnap 1962, Kap. I). Anders als bei Carnap bemisst sich die Adäquatheit der Explikation von Autonomie aber weniger an der theoretischen Fruchtbarkeit des Explikats (inwiefern es z. B. eine Systematisierung oder die Formulierung von Gesetzmäßigkeiten ermöglicht; siehe Carnap 1962, 6f.), sondern eher an seiner praktischen Fruchtbarkeit im Hinblick auf die Befriedigung der praktischen Erkenntnisinteressen.
1.2 Warum Autonomie untersuchen? Über praktische Erkenntnisinteressen | 19
„[T]he question of whether a voluntarily self-restrained person is autonomous will turn, not on free-floating intuitions about concepts, but rather on the role that the concept of autonomy will play in theoretical and practical contexts. No matter how focused we might be on a particular case of voluntary self-restraint, the question of whether such a person exhibits autonomy for us will turn on the question of what is implied by that attribution“ (Christman 2005b, 282f.).
Auch Christman schlägt vor, die Frage der Autonomie in unklaren Fällen (hier: selbst gewählte Untergebenheit) im Hinblick auf die praktische Funktion, die der Begriff Autonomie übernimmt, zu entscheiden. Das praktische Interesse kommt hier an den unscharfen Rändern des Autonomiebegriffs ins Spiel: Es zeigt nicht nur, dass man den Begriff schärfen sollte (denn wir müssen uns ja irgendwie in Bezug auf die unklaren Fällen verhalten) – es sagt uns auch, wie man den Begriff schärfen sollte: so, dass die praktischen Interessen befriedigt werden (vgl. Stoecker 2010, 50). Man kann den Zusammenhang zwischen der praktischen Funktion des Begriffs Autonomie und der Suche nach den Bedingungen personaler Autonomie aber auch noch anders verstehen: Demnach gehört die praktische Funktion, die der Autonomiebegriff im Umgang mit uns und anderen hat, in gewisser Hinsicht zum Gehalt des Begriffs bzw. zur Bedeutung des Prädikats „ist autonom“; wir würden den Autonomiebegriff in einer Problemstellung gar nicht ins Spiel bringen können, wenn die Frage nach der Autonomie einer Person für unser (berechtigtes) Verhalten ihr gegenüber oder für ihr Verhalten ihr selbst gegenüber keinen Unterschied machen würde. Das praktische Interesse käme dann nicht nur zur Schärfung an den unscharfen Rändern, sondern bereits im „Innern“ des Begriffs – d. h. in den klaren Fällen – ins Spiel. Diese zweite These geht über die erste These hinaus: Es ist eine begriffliche und keine methodologische These. Ich werde sie in Teil III der Arbeit vertreten und dort auch noch genauer erläutern, möchte sie an dieser Stelle aber zunächst zurückstellen. Wer dafür plädiert, einen Begriff zu schärfen, muss etwas dazu sagen, wie diese Schärfung vonstatten gehen soll. Denn es wäre unbefriedigend, wenn man die unklaren Fälle einfach nach Belieben mittels definitorischer Festsetzung entscheiden würde – es hängt einfach zu viel davon ab, ob jemand als autonom gilt oder nicht, um in dieser Frage Willkür walten zu lassen. Aber auf Willkür ist man auch nicht angewiesen, denn „im verschwommenen Randbereich eines Begriffs eine Grenze zu ziehen, bedeutet nicht, daß diese Grenze nach Belieben gezogen werden kann, sondern nur, daß es keine sprachimmanenten Sachverhalte gibt, die unsere Grenzziehung determinierten. Aus sprachlicher Sicht wäre jede derartige Grenze in Ordnung – aber andere Gesichtspunkte können trotzdem für oder gegen bestimmte Verläufe sprechen“ (Stoecker 2010, 50; Herv. i. Orig.).
20 | 1 Die philosophische Aufgabe Einer dieser anderen Gesichtspunkte wird bereits durch das praktische Interesse selbst gestiftet: Die Schärfung muss uns in unserem Umgang mit anderen und uns selbst weiterhelfen. Daraus folgt beispielsweise, dass es in den strittigen Fällen leichter festzustellen sein muss, ob die von einer Konzeption genannten Bedingungen der Autonomie zutreffen, als es festzustellen ist, ob eine Person in diesem Fall autonom ist. Eine Konzeption, die als Bedingung der Autonomie „Selbstbestimmung“ oder auch „Selbstführung“5 nennt, würde dieses Kriterium nicht erfüllen, weil diese Begriffe einfach nicht schärfer sind als der zu schärfende Begriff. Eine andere Möglichkeit, das Kriterium zu verfehlen, besteht darin, sehr „scharfe“ Begriffe mit zu hohen epistemischen Voraussetzungen einzuführen: Wer die Frage der Autonomie an einem nur mit einem 12-Tesla-Magnetresonanztomographen messbaren Gehirnzustand festmacht, hilft uns ebenfalls nicht weiter, weil dies in praktischen Problemstellungen ein untaugliches Kriterium ist. Zwei Klarstellungen sind in diesem Zusammenhang angebracht: Erstens ist man mit dem Anliegen, den Autonomiebegriff zu schärfen, keineswegs darauf festgelegt, dass die Bedingungen personaler Autonomie natürliche Eigenschaften sind (explizit behauptet dies Oshana 1994). Denn es gibt eine Reihe normativer Eigenschaften, die für die praktischen Interessen, um die es hier geht, scharf genug sind – beispielsweise die Eigenschaft, in moralischer Hinsicht als ungleichwertig behandelt zu werden. Das Vorliegen dieser Eigenschaft scheint mir leichter zu entscheiden zu sein als die Frage der Autonomie. Natürlich könnte sich diese Eigenschaft bei genauerer Betrachtung als eine natürliche Eigenschaft entpuppen (etwa wenn der metaethische Naturalismus wahr wäre); an dieser Stelle kommt es mir nur darauf an, dass es sich nicht um eine natürliche Eigenschaft handeln muss, damit es sich um eine Schärfung des Autonomiebegriffs handelt. Auch eine Autonomiekonzeption, die – wie die in Teil III vorgeschlagene – normative Bedingungen personaler Autonomie nennt, kann eine geeignete Schärfung des Autonomiebegriffs bereitstellen. Zweitens verschleiert die Rede von der Schärfung, dass es auch mehrere geeignete Schärfungen des Autonomiebegriffs geben könnte. Das liegt sogar nahe, wenn man sich die Unterschiede zwischen den beiden Perspektiven vor Augen führt, aus denen man einmal nach dem angemessenen Umgang mit der Autonomie anderer und einmal nach dem angemessenen Umgang mit der eigenen Autonomie fragt. Beide Perspektiven unterscheiden sich z. B. in Bezug auf ihre epistemischen Voraussetzungen: Das Gefühlsleben einer Person scheint für ihre Autonomie eine Rolle zu spielen, etwa wenn man verunsichert, verängstigt oder deprimiert ist.
5 Meyers (1989, 59) spricht von self-direction, die zudem noch „untrennbar“ mit der Bedingung der „Selbstdefinition“ verknüpft sei.
1.3 Was an Autonomie untersuchen? Vier Perspektiven auf Autonomie | 21
Zu unserem eigenen Gefühlsleben scheinen wir aber einen privilegierten Zugang haben; so weiß ich meist besser, was ich gerade fühle, als die Personen, die mich beobachten. Insofern das Gefühlsleben für Autonomie relevant ist, wäre es also einfacher, Wissen von der eigenen Autonomie zu haben als Wissen von der Autonomie anderer Personen – weil es für uns selbst einfacher festzustellen ist, ob ein relevantes Kriterium (z. B. „ist nicht stark verunsichert“) erfüllt ist oder nicht. Und darum können dort, wo es um die eigene Autonomie geht, durchaus auch Kriterien als geeignet und genügend scharf gelten, die hinsichtlich der Autonomie anderer Personen als ungeeignet und zu unscharf gelten würden. Das ist ein erster Hinweis darauf, dass eine gelungene Schärfung im Hinblick auf den Umgang mit der Autonomie anderer Personen anders aussehen könnte als eine gelungene Schärfung im Hinblick auf den Umgang mit der eigenen Autonomie. Die Möglichkeit mehrerer geeigneter Schärfungen des Autonomiebegriffs wirft die Frage auf, ob (und ggf. wie) diese Schärfungen zusammenhängen müssen: Muss ihnen beispielsweise etwas gemeinsam sein? Und ergibt sich daraus vielleicht ein weiteres Kriterium dafür, was überhaupt eine geeignete Schärfung ist? Antworten auf diese Fragen findet man, wenn man sich der Vielfalt der Phänomene zuwendet, die etwas mit der Selbstbestimmung von Personen zu tun haben. Wie ich im Folgenden zeigen werde, muss eine gelungene Schärfung des Begriffs Autonomie diese Vielfalt der Phänomene nämlich systematisieren. Damit meine ich, dass sie erstens Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Phänomenen aufzeigen muss (also die Verwandtschaft der Phänomene erklären muss, die dann allen geeigneten Schärfungen vereinheitlichend zugrunde liegt) und dass sie zweitens Unterschiede zwischen den Phänomenen (die dann die Grundlage für die Verschiedenheit der unterschiedlichen geeigneten Schärfungen bilden) benennen muss.
1.3 Was an Autonomie untersuchen? Vier Perspektiven auf Autonomie Betrachtet man die unterschiedlichen Erfahrungen, die wir mit der Idee der Selbstund Fremdbestimmung vortheoretisch verbinden, so findet sich darunter eine Vielzahl von Phänomenen: Autonomie steht zum Beispiel auf dem Spiel bei Affekttaten (eine Person „dreht durch“ und schlägt aus Wut über eine verlorene Squash-Partie dem Partner den Schläger ins Gesicht), bei Unterwürfigkeit (eine hörige Frau identifiziert sich mit ihrem Hausfrauendasein, ein Mönch unterwirft sich bedingungslos dem Willen des Abtes), bei Willensschwäche (eine Person tut etwas, wovon sie selbst glaubt, dass es nicht das alles in allem betrachtet Beste ist),
22 | 1 Die philosophische Aufgabe bei Konformität (eine Person richtet sich in ihren Ansichten und Handlungen nur danach, was andere tun oder was man, gemäß vorherrschender Meinung, tun sollte), bei Ambivalenz (jemand kann sich zwischen zwei Optionen nicht entscheiden, ist hin und her gerissen, unentschlossen, zaudert oder steht nur halbherzig hinter dem eigenen Tun), bei psychischen Störungen (Schizophrenie, Depression oder Sucht), bei Patientenverfügungen (eine Patientin legt schriftlich nieder, welche Behandlungsformen sie billigt, falls sie nicht mehr urteils- und einwilligungsfähig ist) oder bei Unterdrückung (etwa in Form von Sklaverei oder totalitären politischen Systemen). Über diese Auswahl hinaus gibt es noch weitaus mehr Phänomene, die gemeinhin mit Selbst- oder Fremdbestimmung in Verbindung gebracht werden: Abhängigkeit, Authentizität, Besessenheit, fehlende Chancen, Entfremdung, Gehirnwäsche, mangelnder Gestaltungsspielraum, Hypnose, Individualität, soziale Isolation, Manipulation, Perspektivlosigkeit, Rigidität, Selbstständigkeit, Selbsttäuschung, Selbstverwirklichung, Sklaverei, unterdrückende Sozialisation, Totalitarismus, Unwissenheit, Ungleichheit, innere Zerrissenheit, Zwang.
Diese Beschreibungen von Kontexten, in denen Autonomie auf dem Spiel steht, sind ausgesprochen heterogen: Darunter finden sich Charaktermerkmale (Konformität, Rigidität, innere Erlebnisse (Ambivalenz, Zerrissenheit), Handlungen Dritter (Hypnose, Zwang), „selbstbezogene Aktivitäten“ (Selbsttäuschung, Selbstverwirklichung), Ideale (Authentizität, Individualität) und Formen politischer Ordnung (Sklaverei, Totalitarismus). Das wirft die Frage auf, wie die genannten Erfahrungen und Situationen eigentlich untereinander und insbesondere mit der Idee der Selbstbestimmung zusammenhängen. Von einer zufriedenstellenden Autonomiekonzeption sollte man erwarten können, dass sie diese Frage beantwortet. Das heißt nichts anderes, als dass eine Autonomiekonzeption die genannten Erfahrungen systematisieren muss, also das Verhältnis zwischen diesen Erfahrungen und dem Begriff Selbstbestimmung genauer bestimmen und dabei angegeben muss, welche Erfahrungen aus welchen Gründen tatsächlich Erfahrungen von Fremdoder Selbstbestimmung sind.6
1.3.1 Ein Schema zur Systematisierung Die Systematisierung eines Gegenstandsbereichs benennt Gemeinsamkeiten, die die Verwandtschaft zwischen den Elementen des Gegenstandsbereichs erklären,
6 Das lässt natürlich die Möglichkeit offen, dass einige dieser Erfahrungen unter einem geschärften Autonomiebegriff gar nichts – oder weniger als gedacht – mit personaler Autonomie zu tun haben und darum aus der genannten Liste herausfallen.
1.3 Was an Autonomie untersuchen? Vier Perspektiven auf Autonomie |
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und benennt Unterschiede zwischen diesen Elementen, auf deren Grundlage Teilklassen des Gegenstandsbereichs gebildet werden können. Betrachtet man beispielhaft die ersten acht oben genannten Phänomene (Affekttaten etc.), so lässt sich die formale Struktur einer Systematisierung der Erfahrungen von Selbst- und Fremdbestimmung – ein Systematisierungsschema – bereits grob umreißen. Man sieht zunächst, dass Autonomie bei den acht Phänomenen in Bezug auf verschiedene Gegenstände ins Spiel kommt: Bei Unterwürfigkeit, Konformität, Unterdrückung und psychischen Störungen spricht man einer Person umfassend Autonomie ab – nämlich in Bezug auf ihre Lebensführung, d. h. die Art und Weise, wie sie ihr Leben führt. Bei Affekttaten, Patientenverfügungen, Willensschwäche und Ambivalenz hingegen geht es um die Autonomie der Person in Bezug auf einzelne Entscheidungen oder Handlungen. Autonomiezuschreibungen können sich somit hinsichtlich ihres Skopus unterscheiden. Im Folgenden werde ich diese beiden Blickwinkel als „globale Perspektive“ (in Bezug auf die Lebensführung einer Person) respektive „lokale Perspektive“ (in Bezug auf Entscheidungen oder Handlungen) bezeichnen (vgl. Young 1980, 566; die Unterscheidung verläuft parallel zur Unterscheidung zwischen „episodischer“ und „programmatischer“ Autonomie bei Meyers 1987, 624f., 1989, 48). Eine zweite Dimension, hinsichtlich derer sich die heterogenen Erfahrungen ordnen lassen, hängt mit den in Abschnitt 1.2 eingeführten praktischen Erkenntnisinteressen zusammen (vgl. auch Appiah 2005, 58–61; Meyers 2000a, 476). Dort hatte ich zwischen der praktischen Wirkung, die (fehlende) Autonomie auf andere hat, und der praktischen Wirkung, die (fehlende) Autonomie auf uns selbst hat, unterschieden. Davon ausgehend kann man bei allen Erfahrungen fragen, für wen die (fehlende) Autonomie eigentlich zum Problem wird – wen die (fehlende) Autonomie eigentlich kümmern muss. Bei Patientenverfügungen, Affekttaten, psychischen Störungen und Unterdrückung wird die (fehlende) Autonomie einer Person vor allem für Dritte zum Problem; in den Zusammenhängen, in denen diese Erfahrungen der Fremd- und Selbstbestimmung gemacht werden, sind nämlich typischerweise mehrere Personen involviert und man fragt nach der Autonomie einer Person, weil die (fehlende) Autonomie einer bestimmten Person (der Patientin, der im Affekt Handelnden, der psychisch Kranken, der Unterdrückten) andere Personen vor eine Handlungsanforderung stellt: Der Wille der Patientin soll von der Ärztin respektiert werden; die im Affekt Tötende wird vor Gericht anders behandelt als eine Mörderin; von der psychisch Kranken können wir gewisse Dinge nicht verlangen; die Unterdrückte sollte vielleicht befreit werden. Man könnte auch sagen, dass wir uns in diesen Fällen aus einer drittpersonalen Perspektive heraus für Autonomie interessieren: Wir wollen wissen, wann jemand anderes autonom ist, weil das Auswirkungen auf unseren Umgang mit ihm oder ihr hat. Würde man jemanden fragen, warum er sich im Fall von Patientenverfügungen, Affekttaten,
24 | 1 Die philosophische Aufgabe psychischen Störungen oder Unterdrückung für Autonomie interessiert und nach den Bedingungen der Autonomie fragt, so könnte er antworten: „Weil ich wissen muss, wie ich mit jemand anderem umzugehen habe.“ Und würde man die Person, deren Autonomie in Frage steht, fragen, warum man sich mit ihrer Autonomie auseinandersetzen sollte, so könnte sie antworten: „Weil sich das darauf auswirkt, wie die anderen mit mir umzugehen haben“. Bei der drittpersonalen Perspektive auf Autonomie geht es folglich darum, was für uns aus der Autonomie oder Heteronomie eines anderen folgt bzw. wie wir auf die Autonomie und Heteronomie reagieren müssen. Bei Ambivalenz, Willensschwäche, Konformität und Unterwürfigkeit hingegen wird die (fehlende) Autonomie einer Person vor allem für sie selbst zum Problem. Dass jemand bei seinen Entscheidungen z. B. ambivalent oder willensschwach ist, hat in Bezug auf unseren Umgang mit ihm keine Auswirkungen (jedenfalls soweit wir unbeteiligte Dritte und nicht etwa seine Freunde sind, für die es in solchen Situationen durchaus Handlungsbedarf geben kann); aber für ihn und aus seiner Sicht ist es durchaus sehr bedauerlich, und er wird daran etwas ändern wollen. Ebenso ändert sich für unbeteiligte Dritte am Umgang mit einer konformen oder unterwürfigen Person wenig, obwohl ein konformes oder unterwürfiges Leben nicht besonders erstrebenswert ist und die betroffene Person daran etwas ändern sollte. Zwar kann die Konformität oder Unterwürfigkeit einer Person beeinflussen, in welche Beziehung wir zu jemandem treten – mit wem wir Zeit verbringen, wen wir um Rat fragen und wen wir zur Freundin haben. Aber wenn zwischen zwei Personen A und B nicht bereits eine Beziehung besteht, so ist von A stets dasselbe Verhalten gegenüber B gefordert – unabhängig davon, ob B konform und unterwürfig lebt oder nicht. Bei Ambivalenz, Willensschwäche, Konformität und Unterwürfigkeit stellt die (fehlende) Autonomie der Betroffenen also nicht in erster Linie andere (im Sinne unbeteiligter Dritter), sondern vielmehr die Betroffene selbst vor eine Handlungsanforderung. In diesen Fällen blicken wir aus einer erstpersonalen Perspektive auf das Phänomen der Selbst- und Fremdbestimmung: Es geht nicht darum, wie Personen mit der Autonomie und Heteronomie einer anderen Person umgehen müssen, sondern darum, wie eine Person mit ihrer eigenen Autonomie umgehen muss – wie sie zum Beispiel ihre Autonomie herstellen, wahren oder verbessern kann. Autonomie hat unter diesem Blickwinkel mehr mit einem persönlichen Ideal zu tun: Es geht um eine bestimmte Art und Weise des Tätigseins, nach der Personen in ihrem eigenen Handeln und in ihrer eigenen Lebensführung typischerweise streben. Die Frage, die hinter dieser Perspektive steht, ist weniger „Was verlangt die Autonomie anderer von mir?“, als vielmehr „Welche Art von Person will ich sein? Welche Lebensweise möchte ich zu meiner eigenen machen?“ (vgl. Jouan 2008, 8).
1.3 Was an Autonomie untersuchen? Vier Perspektiven auf Autonomie |
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Das Unterscheidungsmerkmal zwischen erst- und drittpersonaler Perspektive ist die Frage, ob sich das Interesse an der Autonomie einer Person verliert, wenn man sich andere Personen in der in Frage stehenden Situation „wegdenkt“. In der drittpersonalen Perspektive ist das der Fall: Autonomie könnte hier nicht zum Problem werden, wenn andere Personen nicht involviert wären. Die Herausforderung, zwischen autonomen und heteronomen Willensbekundungen einer Patientin am Lebensende entscheiden zu müssen, würde sich beispielsweise gar nicht stellen, wenn es keine Ärztin gäbe, die die Willensbekundung beachten muss. Und würde man sich bei einer Unterdrückung alle anderen Personen wegdenken, so gäbe es auch keine Unterdrückerinnen mehr, also auch keine unterdrückte Person – und das Problem verschwindet. Unter der erstpersonalen Perspektive hingegen kann Autonomie auch dann zum Problem werden, wenn andere Personen nicht involviert sind: An meinem schwachen Willen, entgegen meinem Vorsatz zur Schokolade zu greifen, kann ich auch dann verzweifeln, wenn ich der letzte Mensch auf Erden bin (meine Patientenverfügung wäre hingegen völlig belanglos). Und um meine Autonomie wäre es in dieser menschenleeren Welt auch nicht besser bestellt, wenn ich noch immer versuchen würde, mich (z. B. in Bezug auf meine Kleidung) konform zu den Erwartungen und Rollenbildern zu verhalten, mit denen ich aufgewachsen bin. Die Unterscheidungen hinsichtlich Skopus und zugrunde liegendem Interesse lassen sich frei miteinander kombinieren: Manche Autonomieerfahrungen (etwa Konformität) betrachtet man typischerweise aus der erstpersonalen, globalen Perspektive, andere (z. B. Affekttaten) aus der drittpersonalen, lokalen Perspektive. Zusammengenommen ergeben sich aus den beiden Unterscheidungsdimensionen somit vier Perspektiven auf Autonomie (implizit ist dies auch angelegt bei Allmark 2008, 43); die acht Ausgangsphänomene lassen sich dabei wie in Tabelle 1.1 diesen Perspektiven zuordnen. Tab. 1.1. Vier Blickwinkel auf personale Autonomie Interesse
Skopus erstpersonal
drittpersonal
lokal
Ambivalenz Willensschwäche
Patientenverfügung Affekttaten
global
Konformität Unterwürfigkeit
Psychische Störungen Unterdrückung
26 | 1 Die philosophische Aufgabe Auch die anderen genannten Erfahrungen (Authentizität,. . . , Zwang; siehe S. 22) lassen sich in diese Matrix einordnen: Rigidität und Selbstverwirklichung fallen beispielsweise eher in die globale, erstpersonale Kategorie, während Totalitarismus und (moralische) Ungleichheit eher in die globale, drittpersonale Kategorie fallen. Die (allenfalls induktiv gestützte) Behauptung ist, dass sich alle vortheoretisch mit (fehlender) Autonomie assoziierten Erfahrungen aus mindestens einem der vier Blickwinkel betrachten lassen. Das ist vereinbar damit, dass manche Erfahrungen je nach konkretem Fall auch in mehrere Zellen der Matrix fallen können. Das gilt beispielsweise für Zwang oder Entfremdung: Man kann von anderen zu einzelnen Handlungen (wie dem Öffnen des Banktresors) oder zu einer Lebensweise (etwa als Kindersoldatin) gezwungen werden; und ebenso wie man von seinem letzten Auftritt in einer öffentlichen Podiumsdiskussion entfremdet sein kann, kann einem auch das ganze Leben als Politikerin fremd vorkommen.
1.3.2 Das Verhältnis der vier Perspektiven Dies wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis die vier Perspektiven zueinander stehen. Man könnte erstens meinen, dass einige der Perspektiven auf andere reduzierbar sind. Dass eine Perspektive P1 auf eine Perspektive P2 reduzierbar ist, heißt hier, dass jedes Phänomen aus P1 als Phänomen aus P2 beschrieben werden kann und sich nicht unabhängig von dieser Beschreibung (als Phänomen aus P2 ) verstehen lässt. Eine solche Reduktionsbeziehung könnte innerhalb der beiden Dimensionen „Skopus“ und „Interesse“ jeweils in beide Richtungen verlaufen, d. h. es wären die folgenden vier Reduktionsbeziehungen möglich:7 1. Die globale ist auf die lokale Dimension reduzierbar. 2. Die lokale ist auf die globale Dimension reduzierbar. 3. Die drittpersonale ist auf die erstpersonale Dimension reduzierbar. 4. Die erstpersonale ist auf die drittpersonale Dimension reduzierbar. Die erste Reduktionsbeziehung innerhalb der Dimension „Skopus“ wird tatsächlich gelegentlich vertreten; denn manchmal wird (implizit oder explizit) ein einfacher funktionaler Zusammenhang zwischen globaler und lokaler Autonomie
7 Wenn man nur die anhand der Dimensionen individuierten Perspektiven betrachtet, so sind insgesamt zwölf Reduktionsbeziehungen logisch möglich (z. B.: „Die lokale, erstpersonale Perspektive lässt sich auf die globale, drittpersonale Perspektive reduzieren“, oder „Die globale, drittpersonale Perspektive lässt sich auf die lokale, drittpersonale Perspektive reduzieren“). Ich betrachte im Folgenden nur die vier möglichen Reduktionsbeziehungen entlang der Dimensionen, da nur sie interessante theoretische Vereinfachungen zuließen.
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unterstellt, wonach Autonomie hinsichtlich der Lebensführung einfach eine Funktion der Autonomie hinsichtlich einzelner Handlungen oder Entscheidungen ist (vgl. auch Ekstrom 2005, 144f.; Friedman 2003, 4): „Autonomy at the more ‘global’ level should simply amount to perhaps an aggregation of this property. The property of being autonomous tout court, then, is parasitic on the property of autonomy for isolated preferences and values“ (Christman 1991, 3; Herv. i. Orig.).
Demnach wäre die globale auf die lokale Perspektive reduzierbar. Wer diese Sichtweise vertritt, muss mehr dazu sagen, wie die Funktion, die „lokale“ zu „globaler“ Autonomie aggregiert, genauer aussieht. Eine einfache Summation über alle Situationen tut es nicht, denn eine Politikerin, die sich „nur“ bei jeder dritten Podiumsdiskussion von ihrem Tun und Reden entfremdet fühlt (also häufiger darin aufgeht als davon Abstand nimmt), hat ganz offenbar dennoch ein Autonomieproblem im Hinblick auf ihr Leben als Politikerin. Natürlich könnte die „Aggregationsfunktion“ recht komplex sein; aber hier trägt diejenige, die von der Existenz einer solchen Funktion ausgeht, die Beweislast. Die umgekehrte Reduktionsrichtung – wonach lokale Autonomie eine Funktion globaler Autonomie ist – wird kaum vertreten; der Grund dafür liegt wohl darin, dass es schwer zu leugnen ist, dass zwei Personen ein gleichermaßen selbstbestimmtes Leben führen können, obwohl die eine Person einmal in ihrem Leben ausgerastet ist, die andere nicht. Ganz offenbar sind globale Autonomiezuschreibungen nicht fein genug, um daraus Zuschreibungen (fehlender) lokaler Autonomie ableiten zu können. Kann man innerhalb der Dimension „Interesse“ die erstpersonale Perspektive auf die drittpersonale reduzieren oder umgekehrt? Nein, das ist weder in die eine noch in die andere Richtung möglich: Ich hatte die beiden Interessen anhand der Frage unterschieden, ob die Autonomie einer Person noch zu einem praktischen Problem werden kann, wenn andere Personen nicht involviert wären – nur beim erstpersonalen Interesse ist das der Fall. Wenn nun das drittpersonale Interesse auf das erstpersonale zurückzuführen wäre, so müsste man sich aber auch in den Erfahrungen von Fremd- und Selbstbestimmung, die ich der drittpersonalen Perspektive zugeordnet hatte, die Personen wegdenken können, ohne dass sich damit das Problem erledigt. Das scheint aber eben nicht so zu sein. Wenn schon eine Reduktionsbeziehung vorliegt, dann kann sie nur in die umgekehrte Richtung verlaufen: Das erstpersonale Interesse könnte auf das drittpersonale zurückzuführen sein. Dagegen spricht allerdings, dass der Autonomiebegriff unter beiden Interessen anders funktioniert (vgl. Gutmann 2001, 6–10): In Fragen der moralischen Verantwortung (bei Affekttaten), des Umgangs mit Patientenverfügungen oder der Geschäftsfähigkeit von psychisch Kranken – also unter dem drittpersonalen Interesse – ist Autonomie ein binärer Begriff; hier kommt es darauf an, ob jemand
28 | 1 Die philosophische Aufgabe bestimmte Bedingungen (beispielsweise gewisse kognitive Fähigkeiten) erfüllt, damit man auf eine bestimmte Weise mit ihm umgehen darf. Wenn eine Person diese Bedingungen „über-erfüllt“ (und die notwendigen kognitiven Fähigkeiten bei ihm höher entwickelt sind), so wird er darum von anderen nicht auch anders behandelt: Wenn zwei Patientenverfügungen die Anforderungen an eine autonome Willensbekundung erfüllen, dann hat die eine nicht einfach deshalb mehr Gewicht, weil die entsprechende Patientin die nötigen Voraussetzungen in stärkerem Maße erfüllt als die andere Patientin – beide müssen von der behandelnden Ärztin in gleicher Weise respektiert werden. Unterschiede in der (Nicht-)Erfüllung der Bedingungen personaler Autonomie sind somit in der drittpersonalen Perspektive für das Verhalten anderer nicht relevant. In der erstpersonalen Perspektive hingegen sind solche Unterschiede durchaus relevant für das Verhalten der Person sich selbst gegenüber: Wer glaubt, er dürfe aus gesundheitlichen Gründen keinen Kuchen essen, und dennoch an der Kuchentheke zur Sahnetorte greift, dessen Wille ist in einem intuitiven Sinne schwächer als der Wille desjenigen, der zwar der Kuchentheke nicht widerstehen kann, aber immerhin einen Diät-Apfelkuchen bestellt. Im zweiten Fall wird man sein Verhalten weniger stark bereuen als im ersten Fall, weil das Ausmaß der Willensschwäche geringer ist; und entsprechend bestimmt man im zweiten Fall stärker selbst als im ersten. Ebenso wie Willensschwäche treten auch Ambivalenz, Konformität und Unterdrückung in verschiedenen Graden auf; sie können stark oder schwach ausgeprägt sein und der Grad ihrer Ausprägung korreliert mit dem Grad an (verbleibender) Autonomie. Anders als beim drittpersonalen Interesse macht das Ausmaß der (Nicht-)Erfüllung der Bedingungen personaler Autonomie dabei durchaus einen Unterschied für den Umgang mit uns selbst: Wir bereuen einen leichten Anfall von Willensschwäche weniger als einen starken Anfall; wir ringen in Fällen geringer Ambivalenzen weniger mit uns als in Fällen starker Ambivalenzen; wir empfinden ein sehr konformes Leben im Unterschied zu einem nur leicht konformen Leben als beengender; eine schwere Form der Unterdrückung nagt stärker an unserem Selbstwertgefühl als eine leichte Form der Unterdrückung. In diesen Fällen kommt es also in praktischer Hinsicht darauf an, in welchem Maße man bestimmte Bedingungen erfüllt. Autonomie ist unter dem erstpersonalen Interesse somit kein binärer, sondern ein kontinuierlich abstufbarer Begriff – ein Ideal, dem man mehr oder weniger nah kommen kann. Wer nun das erstpersonale Interesse auf das drittpersonale zurückführen möchte, muss zeigen, dass sich ein abstufbares Ideal aus einem binären Begriff ableiten lässt. Das ist tatsächlich in gewisser Hinsicht möglich: Die Bedingungen, welche die für unser Verhalten bedeutsame Grenze enthalten, lassen sich nämlich „entgrenzen“. Man kann zum Beispiel das Ideal der sportlichen Leistung, an dem sich eine Hochspringerin orientieren sollte, aus dem binären Begriff Weltklasse-
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hochspringerin gewinnen: Eine Weltklassehochspringerin springt höher als 2,00 m; wenn man dieses Kriterium erfüllt, wird man auf eine bestimmte Weise behandelt (und darf z. B. bei den Olympischen Spielen starten). Ein Ideal der sportlichen Leistung im Hochsprung gewinnt man nun, wenn man dieses Kriterium entgrenzt: Je höher, desto besser. Ganz ähnlich könnte man auch im Fall der Autonomie verfahren: Hat man einmal unter einer drittpersonalen Perspektive auf der Ebene der Bedingungen personaler Autonomie die Grenze identifiziert, die im Umgang mit anderen Personen von Bedeutung ist, dann kann man diese Bedingungen entgrenzen und gelangt so – vielleicht – zu einem Ideal der Selbstbestimmung, wie es sich aus der erstpersonalen Perspektive darstellt. Das Beispiel zeigt zwar eine Beziehung zwischen den beiden Perspektiven auf; es zeigt aber auch, dass es sich dabei nicht um eine Reduktion handelt. Denn man kann das Ideal der sportlichen Leistung im Hochsprung (je höher, desto besser) auch unabhängig von dem Begriff Weltklassehochspringerin verstehen. Man muss nicht erst die Grenze kennen, um das Ideal zu verstehen. Vielleicht kann man dementsprechend leichter etwas zum Ideal der Autonomie (der erstpersonalen Perspektive) sagen, wenn man Autonomie als einen binären Begriff (aus drittpersonaler Perspektive) untersucht hat; aber dennoch scheint Ersteres nicht auf Letzteres reduzierbar. Auch gegen eine Reduktion innerhalb der Dimension „Interesse“ sprechen somit gute Gründe. Ich gehe daher im Folgenden davon aus, dass alle vier Perspektiven auf Autonomie eigenständige Perspektiven darstellen und sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Eine zweite Möglichkeit, das Verhältnis der vier Perspektiven näher zu bestimmen, besteht darin, sie hinsichtlich ihrer Relevanz zu ordnen: Man könnte meinen, einige Perspektiven seien wichtiger (oder paradigmatischer) als andere. So wird manchmal behauptet, die drittpersonale Perspektive sei der grundlegende Blickwinkel, weil Fragen nach moralischer Verantwortlichkeit und nach den Grenzen paternalistischer Eingriffe in diese Perspektive fallen (Arpaly 2005, 176–179). Und manche gehen davon aus, dass die globale Ebene den intuitiveren (und darum wichtigeren) Blickwinkel auf Autonomie liefert (Dworkin 1988, 15f.). Dieser Ansicht werde ich nicht folgen. Auf den ersten Blick scheinen für unseren Umgang mit der Welt und uns selbst ja alle Perspektiven von Bedeutung – so hatte ich die Perspektiven schließlich eingeführt: Unter allen Perspektiven macht es einen Unterschied für den Umgang mit uns oder anderen, ob jemand autonom ist oder nicht. Und da keine Perspektive ohne Verlust für unseren Umgang mit anderen und uns selbst eliminierbar ist, stellt sich die Frage, woran man die Wichtigkeit einer Perspektive gegenüber einer anderen eigentlich bemessen sollte. Hier bleiben diejenigen, die eine Perspektive besonders auszeichnen, jedoch eine gute Antwort schuldig. Einzig Arpaly (2005) nennt überhaupt ein Kriterium – dass es in der drittpersonalen Perspektive gefestigte und klare Intuitionen bezüglich Autonomie
30 | 1 Die philosophische Aufgabe (als Bedingung moralischer Verantwortung und der Grenze für paternalistische Eingriffe) gebe. Mir scheint das zum einen fraglich und zum anderen irrelevant für die Frage, worauf man seine Erkenntnisbemühungen in einer Untersuchung von Autonomie richten sollte: Die Erkenntnisbemühungen sollten sich auf das richten, was in praktischer Hinsicht von Bedeutung ist. Und hier scheint mir die erstpersonale Perspektive (unser Umgang mit und die Herstellung von unserer eigenen Autonomie) nicht weniger bedeutsam als die drittpersonale Perspektive (unser Umgang mit der Autonomie anderer). Alle Blickwinkel auf Autonomie sind somit eigenständig und wichtig; dennoch werde ich in dieser Arbeit vor allem anhand von Erfahrungen, die der drittpersonalen Perspektive zugerechnet werden können, argumentieren und in Kapitel 7 noch einmal gesondert auf die erstpersonale Perspektive eingehen. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens möchte ich die Darstellung zuspitzen und übersichtlich halten. Zweitens habe ich bereits angedeutet, dass ich ein bestimmtes Verständnis des Zusammenhangs von erst- und drittpersonaler Perspektive habe: Danach darf man hoffen, die Bedingungen für Autonomie unter der erstpersonalen Perspektive durch eine „Entgrenzung“ der Bedingungen für Autonomie unter der drittpersonalen Perspektive zu finden. Wenn man hingegen umgekehrt zunächst die Bedingungen für personale Autonomie im Sinne eines persönlichen Ideals (also aus erstpersonaler Perspektive) untersucht, hat man noch zusätzliche argumentative Arbeit zu leisten, um die Grenzen zu identifizieren, die charakteristisch für die drittpersonale Perspektive sind. Der Fokus auf die drittpersonale Perspektive scheint somit zumindest arbeitserleichternd. Trotz dieses Fokus sollte bei den einzelnen Argumentationsschritten aber deutlich werden, dass die Argumentation auf alle Perspektiven anwendbar ist. Daher spielt es letztlich nur eine untergeordnete Rolle, ob nicht eine der Perspektiven doch in irgendeiner Hinsicht Priorität genießt. Aus diesen Überlegungen ergibt sich ein weiteres Kriterium dafür, wie eine angemessene Schärfung des Autonomiebegriffs aussehen muss: Wenn sich die Vielzahl der unter diesem Begriff versammelten Phänomene anhand des entwickelten Schemas systematisieren lässt, dann muss eine Autonomiekonzeption die Unterschiede zwischen den vier Perspektiven auf der Ebene der Bedingungen personaler Autonomie nachzeichnen können. Aus den Bedingungen für Autonomie muss irgendwie hervorgehen, worin sich die vier Teilklassen von Erfahrungen der Fremd- und Selbstbestimmung unterscheiden. Eine Autonomiekonzeption sollte sich also nicht auf nur eine Teilklasse beschränken und zu den anderen nichts zu sagen haben; sie sollte aber auch nicht alle Phänomene in einen Topf werfen. Das heißt es, den zweiten Teil der zu leistenden Systematisierung zu erbringen, nämlich die spezifischen Unterschiede aufzuzeigen.
1.4 Ein methodischer Einwand: ein Begriff?
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1.4 Ein methodischer Einwand: ein Begriff? Gegen den Vorschlag, vier Perspektiven auf Autonomie zu unterscheiden, könnte man einwenden, dass er vielleicht gar nicht weit genug geht. Die Pluralität und Unschärfe der Normalsprache sowie die Heterogenität des Phänomens Autonomie legen eher nahe, dass im Grunde ganz verschiedene Autonomiebegriffe im Spiel sind, die sich je nach Kontext unterscheiden (Arpaly 2003, Kap. 4; Baumann 2008, 455–458; Mackenzie 2014): Im Kontext der Medizinethik geht es bei der Debatte um Autonomie beispielsweise um etwas ganz anderes als im Kontext der politischen Philosophie oder in dem Kontext, in dem Autonomie ein persönliches Charakterideal und Bestandteil der gelungenen Lebensführung ist. Diese Idee ist durchaus attraktiv. Denn es scheint ganz offenkundig so, dass die Zielsetzung, mit der der Autonomiebegriff in eine Debatte eingeführt wird, in verschiedenen Problemkontexten eine andere ist (vgl. Schwartz 2005, 445). Das sieht man schon daran, dass die Klasse der autonomen Personen in verschiedenen Problemkontexten unterschiedlich weit ist: Während in der (liberalistischen) politischen Philosophie und der Medizinethik eine eher „inklusive“ Tendenz besteht, Autonomie so weit aufzufassen, dass hinreichend viele Patienten und Bürgerinnen als autonom gelten, gibt es bei der Frage nach Autonomie als einem Ideal der gelungenen Lebensführung eine eher „exklusive“ Tendenz. Allerdings ist fraglich, welche Schlussfolgerung genau man aus dieser Beobachtung zieht. Denn es bestehen durchaus Ähnlichkeiten zwischen den praktischen Funktionen, die der Autonomiebegriff in den unterschiedlichen Kontexten jeweils hat: In der Medizinethik dient der Autonomiebegriff dazu, das in moralischer Hinsicht richtige Verhältnis zwischen Ärztin und Patientin zu bestimmen; in der politischen Philosophie dient er dazu, das richtige Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern und Bürgerinnen zu bestimmen. In beiden Fällen geht es darum, eine bestimmte Form der Unabhängigkeit innerhalb eines Abhängigkeitsverhältnisses, eines Machtgefälles oder fremden Einflussbereichs zu bezeichnen. Das gilt selbst da, wo man Autonomie als ein persönliches Ideal der gelungenen Lebensführung betrachtet: Hier stellt man sich die Frage, wie man seine eigene Unabhängigkeit angesichts einer Vielzahl von Abhängigkeiten und äußeren Einflüssen bewahren oder erlangen kann, z. B. angesichts der materiellen Abhängigkeit von einem Einkommen, der emotionalen Abhängigkeit vom Wohlergehen derer, die man liebt, oder von der Bestätigung bzw. den Erwartungen derer, die man schätzt. Nur stellt man die Frage nach dem richtigen Ausmaß der Unabhängigkeit inmitten der Abhängigkeit eben aus der inneren Perspektive heraus (es geht schließlich darum, wie man selbst seine eigene Autonomie herstellt). Ganz so verschieden scheinen die „verschiedenen“ Kontexte also gar nicht zu sein und
32 | 1 Die philosophische Aufgabe die Unterschiede, die man vielleicht zwischen ihnen machen möchte, lassen sich bereits durch die vier unterschiedenen Perspektiven einfangen. Darüber hinaus ist es gar nicht so leicht, dem Vorschlag, die Idee der Autonomie in verschiedene „Autonomiebegriffe“ aufzuspalten, Sinn abzugewinnen. Wenn man die verschiedenen Begriffe tatsächlich anhand von Problemkontexten unterscheiden möchte („ein Kontext, ein Begriff“), dann muss man Kontexte individuieren können: Ist beispielsweise die Medizinethik ein einziger Kontext oder sollte man nicht zwischen den Kontexten „Blutspende“, „Organspende“ und „Sterben“ unterscheiden? Warum sollte man die liberalistische politische Philosophie als einen Kontext auffassen und nicht zwischen „Gerechtigkeit“, „Neutralität“ und „Perfektionismus“ differenzieren? Es scheint, dass man bereits eine Autonomiekonzeption voraussetzen muss, um zu wissen, welches Bündel von Fragen einen Kontext und welches einen anderen bildet. Ohnehin kann eigentlich nicht gemeint sein, dass in der Diskussion um Autonomie wirklich verschiedene Begriffe im Spiel sind. Denn das hätte die unerfreuliche Konsequenz, dass man die philosophische Auseinandersetzung mit Autonomie in weiten Teilen ganz anders verstehen müsste: Die Teilnehmerinnen der Debatte redeten dann gar nicht über denselben Gegenstand, sondern aneinander vorbei. Folglich müsste man den Gegensatz zwischen „Autonomie setzt voraus, dass man die richtigen moralischen Grundsätze hat“ und „Autonomie setzt nicht voraus, dass man die richtigen moralischen Grundsätze hat“ so verstehen wie den Gegensatz zwischen „Der Ball ist rund“ und „Der Ball ist laut“. Trotz aller Unklarheiten scheint die Debatte um personale Autonomie allerdings nicht in dieser Weise von Äquivokationen durchsetzt zu sein. Denn wäre sie es, so könnte man erstens nicht erklären, warum die Debatte nicht einfach durch Disambiguierung aufgelöst wird: Jede kompetente Sprecherin könnte im Fall des Missverständnisses in Bezug auf den Ball ja sagen, dass man eben einmal von dem Spielgerät, einmal von der Tanzveranstaltung – also von ganz unterschiedlichen Dingen – spricht. Eine ähnlich offenkundige Auflösung (durch zumindest manche kompetente Sprecherinnen) würde man in Bezug auf Autonomie erwarten, sofern die Hypothese zuträfe, dass in der Debatte unterschiedliche Begriffe verwendet werden.8 Und zweitens könnte
8 Dieselbe Überlegung spricht auch gegen die modifizierte These, dass die Äquivokationen in der Autonomiedebatte nicht auf einer Homonymie (bei der wie im Fall von „Ball“ grundverschiedene Bedeutungen mit demselben sprachlichen Zeichen verbunden sind), sondern auf einer Polysemie beruhen (bei der wie im Fall von „Birne“ oder „Schloss“ die verschiedenen „Sinne“ eines Zeichens verwandt sind). Auch bei einer Polysemie kann man ein Gespräch, in dem die Beteiligten mit „Die Birne schmeckt süß“ und „Die Birne leuchtet hell“ oder mit „Das Schloss schließt nicht richtig“ und „Das Schloss ist zu besichtigen“ aneinander vorbeireden, leicht in die richtigen Bahnen lenken.
1.4 Ein methodischer Einwand: ein Begriff?
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man auch nicht erklären, warum jede Seite die Argumente der Gegenseite jeweils als relevant für die eigene Position betrachtet. Wenn Alma versuchen würde, Bea mit „Spitz mal die Ohren, der Ball ist doch deutlich zu hören!“ davon zu überzeugen, dass der Ball tatsächlich laut ist, so würde Bea dies wohl kaum als etwas betrachten, was für oder gegen ihre These, der Ball sei rund, sprechen könnte. Im Fall der Debatte um Autonomie ist es jedoch anders:9 Hier werden die Überlegungen, Beispiele und Argumente der Gegenseite ernst genommen und als relevant für die eigene Position betrachtet. Eine andere, etwas ausgefeiltere Variante, den Problemkontext einer Frage für den Autonomiebegriff relevant zu machen, besteht darin, nicht verschiedene Begriffe zu unterscheiden, sondern es bei einem einzigen Begriff zu belassen, der nur einen einzigen Gehalt hat, dessen Extension aber vom Kontext einer Aussage abhängt (vgl. Henning 2009, 34). Man kann sich die Idee hinter dieser kontextualistischen These anhand der Begriffe links und ich verdeutlichen: Beides sind insofern kontextabhängige Begriffe, als die Umstände, in denen Aussagen mit diesen Begriffen gemacht werden, die Wahrheitsbedingungen dieser Aussagen festlegen. Hier kommt es auf zwei verschiedene Arten von Umständen an: Bei einer Aussage wie „Ich bin eine Frau“ ist der Umstand relevant, dass eine ganz bestimmte Person diese Aussage macht. Denn die Aussage ist falsch, wenn sie vom Papst gemacht wird, aber wahr, wenn sie von Angela Merkel gemacht wird. Für die Wahrheit dieser Aussage kommt es also darauf an, wer sie äußert. Mit den relevanten Umständen der Aussage kann aber auch etwas anderes gemeint sein: Bei der Aussage „Die Uni liegt links vom See“ kommt es nämlich nicht darauf an, wer die Sprecherin ist, sondern eher darauf, in welcher Situation sich die Sprecherin und die Adressatin der Aussage befinden. Aus der einen Richtung betrachtet liegt die Uni links vom See und die Aussage ist wahr, aus der anderen Richtung betrachtet liegt die Uni hingegen nicht links vom See und die Aussage ist falsch. Dieses Verständnis von Kontextabhängigkeit scheint allerdings für den Begriff Autonomie kein geeignetes Modell. Denn in diesem Sinne kontextabhängige Begriffe haben die Eigenschaft, dass sich vermeintliche Widersprüche durch Hinweis auf eine oder beide Arten von Umständen leicht auflösen lassen: Wenn ich behaupte „Die Uni liegt links vom See“ und ein Freund behauptet „Die Uni liegt nicht links vom See“, dann können wir einem verdutzten Dritten erklären, dass ich mich auf der einen Seite des Sees befinde, während mein Freund auf der anderen Seite weilt. Analog lässt sich der Widerspruch zwischen Bernds Aussage „Ich bin keine Frau“
9 Siehe exemplarisch die Diskussion um das genaue Verhältnis von Autonomie und sozialen Umständen zwischen Marina Oshana (2005, 2006, 2007) und John Christman (2005b, 2007, 2009). Vgl. dazu Baumann 2008.
34 | 1 Die philosophische Aufgabe und Almas Aussage „Ich bin eine Frau“ leicht durch den Hinweis auf die Person, die die Aussage jeweils macht, auflösen. Doch im Fall der Autonomie lässt sich der Widerspruch zwischen „Jemand, der sich selbst dem Willen einer anderen Person unterwirft, ist nicht autonom“ und „Jemand, der sich selbst dem Willen einer anderen Person unterwirft, ist autonom“ weder durch den Verweis auf die jeweilige Sprecherin noch durch Verweis auf die äußere Situation auflösen: Der Verweis darauf, dass die erste Aussage von Marina Oshana (1998, 92f.) und die zweite von Gerald Dworkin (1988, 18, 29) stammt, kann höchstens eine psychologische Erklärung dafür liefern, warum die beiden Aussagen von den Sprechenden jeweils für wahr gehalten werden (etwa aufgrund anderer Hintergrundüberzeugungen), aber er kann nicht erklären, dass beide wahr sein können – was der Fall sein müsste, wenn die kontextualistische These zuträfe. Und auch der Hinweis, dass die sich widersprechenden Aussagen in jeweils anderen Problemzusammenhängen (also Situationen, in denen es um unterschiedliche Fragen ging) gefallen ist, hilft nicht weiter: Im Kontext der Medizinethik etwa findet sich sowohl die feste Überzeugung, dass die Informiertheit der Patientin eine notwendige Bedingung ihrer Autonomie ist, als auch die gegenteilige Meinung (Taylor 2004); mit dem Hinweis auf den Problemkontext kann man diesen Widerspruch also nicht auflösen, denn er ist bei beiden Aussagen über Autonomie derselbe. Natürlich ist mit dem Ausschluss von Sprecher- und Problemkontext nicht gezeigt, dass nicht andere Merkmale des Kontexts einer Autonomiezuschreibung über deren Wahrheitsbedingungen entscheiden. Insofern sind diese Überlegungen keine Widerlegung der ausgefeilten kontextualistischen These (tatsächlich werde ich letzten Endes in Kapitel 7 selbst eine schwache Variante dieser These vertreten); eher formulieren sie eine Herausforderung: Eine „kontextualistische“ Autonomiekonzeption muss – zumindest wenn sie über die Unterscheidung der vier Perspektiven hinausgehen will – genauer angeben, worin denn der Kontext besteht, auf den es ankommt. Die Auseinandersetzung mit dem methodischen Einwand, der die Einheit des Begriffs in Frage stellt, zeigt, dass es doch so etwas wie einen „begrifflichen Kern“ von Autonomie geben muss, der die verschiedenen Phänomene, die sich unter den vier verschiedenen Perspektiven versammeln, zusammenhält. Denn andernfalls wäre es unverständlich, warum Bedingungen für Autonomie, die unter der einen Perspektive entwickelt werden, als relevant für Autonomie unter anderen Perspektiven erachtet werden; es wäre unverständlich, warum der Streit um Autonomie nicht nur ein scheinbarer ist, der sich leicht auflösen lässt, und warum die Beteiligten nicht eigentlich aneinander vorbeireden. Eine Autonomiekonzeption muss sich somit auch daran messen lassen, ob sie einen solchen begrifflichen Kern – die „innere Einheit“ der verschiedenartigen Phänomene – herausarbeiten kann oder nicht.
1.4 Ein methodischer Einwand: ein Begriff?
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Die These, dass es einen begrifflichen Kern gibt, legt mich nicht zugleich auch auf eine These über die Struktur dieses begrifflichen Kerns fest. Eine Vorstellung von der Struktur des begrifflichen Kerns ist die einer Schnittmenge notwendiger Bedingungen: Danach gibt es unter jeder der vier Perspektiven je eine Menge von Bedingungen, die jeweils notwendig und zusammen hinreichend sind, um unter dieser Perspektive als autonome Person zu gelten; der begriffliche Kern ist dann diejenige Klasse von notwendigen Bedingungen, die den vier Mengen gemeinsam ist – es ist also die Schnittmenge der Bedingungen, die jeweils unter den vier verschiedenen Perspektiven notwendig für Autonomie sind. Diese Vorstellung ist in der Debatte um Autonomie durchaus verbreitet (vgl. Christman 1989, 5ff.); sie führt konstruktionsbedingt allerdings dazu, dass der begriffliche Kern für gewöhnlich nur minimale Anforderungen an autonome Personen enthält (eine Schnittmenge ist niemals größer als die Mengen, deren Schnittmenge sie ist). Daraus ergibt sich eine Tendenz, Autonomiekonzeptionen mit sehr schwachen Bedingungen für Autonomie zu formulieren. Ich habe kein A-priori-Argument dafür, dass diese Vorstellung scheitern muss; es genügt, darauf hinzuweisen, dass sie darauf angewiesen ist, dass es überhaupt eine solche Schnittmenge gibt und dass die Schnittmenge so reichhaltig ist, dass der resultierende begriffliche Kern nicht einfach nur sicherstellt, dass der Gegenstand, von dem Autonomie ausgesagt wird, eine Person ist – denn dann wäre es der Kern des Begriffs von Personen und nicht des Begriffs der Autonomie von Personen. Man mag darauf hoffen, dass diese Vorbedingungen erfüllt sind, aber voraussetzen sollte man es nicht. Ein alternatives Bild von der Struktur des begrifflichen Kerns geht nicht davon aus, dass allen Fällen von Autonomie etwas gemeinsam ist und dass der begriffliche Kern dieses Gemeinsame bezeichnet, sondern dass er das benennt, worin sich alle autonomen Personen ähneln (vgl. Wittgensteins Überlegungen zur Familienähnlichkeit, Wittgenstein 1984, §§ 66–71). Dabei muss das, worin sich alle autonomen Personen ähneln, nicht unbedingt ein einziges Merkmal sein; es kann sich auch um mehrere Merkmale handeln. Die unterschiedlichen Phänomene der Autonomie würden sich dann daraus ergeben, dass die Ähnlichkeiten zu diesem begrifflichen Kern jeweils hinsichtlich verschiedener Merkmale bestehen, hinsichtlich anderer Merkmale aber nicht bestehen. Die Tatsache, dass eine Ähnlichkeit zu gewissen „Kernmerkmalen“ besteht, erklärt dabei, warum man in jedem Einzelfall den Begriff Autonomie ins Spiel bringen kann; und die Tatsache, dass die verschiedenen Phänomene in Bezug auf ihre Ähnlichkeit zu denselben Merkmalen bemessen werden, erklärt, warum es sich um einen einzigen Begriff handelt. Was die verschiedenen Phänomene und Perspektiven unter einem Begriff zusammenhält, wäre dann die Ähnlichkeit zu diesen Kernmerkmalen, die den begrifflichen Kern der Autonomie ausmachen. Ohne dass ich dieses Bild hier im Detail verteidigen möchte (ich werde darauf allerdings in Kapitel 6 noch einmal
36 | 1 Die philosophische Aufgabe zu sprechen kommen), kommt es mir doch plausibler vor als die erste Auffassung. Hier kommt es mir nur darauf an zu zeigen, dass man sich mit der These, dass es so etwas wie einen begrifflichen Kern personaler Autonomie gibt, nicht zugleich auch eine problematische Voraussetzung über dessen Struktur (und eine methodische Vorentscheidung, die minimale Autonomiekonzeptionen bevorzugt) einkauft. Aus der Auseinandersetzung mit dem Zweifel an der Einheitlichkeit der Idee der Selbstbestimmung kann man ein weiteres Adäquatheitskriterium für eine gelungene Schärfung des Autonomiebegriffs gewinnen: Sie muss nicht nur, wie in Abschnitt 1.3 gezeigt, die Unterschiede zwischen den vier Perspektiven auf der Ebene der Bedingungen personaler Autonomie nachzeichnen können. Sie muss auch Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge angeben, die die verschiedenen Klassen von Erfahrungen erst zu Erfahrungen von Selbst- oder Fremdbestimmung machen. Diesen Teil der zu leistenden Systematisierung erbringt eine Autonomiekonzeption, indem sie den „begrifflichen Kern“ von Autonomie angibt.
1.5 Was eine Autonomiekonzeption leisten muss Aus den vorangegangenen Überlegungen lassen sich drei Adäquatheitskriterien für eine Konzeption personaler Autonomie ableiten. Erstens besteht die eigentliche Aufgabe darin, den Autonomiebegriff an seinen – recht breiten – Rändern zu schärfen: Eine angemessene Autonomiekonzeption nennt eine Menge von Bedingungen, die uns helfen, in strittigen Fällen zwischen praxiskonformen, aber sich widersprechenden Autonomiezuschreibungen zu entscheiden. Diese Schärfung ist nicht beliebig, sondern sie muss sich zweitens an unseren praktischen Erkenntnisinteressen bewähren: Eine Autonomiekonzeption, die uns bei der Frage, wie wir mit der Selbst- oder Fremdbestimmung anderer Personen umgehen sollen, oder der Frage, wie wir an Selbstbestimmung gewinnen können, nicht weiterhilft, ist keine gute Konzeption. Und drittens muss die Schärfung der Vielfalt der mit Autonomie einhergehenden Phänomene gerecht werden, dabei aber zugleich deren Verwandtschaft erklären. Und das heißt, sie muss eine Art „begrifflichen Kern“ angeben – der als einheitliche Struktur allen vier Perspektiven auf Autonomie zugrunde liegt und erst verständlich macht, inwiefern man in Bezug auf alle Perspektiven von Selbstbestimmung sprechen kann – und zugleich die Unterschiede zwischen diesen Perspektiven verständlich machen. In einem Satz zusammengefasst besteht die philosophische Aufgabe bei der Untersuchung der Natur personaler Autonomie also darin, den Begriff personale Autonomie so zu schärfen, dass die praktischen Erkenntnisinteressen befriedigt und die sich unter dem Begriff Autonomie tummelnden Phänomene systematisiert werden.
1.5 Was eine Autonomiekonzeption leisten muss | 37
Wie könnte eine entsprechende Schärfung des Autonomiebegriffs grundsätzlich vorgehen? Man könnte die Schärfung im Sinne einer reinen Stipulation oder Definition durchführen, ohne die (wenigen) paradigmatischen Fälle, in denen wir einstimmig von (mangelnder) Autonomie sprechen, zu berücksichtigen. Dieses Vorgehen erlaubt zwar, zwischen sich widersprechenden Autonomiezuschreibungen zu entscheiden (jedenfalls dann, wenn das Definiens hinreichend scharf ist); doch ihm fehlt die Anbindung an unseren normalen Sprachgebrauch und damit auch die Anbindung an unsere Erfahrungen von Selbst- und Fremdbestimmung: Man müsste erst noch zeigen, dass der Unterschied, den der stipulierte Begriff macht, ein für unser Selbst- und Weltverständnis wichtiger Unterschied ist und dass es derjenige Unterschied ist, auf den es uns in Erfahrungen der Selbst- und Fremdbestimmung ankommt – und dazu muss man wiederum auf paradigmatische Fälle zurückgreifen. Denn könnte man dies nicht zeigen, hätte man einfach das Thema gewechselt und einen beliebigen philosophischen Fachbegriff eingeführt, der uns außerhalb der Philosophie nicht weiter kümmern muss. Man hat also keine andere Wahl, als einen Begriff ausgehend von dem (mitunter kargen) Bestand an paradigmatischen Fällen zu schärfen, in denen Personen klarerweise unter den Begriff Autonomie fallen oder klarerweise nicht darunter fallen (vgl. Stoecker 2010, 48f.). Wie ich im folgenden Kapitel zeigen möchte, kann einen der Versuch, den Autonomiebegriff ausgehend von paradigmatischen Fällen zu schärfen, in ganz verschiedene und miteinander inkompatible Richtungen ziehen. Daraus ergibt sich eine weitere Herausforderung (und ein weiteres, viertes Adäquatheitskriterium) für eine Autonomiekonzeption.
2 Das Rätsel personaler Autonomie Da nun mehr Klarheit über die eigentliche Aufgabe einer philosophischen Untersuchung personaler Autonomie besteht, könnte man meinen, dass es doch so schwierig nicht mehr sein könne, diese Aufgabe zu erfüllen: Man muss „lediglich“ jene Fälle betrachten, die unter den vier einzelnen Perspektiven als paradigmatische Beispiele für die Fremd- oder Selbstbestimmung von Personen gelten, und dann „lediglich“ die Ähnlichkeiten zwischen diesen Fällen herausarbeiten. Ziel dieses Kapitels ist es zu zeigen, dass das keineswegs so einfach ist. Der Grund dafür ist, dass zwischen den paradigmatischen Fällen zwei Arten von Ähnlichkeiten bestehen, die miteinander inkompatibel zu sein scheinen. Betont man bei der Schärfung des Begriffs Autonomie eine Art von Ähnlichkeit, so droht man die andere Ähnlichkeit aus dem Blick zu verlieren und umgekehrt. In der Idee personaler Autonomie scheinen somit widersprüchliche Tendenzen angelegt zu sein.
2.1 Autonomie und das Selbst Bereits das Wort „Selbstbestimmung“ legt nahe, dass die Idee der Autonomie eng mit der Idee eines „Selbst“ verknüpft ist: Autonome Personen bestimmen (in einem noch näher zu bestimmenden Sinne) eben selbst. Diese Vorstellung gewinnt an Kontur, wenn man Fälle von vermeintlich autonomen Personen betrachtet und fragt, was an ihrer Autonomie etwas mit ihnen selbst zu tun haben könnte: – Selbstkenntnis: Die autonome Person denkt über sich nach und reflektiert kritisch über ihre Erziehung, ihre Werte, ihr Tun und somit sich selbst. Sie kennt sich selbst sehr gut und weiß genau, was sie will. – Selbststeuerung/Selbstkontrolle: Die autonome Person kann sich beherrschen und ist Herr ihrer Gefühle und Neigungen; dabei geht sie ihren eigenen Weg und folgt ihrer inneren Stimme. Sie hat einen starken Willen. – Selbstwert: Die autonome Person hat ein realistisches Bild von sich selbst und ein gesundes Selbstvertrauen. Sie achtet sich selbst und kann sich selbst ins Gesicht sehen. – Selbstgewissheit/Authentizität: Eine autonome Person ist mit sich im Reinen, sich selbst und ihren Grundsätzen treu. Sie ruht in sich, identifiziert sich mit ihrem Tun und kann dieses gutheißen. – Selbstdefinition/Selbsttransformation: Die autonome Person arbeitet an sich; sie kann sich, falls nötig, neu erfinden und dann, wenn sie es will, wandeln und verändern.
2.1 Autonomie und das Selbst | 39
Ich möchte nicht behaupten, dass all diese Ideen der Selbstkenntnis, Selbststeuerung etc. (oder auch nur eine davon) konstitutiv für Autonomie sind; das zu klären ist gerade Aufgabe einer Autonomiekonzeption. Hier kommt es mir lediglich darauf an, dass wir vortheoretisch glauben, dass diese Beschreibungen eine autonome Person zutreffend charakterisieren. Gemeinsam ist diesen Beschreibungen, dass darin zum Ausdruck kommt, dass die Person in einem bestimmten Verhältnis zu sich selbst steht: Sie reflektiert über sich, kennt sich, beherrscht sich, ist Herr ihrer selbst, vertraut sich selbst, achtet sich, ist mit sich im Reinen, ist sich selbst treu, identifiziert sich mit ihrem Tun, arbeitet an sich, erfindet sich und wandelt sich. Offenbar hat Autonomie etwas damit zu tun, wie eine Person zu sich selbst steht und was sie mit sich selbst macht. Das sieht man auch, wenn man paradigmatische Fälle mangelnder Autonomie betrachtet. Manchmal scheint der Autonomiemangel nämlich in einem gestörten Verhältnis zu sich selbst zu gründen: So spricht man Personen manchmal Autonomie ab, weil sie nicht mit sich im Reinen sind, weil sie nicht sie selbst sind, weil sich außer sich sind, weil sie sich selbst der ärgste Feind sind. Hier scheint das Verhältnis der Person zu sich selbst irgendwie gestört. Manchmal wiederum scheint vor allem eine falsche Art selbstbezogener Aktivität verantwortlich für den Autonomiemangel: Personen, die sich selbst betrügen, sich selbst täuschen, sich in etwas verlieren, sich verrennen, sich selbst im Weg stehen, sich selbst ein Bein stellen oder an sich selbst scheitern, gelten nicht als autonom. Wie bei den Fällen paradigmatischer Autonomie macht die Person zwar etwas mit sich, aber leider das – im Hinblick auf die Autonomie – Falsche. Und in wieder anderen Fällen scheint vor allem ein gestörtes Zusammenspiel von Teilen der Person Autonomie zu verhindern: Wer sich nicht beherrschen kann, Sklave seiner selbst oder seiner Affekte ist, ein verzerrtes Selbstbild oder mangelndes Selbstvertrauen hat, willensschwach ist oder von seinem eigenen Tun entfremdet ist, dem mangelt es an Selbstbestimmung. Man kann diese Fälle so verstehen, dass dabei die verschiedenen Teile einer Person auf die falsche Weise ineinander greifen: Die Willensschwache und Unbeherrschte gibt einem Begehren nach, das sie für unvernünftig hält; ein falsches Selbstbild kommt zustande, wenn das Begehren, ein anderer zu sein, die Wahrnehmung der eigenen Person verzerrt; und entfremdet von seinem Tun ist man, wenn der der Handlung zugrunde liegende Wunsch nicht mit der Überzeugung über den Wert der Handlung übereinstimmt. Diese Überlegungen zu typischen Erfahrungen von Autonomie und Autonomiemangel zeigen, dass wir Personen für selbstbestimmt halten, wenn sie in einem „gesunden“ Verhältnis zu sich stehen, auf die „richtige“ Weise etwas mit sich machen und die Teile einer Person „richtig“ ineinandergreifen; umgekehrt geht mangelnde Autonomie einher mit einem „gestörten“ Verhältnis zu sich selbst, „falschen“ selbstbezogenen Aktivitäten und einem „gestörtem“ Zusammenspiel
40 | 2 Das Rätsel personaler Autonomie der Teile der Person. Natürlich muss man viel mehr dazu sagen, was genau ein „gesundes“ und was ein „gestörtes“ Verhältnis zu sich selbst ist, was „richtige“ und was „falsche“ selbstbezogene Aktivitäten sind, und wann die Teile einer Person auf die „richtige“ und auf die „falsche“ Weise zusammenspielen. Genau das wäre dann eine Aufgabe einer Autonomiekonzeption, denn das ist bereits eine Schärfung des Autonomiebegriffs.10 Hier kommt es mir nur darauf an, dass diejenigen, welche den Autonomiebegriff auf diesem Weg schärfen, ein bestimmtes Bild von der Natur personaler Autonomie haben: Demnach zeichnet sich die autonome Person durch ein besonderes Verhältnis zu sich selbst (oder zu einem Teil von sich selbst) aus. Wenn man dafür den Begriff Selbstverhältnis einführt, dann kann man sagen, dass – einem Strang unseres vortheoretischen Verständnisses von Autonomie zufolge – Autonomie einem Selbstverhältnis ähnelt: (I)
Autonomie ist von der Art eines Selbstverhältnisses.
Es ist nicht nur so, dass eine Reihe von vortheoretischen Überlegungen für (I) spricht; auch in der philosophischen Fachdebatte finden sich mehr oder weniger explizite Bekenntnisse zu dieser These:
10 Naheliegend ist es, das gesuchte Verhältnis zu sich selbst und das richtige Zusammenspiel von „Teilen“ der Person durch etwas zu charakterisieren, das der Person „innewohnt“. Zum einen kann man dazu auf die Vermögen von Personen zurückgreifen (etwa das Vermögen der Vernunft, des Begehrens, der Reflexion, der sinnlichen Wahrnehmung, der Imagination etc.) und manche paradigmatische Autonomieerfahrungen als ein Zusammenspiel dieser Vermögen beschreiben. Selbstkenntnis wäre dann z. B. das Ergebnis der Ausübung von Reflexion und Wahrnehmung in Bezug auf die eigene Person; bei Selbstkontrolle und Willensstärke behält die Vernunft gegenüber dem Begehren die Zügel in der Hand; ein gesundes Selbstbild hat der, dessen Selbstwahrnehmung nicht durch seine Imaginationskraft und sein Begehren, ein anderer zu sein, verzerrt wird; mit sich im Reinen ist man, wenn das Selbstbild mit dem Begehren, eine bestimmte Person sein zu wollen, übereinstimmt; und sich neu zu erfinden könnte heißen, durch Reflexion und Imagination in Bezug auf sich zu einem neuen Selbstbild zu gelangen. Zum anderen kann man aber auch auf mentale Einstellungen von Personen (wie Wünsche oder Überzeugungen) und etwas komplexere Elemente ihres Innenlebens (wie persönliche Ideale, Projekte oder Grundsätze) zurückgreifen und paradigmatische Autonomieerfahrungen als ein Gefüge dieser Einstellungen beschreiben: Sich mit einer Handlung zu identifizieren heißt vielleicht, einen Wunsch zu haben und zugleich davon überzeugt zu sein, dass die Handlung gut ist; man weiß genau, was man will, wenn man eine Überzeugung darüber hat, was die Wünsche sind, mit denen man sich identifiziert; jemand geht seinen eigenen Weg, wenn er sich in seinem Handeln an Grundsätzen und Idealen orientiert und daran festhält; Selbstvertrauen ist vielleicht eine bestimmte (zutreffende) Überzeugung über die eigenen Fähigkeiten, die im Einklang steht mit den gewünschten Fähigkeiten; und an sich zu arbeiten heißt möglicherweise, sich selbst und die Verbesserung seiner Fähigkeiten und Handlungsweisen zum Projekt zu machen.
2.2 Autonomie und die (äußere) Welt |
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„To govern oneself is to maintain a certain self-relation“ (Buss 2002, 4; Herv. i. Orig.). „I want, then, to suggest that the most appropriate use of the term ‘autonomy’ is to pick out certain structures by means of which accountable agents relate to themselves“ (Roughley 2002, 172; Herv. d. Verf.). „Thus, for its part, a richer concept of self-determination is intended to outline the relation of the person who is choosing to the various options that might be chosen – a relation based upon that of the person to herself “ (Rössler 2002b, 144; Herv. d. Verf.). „Autonomie, Mündigkeit und Emanzipation sind allesamt ursprünglich Rechtsbegriffe. [. . . ] Die gleichen Begriffe aber dienen dazu, eine Verfassung der Subjektivität, ein Verhältnis des einzelnen Menschen zu sich selbst [. . . ] zu bestimmen“ (Spaemann 1971, 94; Herv. d. Verf.).
Mit Aussagen über Autonomie sagt man also vor allem etwas über die Person und ihr Verhältnis zu sich selbst. Diese Tendenz im Autonomiebegriff macht somit verständlich, was an Selbstbestimmung eigentlich etwas mit dem Selbst zu tun hat oder was der Bestandteil „Auto-“ in „Autonomie“ eigentlich zu suchen hat. Insofern handelt es sich um ein begriffliches Merkmal. Wer den Autonomiebegriff nun im Rahmen einer Autonomiekonzeption schärfen will, der muss Autonomie dabei offenbar im Sinne eines Selbstverhältnisses ausbuchstabieren.
2.2 Autonomie und die (äußere) Welt Der Begriff Autonomie enthält aber noch einen weiteren Aspekt, nämlich eine Abgrenzung: Dass man selbst bestimmt, heißt stets auch, dass nicht etwas oder jemand anderes bestimmt. Dieser Gegensatz ist keineswegs bloß implizit mit gemeint, sondern kommt in paradigmatischen Fällen von Autonomie und Autonomiemangel auch recht explizit zum Ausdruck: 1. Autonomie und soziales Umfeld: Manchmal bestimmen wir nicht selbst, weil andere bestimmen. Als Personen sind wir immer auch in ein soziales Umfeld eingebettet und darin findet sich manches, was unserer Selbstbestimmung im Weg stehen kann: asymmetrische Machtverhältnisse, Missachtung und Diskriminierung, fehlender Respekt, Unterdrückung von Minderheiten, Zwang, Bedrohung oder ein totalitaristisches Staatswesen. Wenn eine Person sich in solchen sozialen Umgebungen bewegt, aber auch wenn ihr ein soziales Umfeld gänzlich fehlt und sie keinerlei zwischenmenschliche Beziehungen hat, steht ihre Selbstbestimmung in Frage. Auf der anderen Seite gehört zu unserem Bild von der autonomen Person auch, dass sie in erfüllenden und unterstützenden sozialen Beziehungen steht, dass sie geachtet, geschätzt und respektiert wird und dass sie Möglichkeiten zur politischen Mitbestimmung hat. Autonomie
42 | 2 Das Rätsel personaler Autonomie und Autonomiemangel haben also etwas mit der Art des sozialen Umfelds zu tun, in dem sich eine Person bewegt. 2. Autonomie und Handlungsspielraum: Manchmal bestimmen wir nicht selbst, weil es der fehlende Handlungsspielraum ist, der uns auf etwas festlegt und somit bestimmt, was wir tun und wie wir leben. Wer keine Wahl hat, in seinem Tun und Unterlassen eingeschränkt ist, keinen Handlungs- und Entfaltungsspielraum hat, in einer Zwickmühle oder einem Dilemma steckt, wem nur noch minderwertige Optionen – Armut versus Prostitution – verbleiben, der ist auch in seiner Autonomie eingeschränkt. Umgekehrt „feiern“ wir zusätzliche Optionen, einen größeren Handlungsspielraum, bessere Alternativen als Zugewinn an Möglichkeiten zur Selbstbestimmung. Wer danach strebt, autonom zu sein, strebt auch danach, sich seinen Handlungsspielraum zu erhalten oder zu erweitern und uneingeschränkt zu sein. Autonomie und Autonomiemangel haben offenbar etwas mit der Art des zur Verfügung stehenden Handlungsspielraums zu tun. 3. Autonomie und Vorgeschichte: Manchmal bestimmen wir nicht selbst, weil das, was in der Vergangenheit liegt, bereits vollständig erklärt, wie und warum wir etwas tun oder lassen – und insofern bestimmt eben etwas anderes. Wenn man Verantwortung abstreiten, Mitleid erregen, Hilfe suchen oder sich selbst verstehen will, verweist man manchmal darauf, dass man falsch erzogen wurde, einen falschen Umgang hatte, in etwas „hineingerutscht“ oder in etwas geraten ist, manipuliert oder indoktriniert (also so etwas wie einer Gehirnwäsche unterzogen) wurde. Sofern etwas (zumindest bisweilen) daran stimmt, kommt es unserem vortheoretischen Verständnis nach auch auf die Art und Weise an, wie es zu einer Handlung gekommen ist oder wie die Person zu dem geworden ist, was sie ist. Das gilt nicht nur bei Autonomiemangel, sondern auch in Fällen besonders ausgeprägter Autonomie: Dass manche Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen und gestalten können, verdankt sich nicht selten einer „glücklichen Kindheit“, einer „guten Erziehung“, dem „richtigen Elternhaus“, den gesammelten Erfahrungen, den Begegnungen mit den richtigen Leuten an Wegscheiden des Lebens. Die Entstehungsgeschichte oder Genese spielt auch bei einzelnen Handlungen eine Rolle: Wie ist man eigentlich zu dem Motiv oder Ideal gekommen, das dem Tun zugrunde liegt – hat man es einfach unbewusst übernommen oder sich bewusst angeeignet? Autonomie und Autonomiemangel entscheiden sich offenbar auch an der Vorgeschichte der betreffenden Person oder Handlung. 4. Autonomie und Gehalt: Manchmal bestimmen wir nicht selbst, weil das, was wir tun, und die Art, wie wir leben, zu wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben. Menschen, die in ihrer eigenen Welt und an der Realität vorbeileben, haben im Hinblick auf ihre Autonomie ein Problem: Sie drohen, an der Welt zu scheitern
2.2 Autonomie und die (äußere) Welt |
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und das, was sie eigentlich wollen, nicht erreichen zu können. Manchmal sind Menschen so deutlich der Welt entrückt, dass wir denken, dass sie gar nicht selbst bestimmen können, weil etwas – eine Krankheit, eine fixe Idee, eine Wahnvorstellung, ein Irrglaube, eine Ideologie – von ihnen Besitz ergriffen haben muss. Wer die Welt nicht (in etwa) so sehen kann, wie sie ist, dem fehlt auch die Möglichkeit, sie zu gestalten und seinen Platz darin zu finden. Offenbar muss sich der Gehalt einer Lebensweise oder Handlung – die Art und Weise, wie man lebt, und das, was man tut – an der Welt bewähren; und das heißt, dass er sich an Maßstäben der Korrektheit, Vernunft und Objektivität messen lassen muss. Und daher haben Autonomie und Autonomiemangel auch etwas mit dem Gehalt unserer Handlungen und Lebensweise zu tun. Auch hier gilt: Zu den einzelnen Punkten ließe sich viel mehr sagen und man müsste im Einzelnen prüfen, ob beispielsweise asymmetrische Machtverhältnisse oder eine „falsche Erziehung“ wirklich die Selbstbestimmung einer Person untergraben. Das wäre Aufgabe einer Autonomiekonzeption. An dieser Stelle genügt es wiederum festzuhalten, dass wir vortheoretisch glauben, dass die Autonomie einer Person auch von ihrem sozialen Umfeld, ihrem Handlungsspielraum, der Vorgeschichte der Handlung und der Person sowie dem Gehalt ihrer Handlungen und Lebensweise abhängt. All dies kann man auch als „die Welt, die die Person umgibt“ bezeichnen. Aussagen über die Autonomie einer Person sind in diesen Fällen Aussagen über die Welt, die eine Person umgibt. Die Autonomie der Person scheint also weniger von ihr, als von Merkmalen ihrer Umgebung abzuhängen. Dass wir mit einer Aussage, die eine Person betrifft, vor allem etwas über die Welt zum Ausdruck bringen, ist kein ganz ungewöhnliches Phänomen. Auch wenn wir von einer Person sagen, sie sei berühmt, dann sagen wir damit in der Regel weniger etwas über die Eigenschaften der Person als vielmehr etwas über die Welt um sie herum: Es gibt viele Menschen, die die Person auf der Straße erkennen, obwohl sie ihr zuvor noch nie begegnet sind; viele Menschen wissen von der Existenz dieser Person und ihrem Wirken etc. Etwas bildlich gesprochen könnte man sagen, dass die berühmte Person ihre Berühmtheit nicht mit sich durch die Welt trägt, sondern ihr die Berühmtheit von der Welt verliehen wird. Und genau dieses Bild kann man auch von der Autonomie einer Person bekommen: Autonomie ist kein Merkmal wie die Blutgruppe einer Person, sondern ein Merkmal, das durch die Umstände der Welt, in der sich eine Person befindet, konstituiert wird – durch ihre Vorgeschichte, die Qualität bzw. den Gehalt ihres Tuns, ihre Alternativen, das soziale Umfeld. Man kann dafür den Begriff Weltverhältnis einführen – womit nun aber nicht das Verhältnis der Person zu der sie umgebenden Welt gemeint ist, sondern die Verhältnisse in der sie umgebenden Welt, also die Art und Weise, wie die Welt um die Person herum beschaffen
44 | 2 Das Rätsel personaler Autonomie ist.11 Sind diese Weltverhältnisse „günstig“, dann ist die Person autonom; sind sie hingegen „problematisch“, mangelt es ihr an Autonomie. Hinsichtlich welcher Merkmale genau die Welt passend konfiguriert sein muss, muss eine Autonomiekonzeption erst noch genauer spezifizieren, denn das hieße, den Autonomiebegriff zu schärfen. Aber ganz gleich, wie genau man ihn in diese Richtung schärft, stets kann man sagen, dass – einer Tendenz unseres vortheoretischen Verständnisses von Autonomie zufolge – Autonomie einem Weltverhältnis (einer bestimmten Konfiguration der äußeren Welt) ähnelt: (II)
Autonomie ist von der Art eines Weltverhältnisses.
Auch diese Überzeugung findet sich in der philosophischen Fachliteratur: „[A] sensible characterization of autonomy requires a certain environment external to the agent whose self-government is at issue. [. . . ] We call people autonomous (or refuse to do so) in part by examining their external circumstances“ (Oshana 1994, 95f.; Herv. d. Verf.). „Autonomous persons must be independent, not just from the pernicious influence of others, but from the pernicious influence of their own earlier lives“ (Berofsky 1995, 2). „I shall say that outer autonomy concerns the relationship between the person and the rest of the world, in particular other people. Indeed, I hold that [. . . ] the issue of autonomy in its external aspect arises only in relation to other people, and the social and cultural world in general“ (Coeckelbergh 2004, 15). „[T]he state of being autonomous is primarily a function of the external situation a person finds himself in“ (Oshana 2006, 6).
In diesen Zitaten drückt sich die Idee aus, dass Autonomie ein Weltverhältnis bezeichnet. Diese Idee leitet sich, wie dargelegt, aus dem impliziten Gegensatz ab, der in Autonomiezuschreibungen oft enthalten ist: Selbst bestimmt nur diejenige, die nicht von etwas oder jemand anderem bestimmt wird – und insofern frei von bestimmten Einflüssen der äußeren Welt ist (vgl. Friedman 2003, 17). Diese Vorstellung ist so eng mit unserem Verständnis von Autonomie verwoben, dass es sich dabei sogar um ein begriffliches Merkmal zu handeln scheint. Und darum muss, wer den Autonomiebegriff im Rahmen einer Autonomiekonzeption schärfen will, Autonomie offenbar im Sinne eines Weltverhältnisses ausbuchstabieren.
11 Man könnte darum auch von „Weltbeschaffenheit“, „Konfiguration der äußeren Welt“ oder „Wirklichkeitskonstellation“ statt von „Weltverhältnis“ sprechen. Anders als der Ausdruck „Weltverhältnis“ verleiten diese Ausdrücke nicht zu einer relationalen Interpretation. Ich werde im Folgenden aus Gründen der sprachlichen Einfachheit beim Ausdruck „Weltverhältnis“ bleiben.
2.3 Das Selbst und die (äußere) Welt |
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2.3 Das Selbst und die (äußere) Welt Offenbar ähnelt Autonomie also sowohl einem Selbstverhältnis als auch einem Weltverhältnis. Könnte Autonomie also einfach beides zugleich sein? So einfach ist es leider nicht. Denn Selbst- und Weltverhältnisse unterscheiden sich in verschiedenen Hinsichten so sehr, dass sie von grundsätzlich anderer Art zu sein scheinen. Ein erster fundamentaler Unterschied besteht hinsichtlich des Orts der Kontrolle und der Perfektion: An seiner inneren Verfassung kann man selbst arbeiten; man kann seinen Charakter entwickeln, Fähigkeiten kultivieren, Neigungen unterdrücken, seine rationalen Vermögen schulen, verstärkt über sich selbst nachdenken etc. Auf das Selbstverhältnis hat man also Einfluss – man selbst hat die Kontrolle darüber, ob das Selbstverhältnis vorliegt oder nicht, und man selbst ist derjenige, der zur Vervollkommnung eines (idealen) Selbstverhältnisses in der Pflicht steht. Das scheint aber für das Weltverhältnis nicht zu gelten: Wenn man gezwungen, diskriminiert oder manipuliert wird, so kann man selbst daran meist nichts ändern – ebenso wenig wie an der eigenen Vorgeschichte, die ja in der Vergangenheit liegt. Auf die Beschaffenheit der Welt um einen herum hat man keinen (oder kaum) Einfluss, denn die Kontrolle darüber, ob bestimmte Verhältnisse in der Welt vorliegen oder nicht, liegt nicht (jedenfalls nicht allein) bei einem selbst, sondern bei etwas oder jemand anderem. Folglich sind es auch andere (der Staat, die Gesellschaft, die Eltern etc.), die in der Pflicht stehen, wenn es darum geht, ein ideales Weltverhältnis herzustellen. Selbst- und Weltverhältnis unterscheiden sich somit hinsichtlich der Frage, wer die Kontrolle über das jeweilige Verhältnis hat und wer zu dessen Vervollkommnung beitragen kann. Ein zweiter fundamentaler Unterschied zwischen Selbst- und Weltverhältnissen besteht hinsichtlich der formalen Eigenschaft der Inhaltsunabhängigkeit: Ein Selbstverhältnis ist in einem bestimmten Sinne formal bestimmbar und insofern unabhängig von den Inhalten, zu denen es eingenommen wird. Das kann man sich am Beispiel der Willensschwäche gut verdeutlichen: Eine Person kann willensschwach sein, wenn sie ein Eis isst, aber sie kann auch willensschwach sein, wenn sie das Eis nicht isst. Es kommt einzig darauf an, welche Überzeugung die Person hat: Wenn die Person glaubt, dass es alles in allem betrachtet das Beste ist, auf das Eis zu verzichten, und es trotzdem isst, ist sie willensschwach. Und das ist sie auch, wenn sie auf das Eis verzichtet, obwohl sie glaubt, dass es alles in allem betrachtet das Beste ist, das Eis zu essen. Entscheidend ist die Struktur von Überzeugung und Handlung, nicht aber der konkret spezifizierte Inhalt, bezüglich dessen die Struktur ausgebildet wird. Das gilt auch für andere Selbstverhältnisse: Wenn man sich vorstellen kann, dass eine Person sich mit einer bestimmten Lebensweise identifiziert, dabei ganz mit sich im Reinen ist, damit ihrer inneren Stimme folgt und ihren
46 | 2 Das Rätsel personaler Autonomie Grundsätzen treu ist, dann kann man sich ebenso gut vorstellen, dass diese Person sich mit dem exakten „Gegenteil“ dieser Lebensweise identifiziert, und dabei ganz mit sich im Reinen ist, ihrer inneren Stimme folgt oder ihren Grundsätzen treu bleibt. Offenbar kann man ein Selbstverhältnis in diesem Sinne gegenüber sehr vielen Handlungstypen bzw. Lebensweisen einnehmen, und insofern scheinen alle Selbstverhältnisse inhaltsunabhängig zu sein.12 Entsprechendes gilt jedoch nicht für Weltverhältnisse: Wenn eine Person als Sklavin lebt, dann hat sie keine wertvollen Optionen und wird sozial nicht geachtet; die Weltverhältnisse „wertvolle Handlungsoptionen“ bzw. „sozialer Respekt“ können hinsichtlich dieser Lebensweise also nicht bestehen, auch wenn sie bezüglich der gegenteiligen Lebensweise bestehen können, in der die Person unversklavt in Freiheit lebt. Ähnliches gilt für das Weltverhältnis „Abwesenheit von Indoktrination und Manipulation“: Selbst wenn dieses bei der Lebensweise eines im Geheimen aufgewachsenen, von den aufgeklärten Eltern behutsam sozialisierten Kritikers des nordkoreanischen Regimes gegeben ist, so ist es nicht gegeben bei der gegenteiligen Lebensweise eines systemgläubigen Parteifunktionärs, der im nordkoreanischen Erziehungssystem indoktriniert wurde. Und wenn man das Weltverhältnis „das Richtige und Geforderte tun“ betrachtet, dann gilt in den meisten Fällen, dass dieses Verhältnis für die eine Handlung (z. B. in der Not helfen) besteht, während es für das Gegenteil der Handlung (hier: die Hilfeleistung in der Not unterlassen) nicht besteht. Ein Weltverhältnis scheint also stets mit bestimmten Handlungen und Lebensweisen unvereinbar, und insofern ist ein Weltverhältnis, anders als ein Selbstverhältnis, nicht inhaltsunabhängig. Ein dritter fundamentaler Unterschied besteht in der epistemischen Zugänglichkeit von Selbst- und Weltverhältnissen: Unser Wissen über uns selbst scheint sich von unserem Wissen über die Welt zu unterscheiden. Ob ich zum Beispiel über mich nachdenke, meiner Neigung nachgegeben habe oder mit mir im Reinen bin, darüber weiß ich selbst meist am besten Bescheid – anderen ist diese Information nicht (jedenfalls nicht ohne Weiteres) zugänglich. Hinsichtlich eines Selbstverhältnisses scheint es somit eine „informationelle Asymmetrie“ zwischen der Person, 12 Etwas genauer könnte man Inhaltsunabhängigkeit so charakterisieren: Ein Verhältnis V ist genau dann inhaltsunabhängig, wenn für beliebige Handlungstypen oder Lebensstile L, deren „Gegenteil“ L und Personen P gilt: Wenn es möglich ist, dass P bezüglich L im Verhältnis V steht, dann ist es auch möglich, dass P bezüglich L im Verhältnis V steht. Dies impliziert nicht, dass ein Verhältnis inhaltsunabhängig ist, wenn man es bezüglich jeder Handlungsweise oder jedes Lebensstils einnehmen kann (denn das hätte die logische Form „Ein Verhältnis V ist genau dann inhaltsunabhängig, wenn für beliebige Handlungstypen oder Lebensstile L und Personen P gilt: Es ist möglich, dass P bezüglich L im Verhältnis V steht.“).
2.3 Das Selbst und die (äußere) Welt |
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um deren Selbstverhältnis es geht, und anderen Personen zu geben (vgl. Berofsky 1995, 1; sowie Abschnitt 1.2, S. 21 dieser Arbeit). Wie die Verhältnisse in der Welt sind, ist jedoch allen Personen gleichermaßen zugänglich: Ob jemand mangelnde Optionen hat, gezwungen oder diskriminiert wird, kann (jedenfalls im Prinzip) von jedem festgestellt werden; es ist eine öffentlich zugängliche Information und die betreffende Person, deren Autonomie in Frage steht, ist dabei – anders als beim Selbstverhältnis – in keiner besonders privilegierten Lage. Viertens unterscheiden sich Selbst- und Weltverhältnisse auch grundsätzlich in der Form der normativen Forderungen, die sie jeweils erzeugen: Die Autonomie einer Person hat normative Konsequenzen. Ist eine Person autonom, so sollte man auf eine bestimmte Weise mit ihr umgehen (und beispielsweise bestimmte Dinge unterlassen); ist sie nicht autonom, so sollte sich daran etwas ändern. Was man unterlassen und was sich ändern sollte, hängt nun davon ab, ob Autonomie ein Selbst- oder ein Weltverhältnis ist: Wenn ein Selbstverhältnis gestört ist (wie etwa im Fall der Entfremdung oder der Willensschwäche), dann kann man die Person dafür kritisieren und sie sollte an ihrem Innenleben etwas ändern. Wenn die Weltverhältnisse gestört sind (und es beispielsweise an Entfaltungsmöglichkeiten oder Gleichberechtigung mangelt), dann kann man die Welt (die Gesellschaft, die Eltern, den Staat etc.) dafür kritisieren und diese sollte an den äußeren Umständen etwas ändern. Wenn ein Selbstverhältnis intakt ist (und eine Person sich mit etwas identifiziert oder ganz mit sich im Reinen ist), dann sollte man es unterlassen, etwas an diesem Selbstverhältnis zu ändern. Wenn die Verhältnisse in der Welt im Hinblick auf die Autonomie günstig sind (und wertvolle Optionen und volle Gleichberechtigung vorliegen), dann sollte man es unterlassen, an diesem Weltverhältnis etwas zu ändern. Selbst- und Weltverhältnis unterscheiden sich damit offenbar im Hinblick auf die Adressatinnen und den Gegenstand der normativen Forderungen, die aus dem jeweiligen Verhältnis erwachsen. Ein fünfter fundamentaler Unterschied zwischen Selbst- und Weltverhältnissen existiert hinsichtlich des Modus der Kausalität: Die im ersten Unterscheidungsmerkmal aufgegriffene Vorstellung, dass Personen an ihrem Selbstverhältnis bzw. ihrem Innenleben selbst etwas ändern können, setzt voraus, dass Personen aus sich heraus bestimmte „Wirkungen“ hervorbringen können. Diese (philosophisch kontrovers diskutierte) Idee einer Kausalität, die von der handelnden Person selbst bzw. ihrem Willen ausgeht (Akteurskausalität), scheint ein Selbstverhältnis von einem Weltverhältnis fundamental zu unterscheiden:13 Die Begebenheiten in der
13 Dieser Unterschied macht menschliches Handeln als Ganzes rätselhaft, denn es wirft die Frage auf, wie Handlungen in ein (natur-)wissenschaftliches Weltbild integriert werden können (vgl. die Rekonstruktion des Problems menschlichen Handelns bei Mayr 2011, Kap. 1).
48 | 2 Das Rätsel personaler Autonomie Welt sind nämlich auf eine ganz „normale“ Art und Weise kausal miteinander verknüpft – durch Ereignisse, die wir als Ursache und Wirkung zu beschreiben gewohnt sind. Dass Robinson Crusoe aus Langeweile Däumchen dreht, liegt beispielsweise daran, dass er Schiffbruch erlitten hat und auf einer einsamen Insel gelandet ist. Und die Ursache dafür, dass Steve einen bestimmten Computer kauft, liegt vielleicht in versteckten Reizen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, die der Hersteller in einer Werbesendung eingespielt hat. In diesen Fällen lassen sich die jeweiligen Tätigkeiten beschreiben als natürliche Ereignisse in der Welt, die Folge einer Kette von anderen Ereignissen in der Welt sind – und ein Rekurs auf eine besondere Art der Kausalität, die in einer Person wurzelt, ist gar nicht nötig. Selbst- und Weltverhältnis unterscheiden sich somit in der Art der Kausalität, die Veränderungen in dem jeweiligen Verhältnis zustande bringt: Bei Weltverhältnissen ist es ein bestimmtes Ereignis in der Welt, bei Selbstverhältnissen hingegen ist es die Person (qua Substanz) selbst. Schließlich ergibt sich im Hinblick auf das Ziel der Autonomie ein sechster Unterschied: Betrachtet man Autonomie als ein Ideal, dann hängt der angestrebte Zielzustand davon ab, ob man Autonomie dabei als ein Selbst- oder als ein Weltverhältnis versteht. Wenn Autonomie ein Selbstverhältnis ist, dann ist die ideal autonome Person hauptsächlich mit sich beschäftigt; ihre Bemühungen richten sich auf die Verwirklichung ihrer Individualität und damit auf die Abgrenzung von der Welt: „If we say that we want to be self-determining, part of what we mean is that we (want to) see ourselves as different from ‘the world’“ (Coeckelbergh 2004, 5f.).
Wenn Autonomie hingegen ein Weltverhältnis ist, dann geht es im Gegenteil gerade um die richtige Art der Eingebundenheit in die Welt: „I believe that a more significant connection relates autonomy [. . . ] to the manner in which the agent is immersed in her surroundings“ (Berofsky 1995, 183).
Die Realisierung eines idealen Weltverhältnisses zielt also in eine ganz andere Richtung (Einbindung in die Welt) als die Realisierung eines idealen Selbstverhältnisses (Abgrenzung von der Welt). Ein Weltverhältnis unterscheidet sich von einem Selbstverhältnis somit – im Allgemeinen, aber gerade auch in Bezug auf das Phänomen der Selbstbestimmung – in mindestens sechs Hinsichten. Und darum scheint ein Selbstverhältnis von ganz anderer Art zu sein als ein Weltverhältnis. Diese fundamentale Differenz zwischen Selbstverhältnis und Weltverhältnis ist der Grund dafür, warum Autonomie nicht einfach – wie eingangs dieses Abschnitts vermutet – Selbst- und Weltverhältnis zugleich sein kann: Wie sollte die Verantwortung für die Herstellung oder Verlet-
2.3 Das Selbst und die (äußere) Welt |
49
zung von Autonomie (der Ort der Kontrolle und Perfektion) zugleich in der Person und außerhalb von ihr (z. B. bei den gesellschaftlichen Zuständen) liegen können? Wie sollte es möglich sein, hinsichtlich beliebiger (Entscheidungs- oder Lebens-) Inhalte autonom sein zu können (sofern Autonomie ein inhaltsunabhängiges Selbstverhältnis ist), wenn zugleich jedes Weltverhältnis bestimmte Inhalte als unvereinbar mit Autonomie ausschließt? Wie könnte man noch länger glauben, dass eine Person über ihre Autonomie meist am besten selbst Bescheid weiß, wenn Autonomie ein Weltverhältnis wäre, das allen Personen gleichermaßen zugänglich ist? Und wie sollte es bei der Herstellung unserer eigenen Autonomie zum einen darum gehen, uns von der Welt abzugrenzen, und zugleich auch darum gehen, in die Welt eingebunden zu sein? Es scheint also unmöglich, Autonomie zugleich als Selbstverhältnis und als Weltverhältnis zu denken, und so ergibt sich aus der grundsätzlichen Verschiedenheit eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Selbstund Weltverhältnissen:14 (III)
Ein Selbstverhältnis ist von ganz anderer Art als ein Weltverhältnis, so dass gilt: Wenn etwas von der Art eines Selbstverhältnisses ist, dann ist es nicht von der Art eines Weltverhältnisses.
Auch These (III) wird in der Debatte beim Namen genannt. So bringt etwa Michael Thompson diese Idee bei seiner Untersuchung verschiedener Formen der Handlungserklärung in Life and Action (Thompson 2008) ins Spiel: Manchmal erklären wir eine Handlung auf „naive“ Weise durch eine andere Handlung („Sie geht in die Bibliothek, weil sie an der Dissertation schreibt“), manchmal erklären wir sie auch auf „ausgeklügelte“ („sophisticated“) Weise durch einen mentalen Zustand wie eine Überzeugung („Sie geht in die Bibliothek, weil sie glaubt, dort ein bestimmtes Buch zu finden“). Beide Erklärungsformen scheinen grundverschieden: „[T]he sophisticated sorts of explanans would traditionally have been classified as states of the soul; naive explanantia seem by contrast to be events ‘in the world’. They are absolutely unlike“ (Thompson 2008, 119; letzte Herv. d. Verf., übrige Herv. i. Orig.).
14 Wenn man anstatt von „Weltverhältnis“ lieber von „Konfiguration der äußeren (die Person umgebenden) Welt“ sprechen möchte (siehe Anm. 11), so kann man ein Selbstverhältnis im Gegensatz dazu auch als eine Konfiguration der „inneren“ Welt der Person verstehen. Den in These (III) ausgedrückten Gegensatz könnte man dann wie folgt formulieren: (III+ )
Konfigurationen der inneren Welt der Person sind so verschieden von Konfigurationen der äußeren (die Person umgebenden) Welt, dass gilt: Wenn etwas eine Konfiguration der inneren Welt der Person ist, dann ist es keine Konfiguration der äußeren (die Person umgebenden) Welt.
50 | 2 Das Rätsel personaler Autonomie Dies bringt auf einer metaphysischen Ebene den Unterschied zwischen Weltverhältnissen als Dingen, „die in der Welt geschehen und bestehen“, und Selbstverhältnissen als den inneren mentalen Zuständen einer Person – und insofern These (III) – zum Ausdruck. Aufgrund dieser Differenz zwischen Verhältnissen der Person zu sich selbst und den Verhältnissen in der äußeren, die Person umgebenden Welt scheint es kaum vorstellbar, dass Autonomie beides zugleich sein könnte: Wenn Autonomie ein Selbstverhältnis ist, kann sie kein Weltverhältnis mehr sein. Und wenn Autonomie ein Weltverhältnis ist, ist es ausgeschlossen, dass sie noch ein Selbstverhältnis ist.
2.4 Ein Trilemma Die drei vorherigen Abschnitte legen nahe, dass wir in Bezug auf die Idee der Selbstbestimmung offenbar drei Ansichten für wahr halten: Das Rätsel personaler Autonomie (I) (II) (III)
Autonomie ist von der Art eines Selbstverhältnisses. Autonomie ist von der Art eines Weltverhältnisses. Ein Selbstverhältnis ist von ganz anderer Art als ein Weltverhältnis, so dass gilt: Wenn etwas von der Art eines Selbstverhältnisses ist, dann ist es nicht von der Art eines Weltverhältnisses.
Ein Problem besteht nun allerdings darin, dass man nicht alle drei Ansichten zugleich für wahr halten kann, ohne irrational zu sein. Zusammengenommen bilden die drei Aussagen ein Trilemma – je zwei der Aussagen schließen die jeweils dritte aus:15 Wenn Autonomie von der Art eines Selbstverhältnisses ist und ein Selbstverhältnis von ganz anderer Art als ein Weltverhältnis ist, dann müsste
15 Das gilt auch dann, wenn man anstelle von „Selbstverhältnis“ und „Weltverhältnis“ lieber von „Konfiguration der inneren Welt der Person“ und „Konfiguration der äußeren (die Person umgebenden) Welt“ sprechen möchte (siehe Anm. 14). Dann lautet das Trilemma: (I+ ) (II+ ) (III+ )
Autonomie ist eine Konfiguration der inneren Welt der Person. Autonomie ist eine Konfiguration der äußeren (die Person umgebenden) Welt. Konfigurationen der inneren Welt der Person sind so verschieden von Konfigurationen der äußeren (die Person umgebenden) Welt, dass gilt: Wenn etwas eine Konfiguration der inneren Welt der Person ist, dann ist es keine Konfiguration der äußeren (die Person umgebenden) Welt.
Auch diese drei Thesen sind logisch inkonsistent.
2.4 Ein Trilemma | 51
Autonomie von ganz anderer Art sein als ein Weltverhältnis – doch das ist sie nach (II) eben gerade nicht. Wenn Autonomie wie ein Weltverhältnis ist und ein Weltverhältnis kein Selbstverhältnis ist, dann dürfte Autonomie nicht so wie ein Selbstverhältnis sein – doch das ist sie nach (I). Und wenn Autonomie sowohl von der Art eines Selbstverhältnisses als auch von der Art eines Weltverhältnisses ist, dann kann ein Selbstverhältnis nicht von grundsätzlich anderer Art sein als ein Weltverhältnis – doch das widerspricht (III). Dieses Trilemma scheint mir das zentrale Rätsel der Natur personaler Autonomie zu sein. Rätselhaft daran ist, dass für jede der drei Überzeugungen auf den ersten Blick recht starke Gründe sprechen: Wir schreiben Autonomie zu oder sprechen sie ab mit Hilfe von Begriffen, die ein Verhältnis der Person zu sich selbst beschreiben; zugleich bemühen wir zum selben Zweck auch Begriffe, mit denen wir etwas über die Verhältnisse der Welt, die eine Person umgibt, aussagen; und schließlich scheinen Verhältnisse, die eine Person zu sich selbst eingeht, und die Verhältnisse, welche in der die Person umgebenden Welt vorliegen, von so grundsätzlich unterschiedlicher Art zu sein, dass man dort, wo man von einem Selbstverhältnis spricht, nicht zugleich auch von einem Weltverhältnis sprechen kann. Jede der drei Thesen scheint somit auf begrifflichen Zusammenhängen zu beruhen. Und das macht das Rätsel so vertrackt; es ist kein Rätsel, dass sich durch empirische Forschung beseitigen ließe, denn die drei Thesen sind nicht empirischer Natur. Vielmehr scheint mit unserer Idee von Selbstbestimmung, mit dem Begriff Autonomie, irgendetwas nicht zu stimmen. Diese Charakterisierung des Rätsels der Autonomie als ein Problem, das seine Ursprünge in begrifflichen Zusammenhängen hat, erfordert eine Klarstellung. Anders als bei manch anderen philosophischen Rätseln leiten sich die genannten begrifflichen Überlegungen nämlich nicht offenkundig aus der „Grammatik“ normalsprachlicher Autonomiezuschreibungen ab: Es bedarf einiger philosophischer Reflexion und Terminologie, um auf das Rätsel zu stoßen – die Sprache selbst stößt uns nicht unmittelbar darauf. Das ist allerdings auch nicht verwunderlich, sondern ist auf die Wurzellosigkeit des Autonomiebegriffs zurückzuführen (vgl. Kap. 1.1): Der Begriff ist einfach nicht fest normalsprachlich verankert, sondern eher ein philosophischer Fachbegriff. Darum bedarf es zum einen etwas mehr an philosophischem Nachdenken, um seine widersprüchliche Tiefenstruktur überhaupt aufzudecken; und zum anderen erschüttert uns diese Aufdeckung nicht in derselben Weise wie beispielsweise die Entdeckung, dass eine tiefe Unstimmigkeit in unserem Begriff der Moral oder in unserem Begriff eines freien Willens angelegt ist: Diese in begrifflichen Überlegungen wurzelnden Entdeckungen stellen unser Verständnis von der Welt und von uns selbst in viel radikalerer Weise auf die Probe. Das Rätsel der Autonomie taucht demgegenüber erst auf der Ebene der philosophi-
52 | 2 Das Rätsel personaler Autonomie schen „Theoriebildung“ auf.16 Es ist darum seiner Art nach besser vergleichbar mit einem Rätsel aus der Physik: Die wahre Natur der Autonomie ist so rätselhaft wie die wahre Natur des Lichts. Einerseits scheint Licht nämlich den Charakter von Teilchen zu haben – so wie Autonomie den Charakter eines Selbstverhältnisses zu haben scheint. Andererseits scheint Licht aber auch den Charakter von Wellen zu haben – so wie Autonomie den Charakter eines Weltverhältnisses zu haben scheint. Ein Problem entsteht nun dadurch, dass man nicht sieht, wie Licht beides zugleich, also Teilchen und Welle, sein könnte17 – so wie man nicht so recht sieht, wie Autonomie beides zugleich, also Selbst- und Weltverhältnis, sein könnte. Auf den rätselhaften Charakter des Lichts stößt man allerdings erst nach einigen physikalischen Überlegungen (insb. gewissen Experimenten), er drängt sich einem nicht direkt bei einer unmittelbaren Beobachtung des Lichts auf – so wie man auf den rätselhaften Charakter der Autonomie auch erst nach einigen philosophischen Überlegungen stößt, weil er sich nicht direkt bei einer unmittelbaren Betrachtung unseres Sprachgebrauchs aufdrängt. So wie das Rätsel der Natur des Lichts erst bei der physikalischen Theoriebildung offenkundig wird, so tritt auch das Rätsel der Natur der Autonomie erst bei der philosophischen Theoriebildung zutage.18 Vor diesem Hintergrund sollte man darum besser sagen, dass das Trilemma nahelegt, dass mit unserer philosophisch durchtränkten Idee von Selbstbestimmung bzw. mit dem philosophischen Fachbegriff Autonomie irgendetwas nicht stimmt. Zu der Aufgabe einer philosophischen Untersuchung personaler Autonomie zählt es nun auch, das beschriebene Rätsel der Autonomie befriedigend zu lösen: Eine Autonomiekonzeption muss den widersprüchlichen Tendenzen, die im Autonomiebegriff angelegt sind, Sinn abgewinnen. Sie muss damit nicht nur das praktische Erkenntnisinteresse befriedigen, das uns überhaupt erst dazu bringt, die Frage nach der Natur personaler Autonomie zu stellen (vgl. Kapitel 1); sie muss auch das theoretische Erkenntnisinteresse befriedigen, das sich ergibt, wenn man einmal mit dem philosophischen Nachdenken über Autonomie begonnen hat: Eine
16 Gleichwohl wurzelt es in begrifflichen Überlegungen, denn in der Idee der Selbstbestimmung steckt zum einen die Idee des Selbst, die zu These (I) führt, und zum anderen ein impliziter Gegensatz (keine Bestimmung durch etwas anderes oder durch andere), der zu These (II) führt. Man braucht lediglich etwas mehr philosophisches Nachdenken, um diese begrifflichen Zusammenhänge explizit zu machen. 17 Etwa weil Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt nur an einem Ort sein können, an dem sie jeweils mit all ihren physikalischen Eigenschaften wirken, während Wellen sich im Raum ausbreiten, überlagern und verstärken und so an verschiedenen Orten auch unterschiedlich wirken können 18 Auf Grundlage dieser Analogie könnte man auch von einem „Dualismus der Autonomie“ sprechen, so wie man angesichts der unvereinbar scheinenden Naturen des Lichts gelegentlich von einem „Dualismus des Lichts“ spricht.
2.4 Ein Trilemma |
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angemessene Autonomiekonzeption muss das Rätsel, auf das man stößt, wenn man mit der Schärfung des Autonomiebegriffs beginnt, zufriedenstellend lösen. Das ist eine weitere Adäquatheitsbedingung, die die drei Bedingungen aus Kapitel 1 ergänzt. Welche Möglichkeiten hat man nun grundsätzlich, mit diesem Trilemma umzugehen? Es gibt drei allgemeine Lösungsstrategien: Die skeptische Strategie weist die Idee der Selbstbestimmung als inkohärent zurück und verwirft damit den Autonomiebegriff. Die therapeutische Lösung versucht aufzuzeigen, dass das Trilemma ein Scheinproblem ist, das durch eine (leicht einsehbare) Verwechselung zustande gekommen ist – in diesem Fall eine Verwechselung der vier Perspektiven auf Autonomie (vgl. Abschnitt 1.3). Die Standardstrategien leugnen eine der drei vortheoretischen Überzeugungen des Trilemmas und halten an den beiden anderen fest. Daraus ergeben sich entsprechend drei Klassen von Standardlösungen: 1. Internalistische Ansätze geben (II) auf und halten an (I) und (III) fest. Autonomie erschöpft sich demnach in einem besonderen Selbstverhältnis, es ist ein reines Selbstverhältnis. 2. Externalistische Ansätze leugnen (I) und halten an (II) und (III) fest. Demnach wird Autonomie vollständig durch bestimmte Verhältnisse der äußeren Welt konstituiert, es ist ein reines Weltverhältnis. 3. Interaktionalistische Ansätze verwerfen den Gegensatz von Selbst- und Weltverhältnis in (III) und halten an (I) und (II) fest; sie verstehen Autonomie als eine Interaktion von Selbst und Welt, als ein „Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen“. Die Standardstrategien machen den überwiegenden Teil der Autonomiedebatte aus, und ich werde die drei Klassen von Standardstrategien in Teil II in jeweils einem Kapitel ausführlich diskutieren.19 Zuvor möchte ich jedoch klarstellen, warum die therapeutische und die skeptische Strategie keine befriedigenden Lösungen des Rätsels der Autonomie liefern (und darum zu Recht auch nur eine Randposition in der Debatte einnehmen).
19 Dabei werde ich die Strategien eher idealisiert und in systematischer Hinsicht betrachten. Viele (aber nicht alle) tatsächlich in der Literatur vertretenen Autonomiekonzeptionen machen bezüglich mehrerer Thesen des Trilemmas Zugeständnisse. Meist lässt sich jedoch ein Schwerpunkt identifizieren, so dass eine eindeutige Zuordnung zu einer der drei Standardstrategien möglich ist, und eine solche Zuordnung werde ich auch vornehmen. Man sollte das Trilemma und die logisch möglichen Standardreaktionen darauf vielleicht eher als ein Schema zur Systematisierung der Diskussion und zur Identifizierung grundsätzlicher Herausforderungen denn als vollständige und erschöpfende Klassifikation der tatsächlich vertretenen Positionen verstehen.
54 | 2 Das Rätsel personaler Autonomie
2.5 Die therapeutische Lösungsstrategie Eine Möglichkeit, auf das Trilemma zu reagieren, besteht darin, einen Schritt zurückzutreten und auf die Überlegungen aus dem vorherigen Kapitel zurückzukommen. Dort hatte ich vier verschiedene Perspektiven auf Autonomie unterschieden. Man kann sich nun fragen, ob der Widerspruch zwischen den Überzeugungen (I), (II) und (III) nicht einfach daraus erwächst, dass diese Überzeugungen aus unterschiedlichen Perspektiven heraus formuliert sind: Die in Tabelle 1.1 (S. 25) aufgeführten Phänomene legen auf den ersten Blick nahe, dass unter der erstpersonalen Perspektive vor allem „innere“ Phänomene (Ambivalenz, Willensschwäche, Konformität und Unterwürfigkeit) und damit Autonomie als Selbstverhältnis relevant sind, während aus der drittpersonalen globalen Perspektive mit psychischen Störungen und Unterdrückung eher „äußere“ Phänomene und damit Autonomie als Weltverhältnis betont wird. Hinter den verschiedenen Überzeugungen (I) und (II) stecken scheinbar einfach verschiedene Perspektiven auf Autonomie. Doch ich hatte ja selbst in Abschnitt 1.3 betont, dass diese Perspektiven eigenständig und unabhängig sind und folglich auch unterschiedliche Aspekte von Autonomie hervorheben könnten. Und dann sollte es uns doch nicht wundern, wenn es zu Spannungen kommt, sobald man von diesen Perspektiven abstrahiert und so tut, als gäbe es nur einen einzigen Blickwinkel auf das Phänomen. Kommt uns Autonomie also nur deshalb so rätselhaft vor, weil wir in unseren vortheoretischen Überzeugungen unbemerkt die Perspektive gewechselt haben? Ist das Trilemma nicht also eigentlich ein Scheinproblem? Die Antwort darauf lautet: Nein. Denn die widersprüchlichen Tendenzen im Autonomiebegriff – die Thesen (I) und (II) – lassen sich aus jeder der vier Perspektiven formulieren (und insofern stellt sich das Trilemma unter jeder der vier Perspektiven): 1. Unter der lokalen, drittpersonalen Perspektive geht es um die Autonomie von Personen hinsichtlich einzelner Handlungen, insofern davon der Umgang Dritter mit der Person abhängt. Dies ist etwa bei der Frage der moralischen (und auch strafrechtlichen) Verantwortlichkeit für ein Vergehen der Fall, denn man gilt nicht (oder nur beschränkt) als verantwortlich, wenn man zeigen kann, dass man nicht selbst bestimmt hat. Hier werden aber zwei verschiedene Arten von Erwägungen einschlägig: Einerseits kann eine Person ein gestörtes Selbstverhältnis geltend machen – etwa wenn sie glaubhaft machen kann, dass eine Straftat ungeplant und im Affekt geschah (und sie als Person von einem plötzlichen Trieb „übergangen“ worden ist). Andererseits kann eine Person aber auch ein problematisches Weltverhältnis – etwa ihre schwierige Kindheit oder die Sozialisation in einem totalitaristischen Staat – geltend machen, um nur eingeschränkt zur Verantwortung gezogen zu werden. Offenbar
2.5 Die therapeutische Lösungsstrategie |
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haben sowohl These (I) als auch These (II) einen Platz in unserem lokalen, drittpersonalen Blick auf Autonomie. 2. Nimmt man die lokale, erstpersonale Perspektive ein, so betrachtet man die Autonomie einer Person als ein Ideal hinsichtlich einzelner Handlungen. Auch hier zieht es uns in verschiedene Richtungen: Wir bereuen es, wenn wir nur halbherzig und eben nicht von ganzem Herzen hinter einem Entschluss stehen; hier verstehen wir die Autonomie, nach der wir streben, als Selbstverhältnis. Zugleich können Gefühle der Halbherzigkeit und Ambivalenz ihren Ursprung auch darin haben, dass uns zu wenig Optionen (und insbesondere nicht die Alternativen, die wir uns am meisten gewünscht hätten) zur Verfügung stehen: Vielleicht steht Wilhelm nur halben Herzens hinter der handwerklichen Lehre, weil seine Eltern ein Studium im Ausland, das er lieber wollte, nicht finanzieren konnten. Hinsichtlich einzelner Handlungen streben wir offenbar auch nach einem größeren Handlungsspielraum – und insofern nach einem bestimmten Weltverhältnis. 3. Unter der globalen, drittpersonalen Perspektive steht die Autonomie von Personen hinsichtlich ihrer gesamten Lebensführung in Frage, sofern dies für den Umgang anderer mit der betreffenden Person relevant ist. Das ist z. B. der Fall, wenn man einen Vormund für eine Person einsetzt, weil ihr gewisse kognitive Fähigkeiten fehlen oder weil sie an einer psychischen Störung leidet. In diesen Fällen kann man sagen, dass der Person gewisse innere Vermögen fehlen und sie darum kein geeignetes Selbstverhältnis eingehen kann; hier wird These (I) ins Spiel gebracht. Unter dieselbe Perspektive fallen aber auch Fälle von Unterdrückung; wenn das Mitglied einer Minderheit keine Schule besuchen darf, ihm soziale Rechte vorenthalten werden, es diskriminiert und erniedrigt wird, dann liegt das nicht an der betreffenden Person selbst, sondern daran, wie die Welt um sie herum beschaffen ist – wie nämlich andere Personen mit ihr umgehen. Hier wird These (II) ins Spiel gebracht. 4. Nimmt man die globale, erstpersonale Perspektive ein, so betrachtet man personale Autonomie als ein Ideal hinsichtlich der gesamten Lebensführung. Wir können in Bezug auf dieses Ideal in verschiedenen Hinsichten scheitern: Wenn wir uns in etwas (z. B. den Traum vom Hochleistungssport, der trotz aller Bemühungen mangels Talent niemals realisiert wird) verrennen oder wenn etwas (z. B. unser Beruf) von uns Besitz ergreift, scheint es uns an Autonomie zu mangeln, weil unser Verhältnis zu uns selbst bzw. zu unseren Projekten und Zielen gestört ist; dahinter steht These (I). Und wenn wir unser Leben nach fremden Vorstellungen (den Erwartungen unserer Eltern, gesellschaftlichen Rollenbildern oder den „Diktaten“ der Mode) ausrichten, dann werden wir auf eine Weise beeinflusst, die mit Autonomie (als Ideal im globalen, erstpersonalen Sinne) unvereinbar scheint; dahinter steht These (II).
56 | 2 Das Rätsel personaler Autonomie Dass das Rätsel der Autonomie sich unter jedem Blickwinkel auf Autonomie stellt, lässt sich auch anhand der Literatur nachzeichnen. Bei den verschiedenen angewandten Problemen im Zusammenhang mit Autonomie werden unterschiedliche Perspektiven auf Autonomie eingenommen: In der Medizinethik geht es hinsichtlich Autonomie z. B. vorrangig um Zustimmung zu einzelnen medizinischen Behandlungen, was in der lokalen, drittpersonalen Perspektive angesiedelt ist; in der politischen Philosophie spielt das Ideal der autonomen Lebensführung eine Rolle bei der Frage, auf welchen normativen Grundlagen der Liberalismus beruht, und dieses Ideal ist eher der globalen, erstpersonalen Perspektive zuzurechnen. Nun findet sich aber innerhalb jeder dieser (und anderer) Problemkontexte – und damit in jeder der eingenommenen Perspektiven – eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Autonomiekonzeptionen, wobei einige Konzeptionen eher dem Pol „Autonomie als Selbstverhältnis“, andere eher dem Pol „Autonomie als Weltverhältnis“ zuzurechnen sind: In der Medizinethik etwa gilt die informierte Zustimmung der Patientin als paradigmatischer Ausdruck von Autonomie; dies betrifft allein das mentale Innenleben der Person und in dieser Hinsicht wird Autonomie (unter der lokalen, drittpersonalen Perspektive) als Selbstverhältnis verstanden. Zugleich wird dieses Paradigma dafür kritisiert, dass es von den teils subtilen Mechanismen sozialer Einflussnahme absieht (vgl. z. B. May 2005; Taylor 2009; Ursin 2009); diese Kritik bemüht mit dem Verweis auf äußere Einflüsse innerhalb der lokalen, drittpersonalen Perspektive somit die Vorstellung von Autonomie als Weltverhältnis. Ebenso wird in der politischen Philosophie dasjenige Ideal personaler Autonomie, welches die normative Grundlage des Liberalismus bildet, unterschiedlich ausbuchstabiert (vgl. Christman 2005b): Manchmal erschöpft es sich in der Fähigkeit zur kritischen (Selbst-)Reflexion, manchmal müssen zusätzlich bestimmte äußerer Umstände (etwa ein hinreichend großer Handlungsspielraum) gegeben sein. Auch hier wird also teils die Ähnlichkeit zum Selbstverhältnis, teils die Ähnlichkeit zum Weltverhältnis betont. Die Tatsache, dass man offenbar hinsichtlich jedes angewandten Problems sowohl die Tendenz zum Weltverhältnis als auch die Tendenz zum Selbstverhältnis stark machen kann und daraus ein Streit entsteht, spricht dafür, dass sich das Trilemma unter allen Blickwinkeln auf Autonomie stellt. Das Rätsel der Autonomie scheint also grundsätzlicher Art zu sein und insofern tatsächlich direkt etwas mit dem Begriff Autonomie zu tun zu haben.
2.6 Die skeptische Lösungsstrategie Wenn uns eine Idee rätselhaft vorkommt, dann können wir auch daran zweifeln, ob sie überhaupt Sinn ergibt. Ein Skeptizismus hinsichtlich der Idee der Selbst-
2.6 Die skeptische Lösungsstrategie |
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bestimmung kann nun unterschiedliche Formen annehmen: Man hätte bereits in Kapitel 1 stehen bleiben und den Begriff aufgrund seiner Unschärfe ad acta legen können. Dass ich das nicht getan haben, hatte etwas mit den praktischen Interessen zu tun, die mit diesem Begriff verbunden sind: Der Begriff Autonomie scheint einfach eine zu wichtige Funktion zu haben, als dass man bedenkenlos auf ihn verzichten könnte; vielmehr, so hatte ich argumentiert, fordert die Unschärfe dazu heraus, den Begriff zu schärfen. Das Trilemma erneuert diese Zweifel jedoch: Es scheint ja aufzuzeigen, dass etwas mit dem Begriff Autonomie selbst nicht stimmt und dass – ganz gleich, in welche Richtung man den Begriff schärft – man immer einen Aspekt der Idee der Selbstbestimmung aus dem Blick verlieren muss. Und so kann man aufs Neue fragen: Ginge es nicht auch ohne Autonomie? Im Gegensatz zu den durch die begriffliche Unschärfe motivierten Zweifeln, die bereits in Kapitel 1 hätten aufkommen können, ist dieser neue Zweifel inhaltlich, d. h. durch eine Auseinandersetzung mit unserem vortheoretischen Verständnis des Begriffs Autonomie, motiviert: Man muss den Begriff aufgeben, weil die einzelnen Aspekte des Begriffs nicht zusammenpassen und die gesamte Idee in sich nicht stimmig ist (vgl. paradigmatisch Bittner 2002). Dieser weiterreichende Zweifel an der Stimmigkeit der Idee der Selbstbestimmung begegnet uns in zwei Spielarten: Nach der ersten Spielart muss man die Idee des Selbst, die in der Idee der Selbstbestimmung enthalten zu sein scheint, einfach aufgeben. Der zweiten Spielart zufolge muss man diese Idee des Selbst radikalisieren.
2.6.1 Die erste Spielart des Zweifels: radikales Weltverhältnis Die erste Spielart kann man ausgehend vom Trilemma wie folgt verstehen: Wenn man sich fragt, warum These (II) wahr ist, könnte man auf den Gedanken kommen, dass Autonomie deshalb einem Weltverhältnis ähnelt, weil alles ein Weltverhältnis ist. Die Wahrheit von These (II) läge dann in der Wahrheit einer viel allgemeineren These begründet – dass es nur das „wirklich gibt“, was in der Welt ist, und dass alle Begriffe und Ideen, die vorgeben, von der Welt losgelöste Entitäten wie „Subjekt“, „Selbst“, „mein Innenleben“ etc. zu benennen, in Wahrheit leer und gehaltlos sind. Diese allgemeine These impliziert, dass etwas, das von ganz anderer Art zu sein scheint als das, was man in der Welt vorfindet, eine bloße Illusion ist. Und darum kann man das Trilemma folgendermaßen umformulieren: (I) (II* ) (III)
Autonomie ist von der Art eines Selbstverhältnisses. Es gibt nur das wirklich, was von der Art eines Weltverhältnisses ist. Ein Selbstverhältnis ist von ganz anderer Art als ein Weltverhältnis, so dass gilt: Wenn etwas von der Art eines Selbstverhältnisses ist, dann ist es nicht von der Art eines Weltverhältnisses.
58 | 2 Das Rätsel personaler Autonomie Dieses transformierte „Trilemma“ enthält keinen Widerspruch mehr (darum ist es auch eigentlich kein Trilemma, sondern eine Lösung des Rätsels). Vielmehr folgt daraus, dass Autonomie eine große Täuschung ist und es sie in Wahrheit gar nicht gibt. Diese skeptische Ansicht findet sich bei Poststrukturalistinnen wie Judith Butler (1999), die die Idee der Selbstbestimmung aufgeben, „weil sie das Subjekt für eine Fiktion, für ein narratives bzw. diskursives Konstrukt“ halten (Strube 2009, 31). Eine ähnliche Ansicht lässt sich möglicherweise auch ausgehend ¯ von der buddhistischen anatta-Lehre (die Lehre vom „Nicht-Selbst“ oder von der „Verneinung des Selbst“) konstruieren (vgl. Collins 1982; Gowans 2003, Kap. 6): „Buddhist Reductionists [. . . ] claim that this felt need for an observer self [. . . ] is the product of a powerful illusion fostered by our use of the convenient designator ‘person’. [. . . ] The Buddhist reductionist claims that ‘person’ is a mere convenient designator for a complex causal series of impermanent, impersonal psychophysical elements. That is, ultimately there are no persons, only physical objects, feelings, perceptions, volitions and consciousness“ (Siderits 2003, 24f.).
Ist Autonomie also eine Chimäre, weil schon die Idee des Selbst eine Chimäre ist? Zugegebenermaßen ist die Idee eines inneren Wesens der Person, von dem ausgehend man sich bestimmt, bei genauerem Nachdenken recht suspekt; aus diesem Grund – und auch, weil die Autonomiekonzeption, die ich in Teil III vertreten möchte, auf die Idee eines solchen Selbst gar nicht angewiesen ist – will ich diese Idee auch gar nicht direkt verteidigen (für eine solche Verteidigung, speziell gegen die poststrukturalistische Skepsis, siehe Friedman 2003, 30–36). Hier kommt es mir nur auf zwei Hinweise an: Erstens hängt die Überzeugungskraft dieser skeptischen Spielart von der Glaubwürdigkeit von Prämisse (II* ) ab, d. h. von der Rechtfertigung für den „theoretischen Überbau“, von dem aus man erst sieht, dass Autonomie eine leere Idee sein muss. Ich kann die Weltbilder, die hinter der poststrukturalistischen und der buddhistischen Variante von (II* ) stehen, an dieser Stelle nicht eingehender prüfen. Aber das ist auch nicht nötig; wichtig ist einzig, dass die erste Spielart des Skeptizismus nicht einfach so aus dem Trilemma folgt, sondern erst durch eine zusätzliche Prämisse (den theoretischen Überbau) in Gang kommt. Man muss erst noch zeigen, dass das darin ausgedrückte Weltbild plausibler ist als die Annahme eines Selbst. Rein von der dialektischen Situation her ist die erste skeptische Spielart daher allenfalls auf Augenhöhe mit der Annahme eines Selbst, sie ist dieser Annahme aber keineswegs überlegen. Zweitens kann die skeptische Lösungsstrategie es nicht einfach dabei belassen, die Idee des Selbst aufzugeben. Denn damit kann sie zwar das theoretische Erkenntnisinteresse befriedigen (indem sie dieses als fehlgeleitet entlarvt), aber die praktischen Erkenntnisinteressen, die hinter der Suche nach den Bedingungen von Autonomie stehen, sind ja nach wie vor unbefriedigt – schließlich machen
2.6 Die skeptische Lösungsstrategie |
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wir einfach einen Unterschied im Umgang mit uns „selbst“ und anderen, wenn bestimmte Merkmale (die wir üblicherweise mit dem Begriff Autonomie in Verbindung bringen) gegeben oder nicht gegeben sind. Selbst wenn wir nun einsehen, dass dieser Begriff leer ist, so ändert sich nichts daran, dass wir noch immer wissen wollen, was diese Merkmale sind, aufgrund derer wir Personen auf eine gewisse Weise behandeln. Hieraus ergibt sich für die Vertreterinnen der ersten skeptischen Spielart ein Dilemma: Entweder sie können keine derartigen Merkmale benennen. Dann bleibt ihre Position schlicht unbefriedigend, da sie das praktische Erkenntnisinteresse nicht bedient. Oder aber Skeptikerinnen der ersten Spielart benennen solche Merkmale. Doch dann legen sie einfach eine neue „Autonomiekonzeption“ vor, denn sie beanspruchen, anhand dieser Merkmale den spezifischen Unterschied im Umgang mit Personen zu erfassen, der – wie wir glaubten – mit dem Begriff Autonomie verbunden ist. Was auch immer der neue „Ersatzbegriff“ dann ist, den diese Merkmale ausmachen: Er hat dieselbe praktische Funktion wie der Autonomiebegriff. Und insofern ist die Liste der Merkmale nichts anderes als eine neue Autonomiekonzeption. ¯ Man kann sich dies an den Konsequenzen der buddhistischen anatta-Lehre gut verdeutlichen: Demnach sei die Idee des Selbst nämlich die Ursache menschlichen Leids und müsse überwunden werden (vgl. Siderits 2003, 29ff.). Dahinter steht die Vorstellung, dass die Einsicht in die eigene unausweichliche Verwobenheit in die Welt befreiend ist. Das hat Konsequenzen für die Art von Umgang mit uns selbst, die wir zuvor als „Autonomie als Ideal der persönlichen Lebensführung“ bezeichnet hatten: Anstatt uns mit uns selbst zu beschäftigen und insofern „selbstzentriert“ zu werden, wäre der buddhistisch inspirierte Rat eher, sich von der Idee des Selbst freizumachen. Doch auch diese „selbstlose Autonomie“ (Taniguchi 2002) ist eine bestimmte Auffassung von der Natur personaler Autonomie – es ist eine Autonomiekonzeption. Wenn die Skeptiker also das praktische Interesse an der Frage nach Autonomie befriedigen wollen, dann legen sie letztlich eine neue (und aufgrund der Betonung unserer Einbindung in die Welt: radikal externalistische) Autonomiekonzeption vor; und damit reihen sie sich in die Liste der in Teil II zu behandelnden Standardlösungen ein. So skeptisch ist die erste Spielart des Skeptizismus also bei genauerer Betrachtung gar nicht.
2.6.2 Die zweite Spielart des Zweifels: radikales Selbstverhältnis Die erste Spielart des Zweifels an der Stimmigkeit der Idee der Selbstbestimmung radikalisiert die Einbettung von Personen in die Welt, die letztlich zur Aufgabe der Idee eines Selbst führt. Sie scheint mir aus den genannten Gründen gar keine ganz so große Herausforderung zu sein. Die zweite skeptische Spielart hingegen radika-
60 | 2 Das Rätsel personaler Autonomie lisiert die Idee des Selbst. Ausgehend von dem Trilemma könnte man nämlich auch auf die Idee kommen, dass die Überlegungen, die zu These (III) geführt haben, auch den Schlüssel zur Lösung des Trilemmas enthalten: Welt- und Selbstverhältnis unterscheiden sich nach (III) unter anderem hinsichtlich der Art von Kontrolle und hinsichtlich der Inhaltsunabhängigkeit. Dahinter stand die Vorstellung, dass (a) eine Person über ein Selbstverhältnis auch selbst verfügen kann (in dem Sinne, dass sie selbst es in der Hand hat, ob das Verhältnis vorliegt oder nicht) und dass (b) ein Selbstverhältnis insofern inhaltlich nicht weiter bestimmt ist, als gilt: Wenn es hinsichtlich eines Gegenstands eingenommen werden kann, so kann es auch hinsichtlich des gegenteiligen Gegenstands eingenommen werden. Diese Vorstellung kann man noch ein Stück weiter treiben: Wenn Autonomie ein Selbstverhältnis ist, dann folgt aus (a) offenbar, dass die Person auch über ihre eigene Autonomie verfügen können muss; aus (b) folgt, dass man inhaltlich gar nicht weiter spezifizieren kann, worin ihre Autonomie genauer besteht, weil das Selbstverhältnis bezüglich beliebiger Inhalte eingenommen werden kann.20 Nimmt man beide Folgerungen zusammen, so gelangt man zu dem Schluss, dass die autonome Person über die Bedingungen ihrer eigenen Autonomie auch selbst verfügen können muss: Ob beispielsweise eine manipulationsfreie Sozialisation oder die Identifikation mit den handlungsleitenden Motiven notwendig für Autonomie ist, darüber muss die autonome Person schon selbst entscheiden. Diese Konsequenz treibt die Art von Kontrolle und Inhaltsunabhängigkeit, die ein Selbstverhältnis auszeichnen, auf die Spitze: Autonomie wird hier zu einem radikalen Selbstverhältnis, in dem sich der Verfügungsbereich der Person auch auf dasjenige Selbstverhältnis erstreckt, das Autonomie ausmacht. Etwas paradox könnte man sagen: Autonom zu sein schließt ein, dass man autonom über seine eigene Autonomie entscheidet. Dieser Vorschlag ist eine Lösung des Rätsels. Denn wenn Autonomie ein radikales Selbstverhältnis ist, dann ähneln die Bedingungen der Autonomie manchmal eher einem Selbstverhältnis und manchmal eher einem Weltverhältnis – das kommt einfach darauf an, welche Art von Bedingungen die Person jeweils als Bedingungen ihrer Autonomie akzeptiert. Ob beispielsweise mangelnde Optionen (eher ein Weltverhältnis) die Autonomie einer Person untergraben, hängt davon ab, ob sie Mangel von Optionen überhaupt als relevant für ihre Autonomie ansieht; offenbar kann man auch ganz bewusst darauf verzichten, ohne seine Autonomie zu verlieren (etwa wenn man von der Stadt aufs Land zieht oder in ein Kloster eintritt). Ob kritische Selbstreflexion (eher ein Selbstverhältnis) nötig ist, um autonom zu sein, hängt davon ab, ob die betreffende Person eher ein spontaner Mensch mit Tatendrang ist und auf Reflexion verzichten kann oder ob sie eher ein nach-
20 Hier wird eine stärkere Form von Inhaltsunabhängigkeit unterstellt; vgl. Anm. 12.
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denklicher Mensch ist, bei dem Reflexion unerlässlich für Autonomie ist. Die drei Überzeugungen, die zum Trilemma führen, lassen sich dann dementsprechend umformulieren: (I* ) (II* ) (III* )
Autonomie ist manchmal von der Art eines Selbstverhältnisses. Autonomie ist manchmal von der Art eines Weltverhältnisses. Ein Selbstverhältnis ist zwar von ganz anderer Art als ein Weltverhältnis, aber es kommt auf die Person an, ob die Bedingungen ihrer Autonomie einem Selbstverhältnis oder einem Weltverhältnis ähneln.
Aus diesen drei Thesen erwächst nun kein Widerspruch mehr und darum ist der Vorschlag eine Lösung des Rätsels. Dass der Vorschlag eine skeptische – und unbefriedigende – Lösung ist, sieht man anhand einer in der Debatte vertretenen Variante dieses Vorschlags. Richard Double (1992) unterscheidet zwei Typen von Autonomiekonzeptionen: „Content-specific accounts propose objective criteria that must be met irrespective of whether candidates accept those criteria. [. . . ] Whatever the specifics that are required, these accounts opt for standards that all autonomous persons must satisfy. One may contrast to such accounts a type of open-ended account, based on individual management style. [. . . ] One’s IMS is revealed by one’s characteristic way of making [. . . ] decisions of certain sorts“ (Double 1992, 68f.).
Double glaubt, dass Autonomiekonzeptionen des ersten Typs grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sind. Seinem eigenen Vorschlag zufolge (den er dem zweiten Typus zurechnet) ist man nur dann autonom, wenn man (hinreichend häufig) in Übereinstimmung mit seinem individual management style (IMS) entscheidet (und die Entscheidung auch kausal auf den IMS zurückzuführen ist): „[P]ersons are autonomous just in case they actually choose autonomously a non-negligible number of times. Then we define autonomous choice as follows: S’s choice C is autonomous just in case 1. C conforms to S’s individual management style (the value condition), and 2. C is causally produced by S’s individual management style (the efficacy condition)“ (Double 1992, 69).
Dieser Vorschlag ist etwas irritierend; denn die Bedingungen 1. und 2. sind klarerweise Kriterien für Autonomie und es sind ebenso klarerweise Kriterien, die die Person selbst nicht noch einmal akzeptieren muss: Zwar hängt es von der Person ab, an welchem IMS sich ihre Autonomie bemisst – aber dass sich ihre Autonomie immer an ihrem IMS bemisst, hängt nicht von der Person ab. Insofern benennt auch Doubles eigener Vorschlag „objective criteria that must be met irrespective of whether candidates accept those criteria“ (nämlich das Kriterium der Übereinstim-
62 | 2 Das Rätsel personaler Autonomie mung der Entscheidung mit dem IMS der Person) und wäre daher eigentlich dem ersten Typus, von dem er sich gerade abgrenzen will, zuzurechnen. Plausibler scheint eine andere Lesart des Unterschieds zwischen den beiden Typen von Autonomiekonzeptionen: Danach ist Double der Ansicht, dass es nicht eine Menge von Autonomiebedingungen gibt, die für alle Personen gelten („standards that all autonomous persons must satisfy“), sondern dass es nur für jede Person jeweils eine solche Menge von Bedingungen gibt. Der Unterschied liegt also in der Reihenfolge der Quantoren, die in einer Analyse von Autonomie verwendet werden: Während „objektive“ Ansätze Autonomie nach Schema (S 1) analysieren, (S 1)
Es gibt eine Menge von Bedingungen B, so dass für jede Person S gilt: S ist genau dann autonom, wenn B.
ist das Analyseschema „offener“ Autonomiekonzeptionen das folgende: (S 2)
Für jede Person S gibt es eine Menge von Bedingungen B S , so dass gilt: S ist genau dann autonom, wenn B S .
Der Unterschied, um den es Double also geht, ist der zwischen den beiden Schemata (S 1) und (S 2): Er behauptet, dass es – aus Gründen, die mit dem Autonomiebegriff selbst zu tun haben – keine Analyse des Autonomiebegriffs im Sinne von (S 1) geben kann. Vielmehr muss man den Begriff Autonomie stets im Sinne von (S 2) verstehen (in Doubles eigenem Vorschlag ist die „personalisierte Bedingung“ B S einfach die Konformität zu dem IMS, den die jeweilige Person S besitzt). Nun sieht man auch, warum Doubles Position (bzw. die obige allgemeine Lösung des Trilemmas durch ein radikales Selbstverhältnis) eine skeptische Lösung ist: Sie verwirft zwar – anders als die erste skeptische Spielart – nicht den Autonomiebegriff als Ganzes; aber sie verwirft eine bestimmte (und ziemlich verbreitete) Auffassung über dessen begriffliche Grundstruktur: die Auffassung, dass die Bedingungen von Autonomie invariant sind gegenüber der Person, deren Autonomie in Frage steht. Damit wird der Autonomiebegriff „subjektiviert“. Nun sieht man aber auch, warum diese zweite Spielart des Zweifels am Autonomiebegriff (die Radikalisierung der Idee des Selbst) keine zufriedenstellende Lösung des Rätsels liefert: Sofern man sie als eine Autonomiekonzeption versteht (so wie Double es explizit tut), wird sie der Aufgabe, den Autonomiebegriff zu schärfen, nicht gerecht. Denn da es sehr viele Personen gibt, gibt es wohl auch sehr viele personalisierte Autonomiebedingungen B S und solange man im Schema (S 2) bleibt, lässt sich über die Bedingungen personaler Autonomie einfach nicht viel mehr sagen als dies: dass man dazu eben auf die Person, deren Autonomie in Frage steht, schauen muss. Doch da es nicht eine einzige Sache wie Wünsche, Überzeugungen, Fähigkeiten oder Optionen gibt, auf die man schauen muss (denn
2.6 Die skeptische Lösungsstrategie |
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das hieße bereits, „objektive“ Bedingungen anzugeben), verfügt man über kein gehaltvolles Merkmal, um über die Autonomie einer anderen Person zu entscheiden oder um sich in seiner eigenen Lebensführung daran zu orientieren. Somit wäre das Vorliegen von Autonomie nur schwer feststellbar und der Begriff Autonomie in praktischer Hinsicht unbrauchbar. Wenn man die Radikalisierung der Idee des Selbst hingegen nicht als eine eigene Autonomiekonzeption, sondern als Widerlegung der Möglichkeit einer solchen versteht, dann muss einen der Einwand der Unschärfe bzw. der inhaltlichen Leere nicht weiter kümmern. Wenn man den Autonomiebegriff jedoch in dieser Weise aufgibt, so stellt sich dasselbe Problem wie bei der ersten Spielart des Zweifels: Die praktischen Erkenntnisinteressen hinter der Suche nach den Bedingungen personaler Autonomie bleiben unbefriedigt. Und wenn man versucht, diese zu befriedigen, so muss man Bedingungen für eine bestimmte Praxis des Umgangs mit anderen und mit sich selbst angeben. Doch damit legt man letztlich eine Autonomiekonzeption vor. Und sofern sich die Skeptikerin der zweiten Spielart an ihre eigene Einsicht, dass diese vorzulegende Konzeption nur nach Schema (S 2) strukturiert sein kann, hält, wird diese Konzeption zu unscharf ausfallen. Die zweite Spielart des Zweifels steht also vor einem Dilemma: Entweder man befriedigt das praktische Interesse nicht; oder man befriedigt es und wird der Aufgabe, den Begriff zu schärfen, nicht gerecht. Beiden Adäquatheitskriterien zugleich zu genügen, ist dieser skeptischen Position aber nicht möglich. Damit überzeugen weder die therapeutische noch die skeptische Lösungsstrategie. Ganz so einfach wird man das Problem der Autonomie also nicht los. Eine befriedigende Lösung des Rätsels muss sich daher unter den Standardstrategien finden lassen – also unter den internalistischen, externalistischen oder interaktionalistischen Autonomiekonzeptionen. Es ist Anliegen der folgenden drei Kapitel, dieser Vermutung nachzugehen.
| Teil II: Ansätze zur Lösung des Problems
3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien Das Rätsel der Natur personaler Autonomie kann man lösen, wenn man Überzeugung (II) aufgibt und an den Überzeugungen (I) und (III) festhält. Man leugnet dann, dass Autonomie einem Weltverhältnis ähnelt. Autonomie wird damit ein reines Selbstverhältnis. In diesem Kapitel diskutiere ich Autonomiekonzeptionen, die dieser Lösungsstrategie folgen. Dabei – dies gilt auch für die in Kapitel 4 und 5 erörterten Positionen – betrachte ich diese Strategie in systematischer Hinsicht. Das heißt, dass ich die Ansätze so diskutiere, wie sie idealerweise vertreten werden könnten, und dabei ein Stück weit von den tatsächlich in der Literatur vertretenen Positionen abstrahiere. Dennoch stütze ich meine Argumentation an entscheidenden Stellen immer wieder auf tatsächlich in der Debatte vorzufindende Autonomiekonzeptionen – dort nämlich, wo sich bestimmte Merkmale der allgemeinen Lösungsstrategie besonders gut nachzeichnen lassen. Dieses Vorgehen hat meines Erachtens den Vorteil, dass deutlicher hervortritt, auf welche strukturellen Probleme die Lösungsstrategien jeweils ganz unabhängig von der spezifischen Ausgestaltung einzelner Konzeptionen stoßen.
3.1 Das internalistische Projekt Die Lösungsstrategie, nach der Autonomie ein reines Selbstverhältnis ist, zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: Erstens hält sie an den Thesen (I) und (III) des Trilemmas fest und damit insbesondere an der Idee, dass Autonomie etwas mit einem Selbstverhältnis zu tun hat. Mit dem Begriff Selbstverhältnis wurde in Abschnitt 2.1 eine Sammelbezeichnung für drei Erfahrungen eingeführt: 1. Eine Person steht in einem – unmittelbar benennbaren – Verhältnis zu sich selbst (sie ist z. B. mit sich im Reinen). 2. Eine Person macht etwas mit sich (sie macht sich z. B. etwas vor). 3. Die „Teile“ einer Person greifen auf eine bestimmte Art und Weise ineinander (ihre Neigung ist z. B. stärker als ihre Vernunft). Ein solches Selbstverhältnis kann im Hinblick auf die Autonomie der Person von der richtigen oder von der falschen Art sein – je nachdem, ob das Verhältnis der Person intakt oder gestört ist, ob sie das Richtige oder das Falsche mit sich macht und ob die Teile der Person auf die richtige oder falsche Weise zusammenspielen. Sofern eine Autonomiekonzeption an These (I) des Trilemmas – an der Überzeugung, dass Autonomie etwas mit einem solchen Selbstverhältnis zu tun hat – festhält,
68 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien muss sie genauer erklären, unter welchen Bedingungen das Selbstverhältnis von der richtigen bzw. von der falschen Art ist. Insbesondere gilt dies für Konzeptionen, die Autonomie als reines Selbstverhältnis verstehen. Solche Bedingungen für ein geeignetes Selbstverhältnis anzugeben heißt dann, Bedingungen personaler Autonomie zu nennen. Das zweite Charakteristikum der Strategie, Autonomie als reines Selbstverhältnis zu konzipieren, besteht darin, dass These (II) – und damit die Vorstellung, dass Autonomie etwas mit einem Weltverhältnis zu tun hat – abgelehnt wid. Das hat Konsequenzen für die Frage, wie die Bedingungen, unter denen ein geeignetes Selbstverhältnis besteht, beschaffen sein müssen: Offenbar dürfen es nicht Bedingungen sein, die die Verhältnisse in der Welt betreffen. Denn läge ein geeignetes Selbstverhältnis (z. B. „genügend Selbstvertrauen haben“ oder „mit sich im Reinen sein“) nur dann vor, wenn die Welt auf eine bestimmte Weise konfiguriert ist (wenn etwa andere Personen die betreffende Person achten oder wenn die Person eine glückliche Kindheit hatte), so ähnelte Autonomie doch wieder einem Weltverhältnis – und wäre somit kein reines Selbstverhältnis mehr. Die Ablehnung von These (II) des Trilemmas verpflichtet Vertreterinnen der Lösungsstrategie, derzufolge Autonomie ein reines Selbstverhältnis ist, folglich darauf, dass die Bedingungen, unter denen ein geeignetes Selbstverhältnis besteht, nichts mit der Welt, die die Person umgibt, zu tun haben. Was für Bedingungen könnten es dann sein? Offenbar kommen nur Bedingungen in Frage, die mit der Person selbst – und nur mit ihr selbst – zu tun haben. Das einzige, was man an einer Person in dieser Weise von der Welt „abspalten“ kann, ist ihr Innenleben beziehungsweise ihre innere Verfassung. Das Innenleben einer Person besteht (a) aus den Vermögen der Person (z. B. das Vermögen der Vernunft, des Begehrens, der Reflexion, der sinnlichen Wahrnehmung, der Vorstellung), (b) aus den mentalen Zuständen und Einstellungen der Person, die aus der Ausübung der Vermögen resultieren (dazu zählen Wünsche, Überzeugungen, Hoffnungen, Empfindungen, Gefühle etc.), sowie (c) aus allen Relationen, die zwischen den Vermögen bzw. zwischen den mentalen Zuständen und Einstellungen bestehen (die Tatsache, dass ein Wunsch stärker ist als ein anderer, und die Tatsache, dass die Vernunft dem Begehren nachgibt, sind z. B. auch Tatsachen über das Innenleben der Person). Die Bedingungen des gesuchten reinen Selbstverhältnisses betreffen also ausschließlich die Vermögen der Person (bzw. Relationen zwischen diesen) sowie ihre mentalen Zustände und Einstellungen (bzw. Relationen zwischen diesen). Derartige Bedingungen nenne ich im Folgenden „interne Bedingungen“. Denkt man also den Versuch, Autonomie als ein reines Selbstverhältnis zu verstehen,
3.1 Das internalistische Projekt |
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zu Ende, so müssen die Bedingungen personaler Autonomie interne Bedingungen sein. Autonomiekonzeptionen, die dieser Lösungsstrategie folgen, bezeichne ich dementsprechend als „internalistische Autonomiekonzeptionen“ (und die gesamte Lösungsstrategie als „Internalismus“). Für Internalistinnen ist die Frage der Autonomie einer Person ausschließlich eine Frage über deren Innenleben und sie entscheidet sich folglich auch ausschließlich daran: Ob Adeles Entschluss, Medizin zu studieren, autonom war, hängt dann davon ab, ob sie sich damit identifizierte oder ob sie ihrem stärksten Wunsch folgte; ob Bert als alleinstehender, viel beschäftigter Manager wirklich ein autonomes Leben führt, hängt davon ab, ob er dieses Leben für erstrebenswert und gut hält; und ob Claras Verzicht auf eine berufliche Weiterentwicklung nach der Schwangerschaft autonom war, hängt davon ab, ob es ihrem Selbstverständnis entspricht. Man kann das internalistische Projekt etwas genauer auch so charakterisieren: Die Aufgabe einer Autonomiekonzeption besteht darin, die Autonomiezuschreibung „Die Person P ist autonom“ zu schärfen. Autonomie scheint aber zwei Gesichter zu haben: das eines Selbst- und das eines Weltverhältnisses. Entsprechend würde man erwarten, dass eine Schärfung des Autonomiebegriffs zwei Komponenten enthalten wird und die Schärfung somit dem folgenden Grundschema entspricht: Das Grundschema der Analyse des Begriffs Autonomie (Sgrund )
Die Person P ist genau dann autonom, wenn P in Selbstverhältnis S steht und wenn die Verhältnisse in der Welt, die P umgibt, auf die Weise W beschaffen sind.
Die internalistische Lösungsstrategie lehnt jedoch These (II) des Trilemmas ab und konzipiert Autonomie als reines Selbstverhältnis. Daraus folgt, dass die internalistische Schärfung des Autonomiebegriffs nur eine einzige Komponente – die des Selbstverhältnisses – enthält und daher die folgende Form haben muss: Die Person P ist genau dann autonom, wenn P in Selbstverhältnis S steht.
Das verschiebt die Frage von den Bedingungen personaler Autonomie zu der Frage nach den Bedingungen für das Selbstverhältnis S. Die Ablehnung von These (II) legt internalistische Konzeptionen hierbei aber darauf fest, dass in einer genaueren Beschreibung von S ausschließlich interne Bedingungen vorkommen, d. h. Aussagen über mentale Zustände bzw. Einstellungen der Person (etwa „P hat den Wunsch, dass x“), Aussagen über Relationen zwischen diesen mentalen Zuständen bzw. Einstellungen (etwa „Ps Wunsch, dass x, ist stärker als Ps Wunsch, dass y“), Aussagen über die Vermögen der Person (etwa „P kann rational über ihr Tun
70 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien nachdenken“) oder Aussagen über Relationen zwischen diesen Vermögen (etwa „Ps rationales Nachdenken über ihr Tun wirkt sich weniger auf ihr Verhalten aus als ihre Neigungen“). Die Beschreibung von S hat damit die Form: P steht genau dann in Selbstverhältnis S, wenn I(P).
Dabei steht I(P) dafür, dass eine Menge I von internen Bedingungen (im gerade definierten Sinne) auf P zutrifft. Daraus folgt, dass eine internalistische Konzeption den Autonomiebegriff nach folgendem Schema schärft: Das internalistische Schema (Sint )
Die Person P ist genau dann autonom, wenn I(P).
Man könnte nun meinen, dass eine Schärfung nach Schema (Sint ) von vornherein zum Scheitern verurteilt ist: Denn klarerweise ist eine Person, die gezwungen oder unterdrückt wird, nicht autonom; die Abwesenheit von Zwang und Unterdrückung scheint somit eine notwendige Bedingung personaler Autonomie zu sein. Doch Zwang bzw. Unterdrückung sind weder mentale Zustände noch Vermögen noch Relationen zwischen mentalen Zuständen oder Vermögen der betreffenden Person. Also sind es keine internen Bedingungen (sondern „externe“ Bedingungen, vgl. Abschnitt 4.1) und damit ist das Schema (Sint ) bereits widerlegt. Man kommt also scheinbar nicht darum herum, das zweite Gesicht der Autonomie – das Weltverhältnis und insbesondere dessen soziale Aspekte – in eine Autonomiekonzeption zu integrieren. Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Der Internalistin stehen nämlich (mindestens) zwei Wege offen, Elemente des Weltverhältnisses für Autonomie relevant zu machen, ohne damit zugleich ein bestimmtes Weltverhältnis als konstitutiv für Autonomie anzusehen (ohne also These (II) zu bejahen). Erstens kann sie externe Bedingungen „internalisieren“, indem sie darauf hinweist, dass Aspekte des Weltverhältnisses wie Optionenvielfalt oder bestimmte soziale Beziehungen nur vermittels des Selbstverhältnisses relevant für Autonomie werden können: Einerseits kann man nämlich kaum bestimmen, ob überhaupt Zwang, Unterdrückung oder ein Mangel an Optionen vorliegt, ohne die innere Verfassung der Person zu kennen. Ob der Bankier wirklich gezwungen wird, das Geld herauszurücken, hängt offenbar auch von seinen Absichten, Plänen und Überzeugungen ab. Vielleicht wollte er das Geld dem Bankräuber ohnehin gerade freiwillig geben (etwa weil er seinen Beruf satt hatte und mit seinem Arbeitgeber abrechnen wollte); und in diesem Fall ist es zweifelhaft, ob überhaupt Zwang vorliegt. Andererseits sind interne Bedingungen nicht nur in epistemischer Hinsicht (d. h. bei der Bestimmung
3.1 Das internalistische Projekt | 71
des Vorliegens externer Bedingungen) vorgeordnet, sondern auch hinsichtlich der Erklärung für Autonomie oder Autonomiemangel: Wenn Unterdrückung die Autonomie einer Person beeinträchtigt, dann doch vor allem deshalb, weil es das Selbstverhältnis der Person stört (und beispielsweise ihr Selbstwertgefühl untergräbt). Das gestörte Selbstverhältnis ist der eigentliche Grund für den Autonomieverlust und ein bestimmtes Weltverhältnis wird hier nur vermittels des Selbstverhältnisses relevant. John Christman und Harry Frankfurt beschreiben diese Idee der explanatorischen Priorität eines Selbstverhältnisses (Entfremdung bzw. etwas von ganzem Herzen wollen) gegenüber dem Weltverhältnis (Mangel an Optionen) folgendermaßen: „[H]aving options to alter one’s condition is only significant if one is alienated from such conditions. [. . . ] the range and significance of options of the sort relevant to autonomy is a function of the value perspective that guides reflective agency, not an externally stipulated set of options“ (Christman 2005b, 284; Herv. i. Orig.). „Moral and political theorists often emphasize how valuable it is for people to have extensive repertoires of worthwile options from which they are free to choose. The actual value to people of possessing these options depends to a large extent, however, upon their capacities for wholeheartedness“ (Frankfurt 1999e, 102).
Zweitens kann die Internalistin soziale Einflüsse in ihre Konzeption integrieren, indem sie zugesteht, dass die Sozialisation beim Erwerb und der Entwicklung bestimmter Vermögen eine kausale Rolle spielt (vgl. Friedman 2003, Kap. 1 und 96f.; Oshana 1998, 96f.): In welchem Maße man zur Selbstkontrolle fähig ist, hat offenbar auch etwas damit zu tun, welche Rolle z. B. Triebaufschub in der frühkindlichen Erziehung einer Person spielte; Menschen, die in einem fürsorglichen, angstfreien, liebevollen Umfeld aufgewachsen sind, wird es vermutlich leichter fallen, ein gesundes Selbstvertrauen zu entwickeln und nicht ständig an sich und ihrem Wert zu zweifeln; und natürlich fällt es der unterdrückten und diskriminierten Person schwerer, sich selbst zu achten. Aber: Hier werden die Begebenheiten der Welt (das soziale Umfeld oder die Vorgeschichte einer Person) lediglich als kausale Faktoren relevant; sie tragen kontingenterweise, aber nicht notwendigerweise dazu bei, dass die internen Bedingungen für Autonomie gegeben oder nicht gegeben sind. Das sieht man daran, dass man sich stets Personen vorstellen kann, die trotz falscher Erziehung, trotz des Umfelds oder trotz Unterdrückung das relevante Selbstverhältnis (sich kontrollieren können, ein gesundes Selbstvertrauen haben, sich selbst achten) ausbilden können. Eben darum sind die eigentlichen (d. h. konstitutiven) Bedingungen der Autonomie nach Ansicht der Internalistin eben die jeweiligen Selbstverhältnisse. Die Verhältnisse in der Welt sind für das Vorliegen dieser Selbstverhältnisse allenfalls kausal relevant.
72 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien Das internalistische Projekt ist also nicht von vornherein unplausibel und eine Analyse gemäß (Sint ) bleibt grundsätzlich möglich. Gemäß diesem Schema sind sich zwar alle Internalistinnen darin einig, dass Autonomie ein reines Selbstverhältnis ist, welches durch mentale Zustände (bzw. Vermögen) besonderer Art oder eine besondere Konfiguration von mentalen Zuständen (oder Vermögen) charakterisiert ist. Strittig ist unter Internalistinnen allerdings, was genau diese Zustände (bzw. Vermögen) sind und worin genau deren Konfiguration besteht. Ich werde nun drei Versuche vorstellen, diese Zustände (bzw. Vermögen) genauer zu bestimmen und dabei auf Probleme aufmerksam machen, die charakteristisch für eine internalistische Position zu sein scheinen. Dabei werde ich den Internalismus zunächst unter der lokalen, drittpersonalen Perspektive auf Autonomie (vgl. Abschnitt 1.3) diskutieren und dann in Abschnitt 3.5 erklären, inwiefern sich die Argumente auch auf die anderen Perspektiven übertragen lassen. Der Grund für den anfänglichen Fokus auf die lokale, drittpersonale Perspektive ist, dass das internalistische Projekt in diesem Bereich am überzeugendsten zu sein scheint und dass sich die Vertreterinnen der internalistischen Lösungsstrategie selbst vor allem auf diese Perspektive konzentrieren. So gesehen kommt der Zuschnitt auf diese Perspektive dem Internalismus entgegen.
3.2 Frankfurt und das Autoritätsproblem Unter der lokalen, drittpersonalen Perspektive betrachtet man jene Erfahrungen von Selbst- und Fremdbestimmung, die mit einzelnen Entscheidungen oder Handlungen zu tun haben, soweit die Frage der Autonomie für den Umgang anderer Personen mit der betreffenden Person relevant ist. Dazu zählen beispielsweise Affekttaten oder Patientenverfügungen (vgl. Tabelle 1.1, S. 25). Für die weiteren Überlegungen ist es hilfreich, sich die grundsätzliche Struktur einer internalistischen Autonomiekonzeption in diesem Bereich zu vergegenwärtigen: Da es um die Autonomie von einzelnen Handlungen oder Entscheidungen geht, muss eine internalistische Theorie zumindest eine interne Bedingung enthalten, die beim Zustandekommen einer Handlung eine Rolle spielt. Dies ist in aller Regel ein Wunsch (in einem weiten Sinne). Ein Wunsch ist eine interne Bedingung und trägt zur Erklärung des Zustandekommens der Handlung, deren Autonomie in Frage steht, bei. Der erste Schritt in der Konstruktion einer internalistischen Autonomietheorie besteht also darin, einen mentalen Zustand einer bestimmten Art (eben meist: ein Wunsch) zu spezifizieren. Ein solcher Zustand ist für sich genommen ganz sicher noch nicht hinreichend für die Autonomie bezüglich einer Handlung. Ein Wunsch kann uns nämlich auch
3.2 Frankfurt und das Autoritätsproblem |
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überkommen und uns fremd oder äußerlich sein. Genau dies ist bei Affekttaten der Fall: Eine Squash-Spielerin verliert einen wichtigen Punkt durch einen unnötigen Fehler und schlägt ihrer Partnerin wutentbrannt den Schläger gegen das Schienbein; eine Frau erwischt ihren Mann mit dessen Liebhaberin und verletzt ihn mit einem zersplitterten Glas in einem Anfall von Rache, Eifersucht und Hysterie schwer; eine Schülerin regt sich über eine Benotung auf, redet sich in Rage und ihr rutschen dabei unflätige Beschimpfungen heraus. In diesen Fällen haben die handelnden Personen durchaus ein Motiv, einen Wunsch oder eine Neigung. Im Hinblick auf ihre Autonomie entsteht genau daraus ein Problem: Der Wunsch „überwältigt“ sie, sie werden durch eine Neigung „übergangen“, die Personen sind „außer sich“, von ihrem Tun entfremdet und stehen ihren Motiven ohnmächtig gegenüber. Diese Entfremdung, Distanz und Ohnmacht gegenüber den Motiven, die einem Tun zugrunde liegen, kennen wir nicht nur in Fällen des „Durchdrehens“ oder „Rotsehens“; sie schlägt sich auch im Rechtssystem in der Figur der Straftaten im Affekt (vgl. §§ 20, 21, 213 des deutschen StGB) und in der Psychopathologie in der Klasse der Zwangsstörungen (vgl. Marcel 2003, 79f.) nieder. In all diesen Fällen kann man sagen, dass die Personen das, was sie tun, nur widerwillig tun und es eben nicht wirklich tun wollen. In diesem Sinne mangelt es ihnen an Autonomie. Da aber in all diesen Fällen auch ein Wunsch, eine Neigung, ein Motiv vorliegt, kann dieser für sich genommen die Autonomie einer Person noch nicht garantieren. Der erste Schritt zur Konstruktion einer internalistischen Autonomietheorie reicht somit nicht aus. Bei der wutentbrannten Squash-Spielerin, der betrogenen Ehefrau oder der schimpfenden Schülerin entsteht das Problem im Hinblick auf die Autonomie der Personen daraus, dass sie ein gestörtes Verhältnis zu ihren Motiven oder Antrieben haben: Sie sind von diesen Motiven nämlich entfremdet. Im Hinblick auf die Selbstbestimmung sähe es ganz anders aus, wenn sie zu ihren Motiven anders stünden – etwa wenn die Squash-Spielerin ihr Motiv, ihren Frust an ihrer Partnerin zu entladen, voll und ganz billigte („Die hat es verdient, so wie sie sich gerade über mich lustig gemacht hat)“, wenn die Frau bereits von der Affäre ihres Mannes wusste und sie ihren Wunsch, ihm eine Lektion zu verpassen, guthieße („Das ist die gerechte Strafe für das, was er mir angetan hat“), oder wenn die Schülerin sich mit ihren Beschimpfungen voll und ganz identifizierte („Das wollte ich immer schon mal tun“). Offenbar macht es für die Autonomie einer Person einen Unterschied, wie sie zu dem Zustand, den die Internalistin im ersten Schritt spezifiziert hatte, steht: In einem Fall missbilligen Personen ihre Motive und tun das, was sie tun, nur widerwillig; im anderen Fall billigen die Personen ihre Motive und tun das, was
74 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien sie tun, bereitwillig.21 Im zweiten Schritt der Konstruktion einer internalistischen Autonomietheorie müssen Internalistinnen also eine weitere Einstellung spezifizieren, die diese Billigung oder Missbilligung ausdrückt. Diese Einstellung kann entweder von derselben oder aber von anderer Art sein als die Einstellung aus dem ersten Konstruktionsschritt. Für eine erste Variation der internalistischen Lösungsstrategie bietet es sich an, bei Harry Frankfurts hierarchischer Konzeption des autonomen Willens anzusetzen (Frankfurt 1988c). Es ist die kleinstmögliche internalistische Konzeption, da Frankfurt nämlich versucht, den Unterschied im Hinblick auf die Autonomie des widerwilligen und des bereitwilligen Tuns durch Einstellungen derselben Art zu erfassen. Ihm zufolge unterscheiden sich die beiden Szenarien vom bereit- und widerwilligen Tun darin, dass die Personen in beiden Fällen unterschiedliche Wünsche in Bezug auf ihren handlungswirksamen Wunsch (jener Wunsch, der die Person letztlich zum Handeln „bewegte“) haben. Bei der Schülerin beispielsweise wird in beiden Fällen der Wunsch, die Lehrerin zu beleidigen, handlungswirksam. Die bereitwillige Schülerin will nun gerade, dass dieser Wunsch sie auch tatsächlich zum Handeln bewegt – sie hat den Wunsch, dass ihr Wunsch, die Lehrerin zu beleidigen, auch handlungswirksam wird. Einen solchen, auf die Wirksamkeit eines Wunsches gerichteten Wunsch bezeichnet Frankfurt als Volition zweiter Stufe. Die widerwillige Schülerin hat auch eine solche Volition zweiter Stufe, allerdings mit einem anderem Inhalt: Sie wünscht, dass ihr Wunsch, die Lehrerin zu beleidigen, nicht handlungswirksam wird; genau dies steht nämlich hinter der Erfahrung, dass ihr die Beleidigung „herausgerutscht“ ist und sie das „eigentlich“ nicht wollte. Analog kann man auch den Fall der bereitwilligen Ehefrau so verstehen, dass sie die Volition zweiter Stufe hat, dass ihr Wunsch nach Vergeltung auch handlungswirksam wird, während die widerwillige Ehefrau die Volition zweiter Stufe hat, dass ihr Wunsch nach Vergeltung nicht handlungswirksam wird. Entsprechendes gilt auch für die bereitwillige Squash-Spielerin. Der Unterschied zwischen den beiden Szenarien liegt nun darin, dass beim widerwilligen Tun ein Wunsch effektiv wird, von dem die Person gar nicht möchte, dass er effektiv wird, während beim bereitwilligen Tun gerade derjenige Wunsch effektiv wird, von dem die Person dies auch möchte. Man kann das auch so ausdrücken: Bei der autonomen Person wird der Inhalt der Volition zweiter Stufe – „dass mein Wunsch nach x handlungswirksam wird“ – erfüllt durch die Tatsache, dass der Wunsch nach x auch tatsächlich effektiv wird. Bei der Person hingegen, der es an Autonomie fehlt, bleibt die Volition zweiter Stufe unerfüllt. In Frankfurts
21 Im Folgenden werde ich von der „widerwilligen“ bzw. der „bereitwilligen“ Squash-Spielerin (Frau, Schülerin) sprechen, um mich auf die unterschiedlichen Szenarien zu beziehen.
3.2 Frankfurt und das Autoritätsproblem | 75
Konzeption entscheidet sich die Autonomie einer Person also an der Einstellung, die sie zu ihrem handlungswirksamen Wunsch hat: Wenn sie dessen Wirksamkeit mittels einer Volition zweiter Stufe wünscht, dann (und nur dann) ist sie autonom. Frankfurts Konzeption lässt sich damit als eine Spezifikation des zuvor eingeführten internalistischen Schemas (Sint ) beschreiben: Person P ist genau dann autonom (hinsichtlich der Handlung H), wenn gilt: P hat einen handlungswirksamen Wunsch nach etwas, was durch H herbeigeführt wird, und22 P hat den Wunsch, dass dieser Wunsch handlungswirksam wird.
Dies ist eine internalistische Autonomiekonzeption, weil in der Explikation von Autonomie ausschließlich auf mentale Einstellungen der Person Bezug genommen wird: erstens auf ihren handlungswirksamen Wunsch und zweitens auf einen weiteren, auf diesen Wunsch bezogenen Wunsch. Die Volition zweiter Stufe ist eine mentale Einstellung, die eine andere mentale Einstellung zum Inhalt hat – es ist eine Einstellung zu einer weiteren Einstellung, nämlich ein Wunsch, der auf die Wirksamkeit eines anderen Wunsches bezogen ist. In dieser Hinsicht ist Frankfurts internalistische Konzeption geradezu ein Paradebeispiel für die Intuition, dass Autonomie ein besonderes Selbstverhältnis ist: Die autonome Person steht in einem besonderen Verhältnis zu ihren eigenen Motiven; sie billigt sie vermittels einer Volition zweiter Stufe. Dass Frankfurt jedoch noch keine zufriedenstellende Konzeption personaler Autonomie liefert, kann man sich leicht vor Augen führen (vgl. Watson 1975, 218): Volitionen zweiter Stufe sind nämlich einfach Wünsche mit einem besonderen Inhalt. Dass sie einen besonderen Inhalt haben, ändert aber nichts daran, dass sie – ihrer Natur nach – eben Wünsche bleiben. Doch von Wünschen kann man, wie das Beispiel vom widerwilligen Tun ja gerade verdeutlicht, entfremdet sein; Wünsche können einen überkommen und einem fremd und äußerlich sein. Diese Möglichkeit besteht ganz unabhängig davon, welchen Inhalt die Wünsche haben. Also besteht diese Möglichkeit auch für Volitionen zweiter Stufe, welche ja lediglich Wünsche eines bestimmten Inhalts sind. Doch dann kann der Besitz einer solchen Volition nicht mehr hinreichend für die Selbstbestimmung einer Person sein: Denn wenn die bereitwillige Schülerin von ihrer Volition zweiter Stufe ebenso entfremdet gewesen wäre, wie der Wunsch, jemandem zu beleidigen, der widerwilligen Schülerin fremd und äußerlich war, so wäre die „bereitwillige“ Schülerin kaum noch als bereitwillig zu bezeichnen. Sie wäre ebenso wenig autonom.
22 Frankfurt (1988c, 89) sagt eigentlich, dass der handlungswirksame Wunsch wirksam wird, weil die Person die entsprechende Volition zweiter Stufe hat. Für die folgenden Einwände ist es aber irrelevant, ob das „und“ durch ein „weil“ ersetzt wird oder nicht.
76 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien Es hilft nun auch nicht, eine weitere Ebene von Wünschen noch höherer Stufe einzuführen. Denn auf dieser höheren Ebene stellt sich das Problem abermals. Ganz allgemein gilt: Solange die mentale Einstellung höherer Stufe von derselben Art ist wie diejenige Einstellung niedrigerer Stufe, auf welche sich die Einstellung höherer Stufe richtet, und solange die Einstellung niedrigerer Stufe die Frage der Autonomie nicht bereits beantwortet, solange wird diese Frage auch auf der höheren Stufe nicht beantwortet werden. (Und dass sie auf der ersten Stufe nicht beantwortet wird, hatten wir bereits gesehen.) Einstellungen derselben Art helfen einfach nicht weiter, selbst wenn sich ihr Inhalt ändert. Wenn das internalistische Projekt an Plausibilität gewinnen möchte, dann muss eine Explikation von personaler Autonomie im zweiten Konstruktionsschritt auf mentale Einstellungen verschiedener Art Bezug nehmen. Diese Überlegungen lassen sich auch so ausdrücken: Nachdem die Internalistin in einem ersten Schritt eine mentale Einstellung einer bestimmten Art eingeführt hat, die das Zustandekommen einer Handlung sicherstellt, muss sie nun erklären, unter welchen Bedingungen diese mentale Einstellung eine bestimmte Form von „Autorität“ beanspruchen kann – die Autorität auch wirklich den Standpunkt der handelnden Person auszudrücken (das, was diese „wirklich will“). Man kann dies darum das Autoritätsproblem nennen. Die Internalistin muss zu dessen Lösung eine weitere Bedingung einführen. Um den Rahmen des internalistischen Projekts nicht zu verlassen, muss dies eine interne Bedingung – ein mentaler Zustand – sein. Doch wenn es sich dabei um einen Zustand von derselben Art wie der bereits eingeführte Zustand handelt, dann stellt sich diesbezüglich das Autoritätsproblem abermals – und bleibt damit ungelöst. Eine Lösung des Autoritätsproblems kann im internalistischen Rahmen nur dann erfolgen, wenn man Einstellungen verschiedener Art ins Spiel bringt.
3.3 Watson und das Abgrenzungsproblem Genau diese Konsequenz haben Internalistinnen in ihren Reaktionen auf Frankfurt auch gezogen. Gary Watson beispielsweise hat mit seiner „platonischen“ Konzeption des Willens eine zweite Variation der internalistischen Lösungsstrategie vorgelegt (Watson 1975). Nach dieser Konzeption ist der Unterschied zwischen selbstbestimmten und nicht-selbstbestimmten Handlungen anders zu beschreiben – nämlich als eine Kongruenz beziehungsweise Divergenz von handlungswirksamen Wünschen und bestimmten Werturteilen. Watson versteht die beiden Szenarien vom widerwilligen und bereitwilligen Tun nämlich so: Die widerwillige SquashSpielerin ist überzeugt davon, dass es alles in allem betrachtet nicht das Beste wäre, ihrer Partnerin das Schienbein zu zertrümmern. Wenn sie schließlich von
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ihrer plötzlichen Neigung, ihren Frust an ihrer Mitspielerin abzureagieren, überwältigt wird, dann handelt sie gegen ihr Werturteil: Sie tut etwas, wovon sie glaubt, dass es alles in allem betrachtet nicht das Beste wäre.23 Ihre affektive Neigung wird somit entgegen ihrem Werturteil wirksam. Bei der bereitwillig handelnden Spielerin hingegen liegt der Fall anders: Sie ist überzeugt davon, dass es alles in allem betrachtet richtig ist, es ihrer Partnerin heimzuzahlen („Die hat es verdient, so wie sie sich gerade über mich lustig gemacht hat“); wenn sie dann aus diesem Wunsch heraus handelt, dann steht ihr handlungswirksamer Wunsch im Einklang mit ihrem Werturteil. Nach Watson besteht die Heteronomie der wutentbrannten Squash-Spielerin darin, dass ihr Werturteil ihrem handlungswirksamen Wunsch widerspricht. Die Autonomie der bereitwilligen Squash-Spielerin besteht folglich in der Übereinstimmung von Werturteil und effektivem Wunsch. In dieser Konzeption beantwortet sich die Frage der Autonomie also anhand einer besonderen, evaluativen Einstellung – einem Urteil darüber, was alles in allem betrachtet die beste Handlung ist: Autonom ist eine Person dann (und nur dann), wenn ihr handlungswirksamer Wunsch und dieses Urteil „in dieselbe Richtung ziehen“, wenn also das, was die Person tut, das ist, was sie für das alles in allem betrachtet Beste hält. Auch diese Konzeption lässt sich als eine Spezifikation des zuvor eingeführten internalistischen Schemas (Sint ) beschreiben: Person P ist genau dann autonom (hinsichtlich Handlung H), wenn gilt: P hat einen handlungswirksamen Wunsch nach etwas, was durch H herbeigeführt wird, und P urteilt, dass H die alles in allem betrachtet beste Handlung ist.24
23 Möglicherweise sollte man eher sagen, dass sie etwas tut, obwohl sie glaubt, dass es alles in allem betrachtet das Beste wäre, es nicht zu tun. Doch dieser Unterschied im Gehalt der Überzeugungen ist für den weiteren Gang der Überlegungen nicht wichtig, da die letztgenannte Überzeugung der Form Es ist alles in allem betrachtet das Beste, H nicht zu tun die oben genannte Überzeugung der Form Es ist alles in allem betrachtet nicht das Beste, H zu tun impliziert, sofern die Unterlassung (H nicht tun) und die Handlung (H tun) nach Ansicht der Person unterschiedlichen Wert haben. 24 Nicht autonom (hinsichtlich Handlung H) ist P dementsprechend, wenn P nicht urteilt, dass H die alles in allem betrachtet beste Handlung ist. Man beachte, dass dies immer der Fall ist, wenn P eine der beiden in Anm. 23 genannten Überzeugungen hat: Wenn P überzeugt ist, dass es alles in allem betrachtet das Beste ist, nicht H zu tun, und wenn sie glaubt, dass H zu tun und H nicht zu tun unterschiedlichen Wert haben, dann muss P auch überzeugt sein, dass es alles in allem betrachtet nicht das Beste ist, H zu tun. Und dann kann P nicht mehr urteilen, dass es alles in
78 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien Dies ist wiederum eine internalistische Autonomiekonzeption, weil in der Explikation von Autonomie ausschließlich auf mentale Einstellungen der Person Bezug genommen wird: erstens auf ihren handlungswirksamen Wunsch und zweitens auf ein Werturteil. Anders als in Frankfurts Vorschlag werden dabei aber Einstellungen verschiedener Art bemüht. Damit glaubt Watson, auch Frankfurts Problem umgehen zu können (Watson 1975, 216). Ich werde hier nicht weiter darauf eingehen, ob ihm das tatsächlich gelingt – durch die Erweiterung des mentalen Inventars um Werturteile stehen ihm dazu jedenfalls mehr Mittel zur Verfügung als Frankfurt. Dessen ungeachtet hat Watsons Internalismus ein anderes Problem. Er impliziert nämlich, dass Willensschwäche und Heteronomie zusammenfallen: Denn Willensschwäche besteht darin, dass eine Person etwas tut, wovon sie selbst urteilt, dass es nicht die alles in allem betrachtet beste Handlung ist. Wenn man aber etwas tut, das dem eigenen Urteil über die beste Handlung zuwider läuft, dann handelt man gemäß Watsons Konzeption auch nicht autonom. Also ist jeder Fall eines schwachen Willens in Watsons Internalismus auch ein Fall fehlender Autonomie. Die Person, die sich eine Diät verordnet hat und glaubt, dass es alles in allem betrachtet nicht das Beste wäre, von der Schokolade zu naschen, dann aber der Schokolade doch nicht widerstehen kann, hat dementsprechend nicht nur einen schwachen Willen, sondern ist in Watsons Konzeption „außer sich“ wie jemand, der im Affekt der Squash-Partnerin mit dem Schläger das Schienbein zertrümmert; die Frau, die ihre Diät unterbricht, würde ebenso von einer Neigung übergangen wie die rotsehende Ehefrau oder wie die Schülerin, der die unflätigen Beleidigungen herausrutschen. Doch es erscheint mir aus mehreren Gründen unplausibel, Willensschwäche und fehlende Autonomie durch Entfremdung von den eigenen Wünschen auf diese Weise einander anzugleichen: Erstens unterscheiden sich die Phänomene hinsichtlich der Ausübung unserer rationalen Vermögen. In Fällen der Willensschwäche werden Nachdenken und rationales Urteil zwar „übergangen“, aber nicht ausgeschaltet. Denn Willensschwäche zeichnet sich gerade dadurch aus, dass man nicht stark genug ist, einer Neigung zu widerstehen, die einem rationalen Urteil widerspricht; das rationale Urteil muss also gefällt und die rationalen Vermögen ausgeübt worden sein. Demgegenüber gilt für manche Taten im Affekt, dass dort jedes Nachdenken ausgeschaltet wird: In besonders impulsiven Handlungen (wie die der wutentbrannten Squash-Spielerin) bleibt unserem rationalen Vermögen keine Zeit, wirksam zu werden; die Handelnde hat in diesen Fällen gar keine Über-
allem betrachtet das Beste ist, H zu tun. (Allerdings ist es nicht notwendig, eine der beiden in Anm. 23 genannten Überzeugungen zu haben, um gemäß Watsons Konzeption nicht autonom zu handeln: Auch wenn man gar kein Werturteil bezüglich H ausgebildet hat, handelt man nicht autonom.)
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zeugung darüber, was die alles in allem betrachtet beste Handlung ist. Zwar gibt es auch einige Affekttaten – etwa komplexe Notwehrhandlungen oder Frankfurts widerwillig Drogenabhängige (Frankfurt 1988c) –, in denen unsere rationalen Vermögen nicht schweigen und die Handelnden durchaus Werturteile in Watsons Sinne fällen. Doch während solche Werturteile konstitutiv für das Phänomen der Willensschwäche sind, sind sie nicht konstitutiv für das Phänomen der Taten im Affekt (vgl. dazu Bieri 2003, 108f.; allerdings betrachtet Bieri das Phänomen der widerwilligen Sucht als Phänomen der Willensschwäche (100f.) und übersieht damit m. E. die folgenden Unterschiede). Zweitens unterscheiden sich unsere reaktiven Einstellungen gegenüber prototypisch willensschwachen Handlungen und prototypischen Affekttaten: Wer willensschwach handelt, den ziehen wir völlig uneingeschränkt zur Verantwortung, wenn er etwas Falsches getan hat; er hätte der Versuchung eben widerstehen müssen. In diesen Fällen sind moralischer Groll und Vorwürfe berechtigt. Wer aber heteronom handelt, den ziehen wir nur eingeschränkt zur Verantwortung, wenn er etwas Falsches getan hat; in gewisser Hinsicht kann er nichts für das, was er tat. Moralischer Groll und Vorwürfe sind hier nur in eingeschränkter Form angebracht. Das Rechtssystem reflektiert diesen Unterschied darin, dass Taten im Affekt – also Fälle fehlender Autonomie – nicht nur straf-, sondern auch schuldmindernd berücksichtigt werden (vgl. §§ 20, 21, 213 des deutschen StGB). Bei Fällen von Willensschwäche (worunter wohl die meisten Straftaten fallen dürften) ist dies hingegen nicht der Fall. Drittens schließlich ergibt sich ein wichtiger Unterschied zwischen Willensschwäche und Taten im Affekt aus der Perspektive der handelnden Person (vgl. Mayr 2011, 49f.): Bei willensschwachen Handlungen glaubt die Person, dass es durchaus einige Gründe gibt, das zu tun, was alles in allem betrachtet die schlechtere Option ist – nur werden diese Gründe durch gewichtigere Gründe, die gegen diese Option sprechen, überwogen. Die willensschwache Naschende etwa glaubt durchaus, dass es einige Gründe gibt, die für den Verzehr der Schokolade sprechen; aber sie glaubt eben auch, dass diese Gründe den Verzehr nicht hinreichend rechtfertigen, weil gewichtigere (vermutlich gesundheitliche) Gründe dagegen sprechen. Fielen nun diese anderen, gewichtigeren Gründe weg (stellen wir uns vor, es gäbe eine kalorienlose, gleich schmackhafte Schokolade ohne gesundheitsbelastende Zusatzstoffe), so sähe die Willensschwache sich durchaus gerechtfertigt darin, die Schokolade zu vertilgen. Sie würde es ohne einen Anflug von Reue tun. Ebenso verschwindet das Gefühl der Reue nach einer willensschwachen Tat, wenn wir erfahren, dass das, wovon wir glaubten, es spreche gegen unser Tun, gar nicht gegen unser Tun spricht (stellen wir uns vor, die Frau, die ihre Diät unterbricht, erfährt und glaubt dann, dass Schokolade gar nicht die befürchteten negativen Auswirkungen hat). Für die Willensschwache gilt also: Wären die gegen ihr Tun
80 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien sprechenden Gründe nicht mehr einschlägig, so stünde sie vorbehaltlos hinter ihrem Tun. Dies gilt jedoch für den Fall genuiner Entfremdung bei Taten im Affekt nicht: Wenn die widerwillig Drogensüchtige eine Droge ohne die bekannten physischen, psychischen und sozialen Nebenwirkungen offeriert bekäme und von ihrem Verlangen nach Drogen wirklich entfremdet wäre, so würde sie immer noch nicht hinter ihrem Tun stehen, sondern es weiter missbilligen und die Droge nicht nehmen; überkommt sie das Verlangen nach der Droge schließlich doch, so wird sie ihre Handlung bereuen. Und wenn die Squash-Spielerin im Nachhinein herausfindet, dass der Schlag der Partnerin gar keine Schmerzen zugefügt hat, dass diese nichts und auch niemand sonst etwas von ihrem Tun bemerkt hat etc., so wäre ihr ihr Tun noch immer fremd und sie würde es noch immer bereuen. Willensschwäche und Tun im Affekt unterscheiden sich also darin, dass die Reue, die wir gegenüber unserem Tun in beiden Fällen empfinden, im Fall der Willensschwäche verschwindet, wenn die Gründe, die gegen unser Tun sprechen, verschwinden – bei Taten im Affekt hingegen verschwindet die Reue nicht.25 Aus diesen Gründen unterscheidet sich das Phänomen der Taten im Affekt (und der dabei auftretenden Entfremdung) deutlich vom Phänomen der Willensschwäche (vgl. auch Buss 1997, 26f., 31) und es spricht gegen Watsons Variante der internalistischen Lösungsstrategie, dass er zwischen diesen Phänomenen keinen Unterschied machen kann. Man kann dies das Abgrenzungsproblem nennen: Watson bestimmt im zweiten Schritt der Konstruktion einer internalistischen Theorie einen Typus von Einstellungen (Werturteile), der (a) von anderer Art ist als die Einstellung, die sicherstellt, dass man überhaupt handelt (ein Wunsch), und der (b) recht naheliegend ist, wenn man Autonomie explizieren will (denn Frankfurts Beispiele legen nahe, dass der Unterschied zwischen dem widerwilligen und dem bereitwilligen Tun in einer bewertenden Billigung der Motive liegt). Doch bereits mit einer so minimalen Erweiterung von Frankfurts hierarchischer Konzeption steht die Internalistin vor dem Problem, ganz verschiedene Erfahrungen der Fremdund Selbstbestimmung nicht mehr voneinander abgrenzen zu können.
25 Das impliziert einen vierten Unterschied (vgl. Mayr 2011, 50f.): Bei Taten im Affekt widerspricht der handlungswirksame Wunsch für sich genommen dem Selbstverständnis der handelnden Person. Der wutentbrannten Squash-Spielerin etwa ist nicht nur die Tatsache unverständlich, dass sie aus dem Wunsch heraus, ihrer Mitspielerin weh zu tun, handelt, sondern bereits die Tatsache, dass sie diesen Wunsch überhaupt hat. Demgegenüber ist willensschwach Handelnden ihr handlungswirksamer Wunsch in der Regel verständlich; die Frau, die ihre Diät unterbricht, versteht ihr Verlangen nach Schokolade vor dem Hintergrund der empfundenen Gaumenfreude beispielsweise sehr wohl. Hier steht nicht der handlungswirksame Wunsch selbst ihrem Selbstverständnis entgegen, sondern die Tatsache, dass sie aus diesem Wunsch handelt: Es ist ihr unverständlich, dass sie dem Wunsch nachgibt, obwohl sie doch etwas anderes als die Gaumenfreude mehr wertschätzt.
3.3 Watson und das Abgrenzungsproblem | 81
Warum ist das ein Problem? Zunächst muss man natürlich zugestehen, dass es durchaus eine Perspektive auf Autonomie gibt, unter der Willensschwäche eine Form fehlender Autonomie ist: die lokale, erstpersonale Perspektive (vgl. Tabelle 1.1, S. 25). Willensschwaches Handeln ist ohne Zweifel in gewisser Hinsicht defizitäres Handeln und es gibt einen Sinn, in dem eine willensschwache Person nicht selbst bestimmt: Wie bereits angesprochen bedauern und bereuen wir es ja, wenn wir einen schwachen Willen haben. Bedauern und Reue sind aber Formen der Distanz zum eigenen Tun. Und wer vom eigenen Tun distanziert ist, der macht es sich nicht zu eigen und ist insofern nicht autonom. Doch wie der Vergleich zu den Affekttaten deutlich gemacht hat, ist diese Form des Autonomieverlusts eben vor allem ein Problem für die betroffene Person selbst und nicht für andere Personen; die Vermeidung eines schwachen Willens (sprich: Willensstärke) ist eher ein Ideal, das wir in unserem Handeln zu verwirklichen suchen und dessen Realisierung oder Verfehlung für den Umgang von Personen untereinander für sich genommen keine Bedeutung hat. Daher hatte ich das Phänomen der Willensschwäche der lokalen, erstpersonalen Perspektive auf Autonomie zugeordnet, die Affekttaten hingegen der lokalen, drittpersonalen Perspektive. Der Einwand, dass Watsons Konzeption nicht zwischen Willensschwäche und Affekttaten differenzieren kann, besagt also eigentlich, dass diese Konzeption Phänomene der Fremd- und Selbstbestimmung, die zu unterschiedlichen Perspektiven gehören, in einen Topf wirft. Damit verletzt sie eines der in Kapitel 1 entwickelten Adäquatheitskriterien: Sie kann die Unterschiede zwischen den Perspektiven auf der Ebene der Bedingungen personaler Autonomie nicht nachzeichnen. Die Bedingungen, die Watson nennt, können also nicht die Bedingungen des gesuchten begrifflichen Kerns von Autonomie sein; denn die Bedingungen des begrifflichen Kerns müssten die Unterschiede zwischen den vier Perspektiven (insbesondere zwischen der lokalen, erstpersonalen und der lokalen, drittpersonalen) verständlich machen. Und eben daran scheitert Watsons platonische Konzeption. Es gibt zwei Möglichkeiten, auf dieses Problem zu reagieren. Erstens könnte die Internalistin sagen: „Gut, dann beschränken wir den Bereich der Konzeption, in dem sie Gültigkeit beansprucht, eben auf eine Perspektive. Die platonische Konzeption sagt uns dann nur etwas über die lokale, erstpersonale Perspektive und zu den übrigen sagt sie nichts.“ Das Problem an dieser Reaktion ist zum einen, dass Watson durch seine Auseinandersetzung mit Frankfurts Konzeption und die Wahl der Beispiele explizit beansprucht, eine Konzeption für die lokale, drittpersonale Perspektive und insbesondere das Phänomen der Affekttaten zu geben. Doch davon abgesehen ist diese „Rückzugsreaktion“ vor dem Hintergrund von Kapitel 1 theoretisch unbefriedigend: Denn eigentlich suchten wir ja einen begrifflichen Kern, der es erlaubt, die verschiedenen Phänomene unter den vier Perspektiven als Erfahrungen von Fremd- oder Selbstbestimmung zu beschreiben.
82 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien Die platonische Konzeption erfüllt dann schlicht und einfach die philosophische Aufgabe nicht. Zweitens könnte die Internalistin nun versuchen, ausgehend von Watsons Konzeption einen solchen begrifflichen Kern zu entwickeln. Der naheliegende Vorschlag ist, die Idee ins Spiel zu bringen, dass eine Person mehr oder weniger (subjektiv) rational sein kann – je nachdem, wie gut in ihren Augen die Gründe sind, aus denen sie handelt. Die willensschwache Person handelt aus Gründen, die sie selbst nicht für die alles in allem betrachtet besten hält; aber dennoch tut sie etwas, wofür sie einige Gründe sieht. Sie tut also etwas, das sie für gut, aber eben nicht für das Beste hält. Nun könnte die Internalistin sagen: „Autonom ist eine Person, wenn sie für ihre Handlung überhaupt irgendeinen Grund sieht (und aus diesem Grund handelt). Und sie ist umso autonomer, je besser die Gründe (aus denen sie handelt) in ihren Augen sind.“ Unter dieser Beschreibung wäre die Person, die im Affekt handelt, nicht autonom, weil sie keinen Grund für ihr Tun sieht; die willensschwache Person hingegen wäre in einem minimalen Sinne autonom (darin unterscheidet sie sich von der Affekttäterin), aber eben nicht so autonom wie eine willensstarke Person, die das tut, wofür sie die besten Gründe sieht. Nach diesem Vorschlag hätte man einen begrifflichen Kern von Autonomie („etwas tun, wofür nach Ansicht der Person Gründe sprechen“), aber man könnte mittels einer graduellen Abstufung einen Unterschied zwischen der erst- und drittpersonalen Perspektive machen. Dieser Versuch, die platonische Konzeption zu retten, scheitert allerdings an zwei Problemen: Zum einen scheint die angegebene Minimalbedingung („etwas tun, wofür aus Sicht der Person Gründe sprechen“) zu schwach. Denn es scheint ja, als geschehe jede absichtsvolle Handlung aus Sicht der Person um einer Sache willen – und insofern sieht die Person stets einen Grund, der für ihr Tun spricht (nämlich die Tatsache, dass diese Handlung zur Erreichung der Sache, um derer willen sie geschieht, beiträgt). Das gilt selbst bei manchen Affekttaten: Die SquashSpielerin kann ihre Handlung unter einer Hinsicht durchaus als gut ansehen – der Schlag gegen das Schienbein befriedigt nämlich ihr Verlangen, Frust abzulassen, und insofern sieht sie einen Grund für ihr Tun. Und auch die widerwillig Drogenabhängige sieht einen Grund, sich eine Spritze zu setzen: Es befriedigt ihr Verlangen nach der Droge und macht sie ruhiger. In diesen Fällen besteht das Problem nicht darin, dass diese Personen für ihr Tun keine Gründe sehen, sondern darin, dass sich die Gründe aus Wünschen ergeben, die ihnen äußerlich sind. Die Minimalbedingung „etwas tun, wofür aus Sicht der Person Gründe sprechen“ unterscheidet also allenfalls zwischen intentionalem Tun und nicht-intentionalem Tun (wie dem Lidschlag, der nicht aus Gründen geschieht), doch Autonomie scheint etwas zu sein, was sich innerhalb von intentionalem Tun abspielt. Zum anderen ergibt sich aus dem Vorschlag ein Problem, wenn man versucht, ihn auf die anderen beiden
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(globalen) Perspektiven auf Autonomie anzuwenden (was man tun können muss, wenn es sich wirklich um einen begrifflichen Kern handeln soll). Hier deckt sich die zweite Komponente des Vorschlags („je besser die Gründe in den Augen der Person sind, desto autonomer ist sie“) nämlich nicht mit der Intuition, dass Menschen, die sich in etwas (ihren Beruf) verrannt haben oder von etwas (der Ideologie einer Sekte) besessen sind, ihre Autonomie verloren haben: Dass sie bestimmte Dinge (wie die Tatsache, dass etwas ihre Karriere beflügelt, oder dass etwas die Anweisungen des Sektenführers ist) als die besten, gar als stechende Gründe ansehen, ist gerade ein Anzeichen fehlender Autonomie. Es erscheint angesichts solcher rigiden Persönlichkeiten recht zweifelhaft, dass jemand ein umso autonomeres Leben führt, je besser in seinen Augen die Gründe für seine Lebensweise sind.26 Eher ist es so, dass es diesen Personen gerade deswegen an Autonomie fehlt, weil die Gründe, die ihrer Ansicht nach bestehen, zu wenig mit den Gründen zu tun haben, die tatsächlich bestehen. Doch wenn man diesen Realitätsbezug in der platonischen Konzeption einfangen wollte, würde man den internalistischen Rahmen bereits verlassen und einen Aspekt eines Weltverhältnisses (nämlich die Gebote der Vernunft) in die Autonomiekonzeption integrieren. Autonomie hinge dann nicht mehr von Überzeugungen über die Qualität von Gründen (und damit von internen Bedingungen) ab, sondern von der tatsächlichen Qualität der Gründe (und damit von externen Bedingungen). Damit scheint es keine ganz einfache Aufgabe zu sein, das Abgrenzungsproblem durch eine Modifikation von Watsons Konzeption zu lösen und so den Adäquatheitskriterien aus Kapitel 1 gerecht zu werden.
3.4 Bratman und das Problem motivierender Transparenz Dass Watsons internalistische Konzeption, die verschiedenartige interne Bedingungen ins Spiel bringt, mit dem Abgrenzungsproblem zu kämpfen hat, ist noch kein Argument dafür, dass sich das Abgrenzungsproblem unausweichlich stellt. Vielleicht muss man im zweiten Schritt der Konstruktion einer internalistischen Theorie nur eine andere Einstellung wählen: eine Form des Bewertens, die schwächer ist als ein Alles-in-allem-betrachtet-Werturteil. Genau dies versucht Michael Bratman mit seiner Autonomiekonzeption (Bratman 1999, 2007b,c,f). Diese zeichnet eine besondere Art von mentalen Zuständen
26 Das gilt auch unter der globalen, drittpersonalen Perspektive: Vielleicht sieht jemand mit einer Zwangsstörung oft wirklich die besten Gründe dafür, auf dem Bürgersteig nicht in die Ritzen der Steinplatten zu treten.
84 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien als Garanten von Autonomie aus – sogenannte „Selbstbestimmungsgrundsätze“ (self-governing policies). Dabei handelt es sich um eine bestimmte Art von Grundsätzen (policies). Wenn ich es mir selbst zur Regel mache, unter der Woche jeden Morgen von 8 bis 11 Uhr zu arbeiten, so befolge ich einen (nicht besonders ambitionierten) Grundsatz, den ich selbst verfügt habe. Nun kann man nicht nur Grundsätze haben, die sich auf spezifische Handlungen beziehen, sondern auch Grundsätze, bestimmte Erwägungen oder Wünsche in den eigenen praktischen Überlegungen als rechtfertigend (oder nicht rechtfertigend) anzusehen. Solche Grundsätze nennt Bratman „Selbstbestimmungsgrundsätze“. Ich kann zum Beispiel den Grundsatz gefasst haben, einen Wunsch nach Vergeltung niemals als etwas zu betrachten, was in meiner praktischen Überlegung rechtfertigende Kraft hat; ich sehe dann einen Wunsch nach Vergeltung niemals als etwas an, was für eine Handlung spricht, die diesen Wunsch befriedigt. Mein Grundsatz ändert natürlich nichts daran, dass ich diesen Wunsch ab und zu noch immer habe. Aber wenn ich ihn habe, dann messe ich ihm keine normative Bedeutung zu – ich betrachte ihn nicht als etwas, was für eine Handlung spricht. Umgekehrt kann ich auch den Grundsatz haben, meinen Wunsch nach Familienzeit als einen Grund anzusehen, der für die Frage, was ich tun soll, sehr große Bedeutung hat. Wenn ich dann vor bestimmten Entscheidungen (wie die Wahl eines Berufs, die Annahme eines Stellenangebots oder den Antrag auf Elternzeit) stehe und ich diesen Wunsch, viel Zeit mit der Familie verbringen zu können, habe, dann werde ich diesem Wunsch in meinen praktischen Überlegungen besonderes Gewicht einräumen, ihn also als (partiell) rechtfertigend für meine Handlung ansehen. Welchen Beitrag leisten nun Selbstbestimmungsgrundsätze für die Erklärung personaler Autonomie? Betrachten wir dazu die beiden Szenarien von der widerwillig im Affekt verletzenden und von der bereitwillig rächenden Ehefrau: Beide haben den Wunsch, sich an dem betrügenden Ehemann zu rächen. Bei beiden wird dieser Wunsch letztlich auch handlungswirksam, indem er ihre Handlung, zur zersplitterten Flasche zu greifen, damit auf den Mann loszugehen und ihm schwere Verletzungen zuzufügen, motivierte. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass die bereitwillige Ehefrau den Wunsch nach Vergeltung als etwas ansieht, was ihr Tun rechtfertigt (sie hat das Attentat schon länger geplant), während die widerwillige Ehefrau das nicht tut: Diese ist ja nach Annahme von ihrem Wunsch entfremdet, betrachtet ihn als fremd und äußerlich, als etwas, das mit ihr durchgeht – und das bedeutet, dass sie diesen Wunsch nicht als etwas betrachtet, was erfüllt werden sollte; sie sieht das Verlangen nach Vergeltung also nicht als etwas an, was zur Rechtfertigung ihres Tuns beiträgt. Ihr fehlt somit ein Selbstbestimmungsgrundsatz, der ihren handlungswirksamen Wunsch als rechtfertigend in ihrer praktischen Überlegung behandelt. Die „Widerwilligkeit“ der widerwilligen Ehefrau besteht nach Bratman gerade darin, dass ihre praktische Überlegung und
3.4 Bratman und das Problem motivierender Transparenz |
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das, was sie als gute Gründe für ihr Tun ansieht, durch das handlungswirksame Verlangen nach Vergeltung einfach übergangen werden. Der handlungswirksame Wunsch hat sich in ihrem Fall einfach verselbstständigt; er wird an ihrer praktischen Überlegung vorbei wirksam. Bei der bereitwilligen Ehefrau liegt der Fall anders: Sie hat einen entsprechenden Selbstbestimmungsgrundsatz, ihr Verlangen nach Vergeltung als rechtfertigend zu behandeln. In ihrem Fall wird der handlungswirksame Wunsch zumindest auch mittels ihrer praktischen Überlegung wirksam, in der sie diesem Wunsch normative Bedeutung beimisst – ihn also als etwas ansieht, was einen Beitrag dazu leistet, ihr Tun zu rechtfertigen. In Bratmans Konzeption beantwortet sich die Frage der Autonomie also (wie schon bei Frankfurt) anhand einer Einstellung, die die Person zu ihrem handlungswirksamen Wunsch hat; allerdings ist es eine Einstellung, die nicht (wie bei Frankfurt) die Wirksamkeit des Wunsches, sondern die Rolle des Wunsches in der praktischen Überlegung betrifft: Es ist ein Grundsatz, den handlungswirksamen Wunsch als etwas anzusehen, was einen Beitrag zur Rechtfertigung der Handlung leistet. Autonom ist eine Person dann (und nur dann), wenn sie einen Grundsatz hat, ihren handlungswirksamen Wunsch in diesem Sinn als rechtfertigend zu behandeln. Somit lässt sich auch Bratmans Konzeption als eine Spezifikation des internalistischen Schemas (Sint ) beschreiben: Person P ist genau dann autonom (hinsichtlich Handlung H), wenn gilt: P hat einen Wunsch nach etwas, was durch H herbeigeführt wird, und P hat einen Grundsatz, diesen Wunsch in ihrer motivational wirksamen praktischen Überlegung als rechtfertigend zu behandeln.27
Hierbei handelt sich um eine internalistische Autonomiekonzeption, weil in der Explikation von Autonomie abermals ausschließlich auf mentale Einstellungen der Person Bezug genommen wird: erstens auf einen Wunsch und zweitens auf einen Grundsatz, der die Rolle dieses Wunsches in der praktischen Überlegung der Person betrifft. Ein Grundsatz ist zwar eine recht komplexe mentale Einstellung, die einer Absicht ähnelt, sich über die Zeit erstreckt, mit anderen mentalen Einstellungen wie Wünschen und Überzeugungen verbunden ist und unser Handeln koordiniert; aber er ist dennoch eine mentale Einstellung. Bratmans Konzeption ist damit eine Mischform aus Frankfurts und Watsons Konzeptionen (vgl. Bratman 2007e): Von Frankfurt übernimmt sie die Momente der Höherstufigkeit und Verschachtelung, denn der Selbstbestimmungsgrundsatz hat einen anderen mentalen
27 Bratman führt als zusätzliches Kriterium noch an, dass die Person mit ihrem Selbstbestimmungsgrundsatz zufrieden sein muss (Bratman 2007c, 35). Diese – ebenfalls interne - Bedingung ist nötig, um gewisse Gegenbeispiele auszuschließen. Da das Kriterium der Zufriedenheit für die weiteren Überlegungen keine Rolle spielt, gehe ich über die Komplikation im Folgenden hinweg.
86 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien Zustand (einen Wunsch) zum Gegenstand. Von Watson übernimmt sie den Rückgriff auf Einstellungen verschiedener Art – Grundsätze auf der einen, Wünsche auf der anderen Seite (und dass Grundsätze keine Wünsche sind, begründet Bratman in einem eigenen Buch; siehe Bratman 1987). Anders als Watson kann Bratman zumindest in Bezug auf das Phänomen der Willensschwäche das Abgrenzungsproblem lösen: Bei Taten im Affekt fehlt einer Person ein Selbstbestimmungsgrundsatz, bei willensschwachen Taten hingegen besitzt sie einen (z. B. den Grundsatz, den Wunsch nach Schokolade als rechtfertigend zu behandeln). Und so ist das Merkmal, welches die willensschwache von der heteronomen Person unterscheidet (ein Selbstbestimmungsgrundsatz), im Gegensatz zur platonischen Konzeption ein anderes als das Merkmal, welches die willensschwache von der willensstarken Person unterscheidet (Einklang von Motiven und Werturteilen). Für Bratmans Konzeption stellt sich das Abgrenzungsproblem somit nicht. Stattdessen stellt sich allerdings ein weiteres, etwas anders gelagertes Problem: Unsere Autonomie ist uns selbst nicht immer transparent (vgl. Buss 1994, 115, Anm. 9). Damit meine ich, dass wir nicht immer wissen, welche unserer Entscheidungsund Handlungsoptionen die autonome ist – also jene, die wir wirklich wollen, die unsere eigene Entscheidung ist, die unseren wahren Willen ausdrückt. Dass wir das nicht immer gleich wissen, merken wir zum Beispiel daran, dass wir uns diese Frage, was wir eigentlich wirklich wollen, bei wichtigen Lebensentscheidungen wie etwa der Berufswahl selbst stellen. Nun ist es aber eine sehr interessante Eigenschaft personaler Autonomie, dass die Erkenntnis, dass eine Entscheidung oder Handlung autonom wäre, motivational wirksam wird: Wenn wir erkennen, dass eine der Optionen, die wir abwägen, Ausdruck unseres wahren Willens ist, dann sind wir für gewöhnlich ein Stück stärker motiviert, das zu tun, was wir als autonome Handlung erkannt haben. Das heißt natürlich nicht, dass wir letzten Endes auch die autonome Option ergreifen werden, denn die Motivation kann stärker werden, ohne die stärkste zu werden. Aber der motivationale Beitrag der Erkenntnis, dass etwas die autonome Handlung wäre, kann einen Unterschied für die Gesamtmotivation machen: Wenn jemand nach Abwägung aller ihm ersichtlichen Gründe zwei Optionen A und B für gleich gut befindet und unentschieden ist darüber, welche er ergreifen soll, und dann erst erkennt, dass A die autonome Handlung wäre (was ihm zuvor nicht klar war), so wird sich die „Bilanz“ seiner widerstreitenden Motivationen wandeln – er wird nicht länger unentschieden sein, sondern zu A tendieren. Andernfalls macht er etwas falsch. Die Erkenntnis, dass eine Handlungsoption die autonome wäre, trägt also zur Motivation der betroffenen Person bei, diese Option auch zu verwirklichen. Wenn wir umgekehrt erkennen, dass wir fremdbestimmt wären, wenn wir einer bestimmten Alternative B folgten, so wird sich unsere Motivation zu B verringern (bzw. sich die Motivation, B zu vermeiden, erhöhen).
3.4 Bratman und das Problem motivierender Transparenz |
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Mit dem Merkmal der motivierenden Transparenz, wie man es nennen könnten, sind wir besonders im Zusammenhang mit wichtigen, planenden Entscheidungen, die unseren weiteren Lebensweg betreffen, vertraut: Wir hadern lange mit uns und versuchen, uns darüber klar zu werden, was wir eigentlich wirklich wollen. Manchmal (leider aber nicht immer) reift in uns eine Ahnung, welcher Weg der im Hinblick auf die Autonomie richtige wäre; manchmal verfestigt sich diese Ahnung, wir gewinnen Vertrauen und Gewissheit und die Ahnung wird zu einer Erkenntnis. Und das hilft uns oft, uns auch dafür zu entscheiden und diesen Weg zu beschreiten. Das scheint die paradigmatische Weise zu sein, auf die transparente, uns zugängliche Autonomie uns auch motiviert. Auch wenn paradigmatische Fälle motivierender Transparenz im Zusammenhang mit langwierigen Entscheidungsprozessen auftreten, ist dieses Merkmal auch in Fällen, in denen man von einer Neigung überwältigt wird, auszumachen.28 Modifizieren wir dazu einfach Frankfurts Beispiel der widerwillig Drogenabhängigen und nehmen an, diese sei eine unwissentlich widerwillig Drogenabhängige: Sie weiß von ihrer Widerwilligkeit einfach noch nichts. Das Verlangen nach einer Droge kommt über sie; es ist noch relativ neu (sie hat die Droge gestern erst zum ersten Mal konsumiert) und weder ist sie unmittelbar davon entfremdet noch identifiziert sie sich damit – das Verlangen ist einfach da. Als sie im Begriff ist, die Droge zu nehmen, wird ihr aber klar, dass es ihr eigentlich fremd wäre, dem Verlangen nachzugeben. Es ist nicht so, dass sie jetzt irgendwelche Gründe gegen die Droge sieht, die sie vorher nicht gesehen hat. Es ist nur so, dass ihr jetzt klar wird, dass – ganz gleich, wie die Abwägung der Gründe für oder gegen die Droge auch ausfällt – sie die Droge einfach nicht nehmen will. In diesem Moment erkennt die widerwillig Drogenabhängige, welche Handlung ihrer Autonomie entgegenstehen würde und welche Handlung autonom wäre. Und diese Transparenz ihrer Autonomie wird motivational wirksam: Sie wird vielleicht für einen Moment von der Droge ablassen und versuchen, sich gegen ihr Verlangen zu stellen – und zwar weil sie erkannt hat, dass sie darin fremdbestimmt wäre. (Ob sie dem Verlagen letztlich widerstehen kann, steht freilich auf einem anderen Blatt.) Die Erkenntnis, dass etwas die autonome (bzw. heteronome) Handlung wäre, leistet also auch in dem hier betrachteten Sinn von Autonomie einen positiven (bzw. negativen) motivationalen Beitrag. Die Eigenheit der motivierenden Transparenz personaler Autonomie stellt Bratman vor ein Dilemma. Entweder nämlich ist das, was eine Handlung auto-
28 Bratman selbst deckt ganz explizit beide Bereiche von Phänomenen ab (für Affekttaten siehe Bratman 1999, 2007a, 140, 145, 2007c, 38; für langwierige Entscheidungen siehe Bratman 2007b, 205, 2007c, 28, 42f.).
88 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien nom macht, auch das, was diesen motivationalen Beitrag leistet, wenn man die Handlung als autonom erkennt. Oder aber das, was diesen Beitrag leistet, ist etwas anderes als das, was die Handlung autonom macht. Im ersten Fall sieht es für Bratmans Konzeption schlecht aus: Das, was die Handlung autonom macht, ist nach seiner Konzeption nämlich die Tatsache, dass ich einen Selbstbestimmungsgrundsatz habe. Doch wenn nun das, was meine Handlung autonom macht, auch das ist, was einen motivationalen Beitrag leistet, wenn ich die Handlung als autonom erkenne, dann müsste die Tatsache, dass ich einen solchen Selbstbestimmungsgrundsatz habe, mich auch stärker dazu motivieren, die entsprechende Handlung zu tun. Doch das ist nicht der Fall. Die Erkenntnis der Tatsache, dass ich einen Grundsatz habe, einen Wunsch als rechtfertigend zu behandeln, ist die Erkenntnis einer Tatsache über einen komplexen mentalen Zustand. Und das trägt zu meiner Motivation ebenso wenig bei wie die Erkenntnis, dass ich einen Wunsch, eine Überzeugung oder irgendeinen sonstigen mentalen Zustand habe. Zwar mögen manche mentale Zustände einen Beitrag zur Motivation leisten, aber die Erkenntnis von Tatsachen über mentale Zustände leistet einen solchen Beitrag sicher nicht. Wenn also das Element, das eine Handlung autonom macht, auch das ist, was mich stärker motiviert, wenn ich die Handlung als autonom erkenne, dann hat Bratman das falsche Element gewählt. Denn Selbstbestimmungsgrundsätze erfüllen diese Bedingung nicht. Wenden wir uns dem zweiten Horn des Dilemmas zu und nehmen an, dass das, was eine Handlung autonom macht, etwas anderes ist als das, was einen motivationalen Beitrag leistet, wenn man eine Handlung als autonom erkennt. Da das, was eine Handlung autonom macht, der Selbstbestimmungsgrundsatz ist, ist der Selbstbestimmungsgrundsatz nicht das, was den motivationalen Beitrag leistet. In Bratmans Konzeption gibt es aber sonst nichts, was diesen Beitrag leisten könnte. Also kann die Konzeption eine Eigenheit personaler Autonomie – dass nämlich ihre Erkenntnis motivationale Kraft hat – nicht erklären. Es handelt sich hier aber nicht nur um eine Unvollständigkeit oder Erklärungslücke; denn wenn das, was den motivationalen Beitrag leistet, etwas anderes ist als das, was die Handlung autonom macht – also etwas anderes als ein Selbstbestimmungsgrundsatz ist –, dann eröffnet sich die Möglichkeit, dass ein anderer mentaler Zustand an der Handelnden und ihrer praktischer Überlegung vorbei diesen Beitrag leistet. Und dann könnte die Handelnde wieder durch diesen Zustand übergangen worden sein. Bratman müsste sicherstellen, dass die Handelnde diesen Zustand, der dann den motivationalen Beitrag leistet, auch mittels einer weiteren Einstellung billigt – und dann kann man dasselbe Dilemma wieder auf diesen neuen mentalen Zustand anwenden, wodurch sich die Notwendigkeit ergibt, noch einen weiteren Zustand einzuführen und so weiter. Das bereits überwunden geglaubte Autoritätsproblem stellt sich also aufs Neue. In diesem zweiten Horn des Dilemmas ist
3.4 Bratman und das Problem motivierender Transparenz |
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Bratmans Konzeption also unvollständig – und jeder Vervollständigung droht ein infiniter Regress, der das Autoritätsproblem ungelöst lässt. Unter beiden Hörnern des Dilemmas ist Bratmans Internalismus somit nicht haltbar. Für die Internalistin stellt sich die Lage damit folgendermaßen dar: In einem allerersten Schritt muss sie eine Einstellung E1 einer bestimmten Art nennen, die zum Zustandekommen einer Handlung beiträgt. Dies ist in aller Regel ein Wunsch. Sie muss in einem zweiten Schritt dann eine mentale Einstellung E2 benennen, die (in Relation zu E1 gesetzt) etwas zur Autonomie der betreffenden Person beiträgt. E2 kann von derselben oder von anderer Art sein als E1 . Ist E2 von derselben Art, so ist die Internalistin mit Frankfurts Autoritätsproblem konfrontiert. Ist E2 von anderer Art als E1 , so muss die Kategorie von Einstellung E2 zwei Einschränkungen genügen: Einerseits darf E2 in evaluativer bzw. normativer Hinsicht nicht so „schwach“ wie ein bloßer Wunsch sein (sonst kehrt Frankfurts Autoritätsproblem wieder). Andererseits darf sie in dieser Hinsicht auch nicht so „stark“ sein wie ein Alles-in-allem-betrachtet-Werturteil, denn sonst lässt sich Watsons Abgrenzungsproblem nicht vermeiden. Bratmans Einstellung – etwas als einen Grund behandeln – erfüllt diese Eingrenzung; es ist eine Form des bloßen „Für-normativrelevant-Haltens“, die tatsächlich „schwächer“ ist als Watsons Werturteile, andererseits aber „stärker“ als Frankfurts Wünsche. Das Problem der motivierenden Transparenz verdeutlicht allerdings, dass diese Einstellung für die hier verfolgten Zwecke zu schwach ist: Denn da Alles-in-allem-betrachtet-Werturteile den rationalen Menschen motivieren (Ernst 2006), kann Watson das Merkmal der motivierenden Transparenz erklären; Bratmans Selbstbestimmungsgrundsatz leistet dies jedoch nicht. Die Internalistin müsste eine Einstellung finden, die stärker ist als diese Einstellung, aber zugleich weniger stark ist als die von Watson. Ich kann nun kein Argument dafür bringen, dass es eine solche Einstellung nicht geben kann. Aber mir ist nicht unmittelbar einsichtig, welche Einstellung das sein sollte. Und bisher sind Internalistinnen ja auch eine überzeugende Antwort schuldig geblieben. Es scheint somit keine ganz einfache Aufgabe, Autonomie unter der lokalen drittpersonalen Perspektive als ein reines Selbstverhältnis zu konzipieren. Es ist deshalb schwierig, weil man eine Einstellung finden muss, die erstens die unter dieser Perspektive relevanten Phänomene richtig zu erfassen hilft, die zweitens grundsätzlich auch auf andere Perspektiven ausgeweitet werden kann, und die drittens normativ und evaluativ hinreichend gehaltvoll ist, damit sie für die Handelnde eine regulative (motivierende) Wirkung haben kann. Der Internalismus ist somit unter der lokalen, drittpersonalen Perspektive gescheitert.
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3.5 Internalismus unter den vier Perspektiven Damit ist natürlich noch nicht gezeigt, dass der Internalismus auch für die übrigen Perspektiven auf Autonomie keine überzeugende Lösung des Trilemmas liefern könnte. Weitet man den Blick allerdings auf weitere Erfahrungen der Selbst- und Fremdbestimmung aus, so stellen sich die diskutierten Probleme auf ähnliche Weise erneut und es treten sogar weitere Bedenken hinzu.
3.5.1 Die lokale, erstpersonale Perspektive Betrachten wir zunächst die lokale, erstpersonale Perspektive; hier geht es um Handlungen und Entscheidungen, bei denen die (fehlende) Autonomie die betroffene Person selbst vor ein Problem stellt. Ein Phänomen, das in diesen Bereich fällt, ist (neben der bereits diskutierten Willensschwäche) die Erfahrung der Ambivalenz: Eine Person hat den Wunsch, H zu tun, und zugleich den Wunsch, H zu unterlassen, und kann sich zwischen diesen nicht entscheiden. Sie ist hin und her gerissen, weiß nicht, wie sie sich zu ihren entgegengesetzten Motiven stellen soll oder wo ihr der Kopf steht. Sie weiß einfach nicht, was sie will. Ambivalenz steht somit in einem bestimmten (lokalen, erstpersonalen) Sinn der Verwirklichung von Autonomie entgegen; und die Abwesenheit von Ambivalenz wäre eine Bedingung für Autonomie (in diesem Sinn). Um das Phänomen der Ambivalenz bzw. dessen Abwesenheit in internalistischer Manier zu rekonstruieren, braucht die Internalistin in einem ersten Schritt wieder Einstellungen eines gewissen Typs E1 , in Bezug auf welche das Problem der Ambivalenz erst auftritt. In diesem Fall sind dies zwei Wünsche mit sich widersprechendem Inhalt. Ambivalenz besteht aber nicht darin, dass man zwei einander widersprechende Wünsche hat, sondern darin, dass man sich nicht entscheiden kann, hinter welchem dieser Wünsche man voll und ganz steht: Wenn ich einerseits ein Eis essen möchte, zugleich aber auch davon Abstand nehmen möchte, und mich dann schlussendlich doch reinen Herzens dazu entschließe, auf das Eis zu verzichten, dann bin ich in meinem Wollen nicht gespalten wie die ambivalente Person, die nicht weiß, wo ihr der Kopf steht, weil sie sich nicht entscheiden kann, welcher ihrer beiden Wünsche in die Tat umgesetzt werden soll. Ambivalenz zeigt sich somit erst auf der Ebene der Einstellungen E2 zu den Einstellungen E1 (vgl. Frankfurt 1999e, 99).29 Diese Einstellungen E2 müssen bestimmte Bedingungen erfüllen, damit eine Person bezüglich E1 nicht ambivalent ist. Diese Bedingung 29 Dieser Analyse zufolge haben Zuschreibungen von Ambivalenz die logische Form „Eine Person P ist in ihren Einstellungen E2 ambivalent bezüglich den Einstellungen E1 “.
3.5 Internalismus unter den vier Perspektiven | 91
kann dabei natürlich nicht darin bestehen, dass die Person eine weitere mentale Einstellung hat, denn bezüglich jeder mentalen Einstellung könnte eine Person wieder ambivalent sein und so ließe sich die Spaltung des Willens nicht überwinden. Die internalistische Bedingung, die E2 erfüllen muss, kann also nicht durch eine weitere mentale Einstellung gegeben sein. Harry Frankfurt hat in späteren Arbeiten den Vorschlag gemacht, dass diese Bedingung in einer bestimmten Form von Zufriedenheit mit sich selbst und dem eigenen System von mentalen Einstellungen besteht (Frankfurt 1999e, 103, 105): Eine Person P ist in ihren Einstellungen E2 genau dann ambivalent bezüglich den Einstellungen E1 , wenn P mit ihren Einstellungen E2 zu den Einstellungen E1 nicht zufrieden ist. Und umgekehrt steht P mit ihren Einstellungen E2 genau dann von ganzem Herzen hinter den Einstellungen E1 , wenn sie mit ihren Einstellungen E2 zu den Einstellungen E1 zufrieden ist.
Diese Art der „Selbst-Zufriedenheit“ sei keine mentale Einstellung, sondern eher eine Eigenschaft des gesamten Systems von mentalen Einstellungen (und insofern handelt es sich um eine interne Bedingung): Die Person, die etwas von ganzem Herzen will und zufrieden ist mit ihren Einstellungen E2 zu den Einstellungen E1 , habe einfach keine Neigung, aktiv etwas an diesem Teil ihres mentalen Haushalts zu ändern (Frankfurt 1999e, 102–104). Da Autonomie die Abwesenheit von Ambivalenz bezüglich der handlungswirksamen Motive verlangt, heißt (unter der lokalen, erstpersonalen Perspektive) autonom zu sein nun, in diesem Sinne mit den Einstellungen zu den handlungswirksamen Motiven zufrieden zu sein: Autonom handelt man, wenn man mit seinen Volitionen zweiter Stufe von ganzem Herzen hinter seinen handlungswirksamen Wünschen steht. Frankfurts Vorschlag wirft allerdings einige Probleme auf. Das erste ähnelt Watsons Abgrenzungsproblem. Es gibt nämlich zwei verschiedene Gründe dafür, dass eine Person nicht von ganzem Herzen mit ihren Volitionen zweiter Stufe hinter ihren handlungswirksamen Wünschen steht: Die ambivalente Person steht nicht hinter ihren handlungswirksamen Motiven, weil sie nicht im erforderlichen Sinn mit den Einstellungen zu diesen Motiven zufrieden ist. Und sie ist nicht zufrieden, weil sie widerstreitende Volitionen zweiter Stufe hat: Einerseits will sie, dass der Wunsch, das Kind in die Krippe zu geben, in die Tat umgesetzt wird, andererseits will sie aber auch, dass dieser Wunsch gerade nicht in die Tat umgesetzt wird. Die entgegengesetzten Volitionen drücken eine Neigung aus, etwas an dem eigenen mentalen Haushalt zu verändern, sie sind ein Zeichen von Unzufriedenheit. Im Unterschied dazu ist die von ihren handlungswirksamen Motiven entfremdete Person – wie Frankfurt selbst zugesteht(Frankfurt 1999e, 99) – durchaus zufrieden mit den Volitionen, die sie hat. Die widerwillig Drogensüchtige etwa weiß genau, hinter welchem ihrer widerstreitenden Motive sie steht: Sie will von ganzem Herzen
92 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien die Droge eben nicht nehmen, doch sie schafft es einfach nicht. Ähnliches gilt für die im Affekt handelnde Squash-Spielerin, die ihre Mitspielerin von ganzem Herzen nicht verletzen will und es dennoch tut. Hier liegt das Problem nicht darin, dass die Person unzufrieden ist mit den Volitionen, die sie hat – sondern darin, dass sie eine bestimmte Volition gerade nicht hat: diejenige, die ihren handlungswirksamen Wunsch billigt. Das für Autonomie konstitutive Merkmal – von ganzem Herzen mit seinen Volitionen hinter den handlungswirksamen Motiven stehen – kann also auf zwei grundverschiedene Weisen unerfüllt bleiben: einmal durch zwei widerstreitende auf den handlungswirksamen Wunsch gerichtete Volitionen (Ambivalenz) und einmal durch eine fehlende auf den handlungswirksamen Wunsch gerichtete Volition (Affekttaten, Entfremdung). Dass die Person mit ihrer Volition nicht zufrieden ist, spielt im zweiten Fall dabei gar keine Rolle für die fehlende Autonomie der Person, denn sie ist ja zufrieden mit den Volitionen, die sie hat. Damit zeigt sich zum einen, dass auch Frankfurts Vorschlag es erschwert, die lokale, erstpersonale Perspektive und die lokale, drittpersonale Perspektive auf Autonomie voneinander abzugrenzen: Bei Watson fielen Willensschwäche und Handeln im Affekt bzw. Entfremdung von den eigenen Motiven zusammen, bei Frankfurt werden Ambivalenz und Affekttaten bzw. Entfremdung vermengt. Und zum anderen zeigt sich, dass Frankfurts Vorschlag mit einer bestimmten Form von „Selbst-Zufriedenheit“ noch keinen Bestandteil des gesuchten begrifflichen Kerns von Autonomie identifiziert hat: Denn (fehlende) Zufriedenheit spielt offenbar bei manchen Phänomenen von (fehlender) Autonomie keine Rolle. Das heißt aber nichts anderes, als dass Frankfurts Beschreibung von (fehlender) Autonomie höchstens für eine Perspektive adäquat sein kann (nämlich die lokale, erstpersonale),30 sich aber nicht auf andere Perspektiven übertragen lässt und darum eben gerade kein Bestandteil des begrifflichen Kerns von Autonomie sein kann. Abgesehen von der Frage, ob sich Frankfurts Vorschlag gut zur Beschreibung aller Perspektiven auf Autonomie eignet, ergibt sich ein zweites Problem innerhalb der lokalen, erstpersonalen Perspektive. Zufriedenheit kann für sich genommen nämlich nicht hinreichend für Autonomie sein, wie das folgende Beispiel nahelegt (vgl. Bratman 1999, 194f.): Greta ist hin und her gerissen, ob sie eine akademische Laufbahn einschlagen soll. Sie ist wirklich in ihrem Wollen gespalten, fühlt sich von dieser Option einerseits sehr angezogen, zugleich aber auch zutiefst abgestoßen und weiß nicht, hinter welche ihrer Neigungen sie sich stellen soll. Sie
30 Nicht einmal das ist der Fall, denn Willensschwäche als ein weiteres Phänomen aus der lokalen, erstpersonalen Perspektive lässt sich nicht analog zu Ambivalenz über Unzufriedenheit mit Volitionen zweiter Stufe charakterisieren.
3.5 Internalismus unter den vier Perspektiven | 93
ringt lange mit sich und das raubt ihr viel Energie. Aus Erschöpfung gibt sie ihren inneren Kampf irgendwann auf. Sie hat sich resigniert damit abgefunden, dass sie den eingeschlagenen Weg der akademischen Laufbahn nach der Promotion einfach weitergeht. Sie will daran jetzt nichts mehr ändern, dazu fehlt ihr die Kraft und der entsprechende Wunsch. In Frankfurts Sinne ist Greta zufrieden, aber sie ist ganz sicher kein Paradebeispiel für eine autonome Person. Offenbar kommt es nämlich auch darauf an, auf welche Weise man zufrieden geworden ist (vgl. Arneson 1994, 43). Wenn die Zufriedenheit mit dem eigenen mentalen Haushalt oder dem eigenen Leben auf Resignation, Langeweile, Bequemlichkeit, Müdigkeit, Erschöpfung, Depressionen oder dem Antrieb, die Dinge so belassen zu wollen, wie sie sind, zurückgeht, dann scheint sie für die Selbstbestimmung einer Person nichts auszutragen. Im Gegenteil: In solchen Fällen scheint eine Person eher fremdals selbstbestimmt. Dieses Problem lässt sich auch vor dem Hintergrund des Problems der motivierenden Transparenz verstehen, mit dem Bratmans grundsatzbasierte Konzeption zu kämpfen hatte. Das Beispiel wirft nämlich die Frage auf, ob der Zustand der Zufriedenheit für sich genommen eine regulative Funktion aus der Sicht der Person haben kann. Unter der hier betrachteten erstpersonalen Perspektive wird Autonomie als ein persönliches Ideal im Handeln angesehen und darum muss eine Konzeption, die in diesem Bereich angesiedelt ist, verständlich machen, warum das, worin ihrer Auffassung nach Autonomie besteht, aus Sicht der Person erstrebenswert sein soll. Doch dort, wo die Zufriedenheit auf Faulheit, Bequemlichkeit, Resignation, Erschöpfung und Ähnliches zurückgeht, scheint der Zufriedenheit für sich genommen gar nichts Erstrebenswertes anzuhaften. Im Gegenteil: Die Vorstellung, eine autonome Person zeichne sich durch die Abwesenheit einer Neigung aus, etwas an sich verändern zu wollen, steht in Spannung zu der Vorstellung, dass eine autonome Person etwas mit sich macht (vgl. Abschnitt 2.1). Wie schon beim Problem der motivierenden Transparenz wird somit deutlich, dass es der Internalistin schwerfällt, das reine Selbstverhältnis so zu spezifizieren, dass es aus Sicht der Person eine regulative Funktion haben kann. Man könnte natürlich Bedingungen für die Vorgeschichte der Zufriedenheit formulieren, also eine Weise angeben, auf welche die Zufriedenheit zustande gekommen sein muss.31 Doch das wären Bedingungen, die bestimmte (nämlich historische) Aspekte der Welt betreffen (vgl. Abschnitt 2.2); und damit wäre Autonomie kein reines Selbstverhältnis mehr, weil externe Bedingungen ins Spiel
31 Ekstrom (1993, insb. 614, 2005, 152, 2010) hat in ihrer Autonomiekonzeption, in der Kohärenzbedingungen eine ganz ähnliche Funktion wie Frankfurts Zufriedenheitskriterium übernehmen, beispielsweise solche Bedingungen für die Genese von Einstellungen aufgenommen.
94 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien kommen. Wie schon bei dem „Reparaturversuch“ der platonischen Konzeption (vgl. S. 83) zeigt sich auch hier: Versucht man, manche der Probleme des internalistischen Projekts zu vermeiden, zieht es einen in die externalistische Richtung. Das gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass Zufriedenheit mit den eigenen Motiven auch auf soziale Umstände zurückgehen kann, die Autonomie untergraben können. Wenn die Ursache für die Zufriedenheit einer „zufriedenen Hausfrau“ in der Internalisierung von bestimmten gesellschaftlichen Wertvorstellungen liegt (vgl. Benson 1991), oder wenn eine Person nur deshalb keine großen Erwartungen an das Leben stellt und sich mit wenig zufrieden gibt, weil sie von ihren Eltern die Vorstellung übernommen hat, dass „kleine Leute“ wie sie nach nichts Höherem zu streben haben, dann ist die Zufriedenheit gerade nicht Ausdruck ihrer Selbst-, sondern ihrer Fremdbestimmung. Zufriedenheit aus Konformität, Anpassung oder gar Manipulation scheint insbesondere unter der erstpersonalen Perspektive als Charakteristikum von Autonomie gänzlich ungeeignet. Und wollte man nun soziale Bedingungen integrieren, unter denen Zufriedenheit erst erstrebenswert wird, so verließe man den internalistischen Rahmen, weil man die Verhältnisse in der Welt, die die Person umgibt, berücksichtigen würde. Diesen Punkt hätte man bereits gegen die Konzeptionen von Frankfurt, Watson und Bratman vorbringen können (sofern man versuchte, von der lokalen, drittpersonalen Perspektive ausgehend auch andere Phänomene der Selbst- und Fremdbestimmung in den Blick zu bekommen): Auch Volitionen zweiter Stufe, Werturteile oder Grundsätze können das Produkt äußerer Umstände und sozialer Interaktionen sein, die mit Autonomie unvereinbar scheinen. Vielleicht identifiziert sich die bereitwillige Schülerin ja nur deswegen mit ihrem beleidigenden Verhalten, weil es in ihrer Clique als „cool“ gilt, Lehrerinnen zu beschimpfen; und vielleicht behandelt die bereitwillige Ehefrau ihr Verlangen nach Vergeltung nur deswegen als rechtfertigend in ihrer praktischen Überlegung, weil ihre Eltern und Freundinnen sie dazu drängten, es ihrem Mann heimzuzahlen. Überhaupt ist es wohl in den meisten Fällen von Zwang so, dass man den handlungswirksamen Wunsch (seine Haut zu retten) gerade aufgrund des Zwangs durch eine entsprechende Volition zweiter Stufe, ein entsprechendes Alles-in-allem-betrachtet-Werturteil oder einen entsprechenden Selbstbestimmungsgrundsatz billigt (vgl. Thalberg 1989, 126). Doch wenn die Volition zweiter Stufe, das Werturteil oder der Grundsatz darauf zurückgeht, dass eine Person anderen gefallen will, einem Erwartungsdruck genügen möchte oder gar Zwang nachgibt, dann scheint die Einstellung selbst gar nicht Ausdruck der Autonomie sein zu können. Das Problem ist nämlich, dass die mentale Einstellung allein nichts darüber aussagt, ob diese Einstellung aus einer bloßen Anpassung an Autonomiebedrohungen (wie Konformitätsdruck oder Zwang) hervorgegangen ist oder nicht. Das scheint ein grundsätzliches Problem für die Internalistin zu sein: Wer Autonomie als ein reines Selbstverhältnis versteht,
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ist eben blind für die sozialen und historischen Umstände, unter denen dieses Selbstverhältnis zustande gekommen ist.
3.5.2 Die globale Perspektive Autonomie beschäftigt uns nicht nur in Bezug auf einzelne Handlungen; wir wollen nicht nur Herr unserer Gefühle und Neigungen sein, sondern auch ein eigenständiges, autonomes Leben führen. Ich hatte dies als „die globale Perspektive auf Autonomie“ bezeichnet. Hierauf kann man – wie schon bei Handlungen – eine erst- oder eine drittpersonale Perspektive einnehmen: Man kann fragen, was die Tatsache, dass eine Person ein autonomes oder heteronomes Leben führt, für andere bedeutet, und man kann fragen, was diese Tatsache für die betroffene Person selbst bedeutet. Letzteres ist die relevante Perspektive, wenn wir uns um unsere eigene Autonomie kümmern, wenn wir ein eigenes Leben führen wollen. Auch hier kann man geneigt sein, die Frage, unter welchen Bedingungen denn genau dies der Fall ist, durch Verweis auf interne Bedingungen zu beantworten. Vielleicht muss eine autonom lebende Person eine Person sein, die sich besonders gut kennt oder die besonders gut über sich nachdenkt. Wählt man diese Perspektive, so versteht man Autonomie wiederum als reines Selbstverhältnis: Ein autonomes Leben führt, wer in einem besonderen Verhältnis zu sich und seiner inneren Verfassung steht. Internalistinnen in Bezug auf ein autonomes Leben vertreten die Auffassung, dass die Bedingungen autonomer Lebensführung allein interne Bedingungen umfassen. Die internen Bedingungen unterscheiden sich allerdings von denen, die wir bei den Internalistinnen in Bezug auf einzelne Handlungen kennengelernt haben. Da das Phänomen des autonomen Lebens ein diachrones Phänomen ist, werden Internalistinnen in Bezug auf dieses Phänomen auch mentale Zustände wählen, die eine gewisse Stabilität und Dauer haben.32 Oder aber sie explizieren diese Form der Autonomie nicht über mentale Zustände mit einer gewissen Dauer, sondern über Vermögen (und Relationen zwischen Vermögen). Vermögen sind – in diesem Zusammenhang – entwickelte Fertigkeiten; mit mentalen Zuständen haben sie gemeinsam, dass sie etwas sind, was „in der Person“ liegt. Wenn man Autonomie nur über Vermögen (bzw. Relationen zwischen diesen) expliziert, dann erklärt man Autonomie allein durch das Innenleben der Person. Und damit vertritt man eine internalistische Auffassung in Bezug auf die Autonomie der Lebensführung.
32 Das ist z. B. in Frankfurts späteren Arbeiten (Frankfurt 1999c) und bei Bratmans Locke’scher Konzeption vom Wesen einer Person (Bratman 2007d) ein Motiv.
96 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien Die Konstruktion einer solchen Theorie geht in ganz ähnlichen Schritten voran wie die Konstruktion einer internalistischen Theorie in Bezug auf die Autonomie einzelner Handlungen: Zunächst braucht die Internalistin ein Vermögen V1 , das erst einmal sicherstellt, dass man überhaupt im relevanten Sinne „ein Leben führt“ (so wie die Internalistin unter der lokalen Perspektive zuvor einen mentalen Zustand brauchte, der sicherstellt, dass die Person überhaupt handelt). Da nicht jedes Leben auch autonom geführt wird, reicht dieses im ersten Schritt spezifizierte Vermögen nicht aus, um die Autonomie der Lebensführung zu erklären (so wie der Wunsch selbst die Frage der Autonomie der Handlung noch nicht entschied). Also braucht die Internalistin in einem zweiten Schritt ein weiteres Vermögen V2 . Dieses kann aber nicht von derselben Art sein wie V1 , denn wenn V1 die Frage der autonomen Lebensführung nicht bereits entscheidet, dann ist nicht zu sehen, wie ein weiteres Vermögen derselben Art diese Frage entscheiden könnte (das ist das Autoritätsproblem). Also braucht die Internalistin ein Vermögen anderer Art. Dabei steht sie vor der Herausforderung, dass dieses Vermögen V2 in normativer und evaluativer Hinsicht nicht „zu stark“ sein darf, weil die Konzeption des autonomen Lebens sonst leicht zu einer Konzeption des guten Lebens aufgebläht würde (und obwohl Autonomie Bestandteil eines guten, gelungenen Lebens ist, erschöpft sich das gute, gelungene Leben nicht in ersterem; ein Leben muss schon in mehreren Hinsichten als nur der Hinsicht der Autonomie gelingen, um als gelungen zu gelten); das ist die Parallele zum Abgrenzungsproblem. Andererseits darf V2 in normativer und evaluativer Hinsicht nicht „zu schwach“ sein, weil die Realisierung von Autonomie sonst aus Sicht der Handelnden keine regulative Wirkung entfalten kann (also kein Leben beschreibt, das erstrebenswert ist); das ist die Parallele zum Problem der motivierenden Transparenz. Diese Überlegung ist selbstverständlich kein A-priori-Argument dafür, dass es ein solches Vermögen nicht gibt; es ist lediglich eine Herausforderung für das internalistische Projekt unter der globalen Perspektive. Doch selbst wenn es gelingt, ein solches Vermögen zu benennen, so legen die Einwände gegen das Zufriedenheitskriterium nahe, dass es darüber hinaus auch darauf ankommt, auf welche Weise man das Vermögen entwickelt hat, unter welchen Bedingungen man davon Gebrauch macht und welche äußeren und insbesondere sozialen Umstände der Ausübung des Vermögens möglicherweise im Weg stehen. Dabei handelt es sich aber um Verhältnisse in der Welt, die die Person umgibt, und diese haben in einem internalistischen Rahmen keinen Platz. Auch hier gilt nämlich wieder: Wer Autonomie als ein reines Selbstverhältnis versteht, ist blind für die sozialen und historischen Umstände, unter denen dieses Selbstverhältnis zustande gekommen ist. Somit wird es für die Internalistin auch unter der globalen Perspektive schwierig, Autonomie als ein reines Selbstverhältnis zu konzipieren.
3.6 Das grundsätzliche Problem des Internalismus | 97
3.6 Das grundsätzliche Problem des Internalismus Die bisherige Auseinandersetzung mit der internalistischen Lösungsstrategie verlief auf zwei Ebenen: Auf einer ersten Ebene habe ich die Vorstellung, Autonomie sei ein reines Selbstverhältnis, innerhalb je eines des vier Blickwinkel geprüft. Dabei zeigte sich unter jedem Blickwinkel, dass es schwierig ist, interne Bedingungen für Autonomie zu finden, die 1. beanspruchen können, den wahren Willen der Handelnden zu repräsentieren (Autoritätsproblem), die 2. die Unterschiede zwischen verschiedenen Perspektiven auf Autonomie nicht verwischen und zugleich als Bestandteil des gesuchten begrifflichen Kerns von Autonomie in Frage kommen (Abgrenzungsproblem), und die 3. aus Sicht der Handelnden eine regulative Wirkung entfalten können und damit Autonomie unter der jeweiligen Perspektive erstrebenswert machen (Problem motivierender Transparenz). Bereits auf dieser Ebene wurde deutlich, dass es die Internalistin beim Versuch, die Probleme zu lösen, immer wieder in Richtung externer Bedingungen zieht und es für sie damit immer schwieriger wird, Autonomie als reines Selbstverhältnis zu verstehen und These (II) des Trilemmas zu leugnen. Gleichwohl zeigten die Überlegungen nicht, dass es interne Bedingungen, die alle Probleme lösen, nicht geben kann. Doch einmal angenommen, es gäbe solche interne Bedingungen, die Autonomie unter einer Perspektive angemessen beschreiben. Nach den Überlegungen aus Kapitel 1 wäre diese internalistische Konzeption nur dann theoretisch befriedigend, wenn sich das spezifizierte Selbstverhältnis auch tatsächlich fruchtbar auf die anderen Perspektiven auf Autonomie ausweiten ließe. Dabei, so habe ich auf einer zweiten Ebene der Kritik zu zeigen versucht, stellt sich jedoch ein weiteres Problem: Selbst wenn ein solches Selbstverhältnis für die Autonomie einer Person entscheidend ist, so scheint es immer auch darauf anzukommen, unter welchen Bedingungen und in welchem Umfeld das entsprechende Selbstverhältnis zustande gekommen ist. Doch derartige Bedingungen betreffen die Verhältnisse in der Welt, die die Person umgibt, und lassen sich damit nicht in das internalistische Projekt integrieren, ohne die Idee von Autonomie als ein reines Selbstverhältnis aufzugeben. Auf dieser Ebene verstärkt sich der Druck in Richtung externer Bedingungen für Autonomie. Diese Kritik auf zwei Ebenen weckt grundsätzliche Zweifel an der Durchführbarkeit des internalistischen Projekts. Offenbar hat die Ablehnung von These (II) des Trilemmas zur Folge, dass man innerhalb des rein internalistischen Rahmens keine Antwort auf eine drängende Frage finden kann: die Frage, wie das gesunde
98 | 3 Ein reines Selbstverhältnis? Internalistische Theorien Selbstverhältnis, das der Internalismus charakterisieren will, eigentlich genau zustande kommt, worauf es zurückgeht oder woher es rührt. Denn das hat oft etwas damit zu tun, welche äußeren Umstände vorherrschen und wie eine Person mit Autonomiebedrohungen, die von außen an sie herangetragen werden, umgeht. Und mit dem Fokus auf das Innenleben der Person, die dem Internalismus und der Idee eines reinen Selbstverhältnisses eigen ist, kann man das schlecht einfangen: Wer Autonomie als eine ausgeprägte Form von Innerlichkeit versteht, hat Mühe, diejenigen Aspekte von „Äußerlichkeit“ (d. h. Einflüsse der Welt, die die Person umgibt), welche für die Selbstbestimmung einer Person relevant sind, in seine Konzeption zu integrieren – Aspekte, die Autonomie eher als ein Weltverhältnis erscheinen lassen. Das motiviert eine gänzlich andere Sichtweise auf Autonomie, die Gegenstand des folgenden Kapitels ist.
4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien Eine zweite Strategie, um das Rätsel der Natur personaler Selbstbestimmung zu lösen, besteht darin, Überzeugung (I) des Trilemmas aufzugeben und an den Überzeugungen (II) und (III) festzuhalten. Damit leugnet man, dass Autonomie einem Selbstverhältnis ähnelt, und man versteht Autonomie stattdessen als reines Weltverhältnis. Diese Lösungsstrategie stellt also gerade jene Überzeugung (II) in den Vordergrund, deren Ablehnung sich für die internalistische Strategie als problematisch erwiesen hat. In diesem Kapitel möchte ich prüfen, ob die Strategie, Autonomie als reines Weltverhältnis aufzufassen, zum Ziel führt und das Rätsel der Selbstbestimmung befriedigend löst.
4.1 Das externalistische Projekt Autonomie als reines Weltverhältnis aufzufassen heißt erstens, Autonomie überhaupt als ein Weltverhältnis zu verstehen. Mit dem in Abschnitt 2.2 eingeführten Begriff Weltverhältnis hatte ich Bezug genommen auf bestimmte Verhältnisse in der Welt, die eine Person umgibt – nämlich solche Verhältnisse, die die Autonomie der Person beeinflussen können. Dazu zählten das soziale Umfeld, der Handlungsspielraum, die Vorgeschichte einer Person, sowie der Gehalt ihrer Entscheidungen oder Lebensweise. Diese Verhältnisse in der Welt können im Hinblick auf die Autonomie der Person günstig oder ungünstig sein: Unter gewissen sozialen Bedingungen scheint Autonomie grundsätzlich unmöglich, unter anderen hingegen unproblematisch; der Raum an verfügbaren Optionen kann groß oder verschwindend gering sein; man kann eine schwierige Geschichte als Last mit sich herum tragen oder durch eine glückliche Kindheit in der eigenen Autonomie gestärkt sein; mit den falschen Entscheidungen kann man die Realisierung seines wahren Willens vereiteln, mit den richtigen kann man sie garantieren. Eine Autonomiekonzeption, die an der Überzeugung (II), dass Autonomie etwas mit einem solchen Weltverhältnis zu tun hat, festhält, muss genauer bestimmen, wann diese Verhältnisse in der Welt günstig und wann sie ungünstig sind. Um Bedingungen für Autonomie anzugeben, muss man also das geeignete Weltverhältnis näher bestimmen. Autonomie als reines Weltverhältnis aufzufassen heißt zweitens aber auch, Überzeugung (I) aufzugeben und die Ähnlichkeit zu einem Selbstverhältnis zu bestreiten. Wenn die Aufgabe einer Autonomiekonzeption darin besteht, die Zuschreibung von Autonomie in der Form „Die Person P ist autonom“ zu schärfen,
100 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien so heißt das, dass dieser Strategie zufolge diese Schärfung nur eine Komponente hat, nämlich die des Weltverhältnisses: Die Person P ist genau dann autonom, wenn die Verhältnisse in der Welt, die P umgibt, auf die Weise W beschaffen sind.
Das „andere Gesicht“ der Autonomie – das Selbstverhältnis S im Grundschema (Sgrund ), siehe S. 69 – kommt in diesem Schema nicht vor; darin drückt sich gerade die Ablehnung von (I) aus. Die Motivation dafür, (I) abzulehnen, speist sich aus den Überlegungen des vorherigen Kapitels 3: In vielen Fällen schien die Frage der Autonomie weniger von der inneren Verfassung einer Person als von den Umständen in der Welt, die diese Person umgibt, abzuhängen. Man kann dies gut an dem Gedankenexperiment der „mentalen Zwillinge“ verdeutlichen (vgl. Mele 1995, Kap. 9): Man stelle sich zwei Personen, Adele und Clara, vor, die aus internalistischer Perspektive nicht unterscheidbar sind – sie haben dieselben mentalen Zustände, dieselben Vermögen, dieselbe innere Verfassung. Dennoch unterscheiden sich Adele und Clara im Hinblick auf ihre Autonomie, wenn man ihre äußeren Umstände variiert: Wenn Adele einen größeren Handlungsspielraum hat als Clara (die nur zwischen zwei Übeln wählen kann), oder wenn nur Clara, nicht aber Adele in der Vergangenheit manipuliert oder indoktriniert wurde, oder wenn Adele in einer freien Gesellschaft unter Gleichen lebt, während Clara unterdrückt wird, dann scheint Adele autonomer als Clara. Die jeweiligen Verhältnisse in der Welt scheinen somit über die Autonomie einer Person zu entscheiden. Es schien darüber hinaus sogar so, dass das Innenleben einer Person für ihre Autonomie überhaupt nur dann relevant werden kann, wenn gewisse äußere Bedingungen vorherrschen: Die Identifikation mit den eigenen Motiven ist zum Beispiel gar kein Ausdruck von Autonomie, wenn sie auf der Internalisierung von falschen Rollenbildern beruht; und innere Harmonie und Zufriedenheit können nicht Bedingungen für Autonomie sein, wenn sie auf einem Mangel an Alternativen oder auf Resignation vor den begrenzten Aufstiegsmöglichkeiten der Gesellschaft zurückgehen. Die von Internalistinnen genannten internen Bedingungen für Autonomie machen offenbar stets nur unter gewissen äußeren „Normalitätsbedingungen“ einen Unterschied für die Autonomie einer Person. Demnach ist ein Selbstverhältnis nur unter bestimmten Weltverhältnissen für Autonomie von Belang: „Leur absence ou leur non-actualisation [sc. des conditions externes] rendrait vaine la satisfaction des conditions internalistes de l’autonomie“ (Jouan 2008, 22f.; vgl. auch Richardson 2001, 292).
Auf diese Weise kehrt sich die epistemische und explanatorische Priorität interner Bedingungen, mit der Internalistinnen die Verhältnisse in der Welt in ihre Kon-
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zeption integrieren konnten (vgl. S. 71), um: Es ist nicht länger so, dass Aspekte des Weltverhältnisses wie Optionenvielfalt oder bestimmte soziale Beziehungen nur vermittels eines Selbstverhältnisses relevant für Autonomie werden können, sondern es ist umgekehrt gerade so, dass ein Selbstverhältnis ohne diese Aspekte des Weltverhältnisses völlig bedeutungslos ist. Vielleicht kommt es also auf das Selbstverhältnis gar nicht an. Wie diese Überlegungen und das vorherige Kapitel zeigen, gibt es somit gute Gründe, Autonomie nicht als eine ausgeprägte Form von Innerlichkeit zu verstehen, und diese Gründe können uns dazu drängen, (I) aufzugeben. Die Ablehnung von (I) hat allerdings nicht nur Auswirkungen auf die schematische Form der Schärfung des Autonomiebegriffs, sondern auch auf deren Inhalt. Wer die Ähnlichkeit zu einem Selbstverhältnis bestreitet, muss bei der näheren Bestimmung eines geeigneten Weltverhältnisses W nämlich auf etwas verzichten: Er kann dabei keine Bedingungen ins Spiel bringen, die das Verhältnis der Person zu sich selbst, selbstbezogene Aktivitäten (etwas, das die Person mit sich selbst macht) oder das Zusammenspiel von „Teilen“ der Person betreffen. Lägen die günstigen Bedingungen in der Welt (z. B. „die Person wird geachtet“ oder „die Person ist nicht in etwas hineingerutscht“) nämlich nur dann vor, wenn die Person ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst einnimmt (wenn sie sich z. B. selbst achtet) oder wenn Teile der Person sich auf eine bestimmte Weise ineinander fügen (etwa wenn sie von ganzem Herzen hinter ihrem eingeschlagenen Weg steht), so ähnelte Autonomie doch wieder einem Selbstverhältnis. Und dann könnte man nicht länger behaupten, dass Autonomie ein reines Weltverhältnis sei. Wer auf Bedingungen verzichten muss, die ein Selbstverhältnis beschreiben, muss aber auch auf Bedingungen verzichten, die ein reines Selbstverhältnis beschreiben – und das heißt (siehe Abschnitt 3.1, S. 68), man muss auf Bedingungen verzichten, die das Innenleben bzw. die innere Verfassung einer Person beschreiben. Daraus folgt, dass die Ablehnung von (I) impliziert, dass die Bedingungen des geeigneten Weltverhältnisses W keine internen Bedingungen sind. Interne Bedingungen waren Aussagen über den Besitz (bzw. die Abwesenheit) einer mentalen Einstellung/eines Vermögens oder Aussagen über den Besitz (bzw. die Abwesenheit) eines Gefüges von mentalen Einstellungen/von Vermögen. Alle Bedingungen für personale Autonomie, die nicht von dieser Art sind, nenne ich im Folgenden „externe Bedingungen“. Die Bedingung, dass P von anderen nicht diskriminiert wird, ist beispielsweise eine externe Bedingung: Darin wird auch etwas über andere Personen gesagt und die Bedingung betrifft darum nicht allein die mentalen Einstellungen von P. Wenn nun aus der Ablehnung von (I) folgt, dass die Bedingungen für das gesuchte Weltverhältnis W keine internen Bedingungen sind, dann müssen in einer genaueren Beschreibung von W folglich ausschließlich externe Bedingungen vorkommen. Die Explikation von W hat damit die folgende
102 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien Form (wobei E(P) dafür steht, dass eine Menge E von externen Bedingungen – im gerade definierten Sinne – auf P zutrifft): Die Verhältnisse in der Welt, die P umgibt, sind genau dann auf Weise W beschaffen, wenn E(P).
Das Schema, mit dem Externalistinnen Autonomie schärfen, sieht dann so aus: Das externalistische Schema (Sext )
Die Person P ist genau dann autonom, wenn E(P).
Die Lösungsstrategie, nach der Autonomie ein reines Weltverhältnis ist, hat also bei näherer Betrachtung zur Konsequenz, dass die Bedingungen personaler Autonomie ausschließlich externe Bedingungen sind. Autonomiekonzeptionen, die dieser Strategie folgen, kann man als „externalistische Autonomiekonzeptionen“ (und die gesamte Strategie als „Externalismus“) bezeichnen. Was genau sind die externen Bedingungen, die für eine Autonomiekonzeption in Frage kommen? Während sich die Klasse der internen Bedingungen recht homogen über mentale Einstellungen und Vermögen (bzw. Gefüge dieser Dinge) bestimmen lässt, ist die Klasse der externen Bedingungen deutlich heterogener. Das liegt daran, dass sie ex negativo charakterisiert ist: Jede Bedingung für Autonomie, die keine interne ist, ist eine externe (vgl. auch Henning 2009, 53). Das lässt offen, wie externe Bedingungen genau beschaffen sein müssen, und erschwert eine A-priori-Klassifizierung der möglichen externen Bedingungen (und damit auch der möglichen externalistischen Konzeptionen). Dennoch lassen sich die verschiedenen Spielarten der externalistischen Lösungsstrategie systematisieren, wenn man bei den Gegenständen ansetzt, in Bezug auf welche man über die Autonomie von Personen spricht. Entsprechend den Überlegungen aus Abschnitt 1.3 kann man Autonomie mit einem globalen Skopus (in Bezug auf die Lebensweise einer Person) oder mit einem lokalen Skopus (in Bezug auf einzelne Entscheidungen oder Handlungen) zuschreiben. Entscheidungen/Handlungen und die Lebensweise einer Person haben mehrere Gemeinsamkeiten: 1. Sie haben einen Gehalt: Man entscheidet sich für etwas, man tut etwas Bestimmtes, man lebt auf eine bestimmte Weise. 2. Sie sind nicht alternativlos: In der Regel trifft man eine Entscheidung zwischen unterschiedlichen zur Verfügung stehenden Optionen, geht eine von verschiedenen möglichen Handlungen an und lebt auf eine von mehreren Weisen, die einem offen stehen.
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3. Sie haben eine Vor- und (in aller Regel auch eine) Nachgeschichte: Jede Entscheidung, Handlung und Art und Weise, sein Leben zu führen, ist irgendwie zustande gekommen und hat in der Regel auch Auswirkungen, die über die Umsetzung der Entscheidung, den Abschluss der Handlung oder den Vollzug der Lebensweise hinaus andauern. 4. Sie vollziehen sich meist in einem sozialen Rahmen: Nur wenige unserer Entscheidungen, Handlungen und Aspekte unserer Lebensführung haben weder in ihrer Vorgeschichte noch in ihren Auswirkungen noch in ihrem Gehalt nichts mit anderen Menschen zu tun. Daraus ergeben sich vier verschiedene Anknüpfungspunkte für die externalistische Lösungsstrategie: Man kann externe Bedingungen für den Gehalt, die Alternativen (bzw. den Handlungsspielraum), die Vor- und Nachgeschichte und den sozialen Rahmen formulieren. Die vier Spielarten des Externalismus nenne ich „substanzielle“, „optionsbasierte“, „historische“ und „soziale Autonomiekonzeptionen“. Natürlich kann eine externalistische Konzeption auch eine beliebige Mischform dieser Ansätze sein, etwa wenn sie sowohl historische externe als auch substanzielle externe Bedingungen enthält. Die externen Bedingungen müssen also nicht aus derselben Kategorie stammen. Unabhängig von der Wahl des Anknüpfungspunktes ist allen externalistischen Ansätzen gemeinsam, dass die Frage der Autonomie als eine Frage über die Beschaffenheit der Welt, die eine Person umgibt, verstanden wird und sich somit auch durch den Verweis auf eben diese Welt (und nur dadurch) entscheidet: Ob Adeles Entschluss, Medizin zu studieren, autonom war, hängt dann davon ab, wie ihr Entschluss zustande kam, ob sie von ihren Eltern zum Medizinstudium gezwungen wurde oder ob ihr verschiedene Optionen offen standen; ob Bert als alleinstehender, viel beschäftigter Manager wirklich ein autonomes Leben führt, hängt davon ab, ob es ein gutes, gelingendes oder „richtiges“ Leben ist; und ob Claras Verzicht auf eine berufliche Weiterentwicklung nach der Schwangerschaft autonom war, hängt vom sozialen Erwartungsdruck ihres Umfelds ab. Autonomie ist diesem Verständnis nach hauptsächlich eine „Funktion der Umwelt“ und das Innenleben einer Person spielt keine Rolle. Wie schon beim internalistischen Projekt könnte man auch beim externalistischen Projekt zunächst von Beginn an skeptisch sein und hinterfragen, ob eine Schärfung des Autonomiebegriffs nach Schema (Sext ) grundsätzlich überhaupt möglich ist. Denn zum einen spricht man Autonomie unter anderem in Bezug auf Handlungen zu oder ab – und Handlungen basieren auf Motiven, die man als mentale Einstellungen analysieren kann. Zum anderen interessiert hier die Autonomie von Personen – und Personen zeichnen sich den meisten Auffassungen zufolge durch spezielle Vermögen (wie Reflexivität oder Vernunft) aus. Allein schon aus
104 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien dem Grund, dass es um die Autonomie von Personen in Bezug auf Handlungen geht, kommt man offenbar gar nicht darum herum, den Satz „Die Person P ist autonom (hinsichtlich Handlung H)“ durch Bezugnahme auf das Innenleben und den Verweis auf interne Bedingungen zu analysieren. Eine externalistische Analyse gemäß (Sext ) scheint damit von vornherein unmöglich. Diese Schlussfolgerung beruht allerdings auf einem zweifachen Missverständnis. Erstens können Externalistinnen natürlich zugestehen, dass eine vollständige Analyse von Autonomiezuschreibungen der Form „Die Person P ist autonom (hinsichtlich Handlung H)“ auch interne Bedingungen enthält: Wenn diese internen Bedingungen nämlich lediglich sicherstellen, dass man überhaupt von einer Person und überhaupt von Handlungen oder Entscheidungen spricht, dann tragen sie eben für die Frage der Autonomie dieser Person bezüglich dieser Handlung gar nichts aus. Dem externalistischen Projekt geht es aber um jene Bedingungen, die darüber hinaus noch hinzukommen müssen, damit eine Person hinsichtlich einer Handlung autonom ist. Es geht gerade um externe Bedingungen für Autonomie, nicht um externe Bedingungen für Personalität oder Handlungen.33 Dass sich Personalität und Handlungen nur durch Verweis auf interne Bedingungen explizieren lassen und darum auch in einer vollständigen Autonomiekonzeption irgendwie „vorkommen“ müssen, untergräbt das externalistische Projekt also noch nicht. Zweitens darf man nicht übersehen, dass externe Bedingungen durchaus auch interne Bedingungen „enthalten“ können. Dass Person P von Person Z zu Handlung H gezwungen wird, setzt beispielsweise voraus, dass P die Überzeugung hat, dass Z eine bestimmte (für sie, P, unangenehme) Konsequenz hervorbringen wird, wenn sie, P, nicht H tut (vgl. Raz 1986, 148f.). Und das ist eine Tatsache über Ps Überzeugungen, d. h. über das Innenleben von P. Wenn man also die Abwesenheit von Zwang als eine externe Bedingung für Autonomie von P ansieht, dann ist damit immer auch eine interne Bedingung impliziert. Doch das untergräbt das externalistische Projekt nicht; denn der Externalistin kommt es darauf an, dass sich die Bedingung „P wird von niemandem gezwungen“ nicht ausschließlich anhand von Ps Innenleben erklären lässt: Eine Bedingung dafür, dass P von Z zu H gezwungen wird, ist nämlich auch, dass Z P zu verstehen gibt, dass sie, Z, eine bestimmte Konsequenz hervorbringen wird, wenn P nicht H tut. Und das ist keine Tatsache über das Innenleben von P, sondern betrifft eine Handlung von Z. Es ist also nicht richtig zu sagen, dass Externalistinnen der Auffassung sind, dass das Innenleben einer Person für ihre Autonomie gar keine Rolle spielt; zutreffender ist, dass nach Ansicht der Externalistin jede Bedingung personaler
33 Diesen Punkt macht Benson: „What general abilities must a person have, beyond whatever abilities agency requires, in order to act freely?“ (Benson 1987, 466; Herv. d. Verf.).
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Autonomie so beschaffen ist, dass sie sich nicht vollständig auf das Innenleben reduzieren lässt. In den oben genannten Beispielen ist es beispielsweise so, dass die Frage ob Clara Zwang, Druck oder unterdrückenden sozialen Normen ausgesetzt ist, ob Adele über genügend Optionen verfügt, oder ob Berts Lebensweise die „richtige“ ist, immer auch vom Verhalten anderer Person, von der Vorgeschichte der Entscheidung, vom sozialen Umfeld oder den tatsächlich geltenden Maßstäben für Richtigkeit abhängt. Und all diese Dinge lassen sich nicht vollständig als ein Gefüge von Adeles, Berts oder Claras mentalen Einstellungen analysieren: Zwang, Manipulation, Anpassungsdruck, Einschränkungen und die moralische Qualität einer Handlung oder Lebensweise spielen sich nicht in Adeles, Berts oder Claras Kopf ab, sondern in der Welt. Insofern handelt es sich bei diesen Bedingungen um externe Bedingungen, die die äußeren Umstände einer Person betreffen. An dieser Stelle ist eine Präzisierung nötig. Man könnte nämlich einwenden, dass mit diesem Zugeständnis die Klassifikation von Autonomiekonzeptionen in die Kategorien Internalismus, Externalismus und Interaktionalismus hinfällig wird. Denn wenn eine externe Bedingung (wie „P wird von niemandem zu H gezwungen“) notwendig für Autonomie wäre und wenn es für das Vorliegen dieser Bedingung wiederum notwendig wäre, dass eine interne Bedingung (wie „P glaubt, dass Z eine für sie, P, unangenehme Konsequenz hervorbringen wird, wenn sie, P, nicht H tut“) gegeben ist, dann wäre das Vorliegen der internen Bedingung auch notwendig für Autonomie: Aus A ⇒ B und B ⇒ C folgt eben auch A ⇒ C. Positionen, die derartige externe Bedingungen enthalten, würden Autonomie somit eigentlich über eine Konjunktion aus internen und externen Bedingungen – und nicht mehr ausschließlich über externe Bedingungen – erklären (es wären Varianten des „konjunktiven Interaktionalismus“, der in Abschnitt 5.2 genauer diskutiert wird). Und damit fällt die dreiteilige Klassifikation in Internalismus, Externalismus und Interaktionalismus in sich zusammen. Das wäre allerdings ein voreiliger Schluss. Betrachten wir die Aussage „P macht vom Ehegattensplitting Gebrauch“. Dafür ist es notwendig, dass P eine Ehe geschlossen hat. Für das Schließen einer Ehe ist es notwendig, dass es eine trauende Person gibt und die muss zuvor gezeugt werden, wozu es zwei Menschen Q und R gegeben haben muss, die das getan haben. Ist es also eine notwendige Bedingung für die Anwendung des Ehegattensplittings, dass einmal zwei Personen Q und R existierten (die dann einen Menschen zeugten, der P traute)? In einem strikt logischen Sinne: Ja. Aber diese Bedingung scheint für unser Verständnis des Begriffs Ehegattensplitting nicht wesentlich. Man muss lediglich verstanden haben, dass eine Person verheiratet sein muss, um zu verstehen, wann sie vom Ehegattensplitting Gebrauch machen kann. Die weiteren notwendigen Bedingungen führen zu weit (bzw. auf eine zu feinkörnige Ebene der Analyse). Man kann diese Überlegung im Hinblick auf die Autonomie so ausbuchstabieren: Wenn es in dieser
106 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien Arbeit um die „Bedingungen“ personaler Autonomie geht, dann sind damit stets fundamentale Bedingungen gemeint. Eine Bedingung F (ein logisch elementarer Satz der Form „Eigenschaft E trifft auf P zu“) ist genau dann fundamental, wenn gilt: Es gibt unter den vorgeschlagenen Bedingungen für Autonomie keine Bedingung B, so dass F aus B folgt (wenn also für kein B gilt: B ⇒ F). Die Existenz einer trauenden Person ist beispielsweise deswegen keine fundamentale Bedingung für die Anwendung des Ehegattensplittings, weil die Existenz einer trauenden Person bereits aus der Bedingung, dass eine Person verheiratet sein muss, folgt. Die Bedingung, dass P verheiratet sein muss, ist hingegen eine fundamentale Bedingung. Sie folgt aus keiner weiteren Bedingung für die Anwendung des Ehegattensplittings (etwa die, dass P existieren muss oder dass P ein versteuerbares Einkommen hat). Genauso kann man in Bezug auf Autonomie argumentieren: Die vermeintliche interne „Bedingung“ für Autonomie (dass P glaubt, dass Z eine für sie, P, unangenehme Konsequenz hervorbringen wird, wenn sie, P, nicht H tut) folgt bereits aus einer anderen vorgeschlagenen Bedingung – der Abwesenheit von Zwang. Und darum ist Ps Überzeugung gerade keine fundamentale Bedingung für Autonomie, die Abwesenheit von Zwang hingegen schon (jedenfalls dann, wenn der Vorschlag richtig wäre). Die Klassifikation von Internalismus, Externalismus und Interaktionalismus bezieht sich also ausschließlich auf fundamentale Bedingungen für Autonomie. Und auf der Ebene der fundamentalen Bedingungen kann man durchaus unterscheiden zwischen solchen Bedingungen, die ausschließlich das Innenleben einer Person betreffen, und solchen, die nicht ausschließlich das Innenleben einer Person betreffen: Erstere sind interne Bedingungen, letztere externe. Da man also innerhalb des externalistischen Rahmens auf mindestens zwei Weisen Aussagen über das Innenleben einer Person in die vollständige Beschreibung ihrer Autonomie einbauen kann, ist eine Analyse gemäß des externalistischen Schemas (Sext ) nicht von vornherein aussichtslos. Wenn man am externalistischen Projekt etwas auszusetzen haben kann, dann lässt sich das nur in Auseinandersetzung mit einzelnen externen Bedingungen zeigen. Im Folgenden diskutiere ich die vier Spielarten der externalistischen Lösungsstrategie: substanzielle, optionsbasierte, historische und soziale Konzeptionen. Da fast alle der dabei auftauchenden Probleme sich bereits schon dann ergeben, wenn man nur eine Bedingung aus dem jeweiligen Ansatz als notwendige Bedingung für Autonomie erachtet, treten die behandelten Probleme auch für beliebige Mischformen externalistischer Ansätze auf. Daher genügt es, hier die Grundformen der externalistischen Strategie separat zu diskutieren. Anders als bei der Diskussion der internalistischen Strategie werde ich mich zunächst nicht auf eine der vier in Abschnitt 1.3 eingeführten Perspektiven beschränken. Das liegt daran, dass man die von den externalistischen Konzeptionen formulierten Bedingungen auf alle vier Perspektiven anwenden kann: Man
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kann abstufbare oder binäre Bedingungen an den Gehalt von Entscheidungen oder den Gehalt der Lebensweise formulieren; man kann den für Autonomie als notwendig erachteten Optionenspielraum hinsichtlich einzelner Entscheidungen, aber auch hinsichtlich des gesamten Lebens charakterisieren; und Ähnliches gilt auch für historische und soziale Bedingungen. Da Externalistinnen weniger eindeutig als Internalistinnen auf eine bestimmte Perspektive fokussieren, werde ich im Folgenden auch nicht zwischen den verschiedenen Perspektiven differenzieren. Diese Ungenauigkeit untergräbt die Argumentation jedoch an keiner Stelle.
4.2 Substanzielle Konzeptionen: Objektivität Eine erste, traditions- und einflussreiche externalistische Strategie bestimmt das gesuchte Weltverhältnis näher, indem sie Bedingungen für den Gehalt der Entscheidungen oder der Lebensweise, bezüglich derer die Autonomie einer Person in Frage steht, formuliert. Die leitende Idee hinter diesem Ansatz ist, dass eine Handlung oder Lebensweise den richtigen Gehalt – die richtige Substanz – haben muss, damit man davon sprechen kann, dass eine Person selbst bestimmt: Jemand, der sein Dasein als Sklave fristet, ist gerade aufgrund dieser Lebensweise nicht autonom; einer Frau, die sich zum Objekt männlicher Begierde macht, fehlt es genau wegen dieser Entscheidung an Autonomie; wer kein geeignetes Mittel für den angestrebten Zweck, den er erreichen will, wählt, der kann seinen wahren Willen nicht umsetzen, weil er so (nämlich unvernünftig) handelt; und wenn eine Person in ihren Lebenszielen der Wirklichkeit entrückt ist (und z. B. keinen Schimmer davon hat, was sich in dieser Welt angesichts ihrer Fähigkeiten und Begabungen eigentlich realisieren lässt), so vereitelt gerade der fehlende Bezug zur Wirklichkeit ihre Selbstbestimmung. Diese Beispiele legen nahe, dass es der Gehalt der Entscheidung oder Lebensweise selbst ist, der über die Autonomie der betreffenden Person entscheidet: Das, was die Person tut, respektive die Weise, wie die Person lebt, muss von der richtigen Art sein; und das heißt, die Substanz der Lebensweise oder Handlung muss gewissen Maßstäben der Richtigkeit genügen – wobei diese Maßstäbe nicht vom Innenleben der Person abhängen. Denn dass ein Dasein als Sklave, die Objektifizierung der eigenen Person oder Realitätsverlust der Autonomie entgegenstehen, gilt dieser Auffassung zufolge ganz unabhängig davon, was in dem Sklaven, der Frau oder dem Entrückten vorgeht. Damit wird die Idee der Objektivität eingeführt: Es gibt einen Maßstab, der von der jeweiligen Person unabhängig ist (und insofern „objektiv“ und nicht „subjektiv“ besteht) und an dem sich eine Handlung oder Lebensweise bewähren muss. Wenn jemand nun in seinem Tun diesem objektiven Maßstab der Richtigkeit genügt, dann (und nur dann) ist er auch autonom.
108 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien Externalistische Konzeptionen, die dieser Variante folgen, spezifizieren den objektiven Maßstab der Richtigkeit unterschiedlich. Es kann der Maßstab der Moral im engeren Sinn sein, aber auch der Maßstab der Vernunft in einem umfassenderen Sinne. Man könnte geneigt sein, diese Auffassung zum Beispiel Immanuel Kant zuzuschreiben (Kant GMS), schließlich fallen bei ihm autonomes Handeln, moralisches Handeln und vernünftiges Handeln in eins – um autonom zu handeln muss man immer moralisch und vernünftig handeln. Allerdings ist diese „Äquivalenzbehauptung“ eher ein Ergebnis aus Kants Bestimmung der Begriffe autonomer Wille, guter Wille und vernünftiger Wille als eine Bestimmung des Autonomiebegriffs selbst. Autonomie ist für Kant nämlich eigentlich die Eigenschaft des Willens, „unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens“ (Kant GMS, 440) „sich selbst ein Gesetz zu sein“ (Kant GMS, 447). Es ergibt sich dann aus der „Entwickelung“ der Begriffe (Kant GMS, 445), dass diese Eigenschaft auch den guten und den vernünftigen Willen auszeichnet, aber der Begriff Autonomie ist nicht direkt über die Begriffe Moral oder Vernunft bestimmt. Insofern sollte man vorsichtig damit sein, Kant eine externalistische Auffassung personaler Autonomie zuzuschreiben (vgl. O’Neill 2003; Taylor 2005). Ganz unberechtigt wäre eine solche Zuschreibung allerdings nicht: Kant ist nämlich offenbar der Ansicht, dass das Äquivalenzresultat aufgrund eines begrifflichen Zusammenhangs („durch bloße Zergliederung“ der Begriffe, Kant GMS, 447) gilt; und das legt eine externalistische Lesart wiederum sehr nahe, denn dann bedeutet autonom zu handeln unter anderem, moralisch zu handeln. Ungeachtet der exegetischen Frage, ob man Kant eine substanzielle Autonomiekonzeption zuschreiben sollte, findet sich diese Konzeption in der Literatur tatsächlich.34 Bezugnehmend auf eine Studie von Kristin Luker (1975), in der Frauen ihre Beweggründe für das Eingehen hoher Schwangerschaftsrisiken angaben, behauptet Natalie Stoljar beispielsweise: „Women who accept the norm that pregnancy and motherhood increase their worthiness accept something false. [. . . ] Most of Luker’s examples can be explained in these terms. The reason that Luker’s subjects are judged not to be autonomous is that the reasons weighed up in the bargaining process [. . . ] are often derived from false norms“ (Stoljar 2000, 109; Herv. i. Orig.).
Autonom ist man demzufolge nur, wenn man aus den richtigen Gründen handelt; und richtig sind diese Gründe nur, wenn sie sich nicht aus „falschen Normen“ ableiten. Da aus den richtigen Gründen zu handeln aber schlicht heißt, das Ver-
34 Vgl. die (schlussendlich in einer Zurückweisung mündende) Diskussion im Kontext der Debatte um Willensfreiheit bei Nozick (1981, 317–362) oder die frühe Position von Paul Benson (1987).
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nünftige und moralisch Richtige zu tun, hieße dieser Auffassung nach autonom zu handeln einfach, vernünftig und moralisch richtig zu handeln. Was vernünftig und richtig ist, hängt aber gerade nicht ausschließlich von der mentalen Verfassung einer Person ab. Darum ist dieses Autonomieverständnis externalistisch.
4.2.1 Das Konfundierungsproblem Stimmt es, dass Handlungen und Lebensweisen den Maßstäben der praktischen Vernunft und der Moral genügen müssen, damit eine Person autonom sein kann? Der naheliegende Einwand gegen diese Auffassung ist, dass sie viele Fälle autonomer Handlungen und autonomen Lebens nicht richtig erfasst: Wer seine Kollegin belügt, macht etwas moralisch falsch, aber wir sprechen der Lügnerin nicht unbedingt auch ihre Selbstbestimmung ab – sie steht weder in ihrem inneren Erleben noch in unseren Reaktionen ihr gegenüber auf einer Stufe mit der Person, die im Affekt die Vase zertrümmert, die sich von Ambivalenz geplagt für keinen Studiengang entscheiden kann oder die sich aufgrund ihrer Depression zu nichts aufraffen kann. Auch das Leben eines sizilianischen Mafioso entspricht sicher nicht dem moralisch Guten, und doch gleicht es nicht jenen (moralisch neutralen) Fällen von fremdbestimmtem Leben, in denen jemand an sich selbst zerbricht oder hörig seinem Partner folgt. Diese Unterschiede spiegeln sich auf der Ebene der reaktiven Einstellungen wider: Menschen, denen es an Selbstbestimmung fehlt, bedauern wir; über Menschen, die moralisch falsch handeln, sind wir entrüstet. Entrüstung ist aber in Fällen der Fremdbestimmung nur selten angebracht.35 Zudem legt die Tatsache, dass man auch in „moralfreien“ Kontexten (etwa in Bezug auf seine Ernährungsgewohnheiten) Erfahrungen der Fremdbestimmung machen kann, nahe, dass unser Verständnis von Autonomie „entmoralisiert“ ist (Dworkin 1988, 29; Henning 2009, 45; Rössler 2002a, 163). Kurzum: Autonomes Leben und Tun und das moralisch gute Leben und Tun scheinen sich nicht vollständig zu decken – Erfahrungen der Fremdbestimmung sind nicht immer Erfahrungen unmoralischen Verhaltens und Erfahrungen der Selbstbestimmung sind nicht immer auch moralische Heldentaten (vgl. Benson 2005a, 130ff.). Eine Möglichkeit, auf dieses Problem zu reagieren und dennoch an der Idee der Objektivität festzuhalten, besteht darin, nicht einzelne Handlungen, sondern die Fähigkeiten der Person einer Objektivitätsbedingung zu unterwerfen. Diesen Weg beschreitet Susan Wolf in ihrer Untersuchung derjenigen Form von Selbstbestim-
35 Jedenfalls gilt das gegenüber der fremdbestimmten Person; wenn die Fremdbestimmung auf eine andere Person zurückgeht, sind wir in der Regel schon entrüstet über deren Tun.
110 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien mung, welche für moralische Verantwortung notwendig ist.36 In Wolfs Konzeption manifestiert sich Autonomie in der Fähigkeit, im Einklang mit der Vernunft zu handeln: Die autonome Person könne wahre Überzeugungen und die richtigen moralischen Werte ausbilden (Wolf 1990, 71); sie könne ihr Handeln und Leben daher an den Gründen ausrichten, die tatsächlich bestehen, und die Welt so sehen, wie diese tatsächlich ist, und entsprechend darauf reagieren (Wolf 1990, 117). Diese Auffassung hat das oben genannte Problem nicht: Denn dass eine Person derartige Fähigkeiten hat, ist vereinbar damit, dass sie diese Fähigkeiten nicht immer ausübt – und darum kann man auch trotz unmoralischer Lebensweisen oder falscher Handlungen autonom sein. Allerdings hilft dieser Vorschlag letztlich nicht weiter. Denn wenn man die Objektivitätsbedingung (als eine konstitutive Bedingung für Autonomie) allein an eine Fähigkeit knüpft, dann müssten Personen, die eine Fähigkeit in gleichem Maße besitzen, auch gleichermaßen autonom sein – unabhängig davon, wie oft und gut sie ihre Fähigkeit ausüben. Doch das ist einfach nicht der Fall: Wenn Adele und Bert die von Wolf genannten Fähigkeiten in gleicher Weise besitzen, und wenn Adele die Welt auch tatsächlich immer so sieht, wie sie ist und entsprechend darauf reagiert, während Bert dies nie tut, dann scheint Bert der Bezug zur Realität gerade zu fehlen, weil er von seiner Fähigkeit keinen geeigneten Gebrauch macht und diese damit – im Hinblick auf seine Autonomie – wertlos ist. Wo die Selbstbestimmung der Person in Frage steht, kann man somit nicht bei Bedingungen stehen bleiben, die nur die Fähigkeiten einer Person betreffen; man muss immer auch etwas über die Ausübung der Fähigkeiten sagen (vgl. zu diesem Punkt Raz 1986, 372). Doch sofern man dabei den externalistischen Rahmen nicht verlassen möchte, muss man die Objektivitätsbedingung wieder auf das anwenden, was aus der Ausübung der Fähigkeiten resultiert: Entscheidungen, Handlungen und Lebensweisen. Es kommt dann eben doch nicht darauf an, dass man fähig ist, das Richtige oder Vernünftige zu tun, sondern darauf, dass man das Richtige oder Vernünftige auch tatsächlich tut. Und damit stellt sich das erste Problem, dass unser Verständnis von Autonomie „entmoralisiert“ ist, erneut.37 Das legt nahe, dass substanzielle externalistische Ansätze, die direkt den Gehalt autonomer Entscheidungen und autonomer Lebensführung spezifizieren,
36 Vgl. Wolf 1990, 4; der Ausdruck „Autonomie“ ist bei Wolf für die Auffassung reserviert, wonach die Handelnde die „ultimative Kontrolle“ über ihr Tun hat und ihr Handeln nur durch sie und keinerlei äußere Umstände beeinflusst wird (Wolf 1990, 10) – das ist in meiner Terminologie gerade die internalistische Auffassung, mit der Wolf ihren Ansatz kontrastiert. 37 Dieses Argument betrifft mutatis mutandis auch die frühe Position von Paul Benson, nach der für Autonomie die Fähigkeit, Handlungsweisen anhand der richtigen normativen Maßstäbe kritisieren zu können, konstitutiv sei (Benson 1987, 469, 475).
4.2 Substanzielle Konzeptionen: Objektivität |
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mit dem Problem der Konfundierung zu kämpfen haben (Noggle 2005, 96): In diesen Ansätzen wird das autonome Leben gleichbedeutend mit dem moralisch guten, dem vernünftigen oder dem gelungenen Leben (je nachdem, welchen objektiven Maßstab der Richtigkeit man anlegt). Und das scheint einfach eine Verwechselung von verschiedenen Phänomenen zu sein: „[T]he property of autonomy must not collapse into the property of ‘reasonable person’ where the idea of being self-governing is indistinguishable from the idea of being, simply, smart“ (Christman 1991, 15; vgl. auch Johnston 1994, 76f.).
Anders als das Abgrenzungsproblem, mit dem die Internalistin zu kämpfen hatte (siehe Abschnitt 3.3), betrifft das Konfundierungsproblem nicht verschiedene Phänomene innerhalb des Spektrums der Erfahrungen von Fremd- und Selbstbestimmung; der Vorwurf lautet nicht, dass beispielsweise Willensschwäche und Affekttaten und damit die verschiedenen Perspektiven auf Autonomie nicht unterschieden werden können. Das Konfundierungsproblem reicht tiefer: Der Einwand besagt, dass substanzielle Konzeptionen das gesamte Spektrum von Erfahrungen der Fremd- und Selbstbestimmung nicht von Phänomenen abgrenzen können, die außerhalb dieses Spektrums liegen. Substanzielle Konzeption verletzen also nicht die Adäquatheitsbedingung, dass die spezifischen Unterschiede der vier Perspektiven aufgedeckt werden müssen (das war ein Problem der Internalistinnen), sondern das Adäquatheitskriterium, dass der Autonomiebegriff überhaupt geschärft werden muss. Denn wer Autonomie nicht von Dingen unterscheiden kann, die damit nichts zu tun haben, legt keine Schärfung, sondern eher eine „Abstumpfung“ vor. Die Konfundierung ist aber nicht nur aus rein methodischen Gründen problematisch. Sie ist auch in normativer Hinsicht bedenklich (vgl. Schwartz 2005, 449). Eine Funktion des Begriffs Autonomie ist nämlich, dass man sich damit gegen die Gebote der Vernunft gerade zur Wehr setzen kann. So könnte eine Person, die ihre Autonomie durch staatliche Regulierungsbemühungen (wie ein Verbot von Tabakwaren) bedroht sieht, ihr „Recht auf Irrationalität“ beispielsweise mit folgenden Worten verteidigen: „Ich weiß, dass es unvernünftig ist, zu rauchen; es sprechen objektiv betrachtet tatsächlich die besten Gründe dafür, es zu unterlassen. Aber ich will es trotzdem.“ In unserer moralischen Praxis scheint es so etwas wie ein Zugeständnis zu geben, in einigen Fällen (in geringem Ausmaß) gegen die Gebote der Vernunft und der Moral verstoßen zu dürfen (vgl. Seidel 2011) und Autonomie scheint etwas mit diesem Zugeständnis zu tun zu haben: Autonomie schützt hier ein (eng begrenztes) „Recht auf Irrationalität“. Doch diesen Aspekt kann eine substanziellen Autonomiekonzeption gar nicht einfangen, weil Autonomie ihr zufolge darin besteht, vernünftig zu sein oder moralisch richtig zu handeln – und daher gäbe es keinen Platz dafür, unter Berufung auf Autonomie
112 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien vom Richtigen abzuweichen. Normativ bedenklich ist dies, weil dieser Aspekt – der Schutz eines „Recht auf Irrationalität“ – im politischen Kontext eine wichtige sozialkritische Funktion hat: Autonomie ist gemeinhin eine der Erwägungen, mit denen sich die Illegitimität von Zwangsmaßnahmen selbst dann rechtfertigen lässt und mit der man dem Verhalten anderer (insb. des Staates) in Bezug auf die eigene Person selbst dann Grenzen setzen kann, wenn es den anderen bzw. dem Staat darum geht, eine Person dazu zu bringen, etwas Gutes, Vernünftiges oder Richtiges zu tun. Doch wenn autonom zu sein nun hieße, gemäß den Maßstäben der Moral und Vernunft zu handeln (oder zu leben), dann könnte man jemandem dabei „helfen“, autonomer zu werden, indem man ihm dabei hilft, vernünftig und moralisch zu handeln (oder zu leben). Das heißt, man könnte unter Berufung auf Autonomie gerade Zwang rechtfertigen, und die sozialkritische Funktion des Autonomiebegriffs ginge in einer substanziellen externalistischen Konzeption (ein Stück weit) verloren (vgl. dazu Isaiah Berlins Kritik an Konzeptionen „positiver Freiheit“, Berlin 2002, insb. 180).
4.2.2 Das Problem mit der Individualität Substanzielle Konzeptionen, die den Gehalt autonomer Entscheidungen und Lebensweisen durch objektive Maßstäbe der Richtigkeit einschränken, stehen darüber hinaus noch vor einer zweiten Herausforderung: Sie lassen wenig Spielraum für Individualität. Denn unter der Vielzahl der möglichen Handlungsoptionen und Lebensweisen sind nur wenige vernünftig und moralisch geboten; in vielen Situationen könnte man immer noch ein Stück vernünftiger oder moralisch besser leben und handeln. Wenn autonom zu sein heißt, das Vernünftige und Gute zu tun, dann orientieren sich alle autonomen Personen an denselben Prinzipien; und wenn diese Prinzipien in jeder Lebenslage den Gehalt einer Lebensweise oder Handlung stets eindeutig (oder, je nach Auffassung von Moral, fast eindeutig) spezifizieren, dann täten alle autonomen Personen in gewisser Hinsicht dasselbe (vgl. Meyers 2000a, 480; Raz 1986, 370, Anm. 2). Diese Konsequenz ist aber unvereinbar mit der Vorstellung, dass autonome Personen ein im emphatischen Sinne eigenes Leben führen, sich dabei von anderen abgrenzen und so erst zu Individuen werden. John Stuart Mill bringt die Verknüpfung von Selbstbestimmung und Individualität so auf den Punkt (vgl. auch Friedman 2003, 16f.; Haworth 1986, 13): „A person whose desires and impulses are his own—are the expression of his own nature, as it has been developed and modified by his own culture—is said to have a character. One whose desires and impulses are not his own, has no character, no more than a steam engine has a character“ (Mill OL, 264).
4.2 Substanzielle Konzeptionen: Objektivität |
113
Substanzielle Konzeptionen lassen indes nur wenig Raum für Individualität: In dem Maße, in dem man die Gründe, nach denen autonome Personen handeln und leben müssen, „von außen“ inhaltlich vorgibt, müssen alle Personen dasselbe tun; die Handlungen der autonomen Person wären dann nicht, wie Mill sagt, Ausdruck ihrer wahren Natur. Substanzielle Konzeptionen verlieren somit aus dem Blick, dass Autonomie etwas damit zu tun hat, dass Personen selbst bestimmen (vgl. Benson 1991, 398ff.; Christman 1991, 14). Um zu sehen, wie Vertreterinnen einer substanziellen Konzeption auf diese Herausforderung reagieren können, ist es zunächst wichtig, zwei grundverschiedene Ansichten darüber zu unterscheiden, wie praktische Gründe in einer Autonomiekonzeption relevant werden können: Man kann der Auffassung sein, dass die Autonomie einer Person davon abhängt, ob sie gute Gründe für ihr Tun sieht, ob also aus ihrer Sicht gute Gründe für etwas sprechen; demnach ist P autonom, wenn P glaubt, dass für das, was sie tut (oder für die Art, wie sie lebt), gute Gründe sprechen. Diese Bedingung ist aber keine externe, sondern eine interne (schließlich betrifft sie Ps Überzeugung) und wurde bereits im Zusammenhang mit den Positionen von Watson und Bratman behandelt.38 Man kann aber auch der Auffassung sein, dass die Autonomie einer Person davon abhängt, ob sie tatsächlich gute Gründe für ihr Tun hat; in diesem Fall ist P autonom, wenn für das, was P tut (oder für die Art, wie P lebt), tatsächlich gute Gründe sprechen – unabhängig davon, ob die Person diese Gründe auch sieht. Diese Bedingung ist eine externe (jedenfalls solange man die Ansicht teilt, dass es gute Gründe für etwas geben kann, die aus Sicht der Person keine guten Gründe sind, oder dass umgekehrt manche Erwägungen, die aus jemandes Sicht gute Gründe sind, in Wahrheit keine guten Gründe sind). Nur die zweite Auffassung ist direkt mit der Idee der Objektivität verknüpft und nur sie ist dem Einwand ausgesetzt, dass objektive Maßstäbe, denen die Handlungsgründe einer autonomen Person genügen müssen, mit der Idee der Individualität und der Vorstellung, dass die Person selbst bestimmt, nur schwer zu vereinbaren sind. Substanzielle Konzeptionen können nun auf das Problem mit der Individualität reagieren, indem sie von der ersten Auffassung vom Verhältnis zwischen Autonomie und praktischen Gründen ausgehen und zeigen, dass sie auf die zweite Auffassung (oder zumindest in deren Nähe) führt. Diesen Weg beschreitet beispielsweise Henry Richardson. Er ist der Ansicht, dass für Autonomie lediglich das Vermögen, aus Erwägungen zu handeln, die aus Sicht der Person gute Gründe sind,
38 Explizit vertreten auch Philip Pettit und Michael Smith die Auffassung, dass Autonomie eine Form der „Orthonomie“ („Herrschaft des Richtigen“) ist, wobei sich dieses Richtige bei ihnen eben aus den Auffassungen der Person über das Richtige ergibt (Pettit und Smith 1990, 1993).
114 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien ausschlaggebend ist – und das ist eine interne Bedingung. Diese Bedingung schafft Raum für Individualität: Verschiedene Personen sehen eben verschiedene Dinge als gute Gründe an. Doch Richardson ist auch der Auffassung, dass es manchmal so offensichtlich ist, was die tatsächlich guten Gründe sind, dass eine Person, die grundsätzlich befähigt ist, aus aus ihrer Sicht guten Gründen zu handeln (erste Auffassung), auch aus den tatsächlich guten Gründen handelt (zweite Auffassung; vgl. Richardson 2001, 295). Und damit wäre es offenbar in manchen Fällen so, dass autonomes Handeln und richtiges Handeln zusammenfallen; auf diese Weise könnte man doch an der Idee der Objektivität festhalten und zugleich verständlich machen, inwiefern es sich dabei noch um Selbstbestimmung handelt. Allerdings überzeugt Richardsons Rettungsversuch nicht. Denn in seinem Vorschlag entscheidet über die Autonomie einer Person immer noch das Vermögen, aus Erwägungen zu handeln, die man als gute Gründe ansieht; dieses Vermögen – und damit eine interne Bedingung – ist konstitutiv für Selbstbestimmung. Dass die Ausübung dieses Vermögens bisweilen mit gutem oder richtigem Handeln zusammenfällt, ist lediglich kontingenterweise und nur manchmal, aber eben nicht notwendigerweise und immer der Fall. Und darum bleibt Richardsons Konzeption internalistisch; Objektivität ist darin keine konstitutive Bedingung für Autonomie. Es bleibt also dabei: Je mehr man den Gehalt autonomer Entscheidungen und Lebensweisen an objektiven Maßstäben der Richtigkeit festmacht, desto weniger Spielraum bleibt für Individualität. Zusammen mit dem Konfundierungsproblem macht diese Konsequenz substanzielle Konzeptionen als Konzeptionen von Autonomie unhaltbar.
4.3 Optionsbasierte Konzeptionen: wertvolle Optionen Eine zweite Spielart des Externalismus formuliert Bedingungen für den Raum von Alternativen, innerhalb dessen sich autonomes Handeln und Leben vollziehen. Damit wird die Idee aufgegriffen, dass man nur selbst bestimmt, wenn man die Wahl hat und nicht auf etwas festgelegt ist. Prominent ist in diesem Zusammenhang die Forderung, eine autonome Person müsse einen adäquaten Spielraum von (wertvollen) Optionen haben; dies wird beispielsweise von Joseph Raz (1986, Kap. 14 und 15) und Marina Oshana (1998, 94) vertreten. Die Aufgabe optionsbasierter Autonomiekonzeptionen ist es, genauer zu bestimmen, was ein adäquater Handlungsspielraum ist. Um dabei im externalistischen Rahmen zu bleiben, dürfen die Bedingungen für einen adäquaten Handlungsspielraum nicht ausschließlich über das Innenleben der Person definiert werden. Der am besten ausgearbeitete Vorschlag stammt von Raz. Ihm zufolge ist ein Raum von zur Verfügung stehenden (Entscheidungs-, Handlungs- und Lebens-)Optionen nur dann adäquat, wenn gilt:
4.3 Optionsbasierte Konzeptionen: wertvolle Optionen |
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1. Der Spielraum umfasst alle Lebensbereiche: „[The range of options] should include options with long term pervasive consequences as well as short term options of little consequence, and a fair spread in between. [. . . ] This aspect of the requirement of adequate choice is necessary to make sure that our control extends to all aspects of our lives“ (Raz 1986, 374).
2. Die Optionen sind vielfältig: „Clearly not number but variety matters. [. . . ] To be autonomous and to have an autonomous life, a person must have options which enable him to sustain throughout his life activities which, taken together, exercise all the capacities human beings have an innate drive to exercise, as well as to decline to develop any of them“ (Raz 1986, 375).
3. Der Spielraum enthält keine „zwingende Option“: „For most of the time the choice should not be dominated by the need to protect the life one has. A choice is dominated by that need if all options except one will make the continuation of the life one has rather unlikely“ (Raz 1986, 376; hier ist nicht das biologische Überleben gemeint, sondern das Leben mit all den Projekten und Dingen, die einem am Herzen liegen).
4. Der Handlungsspielraum enthält moralisch gute Optionen, muss aber nicht notwendigerweise auch moralisch schlechte Optionen enthalten: „Autonomy requires a choice of goods. A choice between good and evil is not enough“ (Raz 1986, 379). „[T]he availability of such [sc. morally repugnant] options is not a requirement of respect for autonomy. [. . . ] The ideal of autonomy requires only the availability of morally acceptable options“ (Raz 1986, 381).
All diese Bedingungen sind externe Bedingungen: Ob die verfügbaren Optionen alle Lebensbereiche betreffen, ob sie vielfältig sind, ob eine Option zwingend oder moralisch gut ist, hängt nicht (jedenfalls nicht ausschließlich) vom Innenleben der Person ab. Und deswegen ist die Auffassung, nach der Autonomie darin besteht, einen angemessenen Raum wertvoller Optionen zu haben, eine externalistische Auffassung: Welcher Handlungsspielraum einer Person zur Verfügung steht, ist eine Tatsache, die die Verhältnisse in der Welt, wie sie die Person umgibt, betreffen; Autonomie als Verfügbarkeit eines adäquaten Raums von Optionen ist somit ein Weltverhältnis. Raz’ optionsbasierte Konzeption ist nicht mit den Problemen der substanziellen Externalistinnen konfrontiert: Zwar ist ein adäquater Handlungsspielraum insofern moralisch „vorgefiltert“, als darin nach der vierten Bedingung auch einige moralisch gute Optionen enthalten sein müssen; aber das impliziert nicht, dass die handelnde Person diese Optionen auch tatsächlich realisiert – es reicht, sie zu haben. Das Problem der Konfundierung stellt sich für Raz folglich nicht. Die Vielfalt der Optionen stellt zudem sicher, dass Autonomie auch Ausdruck von Individualität sein kann, so dass auch in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten
116 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien drohen (vgl. Raz 1986, 371). Allerdings steht die optionsbasierte Konzeption vor der Herausforderung der inneren Perspektive der Person. Das ergibt sich aus den folgenden drei Überlegungen.
4.3.1 Die explanatorische Priorität des Innenlebens Erstens ist es nicht ganz so klar, dass man den Bereich dessen, was als adäquater Handlungsspielraum gilt, ganz unabhängig von den mentalen Zuständen der Person spezifizieren kann. Ich will dies kurz anhand der Überlegungen verdeutlichen, mit denen Raz zu seiner vierten Bedingung kommt (Raz 1986, 379): Wir sollen uns eine Person vorstellen, die jeden beliebigen Beruf wählen kann, sofern sie für jede Option, die sie ablehnt, einen Mord begeht. Zunächst kann sie beispielsweise Elektrikerin werden, doch wenn sie ablehnt, muss sie jemanden ermorden; dann kann sie Bäckerin werden, doch wenn sie dies ablehnt, muss sie wiederum jemanden ermorden etc. Raz schließt, dass die Person, die vor dieser Wahl steht, nicht autonom ist. Allerdings scheint das voreilig, weil in diesem Beispiel einige implizite Voraussetzungen eingehen. Da ist zunächst die Voraussetzung, dass die Person die Option Elektrikerin nicht ohnehin am allerliebsten ergreifen möchte. Denn wenn die Person unbedingt Elektrikerin werden möchte, ist sie fein raus und die Wahlsituation stellt sich weniger problematisch dar. Zum Vergleich: Jemand bietet mir einfach so fünf Millionen Euro an. Das Angebot möchte ich gern annehmen. Stellt sich meine Situation anders dar, wenn er hinzufügt: „Du kannst das Angebot ablehnen, aber dann musst du jemanden töten“? Ich denke nicht. Dass in Raz’ Beispiel ein Problem vorliegt, scheint zudem an der Voraussetzung zu liegen, dass die betroffene Person einen Konflikt erlebt. Stellen wir uns vor, die Situation wäre anders: Die Person kann jeden beliebigen Beruf wählen, sofern sie für jede Option, die sie ablehnt, etwas moralisch Neutrales tut, z. B. eine Zeitung zusammenknüllt. Die Person kann sich durch Anhäufen von Papierbergen also zu jedem beliebigen Beruf „durchknüllen“. Doch wenn die Person eine Papierphobie hat (das soll es geben), stellt sich die Situation für sie vermutlich genauso dar wie für die Person in Raz’ ursprünglichem Beispiel, die morden soll. Das liegt daran, dass sie einen Konflikt erlebt. Wenn man sich in Raz’ ursprünglichem Beispiel umgekehrt jemanden vorstellt, den es genauso kalt lässt, andere Menschen zu ermorden, wie es mich kalt lässt, eine Zeitung zusammenzuknüllen – jemanden, der absolut keinen Konflikt dabei erlebt –, dann scheint dieser Fall im Hinblick auf die Autonomie auch nicht besonders problematisch. Offenbar vermag Raz’ Beispiel (und damit
4.3 Optionsbasierte Konzeptionen: wertvolle Optionen |
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die vierte Bedingung) also überhaupt erst unter der Zuhilfenahme eines gewissen psychologischen Profils der betroffenen Person zu überzeugen.39 Diese Überlegung verdeutlicht den Punkt der explanatorischen Priorität des Innenlebens einer Person, den Internalistinnen immer wieder anführen (vgl. S. 71): Externe Bedingungen können erst vermittels bestimmter interner Einstellungen zu einer Einschränkung von Autonomie werden. Die Frage der Autonomie entscheidet sich dann aber an den internen Einstellungen (im obigen Beispiel eben an der Frage, welche Option die Person am liebsten realisieren möchte und ob die Person einen Konflikt erlebt). Anders als optionsbasierte Konzeptionen glauben, scheint die Frage, welcher Spielraum als adäquat gilt und welcher nicht, von der inneren Verfassung einer Person abzuhängen.
4.3.2 Resilienz und fetischisierte Offenheit Zweitens überschätzt eine optionsbasierte Konzeption die Bedeutung, die der Handlungsspielraum für die Selbstbestimmung einer Person hat. Das zeigt sich zum einen daran, dass Personen, die sich drohenden Einschränkungen ihres Handlungsspielraums widersetzen und auf gewisse Weise auf einen Mangel an Optionen reagieren, als besonders autonome Personen gelten. Folgendes Beispiel verdeutlicht, dass es sehr stark darauf ankommt, was Personen aus dem ihnen zur Verfügung stehenden Spielraum – mag er auch noch so klein werden – machen: Wenn die Fähigkeit, sich zu bewegen – die Raz (1986, 375) explizit als Beispiel für ein Vermögen nennt, zu dessen Ausübung Menschen natürlicherweise neigen–, im Alter nicht mehr ausgeübt werden kann, verliert man nach der zweiten Bedingungen nicht nur an Bewegungs-, sondern auch an Handlungsspielraum, und damit seine Autonomie. Man kann bereits diese Konsequenz aus dem optionsbasierten Modell (Altern als Autonomieverlust) für sich genommen als unplausibel ansehen. Allemal unplausibel aber wird es, wenn man bedenkt, dass diese Bedingung den Umgang der Person mit dem Verlust von Optionen gar nicht berücksichtigt: Jemand, der sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht, den bestehenden Spielraum bestmöglich auszunutzen und sogar zu erweitern (und z. B. nach einem Schlaganfall zunächst erneut das Schwimmen, dann das Wandern im holprigen Gelände und schließlich das Langlaufen wieder erlernt), oder der den Optionsverlust durch Kultivierung anderer Interessen kompensiert, scheint durchaus autonom zu sein –
39 Raz spricht davon, dass man nur autonom sein kann, wenn man nicht ständig um sein „moralisches Überleben“ (Raz 1986, 380) kämpfen müsse; aber wer sich aus einem Mord nichts macht, der muss sich für sein moralisches Überleben vermutlich kaum abmühen.
118 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien insbesondere im Gegensatz zu jemandem, der nach dem Schlaganfall resigniert auf sein Lebensende wartet. Wer aber Autonomie an von der Person unabhängigen Eigenschaften des Handlungsspielraums festmacht, der kann diese Form der „Wehrhaftigkeit“ oder „Widerstandsfähigkeit“ (die in der Psychologie unter dem Begriff Resilienz geführt wird, vgl. Reich, Zautra und Hall 2010) nicht einfangen: In optionsbasierten Konzeptionen ist der Verlust wertvoller Optionen immer ein Autonomieverlust – auch wenn sich die Person noch so bemüht, ihren Handlungsspielraum zu erweitern oder nach Alternativen und Kompensationsformen für den Optionsverlust sucht. Zum anderen zeigt sich die Überbetonung verfügbarer Alternativen in optionsbasierten Konzeptionen auch daran, dass ein großer Handlungsspielraum unserer Autonomie auch im Weg stehen kann. Das sieht man daran, dass der Versuch, sich Optionen offen zu lassen und sich einen großen Handlungsspielraum zu erhalten, letztlich darauf hinausläuft, dass man sich nur schwerlich jemals auf irgendetwas festlegen kann – denn sich festzulegen hieße, sich bestimmte andere Optionen zu verschließen. Oft erfordert Autonomie aber gerade solche Festlegungen: Adele steht vor der Wahl, eine Ausbildung zur Uhrmacherin oder ein Maschinenbau-Studium zu beginnen. Die Ausbildung legt Adele im Wesentlichen auf ein einziges zukünftiges Berufsbild fest, das Studium hingegen lässt ihr viele Möglichkeiten offen. Obwohl sie die beruflichen Möglichkeiten einer Maschinenbauerin langweilen und obwohl sie von ganzem Herzen Uhrmacherin werden möchte, entscheidet sich Adele für das Studium, um später mehr Optionen zu haben. Mathilde feiert ihren 80. Geburtstag; auf die Frage ihres kecken Enkels, was sie ihr langes Leben über eigentlich hauptsächlich gemacht habe und was sie in den ihr verbleibenden Jahren eigentlich zu Ende bringen wolle, antwortet Mathilde mit einem Schulterzucken: „Weißt du, man weiß nie, was das Leben bringt, darum habe ich immer versucht, mir alle Wege offen zu halten, mich auf nichts festzulegen. Und so gibt es eigentlich nichts, was ich mein Leben lang eifrig verfolgt habe und nun noch zu Ende bringen müsste.“ Ulla ist eine vielfach begabte Abiturientin mit den besten Noten. Sie hat aufgrund ihrer vielfältigen Interessen und Möglichkeiten aber große Schwierigkeiten, sich auf einem bestimmten Studiengang an einem bestimmten Ort festzulegen, gerade weil sie jedes Fach an jeder Universität dieser Welt studieren könnte. Die Qual der Wahl zu haben verunsichert sie so sehr, dass sie gar nicht mehr weiß, was sie eigentlich will.
Wer sich (wie Adele) Optionen nur um der Optionen willen offen hält und darüber vergisst, so zu leben, wie er es eigentlich will, für den wird Optionenvielfalt zum Fetisch, der der Umsetzung des wahren Willens und damit der Selbstbestimmung im Weg steht. Wer (wie Mathilde) sein Leben lang danach strebt, sich alles offen zu halten, um verschiedene Lebensentwürfe realisieren zu können, der hat in
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seinem Leben offensichtlich etwas verpasst;40 denn wenn man alles in der Schwebe belässt und sich nicht festlegen kann, dann steht man auch für nichts und es fehlt einem ein „wahres Wesen“ oder eine „wahre Natur“, die einen in praktischer Hinsicht als autonome Person ausmacht (Frankfurt 1988d, 1999a,b,d). Und wer sich (wie Ulla) einen großen Handlungsspielraum verschafft hat, kann davon überfordert sein und sich im „Dschungel der Möglichkeiten“ verlieren; anders als optionsbasierte Konzeption implizieren liegt hier gerade kein Musterfall von Autonomie vor. All diese Formen der Fetischisierung der Offenheit von Optionen zeigen, dass Optionenvielfalt für sich genommen gar nicht zur Autonomie beiträgt, sondern sogar in mangelnde Autonomie münden kann. Wie die Phänomene der Resilienz und der fetischisierten Offenheit zeigen, ist ein adäquater Handlungsspielraum für Autonomie weniger relevant als Raz glaubt. Das hat etwas damit zu tun, dass eine optionsbasierte externalistische Konzeption die Adäquatheit des Handlungsspielraums unabhängig von der inneren Verfassung der Person und von der Art und Weise, wie sie mit ihren Optionen umgeht und was sie daraus macht, bestimmt. Damit sieht sie über die Perspektive der Person hinweg und darüber, dass Optionenvielfalt für sie eher ein Hindernis ist oder dass der Verlust von Optionen für sie nicht schwer wiegt (vgl. für diese Beobachtungen auch Frankfurt 1988b, 158 sowie Dworkin 1988, Kap. 5), und das führt zu einer Überbewertung der Rolle des Handlungsspielraums.
4.3.3 Die innere Reaktion auf Autonomieverluste Ein drittes Problem mit Raz’ Spielart des Externalismus ist, dass sie einen Aspekt der Erfahrung von Fremdbestimmung nicht richtig erfasst: Gelegentlich lernen wir Neues über uns dazu oder entdecken Dinge an uns, die uns zuvor unbekannt waren. Manche dieser Entdeckungen sind im Hinblick auf unsere Autonomie schmerzhaft, weil sie uns überführen: Wir entdecken, dass wir eigentlich immer nur den Wertvorstellungen unserer Eltern folgten oder dass wir uns selbst etwas vorgemacht haben; wir entdecken, dass wir etwas nur getan haben, um jemandem zu gefallen oder um dazuzugehören; wir entdecken, dass wir auf subtile Weise manipuliert oder gezwungen worden sind oder blind einem unterdrückten und ungewollten Begehren gefolgt sind. Charakteristisch für diese Fälle scheint es zu sein, dass man sich ein Stück weit von den Handlungen oder der Lebensweise distanziert, wenn man erkannt hat, dass diese das Resultat solcher Ursachen sind.
40 Raz versteht seine optionsbasierte Konzeption explizit als Beschreibung eines Ideals der Autonomie (Raz 1986, 369ff.). Doch wie das Beispiel von Mathilde zeigt, wäre ein Leben, das man gemäß Raz’ Interpretation dieses Ideals führt, gar nicht unbedingt erstrebenswert.
120 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien Diese Entdeckungen erzeugen somit ein Gefühl der Entfremdung in uns (vgl. Henning 2009, 79). Das erst macht sie zu Erfahrungen der Fremdbestimmung. Wenn nun adäquate Optionen konstitutiv für Autonomie wären, dann wäre der Verlust von adäquaten Optionen ein Verlust von Autonomie. Die Entdeckung, dass eine Entscheidung oder Lebensweise (anders als man vielleicht glaubte) aus einem begrenzten Optionenspielraum hervorging, wäre dementsprechend eine Erfahrung von Autonomieverlust bzw. Fremdbestimmung und sie müsste auch mit dem beschriebenen Gefühl der Entfremdung einhergehen. Aber das scheint nicht immer (und auch nicht überwiegend) der Fall zu sein: Die Identifikation mit der Rolle als Konzertpianistin überdauert beispielsweise problemlos die Entdeckung, dass man aufgrund mangelnder sonstiger Talente und Fördermöglichkeiten lediglich die (für Raz wertlose) Alternative gehabt hätte, sein Dasein auf der Straße zu fristen. Wenn man also in seinem Leben aufgeht, dann scheint es völlig irrelevant zu sein, dass dieses Leben aus einem inadäquaten Handlungsspielraum hervorgegangen ist. Abermals scheint es darauf anzukommen, womit sich die Person identifiziert – wie also ihre innere Verfassung genau aussieht. Das sieht man auch, wenn man umgekehrt fragt, wie ein Optionsverlust aus der Perspektive der betroffenen Person wahrgenommen wird. Natürlich ist es manchmal so, dass wir Alternativen, die uns nicht länger offen stehen, nachtrauern. Aber es ist keineswegs immer so: Wenn Adele sich im obigen Beispiel für das, was sie wirklich will, entscheidet und Uhrmacherin wird, dann wird sie es nicht bedauern, dass ihr die Optionen der Maschinenbauerin, an denen ihr ohnehin nichts liegt, nicht mehr offen stehen. Der Verschluss von Alternativen ist also nicht notwendigerweise tragisch, wenn man ihn selbst gewählt hat (wenn man also bereits eine autonome Entscheidung getroffen hat oder ein autonomes Leben führt). Optionenvielfalt ist also gar keine notwendige Bedingung für Autonomie; denn man muss bereits einen davon unabhängigen Begriff von autonomen Entscheidungen oder autonomem Leben haben, um dann erst bewerten zu können, ob die Tatsache, dass bestimmte Optionen einem nicht offen stehen, die Autonomie einer Person untergräbt. Das zeigt sich auch an Personen, die ganz zielgerichtet auf Optionen verzichten, um eine höhere Form der inneren Freiheit und Selbstbestimmung zu erlangen: Für den Mönch, der ins Kloster eintritt, sind die Optionen, auf die er „verzichtet“ möglicherweise bloß Ablenkungen; und wenn sich jemand für ein aufwändiges Abendschulprogramm entscheidet, das die Freizeitmöglichkeiten auf ein Minimum reduziert, dann kann dieser Verzicht auf Optionen gerade mit Blick auf die eigenen Selbstbestimmungsmöglichkeiten erfolgen; doch solange das Programm läuft, hat die Person diese zusätzlichen Möglichkeiten noch nicht und sie gilt trotz (oder gerade wegen) ihres Verzichts auf Hobbys, Freizeit, Freundschaften etc. als autonom.
4.4 Historische Konzeptionen: Unabhängigkeit |
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Alle drei Probleme (die explanatorische Priorität des Innenlebens, die Erfahrungen von Resilienz und fetischisierter Offenheit, die Facetten der inneren Reaktion auf Autonomieverluste) deuten darauf hin, dass die innere Perspektive einer Person, die sich in Autonomiegefährdungen und -verletzungen offenbart, eine unverzichtbare Komponente von Autonomie ist und dass Raz’ Spielart des Externalismus diese innere Perspektive der Person nicht ernst genug nimmt. Die Herausforderung der inneren Perspektive verschärft sich zudem, weil eine ganze Reihe von Phänomenen mangelnder Autonomie in dieser Konzeption gar nicht erfasst werden können: Innere Zerwürfnisse, Zerrissenheit, Konformismus, Obsessionen, sich selbst im Weg zu stehen und sich nichts zuzutrauen sind „innere Barrieren“ für Autonomie, die nichts damit zu tun haben, welcher Handlungsspielraum einem zur Verfügung steht – einige dieser Barrieren können durch einen zu großen Spielraum sogar erst hervorgebracht werden. Optionsbasierte Konzeptionen werden darum auf verschiedene Weise der inneren Perspektive der Person nicht gerecht und zeichnen so ein unangemessenes Bild von deren Autonomie.
4.4 Historische Konzeptionen: Unabhängigkeit Der dritte Anknüpfungspunkt für die externalistische Lösungsstrategie ist die Entstehungsgeschichte einer Entscheidung oder Lebensweise. Historische Konzeptionen gehen von der Überlegung aus, dass wir manchmal nicht selbst bestimmen, weil das, was in der Vergangenheit liegt (unsere Vorgeschichte), bereits vollständig erklärt, was wir tun und warum wir es tun. Insofern wir an dieser Vergangenheit nichts ändern können, bestimmt sie, und nicht wir selbst. Autonomie setzt umgekehrt offenbar voraus, dass die Genese einer Handlung oder Lebensweise gewissen Bedingungen genügt. Weit verbreitet ist in diesem Zusammenhang die Auffassung, autonome Entscheidungen oder Lebensweisen müssen unter der Bedingung der prozeduralen Unabhängigkeit zustande gekommen sein: „[T]he identification with his motivations, or the choice of the type of person he wants to be, may have been produced by manipulation, deception, the withholding of relevant information, and so on. It may have been influenced in decisive ways by others in such a fashion that we are not prepared to think of it as his own choice. I shall call this a lack of procedural independence. [. . . ] [T]he notion of autonomy which should play a role in the evaluation of various methods of behavior control is that which requires authenticity and procedural independence“ (Dworkin 1976, 25f.). „Coercion and manipulation draw our attention to a separate dimension of the conditions of personal autonomy: independence. [. . . ] Coercion and manipulation subject the will of one person to that of another. That violates his independence and is inconsistent with his autonomy“ (Raz 1986, 378).
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„[A] value or preference of an agent must have the right sort of causal history if it is to count as truly the agent’s own for purposes of deciding her autonomy status. [. . . ] The proposal now to be considered interprets the Independence condition as ruling out alien influences on the processes by which the agent’s values and preferences are formed and her decision making shaped. [. . . ] An agent attains independence to the degree that [. . . ] her upbringing or initial socialization is nonrepressive“ (Arneson 1994, 57–59). „In order to be autonomous, an agent must not in fact be influenced or restricted by others in autonomy-constraining ways. [. . . ] [I]f a person is to appraise her desires under conditions of [procedural independence], the environment must be free of whatever variety of factors destroy the psychological integrity of the person, and disable the person in her relations with others. For example, the environment must be noncoercive and nonmanipulative“ (Oshana 1998, 93f.).
Die Bedingung der Unabhängigkeit41 ist eine externe Bedingung für Autonomie: Ob jemand gezwungen, manipuliert, getäuscht, indoktriniert oder repressiv erzogen wurde, hängt nicht ausschließlich von seinem Innenleben ab, sondern davon, was andere Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit mit ihm getan haben. Unabhängigkeit als Abwesenheit bestimmter äußerer Einflüsse in der Vergangenheit beschreibt somit einen (historischen) Sachverhalt in der Welt, die die Person umgibt; es ist ein Weltverhältnis. Die Bedingung einer unabhängigen Vorgeschichte hat im Gegensatz zu den substanziellen Konzeptionen kein Problem mit der Individualität: Die Tatsache, dass man nicht zu H gezwungen, manipuliert oder erzogen wurde, lässt völlig offen, um welches H es sich handelt. Darum ist die Abwesenheit bestimmter äußerer Einflüsse (repressive Erziehung, Zwang oder Manipulation) vereinbar mit einer Vielzahl individueller Lebensentwürfe. Allerdings sind historische Konzeptionen zwei anderen Problemen ausgesetzt.
4.4.1 Das Begründungsproblem Das erste Problem tritt auf, wenn man fragt, was mit Unabhängigkeit eigentlich genau gemeint ist: Warum eigentlich genügen gewisse vergangene Einflüsse (wie eine glückliche Kindheit, Aufforderung, Information) der Bedingung der prozeduralen
41 Im Folgenden ist mit „Unabhängigkeit“ stets prozedurale Unabhängigkeit gemeint. Die prozedurale Unabhängigkeit der Entstehungsgeschichte einer Entscheidung oder Lebensweise wird dabei unterschieden von der substanziellen Unabhängigkeit des Inhalts der Entscheidung oder Lebensweise. Man kann sich z. B. dazu entschließen, stets das zu tun und für richtig zu halten, was der Papst tut und für richtig hält; man ist dann prozedural, nicht aber substanziell unabhängig. Umgekehrt kann man dazu manipuliert worden sein, stets seinen eigenen Kopf zu haben und unkonventionell zu sein; man wäre dann vielleicht substanziell, nicht aber prozedural unabhängig (vgl. Dworkin 1976, 25).
4.4 Historische Konzeptionen: Unabhängigkeit |
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Unabhängigkeit, andere (wie eine traumatische Kindheit, Zwang oder Manipulation) hingegen nicht? Betrachtet man die Zitate, in denen Dworkin und Oshana die Bedingung der Unabhängigkeit einführen, so fällt auf, dass die Charakterisierung zunächst sehr formal gehalten ist: Für Dworkin ist prozedurale Unabhängigkeit eine Bedingung autonomer Entscheidungen; und diese Bedingung liegt vor, wenn eine Person nicht so beeinflusst worden ist, dass man nicht mehr von einer eigenen Entscheidung sprechen kann („It may have been influenced in decisive ways by others in such a fashion that we are not prepared to think of it as his own choice“, Dworkin 1976, 25). Doch das ist zirkulär, denn wir wollten wissen, wann eine Entscheidung autonom (also eine eigene Entscheidung) ist. Und dabei hilft Dworkins Charakterisierung nicht weiter, denn sie läuft darauf hinaus, dass eine Entscheidung nur dann eine im emphatischen Sinne eigene Entscheidung ist, wenn sie nicht so beeinflusst worden ist, dass sie nicht mehr eine im emphatischen Sinne eigene Entscheidung ist. Ähnlich uninformativ ist auch Oshanas Charakterisierung: „In order to be autonomous, an agent must not in fact be influenced or restricted by others in autonomy-constraining ways“ (Oshana 1998, 93). Denn das besagt lediglich, dass die autonome Entscheidung oder Lebensweise nicht unter Bedingungen zustande gekommen sein darf, die die Autonomie der Person einschränken. Und das ist eine begriffliche Wahrheit, die uns bei der Suche nach den Bedingungen personaler Autonomie nicht weiterhilft (vgl. für den Zirkularitätseinwand auch Benson 1991, 393). Um dem Zirkularitätseinwand zu entgehen, haben Vertreterinnen historischer Autonomiekonzeptionen zwei Möglichkeiten: Sie können diejenigen vergangenen Einflüsse, die Autonomie qua Verletzung der Unabhängigkeitsbedingung untergraben, entweder intensional – d. h. durch Erfüllung eines Kriteriums K, anhand dessen man festmacht, dass ein Einfluss die Autonomie einer Person untergräbt – oder extensional – d. h. durch eine Auflistung – charakterisieren. Die erste Möglichkeit führt nicht weit. Denn wenn man ein Kriterium K angibt, anhand dessen sich die Autonomie-untergrabende Wirkung eines Einflusses bemisst (etwa die Auswirkung auf die „psychische Integrität“ oder auf das Vermögen zur kritischen Reflexion oder auf die Fähigkeit, Beziehungen mit anderen eingehen zu können), dann setzt man bereits eine Konzeption von Autonomie voraus, die unabhängig von der Bedingung der Unabhängigkeit formulierbar ist: Denn K ist ein Kriterium dafür, dass die Autonomie einer Person eingeschränkt wird (bzw. dafür, dass ein Einfluss eine Entscheidung zu einer nicht-autonomen macht), und folglich enthält K bereits eine Vorstellung davon, was die Autonomie einer Person ausmacht – eben z. B. psychische Integrität, kritisches Reflexionsvermögen oder die Fähigkeit, bestimmte Beziehungen zu anderen Personen eingehen zu können. Dabei muss sich die in K enthaltene Autonomiekonzeption ohne Rückgriff auf die Bedingung der Unabhängigkeit formulieren lassen, denn andernfalls läge aber-
124 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien mals eine Zirkularität vor (weil man Unabhängigkeit anhand von K und K anhand von Unabhängigkeit erklären würde). Die erste Möglichkeit, dem Zirkularitätseinwand zu entgehen, führt also dazu, dass man die Auffassung, Unabhängigkeit sei konstitutiv für Autonomie, aufgeben muss. Hilft die zweite Möglichkeit, also eine extensionale Charakterisierung von Unabhängigkeit weiter? Kann man nicht einfach eine vollständige abgeschlossene Liste jener konkreten Umstände angeben, in denen Unabhängigkeit nicht gegeben ist, und Unabhängigkeit einfach als Abwesenheit all dieser Umstände definieren? Nein. Denn mit dieser extensionalen Charakterisierung von Unabhängigkeit ist die Externalistin, die eine in diesem Sinne unabhängige Vorgeschichte als konstitutiv für Autonomie ansieht, mit dem Begründungsproblem konfrontiert: Ihre externalistische Konzeption kann nicht länger substanziell begründen, warum man Autonomieverletzungen eigentlich unterlassen sollte. Das ergibt sich aus folgender Parallele zur Debatte um die Natur der Menschenwürde: Auch dort wird manchmal versucht, die „Natur“ der Menschenwürde dadurch zu eruieren, dass man Beispiele paradigmatischer Würdeverletzungen wie Folter oder Demütigung betrachtet und zu identifizieren versucht, was diese gemeinsam haben – was das eine ist, das in diesen Umständen jeweils verletzt wird (vgl. z. B. Maier 2010, 87–90; Margalit 1996). Beispielsweise könnte es sich dabei um Selbstachtung handeln (Schaber 2003, 2004). Dann bestünde Menschenwürde ihrer Natur nach in der Fähigkeit, sich selbst zu achten. Wichtig ist allerdings, dass in dieser Debatte niemand behauptet, dass die Abwesenheit von Menschenwürdeverletzungen wie Demütigung oder Folter für Menschenwürde konstitutiv ist oder Menschenwürde ausmacht – denn Menschenwürde zu haben besteht nicht einfach darin, nicht gefoltert zu werden oder nicht gedemütigt zu werden, sondern es besteht darin (bzw. könnte darin bestehen), sich selbst achten zu können. In der Debatte um die Natur der Menschenwürde wird also strikt unterschieden zwischen den Bedingungen, die konstitutiv sind für Menschenwürde (wie z. B. die Fähigkeit zur Selbstachtung), und den Bedingungen, die konstitutiv sind für die Achtung bzw. Nicht-Verletzung der Menschenwürde (wie z. B. keiner Folter oder Demütigung ausgesetzt zu sein) – und konstitutiv für Menschenwürde ist dabei gerade nicht die Tatsache, dass die für Achtung von Menschenwürde konstitutiven Bedingungen gegeben sind: Menschenwürde besteht nicht einfach in der Abwesenheit würdeverletzender Umstände.42
42 Ganz allgemein kann man sagen, dass es einen Unterschied gibt zwischen denjenigen Bedingungen, die konstitutiv dafür sind, dass eine Person einen gewissen Status hat, und denjenigen Bedingungen, die konstitutiv für die Achtung bzw. Nicht-Verletzung dieses Status sind – und konstitutiv für den Status ist nicht einfach die Abwesenheit von Statusverletzungen (d. h. die Tatsache, dass die für die Achtung des Status konstitutiven Bedingungen gegeben sind).
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Dass man diese Unterscheidung in der Debatte um Menschenwürde trifft, hat einen guten Grund. Die Idee der Menschenwürde hat nämlich eine bestimmte praktische Funktion: Sie dient dazu zu begründen, warum man gewisse Dinge wie Folter oder Demütigung unterlassen sollte. Eine solche Begründen für z. B. das Folterverbot könnte in etwa so aussehen: (P 1) (P 2) (L 1) (P 3) (C)
Menschenwürde besteht in φ. Folter verletzt φ. Also: Folter verletzt die Menschenwürde (aus (P 1) und (P 2)). Jede Handlung, die die Menschenwürde verletzt, ist moralisch verboten. Also: Folter ist moralisch verboten (aus (L 1) und (P 3)).
Dieses Argument hat zwei Ebenen: Auf der ersten Ebene, die auch in einer intuitiven Begründung des Folterverbots als erstes angeführt wird, leitet sich das Folterverbot (C) ab aus der Tatsache, dass Folter die Menschenwürde verletzt (L 1), und aus dem Prinzip, dass Menschenwürdeverletzungen verboten sind (P 3). Wichtig ist nun, dass man bei Folter auf einer weiteren Ebene begründen kann, was genau an Folter eigentlich schlecht ist, indem man auf eine Konzeption von Menschenwürde zurückgreift (P 1); diese benennt nämlich mit φ die konstitutiven Bedingungen von Menschenwürde (z. B. die Fähigkeit, sich selbst zu achten), die Folter eben untergräbt (P 2). Erst auf dieser zweiten Ebene wird eine „tiefere“ substanzielle Begründung des Folterverbots gegeben, denn hier wird diejenige Eigenschaft identifiziert, die in normativer Hinsicht für das Verbot entscheidend ist: die Tatsache, dass Folter die für Menschenwürde konstitutiven Bedingungen untergräbt. Nun wird auch klar, warum in der Debatte um die Natur der Menschenwürde niemand behauptet, dass die Abwesenheit von Menschenwürdeverletzungen für Menschenwürde konstitutiv ist oder Menschenwürde ausmacht. Denn würde die in (P 1) formulierte Menschenwürdekonzeption – also der Satz φ – die Abwesenheit von Folter als konstitutive Bedingung von Menschenwürde enthalten, so würde der Verweis auf die Menschenwürde nichts zur Begründung des Folterverbots beitragen: Wenn Menschenwürde zu haben einfach darin besteht, nicht gefoltert zu werden, so könnte man auf der zweiten Ebene die Frage „Warum verletzt Folter die Menschenwürde?“ nur durch ein „Das liegt eben in der Natur der Menschenwürde“ beantworten – und diese Antwort liefert gerade nicht den Grund, nach dem gefragt ist. Man hätte also nur noch eine Begründungsebene für das Folterverbot und könnte nicht weiter begründen, warum genau Folter die Menschenwürde verletzt. Gerade in den strittigen Fällen im Menschenwürdediskurs (z. B. beim sogenannten „Zwergenweitwurf“ oder bei gewissen biomedizinischen Problemen) ist aber genau dies die interessante Frage. Würde man also die Abwesenheit von Würdeverletzungen als konstitutiv für Menschenwürde ansehen, so bekäme man ein Begründungsproblem: Die Idee der Menschenwürde könnte dann ihre prak-
126 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien tische Funktion – eine substanzielle Begründung der Unterlassung bestimmter Handlungen zu liefern – nicht mehr erfüllen.43 Diese Überlegungen lassen sich nun auf die historischen externalistischen Autonomiekonzeptionen übertragen: Dieser Auffassung zufolge ist eine unabhängige Vorgeschichte nämlich konstitutiv für Autonomie. Wenn diese unabhängige Vorgeschichte nun extensional durch eine Liste als Abwesenheit von z. B. Zwang, Manipulation und repressiver Erziehung definiert wird, dann ist die Abwesenheit dieser Umstände gerade wesentlich für Autonomie. Nun scheinen Zwang, Manipulation und repressive Erziehung aber vortheoretisch betrachtet klarerweise Verletzungen von Autonomie zu sein, und die Forderung nach Unterlassungen von Zwang, Manipulation oder repressiver Erziehung kann man begründen. In der Regel tun wir dies mit dem Verweis auf Autonomie: „Warum sollte man P nicht zwingen, manipulieren oder repressiv erziehen?“ – „Weil dies ihre Autonomie verletzen würde.“ Eine solche (auf den ersten Blick informative) Begründung für die Unterlassung gewisser Handlungen ist substanziell, wenn sich auf einer zweiten Ebene durch Rückgriff auf eine bestimmte Autonomiekonzeption auch noch begründen lässt, warum Zwang, Manipulation oder repressive Erziehung die Autonomie von Personen verletzen. Doch eine solche Begründung steht gerade nicht mehr zur Verfügung, wenn die Abwesenheit von Zwang, Manipulation und repressiver Erziehung konstitutiv für Autonomie wäre. Der „eigentliche“ Grund, warum man P nicht zwingen, manipulieren oder repressiv erziehen sollte, wäre dann nämlich: „Weil dies die Abwesenheit von Zwang, Manipulation oder repressiver Erziehung beenden würde“ – und das ist in Wahrheit gar kein Grund. Wäre (die extensional definierte) prozedurale Unabhängigkeit also eine konstitutive Bedingung für Autonomie, so würde sich das Begründungsproblem stellen: Man könnte gerade nicht mehr unter Rückgriff auf die Idee der Autonomie substanziell begründen, warum man Zwang, Manipulation, repressive Erziehung und Ähnliches unterlassen sollte. Ebenso wie im Fall der Menschenwürde könnte die Idee der Autonomie also ihrer praktischen Funktion in Begründungskontexten nicht mehr gerecht werden.
43 Auch diesen Punkt kann man verallgemeinern: Jeder normative Status hat einerseits eine Grundlage, die für den Status konstitutiv ist, und kann andererseits verletzt werden. (Eine Verletzung zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Anforderungen, die man aus der Grundlage des Status ableiten kann, nicht erfüllt oder die Grundlagen untergräbt.) Doch die Abwesenheit der Verletzung eines Status kann für den Status nicht konstitutiv sein. Denn das hieße, dass die Grundlage des Status darin bestünde, dass Status-Verletzungen ausbleiben, und dann kann man eben nicht unter Rekurs auf die Grundlage substanziell begründen, was eigentlich schlecht an der Verletzung ist und warum sie unterlassen werden sollte.
4.4 Historische Konzeptionen: Unabhängigkeit |
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Aus diesen Überlegungen folgt, dass Externalistinnen, die die Bedingung der unabhängigen Vorgeschichte als konstitutiv für Autonomie erachten, vor dem Problem stehen, dass sie (1) die Bedingungen, die konstitutiv für Autonomie sind, mit den Bedingungen verwechseln, die konstitutiv für die Achtung bzw. NichtVerletzung von Autonomie sind, und dass sie deswegen (2) nicht mehr begründen können, was an Autonomieverletzungen wie Zwang, Manipulation, Indoktrination etc. eigentlich schlecht ist. Historische Externalistinnen haben also ein (auf einer Konfundierung beruhendes) Begründungsproblem. Dass das ein ernstzunehmendes Problem für eine Autonomiekonzeption ist, hat etwas mit den Überlegungen aus Abschnitt 1.2 zu tun: Hinter der Suche nach der Natur der Selbstbestimmung steckt ein praktisches Erkenntnisinteresse, und das ist (unter der drittpersonalen Perspektive) darauf gerichtet, wie man mit selbstbestimmten und fremdbestimmten Personen umzugehen hat: Wir wollen wissen, wann und warum gewisse Handlungen an Personen zu unterlassen sind. Das Begründungsproblem zeigt, dass eine Konzeption, die eine unabhängige Vorgeschichte als konstitutiv für Autonomie ansieht, darauf keine befriedigende Antwort geben kann. Und wollte sie doch eine Antwort darauf geben, dann bräuchte sie dazu eine bereits vorgängig – das heißt ohne die historische Bedingung der Unabhängigkeit – spezifizierte Autonomiekonzeption. Nur dann kann man begründen, warum bestimmte Vorgeschichten eigentlich eine Verletzung von Autonomie sind.
4.4.2 Nochmals: die Herausforderung der inneren Perspektive Das Begründungsproblem deckt die anfangs in den zirkulären Charakterisierungen von Dworkin und Oshana bemerkte Schwierigkeit auf, dass historische Externalistinnen Probleme haben zu erklären, wieso die Faktoren, die sie mittels der Unabhängigkeitsbedingung ausschließen, eigentlich die Autonomie einer Person untergraben (und darum zu unterlassen sind). Interessanterweise sind Internalistinnen vom Begründungsproblem nicht betroffen. Denn bei ihnen sind bestimmte innere Vermögen ausschlaggebend für Autonomie; und wenn man zeigen könnte, dass diese Vermögen in normativer Hinsicht von Bedeutung sind, dann kann man die Unterlassung von Zwang, Manipulation oder Indoktrination darüber begründen, dass diese äußeren Eingriffe die Ausübung der inneren Vermögen beschränken oder diese Vermögen gar ganz außer Kraft setzen.44 Interne Bedingungen schei-
44 Allerdings haben wir in Kapitel 3 gesehen, dass Internalistinnen gerade Schwierigkeiten haben, die normative Bedeutung interner Bedingungen verständlich zu machen; schließlich war unklar, was an einer internalistischen konzipierten Autonomie so erstrebenswert – und damit auch schützenswert – sein sollte.
128 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien nen also grundsätzlich eher geeignet, den Unterschied zwischen konstitutiven Bedingungen der Autonomie und Bedingungen ihrer Verletzung einzufangen. Diese Überlegung kann dazu verleiten, historische Bedingungen für Autonomie in ein „internalistisches Gewand“ zu kleiden. John Christman schlägt zum Beispiel vor, dass es für Autonomie (unter anderem) darauf ankommt, was die Handelnde über den Prozess denkt, über den sie ihre handlungswirksamen Wünsche erworben hat – und ob sie sich dieser Erwerbsgeschichte widersetzt (oder widersetzen würde), sobald sie dazu Gelegenheit hat (oder hätte): „A person P is autonomous relative to some desire D if it is the case that P did not resist the development of D when attending to this process of development, or P would not have resisted that development had P attended to the process“ (Christman 1991, 11; Herv. i. Orig.).
Für Christman kommt es also darauf an, wie die handelnde Person zu der Erwerbsgeschichte ihrer Motive steht. Dabei müsse sie vom Vermögen der Selbstreflexion Gebrauch machen (sie muss über sich nachdenken). Das sei konstitutiv für Autonomie. Zwar ist Unabhängigkeit auch für Christman eine Bedingung für Autonomie („The lack of resistance to the development of D did not take place (or would not have) under the influence of factors that inhibit self-reflection“, Christman 1991, 11); aber im Gegensatz zu den zuvor diskutierten Bedingungen kann er diese Bedingung aus der Ausübung des Vermögens der Selbstreflexion ableiten (Zwang oder Manipulation behindern diese nämlich). Das Begründungsproblem stellt sich in Christmans „historischer“ Konzeption also nicht mehr ohne Weiteres. Auf diese Weise könnte man die Idee, dass die Vorgeschichte einer Person, Handlung oder Lebensweise einen Einfluss auf die Autonomie dieser Person hat, vielleicht doch noch retten. Nun, das mag sein. Aber es sollte klar sein, dass man in diesem Fall den Rahmen des externalistischen Projekts verlässt. Denn Christmans Bedingung, dass man von der Erwerbsgeschichte seiner Motive nicht entfremdet ist oder sie nicht ablehnt, ist eine interne Bedingung:45 Sie besagt, dass die Person eine bestimmte mentale Einstellung zu der Erwerbsgeschichte der eigenen Motive haben (oder eben nicht haben) muss. In dem Maße also, in dem nicht die Erwerbsgeschichte eines Motivs bzw. die Vorgeschichte einer Handlung oder Lebensweise selbst, sondern eine mentale Einstellung zu dieser Erwerbs- bzw. Vorgeschichte zählt, ist Autonomie eben kein reines Weltverhältnis mehr. Der Versuch, dem Begründungsproblem
45 Christmans Konzeption ist, wie ich in Kap. 5.2 (S. 148–148) noch genauer zeigen werde, am ehesten als eine bestimmte Form des Interaktionalismus zu verstehen. Diese benennt zwar auch externe Bedingungen für Autonomie, aber die hier diskutierte Bedingung, dass man von der Erwerbsgeschichte seiner Motive nicht entfremdet ist, gehört nicht dazu.
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zu entgehen, zieht die Externalistin somit wieder zurück in Richtung interner Bedingungen; dann kann sie These (I) des Trilemmas aber nicht länger leugnen. Ein solcher argumentativer Druck in Richtung interner Bedingungen ergibt sich auch aus der Überlegung, die Christmans Manöver der Einkleidung historischer Bedingungen in ein internalistisches Gewand erst motiviert. Es ist nämlich nicht der Fall, dass jede „autonomiebedrohende“ Vorgeschichte die Autonomie einer Person dann auch schlussendlich untergräbt. Erstens gibt es nämlich Personen, die sich bestimmten Prozeduren ganz bewusst unterwerfen, um an Autonomie zu gewinnen (vgl. Noggle 1995, 58): Odysseus ließ sich bekanntlich an den Mast seines Schiffes fesseln, um dem Gesang der Sirenen zu lauschen, ohne sich und seine Mannschaft ins Verderben zu navigieren; so manche Raucherin lässt sich hypnotisieren, um das Laster endlich aufzugeben (Ekstrom 2005, 145); und gelegentlich entscheidet man sich dafür, sich ganz gezielt sozialen Zwangs- oder Druckmechanismen auszusetzen, weil man sonst nicht das erreichen würde, was man wirklich will: Eine investigative Journalistin schließt sich einer Drückerkolonne an, um später über die Repressalien, denen die Mitarbeiterinnen ausgesetzt sind, berichten zu können. Dabei ist sie auch Zwangsmaßnahmen (wie Nahrungs- oder Schlafentzug) und Manipulationen (durch verhaltenspsychologische Schulungen) ausgesetzt, um ihre Erfolgsquote bei der Einwerbung von Zeitschriftenabonnements zu erhöhen. Aber die Journalistin will das alles wirklich erleben, um ihren Recherchen und Ergebnissen die nötige Qualität und Authentizität zu geben. Um die Neigung zum Aufschieben (Prokrastination) zu zähmen, kann es hilfreich sein, sich in eine Situation zu bringen, in der das Verfehlen des selbst gesteckten Ziels mit hohen Kosten einhergeht (Ariely und Wertenbroch 2002). So kann man beispielsweise die Festlegung auf ein Ziel (z. B. das Manuskript bis zum Ende des Monats fertigzustellen) im eigenen sozialen Umfeld verbreiten, oder seiner Vorgesetzten das Versprechen abringen, die eigene Anstellung nicht zu verlängern, wenn man bis Auslaufen der Vertrags das Manuskript nicht eingereicht hat. Beide Maßnahmen bauen – sofern man sich um einen „sozialen Gesichtsverlust“ oder seine Anstellung sorgt – zusätzlichen Druck auf, das entsprechende Projekt voranzubringen. Eine Person, die es sich in ihrem derzeitigen beruflichen Umfeld sehr bequem und gemütlich gemacht hat, die aber eigentlich mit ihrer Karriere weiter vorankommen möchte, kann sich ganz bewusst einem sehr kompetitiven, bedrückenden Umfeld bei einem anderem Arbeitgeber aussetzen, um ihre eigene Bequemlichkeit zu überwinden.
In all diesen Fällen sind gewisse Prozesse, die typischerweise für autonomiegefährdend gehalten werden, von der Person selbst gewählt, um Dinge wie Antriebslosigkeit oder Bequemlichkeit, die ihrer Autonomie im Weg stehen, zu überwinden. Darum scheint es demjenigen, der von solchen Mechanismen Gebrauch macht, trotz der „problematischen“ Genese der jeweiligen Handlungen oder Lebensweise, die aus diesen Prozessen resultieren, gar nicht an Autonomie zu mangeln; eher
130 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien sind dies Anzeichen einer guten Selbstkenntnis und Selbstkompetenz – und so gesehen geradezu Ausdruck von Autonomie. Das zeigt, dass es für die Autonomie einer Person oft auch darauf ankommt, wie die Person zu den vergangenen äußeren Einflüssen steht – ob sie sie bewusst in Kauf genommen hat, ob sie sie gutheißt oder ob sie sie gar für nötig erachtet. Genau diese Beobachtung motiviert Christmans Bedingung, dass nicht die Vorgeschichte per se, sondern die Einstellung der Person dazu von Bedeutung ist. Das heißt aber nichts anderes, als die Perspektive der Person, um deren Autonomie es geht, angemessen zu berücksichtigen. Insofern historisch externalistische Konzeptionen aber die Vorgeschichte für sich genommen als relevant betrachten, müssten sie die Personen in den oben genannten Beispielen hinsichtlich der Handlungen und Lebensweisen, die aus diesen problematischen Prozessen resultieren, als fremdbestimmt bezeichnen. Und das ist unplausibel. Dass nicht jede „autonomiebedrohende“ Vorgeschichte die Autonomie einer Person schlussendlich auch untergräbt, sieht man zweitens auch daran, dass Personen ihrer Vorgeschichte keineswegs hilflos ausgeliefert sind, sondern damit auf eine bestimmte Weise umgehen können. Etwas überspitzt gesagt legen historische Ansätze nämlich eine fatalistische Schlussfolgerung nahe: Wer auf eine bestimmte Weise (nämlich repressiv) erzogen wurde, wer durch elterlichen Druck in einen Beruf (Pianistin, Balletttänzerin oder die Führung des Familienbetriebs) gezwungen wurde oder subtil in die Rolle der genügsamen Hausfrau manipuliert wurde, für den ist der „Zug der Autonomie“ sozusagen abgefahren – eine Person mit der falschen Vorgeschichte kann ihre Autonomie nicht mehr zurückgewinnen. Wie schon bei den optionsbasierten Konzeptionen wird dieses Bild aber dem Phänomen der Resilienz nicht gerecht: Zwar kann man das, was in der Vergangenheit liegt, nicht ändern; aber man kann gegen die Einflüsse der Vorgeschichte, gegen die eigene Sozialisation und Erziehung ankämpfen (vgl. Young 1980, 573). Seine eigene repressive Erziehung kann man reflektieren; man kann bewusst nach Personen Ausschau halten, die einem dabei helfen, die Defizite (z. B. im Selbstund Weltvertrauen), die daraus entstanden sind, zu kompensieren; man kann sich einmal darin ausprobieren, wie es ist, nicht immer eine Leistungssklavin zu sein, die ihren Eltern gefallen will; und irgendwann gelingt es einem dann möglicherweise auch, sich ein Stück weit von seiner repressiven Sozialisation frei zu machen. Ebenso kann die Person, die aufgrund elterlichen Drucks in einem bestimmten Beruf gelandet ist, sich diesen zu eigen zu machen – selbst wenn man die Art und Weise, wie man zu dem Beruf gekommen ist, verabscheut; die Pianistin kann beispielsweise voll und ganz in ihrem Leben aufgehen, auch wenn sie ihre Eltern und Lehrer für die verlorene Kindheit und Jugend hasst („Sie hatten trotzdem das richtige Gespür für meine wahren Begabungen“). Wer sich dem Einfluss der eigenen Vorgeschichte auf diese Weise „widersetzt“, nimmt sein Schicksal
4.5 Soziale Konzeptionen: Beziehungen |
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selbst in die Hand und kann sich seine Biographie auch zu eigen machen; er ist seiner Vergangenheit nicht hilflos ausgeliefert. Und in diesen Fällen scheint die Tatsache, dass eine Handlung oder eine Lebensweise auf bestimmte Einflüsse in der Vergangenheit zurückgeht, die Autonomie gar nicht länger zu gefährden. Die beiden Überlegungen zeigen: Wie bereits optionsbasierte Autonomiekonzeptionen so laufen auch historische externalistische Ansätze Gefahr, die innere Perspektive der Person zu vernachlässigen. Inwiefern die Vorgeschichte einer Person für ihre Autonomie relevant ist, scheint davon abzuhängen, wie die Person zu dieser steht und wie sie mit ihr umgeht. Beides findet in einem rein externalistischen Rahmen keinen Platz. Fassen wir zusammen: Unabhängigkeit scheint keine konstitutive Bedingung für Autonomie zu sein. Sie beschreibt zwar, welche äußeren Umstände Einschränkungen oder Verletzungen von Autonomie sind. Aber die Abwesenheit dieser Umstände kann nicht konstitutiv für Autonomie sein, denn sonst könnte man erstens nicht unter Rückgriff auf Autonomie begründen, was an ihnen schlecht ist. Zweitens verliert man mit der Bedingung einer unabhängigen Vorgeschichte die innere Perspektive der Person, deren Autonomie in Frage steht, aus dem Blick: Wie schon bei den optionsbasierten Konzeptionen scheint es sehr darauf anzukommen, wie eine Person auf ihre Vorgeschichte blickt und mit dieser umgeht, doch das berücksichtigen historische externalistische Konzeptionen nicht. Aus diesen beiden Gründen lösen auch sie das Rätsel der Autonomie nicht.
4.5 Soziale Konzeptionen: Beziehungen Die vierte und letzte Spielart des externalistischen Projekts setzt am sozialen Rahmen an, in dem sich das Handeln und Leben von Personen so gut wie immer abspielt. Wie wir gesehen haben (Abschnitt 3.1, S. 71), können auch Internalistinnen zugestehen, dass soziale Bedingungen in kausalem Sinne „notwendig“ sind, um autonom zu sein: Personen können ohne ein soziales Umfeld gar nicht überleben; unsere Sozialisation ist also Voraussetzung dafür, dass wir erst zu Personen werden können, dass wir eine Sprache haben, dass wir Wertvorstellungen ausbilden können etc. (Friedman 2003, 12–15, 96; Kauppinen 2011, 256, 274). Aber für Internalistinnen sind es stets andere Faktoren (z. B. gewisse Vermögen), die die Autonomie der Person ausmachen; soziale Bedingungen tragen zu diesen Faktoren zwar bei oder sind ihnen abträglich, aber sie sind selbst nicht konstitutiv für Autonomie. Nach Ansicht der Externalistinnen, die eine soziale Konzeption von Autonomie vertreten, geht diese kausale Rolle aber nicht weit genug. Für sie sind soziale Bedingungen vielmehr konstitutiv für Autonomie:
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„there will thus be a social component built into the meaning of autonomy“ (Nedelsky 1989, 36; Herv. d. Verf.). „[A]utonomy is itself a socially constituted capacity, and because of this its development and exercise can be impaired by abusive or oppressive interpersonal relationships and by social and political environments characterized by oppression, injustice, and inequality“ (Mackenzie 2008, 519). „[A]utonomy is constituted by the nature of an agent’s social position“ (Santiago 2005, 101).
Die leitende Idee sozialer Konzeptionen ist also, dass bestimmte soziale Umstände für sich genommen die Selbst- oder Fremdbestimmung einer Person ausmachen. Es gibt drei Typen von sozialen Umständen: Erstens können damit die Verhältnisse auf der Ebene der gesamten Gesellschaft, in der sich eine Person bewegt, gemeint sein („P gehört (nicht) zu einer unterdrückten Minderheit“). Zweitens kann damit aber auch auf das Verhältnis zwischen nur zwei Personen („P wird (nicht) von ihrem Ehemann missachtet“) Bezug genommen werden. Und drittens kann das Verhältnis zwischen einer Person und einer Gruppe von Personen („Die Machtverhältnisse zwischen P und ihren Vorgesetzten sind (nicht) asymmetrisch“) gemeint sein. In allen drei Fällen sagen Bedingungen über die sozialen Umstände per definitionem stets etwas über andere Personen als nur die Person, deren Autonomie in Frage steht, und daher handelt es sich um externe Bedingungen: Es sind Bedingungen, die sich nicht ausschließlich über das Innenleben der betroffenen Person verstehen lassen. Bedingungen des ersten Typus („P gehört (nicht) zu einer unterdrückten Minderheit“) stehen vor dem Problem, den Bezug zu derjenigen Person herzustellen, um deren Autonomie es geht; denn Aussagen über die Verhältnisse auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sind keine allquantifizierten Sätze, sondern typischerweise statistische Aussagen: Sie besagen z. B., dass ein Mitglied einer gewissen Minderheit mit größerer Wahrscheinlichkeit diskriminierenden und unterdrückenden Verhaltensweisen oder Maßnahmen ausgesetzt ist als ein Mitglied einer anderen Bevölkerungsgruppe. Das heißt aber nicht, dass jede Person, die Mitglied dieser Minderheit ist, den Repressionen ausgesetzt ist: Der rumänische Parlamentarier und Dirigent Madalin Voicu wird in der rumänischen Gesellschaft geachtet, obwohl er zur in Rumänien (und leider nicht nur dort) unterdrückten und diskriminierten Minderheit der Roma gehört. Selbst wenn man also zugesteht, dass die soziale Unterdrückung und Diskriminierung einer Person deren Autonomie untergräbt, so folgt doch daraus, dass eine Person einer unterdrückten und diskriminierten Minderheit angehört, nicht auch, dass diese Person unterdrückt und diskriminiert wird. Wenn es um die konstitutiven Bedingungen personaler Autonomie geht, scheinen die sozialen Bedingungen nicht vom ersten Typus sein zu können. Vielmehr muss die soziale Interaktion, die die Autonomie einer Person befördert oder
4.5 Soziale Konzeptionen: Beziehungen |
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untergräbt, direkt auf diese Person gerichtet sein. Sie müssen, mit anderen Worten, Beziehungen zwischen einer Person und einer anderen Person oder Gruppen von anderen Personen beschreiben. Explizite Beschreibung solcher sozialen Beziehungen liegen in den Autonomiekonzeptionen von Oshana (1998, 2006, Kap. 4, 2014) und Anderson und Honneth (2005) vor.46 In Oshanas Konzeption muss eine autonome Person einen allgemeinen sozialen Status innehaben, der ihr Recht, zentrale Aspekte ihres Lebens selbst in die Hand zu nehmen, vor Übergriffen durch andere schützt (Oshana 2006, 84). Dazu gehören soziale Beziehungen, die der Person (a) ein Mindestmaß an sozialer und psychischer Sicherheit oder Geborgenheit schenken; die es ihr (b) ermöglichen, sich in ihren Zielen und Interessen von Personen abzugrenzen, die Einfluss und Autorität über sie haben; die ihr (c) keine unnötigen Verantwortlichkeiten für die Bedürfnisse anderer zuweisen; die sie (d) finanziell und materiell unabhängig lassen; und in denen sie (e) über ihre Fähigkeiten nicht fehlinformiert oder getäuscht wird (Oshana 2006, 86f.). In dieser Konzeption steht die Vorstellung im Vordergrund, eine autonome Person müsse in vielerlei Hinsicht „sozial unabhängig“ sein. Demgegenüber betonen Anderson und Honneth eher die Vorstellung, dass Personen in verschiedenen sozialen Beziehungen einander wechselseitig anerkennen und respektieren müssen: „[T]he conditions for autonomously leading one’s own life turn out to be dependent on the establishment of relationships of mutual recognition. Prominent among these relationships are (1) legally institutionalized relations of universal respect for the autonomy and dignity of persons [. . . ]; (2) close relations of love and friendship [. . . ]; and (3) networks of solidarity and shared values within which the particular worth of members of a community can be acknowledged [. . . ]“ (Anderson und Honneth 2005, 131f.).
Wie sind diese sozialen Konzeptionen im Hinblick auf die Lösung des Problems der Autonomie einzuschätzen? Gerade angesichts der praktischen „befreienden“ Funktion, die der Autonomiebegriff für die Gestaltung von Politik und Gesellschaft hat, ist es sicher richtig, bei der Entwicklung einer Autonomiekonzeption soziale Bedingungen zu berücksichtigen. Es ist allerdings fraglich, ob soziale externalistische Konzeption dies in der richtigen Weise tun. Denn erstens stellt sich das Begründungsproblem auch hier: Oshanas Bedingung, die autonome Person müsse einen sozialen Status innehaben, der ihr Recht, zentrale Aspekte ihres Lebens selbst in die Hand zu nehmen, vor Übergriffen durch andere schützt, beschreibt beispielsweise eher die Abwesenheit von Autonomieverletzungen: Wer jemandes Recht, zentrale Aspekte seines Lebens selbst in die Hand zu nehmen, beschneidet, 46 Beide Konzeptionen enthalten jeweils noch weitere Bedingungen und sind darum keine rein sozialen Autonomietheorien.
134 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien vergeht sich an dessen Autonomie. Aber wenn man die Abwesenheit von Autonomieverletzungen als konstitutiv für Autonomie erachtet, handelt man sich dasselbe Problem ein wie historische Ansätze: Man kann nicht mehr ohne Weiteres begründen, was an Autonomieverletzungen schlecht sein soll.47 Soziale Konzeptionen sind hier auf eine bereits vorgängig – d. h. ohne konstitutive soziale Bedingungen – spezifizierte Autonomiekonzeption angewiesen, um verständlich zu machen, warum bestimmte soziale Beziehungen Verletzungen von Autonomie sind. Diese Abhängigkeit von einer Autonomiekonzeption, die ohne soziale Bedingungen auskommt, sieht man in Oshanas Konzeption auch recht explizit: Eine der für Autonomie „notwendigen“ Arten von Beziehungen soll der Person ein Mindestmaß an sozialer und psychischer Sicherheit oder Geborgenheit schenken. Dieses Mindestmaß bestimmt sie wie folgt: „The minimum level of security necessary for autonomy is whatever it takes for an individual to shield herself against [. . . ] and to challenge the arbitrary attempts of others to deprive her of the de facto and de jure power and authority characteristic of global autonomy, where and when such attempts arise, without undue cost“ (Oshana 2006, 86; letzte Herv. d. Verf., übrige Herv. i. Orig.).
Doch das setzt gerade voraus, dass man die für personale Autonomie charakteristische Form der Autorität bereits kennt. Und diese Form der Autorität kann selbst nicht durch soziale Beziehungen konstituiert sein (jedenfalls nicht durch die Beziehungen, zu deren Explikation sie dient), denn das wäre eine zirkuläre Charakterisierung. Zweitens haben zumindest einige soziale Konzeptionen ein Symmetrieproblem: Wenn wie bei Anderson und Honneth (2005) die sozialen Bedingungen nämlich generisch beschrieben werden – wenn also allein die Tatsache, dass innerhalb einer Gesellschaft bestimmte Sozialisierungsprozesse, Ungleichheiten oder asymmetrische Machtverhältnisse bestehen, konstitutiv für Autonomie wäre –, dann mangelte es allen Personen an Autonomie, die unter diesen Bedingungen leben und handeln. Doch das ist ganz offensichtlich unplausibel, denn es würde bedeuten, dass z. B. nicht nur Frauen durch eine bestimmte Form der Sozialisierung, in der falsche Normen der Weiblichkeit und Männlichkeit sowie bestimmte Rollenbilder geprägt werden, ihrer Autonomie beraubt werden, sondern in gleicher Weise auch die Männer: Auch sie gelangen ja zu denselben sexistischen Wertvorstellungen und sind insofern ebenfalls „Opfer“ dieser Sozialisierung (vgl. Benson 1991, 403; Meyers 1987, 624; Santiago 2005, 84). Und wenn allein die Tatsache, 47 Jedenfalls kann man das nicht, solange man nicht weitere Autonomiebedingungen hinzunimmt; da sowohl Oshana als auch Anderson und Honneth dies jedoch tun, haben sie hier argumentative Ressourcen, über die eine rein soziale externalistische Konzeption nicht verfügt.
4.5 Soziale Konzeptionen: Beziehungen |
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dass es Ungleichheit oder keine „legally institutionalized relations of universal respect“ (Anderson und Honneth 2005, 131) gibt, ausschlaggebend für die Frage der Autonomie wäre, dann wären die Bessergestellten und die Geachteten ebenso heteronom wie die Schlechtergestellten und Missachteten. Diese Konsequenz widerspricht der intuitiven Beurteilung der Fälle allerdings deutlich. Wenn die sozialen Bedingungen also generischer Art sind und Autonomie(verluste) allein an einer bestimmten sozialen Beziehung und nicht an einer Position innerhalb einer Beziehung festgemacht werden, scheitern soziale Konzeptionen an diesem Symmetrieproblem. Doch für die sozialen Konzeptionen, in denen die sozialen Autonomiebedingungen nicht generisch beschreiben werden und in denen Autonomie unmittelbar an eine Position innerhalb einer Beziehung gekoppelt wird, stellt sich ein drittes Problem: Sie vernachlässigen die innere Perspektive der Person, indem sie die Autonomie der Person zum bloßen Spielball sozialer Verhältnisse machen. Das zeigt sich zum einen daran, dass das Problem mit der Individualität von Personen wieder auftaucht: An der Charakterisierung von Anderson und Honneth beispielsweise sieht man, dass eine Eremitin oder eine „Aussteigerin“, die weder in institutionalisierten Beziehungen zu anderen Menschen steht noch Liebesbeziehungen oder Freundschaften unterhält noch auf solidarische Netzwerke zurückgreift, als heteronom gelten müsste. Vielleicht ist das eremitenhafte, autarke Leben nicht das beste, das man sich wünschen kann, aber im Hinblick auf die Autonomie kann ich keinen Mangel erkennen. Ebenso erfüllen eine radikal-ökologische Studentin, der sich freiwillig von den Abfällen der Überflussgesellschaft bzw. unverkauften Restposten der Supermärkte ernährt, oder der Hausmann, der auf seine berufliche Laufbahn verzichtet, um die Kinder groß zu ziehen und den Haushalt zu führen, Oshanas Bedingung der finanziellen und materiellen Unabhängigkeit nicht, aber sie sind darum nicht unbedingt fremdbestimmt. Soziale Konzeptionen scheinen somit vor dem Problem zu stehen, genügend Platz für Individualität zu schaffen: Je gehaltvoller und genauer man die sozialen Beziehungen beschreibt, desto enger wird der Spielraum für individuelle Lebensentwürfe.48 Dass soziale Konzeptionen, die Autonomie an einer bestimmten Position innerhalb einer Beziehung festmachen, die innere Perspektive der Person vernachlässigen, zeigt sich zum anderen auch daran, dass das Problem mit der Resilienz von Personen wieder auftaucht. Dass Autonomie als eine direkte Funktion der sozialen Umstände konzipiert wird, impliziert nämlich auch, dass eine selbstbestimmte Person fremdbestimmt wird (oder umgekehrt), sobald sie den sozialen Kontext
48 Und wie wir bereits gesehen haben, gilt auch: Je generischer man die sozialen Bedingungen beschreibt, desto weniger relevant werden die sozialen Bedingungen für die einzelne Person.
136 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien wechselt: Wenn eine Schwedin (als eine Frau, die aus einem Land mit verhältnismäßig fortschrittlicher Gleichstellungspolitik stammt) nach Saudi-Arabien zieht, so verändern sich ihre Lebensverhältnisse zweifelsohne enorm; aber es scheint keineswegs ausgemacht, dass sie mit dem Ausstieg aus dem Flugzeug zugleich ihre Selbstbestimmung verliert. Plausibler scheint es, davon auszugehen, dass die Schwedin bestimmte Fähigkeiten besitzt, mit deren Hilfe sie sich gegen Diskriminierungen, Benachteiligungen, Anfeindungen und Unterdrückungsversuche zur Wehr setzen kann und sich so ihre Umwelt an ihrem neuen Wohnsitz auch ein Stück weit selbst gestalten kann. Dieses Merkmal der Resilienz, das bereits den vorherigen externalistischen Positionen zum Problem wurde, findet gerade im Zusammenhang mit sozialen Bedingungen paradigmatische Ausdrucksformen (vgl. Benson 2005a, 131; Meyers 2000a, 479): „[E]normous numbers of people are assigned to social groups that are systematically subordinated. The wonder is that despite this subordination, some of these individuals are exemplars of autonomy, and few of them altogether lack autonomy. There are autonomous dissenters and revolutionaries and legions of individuals who autonomously craft private lives within the confines of oppressive regimes. [. . . ] Horrible as they are, social and economic structures that funnel individuals into a preordained status, that regiment their life trajectories, and that penalize nonconformity need not defeat autonomy“ (Meyers 2000b, 152).
Nun könnte eine Vertreterin einer sozialen Konzeption einwenden, dass sich Resilienz in vielen Kontexten nicht auf Dauer aufrecht erhalten lässt: Es koste einfach Kraft, ständig gegen den Strom zu schwimmen, Widerstände stets aufs Neue zu brechen und für seine Rechte einzustehen. Und darum würden gewisse soziale Umstände letztlich doch die Autonomie der Person untergraben. Irgendwann verliere die Schwedin ihre Autonomie also doch. Das mag zwar so sein, aber das ist eine empirische Behauptung und es ist keineswegs notwendigerweise so. Es bleibt stets denkbar, dass eine Person ihren Widerstand aufrecht erhält, auch wenn es zunehmend schwerer fallen mag.49 Und solange das stets denkbar bleibt, sind soziale Bedingungen nicht konstitutiv für Autonomie, sondern bloß kausal relevant. Doch das ist, wie wir eingangs dieses Abschnitts gesehen haben, keine externalistische Position mehr; denn für die Externalistin trägt ein bestimmtes (in diesem Fall: soziales) Weltverhältnis nicht bloß zur Autonomie einer Person bei, es macht ihre Autonomie aus. Der kausale Beitrag sozialer Verhältnisse lässt sich – jedenfalls grundsätzlich – auch innerhalb eines internalistischen Rahmens einfangen.
49 Diese Ansicht teilt auch Kauppinen (2011, 276): „[I]t is surely not impossible that there could be self-respecting slaves who have never been respected by others“.
4.6 Das grundsätzliche Problem des Externalismus |
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Sowohl im Problem der Resilienz als auch im Problem mit der Individualität klingt die Herausforderung der inneren Perspektive nach: Indem soziale Konzeptionen Autonomie als direkte Funktion der sozialen Verhältnisse konzipieren, übersehen sie, welche individuellen Voraussetzungen die jeweilige Person mitbringt, wie sie auf ihre soziale Umgebung blickt und sie mitgestaltet. So liefern auch soziale Konzeptionen angesichts der Herausforderung der inneren Perspektive, dem Symmetrie- und dem Begründungsproblem keine überzeugende Antwort auf das Problem der Autonomie.
4.6 Das grundsätzliche Problem des Externalismus Die externalistische Lösungsstrategie kann verschiedene Formen annehmen; ich hatte eingangs vier Anknüpfungspunkte unterschieden und dann zu zeigen versucht, dass jede von einem dieser Punkte ausgehende Ausarbeitung einer externalistischen Autonomiekonzeption mit verschiedenen Schwierigkeiten zu kämpfen hat: – Substanzielle Konzeptionen spezifizieren den Gehalt der Handlungen und Lebensweisen einer autonomen Person; sie scheitern daran, dass sie Erfahrungen der Fremd- und Selbstbestimmung mit ganz anders gelagerten Phänomenen (moralisches Handeln, vernünftiges Verhalten, gelungenes Leben) verwechseln und dass sie keinen Spielraum für Individualität lassen. – Optionsbasierte Konzeptionen geben Bedingungen an, denen der Raum der verfügbaren Alternativen genügen muss; sie stehen vor der Herausforderung der inneren Perspektive: Die Adäquatheit des Handlungsspielraums lässt sich nur durch Rückgriff auf das Innenleben der Person bestimmen (explanatorische Priorität); Personen sind dem Handlungsspielraum nicht einfach ausgeliefert (Resilienz); Optionenvielfalt kann der Autonomie auch im Weg stehen (fetischisierte Offenheit); Personen reagieren innerlich auf Autonomieverluste oft anders als auf Verluste von Optionen; und viele innere Barrieren für Autonomie werden über den Handlungsspielraum nicht erfasst. – In historischen Konzeptionen muss die Entscheidung oder Lebensweise einer autonomen Person eine unabhängige Vorgeschichte haben; auch sie sind der Herausforderung der inneren Perspektive ausgesetzt und haben ein Begründungsproblem, weil sie nicht unterscheiden können zwischen den für Autonomie konstitutiven Bedingungen, die sicherstellen, dass eine Person autonom ist, und den Bedingungen für die Achtung von Autonomie, die sicherstellen, dass Autonomie nicht verletzt wird. – Soziale Konzeptionen erachten bestimmte soziale Verhältnisse als konstitutiv für Autonomie; neben dem Symmetrieproblem handeln sie sich mehrere Pro-
138 | 4 Ein reines Weltverhältnis? Externalistische Theorien bleme der anderen externalistischen Spielarten ein: das Begründungsproblem, das Problem mit der Individualität und der inneren Perspektive. Verdichtet man diese Argumente, so lässt sich das grundlegende Problem des Externalismus folgendermaßen verstehen: Die externalistische Lösungsstrategie lehnt These (I) des Trilemmas ab und bestreitet damit, dass Autonomie einem Selbstverhältnis ähnelt. Das führt dazu, dass im Externalismus alles, was an Autonomie etwas mit der Idee des Selbst zu tun hat, nicht richtig erfasst wird: Mal gibt es keinen Raum für Individualität; mal wird übersehen, dass man sich selbst im Weg stehen kann, dass man an sich selbst scheitern kann oder dass man sich selbst auch im Hinblick auf die eigene Autonomie der ärgste Feind sein kann (das wurde beispielsweise in der fetischisierten Offenheit deutlich); mal sehen Externalistinnen nicht, dass es vom Selbstverhältnis abhängt, ob ein äußerer Umstand die Autonomie einer Person tatsächlich untergräbt oder nicht (explanatorische Priorität des Innenlebens). Und schließlich gerät völlig aus dem Blick, dass Autonomie weniger in einer Konfiguration der äußeren Welt zu bestehen scheint als vielmehr darin, wie man auf die Welt reagiert, wie man sich mit ihr auseinandersetzt und wie man sie gestaltet (Resilienz): Wir sind unserer Umwelt nicht einfach hilflos ausgeliefert und müssen uns weder mit unserem Handlungsspielraum noch mit unserer Vorgeschichte oder unserem sozialen Umfeld einfach abfinden. Das grundsätzliche Problem der externalistischen Lösungsstrategie besteht also darin, dass sie lediglich gewisse äußere Bedingungen für Autonomie spezifiziert, es für die Autonomie der Person aber darauf ankommt, wie sich diese äußeren Bedingungen eigentlich aus Sicht der betreffenden Person darstellen. Die beschriebenen Schwierigkeiten, zu denen dies führt, scheinen mir so fundamental zu sein, dass die Vorstellung, Autonomie könne ein reines Weltverhältnis sein, sich bei näherer Betrachtung als unhaltbar erweist: Sie ist einfach allzu weit von unserem vortheoretischen Verständnis von Selbstbestimmung entfernt.50 Der vollständige Verzicht auf die Idee des Selbst, auf These (I) des Trilemmas, scheint somit wenig aussichtsreich. Wenn man aber auf These (I) nicht verzichten kann, und wenn man – wie die Auseinandersetzung mit der internalistischen Strategie gezeigt hat – auch auf These (II) nicht verzichten kann, dann kann man das Rätsel der Autonomie nur noch lösen, indem man These (III) aufgibt. Und das heißt, dass man die
50 Da die Probleme so fundamental sind, wundert es auch nicht, dass einige der externalistischen Varianten die grundlegenden Adäquatheitsbedingungen aus Kapitel 1 weit verfehlen: Substanzielle Konzeptionen legen aufgrund des Konfundierungsproblem gar keine Schärfung des Autonomiebegriffs vor; und historische Konzeptionen können, wie das Begründungsproblem zeigt, dem praktischen Erkenntnisinteresse nicht gerecht werden.
4.6 Das grundsätzliche Problem des Externalismus |
139
Unterschiede zwischen Selbst- und Weltverhältnis leugnen und beides einander angleichen muss. Tatsächlich wird dieser Gedanke durch einige der vorherigen Überlegungen auch nahegelegt: Das Phänomen der Resilienz verweist darauf, dass es für Autonomie offenbar auch darauf ankommt, wie Personen ihr soziales Umfeld gestalten, wie sie mit ihrer Vorgeschichte umgehen und wie sie ganz allgemein mit der Welt, die sie umgibt, interagieren. Autonomie wäre demnach ein bestimmtes Zusammenspiel von „Innerlichkeit“ und „Äußerlichkeit“. Um diese Auffassung geht es im folgenden Kapitel.
5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien Die dritte Standardstrategie versucht das Rätsel der Autonomie zu lösen, indem sie die These (III) des Trilemmas – d. h. die Überzeugung von der grundsätzlichen Verschiedenheit und der daraus folgenden grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Selbst- und Weltverhältnissen – aufgibt. Da diese Strategie an den Thesen (I) und (II) festhält, gesteht sie zu, dass personale Autonomie in gewisser Hinsicht einem Selbstverhältnis und in gewisser Hinsicht auch einem Weltverhältnis ähnelt; sie streitet jedoch ab, dass diese Ähnlichkeiten grundverschieden und inkompatibel sind. Der Gegensatz, der die bisherigen Überlegungen leitete – die Gegenüberstellung von Selbst und Welt –, ist nach dieser Auffassung nämlich überzeichnet: Weder sind Personen vollständig von der Welt gelöste Entitäten, noch ist die Welt etwas, das unabhängig von Personen besteht. Vielmehr gestalten Personen die Welt mit und die Welt wirkt auf Personen zurück. Personen und ihre äußere Welt stehen somit in einem wechselseitigen Verhältnis. Und Autonomie besteht gemäß der letzten systematisch vertretbaren Gruppe von Autonomiekonzeptionen gerade darin, dass sich eine Person auf eine bestimmte Weise in Beziehung setzt zur Welt, die sie umgibt. Die Autonomie einer Person wäre dann weder allein in einer Konfiguration der äußeren Welt (einem reinen Weltverhältnis) noch allein in einer Konfiguration der inneren Welt (einem reinen Selbstverhältnis) zu finden, sondern vielmehr in einer Interaktion zwischen innerer und äußerer Welt: „[P]ersonal autonomy is constituted by the manner in which an agent engages with and is able to engage with her social world“ (Santiago 2005, 92). Wenn Autonomie in einem derartigen Zusammenspiel von Selbst und Welt bestünde, dann ähnelte sie eben in gewisser Hinsicht einem Selbst- und in gewisser Hinsicht auch einem Weltverhältnis, ohne dass zwischen den Hinsichten ein unüberwindbarer Gegensatz bestünde. In diesem Kapitel möchte ich prüfen, ob die interaktionalistische Strategie das Rätsel der Autonomie befriedigend löst.
5.1 Das interaktionalistische Projekt Die interaktionalistische Strategie lässt sich aus der dialektischen Situation der bisherigen Überlegungen leicht motivieren: Zum einen hat sich gezeigt, dass die einzige verbleibende Möglichkeit, das Problem der Autonomie zu lösen, darin besteht, These (III) zu leugnen. Die beiden gescheiterten Strategien des Internalismus und Externalismus hatten schließlich gemeinsam, dass sie an der grundsätzlichen Verschiedenartigkeit (und der darauf aufbauenden Unvereinbarkeit) von Selbst-
5.1 Das interaktionalistische Projekt |
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und Weltverhältnissen festgehalten haben, und vielleicht lassen sich ihre Schwierigkeiten umgehen, wenn man diese gemeinsame Annahme – also These (III) – aufgibt. Zum anderen hat die Auseinandersetzung mit dem internalistischen und externalistischen Projekt auch gezeigt, dass beide Ansätze jeweils ein „Prioritätsargument“ für sich in Anspruch nehmen können: Internalistinnen haben darauf hingewiesen, dass in Bezug auf die Autonomie einer Person ihre innere Verfassung (bzw. ihr Innenleben) in epistemischer und explanatorischer Hinsicht Vorrang vor der Beschaffenheit der äußeren Welt hat (vgl. S. 71); und Externalistinnen haben darauf hingewiesen, dass die innere Verfassung nur unter gewissen äußeren Normalitätsbedingungen überhaupt einen Unterschied für die Autonomie einer Person machen kann (vgl. S. 101). Das legt den Gedanken nahe, dass man für eine angemessene Autonomiekonzeption einfach beides braucht: sowohl Bedingungen, die das Innenleben einer Person charakterisieren, als auch Bedingungen, welche die Welt, die eine Person umgibt, beschreiben. Doch wenn man dieser Auffassung ist, dann kann man nicht länger die Ansicht vertreten, dass Autonomie nicht zugleich einem Selbst- und einem Weltverhältnis ähneln kann – denn offenbar hat Autonomie ja „von beidem etwas“. Die internalistischen und externalistischen „Prioritätsargumente“ bringen somit einen gewissen argumentativen Druck mit sich, These (III) des Trilemmas aufzugeben. These (III) aufzugeben heißt, den Gegensatz zwischen Selbst- und Weltverhältnissen aufzugeben oder zumindest abzuschwächen, denn nur so kann man daran festhalten, dass Autonomie einem Selbst- und zugleich auch einem Weltverhältnis ähnelt. Die grundsätzliche Verschiedenartigkeit von Selbst- und Weltverhältnissen in These (III) wurde in der bisherigen Diskussion anhand von zwei disjunkten, aber zusammen erschöpfenden Klassen von Bedingungen für personale Autonomie – interne und externe – verstanden: Jede Bedingung für Autonomie ist entweder eine interne oder eine externe; aber wenn eine Bedingung eine interne ist, kann sie keine externe sein und umgekehrt (vgl. S. 101).51 Da sowohl Internalistinnen
51 Das ergab sich aus der Charakterisierung der beiden Arten von Bedingungen: Ich bin davon ausgegangen, dass man für jede in einer Autonomiekonzeption genannte Bedingung B fragen kann, ob B eine Aussage ist, die allein das Vorliegen (bzw. die Abwesenheit) eines mentalen Zustands (bzw. Vermögens) einer Person oder allein das Vorliegen (bzw. die Abwesenheit) eines Gefüges von mentalen Einstellungen (bzw. von Vermögen) betrifft. Die Antwort darauf kann nur „Ja“ oder „Nein“ lauten. Lautet die Antwort „Ja“, dann (und nur dann) handelt es sich bei B um eine interne Bedingung. Lautet die Antwort hingegen „Nein“, dann (und nur dann) handelt es sich bei B um eine externe Bedingung. In diesem begrifflichen Rahmen gibt es bei der Schärfung des Autonomiebegriffs zwei disjunkte und zusammen erschöpfende Klassen von Bedingungen: Die eine Klasse (der internen Bedingungen) beschreibt Selbstverhältnisse, die andere Klasse (der externen Bedingungen) beschreibt Weltverhältnisse, jede mögliche Bedingung fällt in eine der beiden Klassen und beide Klassen überschneiden sich nicht.
142 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien als auch Externalistinnen an dem Gegensatz zwischen Selbst- und Weltverhältnissen und damit These (III) festhielten, enthielten ihre Konzeptionen jeweils nur eine Klasse von Bedingungen: Der Internalismus war der Auffassung, dass für die Autonomie einer Person ausschließlich interne Bedingungen relevant sind, während der Externalismus als die Position definiert wurde, nach der allein externe Bedingungen relevant für die Autonomie einer Person sind. Die Ablehnung von (III) kann man nun auf zwei Weisen verstehen: In einer ersten Variante könnte eine Interaktionalistin die Position vertreten, dass Selbstverhältnisse und Weltverhältnisse zwar grundsätzlich voneinander unterscheidbare (und insofern „verschiedene“), aber keine unvereinbaren Dinge sind; demnach seien Verhältnisse, die man zu sich selbst eingeht, und die Verhältnisse in der äußeren Welt zwar verschieden, aber das impliziere – anders als (III) behauptet – nicht, dass sie sich gegenseitig ausschließen. In Bezug auf die Unterscheidung zwischen internen und externen Bedingungen bedeutet dies, dass die erste interaktionalistische Strategie zwar daran festhält, dass es diese beiden Klassen von Bedingungen gibt und dass diese auch disjunkt sind; aber sie behauptet darüber hinaus, dass eine Schärfung des Autonomiebegriffs Bedingungen aus beiden Klassen enthalten muss. Die beiden Klassen von Bedingungen sind demnach voneinander unterscheidbar, aber nicht inkompatibel: Autonomiebedingungen des einen Typs können – anders als im Internalismus und im Externalismus – neben Autonomiebedingungen des anderen Typs bestehen. Gemäß dieser ersten interaktionalistischen Variante besteht eine Schärfung des Autonomiebegriffs somit aus zwei separaten Komponenten: Ein „Teil“ des Begriffs beschreibt ein Selbstverhältnis und ein anderer „Teil“ des Begriffs beschreibt ein Weltverhältnis. Damit entspricht diese Variante des Interaktionalismus dem in Abschnitt 3.1 eingeführten Grundschema (Sgrund ) (vgl. S. 69): (Sgrund )
Die Person P ist genau dann autonom, wenn P in Selbstverhältnis S steht und wenn die Verhältnisse in der Welt, die P umgibt, auf die Weise W beschaffen sind.
Da das Selbstverhältnis S mittels einer Menge I(P) von auf P zutreffenden internen Bedingungen beschrieben wird und das Weltverhältnis W mittels einer Menge von von auf P zutreffenden externen Bedingungen E(P) beschrieben wird, erhält man somit dasjenige Schema, nach dem die erste Variante des Interaktionalismus den Begriff Autonomie schärft: Das interaktionalistische Schema (konjunktive Variante) (Skonj )
Die Person P ist genau dann autonom, wenn I(P) und E(P).
5.1 Das interaktionalistische Projekt |
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Da dieses Schema die logische Form einer Konjunktion hat, werde ich die erste interaktionalistische Position im Folgenden die „konjunktive Variante des Interaktionalismus“ nennen. Nach ihr sind zwei (vollständig voneinander separierbare) Komponenten für eine gelungene Schärfung des Autonomiebegriffs je notwendig und zusammen hinreichend. Aufgabe der Interaktionalistin, die die konjunktive Spielart vertreten möchte, ist es dann, das fragliche Selbstverhältnis und das fragliche Weltverhältnis genauer zu benennen. Autonomie könnte dieser Ansicht nach zum Beispiel darin bestehen (vgl. Dworkin 1988), dass man sich mit seiner Entscheidung oder Lebensweise identifiziert (eine interne Bedingung, die ein Selbstverhältnis zum Ausdruck bringt) und dass man auf unabhängige Weise zu dieser Identifikation gekommen ist (eine historische, externe Bedingung, die ein Weltverhältnis zum Ausdruck bringt). Man kann die Ablehnung von These (III) aber auch noch anders verstehen. Demnach ist es nicht so, dass man (wie die konjunktive Variante) zunächst zugesteht, dass es zwei separate Komponenten gibt, um dann zu leugnen, dass sie untereinander unvereinbar sind; vielmehr kann man bereits leugnen, dass es überhaupt zwei separierbare Komponenten gibt. Wenn sich Selbst- und Weltverhältnis nämlich gar nicht in der in (III) vorausgesetzten Weise voneinander differenzieren ließen, so gäbe es auch gar nichts, was untereinander inkompatibel sein könnte. Nach dieser zweiten interaktionalistischen Position macht es sozusagen gar keinen Sinn, den Autonomiebegriff in zwei Teile aufzuspalten; vielmehr sind die Aspekte, die Autonomie einem Selbstverhältnis ähnlich erscheinen lassen, untrennbar verwoben mit den Aspekten, die Autonomie eher einem Weltverhältnis ähnlich erscheinen lassen. Diese Ansicht impliziert, dass es – anders als in der bisherigen Diskussion vorausgesetzt – gar nicht zwei disjunkte (und zusammen erschöpfende) Klassen von internen und externen Bedingungen für personale Autonomie gibt,52 und dass sich die Frage, anhand derer ich bislang zwischen internen und externen Bedingungen differenziert habe – die Frage, ob eine Bedingung allein das Vorliegen (bzw. die Abwesenheit) eines mentalen Zustands (bzw. Vermögens) einer Person oder allein das Vorliegen (bzw. die Abwesenheit) eines Gefüges von mentalen Einstellungen (bzw. von Vermögen) betrifft – gar nicht sinnvoll stellen oder beantworten lässt. Die Interaktionalistin könnte beispielsweise der Auffassung sein, dass die in Frage kommenden mentalen Zustände bzw. Vermögen sozial konstituiert und auf diese Weise untrennbar mit der sozialen Welt verwoben sind. Wenn man These (III) in dieser Variante ablehnt, muss man genauer ausbuchstabieren, was
52 Denn wenn man jede vorgeschlagene Bedingung entweder der Klasse der internen oder der Klasse der externen Bedingungen zuordnen könnte, dann ließe sich Autonomie stets im Sinne des konjunktiven Schemas (Skonj ) schärfen.
144 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien mit dieser besonderen Verwobenheit gemeint ist (mehr dazu in Abschnitt 5.3). Wie auch immer dies geschieht: Die Interaktionalistin führt damit eine neue Klasse von Bedingungen für personale Autonomie ein; diese „interaktionalistischen“ Bedingungen sind irreduzibel, insofern sie sich gerade nicht in zwei Komponenten aufspalten und als eine Konjunktion aus internen und externen Bedingungen verstehen lassen. Man könnte auch sagen, dass es Bedingungen von ganz eigener Art (sui generis) sind. Wer Bedingungen eigener Art einführt, steht vor der Herausforderung, deren Natur genau verständlich zu machen – immerhin gleichen die neuartigen Bedingungen ja keiner der beiden Klassen von Bedingungen, die in der Autonomiedebatte und vortheoretisch als paradigmatisch angesehen werden. Die zweite interaktionalistische Position muss also eine etwas ausgefeiltere Erklärung für die besondere Natur dieser interaktionalistischen Bedingungen geben. Daher werde ich die zweite interaktionalistische Position im Folgenden die „ausgefeilte (elaborierte) Variante des Interaktionalismus“ nennen. Gemäß dem ausgefeilten Interaktionalismus lässt sich Autonomie nicht nach (Sgrund ) bzw. (Skonj ) schärfen; vielmehr genügt eine befriedigende Schärfung dem folgenden Schema (wobei B(P) dafür steht, dass eine Menge von interaktionalistischen Bedingungen sui generis auf P zutrifft): Das interaktionalistische Schema (ausgefeilte Variante) (Selab )
Die Person P ist genau dann autonom, wenn B(P)
B(P) wird etwas damit zu tun haben, wie sich die Person zur sie umgebenden Welt in Beziehung setzt bzw. wie sie mit der äußeren Welt interagiert. Die Aufgabe für eine Vertreterin des ausgefeilten Interaktionalismus besteht dann darin, diese Weise der Interaktion genauer zu bestimmen und zu zeigen, dass sich diese Interaktion nicht als ein Konjunktion von Selbst- und Weltverhältnis verstehen lässt. Autonomie könnte gemäß dieser Auffassung beispielsweise (u. a.) darin bestehen, dass eine Person offen für neue Erfahrungen ist und mit diesen auf vernünftige Weise umgeht (vgl. Blöser, Schöpf und Willaschek 2010); diese Bedingung lässt sich nicht (jedenfalls nicht offenkundig) als eine bloße Konjunktion von bestimmten Verhältnissen in der Welt und einer bestimmten inneren Verfassung analysieren, sondern beschreibt eine Art und Weise, mit der äußeren Welt umzugehen und sich dazu in Beziehung zu setzen. Insofern dabei eine Rolle spielt, was die Person mit sich macht (wie sie sich, ihre Werte und Überzeugungen zum Beispiel verändert, wenn sie neue Erfahrungen macht), ähnelt diese Bedingungen einem Selbstverhältnis; und insofern die Auseinandersetzung mit sich wesentlich durch Ereignisse in der äußeren Welt initiiert ist und gewissen inhaltlichen Maßstäben der Richtigkeit genügen muss (es geht schließlich um einen „vernünftigen“ Umgang mit den neuen
5.1 Das interaktionalistische Projekt |
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Erfahrungen), ähnelt die Bedingung einem Weltverhältnis. Autonomie ähnelte in dieser Perspektive somit beidem, ohne als Konjunktion von beidem verstanden werden zu können. Eine andere, bereits vertraute Kandidatin für die gesuchte ausgefeilt interaktionalistische Bedingung ist die Resilienz (vgl. S. 117, 130 und 135): Auch dabei kommt es darauf an, wie eine Person mit Veränderungen in ihrem äußeren Umfeld (ihrem Handlungsspielraum, ihrer Vorgeschichte oder ihrer sozialen Umgebung) umgeht. Das setzt gewisse innere Einstellungen (etwa die Bereitschaft, für seine Rechte einzustehen) voraus und ähnelt insofern einem Selbstverhältnis; es setzt aber auch gewisse Gegebenheiten in der äußeren Welt (nämlich Einflüsse, die die eigene Entwicklung gefährden) voraus und ähnelt insofern einem Weltverhältnis. Doch Resilienz ist nicht bloß eine innere Einstellung (etwa Trotz) plus eine bestimmte Gegebenheit der äußeren Welt (etwa Unterdrückungsversuche). Vielmehr ist es ein aktiver Versuch, die Gegebenheiten der äußeren Umwelt (durch politisches Engagement, durch Proteste etc.) zu verändern; dieser Versuch der „Gestaltung der Welt durch das Selbst“ lässt sich scheinbar nicht einfach als eine Konjunktion analysieren. So wie bei der Offenheit für neue Erfahrungen scheinen interne und externe Aspekte auch bei dem Phänomen der Resilienz eine Art „Amalgam“ zu bilden. Es gibt somit zwei Lesarten der Ablehnung von These (III): Nach der einen Lesart ist es zwar richtig, dass Selbst- und Weltverhältnisse verschieden sind, aber falsch, dass sie darum inkompatibel sind. Nach der anderen Lesart ist es falsch, dass Selbst- und Weltverhältnis von grundsätzlich verschiedener Art sind, weil es gar nicht zwei verschiedene Dinge gibt, die von grundsätzlich verschiedener Art (und darum untereinander inkompatibel) sein könnten. Dementsprechend muss man auch zwei Varianten der interaktionalistischen Strategie unterscheiden: die konjunktive Variante einerseits, nach der Autonomie aus zwei (je notwendigen und zusammen hinreichenden) Komponenten besteht, und die ausgefeilte Variante andererseits, nach der Autonomie in einer nicht in zwei solche Anteile zerlegbaren Verwobenheit von Selbst und Welt besteht. Für beide Varianten des interaktionalistischen Projekts ist es charakteristisch, dass Autonomie als ein (schwaches oder starkes) „Zusammenspiel“ von Selbst und Welt verstanden wird.53 Das Bild, das
53 In der konjunktiven Variante spielen die beiden Aspekte in einem schwachen Sinn zusammen: Zwei Komponenten (z. B. Identifikation mit einer Entscheidung oder Lebensweise und die historische Unabhängigkeit dieser Identifikation) fügen sich ineinander und machen gemeinsam ein Ganzes (nämlich Autonomie) aus – so wie Zahnräder und Spiralfedern zwei grundsätzlich verschiedene mechanische Komponenten sind, aber zusammen eine gute (Schweizer) Uhr ausmachen. In der ausgefeilten Variante hingegen spielen die beiden Aspekte des Selbst und der Welt in einem stärkeren Sinn zusammen: Hier liegen nicht zwei Komponenten vor, die sich ineinander fügen, sondern eher ein „Amalgam“ wie „Offenheit für neue Erfahrungen“ oder „Resilienz“, das
146 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien dabei von der autonomen Person gezeichnet wird, ist das einer Person, die zu der äußeren Welt, die sie umgibt, in einer bestimmten Beziehung steht, die die äußere Welt auf ihr Innenleben wirken lässt, auf die Welt reagiert und auf die äußere Welt zurückwirkt. Etwas überzeichnet könnte man die Unterschiede zwischen den drei Standardstrategien damit folgendermaßen darstellen: Für den Internalismus sind Personen unabhängige, „schöpferische“ Akteure, die über sich und die Welt, die sie umgibt, herrschen; für den Externalismus sind Personen bloße Spielbälle äußerer Einflüsse und Gegebenheiten; und für den Interaktionalismus gestalten Personen ihre Umwelt mit, werden von dieser aber auch mitgestaltet. Ich werde die beiden Varianten dieser interaktionalistischen Strategie im Folgenden genauer diskutieren. Dabei ist zu beachten, dass sich beide Varianten des interaktionalistischen Projekts grundsätzlich hinsichtlich jeder der vier in Abschnitt 1.3 eingeführten Perspektiven auf Autonomie formulieren lassen: Da für jeden Blickwinkel sowohl interne als auch externe Bedingungen verfügbar sind, kann die konjunktive Variante alle Blickwinkel (durch eine einfache Verknüpfung interner und externer Bedingungen aus jeweils demselben Blickwinkel) abdecken. Und für die ausgefeilte Variante gilt: Manche der in diesem Zusammenhang aufgeführten Bedingungen (wie beispielsweise „Offenheit für neue Erfahrungen“) lassen sich als notwendige Bedingungen für Autonomie im Sinne eines persönlichen Ideals (erstpersonale Perspektive) ansehen; andere Bedingungen (wie „Selbstwertgefühl“ oder „Selbstvertrauen“) können sowohl für den Umgang mit unserer eigenen Autonomie (erstpersonale Perspektive) als auch für den Umgang mit der Autonomie anderer (drittpersonale Perspektive) bestimmend sein; und wieder andere Bedingungen (wie „Resilienz“) lassen sich sowohl auf einzelne Handlungen (lokale Perspektive) als auch auf die gesamte Lebensführung (globale Perspektive) anwenden. Es ist nicht nur so, dass sich beide Spielarten des Interaktionalismus grundsätzlich hinsichtlich aller vier Perspektiven formulieren lassen, sie werden auch tatsächlich hinsichtlich jeder Perspektive vertreten.54 Ich werde in der folgenden Auseinandersetzung mit den beiden Spielarten des Interaktionalismus allerdings nicht zwischen den vier Perspektiven differenzieren; der Grund dafür ist, dass
man zwar mit unterschiedlichen Dingen (Selbstverhältnissen und Weltverhältnissen) vergleichen kann, das sich aber nicht vollständig in diese Dinge zerlegen lässt. Beide Varianten lassen sich somit als eine Interaktion von Selbst und Welt verstehen, die sich hinsichtlich des Grads, in dem die beiden Aspekte miteinander verwoben sind, unterscheiden. 54 Tabelle 5.1 unterscheidet einige in der Literatur verbreitete interaktionalistische Positionen nach konjunktiver und ausgefeilter Variante und ordnet sie den vier Perspektiven zu. Eine Begründung für die einzelnen Zuordnungen wird sich aus den Diskussionen der einzelnen Positionen in den Abschnitten 5.2 und 5.3 ergeben.
5.2 Die konjunktive Variante des Interaktionalismus |
147
die im Folgenden vorgebrachten Bedenken sich allein aus den Analyseschemata (Skonj ) und (Selab ) ergeben und damit invariant gegenüber den verschiedenen Perspektiven sind. Hier ging es nur darum zu zeigen, dass sich der Interaktionalismus – ebenso wie zuvor der Internalismus und der Externalismus – aus jedem Blickwinkel auf Autonomie heraus sinnvoll als Position vorbringen lässt. Tab. 5.1. Zuordnung von interaktionalistischen Positionen nach vorrangigem Blickwinkel und interaktionalistischer Variante Variante des Interaktionalismus
Blickwinkel konjunktiv
ausgefeilt
lokal, erstpersonal
Buss (1994); Friedman (1998b, 2003)
lokal, drittpersonal
Christman (1991, 1993, 1995); Friedman (1998b, 2003) Oshana (1998, 2006); Raz (1986)
Benson (1990, 1994, 2000, 2005a,b); Govier (1993); Meyers (1987, 1989, 2005) Mackenzie (2008); McLeod (2002)
global, erstpersonal
global, drittpersonal
Dworkin (1988)
Anderson (1996, 2003); Anderson und Honneth (2005); Meyers (1987, 1989, 2005) Honneth (2000); Taylor (1985)
5.2 Die konjunktive Variante des Interaktionalismus Ein konjunktiver Interaktionalismus kann viele verschiedene Formen annehmen, weil es keine inhaltlichen Einschränkungen dafür gibt, welche (und wie viele) interne Bedingungen aus Kapitel 3 sich mit welchen (und wie vielen) externen Bedingungen aus Kapitel 4 in einer Konjunktion verknüpfen lassen. Auf diese Weise lassen sich sowohl Positionen erzeugen, in denen eher interne Bedingungen überwiegen, als auch Positionen, in denen externe Bedingungen das größere Gewicht haben, sowie Positionen, in denen sich interne und externe Bedingungen die Waage halten. Der Spielraum der möglichen konjunktiven Positionen erzeugt somit ein Kontinuum zwischen den Polen „reines Selbstverhältnis“ (Internalismus) und „reines Weltverhältnis“ (Externalismus). Aufgrund der Vielzahl der logisch möglichen Positionen kann die konjunktive interaktionalistische Lösungsstrategie hier gar nicht vollständig, sondern nur anhand einiger ausgewählter Positionen diskutiert werden. Mit der folgenden Auswahl soll das Kontinuum der Positionen möglichst in der gesamten Breite abgedeckt werden. Da es nicht immer einfach ist zu entscheiden, wie das Verhältnis zwischen internen und externen Bedingungen
148 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien zu gewichten ist (geht es allein um die Zahl der Bedingungen oder bestehen komplexere „Prioritätsbeziehungen“?), ist es im Einzelfall vielleicht umstritten, ob eine Position eher dem internalistischen Pol, eher dem externalistischen Pol oder der Mitte zuzuordnen ist. Diese Schwierigkeit in der Klassifikation betrifft allerdings nicht das grundsätzliche Problem, mit dem konjunktive Ansätze konfrontiert sind.
5.2.1 Am internalistischen Pol Beginnen wir in der Nähe des internalistischen Pols: Für John Christman besteht Autonomie (hinsichtlich einzelner Entscheidungen und Handlungen) darin, dass (1) eine Person die Art und Weise, wie ihre handlungswirksamen Motive entstanden sind, billigt oder zumindest nicht ablehnt (bzw. nicht ablehnen würde, wenn ihr die Entstehungsgeschichte bewusst wäre); dass diese Billigung (bzw. die fehlende Ablehnung) (2) minimal rational war und (3) auf unabhängige Weise – d. h. unter Ausschluss von Faktoren, die die Selbstreflexion der Person behindern – zustande gekommen ist (Christman 1991, 11, 1993, 288, 1995, 33). Die erste Bedingung ist eine Aussage über eine mentale Einstellung, die eine Person hinsichtlich der Entstehungsgeschichte ihres Motivs hat; es ist somit – wie in Kap. 4.4, S. 128 deutlich wurde – eine interne Bedingung. Die zweite Bedingung ist schwieriger zu klassifizieren; auf den ersten Blick scheint die Forderung nach minimaler Rationalität ja eine substanzielle (und damit externe) Bedingung zu enthalten: Die in der ersten Bedingung beschriebene Einstellung muss sich offenbar an Standards der Vernunft messen lassen. Christman betont allerdings an verschiedenen Stellen, dass mit minimaler Rationalität gemeint ist, dass zwischen den Wünschen und Überzeugungen der Person keine offenkundigen Widersprüche bestehen (Christman 1991, 14, 1993, 282, 1995, 33). Insofern lässt sich die zweite Bedingung als eine Aussage über Relationen von mentalen Einstellungen (insb. Überzeugungen) verstehen; und damit ist es ebenfalls eine interne Bedingung im definierten Sinne. Die dritte Bedingung ist allerdings eine historische externe Bedingung: Sie verlangt, dass die Einstellung, von der in (1) die Rede ist, ohne den Einfluss von Zwang, Manipulation und ähnlichen Umständen, die die Selbstreflexion behindern, zustande gekommen ist. Das ist die in Abschnitt 4.4 behandelte externe Bedingung der Unabhängigkeit. Insgesamt ist Christmans Ansatz somit eine konjunktive Mischform aus internen und externen Bedingungen; da die externe Bedingung lediglich auf eine gewisse Einstellung (die Billigung bzw. fehlende Ablehnung der Entstehungsgeschichte des Motivs) gerichtet ist und die internen Bedingungen der Anzahl nach überwiegen, kann man Christmans Position eher in der Nähe des internalistischen Pols verorten (obwohl es sich dabei wie gesagt eben gerade nicht um eine internalistische Position handelt, da sie kein reines Selbstverhältnis beschreibt).
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Ganz ähnlich lässt sich auch die Position von Marilyn Friedman einordnen (vgl. auch Friedman 1998b, 168): „To summarize: choices and actions can be autonomous only if they are self-reflective in two senses and meet at least two other conditions. First, they must be self-reflective in being partly caused by the actor’s reflective consideration of her own wants and values, where reflective consideration may be cognitive in a narrow sense or also affective or volitional and cognitive in a broad sense. Second, they must be self-reflective in mirroring those of her wants and values that she has reflectively endorsed. Third, the underlying wants or values must be important to the actor. Fourth, her choice or behavior must be relatively unimpeded by conditions, such as coercion, deception, and manipulation, that can prevent self-reflection from leading to behavior that mirrors the values and commitments a person reaffirmed“ (Friedman 2003, 14).
Auch dies ist eine interaktionalistische Position, in der interne Bedingungen (die in den ersten drei Bedingungen genannten mentalen Einstellungen) und eine externe Bedingung (die in der vierten Bedingung genannte Unabhängigkeit) durch eine Konjunktion verknüpft sind – wobei die internen Bedingungen überwiegen und die Position damit insgesamt eher in der Nähe des internalistischen Pols anzusiedeln ist.55 Überzeugen die beiden konjunktiven Ansätze am internalistischen Pol? Ich denke nicht. Für Friedmans Konzeption ist das relativ leicht zu sehen: Die historisch externe (vierte) Bedingung – dass die Handlung unabhängig zustande gekommen sein muss – wird als eine notwendige Bedingung für Autonomie neben anderen angeführt. Doch wie das Problem der inneren Perspektive in Abschnitt 4.4 (unter anderem) gezeigt hat, hat man mindestens zwei Probleme, sobald man Unabhängigkeit als eine notwendige Bedingung für Autonomie betrachtet (siehe S. 129–131): Erstens kann man seine Unabhängigkeit ganz bewusst aufgeben, um ein Ziel, bei dem man sich selbst im Weg steht, zu erreichen; die Beispiele von Odysseus, der investigativen Journalistin, der Raucherin, die sich freiwillig einer Hypnose unterzieht, der Doktorandin, die ganz bewusst den sozialen Druck ausnutzt, oder der bequemen Angestellten, die sich um der Verwirklichung ih-
55 Friedman betont sehr, dass ihre internen Bedingungen soziale Voraussetzungen haben (Friedman 1998a, 39f., 1998b, 169, 2003, 14). Einige dieser Bemerkungen lassen sich auch so verstehen, dass sie ein komplexeres Bild vom Zusammenspiel interner und externer (insb. sozialer) Bedingungen hat, demzufolge das Selbst wesentlich durch soziale Bindungen konstituiert ist (vgl. z. B. Friedman 1989, 159f.). Damit würde sie eher eine ausgefeilte Variante des Interaktionalismus vertreten. Allerdings scheint mir die Einordnung unter die konjunktive Variante schlussendlich die bessere Lesart ihrer Position zu sein, da Friedman andeutet, dass sie die soziale Einbettung und sozialen Voraussetzungen als kausale Vorbedingungen betrachtet, die zum Verständnis des Begriffs Autonomie nicht notwendig sind und darum auch nicht zur Natur der Autonomie gehören (Friedman 2003, 12–17).
150 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien rer beruflichen Ziele willen ganz bewusst einem kompetitiven Umfeld aussetzt, zeigen auf, dass man eine vermeintlich „autonomiebedrohende“ Vorgeschichte auch ganz bewusst und um der eigenen Autonomie willen selbst gewählt haben kann. Und auch wenn derartige Vorgeschichten nicht selbst gewählt wurden, sind Personen ihnen zweitens gar nicht hilflos ausgeliefert, sondern können sich diese zu eigen machen und sich dem Einfluss, den die Vergangenheit auf ihr Leben und Handeln ausübt, widersetzen: Personen, die nur aufgrund elterlichen Drucks einen bestimmten Beruf (z. B. als Pianistin) ausüben oder den Familienbetrieb übernommen haben, können Erfüllung in ihrer neuen Aufgabe finden; und wer seine repressive Erziehung (ggf. unter Mithilfe anderer Personen) reflektieren und deren Auswirkungen auf die eigenen Motive und Lebenspläne verstehen kann, der kann trotz der nicht mehr rückgängig zu machenden Einflüsse an Selbstverständnis gewinnen und mit sich ins Reine kommen. Derartige Personen gelten als autonom, obwohl die Genese ihrer Motive, Werte und Projekte nicht der Bedingung der Unabhängigkeit genügt. Da die Bedingung der unabhängigen Vorgeschichte in Friedmans Ansatz als notwendige Bedingung eingeführt wird und sich diese Probleme ergeben, sobald man Unabhängigkeit als notwendige Bedingung betrachtet, stellen sich beide Probleme auch in ihrem Ansatz aufs Neue. Auf den ersten Blick scheint sich dieses Problem für Christman nicht zu stellen. Seine dritte Bedingung verlangt schließlich nicht wie Friedmans vierte Bedingung, dass die Entscheidung oder Lebensweise (etwa die der Konzertpianistin) ohne Zwang zustande gekommen ist, sondern nur, dass die Reflexion, aufgrund derer man sich seine Vorgeschichte zu einem späteren Zeitpunkt dann zu eigen macht, frei ist von Zwang, Manipulation und ähnlichen Einflüssen. Die Pianistin mag zwar von ihren Eltern zu ihrer Musikkarriere gezwungen worden sein, aber wenn sie als Erwachsene über ihre Lebenspläne und deren Genese nachdenkt, dann liegt dieser Zwang nicht mehr vor; anders als in Friedmans Konzeption steht der Autonomie der Pianistin im Hinblick auf ihren Beruf somit in Christmans Ansatz scheinbar nichts im Weg. Allerdings hat Christman in diesen Beispielen autonomer Personen das Problem, dass seine erste Bedingung nicht erfüllt ist: Denn man kann sich mit seinen handlungswirksamen Motiven und tatsächlichen Lebensweisen identifizieren, obwohl man deren Genese ablehnt. Die Pianistin etwa wird sehr wahrscheinlich die Methoden, mit denen sie zur Entfaltung ihrer wahren Talente gebracht wurde, nicht gutheißen; obwohl sie sich mit ihrem Beruf und den entsprechenden handlungswirksamen Motiven identifiziert und darin aufgeht, lehnt sie die Entstehungsgeschichte dieser Motive ab. Nach Christmans Ansatz wäre sie somit gar nicht autonom. Christman hat auf das Problem, vor das ihn die Resilienz gegenüber und der Umgang mit der eigenen Vorgeschichte stellt, in seinen späteren Arbeiten reagiert und seine Position modifiziert (vgl. Christman 2005a, 334, 2005b, 279, 2007, 21,
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2009, 145f.). Ausschlaggebend für die Autonomie ist gemäß der ersten Bedingung nun nicht mehr die Einstellung einer Person zu der Vorgeschichte ihres Motivs, sondern die Einstellung zu ihrem Motiv unter Berücksichtigung seiner Vorgeschichte – d. h. unter der Voraussetzung, dass die Person über dessen Zustandekommen reflektiert hat (oder hätte). Diese Reflexion muss dabei den beiden anderen Bedingungen genügen, also minimal rational und von Einflüssen frei sein, die die selbstreflexiven Fähigkeiten untergraben. Doch diese Modifikation hilft bei zwei weiteren Schwierigkeiten nicht weiter: Erstens nämlich gibt es eine Reihe weiterer äußerer Einflüsse, die der Autonomie einer Person abträglich sind, ohne die selbstreflexiven Fähigkeiten (und damit Christmans dritte Bedingung) zu beeinträchtigen. Die Identifikation mit einem Motiv oder einer Lebensweise kann beispielsweise auf Konformität, sozialen Druck und den Einfluss der Sozialisation in einer Gesellschaft mit bestimmten Rollenbildern zurückgehen: Jemand, der seine Ansichten chamäleonartig den Mehrheitsmeinungen anpasst und immer das tut, was seiner Ansicht nach von anderen erwartet wird, und es tut, um anderen zu gefallen, ist nicht gerade ein Paradebeispiel einer autonomen Person; die selbstreflexiven Fähigkeiten scheinen dabei völlig intakt. Man kann selbst dann von ganzem Herzen eine derartige Konformistin sein, wenn man die Vorgeschichte der eigenen Motive kennt und darüber reflektiert hat (damit ist auch die erste Bedingung erfüllt). Da hier keine von Christmans modifizierten Bedingungen verletzt ist, müssten konforme Person als autonom gelten. Christman könnte nun argumentieren, dass in derartigen Fällen der Einfluss der Sozialisation und des sozialen Drucks so groß ist, dass die selbstreflexiven Fähigkeiten untergraben werden und damit seine dritte Bedingung doch nicht erfüllt ist. Aber wenn man die dritte Bedingung in dieser Weise ausdehnt und nicht mehr nur Zwang und Manipulation, sondern auch eine Reihe sozialer Faktoren als diejenigen Mechanismen, die die Selbstreflexion außer Kraft setzen, zulässt, dann nimmt man schlussendlich eine Reihe weiterer externer Bedingungen als Bedingungen personaler Autonomie auf.56 Und damit verlässt man den internalistischen Pol. Zweitens scheint es gar nicht ausgemacht, dass Christman die Probleme, die typischerweise mit der Unabhängigkeitsbedingung verbunden sind, wirklich umgehen kann. Ein Problem dieser Bedingung bestand ja darin, dass Zwang und Manipulation wie bei Odysseus, der Raucherin, der investigativen Journalistin oder der Doktorandin manchmal selbst gewählt sind: Personen können sich sozusagen freiwillig dazu zwingen oder manipulieren lassen, etwas Bestimmtes zu tun.
56 Und man müsste dann wohl aus den gleichen Gründen auch optionsbasierte externe Bedingungen zulassen: Wenn bestimmte Rollenbilder das Nachdenken ausschalten können, dann doch wohl auch der Mangel oder der Überfluss an wertvollen Optionen.
152 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien Christman hat damit (anders als Friedman) zunächst kein Problem, denn seine dritte Bedingung betrifft nicht die Abwesenheit von Zwang oder Manipulation beim Tun, sondern die Abwesenheit von Zwang oder Manipulation bei der Reflexion, mit der man zu einer Einstellung bezüglich des eigenen Tuns gelangt. Doch es ist ebenso denkbar, dass sich eine Person willig Manipulation oder Zwang aussetzt, die ihre Reflexion beeinträchtigen: Eine Raucherin unterzieht sich zunächst einer Hypnose, um endlich ihrer Sucht zu entkommen. Sie bemerkt anschließend aber, dass die Behandlung nicht wirkt, weil sie sich darüber im Klaren ist, wie ihre neue Abneigung gegen den Glimmstängel zustande gekommen ist (nämlich durch die Hypnose). Da sie nichts sehnlicher wünscht als ihre Sucht loszuwerden, bittet sie in der folgenden Sitzung darum, dass ihr nicht nur das Verlangen nach Nikotin per Hypnose „entfernt“ wird, sondern auch das Bewusstsein, dass die neue Abneigung auf die Hypnose zurückgeht. Und diesmal zeigt die Behandlung Wirkung. Auch diese Person gilt als autonom, obwohl Christmans dritte Bedingung nicht erfüllt ist: Die Selbstreflexion über die eigenen Motive (und insbesondere deren Genese) ist ja durch die zweite Form der Hypnose stark eingeschränkt. Ein etwas vertrauteres Beispiel ist die bereits angesprochene Prokrastination: Zwar gibt es Mittel und Wege, der eigenen Neigung zum Aufschieben wirksam zu begegnen, indem man mit im sozialen Umfeld angekündigten Vorhaben Verbindlichkeiten erzeugt und den damit erzeugten sozialen Druck produktiv für sich ausnutzt; aber bei manchen Personen wird die Wirksamkeit dieser Methode dadurch untergraben, dass sie darum wissen, dass sie sich den Druck letztlich selbst geschaffen haben (er also gar nicht unabhängig von ihrem Tun besteht und darum auch leichter wieder aufgelöst werden kann) und dass sie sich selbst in gewisser Hinsicht „austricksen“ wollen. Ebenso wie eine Täuschung, von der die zu Täuschende weiß, ihre Wirkung meist nicht erreicht, funktioniert eben auch eine (um der Autonomie willen) intendierte Selbsttäuschung, von der man selbst weiß, oft nicht. Eine solche Person könnte sich wünschen, dass sie die Mechanismen des sozialen Drucks für sich nutzen kann, ohne darüber Bescheid zu wissen, wie sie letzten Endes ihre Antriebslosigkeit überwunden hat, und ohne zu wissen, dass sie den Druck bewusst selbst erzeugt hat (und darum auch selbst auflösen kann). Es ist also ohne Weiteres denkbar, dass jemand sich nicht nur freiwillig dazu zwingen oder manipulieren lässt, etwas zu tun, sondern auch dazu, bei seiner Reflexion über dieses Tun etwas Bestimmtes zu denken – und dennoch autonom bleibt oder damit gerade erst seine Autonomie herstellt. Auch in Christmans Variante scheint Unabhängigkeit (der Selbstreflexion) also gar keine notwendige Bedingung für Autonomie zu sein. Vielmehr scheint es auch hier darauf anzukommen, welche Einstellung die Person zu den Einflüssen auf ihre Selbstreflexion hat. Und um das einzufangen, müsste Christman eine weitere mentale Einstellung E2 – also eine weitere interne Bedingung – in seine Konzeption aufnehmen (etwa die, dass
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die Person die Einflüsse auf ihre Selbstreflexion nicht ablehnt). Diese Einstellung müsste aber erneut unabhängig von ungewollter Manipulation oder ungewolltem Zwang sein. Dass etwas nicht unter ungewolltem Zwang oder unter ungewollter Manipulation zustande gekommen ist, führt nun wiederum eine weitere interne Bedingung ein (nämlich eine Einstellung E3 zu der Einstellung E2 , die die Person gegenüber den Einflüssen auf ihre Selbstreflexion hat). So kann man das Spiel weiter fortsetzen und es kommt – anders als Christman (1991, 18ff.) glaubt – zu einem unendlichen Regress von mentalen Einstellungen. Die beiden genannten Schwierigkeiten sind bereits im Zusammenhang mit den internalistischen Positionen aufgetaucht: Auch Internalistinnen hatten ja Probleme, einen Regress von mentalen Einstellungen zu vermeiden (Autoritätsproblem, vgl. S. 76) und wie etwa im Fall des Konformismus (vgl. S. 94f.) hinreichend sensibel für die äußeren Umstände zu sein, unter denen das von ihnen in den Vordergrund gerückte reine Selbstverhältnis zustande gekommen ist. Wie die Auseinandersetzung mit Friedmans und Christmans Position gezeigt hat, handeln sich die konjunktiven interaktionalistischen Positionen, die eher am internalistischen Pol verortet sind, auch die für internalistische Positionen typischen Probleme ein. Und je mehr sie versuchen, diesen Problemen auszuweichen, desto mehr externe Bedingungen benötigen sie. Zum einen bewegen sie sich damit immer weiter vom internalistischen Pol weg; zum anderen handeln sie sich damit aber auch wieder die Schwierigkeiten ein, mit denen die Externalistinnen zu kämpfen hatten.
5.2.2 Am externalistischen Pol Am anderen Ende des Spektrums konjunktiver interaktionalistischer Positionen befinden sich Konzeptionen, in denen die externen Bedingungen die internen Bedingungen an Bedeutung, Gewicht und Zahl überwiegen. Dies ist beispielsweise in den Ansätzen von Marina Oshana (1998, 2006) und Joseph Raz (1986) der Fall. Für Letzteren muss eine autonome Person drei Bedingungen erfüllen: „The conditions of autonomy [. . . ] consist of three distinct components: appropriate mental abilities, an adequate range of options, and independence“ (Raz 1986, 372).
Hier wird eine interne Bedingung (der Besitz bestimmter Vermögen) mit zwei externen Bedingungen (der Verfügbarkeit angemessener Optionen und Unabhängigkeit im Sinne der Abwesenheit von Zwang und Manipulation) verknüpft. Die interne Bedingung buchstabiert Raz folgendermaßen aus: „If a person is to be maker or author of his own life then he must have the mental abilities to form intentions of a sufficiently complex kind, and plan their execution. These include
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minimum rationality, the ability to comprehend the means required to realize his goals, the mental faculties necessary to plan actions, etc.“ (Raz 1986, 372f.).
Dabei ist es allerdings fraglich, ob die von Raz an dieser Stelle genannten Vermögen nicht lediglich sicherstellen, dass der Gegenstand, von dem Autonomie ausgesagt wird, eine Person ist. Wenn wir aber auf der Suche nach den Bedingungen der Autonomie von Personen sind, dann tragen (interne) Bedingungen, die lediglich sicherstellen, dass man überhaupt von einer Person sprechen kann, nichts zur Erhellung der Natur der Autonomie bei (vgl. S. 104). So gesehen scheint mir Raz eher eine rein externalistische Position als einen am externalistischen Pol angesiedelten konjunktiven Interaktionalismus zu vertreten. Für die weitere Auseinandersetzung spielt die genaue Klassifikation allerdings keine Rolle. Auch die frühe Position von Marina Oshana kann man eher als eine rein externalistische Position klassifizieren (vgl. Oshana 1998, 93–95): Von ihren vier Autonomiebedingungen – das Vermögen zur kritischen Reflexion, Unabhängigkeit, ein Spielraum wertvoller Optionen sowie gewisse soziale Bedingungen – ist die erste zwar eine interne; aber auch hier scheint das Vermögen zur kritischen Reflexion lediglich eine konstitutive Bedingung für die Personalität des Gegenstands zu sein, von dem Autonomie ausgesagt wird. In einer späteren Ausarbeitung differenziert Oshana die erste interne Bedingung allerdings in Richtung weiterer Vermögen wie Rationalität und Selbstrespekt (Oshana 2006, Kap. 4). Insofern diese über das bloße Personsein hinausgehen, handelt es sich bei dieser späteren Position um eine eindeutig konjunktiv interaktionalistische Position, die aufgrund des Übergewichts der externen Bedingungen eher am externalistischen Pol zu verorten ist. Doch auch diese Variante des Interaktionalismus überzeugt nicht. Das hat (mindestens) zwei Gründe: Erstens betrachten die genannten Ansätze gleich mehrere externe Bedingungen jeweils als notwendige Bedingungen für Autonomie (und müssen das auch, da sie am externalistischen Pol angesiedelt sind); bei Raz sind es externe Bedingungen an die Alternativen und die Vorgeschichte, bei Oshana zusätzlich noch soziale Bedingungen. Wie schon bei Christman und Friedman handeln sie sich damit aber auch jene Probleme der externalistischen Positionen ein, die darauf zurückgingen, dass eine externe Bedingung als notwendige Bedingung ins Spiel gebracht wird: Sobald man die historische Unabhängigkeitsbedingung als notwendige Bedingung einschließt, entstehen die erörterten Probleme der Aneignung „autonomiebedrohender“ Vorgeschichten, des selbst gewählten Zwangs oder der freiwilligen Manipulation. Nimmt man die Bedingung eines adäquaten Spielraums wertvoller Optionen als notwendige Bedingung auf, stellen sich die Probleme der Resilienz (das Bemühen um die Erhaltung, Erweiterung oder Kompensation von Optionen), der inneren Reaktion auf Autonomieverluste (selbst
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gewählte Optionsverluste sind gar nicht tragisch) und der explanatorischen Priorität des Innenlebens (wichtige Optionen scheinen gar nicht notwendig, wenn sie einem nichts bedeuten). Und betrachtet man soziale Bedingungen als notwendig für Autonomie, so bekommt man ein Problem mit der Resilienz von Personen in unterdrückenden sozialen Kontexten (siehe das Beispiel der Schwedin in SaudiArabien) und das Problem mit der Individualität von atypischen, aber autonomen Lebensweisen (etwa der Eremitin oder der radikal-ökologischen Studentin). All diese Einwände wurden in Abschnitt 4.3–4.5 ja anhand der von Raz und Oshana vorgeschlagenen Bedingungen entwickelt und sie stellen sich aus den genannten Gründen für jede konjunktiv interaktionalistische Position, die eher am externalistischen Pol zu verorten ist, aufs Neue. Der zweite Grund für das Scheitern dieser Gruppe von Ansätzen ist, dass sie sich nicht für eine Verallgemeinerung auf alle vier Blickwinkel auf Autonomie eignen. Die Verknüpfung mehrerer Bedingungen durch eine logische Konjunktion wirkt nämlich restriktiv: Die Menge der Entscheidungen (oder Lebensweisen), die zwei Bedingungen erfüllen, ist immer kleiner oder gleich der Menge der Entscheidungen (oder Lebensweisen), die nur eine Bedingung erfüllen; und je mehr (nicht ko-extensionale) Bedingungen man an autonome Entscheidungen (oder Lebensweisen) stellt, desto weniger Entscheidungen (oder Lebensweisen) erfüllen diese. Je stärker man sich also am externalistischen Pol aufhält (und je mehr externe Bedingungen man in eine Autonomiekonzeption aufnimmt), desto weniger Entscheidungen (oder Lebensweisen) qualifizieren sich noch als autonom. Insbesondere Oshanas Konzeption, die mit optionsbasierten, historischen und sozialen Bedingungen fast die gesamte Spannbreite externer Bedingungen verwendet, bekommt dadurch zusehends ein Problem mit der Individualität autonomer Personen. Das mag keine große Schwierigkeit sein, wenn es um Autonomie als ein Ideal (also um die erstpersonale Perspektive) geht – vielleicht erfüllt einfach niemand diese anspruchsvollen Bedingungen; aber für die drittpersonale Perspektive eignet sich eine derartige Konzeption eher nicht. Da eine überzeugende Autonomiekonzeption aber zu allen Blickwinkeln auf Autonomie etwas zu sagen haben muss, scheinen konjunktive interaktionalistische Positionen am externalistischen Pol aus rein logischen Gründen somit nicht überzeugend. Insgesamt gilt somit: Konjunktive Positionen, die eher am externalistischen Pol angesiedelt sind, handeln sich auch die für externalistische Positionen typischen Probleme ein. Man könnte zur Vermeidung dieser Probleme natürlich versuchen, die externen Bedingungen abzuschwächen, indem man entweder zusätzliche interne Bedingungen aufnimmt oder externe Bedingungen „internalisiert“ (so dass statt der Vorgeschichte selbst dann die Einstellung der Person zu ihrer Vorgeschichte zählte und es statt auf die tatsächlichen Eigenschaften des Handlungsspielraums darauf ankäme, wie sich der Handlungsspielraum aus Sicht der Person darstellte).
156 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien Doch das hilft nicht weiter: Bei der ersten Modifikation stellen sich die genannten Probleme stets solange, wie man daran festhält, dass die externen Bedingungen notwendige Bedingungen für Autonomie sind; das Hinzufügen weiterer interner Bedingungen ändert daran nämlich nichts. Mit der zweiten Modifikation hingegen bewegt man sich vom externalistischen Pol weg hin zum internalistischen Pol. Und damit handelt man sich wiederum – wie gesehen – die Probleme ein, die typisch für Internalistinnen sind.
5.2.3 Zwischen den beiden Polen Wenn es also am internalistischen Pol des Spektrums konjunktiver Positionen einen argumentativen Druck in Richtung des externalistischen Pols gibt, und wenn es am externalistischen Pol ebensolchen Druck in die andere Richtung gibt, könnte es dann nicht einen „Ruhepunkt“ in der Mitte des Spektrums geben – eine Position, in der interne und externe Bedingungen sich die Waage halten und in der es keinen Druck in Richtung der beiden Pole gibt? Das ist meines Erachtens innerhalb der konjunktiven Variante des Interaktionalismus grundsätzlich nicht möglich. Dafür gibt es einen offensichtlichen und einen weniger offensichtlichen Grund. Der offensichtliche (und bereits angeführte) Grund ist, dass eine konjunktive Position, die in der Mitte des Spektrums angesiedelt ist, immer auch mindestens eine externe Bedingung als notwendige Bedingung für Autonomie angeben muss. Da aber für jede der einzelnen Unterarten externer Bedingungen mindestens ein Problem allein daraus entsteht, dass eine externe Bedingung als notwendig für Autonomie erachtet wird, handeln sich diese Konzeptionen immer auch zumindest dieses eine Problem ein. Das gilt beispielsweise für die „ausgeglichen“ konjunktiv interaktionalistischen Ansätze von Gerald Dworkin (1976, 1988, Kap. 1) oder Lawrence Haworth (1986, Kap. 1–2), in denen Autonomie jeweils als eine gleich gewichtete Konjunktion aus einer bestimmten inneren Verfassung (bei Dworkin Authentizität bzw. die Fähigkeit, sich mit etwas zu identifizieren; bei Haworth das Vermögen zur kritischen Reflexion und zur Selbstkontrolle) und einem bestimmten Weltverhältnis (bei beiden ist dies die historische Bedingung der Unabhängigkeit) verstanden wird: Beide Ansätze handeln sich auch die Schwierigkeiten der Unabhängigkeitsbedingung ein. Der weniger offensichtliche Grund dafür, dass sich der gesuchte „Ruhepunkt“ im Kontinuum konjunktiver Positionen nicht finden lässt, lässt sich gut an der Position von Sarah Buss (1994) verdeutlichen. Die leitende Idee hinter ihrem Ansatz ist, dass mentale Zustände unser Handeln auf zwei Arten beeinflussen können (Buss 1994, 106f.): Erstens tauchen sie manchmal „direkt“ in unserer praktischen
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Überlegung auf, weil die Tatsache, dass man in einem bestimmten Zustand ist, Grund für bestimmte Handlungen sein kann. Die Tatsache, dass ich mich gerade nicht so gut konzentrieren kann, könnte ich beispielsweise als Grund ansehen, gleich einen Mittagsschlaf zu machen. Mein mentaler Zustand (Konzentrationsschwäche) – bzw. genauer: die Tatsache, dass ich mich in einem bestimmten mentalen Zustand befinde – übt hier vermittels praktischer Überlegungen einen „rationalen“ Einfluss auf mein Tun aus: Es macht mein Tun rational verständlich. Manchmal beeinflussen mentale Zustände unser Tun aber auch unter Umgehung der rationalen Vermögen und unserer praktischen Überlegung: Tiefe Trauer kann beispielsweise zur Folge haben, dass man bei der Wahl des Bestattungsinstituts nicht alle relevanten Gründe in Betracht zieht und Abwägungen vornimmt, die man sonst ganz anders vorgenommen hätte. Der mentale Zustand beeinflusst die Handlung hier nicht vermittels der praktischen Überlegung (schließlich wird die Tatsache, dass man trauert, nicht selbst als Grund angesehen, die Abwägungen anders vorzunehmen oder nicht alle relevanten Gründe in Betracht zu ziehen); vielmehr übt er einen nicht-rationalen Einfluss auf das Tun aus. Buss betont nun, dass nicht jeder nicht-rationale Einfluss zwangsweise die Autonomie einer Person unterhöhlt. Das ist ihrer Ansicht nach nur dann der Fall, wenn die nicht-rationalen Einflüsse nicht kompatibel mit dem Charakter der Person sind und wenn sie nicht zu einem gelungenen Leben beitragen: „[A] decisive nonrational influence is autonomy undermining if and only if (1) it is not constitutive of the agent’s character and (2) it is not the sort of influence that would be compatible with human flourishing if it regularly made itself felt under similar circumstances“ (Buss 1994, 108; Herv. i. Orig.).
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine Person autonom ist, wenn die nichtrationalen Einflüsse ihrer mentalen Zustände (wie beispielsweise überschwängliche Freude) Ausdruck des Charakters einer Person sind (die Person ist vielleicht einfach eine enthusiastische Frohnatur) oder wenn sie vereinbar sind mit einem gelungenen Leben. Bei Buss entscheidet also nicht die Einstellung der Person zu ihren Entscheidungen, sondern die besondere Qualität der nicht-rationalen Einflüsse auf ihre Entscheidungen über die Autonomie der Person: „[T]he difference between autonomous action and merely intentional action is a function of the different ways in which an agent can come to prefer one action over others. [. . . ] When the nonrational influences on an agent’s preferences are a function of her character or when they are compatible with her living a good life, then her intentions are truly her own. An autonomous agent not only governs herself in the sense that she directs her own behavior toward some preferred goal; she governs herself in the stricter sense that in setting the goal she expresses herself“ (Buss 1994, 96; Herv. i. Orig.).
158 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien Hier spielen zwei Bedingungen eine Rolle: die Vereinbarkeit der nicht-rationalen Einflüsse mentaler Zustände mit dem Charakter einer Person und ihre Vereinbarkeit mit einem gelungenen Leben. Die erste Bedingung lässt sich als eine interne verstehen: Sie beschreibt eine Relation zwischen mentalen Zuständen und dem Charakter (der als ein Konglomerat von Dispositionen und Fähigkeiten und damit als „innere Verfassung“ verstanden werden kann). Die zweite Bedingung hingegen scheint eine substanzielle externe Bedingung zu sein: Was ein gelungenes menschliches Leben ist, hängt nicht allein von der mentalen Verfassung einer Person ab, sondern wird durch unabhängige (und insofern „objektive“) Standards des gelungenen Lebens festgelegt.57 Buss verknüpft beide Bedingungen zwar durch eine logische Disjunktion.58 Da aber jede Disjunktion der Form A ∨ B logisch äquivalent ist zu einer Konjunktion der Form ¬(¬A ∧ ¬B), lässt sich ihre Position auch als konjunktive interaktionalistische Position auffassen; demnach wäre eine Person autonom, wenn es nicht der Fall ist, dass (1) die nicht-rationalen Einflüsse keine Funktion ihres Charakters sind und dass (2) sie nicht mit einem gelungenen Leben vereinbar sind. Auf den ersten Blick liegt diese Position ungefähr in der Mitte zwischen dem internalistischen und dem externalistischen Pol: Sowohl die Erfüllung der ersten (internen) Charakterbedingung als auch die Erfüllung der zweiten substanziellen (externen) Bedingung ist hinreichend für die Autonomie einer Person. Bei genauerer Betrachtung wird allerdings klar, dass sich Buss’ Konzeption in dieser Mitte nicht lange halten kann, wenn sie die folgende Schwierigkeit überwinden will: Auch von seinem Wesen oder Charakter kann man entfremdet sein. Wenn eine jähzornige Person in einem Tobsuchtsanfall die Vase zerschmettert, mag diese Handlung Ausdruck ihres jähzornigen Charakters sein. Aber wenn sie diesen Charakterzug und ihr cholerisches Wesen zutiefst ablehnt, dann wird die Zertrümmerung der Vase nicht dadurch autonom, dass sie im Einklang mit dem Charakter der betreffenden Person stand. Vielmehr fühlt sich die Person von ihrer Neigung ebenso übergangen wie die wutentbrannte Squash-Spielerin aus Abschnitt 3.2. Dass einem auch das eigene Wesen fremd und äußerlich sein kann, sieht man auch am Beispiel konformer, unterwürfiger und stark angepasster Charaktere: Dass eine
57 Dieses „objektivistische“ Verständnis scheint mir jedenfalls die plausibelste Lesart von Buss’ Überlegungen zu sein. Natürlich könnte man auch eine „subjektivistische“ Auffassung des gelungenen Lebens vertreten, nach der sich das gelungene Leben am empfundenen Wohlergehen der Person oder ihrer Vorstellung von einem gelungenen Leben bemisst. Dann aber handelte es sich bei der zweiten Bedingung auch um eine interne und Buss’ Konzeption fiele in eine rein internalistische Position zurück. 58 Im obigen Zitat heißt es „[. . . ] a function of her character or when they are compatible [. . . ]“, (Buss 1994, 96; Herv. d. Verf.).
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Frau in einer sexistischen Gesellschaft gegen die Diskriminierung nicht aufbegehrt, Männern gefallen will und die Erfüllung des klassischen Rollenbildes das oberste Ziel ihrer Anstrengungen ist, mag alles Ausdruck ihres (konformistischen) Charakters sein. Aber wie Buss (1994, 111) selbst zugesteht kann man in diesen Fällen nicht davon sprechen, dass die Frau ein selbstbestimmtes Leben führt. Es gibt zwei Möglichkeiten, auf dieses Problem zu reagieren. Die erste besteht darin, eine weitere interne Bedingung einzuführen und von einer autonomen Person eine weitere Einstellung (etwa die der Billigung) zu ihrem Charakter zu verlangen. Da dies eine zusätzliche interne Bedingung wäre, würde man damit die Mitte des Spektrums allerdings in Richtung des internalistischen Pols verlassen. Zudem könnte man so höchstens den Fall des Jähzorns, aber nicht den der indoktrinierten Frau einfangen, denn der Einfluss der Sozialisation könnte auch so stark sein, dass die Frau sogar ihren konformistischen Charakter billigt. Die andere, von Buss selbst gewählte Möglichkeit besteht darin, solche Fälle über eine Ausweitung des Skopus der zweiten Bedingung (der Kompatibilität mit einem gelungenen Leben) auszuschließen (vgl. Buss 1994, 111f.): Demnach müssen die Charakterzüge, mit denen nicht-rationale Einflüsse nach der ersten Bedingung übereinstimmen sollen, selbst ebenfalls kompatibel sein mit einem gelungenen menschlichen Leben. Da das konformistische Selbstbild der Frau oder der cholerische Charakter diese Bedingung nicht erfüllen, gelten sie Buss’ modifizierter Position zufolge auch nicht als autonom. Diese Modifikation allerdings macht die erste, interne Bedingung nahezu überflüssig. Denn worauf es dann für die Autonomie einer Person ankommt, ist, dass weder ihr Charakter noch die nicht-rationalen Einflüsse einem gelungenen Leben abträglich sind. Was hauptsächlich zählt, ist also das gelungene Leben und damit bewegt sich Buss’ Position von der Mitte in Richtung des (substanziellen) externalistischen Pols. Welche Reaktion man auf das Problem fremder Charakterzüge auch wählt – stets kollabiert die vermeintlich ausgewogene Position in der Mitte des Spektrums konjunktiver Positionen in Richtung eines der beiden Pole. Zu dem offensichtlichen Problem einer konjunktiven Position „zwischen den Polen“ gesellt sich somit das spezifische Problem hinzu, dass die „Mitte“ des Kontinuums konjunktiver Positionen einfach nicht zu treffen ist, weil derartige Positionen instabil sind und stets in Richtung eines der beiden Pole zu kollabieren drohen.
5.2.4 Die Schwierigkeit des konjunktiven Interaktionalismus Die vorangegangenen Überlegungen laufen auf ein grundlegende Schwierigkeit für den konjunktiven Interaktionalismus hinaus: Einerseits handelt man sich in der Nähe der beiden Enden des Kontinuums möglicher Positionen jene Probleme ein,
160 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien die auch die rein internalistischen bzw. rein externalistischen Positionen betreffen; andererseits ist in der Mitte des Kontinuums kein Platz zu finden, von dem aus es einen nicht zurück in Richtung eines der beiden Enden zieht. Beide Seiten dieses Problems kommen nicht zufällig zustande: Je näher eine konjunktive Interaktionalistin einem der Pole kommt, desto mehr Ähnlichkeiten bestehen zwischen ihrer Position und einem reinen Selbst- bzw. einem reinen Weltverhältnis – und diese Ähnlichkeit erstreckt sich dann auch auf die Bedenken, die man gegen die Position vorbringen kann. Auch das zweite Horn (die Instabilität) ist kein zufälliges Ergebnis, sondern Resultat der schwierigen dialektischen Lage, in der sich die konjunktive Interaktionalistin befindet: Wie die Auseinandersetzung mit der internalistischen Lösungsstrategie in Kapitel 3 gezeigt hat, können interne Bedingungen allein nicht hinreichend für die Autonomie einer Person sein; vielmehr muss man interne Bedingungen um weitere (je notwendige) Bedingungen ergänzen, die nicht interner Art sind. Das heißt aber per definitionem, dass es externe Bedingungen sind. Wie aber die Auseinandersetzung mit der externalistischen Lösungsstrategie in Kapitel 4 gezeigt hat, gibt es für jede Unterart externer Bedingungen mindestens eine Schwierigkeit, die darauf zurückgeht, dass die jeweilige externe Bedingung als notwendige Bedingung erachtet wird. Wenn die konjunktive Interaktionalistin nun interne und externe Bedingungen in ihrer Konzeption miteinander verbindet, dann handelt sie sich immer auch die Probleme ein, die darauf zurückgehen, dass sie gewisse externe Bedingungen als notwendig für die Autonomie einer Person ansieht. Zwar könnte man die Probleme externer Bedingungen abschwächen, indem man weitere interne Bedingungen aufnimmt. Aber erstens erzeugt dies gerade den beobachteten argumentative Druck in Richtung des internalistischen Pols. Und zweitens reichen auch diese zusätzlichen internen Bedingungen nicht aus, sondern bedürfen zusätzlicher externer Normalitätsbedingungen (jede interne Bedingung kann nämlich auf die „falsche“ Weise oder unter den „falschen“ äußeren Umständen zustande gekommen sein). Und damit zieht es die konjunktive Interaktionalistin wieder zurück in Richtung des externalistischen Pols. Die Instabilität konjunktiver Positionen ist somit eine inhärente Instabilität. Sie kommt zustande, weil sich der konjunktive Interaktionalismus sozusagen aus zwei verschiedenen Töpfen bedienen muss und man für jede Bedingung, die man dem einen Topf entnimmt, auch mindestens eine weitere Bedingung aus dem anderen Topf benötigt – und umgekehrt. Die einzige Möglichkeit, dieser grundsätzlichen Schwierigkeit zu entgehen, besteht darin, dass sich die Interaktionalistin nicht mehr aus zwei Töpfen bedienen muss: Wenn man nämlich eine neue Art von Bedingungen personaler Autonomie einführt, dann folgt aus der Tatsache, dass interne Bedingungen allein nicht hinreichend für Autonomie sind, nämlich gerade nicht mehr per definitionem, dass man externe Bedingungen braucht – vielleicht
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sind ja ausschließlich (oder zusätzlich) Bedingungen der neuen Art nötig. Und damit wäre das obige Argument blockiert. Genau diesen Weg beschreitet die ausgefeilte Variante des Interaktionalismus. Ihr zufolge ist die Interaktion, die sich in der konjunktiven Variante zwischen Selbst und Welt ergibt, nämlich zu schwach: Solange man an der Dichotomie von internen und externen Bedingungen festhält und Autonomie als ein (konjunktives) Zusammenspiel derartiger Bedingungen konzipiert, hat man ein bloßes Nebeneinander von Selbst und Welt. Doch ein Nebeneinander ist kein Miteinander. Die ausgefeilte Variante des Interaktionalismus versucht nun, diese Metapher des „Miteinander“ mit Gehalt zu füllen und Autonomie so als eine stärkere Form der Interaktion zu konzipieren.
5.3 Die ausgefeilte Variante des Interaktionalismus Auf den ersten Blick stellt sich die Lage für die ausgefeilte Interaktionalistin recht trostlos dar. Denn die Dichotomie zwischen internen und externen Bedingungen wurde auf eine Weise eingeführt, die aus logischen Gründen keinen Raum für weitere Arten von Bedingungen enthält: Eine Bedingung B gilt genau dann als interne Bedingung für die Autonomie einer Person, wenn sie sich als eine Aussage verstehen lässt, die allein das Vorliegen (bzw. die Abwesenheit) eines mentalen Zustands (bzw. Vermögens) dieser Person oder allein das Vorliegen (bzw. die Abwesenheit) eines Gefüges von mentalen Einstellungen (bzw. von Vermögen) betrifft. Und eine Bedingung B ist genau dann eine externe Bedingung, wenn sie keine interne Bedingung ist. Damit gilt für jede mögliche Bedingung, dass sie entweder eine interne oder eine externe ist. Ohne eine Verletzung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten scheint hier also gar kein Platz für eine weitere Art von „interaktionalistischen“ Bedingungen zu sein.
5.3.1 Das interaktionale Weltbild Die einzige Möglichkeit, die elaborierte Version des Interaktionalismus überhaupt erst ins Spiel zu bringen, besteht darin, das Kriterium für die Unterscheidung zwischen internen und externen Bedingungen zurückzuweisen. Tatsächlich gibt es einige Überlegungen, die es fragwürdig erscheinen lassen, dass man eine scharfe Trennung zwischen dem, was innerhalb einer Person vorgeht (ihr Innenleben), und dem, was außerhalb von ihr vorgeht (die sie umgebende Welt), vornehmen kann. Diese Überlegungen stammen aus dem Umfeld des Feminismus, des Kom-
162 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien munitarismus und der Kritischen Theorie.59 Sie laufen alle darauf hinaus, dass die Idee des Selbst ihrem Wesen nach interaktional strukturiert ist. Der Verweis auf das vermeintliche Innenleben des Selbst enthält somit stets auch einen Verweis auf die äußere Umwelt (und umgekehrt) – und darum lassen sich Selbst und Welt begrifflich gar nicht in der Weise voneinander trennen, wie es die Unterscheidung zwischen internen und externen Bedingungen voraussetzt: „[T]he sharp division between a person’s psychic affairs and the beliefs and values circulated in her society is not a clean break. Therefore, any psychological procedure is in many ways either a function of societal forces or, at the very least, heavily influenced by them“ (Santiago 2005, 82).
Vielmehr müsse man dieser Ansicht zufolge von einer grundsätzlich intersubjektiven Natur der Subjektivität („fundamentally intersubjective nature of subjectivity“, Meehan 1994, 279) ausgehen und „das menschliche Subjekt als das Produkt von Prozessen der sozialen Interaktion“ (Honneth 2000, 243) ansehen. Diese Vorstellung, die ich im Folgenden das „interaktionale Weltbild“60 nennen werde, wird in der Literatur über personale Autonomie auf verschiedene Weise ausgedrückt; aber der gemeinsame Nenner dieser Überlegungen ist, dass die für Autonomie notwendigen Fähigkeiten nur in einem sozialen Rahmen entwickelt, aufrecht erhalten und ausgedrückt werden können.61 Diesem gemeinsamen Nenner zufolge
59 Natürlich ist auch Ryles prominente Zurückweisung der Dichotomie von Innenwelt und Außenwelt zu nennen: „[I]t is argued, plausibly but fallaciously, that there does indeed exist the hallowed antithesis between the public, physical world and the private, mental world, between the things and events which everyone may witness and the things or events which only their possessor may witness. [. . . ] I want to show that this antithesis is spurious“ (Ryle 2000, 195f.). Allerdings ist Ryles Kritik hauptsächlich erkenntnistheoretisch motiviert und betrifft damit nur einen Aspekt der Überlegungen, die zu Prämisse (III) des Trilemmas führten (nämlich epistemische Zugänglichkeit, vgl. Kap. 2.3). Im Folgenden setze ich mich nur mit Überlegungen auseinander, die These (III) in Bezug auf alle für Autonomie relevanten Merkmale, hinsichtlich derer sich Selbstverhältnisse und Weltverhältnisse vermeintlich unterscheiden, zurückweisen. 60 John Christman spricht von „rich theoretical underpinnings“ (Christman 1995, 34). 61 So etwa Jennifer Nedelsky: „The necessary social dimension of the vision I am sketching comes from the insistence, first, that the capacity to find one’s own law can develop only in the context of relations with others (both intimate and more broadly social) that nurture this capacity, and second, that the ‘content’ of one’s own law is comprehensible only with reference to shared social norms, values and concepts“ (Nedelsky 1989, 11). Charles Taylor macht diesen Gedanken vor allem an der – aus seiner Sicht für Autonomie notwendigen – Fähigkeit, sich selbst zu verstehen, fest: „Thus the thesis just sketched about the social conditions of freedom is based on the notion, first, that developed freedom requires a certain understanding of self, one in which the aspirations to autonomy and self-direction become conceivable; and second, that this self-understanding is not something we can sustain on our own, but that our identity is always partly defined in
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sind Selbst und Welt untrennbar miteinander „verwoben“, weil das Selbst bereits als durch die äußere (insb. soziale) Welt konstituiert verstanden werden müsse: „[T]he sort of self who could realize personal autonomy is an inherently social being“ (Friedman 2000, 217f.; Herv. d. Verf.). Dabei ist hervorzuheben, was das spezifische Charakteristikum des ausgefeilten Interaktionalismus ist (Taylor 1985, 208f.): Wie wir gesehen haben, kann auch der Internalismus zugestehen, dass externe (insb. soziale) Faktoren für die Autonomie eine gewisse – nämlich kausale – Rolle spielen (vgl. S. 3.1); der ausgefeilte Interaktionalismus unterscheidet sich vom Internalismus aber darin, dass die Aspekte der äußeren Welt nicht lediglich als kausale Bedingungen relevant werden, sondern konstitutiv sind für Autonomie: Die externe (und insb. soziale) Dimension ist demnach vom Begriff Autonomie gar nicht wegzudenken (und insofern „begrifflich notwendig“). Vom Externalismus unterscheidet sich der ausgefeilte Interaktionalismus wiederum darin, dass die externen Faktoren nicht unmittelbar als Bedingungen der Selbstbestimmung angesehen werden, sondern als Bedingungen dafür, dass man überhaupt von einem Selbst sprechen kann, das sich bestimmt. Die grundlegende Idee des ausgefeilten Interaktionalismus ist also, dass Autonomie ausgehend von einem sozial konzipierten Selbst zu verstehen ist. Wenn dieses Bild richtig ist, dann scheint man das Innenleben einer Person gar nicht unabhängig von der äußeren Welt individuieren zu können. Und darum weisen ausgefeilte Interaktionalistinnen die Dichotomie von internen und externen Bedingungen zurück. Dieses Manöver wirft (mindestens) zwei Fragen: (1) Mit welchen Argumenten kann man das interaktionale Weltbild stützen? Und (2): Von welcher Art sind die Bedingungen personaler Autonomie dann, wenn man den Gegensatz zwischen internen und externen Bedingungen zurückweist? Zunächst zur ersten Frage. Vertreterinnen des ausgefeilten Interaktionalismus bringen im Wesentlichen drei verschiedene Argumente für das interaktionale Weltbild vor: 1. Das entwicklungspsychologische Argument: Dieser Überlegung zufolge können Personen ein Bewusstsein und Verständnis von sich selbst, eine Identität und eine Reihe von selbstbezogenen Fähigkeiten (etwa zur Selbstreflexion) nur durch Austausch mit und in Abgrenzung von anderen Personen entwickeln: „Because children establish their identities in relationships with others, the nature of these relationships structure [sic!] the formation of their own identities and their projected construction of the other. Self/other understanding is embedded in a way of being with others which is not added to our self-understanding or to our understanding of others, but is instead constitutive of them“ (Meehan 1994, 270).
conversation with others or through the common understanding which underlies the practices of our society“ (Taylor 1985, 209).
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„[T]he process of socialization incorporates cultural resources [. . . ] into the very identity and consciousness of persons. In addition, awareness of oneself as a self and the related capacity for self-reflection require a context of other selves from whom one learns to differentiate oneself both numerically and qualitatively. [. . . ] [T]he sort of self who could realize personal autonomy is an inherently social being who becomes a distinct self with a particular identity only through interpersonal relationships with other persons“ (Friedman 2000, 217f.).
Diese Überlegung mag zwar zutreffend sein, aber sie hilft der Interaktionalistin nicht weiter. Denn aus der Tatsache, dass man eine bestimmte Fähigkeit nur durch interaktionalistische Prozesse (wie den Austausch mit bzw. die Abgrenzung von anderen Personen) entwickeln kann, folgt nicht, dass die Fähigkeit selbst interaktionalistisch ist (also nur durch Interaktion mit anderen ausgeübt werden kann). Die Fähigkeit, einfache arithmetische Operationen durchzuführen, kann man zum Beispiel auch nur durch eine Interaktion mit anderen erwerben (niemand kann sich die Arithmetik von der Pike auf selbst beibringen). Aber man kann diese Fähigkeit ausüben, ohne mit anderen Personen oder der Welt in irgendeiner bedeutsamen Weise interagieren zu müssen. Für die meisten Fähigkeiten gilt wohl, dass man sie ohne eine gewisse Interaktion mit der Welt nicht hätte erwerben können; aber nicht für alle Fähigkeiten gilt darum auch: Wenn man sie einmal erworben hat, dann braucht man zu ihrer Ausübung auch eine Interaktion mit der Welt. Das entwicklungspsychologische Argument ist somit ein non sequitur. 2. Das Argument der sozialen Konstitution von Sprache: Häufig verweisen Interaktionalistinnen auch darauf, dass man bereits deswegen von einer Verwobenheit von Selbst und Welt ausgehen muss, weil die „Artikulation des Selbst“ (z. B. in Form der Prinzipien, die man sich zu eigen macht) stets vermittels sozial konstituierter Systeme (wie Sprache) erfolgen müsse: „[S]hared social concepts and norms inform and make meaningful the choices and commitments by way of which individual autonomy is realized [. . . ] These capacities [which are required for autonomy] are all additionally social in requiring meaningful systems of representation for understanding self and circumstances, systems that must be embedded in social practices“ (Friedman 2000, 218; ähnlich auch Honneth 2000, 237f. und Nedelsky 1989, 11).
Dieses Argument zeigt allerdings zu viel. Denn in diesem Sinne gilt ja für alle Begriffe, dass sie in eine soziale Praxis eingebettet sind: Das Verständnis jedes Sachverhalts erfordert eine Repräsentation mittels bedeutungstragender symbolischer Systeme wie Sprache. So gesehen wäre nicht nur der Begriff Selbst, sondern auch die Begriffe Hund, Gedanke oder Addition „sozial durchtränkt“. Aber daraus folgt natürlich nicht, dass die Fähigkeit, einen
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Hund auszuführen, einen Gedanken zu haben oder zwei Zahlen zu addieren, eine Fähigkeit ist, zu deren Ausübung man wesentlich auf andere Personen oder die äußere Welt angewiesen ist. 3. Das begriffliche Argument: Man könnte das interaktionalistische Weltbild auch ausgehend von begrifflichen Überlegungen zu stützen versuchen. In Abschnitt 2.2 wurde These (II) des Trilemmas ja gerade durch eine Überlegung gestützt, die sich auch die Interaktionalistin zu eigen machen könnte – dass selbst zu bestimmen immer auch heißt, dass nicht jemand oder etwas anderes bestimmt: „There must be other selves, who might influence or dictate an individual’s choice based on values or standards of their own, in order that the notion of choosing ‘for oneself’ be meaningful. Without the connection to other persons and the possibility for heteronomy, it makes no sense to characterize a choice as being someone’s ‘own’. [. . . ] The very notion of a self only makes sense in the context of a plurality of selves which can be mutually differentiated“ (Friedman 1989, 160; Herv. i. Orig.).
Nun ist es zwar richtig, dass man nicht von einem „Selbst“ reden kann, wo es nicht auch „das Andere“ gibt; insofern sind andere Personen und die Welt tatsächlich zur (begrifflichen) Abgrenzung des Selbst vonnöten. Doch wiederum gilt dies für alle Begriffe: Man kann (z. B. im Fußball) nicht von einem Regelverstoß sprechen, ohne zugleich einen Begriff von Regelkonformität zu haben. Aber das heißt natürlich nicht, dass die Verletzung einer Regel und die Einhaltung einer Regel nicht etwas Grundverschiedenes sind. Die Tatsache, dass ein Begriff immer nur im Kontrast mit seinem Gegenbegriff sinnvoll verwendbar ist, hebt den Unterschied zwischen den Dingen, die durch einen Begriff bezeichnet werden, und den Dingen, die durch den Gegenbegriff bezeichnet werden, in keiner Weise auf. Und darum ist nicht zu sehen, wieso aus der begrifflichen Überlegung folgen sollte, dass Welt und Selbst miteinander verwoben sind. Die Argumente für das interaktionale Weltbild – die Auffassung, das Selbst sei interaktional konstituiert – sind also insgesamt nicht sehr überzeugend. Es ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, weshalb man den in These (III) des Trilemmas ausgedrückten Gegensatz von Selbst und Welt (und damit auch die Dichotomie von internen und externen Bedingungen) zurückweisen sollte. Aber einmal angenommen, das interaktionale Weltbild wäre trotz aller Zweifel an den Argumenten wahr und die These (III) des Trilemmas wäre falsch. Es stellt sich dann immer noch die Frage, was genau das für die Autonomie einer Person bedeutet und wie diese zu konzipieren ist (das ist die zweite der oben genannten Fragen, die das interaktionalistische Manöver aufwirft). Denn das interaktionale Weltbild ist eine Auffassung
166 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien über die Natur des Selbst und für sich genommen noch keine Auffassung über die Natur der Autonomie. Zwar beruft sich die interaktionalistische Auffassung von Autonomie in der Regel auf das interaktionale Bild des Selbst.62 Allerdings wirft dieser Schluss vom interaktionalen Weltbild auf eine interaktionalistische Autonomiekonzeption ein großes Fragezeichen auf (Friedman 2003, 96): Wenn nämlich aus der interaktionalen Konstitution des Selbst für sich genommen folgen würde, dass alles, was mit dem Selbst zu tun hat, interaktional konzipiert werden muss, dann könnte man zwar schlussfolgern, dass Autonomie interaktional verstanden werden muss (denn an der Auffassung, dass Autonomie etwas mit dem Selbst zu tun hat – These (I) des Trilemmas –, halten Interaktionalistinnen ja fest). Aber es würde ebenso folgen, dass eine ganze Reihe weiterer Phänomene wie „sich selbst täuschen“, „sich selbst im Weg stehen“ oder „sich selbst genug sein“ ebenfalls interaktional (und damit unter Bezugnahmen auf die äußere Welt) verstanden werden müssten, da auch diese Phänomene etwas mit dem Selbst zu tun haben. Zwar ist es ohne Zweifel richtig, dass manche Form der Selbsttäuschung durch bestimmte äußere Beziehungen begünstigt werden mag (vielleicht macht sich jemand etwas in Bezug auf seine wahren Begabungen vor, um den Erwartungen seiner Eltern zu genügen). Aber man kann sich offenbar auch außerhalb jedes sozialen Kontexts „im stillen Kämmerlein“ selbst betrügen (und sich an die Überzeugung klammern, man sei gar nicht schwer erkrankt, obwohl alle Indizien dagegen sprechen und man selbst die Diagnose „eigentlich“ kennt). Es ist somit nicht leicht zu sehen, inwiefern bei den genannten Phänomenen eine interaktionale Komponente notwendigerweise eine Rolle spielen sollte. Doch wenn das richtig ist, dann kann die interaktionalistische Auffassung von Autonomie nicht allein aus der interaktionalen Sicht des Selbst folgen. Selbst wenn man also zugesteht, dass das Selbst interaktional verstanden werden muss, so legt man sich damit nicht zugleich auch auf eine interaktionalistische Auffassung von Autonomie fest: Autonomie könnte in einem besonderen Verhältnis der Person zu eben ihrem (interaktional konstituierten) Selbst – einem Selbstverhältnis – bestehen, aber sie könnte ebenso auch in einem besonderen Verhältnis der Welt, die dieses (interaktional konstituierte) Selbst umgibt, beste-
62 Vgl. etwa: „One of the ideas underlying the feminist call for a relational conception of autonomy is the now-familiar social conception of the self. Feminists tend to share with communitarians the view that selves are inherently social. On this view, even the most independent, self-reliant, and emotionally self-contained among us are nevertheless social beings who are connected to and dependent on a great many others for material and emotional support, for the development of our capacities, for the sources of meaning in our lives, and for our very identities. This perspective on the self leads easily to the view [. . . ] that autonomy should also be conceptualized relationally“ (Friedman 2003, 94).
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hen. Die Vorstellung, Autonomie sei ein reines Selbstverhältnis oder ein reines Weltverhältnis scheint somit kompatibel mit der interaktionalen Auffassung vom Selbst. Dieser Exkurs zum interaktionalen Weltbild, mit dem ausgefeilte Interaktionalistinnen ihre Autonomiekonzeption gemeinhin stützen, hat eine argumentative Lücke in eben dieser Stützung aufgezeigt. Im Folgenden werde ich über diese Lücke hinwegsehen und einfach fragen, ob nicht vielleicht ganz unabhängig von einem noch ausstehenden guten Argument für die Zurückweisung der These (III) des Trilemmas (bzw. für die Zurückweisung der Dichotomie von internen und externen Bedingungen) an der Vorstellung, dass Autonomie sich darin manifestiert, wie eine Person mit der Welt in einem starken Sinne interagiert, etwas attraktiv sein könnte. Daher sollen nun drei Ausformulierungen der elaborierten interaktionalistischen Position betrachtet werden: Der ersten Gruppe zufolge sind die besonderen interaktionalistischen Bedingungen in sozial konstituierten, selbstbezogenen Einstellungen zu finden; eine zweite Gruppe leitet die interaktionalistischen Bedingungen aus der Praxis sozialer Interaktionen ab; und nach Auffassung einer dritten Gruppe machen bestimmte Formen von innerer Offenheit für die äußere Welt die gesuchten interaktionalistischen Bedingungen aus. In der Diskussion dieser Ansätze wird sich zeigen, dass das gerade aufgedeckte Problem der argumentativen Lücke lediglich Ausdruck einer grundsätzlicheren Schwierigkeit des ausgefeilten Interaktionalismus ist: die Schwierigkeit, den besonderen (eben weder internen noch externen) Charakter der interaktionalistischen Bedingungen verständlich zu machen.63 Das soll nun in der konkreten Auseinandersetzung mit einigen Beispielen gezeigt werden.
5.3.2 Sozial konstituierte, selbstbezogene Einstellungen Eine erste Gruppe von elaborierten interaktionalistischen Autonomiekonzeptionen knüpft an die Intuition an, die den Internalismus motivierte – dass Autonomie vor allem etwas damit zu tun hat, wie die betreffende Person zu sich selbst steht. 63 Wie bereits bei der konjunktiven Variante ist auch hier eine relativierende Vorbemerkung nötig: Zum einen decken die drei Gruppen von ausgefeilten interaktionalistischen Ansätzen die allgemeine Lösungsstrategie allenfalls exemplarisch ab; es gibt durchaus weitere Möglichkeiten, einen ausgefeilten Interaktionalismus zu vertreten, die hier aber nicht diskutiert werden. Zum anderen ist nicht immer mit Gewissheit entscheidbar, in welche der drei Gruppen eine in der Literatur vertretene Position genau fällt; die einzelnen Vertreterinnen schwanken mitunter in ihren Arbeiten. Wenn die Einwände, die ich im Folgenden gegen die ausgefeilte Variante der interaktionalistischen Strategie entwickeln werde, zutreffen, dann erklärt sich dieser schillernde Charakter gerade daraus, dass auch diesen Ansätzen eine inhärente Instabilität anhaftet.
168 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien Demnach sind die Bedingungen personaler Autonomie in bestimmten selbstbezogenen Einstellungen und Vermögen zu finden: zum Beispiel im Selbstwert, den sich eine Person beimisst, in ihrem Selbstvertrauen oder in der Fähigkeit, sich selbst zu verstehen. Im Unterschied zum Internalismus aber fasst diese Gruppe von interaktionalistischen Ansätzen die selbstbezogenen Einstellungen und Vermögen als sozial konstituiert auf: Um Selbstwert, Selbstvertrauen oder Selbstverständnis zu entwickeln, aufrecht zu erhalten und um diese Fähigkeiten auszuüben, braucht man soziale Rückmeldungen und Interaktionen mit anderen Menschen und der Welt. Die erste Gruppe der ausgefeilten Interaktionalistinnen kann die fraglichen selbstbezogenen Einstellungen und Vermögen folglich nicht als etwas beschreiben, das ausschließlich das mentale Innenleben einer Person betrifft: „[A]utonomy requires capacities that must either be learned from others [. . . ] or that must be exercised in interaction with others“ (Friedman 2000, 218; Herv. i. Orig.). „[S]uch attitudes toward oneself can only be sustained in relations of intersubjective recognition“ (Mackenzie 2008, 517). „In a nutshell, the central idea is that the agentic competencies that comprise autonomy require that one be able to sustain certain attitudes toward oneself (in particular, self-trust, self-respect, and self-esteem) and that these affectively laden self-conceptions – or, to use the Hegelian language, ‘practical relations-to-self’ – are dependent, in turn, on the sustaining attitudes of others“ (Anderson und Honneth 2005, 130f.).
Vor allem zwei Bedingungen spielen bei dieser Form des ausgefeilten Interaktionalismus eine Rolle: zum einen Einstellungen, die etwas mit Selbstvertrauen im weitesten Sinne zu tun haben (Anderson und Honneth 2005; Govier 1993; Mackenzie 2008), und zum anderen das Vermögen zu Selbstverständnis bzw. Selbstinterpretation (Mackenzie 2008; Taylor 1985). Dahinter steht die Vorstellung, dass eine Person, die sich nichts zutraut oder sich über sich selbst, ihre Motive und Herzensangelegenheiten nicht hinreichend im Klaren ist, Schwierigkeiten hat, ein selbstbestimmtes Leben nach ihren Vorstellungen zu führen (vgl. Mackenzie 2008, 527). Sowohl unser Selbstvertrauen als auch das Verständnis, das wir von uns selbst haben, sind dabei wesentlich durch unsere sozialen Interaktionen beeinflusst. Wie sind diese Konzeptionen einzuschätzen? Zunächst sollte klar sein, dass die Behauptung der ausgefeilten Interaktionalistinnen dieser Gruppe nicht sein kann, dass Selbstvertrauen oder Selbstverständnis hinreichend für die Autonomie einer Person sind. Zwar kann man eine Reihe von autonomiebezogenen Phänomenen in Beziehung zu (mangelndem) Selbstvertrauen oder (mangelndem) Selbstverständnis setzen; es ist beispielsweise nicht unplausibel zu behaupten, dass konforme, unterwürfige oder rigide Personen ihre Charakterzüge gerade aufgrund mangelnden Selbstvertrauens haben oder dass schizophrene Personen nicht autonom sind, weil sie kein Verständnis von sich
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ausbilden können. Allerdings gibt es auch eine Reihe von Erfahrungen der Selbstund Fremdbestimmung, die offenbar nichts mit (mangelndem) Selbstvertrauen oder (mangelndem) Selbstverständnis zu tun haben. Auf der einen Seite stehen unserer Autonomie manchmal „innere Barrieren“ wie ein schwacher Wille, innere Zerrissenheit zwischen zwei Idealen oder das Besessensein von einer fixen Idee im Wege. Eine Frau, die ihre Diät unterbricht, kann sich beispielsweise sehr wohl zutrauen, das Diätziel zu erreichen (und auch sonst ein gesundes Selbstvertrauen haben), aber an der Kuchentheke dennoch schwach werden. Auch ihr Selbstverständnis ist ungetrübt: Sie versteht sehr wohl, was sie da tut und warum sie es tut. Möglicherweise (aber sicher nicht notwendigerweise) schwindet in der Folge ihr Vertrauen in sich, das Diätziel doch noch zu erreichen; aber diese Form der Fremdbestimmung kommt nicht vermittels eines Verlusts an Selbstvertrauen zustande. Ebenso wenig muss jedes Hadern mit sich selbst auf mangelndes Selbstvertrauen zurückgehen: Dass Greta aus Abschnitt 3.5.1 (S. 92) bei der Entscheidung für oder wider eine akademische Laufbahn hin und her gerissen ist, kann daran liegen, dass sie sich eine solche Laufbahn nicht zutraut oder dass sie sich selbst nicht versteht (und nicht weiß, was ihre Vorlieben und Talente sind) – es kann aber auch einfach daran liegen, dass sie innerlich gespalten ist, weil sie zwischen ihrer Bindung an ihre Heimat und den Mobilitätsanforderungen, die die Entfaltung ihrer Anlagen im Rahmen einer akademischen Laufbahn mit sich brächte, nicht abwägen kann. Und auch wer sich – wie der egomane Wissenschaftler, der sich in einem hoffnungslos überambitionierten Projekt verrennt – auf etwas versteift oder von etwas besessen ist, hat in den seltensten Fällen sein Selbstvertrauen oder Selbstverständnis verloren; oft sind die Engagements, die „mit einem durchgehen“, sogar Quellen des Selbstvertrauens und des Verständnisses vom eigenen Tun und von der eigenen Identität. Auf der anderen Seite gibt es auch eine Reihe „äußerer“ Faktoren wie Zwang oder Manipulation, in denen kein unmittelbarer Zusammenhang zu den genannten selbstbezogenen Einstellungen besteht: Wenn die Bankangestellte zum Öffnen des Tresors gezwungen wird, so verliert sie ihre Autonomie nicht, weil sie sich plötzlich irgendetwas nicht mehr zutraut oder nicht versteht, was sie tut. Zwar kann es Ziel und Zweck der Manipulation einer Person sein, ihr das Selbstvertrauen zu nehmen (vgl. dazu den Gaslicht-Fall bei Benson 1994); aber die Manipulation, die beispielsweise in einem totalitaristischen System über die Kontrolle des Medienkonsums und Informationsflusses erfolgt, lässt für sich genommen das Selbstvertrauen und Selbstverständnis der Personen unberührt (auch wenn natürlich andere Aspekte des totalitaristischen Systems durchaus daran nagen können). Daraus folgt, dass die genannten selbstbezogenen Einstellungen allein nicht die Autonomie einer Person ausmachen können. Sie müssen vielmehr um zusätzliche Bedingungen ergänzt werden. Natürlich ist nicht a priori ausgeschlossen, dass
170 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien diese weiteren Bedingungen interaktionalistischer Natur sind; aber die genannten Phänomene, die sich durch Selbstvertrauen und Selbstverständnis nicht abdecken ließen, legen auf den ersten Blick nahe, dass die zu ergänzenden Bedingungen personaler Autonomie eher das Innenleben einer Person bzw. die Beschaffenheit der äußeren Welt betreffen werden – dass es sich also um interne bzw. externe Bedingungen handelt. Damit würde man das für die elaborierte interaktionalistische Position charakteristische Schema (Selab ), demzufolge Autonomie ausschließlich durch interaktionalistische Bedingungen zu verstehen ist (vgl. S. 144), bereits verlassen. Eine zweite Schwierigkeit für den Ansatz, die interaktionalistischen Bedingungen in sozial konstituierten, selbstbezogenen Einstellungen wie Selbstvertrauen zu suchen, besteht darin, dass es für die Autonomie einer Person weniger auf Selbstvertrauen an sich, sondern vielmehr auf das richtige Maß an Selbstvertrauen anzukommen scheint (McLeod 2002, 8, Kap. 6). Eine kokainabhängige öffentliche Person könnte beispielsweise so großes Selbstvertrauen haben, dass sie glaubt, ihre Sucht auch dann noch verheimlichen und die Oberhand über das Geschehen behalten zu können, als ihr Drogenkonsum öffentlich bekannt geworden ist; sie könnte in diesem Glauben sogar eine freiwillige Haarprobe ankündigen (die sie natürlich überführt). Ein solches, übermäßig gesteigertem Selbstvertrauen entspringendes Verhalten ist wenig selbstbestimmt. Offenbar ist für Autonomie somit das richtige Maß an Selbstvertrauen nötig. Das zeigt sich ebenso in Fällen verminderten Selbstvertrauens: Eine äußerst begabte Philosophin betreibt das Philosophieren leidenschaftlich und glaubt auch, dass es ihr liegt; sie traut sich aber nicht zu, es zu ihrem Beruf zu machen und eine akademische Karriere einzuschlagen – das dazu nötige Talent, so denkt sie fälschlicherweise, habe sie dann doch nicht. Es ist nun nicht so, dass diese Philosophin kein Selbstvertrauen hat (denn sie hält sich ja für eine durchaus passable Philosophin) – sondern eher so, dass ihr tatsächliches Maß an Selbstvertrauen nicht ganz angemessen ist: Sie traut sich nicht das zu, was sie eigentlich könnte. Die Philosophin steht sich und der Entfaltung ihrer Talente in diesem Fall im Wege (vgl. für diesen Einwand auch Meyers 2005, 54, Anm. 32). Wenn man aber nicht Selbstvertrauen an sich, sondern das richtige Maß an Selbstvertrauen als notwendige Bedingung für Autonomie ansieht, dann führt man damit eine zusätzliche externe Bedingung ein: Denn das richtige Maß ist dasjenige Maß an Selbstvertrauen, das man haben sollte – und welches Maß man haben sollte, bemisst sich an externen Standards. Die Philosophin müsste zum Beispiel der Bedingung genügen, dass ihre Überzeugung über die eigenen Talente und Fähigkeiten wahr ist. Im Sinne von Abschnitt 4.2 handelt es sich dabei um eine substanzielle externe Bedingung. Natürlich könnte man sagen, dass das übermäßiges Selbstvertrauen der kokainabhängigen Person oder das verminderte
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Selbstvertrauen der Philosophin auf die psychotrope Wirkung von Kokain oder die Erziehung zurückgeht und es darum nicht auf das Maß des Selbstvertrauens, sondern auf dessen Entstehung ankommt; aber das verschärft nur den Einwand, weil damit eine historische Bedingung an die Genese des Selbstvertrauens formuliert wird – und auch dies ist eine externe Bedingung. Umgekehrt reicht es hingegen nicht aus, das richtige Maß an Selbstvertrauen an internen Standards (etwa einem Gefühl der inneren Stimmigkeit) festmachen zu wollen; dieser Standard ist nämlich zu schwach, weil es immer auch darauf ankommt, wie dieses Gefühl der Stimmigkeit zustande gekommen ist: Die Kokain-Sucht hätte auch zu so starker Verzerrung der Selbstwahrnehmung führen können, dass das übermäßig gesteigerte Selbstvertrauen die erforderliche Stimmigkeit herstellt, indem es alle inneren Unstimmigkeiten (wie z. B. das nachträgliche Bedauern der öffentlichen Ankündigung einer Haarprobe) beseitigt.64 Man kommt also offenbar nicht umhin, eine zusätzliche externe Bedingung für Autonomie einzuführen. Und damit verlässt man erneut das Schema (Selab ).65 Eine dritte Schwierigkeit für den Rekurs auf selbstbezogene Einstellungen und Vermögen ergibt sich, wenn man sich fragt, was genau eigentlich in diesem Zusammenhang mit den genannten selbstbezogenen Einstellungen wie beispielsweise Selbstvertrauen gemeint ist. Auf den ersten Blick scheint es sich dabei ja um eine paradigmatische interne Bedingung zu handeln, die allein das Innenleben einer Person betrifft: Selbstvertrauen könnte einfach eine Menge von auf sich selbst gerichteten Überzeugungen sein (etwa die Überzeugung, dass man bestimmte Dinge erfolgreich erledigen kann oder dass man in unsicheren Situationen bestehen kann). Und tatsächlich bestimmt die Interaktionalistin Trudy Govier Selbstvertrauen als ein Konglomerat von mentalen Einstellungen (das sie aus dem Vertrauen zwischen verschiedenen Personen ableitet):
64 Die Sucht könnte die Person z. B. so sehr im Griff haben, dass sie wirklich felsenfest glaubt, dass man ihr unter keinen Umständen etwas nachweisen könne und dass die positive Haarprobe manipuliert wurde. Die Tatsache, dass die Person eine innere Stimmigkeit fühlt, würde nichts daran ändern, dass ihr übersteigertes Selbstvertrauen auf die Droge zurückgeht, dass die Droge sie unter Kontrolle hat und dass es ihr an Autonomie mangelt. 65 Dasselbe Argument lässt sich auch auf die andere selbstbezogene Einstellung (das Selbstverständnis) anwenden: Für die Autonomie einer Person kommt es nicht darauf an, dem eigenen Tun Sinn und Bedeutung abgewinnen zu können, sondern darauf, dies richtig zu tun. Es mag sein, dass man dazu den „Blick in den sozialen Spiegel“ (die Rückmeldungen anderer Personen) unbedingt benötigt. Aber dafür, dass man das richtige (angemessene oder zutreffende) Selbstverständnis entwickelt, braucht man nicht irgendein Außen, sondern ein Außen von der richtigen Art. Und das führt wieder ein externes Kriterium für die Beschaffenheit der äußeren Welt ein.
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„To sum up, interpersonal trust, as exemplified in the case of trusting a friend, involves the following features: a. expectations of benign, not harmful, behavior based on beliefs about the trusted person’s motivation and competence; b. an attribution or assumption of general integrity on the part of the other, a sense that this is a good person; c. a willingness to rely or depend on this person, an acceptance of risk and vulnerability; d. a general disposition to interpret this person’s actions favourably. [. . . ] All these features, (a) to (d) can be used to characterize attitudes toward oneself. [. . . ] Thus we can properly regard self-trust as one type of trust“ (Govier 1993, 105f.).
Bei jeder der Bedingungen a. bis d. handelt es sich offenbar um Aussagen über die mentalen Einstellungen einer Person. Goviers Vorschlag muss somit im Hinblick auf die Autonomie nicht nur, wie gerade gezeigt, um externalistische Bedingungen ergänzt werden; er scheint auch bereits internalistische Bedingungen zu enthalten. Damit aber würde sich die vermeintlich ausgefeilte interaktionalistische Position bei genauerer Betrachtung als eine rein konjunktive Position – ein Konglomerat von mentalen Zuständen plus eine externe Bedingung, die das richtige Maß spezifiziert – entpuppen; und konjunktive Positionen hatten sich bereits im vorangegangenen Abschnitt als unhaltbar erwiesen. Um dieses Problem des Rückfalls in die konjunktive Variante zu umgehen, müsste die elaborierte Interaktionalistin behaupten, dass die in a. bis d. genannten Einstellungen wesentlich durch soziale Interaktionen konstituiert werden und es darum irreführend ist, von „bloßen“ mentalen Einstellungen zu sprechen. Und tatsächlich behauptet Govier auch, dass es sinnlos sei, Selbstvertrauen ohne die Herausforderungen verstehen zu wollen, die die äußere Welt und andere Personen an das eigene Selbstvertrauen herantragen (Govier 1993, 106). Mit dieser Antwort taucht allerdings eine Frage auf, die sich bereits im Zusammenhang mit dem interaktionalen Weltbild stellte: Wie genau ist der Einfluss der äußeren Welt zu verstehen? Govier selbst legt nahe, dass es sich bloß um einen empirischen (kausalen) Zusammenhang handelt (vgl. Govier 1993, 113): Wer ständig kritisiert, zurecht gewiesen, ignoriert oder beleidigt wird, wird sehr wahrscheinlich an Selbstvertrauen verlieren; aber wie etwa die Beispiele von Dissidenten in totalitaristischen Staaten zeigen, ist es stets möglich, auch angesichts der widrigsten Umstände sein Selbstvertrauen zu bewahren. Doch die Interaktionalistin möchte nicht behaupten, dass soziale Interaktionen nur vermittels eines empirischen oder kausalen Zusammenhangs mit Autonomie verknüpft sind (denn das kann auch die Internalistin sagen). Die Interaktionalistin möchte sagen, dass Autonomie ihrer Natur nach aus solchen Interaktionen besteht. Üblicherweise würde man die Behauptung bzw. diese Gegenüberstellung so verstehen, dass damit gemeint ist, dass soziale Interaktionen begrifflich mit Autonomie verknüpft sind: Wenn ein Sachverhalt nicht aus
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empirischen Gründen besteht, dann muss er – sofern er überhaupt besteht – aus begrifflichen Gründen bestehen. Doch auch das kann die Interaktionalistin nicht sagen. Erstens sprechen die Dissidenten dagegen (bzw. genauer: die Tatsache, dass es stets kohärent denkbar ist, dass jemand sein Selbstvertrauen behält, wie auch immer die äußeren Umstände sind). Und zweitens findet sich in der begrifflichen Analyse, die Interaktionalistinnen von den selbstbezogenen Einstellungen wie beispielsweise Selbstvertrauen geben, keine Spur von interaktionalistischen Bedingungen: In keiner der Bedingungen a. bis d. wird eine soziale Interaktion beschrieben. Dies stellt die Interaktionalistin vor ein Problem: Einerseits ist die Interaktion mit der Welt, die konstitutiv für Autonomie sein soll, angeblich nicht begrifflich mit Autonomie verknüpft; anderseits ist sie aber angeblich auch nicht bloß empirisch oder kausal mit Autonomie verknüpft. Doch dann fragt man sich: Auf welche Weise ist sie dann mit Autonomie verknüpft? Interaktionalistinnen haben gesehen, dass sich diese Frage stellt: „The importance of mutual recognition is often clearest in the breach. Consider, for example, practices and institutions that express attitudes of denigration and humiliation. They threaten individuals’ own self-esteem by making it much harder [. . . ] to think of oneself as worthwhile. The resulting feelings of shame and worthlessness threaten one’s sense that there is a point to one’s undertakings. And without that sense of one’s aspirations being worth pursuing, one’s agency is hampered. This claim is neither exclusively conceptual nor exclusively empirical“ (Anderson und Honneth 2005, 131; vgl. auch Taylor 1985, 209).
Allerdings bleiben Anderson und Honneth eine Antwort auf die Frage schuldig, welcher Art das Verhältnis von interaktionalistischen Bedingungen und Autonomie denn dann sein soll. Die Behauptung, es sei weder begrifflich noch empirischer Art, ist keine Antwort, sondern eine Flucht in die Unklarheit. Offenbar braucht die Interaktionalistin eine ganz eigene Art des Verhältnisses von sozialer Interaktion und personaler Autonomie. Man kann dies das Sui-generis-Problem nennen: Die Interaktionalistin kann die Beziehung zwischen Autonomie und interaktionalistischen Bedingungen nicht innerhalb des gut verständlichen Gegensatzes von empirischen (kausalen) Beziehungen und begrifflichen Beziehungen verständlich machen. Und darum muss sie sie außerhalb dieses Gegensatzes verständlich machen. Doch damit wird die Beziehung zu einer Beziehung eigener Art (sui generis) – und zugleich auch eigenartig: Denn von welcher Art sollte sie sein? Die Interaktionalistin könnte natürlich die interaktionalistischen Bedingungen im begrifflichen Sinne als konstitutive Bedingungen der Autonomie betrachten. Diesen Weg beschreiten beispielsweise Anderson und Honneth (2005): Ihrer Ansicht nach sind für Autonomie vorrangig bestimmte selbstbezogene Einstellungen wie Selbstvertrauen, Selbstrespekt, Selbstwertschätzung nötig. Doch diese kön-
174 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien nen nur in sozialen Beziehungen der wechselseitigen Anerkennung entstehen, bestehen und ausgeübt werden. Anderson und Honneth (2005, 131f.) sehen diese Beziehungen der wechselseitigen Anerkennung darum als konstitutive Bedingungen der Autonomie an. Doch dann handelt es sich bei der vermeintlich interaktionalistischen Bedingung einfach um eine externe Bedingung: Sie beschreibt, wie die soziale Umwelt einer Person beschaffen sein muss, damit diese autonom sein kann.66 In dem Maße also, in dem man die besondere Natur der interaktionalistischen Bedingungen verständlich machen kann, verlässt die Interaktionalistin das Analyseschema (Selab ) und fällt in eine konjunktive (oder gar rein externalistische) Position zurück. Und in dem Maße, in dem man die besondere Natur der interaktionalistischen Bedingungen nicht verständlich machen kann, bleibt diese Position einfach rätselhaft.
5.3.3 Die Praxis sozialer Interaktionen Eine zweite Gruppe von elaborierten interaktionalistischen Positionen macht Autonomie nicht an selbstbezogenen Einstellungen, sondern direkt an gewissen sozialen Interaktionen fest. Besonders verbreitet ist dabei die Auffassung, dass sich eine autonome Person dadurch auszeichnet, dass sie ihr Verhalten gegenüber anderen Personen rechtfertigen kann. Autonomie hat somit wesentlich etwas mit der Fähigkeit zu tun, Rechenschaft ablegen zu können. Und Rechenschaft abzulegen ist eine inhärent soziale Praxis: Sie besteht darin, dass mehrere Personen Forderungen aneinander stellen, wechselseitig Gründe austauschen und kritisch hinterfragen. Wenn Autonomie etwas mit der Fähigkeit, Rechenschaft ablegen zu können, zu tun hat, dann sind autonome Personen autonom, weil sie an einer bestimmten sozialen Praxis teilnehmen können, in der es darum geht, mit anderen Personen zu interagieren. Mit Autonomiezuschreibungen sagt man folglich zum einen stets etwas über eine Person (bzw. ihr „Selbst“), insofern man der Person eine bestimmte Fähigkeit zuschreibt. Man sagt aber zugleich immer auch etwas über die Welt, die die Person umgibt: Die zugeschriebene Fähigkeit betrifft ja die Teilnahme an einer sozialen Praxis. Es handelt sich hierbei um einen ausgefeilten Interaktionalismus, weil die Aspekte, die mit der Person bzw. dem „Selbst“ zu tun haben, untrennbar mit den Aspekten, die mit der Welt zu tun haben, verwoben sind: Man schreibt einer autonomen Person stets eine soziale Fähigkeit zu.
66 Das ist auch der Grund, warum die Position von Anderson und Honneth in Abschnitt 4.5 als eine soziale externalistische Konzeption behandelt wurde.
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Die Position, dass Autonomie wesentlich mit der Fähigkeit zu tun hat, Rechenschaft ablegen zu können, vertreten unter anderem Paul Benson (1994, 2000, 2005a,b), Andrea Westlund (2003, 2009) und Joel Anderson (1996, 2003): „Thus, these examples suggest that the sense of worthiness to act which is necessary for free agency involves regarding oneself as being competent to answer for one’s conduct in light of normative demands that, from one’s point of view, others might appropriately apply to one’s actions“ (Benson 1994, 660). „[M]y position is that it is agents appropriately claiming the authority to speak for their actions that renders them autonomous in performing those actions“ (Benson 2005b, 123, Anm. 32). „[A]utonomy depends on a dialogical disposition to hold oneself answerable to external, critical perspectives on one’s action-guiding commitments“ (Westlund 2009, 26; vgl. auch Westlund 2003, 484f., 495–498). „The Capacity for Participating in Discursive Justification [is] the Key to Autonomy“ (Anderson 1996, 175).
Diese Position ist ganz ähnlichen Einwänden ausgesetzt wie die erste Gruppe der elaborierten interaktionalistischen Positionen: Erstens gibt es wiederum eine Reihe von Phänomenen, bei denen sich die Frage der Selbstbestimmung nicht an der Fähigkeit, Rechenschaft ablegen zu können, entscheidet. Wer an der Kuchentheke schwach wird, verliert (unter dem erstpersonalen, lokalen Blickwinkel) seine Autonomie, aber er verliert nicht die Fähigkeit, sein eigenes Tun anderen gegenüber rechtfertigen zu können. Denn der Willensschwache sieht ja Gründe für sein Tun (auch wenn es seiner Ansicht nach nicht die besten sind). Auch die Person, die innerlich zwischen ihrer Leidenschaft für die akademische Forschung und ihrer Bindung an die Heimat hin und her gerissen ist, sieht sich darum weder als inkompetent an, für ihr Verhalten einzustehen (siehe das erste obige Benson-Zitat), noch verliert sie an Autorität, ihr Tun nach außen hin verteidigen zu können (siehe das zweite obige Benson-Zitat); ihr Problem ist nicht, dass sie keine Gründe für einen der möglichen Wege angeben kann, sondern dass sie sich nicht von ganzem Herzen hinter einen dieser Wege stellen kann, für die sie im Lichte ihrer Ideale annähernd gleich gute Gründe sieht. Neben diesen „inneren Barrieren“ werden auch äußere Autonomiehindernisse wie Zwang oder Manipulation nicht durch die Bedingung der Rechenschaftsfähigkeit erfasst: Wer unter vorgehaltener Waffe den Tresor leer räumen muss, kann seinem Vorgesetzten in der Regel mit ziemlich guten Gründen Rechenschaft ablegen. Die Bedingung dieser zweiten Gruppe muss offenbar um weitere Bedingungen ergänzt werden, um allen Phänomenen, die mit Selbst- und Fremdbestimmung verbunden sind, gerecht zu werden. Auch hier ist es wiederum naheliegend, dazu für die inneren Barrieren auf interne Bedingungen und für die äußeren Barrieren auf externe Bedingungen zurückzugreifen. Doch damit wür-
176 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien de man das Analyseschema (Selab ) verlassen und keine rein interaktionalistische Position mehr vorlegen. Eine zweite Schwierigkeit mit dem Vorschlag ist, dass er mehrdeutig ist und auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden kann – beide Weisen führen allerdings zu einer internalistischen bzw. externalistischen Position zurück. Die Spannung zwischen den beiden möglichen Deutungen lässt sich gut anhand der ersten beiden oben angeführten Zitate von Paul Benson studieren: Dem ersten Zitat zufolge kommt es für Autonomie darauf an, welche Fähigkeit, Rechenschaft abzulegen, sich die Person selbst zuschreibt („regarding oneself as being competent“). Damit würde sich die vermeintlich „interaktionale“ Fähigkeit bei genauerer Betrachtung einfach in eine mentale Einstellung – nämlich eine bestimmte Überzeugung über die eigene Fähigkeit, das eigene Verhalten rechtfertigen zu können – auflösen und die Position würde zu einer internalistischen. Diese Auffassung hat Benson anfänglich tatsächlich explizit vertreten: „[F]ree agents’ sense of their competence to answer for their conduct is just that, a subjective sense of normative competence which guarantees neither that the agent actually is competent enough to be held to account for herself nor even that she is committed to the norms by which others actually evaluate her. The condition I propose demands that free agents regard themselves, rightly, wrongly, or otherwise, as being in a position to respond to expectations that, from the agents’ own points of view, others could appropriately make of them“ (Benson 1994, 662; Herv. d. Verf.).
Dass man es dabei aber nicht belassen kann, weil diese internalistische Lesart der Bedingung zu schwach ist, lässt sich leicht einsehen:67 Die Schizophrene, die der Welt entrückt ist, aber ihr Tun durch waghalsige Konfabulationen zu rechtfertigen versucht, könnte glauben, dass sie in der Lage ist, für ihr Verhalten einzustehen und auf Nachfragen Gründe anzugeben. Auch die unterwürfige Hausfrau, die die gesellschaftlichen Rollenbilder internalisiert hat, könnte der Ansicht sein, dass sie über ihr Tun Rechenschaft ablegen kann: Sie übt keinen Beruf aus, weil ihr Mann „es so will“ oder weil „Frauen für den Haushalt und die Kinder da sein sollten“. In den Fällen, in denen die Überzeugung über die eigene Fähigkeit, Rechenschaft ablegen zu können, falsch oder unberechtigt ist und die Personen – anders als sie glauben – nicht dazu in der Lage sind, mangelt es ihnen offenbar auch an Autonomie (vgl. für diesen Einwand auch Meyers 2005, 54, Anm. 32). Somit kommt es also nicht nur auf die interne Bedingung der Überzeugung über die eigene Rechenschaftsfähigkeit an, sondern darauf, dass diese Überzeugung auch zutrifft.
67 Ein analoger Einwand betrifft auch Westlund (2003, 507), die Autonomie an die bloße Bereitschaft (eine Disposition, also ebenfalls eine interne Bedingung) knüpft, sein Tun zu verteidigen.
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Dies führt auf die zweite Lesart der Bedingung der Rechenschaftsfähigkeit. Sie kommt im zweiten oben angeführten Zitat von Benson zum Ausdruck. Demnach kommt es für die Autonomie einer Person darauf an, dass es angemessen ist, sich die entsprechende Fähigkeit selbst zuzuschreiben („appropriately claiming the authority“); und angemessen ist es natürlich nur, wenn man die entsprechende Fähigkeit auch tatsächlich hat. Mit dieser Lesart der Bedingung der Rechenschaftsfähigkeit kann man die obigen Fälle ausschließen (denn die Überzeugung der Schizophrenen oder der unterwürfigen Hausfrau betreffend ihrer eigenen Kompetenz ist unangemessen). Allerdings hat man damit den interaktionalistischen Rahmen endgültig verlassen: Denn die Bedingung, dass die Überzeugung angemessen sein muss, bemisst sich an objektiven Kriterien, die von der Person und ihren Einstellungen unabhängig sind. Dies gesteht Benson in seinen späteren Arbeiten, in denen er seine frühere Sicht modifiziert, auch explizit zu: „In order to succeed in claiming authority for ourselves to speak for what we do, it is not enough simply that we treat ourselves as having this authority [. . . ]. It is also necessary that we properly treat ourselves as fit and worthy to possess such authority, where the objective elements of such propriety constrain the attitudinal aspects of autonomy I have been discussing“ (Benson 2005b, 117).
Benson (2005b, 118) führt auch Bedingungen an, unter denen eine derartige Überzeugung angemessen wäre. Dazu zählen unter anderem drei paradigmatische externe Bedingungen aus Kapitel 4: Die Überzeugungen müssen erstens rational sein (eine substanzielle externe Bedingung); zweitens müssen relevante Informationen öffentlich zugänglich sein (eine soziale externe Bedingung); und drittens dürfen die Personen nicht auf eine Weise beeinflusst worden sein, die die rationalen Fähigkeiten untergräbt (eine historische externe Bedingung). Die vermeintlich interaktionalistische Bedingung der Rechenschaftsfähigkeit ist also letztlich eine Konjunktion aus einer internen Bedingung – der Überzeugung über die eigene Fähigkeit, für sein Verhalten Rechenschaft ablegen zu können – und einer externen Bedingung – der Bedingung, dass diese Überzeugung angemessen sein muss. Und damit bleibt bei genauerer Betrachtung der vorgeschlagenen Autonomiebedingung von der angeblichen „Verwobenheit von Selbst und Welt“ nicht viel übrig; wie schon die erste Gruppe droht auch die zweite Gruppe von ausgefeilt interaktionalistischen Ansätzen in eine konjunktive Position zurückzufallen (und diese ist, wie in Abschnitt 5.2 erklärt, inhärent instabil). Nun könnte die Interaktionalistin der zweiten Gruppe zur Verteidigung ihrer Position versuchen, das interaktionale Weltbild und die soziale Dynamik ins Spiel zu bringen: Die Bedingung, dass die Person sich selbst als fähig ansehen muss, über ihr Tun Rechenschaft abzulegen, sei kein mentaler Zustand, sondern eine sozial konstituierte Einstellung. Ob man sich selbst als jemand ansieht, der dazu
178 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien in der Lage ist, hänge nämlich von den sozialen Rückmeldungen, Beziehungen und Einwirkungen ab. Zum Beispiel werde sich eine Person, die ständig als unselbstständig behandelt, erniedrigt oder bevormundet wird, dazu wahrscheinlich nicht befähigt sehen. Und weil es sich bei der Einstellung „sich selbst als fähig ansehen, über sein Tun Rechenschaft abzulegen“ um eine sozial konstituierte Einstellung handle, ist es keine interne, sondern eine interaktionalistische Bedingung. Darum falle die Position nicht in einen konjunktiven Interaktionalismus zurück: Die gesuchte Verwobenheit von Selbst und Welt gebe es bereits auf der Ebene der vermeintlich „rein inneren“ Einstellung. Diese Antwort spielt die zweite Gruppe des ausgefeilten Interaktionalismus auf die erste zurück und man kann erneut die unangenehme Frage aufwerfen, von welcher Art denn die soziale Konstitution der fraglichen Einstellung sein soll: Die sozialen Rückmeldungen und Interaktionen mögen einen kausalen Einfluss auf unsere Einschätzung unserer eigenen Fähigkeit, Rechenschaft ablegen zu können, haben. Aber wir können uns stets Personen denken, die sich diesem Einfluss widersetzen können und trotz widrigster Bedingungen – Erniedrigungen, Demütigungen, Bevormundungen – wissen, was und warum sie es tun, sowie fähig und bereit sind, für ihr Tun gerade zu stehen. Der Zusammenhang scheint also nicht begrifflicher Natur zu sein, und um wirklich von einer sozial konstituierten Einstellung ausgehen zu können, darf der Zusammenhang zwischen den sozialen Interaktionen und der Ausbildung der Einstellung auch nicht nur ein rein kausaler sein. Und damit muss er offenbar von ganz eigener Art sein. Erneut ist die Interaktionalistin also mit dem Sui-generis-Problem konfrontiert. Auch für die zweite Gruppe von ausgefeilt interaktionalistischen Ansätzen gilt somit: Je besser die interaktionalistischen Bedingungen verständlich sind, desto eher verlässt man das Analyseschema (Selab ) in Richtung einer konjunktiven Position; und je weniger man in diese Position zurückfällt, desto unverständlicher und rätselhafter bleibt, worin die besondere Natur interaktionalistischer Bedingungen bestehen soll.
5.3.4 Innere Offenheit für die äußere Welt Eine dritte Gruppe von elaborierten interaktionalistischen Positionen geht aus von den Anforderungen, die die äußere Welt an Personen stellt, und konzipiert Autonomie anhand der Art und Weise, wie Personen auf diese Anforderungen reagieren und sich anpassen: Autonome Personen müssen in einem näher zu bestimmenden Sinne offen für die Welt sein. Diese Idee spielt beispielsweise in der Autonomiekonzeption von Diana Meyers (1987, 1989, 2005) eine wichtige Rolle. Ihr zufolge manifestiert sich Autonomie in drei grundsätzlichen Vermögen (vgl. insb. Meyers 1989, 20): sich selbst zu kennen (self-discovery), sich selbst zu gestalten
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(self-definition) und im Einklang mit sich selbst zu handeln (self-direction). Für diese Vermögen brauche man eine Reihe von Fertigkeiten,68 von denen mehrere damit zu tun haben, wie eine Person auf die Welt – auf die Umstände ihrer Entscheidungen, auf ihre eigene Vorgeschichte, oder auf ihre soziale Umgebung – reagiert: Eine autonome Person müsse beispielsweise die inneren Reaktionen, die die Welt ihr abverlangt, aufmerksam und kritisch verfolgen, die richtigen Schlüsse daraus ziehen, dabei die Realisierbarkeit ihrer Lebenspläne im Auge behalten, aus ihren früheren Erfahrungen lernen und sozialem Druck widerstehen können. Darüber hinaus erfordern vor allem die Komponenten Selbsterkenntnis und Selbstdefinition die Rückmeldungen und Interaktionen mit anderen Personen (vgl. Meyers 1989, 79ff.): Man brauche die Einschätzungen anderer Menschen, um sich selbst einzuschätzen; und man benötige die Ideen und Ermutigungen anderer, um sich in etwas Neuem auszuprobieren. Autonomie erfordert somit nicht nur eine Auseinandersetzung mit sich selbst; für eine umfassende Auseinandersetzung mit sich selbst braucht es vielmehr auch eine Auseinandersetzung mit der Welt. Zu einer ausgefeilt interaktionalistischen Position wird diese Auffassung, weil darin die Art und Weise, wie eine Person mit der äußeren Welt umgeht, zumindest teilweise auch ihr wahres Selbst ausmacht. In diesem Sinne sind Selbst und Welt „verwoben“. Eine Implikation dieser Auffassung ist, dass sich Personen wandeln können müssen. Da nämlich die Welt sich ständig verändert und da Autonomie sich dieser Auffassung zufolge darin manifestiert, wie eine Person auf die Welt reagiert, verändert sich auch die Person ständig: „[A]n account of autonomy must explain how one can encounter unexpected constraints, discern novel opportunities, and improvise on the spot without parting company from one’s authentic traits, affects, values, and desires. More specifically, a tenable account of self-discovery and self-definition must be premised on a view of authenticity that countenances sufficient adaptability to make sense of these agentic capacities“ (Meyers 2005, 27; Herv. d. Verf.).69
68 „Roughly, this sort of autonomy requires that people vividly envisage different life plans and seriously entertain them. Attuned to the feelings evinced by their alternatives, they must interpret these feelings correctly, and evaluate them critically. In light of relevant factual information, they must assess the practicality of these options. Likewise, they must judge the merits of sundry proposals in terms of their other values. Moreover, autonomous people must recognize and act on signs of discontent with previous decisions. They must be prepared to acknowledge inner change and must be willing to modify their plans in response to such change. Finally, comprehensive programmatic autonomy requires that people be ready to resist the unwarranted demands of other individuals along with conformist societal pressures, and that they be resolved to carry out their own plans“ (Meyers 1987, 627). 69 Ähnlich auch Kupfer (1990, 23): „What I want to zero in on is the way ‘overall’ autonomy is strengthened through flexibility: the ability to respond creatively and constructively to a variety of
180 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien In dieser Form eignet sich Meyers’ Auffassung allerdings allenfalls für die globale Perspektive auf Autonomie (die Autonomie der Lebensführung), denn es ist nicht leicht ersichtlich, inwiefern beispielsweise die willensschwache oder die innerlich zerrissene Person nicht angemessen auf die Welt reagieren; vielmehr scheint es, als reagierten sie nicht angemessen auf sich. Allerdings kann man die leitende Idee hinter Meyers’ Ansatz – die autonome Person ist innerlich offen für die äußere Welt – auch auf die lokale Perspektive übertragen, wie die Überlegungen von Blöser, Schöpf und Willaschek (2010) zeigen. Auch ihrer Ansicht nach ist nämlich eine bestimmte Art und Weise, wie Personen mit neuen Erfahrungen umgehen, eine notwendige Bedingung personaler Autonomie: „[Pat] lacks the capacity for what may be called ‘experience-responsive’ critical reflection (ERCR): the ability to consider new experiences as relevant touchstones for one’s values. [. . . ] ERCR is a necessary condition for being fully autonomous“ (Blöser, Schöpf und Willaschek 2010, 243).
Die Fähigkeit, neue Erfahrungen als relevante Prüfsteine für die eigenen Wertüberzeugungen betrachten zu können, scheint einerseits eine genuin interaktionale Fertigkeit zu sein: Sie hat etwas damit zu tun, wie Personen auf die Begebenheiten in der Welt reagieren – ändert sich etwas „draußen“ in der Welt und eine Person passt sich „drinnen“ (d. h. ihre Wertüberzeugungen) nicht entsprechend an, so verliert sie an Autonomie. Die Bedingung beschreibt somit ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Selbst und der Welt (vgl. „What both [. . . ] lack is the capacity to bring about an appropriate relation between their values and the world they live in“, Blöser, Schöpf und Willaschek 2010, 244; Herv. d. Verf.). Auch hierbei handelt es sich somit um einen ausgefeilten Interaktionalismus, der die Offenheit einer Person gegenüber der Welt betont. Andererseits ist die von Blöser, Schöpf und Willaschek genannte Fähigkeit spezifischer als Meyers’ Vorschlag; sie lässt sich nämlich auch hinsichtlich einzelner Wertüberzeugungen und damit hinsichtlich einzelner Handlungen anwenden. Die dritte Gruppe der ausgefeilt interaktionalistischen Positionen ist somit nicht zwangsweise auf die globale Perspektive beschränkt. Allerdings ist auch diese Gruppe mit ganz ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert wie die vorherigen beiden Gruppen: Erstens kann die interaktionalistische Bedingung nicht hinreichend sein und muss um interne oder externe Bedingungen ergänzt werden. Dass Meyers’ Vorschlag nicht alle mit Selbst- und Fremdbestimmung einhergehenden Erfahrungen (wie Willensschwäche oder Ambivalenz) abdecken kann, hatte ich bereits angesprochen. Ebenso gilt aber auch für den Vorschlag
circumstances; this includes the ability to adapt to change“. Die „dynamische Dimension“ von Autonomie betonen auch Baumann (2008) sowie Betzler (2009).
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von Blöser, Schöpf und Willaschek, dass sich Autonomie nicht in der Fähigkeit, neue Erfahrungen als relevante Prüfsteine für die eigenen Wertüberzeugungen betrachten zu können, erschöpfen kann (was die Autoren allerdings auch gar nicht beanspruchen): Schließlich kommt bei der willensschwachen oder der innerlich zerrissenen Person das im Hinblick auf die Autonomie zu überwindende Hindernis nicht aus der äußeren Welt, sondern aus der Person selbst – sie steht sich selbst im Weg, wenn sie ihre Triebe nicht zügeln oder sich nicht von ganzem Herzen hinter eine Sache stellen kann. Klar ist zudem, dass der Verlust an Autonomie, den eine gezwungene oder manipulierte Person erleidet, nichts damit zu tun haben muss, dass sie ihre Fähigkeit einbüßt, ihre Wertüberzeugungen im Lichte neuerer Erfahrungen zu reflektieren: Bei Zwang oder Manipulation sind nicht wir (also die „Opfer“) zu einer Veränderung aufgefordert, sondern andere (nämlich die „Täter“, die Zwang und Manipulation unterlassen sollten). Auch wenn die interaktionalistische Idee, Autonomie an der Reaktion auf die äußere Welt festzumachen, durchaus einen gewissen Reiz hat: Es gibt einfach Kontexte („innere Barrieren“), in denen die äußere Welt uns in keiner bedeutsamen Weise eine Reaktion abverlangt, und es gibt Kontexte („äußere Barrieren“), in denen nicht uns, sondern anderen eine Reaktion abverlangt ist. Um diese Phänomene angemessen zu beschreiben, braucht man somit weitere Bedingungen personaler Autonomie. Insofern die geeignetsten Kandidaten dafür interne bzw. externe Bedingungen zu sein scheinen, besteht auch für die interaktionalistische Position der dritten Gruppe eine Tendenz, sich internen und externen Bedingungen zu öffnen. Ein zweites Problem ist, dass auch die Bedingung der inneren Offenheit für die äußere Welt bei genauerer Betrachtung in eine konjunktive Position zu kippen droht. Das lässt sich sowohl an Blöser, Schöpf und Willascheks Variante als auch an Meyers’ Variante dieser Auffassung nachvollziehen: Die von Blöser, Schöpf und Willaschek angeführte Fähigkeit, neue Erfahrungen als relevante Prüfsteine für die eigenen Wertüberzeugungen behandeln zu können, erlaubt zwei Lesarten. Nach der ersten (schwachen) Lesart ist damit gefordert, dass eine Person in der Lage ist, (1) neue Erfahrungen als relevant für die Prüfung der eigenen Wertüberzeugungen anzusehen und (2) ihre Wertüberzeugungen im Lichte dieser Einschätzung gegebenenfalls anzupassen. Wenn das gemeint ist, so handelt es sich bei der vermeintlich interaktionalistischen Bedingung allerdings lediglich um eine Konjunktion aus zwei internen Bedingungen: Eine Erfahrung als relevant für die Überprüfung der eigenen Wertmaßstäbe anzusehen, heißt einfach, eine bestimmte Überzeugung zu haben – und das ist eine interne Bedingung. Der zweite Teil (seine Wertüberzeugungen angesichts dieser neuen Überzeugung gegebenenfalls anzupassen) beschreibt dann eine Relation zwischen zwei mentalen Zuständen – den Wertüber-
182 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien zeugungen auf der einen Seite und der neuen Überzeugung auf der anderen.70 Diese erste Lesart ist vereinbar damit, dass man Erfahrungen für relevant im Hinblick auf eine Wertüberzeugung ansieht, obwohl sie dafür gar nicht relevant sind (und umgekehrt: dass man Erfahrungen, die eigentlich relevant für die eigenen Wertüberzeugungen sind, für irrelevant ansieht). Doch wie andere internalistische Lesarten (von Selbstvertrauen bei Govier oder von der Rechenschaftsfähigkeit bei Benson) ist diese Auffassung zu schwach: Bert könnte die für ihn neue Erfahrung, dass eine Bekannte ihn in der U-Bahn nicht gegrüßt hat, als relevant im Hinblick auf seine Überzeugung ansehen, er sei eine liebenswürdige Person mit vielen Talenten; wenn Bert seine Überzeugung jedoch aufgrund dieser Erfahrung revidiert und nun glaubt, er sei eine minderwertige Person, die von niemandem gemocht wird, dann ist das im Hinblick auf seine Autonomie nicht gerade ein Fortschritt. Nach der zweiten (starken) Lesart ist mit der Fähigkeit, neue Erfahrungen als relevante Prüfsteine für die eigenen Wertüberzeugungen behandeln zu können, etwas anderes gemeint: dass nämlich eine Person in der Lage ist, neue Erfahrungen, die tatsächlich relevante Prüfsteine für die eigenen Wertüberzeugungen sind, auch als solche anzusehen.71 Doch diese Lesart ist eine Konjunktion aus einer externen und einer internen Bedingung: Eine Person ist nämlich nur dann autonom, wenn (1) die neue Erfahrung E relevant ist im Hinblick auf die Wertüberzeugungen der Person und wenn (2) die Person E als relevant ansieht für ihre Wertüberzeugungen. Die erste Bedingung ist eine externe (es liegt nicht an der Person, ob eine Erfahrung relevant ist oder nicht), die zweite (wie die erste Bedingung der ersten Lesart) eine interne. Zusammengenommen laufen die Bedingungen darauf hinaus, dass eine Person eine bestimmte zutreffende Überzeugung über die Relevanz neuer Erfahrungen haben muss. Und das ist eine substanzielle, externe Bedingung. Welche Lesart der von Blöser, Schöpf und Willaschek angeführten Bedingungen man auch bevorzugt: Man verlässt das Analyseschema (Selab ) der ausgefeilten Interaktionalistin entweder in Richtung einer internalistischen oder in Richtung einer konjunktiv interaktionalistischen Position. Eine ähnliche Überlegung lässt sich auch gegen Meyers’ Vorschlag vorbringen: Im Hinblick auf die Autonomie einer Person ist nicht der bloße Besitz der von ihr genannten Vermögen von Bedeutung, sondern deren Ausübung. Um autonom zu sein, kommt es darauf an, die eigenen Lebenspläne im Hinblick auf ihre Umsetzbarkeit auch tatsächlich an der Realität zu prüfen, bei anstehenden Entscheidungen aus früheren Erfahrungen tatsächlich gelernt zu haben, und unangemessenem
70 Dieser Teil der Bedingung ähnelt somit Christmans Bedingung minimaler Rationalität, die lediglich die Widerspruchsfreiheit von mentalen Einstellungen beschrieb; vgl. S. 148. 71 Diese Lesart scheint mir eher der Intention von Blöser, Schöpf und Willaschek zu entsprechen.
5.3 Die ausgefeilte Variante des Interaktionalismus |
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sozialem Druck auch wirklich zu widerstehen – und nicht nur darauf, zu diesen Dingen in der Lage zu sein (und es dann womöglich nicht zu tun). Die Fähigkeiten müssen somit erfolgreich ausgeübt werden. Es reicht beispielsweise auch nicht, sich lediglich um Widerstand gegen sozialen Druck zu bemühen (dann aber doch davon gebrochen zu werden) oder zu versuchen, aus früheren Entscheidungen zu lernen (dann aber doch nichts daraus zu lernen). John Santiago (2005, 90) hat in diesem Zusammenhang allerdings die berechtigte Frage aufgeworfen, woran sich der Erfolg der Ausübung der Fähigkeiten bemisst. Meyers stehen hier nur zwei Antwortmöglichkeiten zur Verfügung: Entweder bemisst sich der Erfolg der Ausübung der Vermögen an Standards, die in der Person gründen, oder an Standards, die unabhängig von der Person sind. Im ersten Fall könnte es sich beispielsweise um ein gesteigertes Wohlbefinden, die Reduktion von Ambivalenzen, Abwesenheit von Bedauern oder ein Gefühl der Kontrolle handeln. Doch all diese Standards wäre interner Natur: Es wären Aussagen über die mentale Verfassung der Person. Und sofern Autonomie an die erfolgreiche Ausübung bestimmter Vermögen gekoppelt wird, die erfolgreiche Ausübung dieser Vermögen sich aber an mentalen Einstellungen der Person bemisst, fällt man in eine internalistische Position zurück (für die Meyers auch einige Sympathien zu haben scheint). Im zweiten Fall hingegen bemisst sich die erfolgreiche Ausübung an Standards, die von der Person unabhängig sind – zum Beispiel an den realen Veränderungen im sozialen Machtgefüge, an objektiven Standards für die Realisierbarkeit von Plänen oder gewissen Rationalitätsbedingungen. Doch dann hängt Autonomie letztlich von externen Bedingungen ab. Auch Meyers’ Vorschlag ist somit bei genauerer Betrachtung gezwungen, das Schema (Selab ) zu verlassen.
5.3.5 Die Schwierigkeiten des ausgefeilten Interaktionalismus Die elaborierte Variante des Interaktionalismus ist von dem Anliegen motiviert, über die konjunktive Variante, die sich als unhaltbar erwiesen hat, hinauszugehen und Autonomie als eine stärkere Form der Interaktion von Selbst und Welt – nicht als bloßes Nebeneinander, sondern als eine „Verwobenheit“ – zu charakterisieren. Dazu muss die ausgefeilte Interaktionalistin die Dichotomie von internen und externen Bedingungen, die die bisherigen Überlegungen leitete, zurückweisen und eine neue Art von (interaktionalistischen) Bedingungen für Autonomie verständlich machen, in der Selbst und Welt „verwoben“ sind. Die ausführliche Auseinandersetzung hat drei Schwierigkeiten dieser Position aufgedeckt: Erstens überzeugen die Argumente für eine Zurückweisung der Dichotomie von internen und externen Bedingungen (und damit von These (III) des Trilemmas) nicht, da die allgemeinen Überlegungen zur Natur des Selbst (die ich „das interaktionale
184 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien Weltbild“ genannt hatte) gar nicht zeigen, dass das Selbst wirklich interaktional konstituiert ist, und da zwischen dem interaktionalistischen Verständnis des Selbst und dem interaktionalistisches Verständnis von Autonomie eine argumentative Lücke klafft – letzteres folgt nicht aus ersterem. Der Versuch, die Verwobenheit von Selbst und Welt sowie die besondere Natur interaktionalistischer Bedingungen für Autonomie verständlich zu machen, kann sich somit nicht auf das interaktionale Weltbild gründen und steht von Beginn an auf dünnem Eis. Ganz unabhängig vom interaktionalen Weltbild hat die eingehende Prüfung der drei wichtigsten Gruppen von ausgefeilt interaktionalistischen Positionen ergeben, dass diese Positionen zweitens instabil sind und in eine konjunktive Position kollabieren. Zum einen ließen sich stets autonomiebezogene Erfahrungen finden, in denen Interaktionen mit der äußeren Welt keine Rolle spielten – sei es, weil sich die Person (wie bei „inneren Barrieren“) selbst im Weg steht, sei es, weil (wie bei „äußeren Barrieren“) die äußere Welt unmittelbar und ohne Interaktion auf die Autonomie der Person wirkt –, so dass die von Interaktionalistinnen angeführten Bedingungen um interne und externe Bedingungen erweitert werden mussten. Zum anderen zeigte sich bei genauerer Betrachtung, dass sich die vermeintlich „interaktionalistischen“ Bedingungen in interne und externe Bedingungen aufspalten ließen. Auch dies führte zurück auf eine konjunktive Position. Dort, wo sich die Interaktionalistin dieser Aufspaltung widersetzte, sah sie sich der dritten Schwierigkeit – dem Sui-generis-Problem – ausgesetzt: Wenn man versucht, die mentalen Zustände oder inneren Fähigkeiten als „durch die äußere Welt konstituiert“ zu verstehen, so stellt sich die Frage, in welcher Weise der Einfluss der äußeren Welt zu verstehen ist. Interaktionalistinnen müssen einerseits betonen, dass es sich nicht bloß um einen empirischen, kausalen Zusammenhang handelt, können aber andererseits auch nicht behaupten, dass es ein begrifflicher Zusammenhang ist. Doch damit bleibt unklar, um welche Art von Zusammenhang es sich handeln soll; es müsste ein Zusammenhang ganz eigener Art sein und das ist theoretisch unbefriedigend. Das Problem der Instabilität und das Sui-generis-Problem sind dabei zwei Seiten derselben Medaille: Je mehr sich die „interaktionalistischen“ Bedingungen außerhalb des etablierten Rahmens von internen und externen Bedingungen bewegen, desto merkwürdiger werden sie; und je mehr sie sich innerhalb dieses Rahmens bewegen, desto eher lassen sie sich im Sinne einer Konjunktion von internen und externen Bedingungen analysieren. Insgesamt gelingt es der ausgefeilten Variante des Interaktionalismus somit nicht, zugleich eine echte Alternative zur konjunktiven Variante zu sein und die besondere Natur interaktionalistischer Bedingungen verständlich zu machen: Eine starke „Verwobenheit“ von Selbst und Welt ergibt sich weder aus dem interaktionalen Weltbild bezüglich des Selbst noch aus einzelnen interaktionalistischen
5.4 Das grundsätzliche Problem des Interaktionalismus |
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Konzeptionen von Autonomie. Und damit lässt sich Autonomie offenbar auch nicht gemäß Schema (Selab ) verstehen.
5.4 Das grundsätzliche Problem des Interaktionalismus Die interaktionalistische Strategie zur Lösung des Rätsels personaler Autonomie besteht darin, These (III) des Trilemmas zu leugnen und Autonomie als ein „Sichin-Beziehung-zur-Welt-Setzen“ zu verstehen. Das bedeutet, dass die Interaktionalistin den in (III) ausgedrückten Gegensatz zwischen Selbstverhältnissen und Weltverhältnissen aufgeben muss. Dies kann auf zwei Weisen geschehen. Die erste Möglichkeit ist, Selbst- und Weltverhältnisse zwar als unterscheidbar, aber kompatibel anzusehen. Diesen Weg beschreitet die konjunktive Variante des Interaktionalismus. Dabei stellt sich allerdings das Problem der Instabilität: Konjunktive Positionen bewegen sich stets in Richtung einer rein internalistischen Position oder in Richtung einer rein externalistischen Position. In dem Maße, in dem sie sich diesen Positionen nähern, handeln sie sich auch deren Probleme ein. Das Problem der Instabilität legt somit nahe, dass Selbst- und Weltverhältnisse (bzw. interne und externe Bedingungen) nicht als Bedingungen personaler Autonomie in einer logischen Konjunktion verknüpft werden können und insofern gerade nicht kompatibel sind. Die konjunktive Variante des Interaktionalismus reicht darum nicht aus, um das Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen von einem reinen Selbstbzw. einem reinem Weltverhältnis abzugrenzen und damit zur eigenständigen Grundlage personaler Autonomie zu machen. Die zweite Möglichkeit, den in These (III) ausgedrückten Gegensatz zwischen Selbst- und Weltverhältnissen aufzugeben, besteht darin zu leugnen, dass es sich bei Selbst- und Weltverhältnissen überhaupt um zwei verschiedene Dinge handelt. Hier geht es nicht darum, die Kompatibilität der beiden Arten von Verhältnissen aufzuzeigen, sondern beide einander anzugleichen; dazu benötigt man neben internen und externen Bedingungen (die aus rein logischen Gründen nicht einander angleichbar sind) eine dritte Art von Bedingungen – genuin interaktionalistische Autonomiebedingungen –, die eine Verwobenheit von Selbst und Welt zum Ausdruck bringen. Diesen Weg der Angleichung von internen und externen Bedingungen beschreitet die ausgefeilte Variante des Interaktionalismus. Diese Position ist allerdings mit dem Problem konfrontiert, dass sich die besondere Art der interaktionalistischen Autonomiebedingungen nicht verständlich machen lässt (Sui-generis-Problem) – und dass die Position dort, wo sich die besondere Art der Bedingungen verständlich machen lässt, wieder in eine konjunktive Position zurückfällt. Die Angleichung von Selbst- und Weltverhältnissen, die sich die
186 | 5 Ein Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen? Interaktionalistische Theorien ausgefeilte Variante zum Ziel gesetzt hat, ist somit letztlich nicht überzeugend zu leisten. Beide Varianten der interaktionalistischen Lösungsstrategie haben mit einer Form inhärenter Instabilität zu kämpfen: Die konjunktive Variante droht stets, in eine rein internalistische oder eine rein externalistische Variante zu kollabieren, und die ausgefeilte Variante läuft Gefahr, in die konjunktive Variante (und deren Instabilität) zurückzufallen. Diese Instabilität ist kein Zufall, sondern ergibt sich aus der Ablehnung von These (III) des Trilemmas: Da sie die Vorstellung, Autonomie sei ein reines Selbst- oder ein reines Weltverhältnis ablehnen, gehen Interaktionalistinnen davon aus, dass sich Autonomie darin manifestiert, wie sich eine Person (im starken oder schwachen Sinne) in Beziehung zur sie umgebenden Welt setzt. Doch wie die Auseinandersetzung gezeigt hat, kommt es für Autonomie immer darauf an, sich auf die richtige Weise in Beziehung zur Welt zu setzen: Man muss angemessen auf neue Erfahrungen reagieren, sich in die richtige Richtung wandeln, sich berechtigterweise als rechenschaftsfähig ansehen oder das richtige Maß an Selbstvertrauen haben. Dann stellt sich aber immer die Frage, woran sich die richtige Weise des „Sich-in-Beziehung-zur Welt-Setzens“ bemisst: an von der Person gestifteten oder an von ihr unabhängigen Standards? Wenn die richtige Weise des „Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzens“ sich an der Welt bemisst, bewegt man sich in Richtung des Externalismus. Bemisst sie sich hingegen am Individuum, folgt man eher der internalistischen Richtung. Daher sind interaktionalistische Positionen stets instabil. Wollte man diese Instabilität vermeiden, müsste man behaupten, dass die Standards für das richtige Maß der Interaktion von Selbst und Welt sich weder aus der Person noch aus der sie umgebenden Welt ergeben. Und da damit unklar ist, um welche Standards es sich handeln sollte, müssten es wohl Standards ganz eigener Art sein, die die Idee der Autonomie jedoch nicht weiter erhellen, da sie rätselhaft und unverständlich bleiben. Auch die Ablehnung von These (III) löst das Rätsel der Autonomie somit nicht. Und damit ist auch die interaktionalistische Strategie gescheitert.
| Teil III: Eine normative Konzeption personaler Autonomie
6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff Die Ausgangsfrage der Arbeit war die Frage nach der Natur personaler Autonomie: „Unter welchen Bedingungen ist eine Person autonom?“ oder auch „Was heißt es, als Person autonom zu sein?“. In den Kapiteln 3 bis 5 wurden die wichtigsten bislang vertretenen Antworten auf diese Frage – Internalismus, Externalismus und Interaktionalismus – behandelt und zurückgewiesen. Ein solches negatives Ergebnis erzeugt zwei Arten von Erwartungen im Hinblick auf die Ausgangsfrage: Erstens möchte man gern wissen, was denn nun die richtige Antwort ist. Zu diesem Zweck muss ich irgendwann eine konstruktive These über die Natur personaler Autonomie vertreten. Zweitens möchte man aber auch gern wissen, warum denn die bisherigen Antwortversuche eigentlich unzureichend sind – was sie übersehen haben oder welches Missverständnis der tiefer liegende Grund ihres Scheiterns ist. Zu diesem Zweck muss ich irgendwann eine diagnostische These über die Natur personaler Autonomie vertreten. In diesem Kapitel möchte ich eine solche diagnostische These über die „wahre Natur“ des Autonomiebegriffs entwickeln und verteidigen. Diese These besagt, dass Autonomie ein dicker normativer Begriff ist, der für eine bestimmte Form praktischer Autorität steht. Ich werde diese These zunächst erklären, dann verteidigen und schließlich zeigen, dass sich daraus die bisher dargestellte Debatte um die Natur personaler Autonomie unter einem neuen Blickwinkel betrachten lässt. Das ist der erste Schritt in Richtung einer Lösung des Rätsels personaler Autonomie. Der zweite Schritt besteht darin, im Lichte dieser diagnostischen These Bedingungen personaler Autonomie zu formulieren (denn wie sich zeigen wird, liefert die diagnostische These diese Bedingungen nicht bereits selbst) und damit eine konstruktive These über die Natur personaler Autonomie zu vertreten; dies geschieht in Kapitel 7.
6.1 Die Normativitätsthese Wie die Auseinandersetzung in Teil II gezeigt hat, ist es keineswegs einfach, die Frage nach den Bedingungen dafür, dass der Begriff Autonomie auf eine Person zutrifft, zu beantworten. Darum möchte ich nun einen Schritt zurück treten und fragen, was für eine Art von Begriff der Begriff Autonomie eigentlich ist.
190 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff
6.1.1 Ein dicker normativer Begriff Offenbar handelt es sich bei Autonomie nicht um einen rein beschreibenden Begriff wie hat blaue Augen oder ist 1,74 m gross. Wenn man über die Frage streitet, ob eine Person blaue Augen hat oder 1,74 m groß ist, dann steht dabei etwas anderes auf dem Spiel als bei einem Streit um die Frage, ob die Person autonom ist. Der Unterschied liegt darin, dass die Antwort auf die Frage nach der Autonomie – unter der drittpersonalen Perspektive – Auswirkungen auf das berechtigte Verhalten anderer gegenüber der Person hat:72 Wenn die Person autonom ist, dann müssen andere Personen im Umgang mit ihr Dinge beachten, die sie nicht beachten müssten, wenn die Person nicht autonom wäre. Die Willensbekundung der autonomen Patientin muss von der Ärztin anders berücksichtigt werden als die Willensbekundung der heteronomen Patientin; wir sollten uns um die fremdbestimmte Frau sorgen, die von ihrem Mann unterdrückt wird und eine Burka tragen muss (und wir sollten ihr vielleicht die Telefonnummer einer Frauenberatungsstelle geben); und die alternde Frau, die ihr Leben nicht mehr selbstbestimmt führen kann, benötigt Hilfe, während man der alternden Frau, die noch sehr gut alleine zurecht kommt, seine Hilfe nicht aufdrängen sollte. Offenbar ändern sich also die normativen Beziehungen zu einer Person, wenn diese ihre Autonomie verliert oder gewinnt. Darin ähnelt der Begriff Autonomie solchen Begriffen wie Tod oder auch verheiratet sein: Auch diese erzeugen ein Begriffspaar („tot“/„lebendig“, „verheiratet“/„ledig“) und wer innerhalb eines solchen Paares die Seiten wechselt (also stirbt oder heiratet), zu dem verändern sich unsere normativen Beziehungen. Es gibt dann Gründe für und gegen Handlungen, wo vorher keine waren; es bestehen Verbindlichkeiten, die vorher nicht existierten; und manche Rechte oder Pflichten erlöschen. Mit dem Zu- oder Absprechen von Autonomie ändert sich der Charakter der normativen Beziehungen zwischen Personen. Man könnte auch sagen, dass es zu so etwas wie einem „normativen Umschwung“ kommt: Die Grenzen des legitimen Umgangs mit Personen – was wir tun dürfen und was wir lassen müssen – verändern sich. Begriffe wie hat blaue Augen oder ist 1,74 m gross enthalten einen solchen normativen Umschwung nicht. Zwar ist es durchaus möglich, dass es einen Unterschied für irgend jemandes Verhalten macht, ob eine Person 1,74 m groß ist – davon hängt beispielsweise die Aufnahme in die Schweizergarde ab. Aber erstens ist dieser mögliche praktische Umschwung nicht im Begriff selbst angelegt: Dass man mit 1,74 m Körpergröße Schweizergardist werden kann, ist nicht Teil dessen, was es heißt, 1,74 m groß zu sein. Und zweitens geht es bei der Körpergröße
72 Auf die erstpersonale Perspektive komme ich im folgenden Abschnitt 6.2 zu sprechen.
6.1 Die Normativitätsthese |
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nicht um einen Unterschied hinsichtlich des berechtigten Verhaltens, es findet kein normativer Umschwung statt: Niemand erwirbt Ansprüche, Rechte oder Pflichten allein aufgrund der Tatsache, dass er 1,74 m groß ist. Bei Tod, verheiratet sein und eben auch Autonomie ist das anders: Erstens findet hier ein normativer Umschwung statt und zweitens gehört dieser zum Begriff (bzw. zur Bedeutung der entsprechenden Ausdrücke). Wer nicht verstanden hat, dass das Zutreffen dieser Begriffe einen Unterschied für den berechtigten Umgang mit Personen macht, der beherrscht diese Begriffe einfach nicht vollständig. Insbesondere gilt im Fall von Autonomie: Wer nicht verstanden hat, dass die Antwort auf die Frage nach der Autonomie einer Person immer auch Konsequenzen hat für die Frage, wie mit der Willensbekundung der Patientin, der unterdrückten oder der alternden Frau berechtigterweise umzugehen ist, der hat nicht verstanden, was es heißt, autonom zu sein. Um den „Umschwung“, von dem hier die Rede ist, etwas genauer zu kennzeichnen, ist es hilfreich, den Begriff des praktischen Grundes ins Spiel zu bringen. Man kann die normative Veränderung, die sich ergibt, wenn eine Person ihre Autonomie gewinnt oder verliert, nämlich auch so beschreiben: Die Ärztin hat bei einer Willensbekundung einer autonomen Person einen Grund, bestimmte Behandlungen zu unterlassen (nämlich jene Behandlungen, die die Patientin nicht an sich durchgeführt bekommen möchte), den sie nicht hat, wenn die Patientin heteronom wäre. Wenn eine unverheiratete Frau selbstbestimmt zum Islam konvertiert und selbstbestimmt eine Burka zu tragen beginnt, haben wir Grund, von der Weitergabe der Nummer der Frauenberatungsstelle abzusehen und diese Entscheidung zu respektieren – einen Grund, den wir im Fall der Frau, die von ihrem Mann unterdrückt und gezwungen wird, den Schleier zu tragen, nicht haben. Während wir im Fall der alternden Frau, die nicht mehr allein zurecht kommt, unsere Hilfe stets aufs Neue anbieten dürfen, haben wir im Fall der Frau, die noch gut alles allein regeln kann, Grund dazu, unsere Hilfsangebote nicht mit Nachdruck immerfort zu wiederholen. Und wenn eine autonome Person sich tätowieren lassen möchte, dann haben wir Grund, uns mit Versuchen, sie davon abzuhalten, eher zurückhalten; wenn die Person hingegen in einem Anflug von Manie, unter Drogen, auf bedrohendes Drängen ihres Freundes oder nach einer Hypnose das Tätowierstudio betritt, dann sieht die Situation sehr anders aus: Da die Person offenbar fremdbestimmt ist, hat sich die Zurückhaltung, zu der wir zuvor Grund hatten, nun erübrigt. Der Umschwung in den normativen Beziehungen zwischen Personen lässt sich also als eine Veränderung in den praktischen Gründen verstehen, die für die beteiligten Personen vorliegen: Wenn eine Person autonom ist, besteht
192 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff offenbar ein Grund, bestimmte Handlungen zu unterlassen,73 der nicht besteht, wenn die Person heteronom ist (vgl. Kupfer 1990, Kap. 2). So wie der normative Umschwung gehört auch das Vorliegen eines praktischen Grundes ganz wesentlich zum Begriff Autonomie. Denn wer nicht verstanden hat, dass man einen Grund hat, von bestimmten Handlungen abzulassen, wenn eine Person autonom ist (einen Grund, den man nicht hat, wenn die Person heteronom ist), der hat nicht verstanden, mit welchem normativen Umschwung der Autonomiebegriff verbunden ist. Und wer das nicht verstanden hat, der beherrscht den Begriff Autonomie einfach nicht vollständig bzw. hat die Bedeutung des Ausdrucks „autonom“ nicht vollständig durchschaut. Wer den Begriff der Autonomie besitzt, weiß also, dass seine Anwendung mit Aussagen über das Vorliegen von bestimmten praktischen Gründen einhergeht. Das unterscheidet Autonomie deutlich von Begriffen wie hat blaue Augen oder ist 1,74 m gross: Diese implizieren nämlich für gewöhnlich gar nichts in Bezug auf unsere praktischen Gründe. Natürlich kann auch die Tatsache, dass jemand blaue Augen hat, ein Grund sein, bestimmte Dinge zu tun (wenn man blaue Augen schön findet, kann es vielleicht ein Grund sein, die betreffende Person zum Essen einzuladen). Aber dieser Grund besteht nicht aufgrund des begrifflichen Gehalts von hat blaue Augen, sondern erst aufgrund einer kontingenten Präferenz für blaue Augen. Blaue Augen selbst geben niemandem Gründe, etwas zu tun oder zu unterlassen – die Autonomie von Personen hingegen schon. Wenn im Gehalt eines Begriffs ein derart enger Zusammenhang zum Vorliegen oder zur Abwesenheit von praktischen Gründen (d. h. Gründen für Handlungen) angelegt ist, dann handelt es sich um einen praktisch-normativen Begriff : Mit der Verwendung von Wörtern, die für einen solchen Begriff stehen, wird immer ein Anspruch an unsere praktische Vernunft – eben ein praktischer Grund – zum Ausdruck gebracht.74 Der erste Bestandteil der zu entwickelnden Normativitätsthese besagt nun: Autonomie ist ein solcher normativer Begriff. Und die Eigenschaft der Autonomie, auf die sich der Begriff bezieht, ist dementsprechend eine normative Eigenschaft von Personen – so wie die Eigenschaft der Personalität eine normative Eigenschaft von Menschen ist.
73 Die Veränderung betrifft auch praktische Gründe mit anderem Gehalt (etwa Gründe dafür, bestimmte Einstellungen zu haben); ich komme auf die Vielfalt des Umschwungs in Abschnitt 6.2.2 (S. 213) noch zu sprechen. An dieser Stelle ist lediglich wichtig, dass sich der normative Umschwung (a) stets als Veränderung in den praktischen Gründen beschreiben lässt und dass diese Veränderungen (b) immer auch die Gründe für die Unterlassung von Handlungen betreffen. 74 Es gibt auch Begriffe wie Naturgesetz, die sich auf Ansprüche an unsere theoretische Vernunft, z. B. Gründe für Vorhersagen, beziehen (vgl. Ernst 2009, Kap. 3.2); im Folgenden meine ich mit „normativ“ aber stets „praktisch-normativ“.
6.1 Die Normativitätsthese |
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Auch moralisch gut oder Pflicht sind normative Begriffe im eingeführten Sinne: Wenn eine Handlung moralisch gut oder eine Pflicht ist, dann gibt es (sehr gute) Gründe, sie auszuführen. Auch die Verwendung dieser Begriffe geht also immer einher mit einem Urteil über das Vorliegen praktischer Gründe (und auch diese Tatsache wurzelt im Gehalt der Begriffe bzw. in der Bedeutung der entsprechenden Ausdrücke). Dennoch gibt es zwei Unterschiede zwischen dem normativen Begriff Autonomie auf der einen und normativen Begriffen wie moralisch gut oder Pflicht auf der anderen Seite: Erstens scheint der Begriff Autonomie eine Beschreibung zu enthalten, die moralisch gut oder Pflicht fehlt. Wenn wir hören, irgendetwas sei moralisch gut, dann haben wir in der Regel keine Vorstellung davon, um was für eine Handlung es sich handeln könnte: Hat jemand viel Geld gespendet? Hat jemand Zivilcourage gezeigt? Hat jemand geholfen? Der Begriff moralisch gut ist zu unspezifisch, als dass sich daraus eine genauere Beschreibung der Handlung, auf die er zutrifft, ergeben würde. Wenn man hingegen hört, irgendeine Person sei autonom, dann haben wir durchaus einige Vorstellungen davon, wie die Person sich verhält oder welchen Charakter sie hat: Vermutlich hat die Person ihr Tun reflektiert; in ihr hat sich keine Neigung verselbstständigt; sie wurde nicht gezwungen etc. Im Unterschied zu solchen „inhaltsarmen“ Begriffen wie moralisch gut oder Pflicht haben wir im Fall von Autonomie durchaus Vorstellungen darüber, wie die Situation beschaffen ist, in der der Begriff verwendet wird. Autonomie scheint somit ein etwas spezifischerer normativer Begriff zu sein. Das sieht man auch daran, dass man mit dem Autonomiebegriff eine Art „Beschreibungsfehler“ machen kann: Wenn Adele Bert kaltblütig ermordet und anschließend verstümmelt, dann wäre es etwas eigenartig, Adeles Handlung als Verletzung von Berts Autonomie zu beschreiben. Zwar ist es ohne Zweifel zutreffend, dass Adeles Handlung falsch war, und insofern macht diejenige Sprecherin, die den Mord und die Verstümmlung als Verletzung der Autonomie beschreibt, keinen Fehler in der moralischen Einschätzung der Situation: Beides, die tatsächliche Handlung (Mord und Verstümmlung) und die vorgeschlagene Beschreibung der Handlung (Verletzung der Autonomie) haben dieselbe „moralische Polarität“: Ein Mord mit Verstümmlung ist falsch, die Verletzung der Autonomie auch. Aber als Beschreibung der Tat scheint „Adele hat Berts Autonomie verletzt“ (ebenso wie Beschreibungen, die Adeles Tat als unhöflich, unanständig oder als Instrumentalisierung bezeichnen) unangemessen, denn dies spiegelt einfach viele Eigenschaften der tatsächlichen Handlung nicht wieder: dass Adele kaltblütig gehandelt hat, dass viel Blut geflossen ist, dass es widerwärtig war etc. Dass diese Beschreibung von Adeles Tat als Autonomieverletzung unangemessen ist, impliziert, dass der Begriff Autonomie beschreibenden Gehalt hat, der gewissen anderen normativen Begriffen wie moralisch gut oder Pflicht fehlt. Denn zwar könnte man Adeles Tat ohne Zweifel auch als moralisch schlecht (bzw. moralisch nicht gut) bezeich-
194 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff nen; aber damit würde man gewisse Informationen über das grausame Geschehen verlieren, weil der Begriff moralisch schlecht keinen beschreibenden Gehalt hat: Adeles „moralische schlechte“ Tat hätte nach dieser Beschreibung ebenso gut auch eine Lüge, unterlassene Hilfeleistung oder fehlende Zivilcourage sein können. Zweitens funktioniert der Begriff Autonomie in Begründungskontexten anders als moralisch gut oder Pflicht. Stellen wir uns vor, wir bekommen mit, wie Bert die etwas naive Clara zu manipulieren versucht. Wir fordern ihn auf, das zu unterlassen und Bert fragt nach einer Begründung: „Warum sollte ich das nicht tun?“ Eine naheliegende Antwort unsererseits wäre: „Weil es Claras Autonomie verletzt.“ Hier ist die Tatsache (nehmen wir an, es sei eine), dass die Manipulation einer Person deren Autonomie verletzt, der Grund, aus dem die Handlung unterlassen werden sollte. Die Tatsache, dass etwas unter den Begriff Autonomie oder Autonomieverletzung fällt, scheint also einen Grund für oder gegen eine Handlung liefern zu können. Weniger gute Antworten auf Berts Frage nach einer Begründung wären hingegen: „Weil du damit eine Pflicht verletzt“ oder „Weil es moralisch schlecht ist“. Diese Antworten bringen nämlich lediglich zum Ausdruck, dass (wahrscheinlich: die besten) Gründe dafür sprechen, die entsprechende Handlung zu unterlassen; aber sie sagen nicht, aus welchem Grund – also warum – Bert sie unterlassen sollte. Gäben wir eine dieser Antworten, so könnte Bert völlig zu Recht antworten: „Ja, das sagtest du bereits. Aber ich wollte wissen, warum ich eine Pflicht verletze oder warum es moralisch schlecht ist. Und darauf bist du mir noch immer eine Antwort schuldig.“ Das zeigt, dass die Tatsache, dass eine Handlung unter einen normativen Begriff wie moralisch gut oder Pflicht fällt, zwar impliziert, dass es Gründe für oder gegen die entsprechende Handlung gibt – aber diese Tatsache ist nicht selbst der Grund, aus dem man die Handlung tun oder unterlassen sollte. Genau das ist bei einem normativen Begriff wie Autonomie anders: Die Tatsache, dass eine Handlung die Autonomie einer Person verletzen würde, ist ein Grund (oder konstituiert einen Grund) dafür, die Handlung zu unterlassen.75 Man kann somit sagen, dass Autonomie (im Gegensatz zu moralisch gut oder Pflicht) ein deskriptiv und moralisch gehaltvoller normativer Begriff ist. In dieser Hinsicht gleicht er normativen Begriffen wie grosszügig, brutal oder unhöflich. Auch diese Begriffe implizieren, dass jeweils gewisse praktische Gründe vorliegen (das macht sie zu normativen Begriffen): Dass eine Handlung brutal oder unhöflich wäre, ist Grund, sie zu lassen; dass sie großzügig wäre, ist Grund, sie zu tun. Auch diese Begriffe haben einen deskriptiven Gehalt: Brutalität ist keine
75 Ich werde weiter unten (S. 202) noch genauer erklären, wie man sich diese „Konstitution“ eines Grundes vorstellen kann. Siehe dazu auch die Diskussion des Einwands auf S. 226.
6.1 Die Normativitätsthese |
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Gemeinheit, Unhöflichkeit keine Arroganz und Großzügigkeit keine Barmherzigkeit. Und auch diese Begriffe lassen sich in Rechtfertigungen direkt als Gründe anführen: Man sollte bestimmte Dinge nicht tun, weil sie brutal oder unhöflich wären, und andere Dinge tun, weil sie großzügig wären. Im Anschluss an Bernard Williams bezeichnet man solche Begriffe als dicke moralische Begriffe („thick moral concepts“, Williams 1985, 129; Begriffe wie moralisch gut oder Pflicht sind demgegenüber „dünne“ (thin) moralische Begriffe).76 Autonomie ist also nicht nur ein normativer Begriff, es ist sogar ein dicker normativer Begriff. Das ist der zweite Bestandteil der zu entwickelnden Normativitätsthese: Die Normativitätsthese (erste Näherung) Personale Autonomie ist ein dicker normativer Begriff.
Diese These findet in der Debatte um Autonomie kaum explizite Beachtung und ist allenfalls in ansatzhaft entwickelter Form anzutreffen.77 Ein erster Schritt zur genaueren Ausarbeitung der These besteht darin, sich über den Charakter des Grundes, der durch Autonomie gestiftet wird, klarer zu werden.
6.1.2 Autonomie als eine Form praktischer Autorität Die Normativitätsthese impliziert, dass Aussagen über Autonomie immer auch Aussagen über das Vorliegen praktischer Gründe sind und dass die Tatsache, dass jemand autonom ist, selbst ein solcher praktischer Grund ist. Da aber offenbar alle dicken normativen Begriffe ganz ähnlich strukturiert sind, hilft uns die bisherige Form der Normativitätsthese nicht weiter, um z. B. Autonomie von anderen dicken
76 Im Deutschen werden „thick concepts“ manchmal auch als „dichte“ (so Birnbacher 2013, 339) oder „inhaltsreiche“ (so Millgram 1995, 354) Begriffe bezeichnet. Wie Stoecker (2009, 43) m. E. richtig feststellt, handelt es sich dabei aber um „eine fatale Verfälschung der gemeinten Metapher“: Ebenso wie dicke Menschen im Unterschied zu dünnen Menschen eine ins Auge fallende Ausdehnung in einer zweiten Dimensionen haben, haben auch „thick concepts“ gegenüber „thin concepts“ eine eigentümliche Ausdehnung in einer weiteren (nämlich deskriptiven) Dimension. 77 Meines Wissens deuten lediglich die Überlegungen von Anderson (2008) und Nordström (2009, 39f.) in die Richtung, dass es sich bei Autonomie um einen dicken normativen Begriff handeln könnte. Beide arbeiten diese Idee dort allerdings nicht weiter aus. Die schwächere These, dass Autonomie jedenfalls ein normativer Begriff ist, findet sich bei Henning (2009, 38, 41). Ausgehend von Beobachtungen über den mit Autonomiezuschreibungen charakteristischerweise verbundenen normativen Umschwung skizziert Anderson (2014) in einer späteren Arbeit eine Konzeption von Autonomie als normativem Status, die in ihren Grundzügen (nicht aber in ihrer starken Kontextualisierung) Ähnlichkeiten zur im Folgenden entwickelten Konzeption aufweist.
196 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff Begriffen wie Grosszügigkeit abzugrenzen. Wenn man aus der Normativitätsthese philosophisches Kapital schlagen möchte, muss man mehr dazu sagen, wie der „autonomiebezogene Grund“78 genauer zu charakterisieren ist.79 Ein Grund hat erstens einen bestimmten Gehalt: Er spricht für oder gegen etwas. Sofern es sich um praktische Gründe handelt, ist das, wofür der Grund spricht, eine Handlung oder die Unterlassung einer Handlung (von einem „epistemischen Grund“ könnte man sprechen, wenn man Grund für eine bestimmte Überzeugung hat). Im Fall personaler Autonomie ist das, wofür der autonomiebezogene Grund spricht, die Unterlassung von Eingriffen in die Entscheidung oder die Lebensweise der Person, von der Autonomie ausgesagt wird. Dass sich Bert autonom für das Tattoo entschieden hat, ist für uns beispielsweise ein Grund, uns nicht in diese Sache einzumischen und in seine Entscheidung einzugreifen. Der autonomiebezogene Grund spricht dagegen, Bert am Zutritt zum Studio zu hindern, den Tätowierer zu bestechen oder Bert auf andere Weise zu beeinflussen; Berts Autonomie ist aber kein Grund, ihm Geld zu schenken, ihn zu ermutigen oder ihn zum Studio zu fahren. Solche Gründe könnten durch Berts Armut, durch seine Angst oder Sorge sowie durch seine Verletzung (ein gebrochenes Bein) gestiftet werden. Der charakteristische Gehalt des autonomiebezogenen Grundes scheint also in der Unterlassung von Eingriffen in die Entscheidung oder Lebensweise einer Person zu liegen. Ein Grund hat zweitens einen bestimmten Adressatenkreis: Es ist ein Grund für jemanden, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen. Der Adressatenkreis
78 Im Folgenden verwende ich die etwas künstliche Redeweise „autonomiebezogener Grund“, um abkürzend auf den durch Autonomie gestifteten praktischen Grund Bezug zu nehmen. 79 Man könnte versucht sein, diese Charakterisierung im Rückgriff auf den Begriff Wert vorzunehmen und die Quelle des autonomiebezogenen Grundes im Wert der Autonomie zu sehen (und entsprechend den Wert der Autonomie genauer zu charakterisieren). Wie weit das führt, hängt allerdings davon ab, wie genau sich Werte und Gründe zueinander verhalten. Folgt man etwa einer Fitting-attitude-Analyse von Werturteilen (derzufolge wertvoll zu sein darin besteht, das passende Objekt zu einer Pro-Einstellung zu sein; siehe Rabinowicz und Rønnow-Rasmussen 2004), und geht man davon aus, dass das passende Objekt zu einer Pro-Einstellung zu sein darin besteht, Eigenschaften zu haben, die einem Gründe geben, gegenüber diesem Objekt eine Pro-Einstellung einzunehmen, dann gelangt man zu einer sog. Buck-passing-Konzeption von Werturteilen, nach der wertvoll zu sein darin besteht, Eigenschaften zu haben, die einem Gründe geben, gegenüber dem Objekt eine Pro-Einstellung einzunehmen (Scanlon 1998, 95–100). Damit wäre die Gründe-Relation basal, und der Rekurs auf den Wert der Autonomie würde am Ende wieder darauf hinauslaufen, dass man über die Eigenschaften reden muss, die einem Gründe geben. Daher werde ich im Folgenden nicht weiter versuchen, den autonomiebezogenen Grund über den Wert der Autonomie zu charakterisieren. Die Festlegung auf dieses Vorgehen schließt natürlich nicht aus, dass Autonomie tatsächlich ein (womöglich gar intrinsischer) Wert ist; sie schließt lediglich aus, dass man in der weiteren Analyse bei diesem Sachverhalt ansetzt.
6.1 Die Normativitätsthese |
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kann weiter oder enger sein, je nachdem, um welche Art von praktischem Grund es sich handelt. Ein instrumenteller praktischer Grund liegt beispielsweise nur für diejenige Person vor, die auch ein entsprechendes Motiv hat: Nur wer den Wunsch hat, zur Arbeit zu fahren, für den kann die Tatsache, dass das Fahrrad dazu das geeignetste Mittel ist, ein Grund sein, das Fahrrad zu nehmen. Moralische praktische Gründe gelten demgegenüber für gewöhnlich nicht als in dieser Weise relativ zu den Interessen, Wünschen und Motiven einer Person: Jedes Mitglied der moralischen Gemeinschaft hat Grund, anderen Menschen kein Leid zuzufügen. Der durch Autonomie gestiftete Grund ähnelt hinsichtlich des Adressatenkreises eher einem moralischen Grund: Wenn Bert autonom ist, dann hat jede Person Grund, nicht in seine Belange (und die Entscheidung für ein Tattoo ist ein solcher Belang) einzugreifen; der Grund ist also an alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft „adressiert“ und nicht nur an die Person, die ein bestimmtes Motiv hat (und Bert beispielsweise mag). Der Adressatenkreis des autonomiebezogenen Grundes ist somit die gesamte moralische Gemeinschaft. Ein Grund hat drittens gewisse strukturelle Eigenschaften, die sein Zusammenspiel mit anderen Gründen charakterisieren: Ein Grund kann weniger gewichtig als andere Gründe oder auch gänzlich unabwägbar sein; er kann ein Grund sein, der andere Gründe stets übertrumpft; er kann ein Grund sein, der andere Gründe ersetzt, auf anderen Gründen basiert oder andere Gründe nichtig macht. Der autonomiebezogene Grund scheint mir zwei strukturelle Eigenschaften zu haben: Zum einen hat er unter der drittpersonalen Perspektive, um die es hier zunächst geht, die strukturellen Eigenschaften und insb. das Gewicht eines moralischen Grundes. Das hat nicht nur damit zu tun, dass sein Adressatenkreis die gesamte moralische Gemeinschaft ist, sondern vor allem damit, dass die Unterlassung von Eingriffen, zu denen die Autonomie einer Person Grund gibt, dieser Person selbst geschuldet ist und eine Rechenschaftspflicht erzeugt: Wenn wir Berts Autonomie im Fall der Entscheidung für ein Tattoo auf eine der zuvor beschriebenen Weisen verletzten oder einschränkten, dann könnte er von uns berechtigterweise Rechenschaft – eine Rechtfertigung, eine Entschuldigung oder zumindest eine Erklärung – verlangen. Natürlich ist es möglich, dass wir sehr gute Gründe für unser Tun anführen können und die Autonomieverletzung alles in allem betrachtet sogar gerechtfertigt war (etwa dann, wenn dies die einzige Möglichkeit ist, eine moralische Katastrophe zu verhindern). Aber entscheidend ist, dass wir dann einfach eine Forderung bedienen, die zu stellen Bert berechtigt ist: Wenn wir dem autonomiebezogenen Grund nicht gerecht werden (also nicht das tun, wofür dieser Grund spricht), dann ist Bert ist in der Position, uns Rechenschaft abzuverlangen, weil ihm die Achtung seiner Autonomie geschuldet ist. Der autonomiebezogene Grund weist damit ein allgemeines Kennzeichen moralischer Gründe auf: Denn wenn man einem moralischen Grund nicht gerecht wird, dann ist man gegenüber einer
198 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff Person rechenschaftspflichtig; das heißt, die Person ist berechtigt, Rechenschaft dafür einzufordern, dass man dem moralischen Grund nicht gerecht geworden ist. Darin unterscheiden sich moralische Gründe von anderen Arten praktischer Gründe: Wenn ich vermute, dass meine Nachbarin sich freuen würde, wenn ich ihr Kartoffeln aus meinem Garten mitbringe, und wenn ich meiner Nachbarin eine Freude machen möchte, dann habe ich einen Grund, meiner Nachbarin Kartoffeln aus dem Garten mitzubringen. Aber dieser Grund ist kein moralischer Grund, denn wenn ich diesem Grund nicht gerecht werde und es versäume, Kartoffeln aus dem Garten mitzubringen, dann könnte meine Nachbarin von mir nicht berechtigterweise Rechenschaft einfordern: Sie ist einfach nicht in der Position, um mich zur Rede zu stellen und eine Rechtfertigung, Entschuldigung oder Erklärung dafür zu verlangen, denn ich schulde es ihr nicht. Im Gegensatz dazu erzeugt der autonomiebezogene Grund eine solche Rechenschaftspflicht; es ist ein moralischer Grund, der folglich auch dieselben strukturellen Eigenschaften hat, die andere moralische Gründe haben.80 Das zweite strukturelle Merkmal des autonomiebezogenen Grundes ist, dass es sich um einen inhaltsunabhängigen Grund handelt. Um diesen Aspekt der Funktionsweise des autonomiebezogenen Grundes genauer zu verstehen, ist es instruktiv, an dieser Stelle die Idee einer praktischen Autorität ins Spiel zu bringen (vgl. dazu Raz 1986, Kap. 2 und 3): Dass A gegenüber B Autorität hat, heißt, dass A die Macht hat, von B berechtigterweise81 verlangen zu können, dass B etwas Bestimmtes tut oder nicht tut, weil sie, die Autorität A, es verlangt. In diesem Sinne hat die Polizistin beispielsweise Autorität gegenüber mir: Sie kann von mir verlangen, mit dem Fahrrad anzuhalten. Dabei beansprucht sie mit ihrer Anweisung „Halten Sie an!“, dass ich anhalte, weil sie es angewiesen hat. Denn nur wenn der Grund, aus dem ich das Rad anhalte, auch wirklich die Tatsache ist, dass die Polizistin mich dazu aufgefordert hat, kann man auch davon sprechen, dass die Polizistin mir gegenüber ihre Autorität ausgeübt hat. Wenn ich das Rad nämlich nur anhalte, weil mir gerade das Brot aus dem Korb gefallen ist, dann geht diese Handlung nicht auf die Autorität der Polizistin zurück. Dass A gegenüber B praktische Autorität hat, bedeutet also, dass A von B berechtigterweise verlangen darf, dass B etwas Bestimmtes tut oder nicht tut, weil sie, die Autorität A, es verlangt. Und das heißt
80 Die Frage, welche Eigenschaften das genau sind, führt an dieser Stelle zu weit; für den weiteren Gang der Überlegungen kommt es auf die genauen Eigenschaften auch gar nicht an. 81 Dass A dies berechtigterweise verlangen darf, heißt, dass hier von legitimer Autorität bzw. Autorität de jure die Rede ist. Man kann auch in einem De-facto-Sinn von praktischen Autoritäten sprechen und meint dann, dass A (z. B. aufgrund körperlicher Überlegenheit) die Macht hat, eine Handlung oder Unterlassung von B zu verlangen; dabei bleibt offen, ob diese Macht legitim ist. In Folgenden verwende ich den Ausdruck „praktische Autorität“ stets im de jure-Sinn.
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nichts anderes, als dass die Adressatin der Anweisung einen praktischen Grund hat, das Angewiesene zu tun – einen Grund, der durch die Anweisung der Autorität selbst (durch die Tatsache, dass die Autorität es angewiesen hat) konstituiert wird. Dass A praktische Autorität gegenüber B hat, bedeutet also, dass die Anweisung von A für sich genommen Grund für B ist, das zu tun, was A angewiesen hat (vgl. „A person has (practical) authority [. . . ] only if his authoritative utterances are themselves reasons for action“, Raz 1986, 35). Der durch die Anweisung einer Autorität generierte Grund ist dabei ein Grund besonderer Art: Dass ein Grund besteht, der autoritativen Anweisung Folge zu leisten, hängt nämlich insofern gar nicht von dem ab, was genau angewiesen wird, als auch ein Grund besteht, der gegenteiligen Anweisung Folge zu leisten, wenn diese von einer Autorität ausgegeben wird. Ich hätte auch Grund, die Anweisung der Polizistin zu befolgen, wenn diese lautete: „Halten Sie nicht an, fahren Sie bitte zügig weiter!“ Der Grund, den eine Autorität generiert, ist somit in gewisser Hinsicht unabhängig vom Inhalt der Anweisung – dass die Anweisung der Autorität ein Handlungsgrund ist, hängt nicht von dem ab, was angewiesen wird, weil auch die gegenteilige Anweisung der Autorität ein Handlungsgrund wäre:82 „Authoritative utterances can be called ‘content-independent’ reasons. A reason is content-independent if there is no direct connection between the reason and the action for which it is a reason. The reason is in the apparently ‘extraneous’ fact that someone in authority has said so, and within certain limits his saying so would be reason for any number of actions, including (in typical cases) for contradictory ones. A certain authority may command me to leave the room or to stay in it. Either way, its command will be a reason. This marks authoritative reasons as content-independent“ (Raz 1986, 35; vgl. auch Hart 1990, 101).
Dabei ist es charakteristisch für inhaltsunabhängige Gründe, dass eine bestimmte Reaktion zulässig ist, wenn die Adressatin des Grundes nach einer Begründung
82 Genauer kann man die Inhaltsunabhängigkeit von Gründen damit so charakterisieren: As Anweisungen stiften genau dann inhaltsunabhängige Gründe für B, wenn für beliebige Handlungen H und deren „Gegenteil“ H gilt: Wenn die Tatsache, dass A B anweist, H zu tun, ein Grund für B ist, H zu tun, dann ist auch die Tatsache, dass A B (unter sonst gleichen Umständen) anweist, H zu tun, ein Grund für B, H zu tun. Diese Charakterisierung ist strukturell ähnlich zur Charakterisierung der Inhaltsunabhängigkeit von (Selbst- oder Welt-)Verhältnissen in Anm. 12, S. 46, betrifft aber einen anderen Gegenstand. Insbesondere impliziert die These, dass die Anweisungen einer praktischen Autorität inhaltsunabhängige Gründe in diesem Sinn sind, nicht, dass nur inhaltsunabhängige Selbstverhältnisse konstitutiv für den Status einer praktischen Autorität sein können (denn dann würde die These, dass Autonomie eine Form praktischer Autorität ist, den Internalismus implizieren).
200 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff fragt: Wenn Adele als Autorität Clara anweist, vom Fahrrad zu steigen, und Clara fragt, warum sie das tun sollte, dann kann Adele sagen: „Weil ich es gesagt habe!“ Hier erfolgt keine weitere inhaltliche Rechtfertigung der Anweisung, und sie muss auch nicht erfolgen, eben weil Adele praktische Autorität hat. Das ist gerade die Pointe an einer legitimen praktischen Autorität: Sie sagt uns, was zu tun ist, ohne uns Rechenschaft schuldig zu sein, warum es zu tun ist. In diesem Sinne beruht die normative Kraft des Grundes, der einer autoritativen Anweisung entspringt, nicht auf dem Inhalt der Anweisung.83 Die Anweisungen einer Autorität sind also für sich genommen inhaltsunabhängige Gründe, das zu tun, was angewiesen wird. Die Autonomie einer Person kann man nun als eine bereichsspezifische Form praktischer Autorität auffassen, die ebenfalls inhaltsunabhängige Gründe generiert: Zwar gibt eine autonome Person anderen keine Anweisungen, aber sie vollzieht Handlungen und lebt auf eine bestimmte Weise. Die Handlungen bzw. die Lebensweise übernehmen im Fall der Autonomie die Rolle, die die Anweisungen im Fall der Autorität spielen. Im Fall der Autorität gilt nämlich: Wenn A Autorität hat, dann ist die Tatsache, dass A als Autorität B angewiesen hat, H zu tun oder zu unterlassen, ein Grund für B, H zu tun oder zu unterlassen.
Und im Fall der Autonomie gilt nun: Wenn A autonom ist, dann ist die Tatsache, dass A autonom H tut (bzw. autonom auf Weise H lebt), ein Grund für B, Eingriffe in H zu unterlassen.
Wenn eine Person in ihrem Handeln und Leben autonom ist, dann haben ihre Handlungen bzw. ihre Lebensweise für andere den Status, den die Weisungen einer Autorität haben: Es sind Gründe für andere, bestimmte Dinge zu unterlassen.
83 Diese Charakterisierung von praktischer Autorität impliziert, dass die normative Kraft des autoritätsbezogenen Grundes, der Anweisung zu folgen, nicht von der moralischen Qualität der angewiesenen Handlung abhängen kann. Denn ganz gleich, ob es falsch oder richtig ist, das zu tun, was angewiesen wird – wenn eine legitime Autorität es befiehlt, dann ist dies ein Grund, es zu tun. Aus demselben Grund impliziert die Charakterisierung auch, dass die normative Kraft des autoritätsbezogenen Grundes, der Anweisung zu folgen, nicht von der Wahrheit der den Anweisungen zugrunde liegenden Überzeugungen abhängen kann. Denn auch wenn die Polizistin fälschlicherweise glaubt, ich sei zu schnell gefahren, und mich aus diesem Grund anweist, mit dem Fahrrad anzuhalten, so ist doch der Status des durch ihre Anweisung konstituierten Grundes durch den Irrtum nicht berührt – die Anweisung bleibt auch dann ein Grund für mich, der Anweisung nachzukommen, wenn ich gar nicht zu schnell gefahren bin. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass die Anweisung einer Autorität auf einem Irrtum (einer falschen Überzeugung) beruht oder eine moralisch falsche Handlung gebietet – Autoritäten müssen nicht unfehlbar sein.
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So wie im Fall der praktischen Autorität im Allgemeinen sind diese Gründe auch im Fall der Autonomie inhaltsunabhängige Gründe: Dass ein Grund gegen einen Eingriff vorliegt, gilt ganz unabhängig davon, wofür sich die Person entscheidet oder wie sie lebt. Wenn Bert sich autonom dafür entscheidet, sich tätowieren zu lassen, dann haben wir Grund, nicht in seine Entscheidung einzugreifen – und diesen Grund hätten wir auch, wenn Bert sich autonom gegen ein Tattoo entschieden hätte. Die Inhaltsunabhängigkeit des autonomiebezogenen Grundes besteht somit darin, dass für die autonome Person A sowie beliebige Handlungen H und deren „Gegenteil“ H gilt:84 Wenn die Tatsache, dass A sich entscheidet, H zu tun, ein Grund für B ist, nicht in As Entscheidung für H einzugreifen, dann ist auch die Tatsache, dass A sich (unter sonst gleichen Umständen) entscheidet, H zu tun, ein Grund für B, nicht in As Entscheidung für H einzugreifen.
Auch hier erkennt man diese Inhaltsunabhängigkeit des autonomiebezogenen Grundes an der Zulässigkeit einer bestimmten Reaktion, wenn nach einer Begründung gefragt wird: Angenommen, Bert hat die Entscheidung, sich tätowieren zu lassen, ganz autonom getroffen und seine Mutter versucht nun, ihn umzustimmen oder ihn am Gang ins Tätowierstudio zu hindern. Wenn Bert ihr nun sagt, sie solle sich nicht einmischen, und die Mutter fragt, warum sie aufhören soll, ihn an der Tätowierung zu hindern, dann kann Bert schlicht sagen: „Weil ich es einfach will!“ Wenn Bert tatsächlich autonom ist (das hatten wir vorausgesetzt), dann ist auch hier der Verzicht auf eine inhaltliche Rechtfertigung des Anspruchs auf Unterlassung legitim. Bert tut hier nichts anderes, als seine „Autorität“ (genauer: seine Autonomie) ins Spiel zu bringen – so wie Adele gegenüber Clara ihre Autorität geltend gemacht hat, als es darum ging, vom Fahrrad zu steigen. So wie die normative Kraft des Grundes, der einer autoritativen Anweisung entspringt, nicht auf dem Inhalt der Anweisung beruht, so beruht also auch die normative Kraft des Grundes, der aus autonomen Handlungen oder autonomen Lebensweisen entspringt, nicht auf dem Inhalt der Entscheidungen oder Lebensweisen. Personale Autonomie funktioniert also wie eine bereichsspezifische Form praktischer Autorität: Während praktische Autorität (im Allgemeinen) darin besteht, von anderen berechtigterweise verlangen zu können, dass sie etwas tun oder unterlassen, weil man (die Autorität) es verlangt, besteht Autonomie darin, von anderen berechtigterweise verlangen zu können, dass sie ganz bestimmte Handlungen – nämlich Eingriffe in die Entscheidungen oder Lebensweise – unterlassen, weil man (die autonome Person) so handelt oder lebt. Dies komplettiert die Charakterisie-
84 Vgl. Anm. 82.
202 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff rung des autonomiebezogenen Grundes: Er zeichnet sich in struktureller Hinsicht also dadurch aus, dass es (a) ein moralischer und (b) ein inhaltsunabhängiger Grund ist. Die Einsicht, dass Autonomie eine Form praktischer Autorität ist, hilft auch zu verstehen, wie man es sich genauer vorstellen kann, dass Autonomie (wie oben behauptet, siehe S. 194) einen Grund konstituiert. Denn typischerweise funktionieren (legitime) Autoritäten so, dass die Anweisung einer Autorität (die für die Adressatinnen für sich genommen ein Grund ist, das Angewiesene zu tun) diejenigen Gründe reflektieren, welche ohnehin einschlägig sind (vgl. für diese Sichtweise ausführlicher Raz 1986, Kap. 3). Die polizeiliche Anweisung „Halten Sie an!“ beruht beispielsweise darauf, dass ich zu schnell und zudem ohne Beleuchtung auf der falschen Straßenseite gefahren bin. Jedes der drei Merkmale (zu hohe Geschwindigkeit, fehlende Beleuchtung im Dunkeln und Fahren in entgegensetzte Richtung) ist für sich genommen bereits ein guter Grund, vom Fahrrad zu steigen (es ist nämlich gefährlich). Ich hätte somit auch ohne die Anweisung der Polizistin gute Gründe, das zu tun, was sie anweist. Die Anweisungen einer legitimen Autorität beanspruchen also typischerweise, die Gründe (und im Fall von Gründen für und wider auch deren Gewichtung) zu reflektieren, die in einem bestimmten Bereich tatsächlich einschlägig sind. In diesen Fällen ersetzt die autoritative Anweisung (die dann für die Adressatinnen zu einem Grund wird) die ohnehin bestehenden Gründe; und das Bestehen des Grundes, der durch die autoritative Anweisung gestiftet wird, hängt ab vom Bestehen anderer Gründe. Darum könnte man bei den Gründen, die die autoritativen Anweisungen für die Adressatinnen darstellen, auch von „abhängigen Gründen“ (dependent reasons)85 sprechen. Dieses Bild lässt sich auch auf die Autonomie von Personen übertragen: Die Anweisungen einer autonomen Person sind für andere Personen auch ein Grund (nämlich dafür, gewisse Dinge zu unterlassen). Dieser autonomiebezogene Grund basiert auf etwas: Er reflektiert bestimmte Gründe, die für die anderen Personen auch ohne die Anweisung der autonomen Person einschlägig wären. Auch der autonomiebezogene Grund ist insofern ein abhängiger Grund: Sein Bestehen hängt vom Vorliegen anderer Tatsachen ab, die für die Adressatinnen einschlägige Gründe sind. Ich werde in Kapitel 7 einen Vorschlag machen, auf welchen Erwägungen der autonomiebezogene Grund basieren könnte (diese Erwägungen sind dann die Bedingungen personaler Autonomie). An dieser Stelle kommt es zunächst nur darauf an, dass die Redeweise, dass Autonomie einen Grund „konstituiert“, nun etwas
85 Raz (1986, 41) verwendet diesen Ausdruck sowohl für diejenigen Gründe, die durch die autoritative Anweisung gestiftet werden, als auch für die Gründe, die ein durch die Anweisung gestifteter Grund reflektieren soll.
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unterfüttert wurde: Es heißt, dass die Tatsache, dass eine Person autonom ist, ein inhaltsunabhängiger, moralischer Grund ist für andere Personen, Eingriffe in die Entscheidungen oder Lebensweise einer Person zu unterlassen – und dass dieser Grund ein abhängiger Grund ist (also seinerseits auf anderen Gründen basiert und diese ersetzt).
6.1.3 Die grundlegende Form und Funktion des Autonomiebegriffs Damit ist der praktische Grund, dessen Vorliegen nach der Normativitätsthese mit der Verwendung des Autonomiebegriffs stets ausgesagt wird, hinsichtlich seines Gehalts, seines Adressatenkreises und seiner strukturellen Merkmale genauer charakterisiert. Die Normativitätsthese – d. h. die These, dass personale Autonomie ein dicker normativer Begriff ist, der eine bestimmte Form praktischer Autorität bezeichnet – lässt sich somit folgendermaßen formulieren: Die Normativitätsthese (erste Präzisierung) Wer den Begriff personale Autonomie besitzt, weiß, dass gilt: (N) Dass Person P (im Hinblick auf ihre Entscheidungen oder Lebensweise) autonom ist, ist ein inhaltsunabhängiger, moralischer Grund für andere Personen, Eingriffe in Ps Entscheidungen oder Lebensweise zu unterlassen.
Wenn (N) zutrifft, dann besteht eine grundlegende Funktion des Begriffs Autonomie darin, einen Bereich von Entscheidungen und Lebensweisen abzugrenzen, der „in moralischer Hinsicht geschützt ist“ vor äußeren Einflüssen – also einen Bereich von Entscheidungen und Lebensweisen so abzugrenzen, dass es stets einen moralischen Grund gibt, von Interventionen in diesen Bereich abzusehen: Die Lebensweisen und Entscheidungen, hinsichtlich derer eine Person autonom ist, fallen in diesen Bereich, die anderen (hinsichtlich derer sie heteronom ist) fallen aus diesem Bereich. Diese Sichtweise setzt voraus, dass es solche Interventionen durch andere stets geben kann (andernfalls wäre es witzlos, etwas vor einer moralischen Gefährdung zu schützen, die nicht existiert). Und tatsächlich gibt es eine solche Gefährdung stets aufgrund der Tatsache, dass wir als Personen soziale Wesen sind (vgl. auch Friedman 1989, 160; Wellman 1997, 72): Wir wachsen in einem sozialen Umfeld auf und leben im Normalfall in einem sozialen Umfeld weiter. Unsere Sozialisation und unsere Verankerung in einem sozialen Umfeld machen uns, wie wir in den vergangenen Kapiteln gesehen haben, im Hinblick auf die Autonomie aber stets verwundbar: Unsere Erziehung, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die
204 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff unmittelbaren Einflüsse anderer Personen können unserer Autonomie im Weg stehen. Die Tatsache, dass (N) eine solche Vulnerabilität durch das soziale Umfeld voraussetzt, impliziert, dass Autonomie sich in dem von der Normativitätsthese vermittelten Bild stets in einer sozialen Sphäre abspielt: Unsere soziale Umwelt ist ein übergeordneter Einflussbereich, dem wir uns als Personen nicht entziehen können (selbst die Eremitin wurde von jemandem erzogen). Und die Idee der Autonomie dient nun dazu, eine bestimmte Form der Unabhängigkeit innerhalb dieses übergeordneten Einflussbereichs zu bezeichnen – eine Autoritätssphäre, in der sozusagen niemand anderes als die Person selbst das Sagen hat.
6.2 Eine Präzisierung der Normativitätsthese Nun wird man – völlig zu Recht – mit Blick auf Abschnitt 1.3 zu Bedenken geben, dass es verschiedene Gruppen von Erfahrungen der Fremd- und Selbstbestimmung gibt und dass nicht so leicht ersichtlich ist, wie sich die Normativitätsthese zu den vier Perspektiven auf Autonomie verhält. Diese vier Perspektiven ergaben sich durch Kombination zweier Unterscheidungsdimensionen (vgl. Tabelle 1.1, S. 25): Beim Skopus einer Autonomiezuschreibung (erste Dimension) habe ich unterschieden zwischen Autonomie in Bezug auf einzelne Handlungen oder Entscheidungen (lokaler Skopus) und Autonomie in Bezug auf die Lebensweise einer Person (globaler Skopus); und beim der Autonomiezuschreibung zugrunde liegenden Interesse (zweite Dimension) habe ich unterschieden zwischen den Fällen, in denen die (fehlende) Autonomie andere Personen vor eine Handlungsanforderung stellt (drittpersonales Interesse), und den Fällen, in denen die (fehlende) Autonomie die betroffene Person selbst vor eine Handlungsanforderung stellt (erstpersonales Interesse). Nun könnte der Verdacht aufkommen, dass (N) – wenn überhaupt – lediglich einen einzigen Blickwinkel auf das Phänomen der Selbstbestimmung abdeckt: den drittpersonalen, lokalen Blickwinkel, in dem es um die Autonomie hinsichtlich einzelner Handlungen oder Entscheidungen geht, soweit andere Personen mit dieser Autonomie umgehen müssen.
6.2.1 Die Normativitätsthese unter den vier Perspektiven Tatsächlich gilt (N) in dieser Form nicht für alle vier Perspektiven auf Autonomie. Allerdings geht mit dem Zu- und Absprechen von Autonomie auch unter den anderen Perspektiven charakteristischerweise jeweils ein normativer Umschwung einher, der das Gefüge der praktischen Gründe ändert – allerdings sind es jeweils Gründe für andere Adressaten, Gründe mit anderem Gehalt und Gründe eines
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anderen Typs. Entsprechend lassen sich für die anderen Blickwinkel ebenfalls Normativitätsthesen formulieren, die (N) strukturell ähneln: Nach (N) hat der autonomiebezogene Grund den Gehalt „Eingriffe in Ps Entscheidungen oder Lebensweise zu unterlassen“. Ob nun ein Grund, Eingriffe in Ps Entscheidungen zu unterlassen, oder ein Grund, Eingriffe in Ps Lebensweise zu unterlassen, vorliegt, hängt davon ab, ob wir die Frage nach der Autonomie in einem konkreten Fall mit lokalem oder mit globalem Skopus stellen – ob uns also die Autonomie einer Person hinsichtlich ihrer Entscheidungen oder hinsichtlich ihrer Lebensweise interessiert. Wenn es zum Beispiel in der Klinik um Patientenverfügungen geht, dann nehmen wir die lokale Perspektive ein; der Grund, der dann vorliegt, wenn die Patientin autonom ist, ist ein Grund, nicht in ihre Entscheidung (etwa: keine künstliche Beatmung zu bekommen) einzugreifen. Wenn es hingegen um Adeles beruflichen Weg geht und ihre Eltern sich fragen, ob sie wirklich Entwicklungshelferin sein will, dann nimmt man die globale Perspektive ein; wenn Adele hinsichtlich ihrer Lebensweise als Entwicklungshelferin autonom ist, dann ist das für ihre Eltern ein Grund, nicht in ihre Lebensweise einzugreifen. Der Gehalt des Grundes variiert also mit der ersten Dimension, dem Skopus der Autonomiezuschreibung. Auch die Unterscheidung zwischen erstpersonaler und drittpersonaler Perspektive (zweite Dimension) lässt sich ausgehend von (N) verstehen: Unter der drittpersonalen Perspektive geht es um die Autonomie einer Person, soweit diese andere Personen betrifft. Der Grund, der hier mit Autonomiezuschreibungen stets einhergeht, ist ein Grund für andere. Das Beispiel der Patientenverfügung etwa verdeutlicht dies: Die Frage der Autonomie hat hier Auswirkungen auf das Verhalten anderer, insbesondere der behandelnden Ärztin und der Angehörigen. Wenn die Patientin autonom ist, dann ist ihre Willensbekundung ein Grund für die Ärztin und die Angehörigen, nicht in ihre Entscheidung einzugreifen. Adressatin des Grundes und die autonome Person (die „Erlasserin“ des Grundes) sind also unter der drittpersonalen Perspektive verschiedene Personen. Unter der erstpersonalen Perspektive hingegen gilt Autonomie als ein persönliches Ideal in der Lebensführung und im Handeln. Autonomie spielt unter dieser Perspektive eine wichtige Rolle bei der Frage, welche Person man sein soll und welche Lebensweise man zu der eigenen machen sollte. Dass es sich dabei um ein persönliches Ideal handelt, impliziert bereits, dass die Idee der Autonomie unter dem erstpersonalen Blickwinkel eine normative Funktion hat und daher mit dem Vorliegen von Gründen verknüpft ist (wenn man ein Ideal hat, hat man Grund, Dinge zu tun, die dem Ideal nahekommen, und von Dingen zu lassen, die das Ideal untergraben). Dass es sich um ein persönliches Ideal handelt, bedeutet allerdings, dass dieser Grund kein Grund für andere ist, sondern ein Grund für die betreffende Person selbst. Wer beispielsweise ein konformes Leben führt, hat im Hinblick auf seine Autonomie ein Problem; und sofern der Person etwas an der eigenen Autonomie liegt, hat sie
206 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff selbst einen Grund, etwas an ihrer Situation zu ändern. Aber die Konformität ist kein Grund für andere Personen, etwas zu tun oder zu lassen.86 Konformität ist nämlich nicht das Problem Dritter, sondern (wenn überhaupt) nur ein Problem für die betroffene Person selbst und stellt folglich lediglich sie selbst vor eine Handlungsanforderung. Unter der erstpersonalen Perspektive sind Adressatin des Grundes und „Erlasserin“ des Grundes somit identisch. Die Adressatin des autonomiebezogenen Grundes variiert also mit dem Interesse, das hinter der Autonomiezuschreibung steht: Unter dem erstpersonalen Interesse ist es ein Grund für die betreffende Person selbst, unter dem drittpersonalen Interesse ist es ein Grund für andere Personen. Unter beiden Perspektiven ist der Gehalt des autonomiebezogenen Grundes allerdings derselbe: Es ist stets ein Grund, Eingriffe in die Entscheidungen bzw. Lebensweise der Person, um deren Autonomie es geht, zu unterlassen. Unter der erstpersonalen Perspektive (in der dieser Grund, nicht in die Entscheidung oder Lebensweise einzugreifen, für die Person selbst besteht) besagt dies einfach, dass die autonome Person Grund hat, nichts an ihrer Entscheidung bzw. ihrer Lebensweise zu ändern. Genau das ist ja auch die Bedeutung eines Ideals: Wenn man das Ideal realisiert bzw. den Idealzustand erreicht hat (also im erstpersonalen Sinne autonom ist), dann gibt es im Hinblick auf dieses Ideal nichts mehr zu verbessern, insbesondere also nichts mehr zu verändern. Mit der zweiten Dimension, dem praktischen Interesse, variiert aber nicht nur der Adressat, sondern auch die Art bzw. der Typus des autonomiebezogenen Grundes. Unter der drittpersonalen Perspektive, so hatte ich bereits deutlich gemacht, handelt es sich um einen moralischen Grund (vgl. S. 197): Das, wozu andere in diesen Fällen (etwa bei der Patientenverfügung) Grund haben, wenn eine Person autonom ist, ist der Person jeweils geschuldet. Der autonomiebezogene Grund, der unter der erstpersonalen Perspektive ins Spiel kommt, scheint allerdings nicht von diesem Typus zu sein. Denn zum einen ist nicht klar, dass man sich selbst überhaupt etwas im moralischen Sinne schulden kann (ein Problem, das eng mit der Frage zusammenhängt, ob man Pflichten gegenüber sich selbst haben kann). Und selbst wenn dies geklärt wäre, so scheint doch zweitens die Art der Verpflichtung, die unter der erstpersonalen Perspektive von dem autonomiebezogenen Grund ausgeht, von anderer Art zu sein. Denn die Normativität des Grundes liegt unter der erstpersonalen Perspektive darin begründet, dass Autonomie ein persönliches Ideal in der Lebensführung oder im Handeln ist. Ein persönliches Ideal ist aber kein (im engeren Sinne) moralisches Ideal. Dort, wo Autonomie bei der Frage
86 Natürlich könnten z. B. Freunde qua Freundschaft einen solchen Grund haben, aber eben nicht qua Konformität.
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der individuellen Lebensführung oder des gelungenen Lebens eine Rolle spielt, steht es auf einer Stufe mit der Idee der Geselligkeit: Ein geselliges Leben mag bereichernd sein, und vielleicht sollte man sich dieses Ideal gar zu eigen machen. Aber dieses Sollen ist sicher kein moralisches Sollen wie in „Man soll niemandem unnötigerweise Schmerzen zufügen“: Dass man viele Freunde hat, viel Freizeit in wechselnder Gesellschaft verbringt etc. ist nichts, was man z. B. gerechtfertigterweise von jemandem einfordern könnte. Es gibt auch niemanden, bei dem man sich entschuldigen müsste oder den man um Verzeihung bitten könnte, wenn man kein geselliges Leben führt. Es ist nicht einmal klar, welche moralische reaktive Einstellung (Schuld? Empörung? Groll?) angemessen sein sollte, wenn man das Ideal nicht realisiert. Dass man sich (wenn überhaupt) um einen Aspekt seines eigenen Lebensglücks bringt, hat nichts mit der Moral (im engeren Sinne) zu tun. Ebenso verhält es sich mit der Autonomie, wenn man sie unter der erstpersonalen Perspektive betrachtet: Ein konformes Leben oder häufigere Ambivalenzen beim Handeln sind sicher nicht gerade das Musterbeispiel gelungenen Lebens oder Handelns. Aber es handelt sich nicht um moralische Verfehlungen. Niemand kann von einer Person berechtigterweise einfordern, gefälligst individuell zu sein; niemand muss sich entschuldigen oder um Verzeihung bitten, wenn er oder sie konform oder ambivalent ist; und welches moralische Gefühl sollte der verspüren, der das Ideal der Autonomie verfehlt? Kurzum: Der autonomiebezogene praktische Grund, der unter der erstpersonalen Perspektive mit der Idee der Autonomie einhergeht, ist kein moralischer Grund. Man könnte ihn vielleicht als einen „euzenischen“ praktischen Grund bezeichnen: Er betrifft die individuelle Lebensführung, und seine Normativität wurzelt in der Idee des gelungenen Lebens (altgriechisch eu z¯en). Die Gebote der Autonomie, die dieser Grund ausdrückt (nämlich nichts an seinem eigenen Leben bzw. Handeln zu ändern), gelten nur für den, der dem Ideal der Autonomie verpflichtet ist und sich dieses Ideal zu eigen macht. Das unterscheidet Gebote der Autonomie (als ein Ideal) von Geboten der Moral: Letzteren soll man auch unabhängig davon Folge leisten, ob man sie sich zu eigen macht (jedenfalls scheint es so). Entlang der zweiten Dimension, dem praktischen Interesse, variiert somit auch der Typus des autonomiebezogenen Grundes: Unter der drittpersonalen Perspektive ist es ein moralischer Grund, unter der erstpersonalen ein euzenischer. Auf diese Weise erhält man nun vier Spielarten der Normativitätsthese, die alle vier Perspektiven auf Autonomie abdecken: Um den Unterschied zwischen globalem und lokalem Skopus abzubilden, muss man den Gehalt des autonomiebezogenen Grundes variieren; um den Unterschied zwischen erst- und drittpersonalem Interesse abzubilden, muss man den Adressatenkreis und eine strukturelle Eigenschaft des Grundes variieren. Beispielsweise besagt die Normativitätsthese unter der lokalen, drittpersonalen Perspektive, dass die Tatsache, dass P hinsicht-
208 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff Tab. 6.1. Vier Normativitätsthesen Interesse
Skopus erstpersonal
drittpersonal
lokal
Dass Person P hinsichtlich ihrer Entscheidung autonom ist, ist ein inhaltsunabhängiger, euzenischer Grund für P selbst, Eingriffe in ihre Entscheidung zu unterlassen (= nichts an ihrer Entscheidung zu ändern).
Dass Person P hinsichtlich ihrer Entscheidung autonom ist, ist ein inhaltsunabhängiger, moralischer Grund für andere Personen, Eingriffe in Ps Entscheidung zu unterlassen.
global
Dass Person P hinsichtlich ihrer Lebensweise autonom ist, ist ein inhaltsunabhängiger, euzenischer Grund für P selbst, Eingriffe in ihre Lebensweise zu unterlassen (= nichts an ihrer Lebensweise zu ändern).
Dass Person P hinsichtlich ihrer Lebensweise autonom ist, ist ein inhaltsunabhängiger, moralischer Grund für andere Personen, Eingriffe in Ps Lebensweise zu unterlassen.
lich einer Entscheidung autonom ist, ein moralischer, inhaltsunabhängiger Grund für andere ist, Eingriffe in Ps Entscheidung zu unterlassen. Unter der globalen, erstpersonalen Perspektive besagt die Normativitätsthese, dass die Tatsache, dass P hinsichtlich einer Lebensweise autonom ist, ein euzenischer, inhaltsunabhängiger Grund für P selbst ist, Eingriffe in ihre Lebensweise zu unterlassen (d. h. ein Grund, an ihrer Lebensweise nichts zu ändern). Die vier Normativitätsthesen sind in Tabelle 6.1 explizit aufgeführt. Man sieht sofort, dass alle vier Thesen Instanzen eines einzigen Schemas mit drei Variablen – Gehalt des Grundes (X), Adressatin des Grundes (A), Typus des Grund (T) – sind: Die Normativitätsthese (vollständiges Schema) Wer den Begriff personale Autonomie besitzt, weiß, dass gilt: (N) Dass Person P autonom hinsichtlich X ist, ist ein inhaltsunabhängiger Grund vom Typ T für A, Eingriffe in X zu unterlassen.
Unter der erstpersonalen Perspektive ist die Adressatin des Grundes (A) die Person selbst und der Typus (T) ist ein euzenischer Grund; unter der drittpersonalen Perspektive sind andere Personen die Adressatinnen (A) und der Grund ist vom Typ eines moralischen Grundes (T). Unter der lokalen Perspektive ist der Gehalt des Grundes (X) die Unterlassung von Eingriffen in Entscheidungen, unter der globalen Perspektive ist es die Unterlassung von Eingriffen in die Lebensweise.
6.2 Eine Präzisierung der Normativitätsthese |
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Eine zentrale Behauptung dieser Arbeit ist, dass Schema (N) ein wesentliches Element der begrifflichen Grundstruktur von Autonomie expliziert. Das Schema (N) ist dabei lediglich eine Ausformulierung der Auffassung, dass Autonomie ein dicker normativer Begriff ist, der eine Form praktischer Autorität bezeichnet: Aussagen über Autonomie sind immer auch Aussagen über das Vorliegen von praktischen, inhaltsunabhängigen Gründen;87 je nach Perspektive handelt es sich dabei um Gründe verschiedenen Typs, mit unterschiedlichem Gehalt und für unterschiedliche Adressatinnen. Was alle Autonomiezuschreibungen über die unterschiedlichen Perspektiven hinweg jedoch eint, ist die in (N) schematisierte begriffliche Grundstruktur. Die Normativitätsthese erfüllt damit eines der in Kapitel 1 entwickelten Adäquatheitskriterien: Sie erklärt die Einheit und Verwandtschaft der verschiedenen mit Selbst- und Fremdbestimmung verknüpften Erfahrungen – stets geht es um das Vorliegen inhaltsunabhängiger praktischer Gründe, die durch die „Anweisungen“ der autonomen Person gestiftet werden. Und sie wird zugleich der Vielfalt dieser Erfahrungen gerecht, indem sie die spezifischen Unterschiede zwischen ihnen aufdeckt – es handelt sich eben um Gründe verschiedenen Typs, verschiedenen Gehalts und für verschiedene Adressatinnen. Schema (N) deckt damit einen begrifflichen Kernbestandteil von Autonomie auf, der als ähnlichkeitsstiftende Struktur allen vier Perspektiven zugrunde liegt und dabei verständlich macht, inwiefern man einen einzigen Begriff für die verschiedenen Klassen von Phänomenen verwenden kann: Sie teilen eben alle dieselbe, in (N) aufgeführte Grundstruktur und ähneln einander insofern.88 Die Normativitätsthese liefert somit ein einheitliches Verständnis personaler Autonomie.
6.2.2 Was die Normativitätsthese nicht besagt Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte man sich klarmachen, was die Normativitätsthese (N) nicht besagt. Erstens besagt sie nicht, dass die Tatsache, dass eine Person autonom ist, der schlagende oder überragende Grund dafür ist, bestimmte Dinge zu unterlassen. (N) besagt lediglich, dass dies ein Grund ist. Zwar ist der autonomiebezogene Grund im Normalfall ein recht gewichtiger – unter der drittpersonalen Perspektive immerhin ein moralischer – Grund; aber er muss nicht immer der beste Grund sein, denn er kann von anderen Erwägungen – der Moral, der Klugheit, aber vielleicht auch der Etikette – überwogen werden: Aus
87 Die Inhaltsunabhängigkeit dieser Gründe drückt dabei aus, dass Autonomie eine Form praktischer Autorität ist. 88 Vgl. dazu die Ausführungen zur von der Idee der Familienähnlichkeit inspirierten Struktur des begrifflichen Kerns am Ende von Abschnitt 1.4.
210 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff Sicht des Staates scheint es z. B. durchaus vernünftig und gerechtfertigt, einem schweren Gewaltverbrecher nach Haftentlassung die Auflage zu erteilen, sich jeden zweiten Tag bei der Polizei zu melden, auch wenn das eine Einschränkung der Autonomie dieser Person bedeutet. Die Normativitätsthese lässt also völlig offen, welches Gewicht der autonomiebezogene Grund hat bzw. wie schwer Autonomie im Vergleich zu anderen Gütern wiegt. Somit ist auch nicht ausgeschlossen, dass es gerechtfertigte Autonomieverletzungen geben kann.89 Zweitens besagt (N) auch nicht, dass die Tatsache der Autonomie einer Person eine moralische Pflicht generiert, bestimmte Dinge zu unterlassen. Zwar gibt es einen moralischen Grund, bestimmte Dinge zu unterlassen, aber wie gerade beschrieben hat dieser eben nicht immer ein so hohes Gewicht, dass man von einer moralischen Pflicht sprechen kann. Gäbe es stets eine solche Pflicht, müsste man die Auflage für den Gewaltverbrecher als eine Pflichtverletzung seitens des Staates ansehen; aber das scheint nicht der Fall zu sein. Drittens besagt die Normativitätsthese nicht, dass die Person, um deren Autonomie es geht und deren Autonomie für andere Personen Gründe generiert, selbst die Überzeugung haben muss, dass ihre Autonomie derartige Gründe für andere generiert. Sofern die Person von ihrer eigenen Autonomie weiß (und sich somit selbst Autonomie zuschreibt) und sofern sie kompetente Sprecherin unserer Sprache ist (also weiß, was wir mit Autonomiezuschreibungen meinen), wird sie eine solche Überzeugung zwar haben. Aber da eine Person auch autonom sein kann, wenn sie nicht weiß, was das Wort eigentlich genau bedeutet, und da man sich seiner eigenen Autonomie nicht immer bewusst ist, muss eine autonome Person eine solche Überzeugung nicht notwendigerweise haben. Allein aus (N) kann man somit nicht schließen, dass die autonome Person bestimmte normative Überzeugungen haben muss. Viertens ist (N) keine These über Heteronomie. Sie impliziert insbesondere nicht, dass es einen Grund für Eingriffe in die Entscheidungen oder Lebensweise gibt, wenn es einer Person an Autonomie fehlt. Denn aus einer Aussage der Form, von der (N) ist, Dass p ein F ist, ist Grund für die Unterlassung von H
folgt keine Aussage der Form Dass p kein F ist, ist Grund für H.
89 Und darum ist z. B. im medizinethischen Kontext auch weiterhin eine Abwägung zwischen Patientenautonomie und Patientenwohl sinnvoll.
6.2 Eine Präzisierung der Normativitätsthese |
211
Man kann sich dies wiederum am Begriff Autorität vor Augen führen: Wenn jemand Autorität hat, dann ist die Tatsache, dass er eine autoritative Anweisung, H zu tun, erlassen hat, ein Grund für die der Autorität unterstellten Personen, H auch zu tun. Wenn nun jemand keine Autorität hat und die Anweisung gibt, H zu tun, dann ist diese Anweisung für dieselben Adressatinnen einfach kein Grund, H zu tun. Es ist aber nicht so, dass die Angewiesenen nun einen Grund hätten, die Anweisungen zu missachten, oder einen Grund hätten, H zu unterlassen. Es ist einfach so, dass sie keinen Grund haben, die Anweisung zu befolgen (einen Grund, den sie sonst hätten, wenn die Person Autorität hätte). Keinen Grund haben, die Anweisung zu befolgen, ist aber etwas anderes als einen Grund haben, die Anweisung zu missachten. Ebenso verhält es sich auch im Fall der Autonomie: Man hat Grund, die „Anweisung“ einer autonomen Person (d. h. ihre Entscheidung, ihre Lebensweise) zu „befolgen“ (d. h. Eingriffe in die Entscheidungen oder Lebensweise zu unterlassen); aber wenn eine Person nicht autonom ist, dann hat man nicht einen Grund, ihre Anweisungen zu missachten (d. h. in ihre Entscheidungen oder Lebensweise einzugreifen), sondern man hat schlicht keinen Grund, die Anweisungen zu befolgen (das heißt, man hat keinen Grund, Eingriffe zu unterlassen) – einen Grund, den man aber hätte, wenn die Person autonom wäre. Wenn eine Person heteronom ist, dann fällt einfach ein Grund gegen Eingriffe weg, der da wäre, wenn sie autonom wäre.90 Die Normativitätsthese impliziert also nicht, dass es einen Grund für Eingriffe gibt, wenn eine Person heteronom ist. Zwar greifen wir tatsächlich manchmal gerechtfertigterweise in das Tun und Leben einer fremdbestimmten Person ein, aber dann gründet sich das nicht auf ihrer Heteronomie, sondern auf ihrem Wohlergehen: Nicht die Tatsache, dass die Person heteronom ist, ist der Grund, ihr einen Vormund zu bestellen, der ihre Angelegenheiten regelt, sondern die Tatsache, dass damit ihre Interessen besser gewahrt werden können. Der Verweis auf die Heteronomie zeigt hier lediglich an, dass ein Grund, der normalerweise gegen die Bestellung eines Vormunds sprechen würde, nun nicht vorliegt. Etwas anders liegt die Sache lediglich hinsichtlich der erstpersonalen Perspektive. Zwar ist es auch hier so, dass allein aus der Normativitätsthese nichts über das Vorliegen etwaiger Gründe für Eingriffe folgt. Unter der erstpersonalen Perspektive wird Autonomie allerdings als ein Ideal der gelungenen Lebensführung und des gelungenen Handelns betrachtet. Und aus diesem Blickwinkel (aber eben nicht aus (N) selbst) folgt tatsächlich, dass diejenige, die kein autonomes (sondern z. B. ein konformes) Leben führt oder nicht autonom (sondern z. B. willensschwach) handelt, einen Grund hat: Sie hat Grund, etwas an ihrem Leben bzw. Handeln im
90 Es versteht sich von selbst, dass das nicht bedeutet, dass andere mit der heteronomen Person machen dürfen, was sie wollen.
212 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff Hinblick auf ihre Autonomie zu ändern. Das ist gerade die Bedeutung eines Ideals: Wenn man ein Ideal anstrebt, dann hat man Grund, Dinge zu tun, die dem Ideal nahekommen, und von Dingen zu lassen, die das Ideal untergraben. Wenn man das Ideal in seinem Leben oder Handeln noch nicht realisiert hat, dann muss man daran etwas ändern, um das Ideal zu erreichen.91 Fünftens ist (N) nicht einfach ein Paternalismusverbot. Man handelt („hart“) paternalistisch, wenn man in autonome Entscheidungen oder Lebensweisen einer Person eingreift, um das Wohl der Person zu schützen oder zu befördern.92 Wenn Adele sich ein Buch kauft (und darin autonom ist) und ihre Mutter es ihr wegnimmt, weil sie glaubt, dass es Adele nicht gut tut, dieses Buch zu lesen, dann ist das (hart) paternalistisch, weil die Mutter im Namen von Adeles Wohlergehens in ihre autonome Entscheidung eingreift. (Harter) Paternalismus betrifft also eine bestimmte Abwägung von Wohlergehen und Autonomie: Das Wohlergehen einer Person spricht für gewisse Eingriffe, ihre Autonomie aber dagegen. (Harter) Paternalismus kommt also erst ins Spiel, wenn bereits feststeht, dass eine Person autonom ist93 – und das heißt nach (N), wenn bereits feststeht, dass es einen Grund gibt, bestimmte Eingriffe zu unterlassen. Ein Paternalismusverbot würde nun besagen, dass es niemals gerechtfertigt ist, die Autonomie einer Per-
91 Das gilt auch für Kontexte, in denen andere Personen (Eltern, Erzieherinnen, Pflegerinnen) legitimerweise anstreben, dass eine Person, für die sie Verantwortung tragen (Kinder, Pflegebedürftige), ein Ideal realisiert: Diese anderen Personen haben dann Grund dafür zu sorgen, dass die ihnen überantwortete Person dem Ideal näher kommt. Wenn das Ideal die Autonomie ist, bedeutet dies, dass die Heteronomie (fehlende Autonomie) einer Person P ein Grund für andere sein kann, Eingriffe in Ps Entscheidung oder Lebensweise vorzunehmen (d. h. etwas an der fehlenden Autonomie zu ändern und so „Autonomie zu befördern“). Auch in diesen Kontexten ist es aber so, dass dieser Grund nicht aus (N) selbst folgt, sondern sich aus dem spezifischen Blickwinkel der Beförderung des gelungenen Lebens anderer (sowie der Tatsache, dass Autonomie als ein Ideal der gelungenen Lebensführung betrachtet wird) ergibt. 92 Schwaches paternalistisches Handeln liegt demgegenüber dann vor, wenn man – um das Wohl der Person zu schützen oder zu befördern – in Entscheidungen oder Lebensweisen einer Person eingreift, die nicht autonom sind oder deren Autonomie-Status zum Zeitpunkt des Eingriffs unklar ist. Die Unterscheidung zwischen „hartem“ und „weichem“ Paternalismus geht zurück auf Feinberg (1986, 12); bisweilen wird auch Feinbergs frühere Terminologie („starker“ vs. „schwacher“ Paternalismus) verwendet (Feinberg 1971). Man beachte, dass mit „Paternalismus“ oftmals normative Thesen gemeint sind (so auch die ursprüngliche Definition in Feinberg 1971 und Feinberg 1986, 12) – etwa die These, dass Eingriffe in die Entscheidung oder Lebensweise einer Person zum Schutz oder zur Beförderung ihres Wohls auch dann zulässig sind, wenn die Person autonom ist (harter Paternalismus), oder dass solche Eingriffe nur dann zulässig sind, wenn die Person nicht autonom ist. Da es hier aber um den Vorwurf geht, die Normativitätsthese sei ein Paternalismusverbot, muss „Paternalismus“ in diesem Zusammenhang deskriptiv, d. h. als Beschreibung einer bestimmten Handlungsweise, verstanden werden. 93 Ein etwas komplizierteres Bild zeichnet Christman (2014).
6.2 Eine Präzisierung der Normativitätsthese |
213
son im Namen ihres Wohlergehens zu übergehen. Doch das ist nicht das, was (N) besagt. Die Normativitätsthese beschreibt eher die normative Grundlage dafür, warum Paternalismus überhaupt zu einem Problem werden kann: weil auf der einen Seite autonomiebezogene Gründe stehen, nicht einzugreifen. Das wird in Paternalismus-Kontexten deswegen zum Problem, weil auf der anderen Seite wohlergehensbezogene Gründe stehen, doch einzugreifen. (N) schafft somit erst die Möglichkeit, dass es in Paternalismus-Problemstellungen einer Abwägung bedarf, aber (N) selbst lässt völlig offen, wie diese Abwägung aussieht. Insbesondere sagt (N) nicht, dass der autonomiebezogene Grund die wohlergehensbezogenen Gründe stets übertrumpft (und harter Paternalismus damit stets verboten ist).94 Sechstens besagt (N) auch nicht, dass die Unterlassung von Eingriffen das einzige ist, wofür die Tatsache, dass eine Person autonom ist, spricht. Denn ganz allgemein gilt, dass dieselbe Tatsache für mehrere Dinge sprechen kann. Dass eine Person autonom ist, kann für sie selbst beispielsweise auch Grund zur Freude und für andere ein Grund zur Hochachtung sein. Das wird durch die Normativitätsthese nicht ausgeschlossen, denn diese behauptet nicht, dass Autonomie uns ausschließlich Gründe für Unterlassungen gibt. Insbesondere schließt (N) nicht aus, dass die Tatsache, dass jemand autonom ist, uns auch Grund für bestimmte Einstellungen gibt. Denn tatsächlich scheint der mit Autonomie charakteristischerweise verbundene normative Umschwung insofern vielfältiger zu sein, als die Autonomie einer Person von uns auch verlangt, den Willen (d. h. hier: die Entscheidungen oder Lebensweise) der betreffenden Person in unserer praktischen Überlegung auf eine bestimmte Weise zu berücksichtigen – nämlich „zu respektieren“: Eine Ärztin würde die Autonomie der Patientin beispielsweise gerade nicht angemessen respektieren, wenn sie die Behandlung, die die Patientin wohlüberlegt ablehnt, nur deswegen unterlässt, weil die Behandlung mehr kosten würde als der Krankenkasse dafür in Rechnung gestellt werden kann. Die Ärztin würde hier auf der Ebene der Handlung zwar das tun, was die Autonomie der Patientin verlangt (nämlich die Unterlassung eines Eingriffs), aber sie würde es aus der falschen praktischen Überlegung heraus tun. Die Autonomie einer Person scheint Dritten also auch Grund für eine bestimmte Form des Respekts zu geben, die sich nicht in der Unterlassung von Eingriffen erschöpft (und der man nur durch eine bestimmte Form praktischer Deliberation gerecht wird). Das stellt aber die Normativitätsthese nicht in Frage; denn wichtig ist allein, dass die Tatsache, dass eine Person autonom ist, Dritten immer auch Grund zur Unterlassung bestimmter Handlungen gibt.
94 (N) ist sogar mit Conlys (2013) These vereinbar, dass paternalistische Eingriffe in sehr vielen Fällen gerechtfertigt sind. (N) sagt lediglich, warum es in diesen Fällen überhaupt einer Rechtfertigung bedarf.
214 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff Siebtens erhebt die Normativitätsthese keinen Ausschließlichkeitsanspruch. Die zentralen Behauptungen dieser Arbeit besagen lediglich, (a) dass eine grundlegende Funktion des Begriffs Autonomie darin besteht, einen Bereich von Entscheidungen und Lebensweisen abzugrenzen, der moralisch geschützt ist vor äußeren Einflüssen; (b) dass Schema (N) ein wesentliches Element der begrifflichen Grundstruktur von Autonomie expliziert; und (c) dass Aussagen über Autonomie immer auch Aussagen über das Vorliegen von praktischen, inhaltsunabhängigen Gründen sind. Das alles ist vereinbar damit, dass der Begriff Autonomie noch andere Funktionen hat, dass es weitere Elemente der begrifflichen Grundstruktur gibt und dass man mit Aussagen über Autonomie noch mehr sagt als nur etwas über das Vorliegen von praktischen, inhaltsunabhängigen Gründen.95 Denn die These, dass Autonomiezuschreibungen immer auch Aussagen über Gründe für die Unterlassung von Eingriffen sind, besagt nicht, dass sich Autonomiezuschreibungen darin erschöpfen. (N) erhebt also gar nicht den Anspruch, alles über Autonomie vollständig auf den Begriff zu bringen. Und solange (N) auch nur eine wesentliche Funktion benennt, die bei Aussagen über die Autonomie von Personen immer auch im Spiel ist, kommt man um (N) – und alles, was aus (N) folgt (vgl. Abschnitt 6.4) – nicht herum.
6.3 Argumente für die Normativitätsthese Bislang habe ich die Normativitätsthese lediglich anhand einiger Überlegungen motiviert und dann erläutert. Es fehlen aber noch Argumente dafür, warum man (N) für wahr halten sollte. In gewisser Hinsicht ist es nicht ganz einfach, jemanden von der Wahrheit von (N) zu überzeugen, der sie nicht bereits sieht. Denn die Normativitätsthese erhebt den Anspruch, eine begriffliche These zu sein; und ebenso, wie es recht schwierig ist, jemanden davon zu überzeugen, dass alle Junggesellen unverheiratet sind, der das nicht bereits für wahr hält, ist es eben auch schwierig, jemanden davon zu überzeugen, dass die Tatsache, dass jemand
95 Es ist sogar grundsätzlich vereinbar damit, dass in manchen spezifischen Kontexten diese anderen Funktionen „wichtiger“ sind als die Funktion, einen vor Eingriffen moralisch geschützten Bereich von Entscheidungen und Lebensweisen abzugrenzen. Der schwerwiegendste Vorwurf, den man auf dieser Grundlage gegen die Normativitätsthese vorbringen könnte, ist, dass (N) nicht in allen Kontexten die jeweils wichtigste Funktion von Autonomie „auf den Begriff“ bringt. Aber daraus folgt natürlich weder, dass (N) falsch ist, noch folgt, dass die in Kap. 7 auf der Grundlage von (N) entwickelten Bedingungen von Autonomie in diesen spezifischen Kontexten unfruchtbar sind (denn es ist möglich, dass diese Bedingungen mehrere Funktionen zugleich erfüllen).
6.3 Argumente für die Normativitätsthese |
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autonom ist, ein Grund für die Unterlassung von Eingriffen ist, wenn dies nicht bereits eingesehen wird. Eine erste Möglichkeit, den begrifflichen Zusammenhang argumentativ zu stärken, besteht darin, anhand eines Beispiels nachzuweisen, dass die Phänomenologie einer Autonomiezuschreibung durch eine kompetente und aufrichtige Sprecherin unserer Sprache auf die Normativitätsthese führt. Betrachten wir dazu noch einmal das Beispiel von Bert, der sich tätowieren lassen möchte, und nehmen an, dass seine Mutter glaubt, dass dies voll und ganz Berts eigener Entschluss war und er hinsichtlich dieser Entscheidung autonom ist. Wenn die Mutter aufrichtig diese Auffassung über Berts Autonomie vertritt, dann wird sie sich gegenüber Bert und gegenüber Dritten auf eine charakteristische Weise verhalten: Zum einen wird sie keine – oder allenfalls zögernd – Versuche unternehmen, Berts Entschluss rückgängig zu machen (etwa indem sie auf ihn einredet) oder gar die Umsetzung seiner Entscheidung zu verhindern (etwa indem sie ihm eine Strafe androht). Vielmehr wird sie die Entscheidung ihres Sohnes respektieren, also gar nicht auf eine dieser Weisen in die Entscheidung eingreifen (oder sich für solche Eingriffe zumindest rechtfertigen). Wenn die Sprecherin also die Entscheidung einer Person als autonom ansieht, dann ist sie ein Stück weit geneigt, von Eingriffen in die autonome Entscheidung abzusehen. Das ist nicht nur ein kontingentes psychologisches Faktum: In dem Maße, in dem jemand urteilt, dass eine Person autonom ist, aber nicht geneigt ist, von Interventionen abzulassen, erscheint auch zweifelhaft, dass das Urteil über die Autonomie der Person wirklich aufrichtig ist. Wenn die Mutter Berts Entscheidung zwar als autonom bezeichnete, aber dennoch ohne zu Zögern intervenierte, würden wir sie zurechtweisen und Rechenschaft verlangen: „Warum bedrängst du den Jungen so? Du sagst schließlich selbst, dass es seine eigene Entscheidung ist, sich tätowieren zu lassen. Lass ihn also!“ Würde die Mutter nun einfach fortfahren, ohne zu zögern und ohne Rechenschaft abzulegen, dann ließe sie keinerlei Bereitschaft erkennen, von Eingriffen in Berts Entscheidung abzusehen. Und so begännen wir daran zu zweifeln, dass sie Berts Entscheidung wirklich als eine autonome Entscheidung ansieht und aufrichtig ist in dem, was sie sagt. Aber die Mutter wird nicht nur selbst anders mit Berts Entscheidung umgehen, sie wird auch gegenüber anderen unterschiedlich auftreten: Wenn eine dritte Person, etwa Berts Schwester Maria, versuchen würde, Bert umzustimmen oder die Umsetzung seiner Entscheidung zu verhindern, so würde die Mutter ihr wohl etwas entgegensetzen: „Hör auf, Bert zu überreden – es war seine eigene Entscheidung.“ Die Mutter legt hier dieselben Maßstäbe an, die sie auch an sich anlegt: Sie selbst ist aufgrund der Autonomiezuschreibung nicht zu Eingriffen bereit und nun fordert sie auch von Dritten, von Eingriffen abzusehen. Sie würde Maria auch Vorwürfe machen, wenn sie ihre Interventionsversuche fortsetzte. Wiederum handelt es
216 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff sich dabei nicht nur um ein kontingentes psychologisches Faktum, sondern um eine Bedingung an eine aufrichtige Autonomiezuschreibung: Würde die Mutter Berts Entscheidung als autonom bezeichnen, aber keine Neigung erkennen lassen, Maria bei Interventionsversuchen zur Zurückhaltung zu ermahnen, so wäre an ihrem Urteil über Berts Autonomie etwas faul – es kann nicht ganz ernst gemeint sein. Wir könnten ihr einen Vorwurf machen: „Warum tust du nichts, es war doch Berts eigene Entscheidung, das denkst doch auch du! Dann kannst du doch nicht zulassen, dass Maria ihn zu etwas überredet, was er nicht wirklich will.“ Die Bereitschaft, in einer bestimmten Weise auf die Entscheidung einer Person und auf anderer Leute Umgang damit zu reagieren, scheint also charakteristisch für sprachlich korrekte und aufrichtige Autonomiezuschreibungen zu sein. Die Autonomiezuschreibung der Mutter findet sozusagen ihren Niederschlag gerade darin, dass sie zu unterschiedlichem Umgang mit seiner Entscheidung und zu unterschiedlichen Reaktionen auf den Umgang anderer mit seiner Entscheidung bereit ist. Die Tatsache, dass Berts Mutter entsprechend ihrem Urteil über Berts Autonomie auch zu unterschiedlichen Reaktionen auf das Verhalten anderer bereit ist, zeigt an, dass sie glaubt, dass ihr eigener Umgang mit Berts Entscheidung berechtigt ist. Denn andernfalls wäre es zum Beispiel unverständlich, weshalb sie Maria zur Zurückhaltung ermahnt oder ihr Vorwürfe machen würde, wenn diese von ihren Interventionsversuchen nicht ablässt. Offenbar geht das Verhalten gegenüber Bert als auch gegenüber Dritten also mit dem Anspruch einher, berechtigtes Verhalten zu sein. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass aus Sicht der Sprecherin Gründe dafür sprechen, sich so zu verhalten, wie sie sich verhält – nämlich von Interventionen in Berts Entscheidung abzusehen. Somit gibt es einen Zusammenhang zwischen aufrichtigen Autonomiezuschreibungen und dem Vorliegen praktischer Gründe: Aufrichtige Autonomiezuschreibungen gehen einher mit bestimmten Verhaltensweisen (Unterlassung von Eingriffen) und es wird von Seiten der Sprecherin der Anspruch erhoben, dass diese Verhaltensweisen berechtigt sind. Das impliziert aber, dass aus ihrer Sicht Gründe dafür sprechen, sich so zu verhalten (d. h. von Eingriffen abzusehen). Eine aufrichtige Autonomiezuschreibung setzt somit stets voraus, dass praktische Gründe bestehen, Eingriffe in die Entscheidung oder Lebensweise der Person zu unterlassen. Dies ist ein erstes Argument für die Normativitätsthese. Nun könnte man gegen diese Überlegungen (und insb. gegen die Normativitätsthese) einwenden, dass es doch so scheint, als könne man den Autonomiebegriff auch rein deskriptiv verwenden und rein deskriptive Autonomiezuschreibungen vornehmen (vgl. Baumann 2000, Kap. 5, insb. 177; Christman 1995, 19; Haworth 1986, 1). Zum einen kann man sich durchaus jemanden vorstellen, der so etwas sagt wie „Bert ist autonom, doch damit will ich gar nichts Normatives sagen“. Wenn (N)
6.3 Argumente für die Normativitätsthese |
217
jedoch zutrifft, dann müsste sich die Sprecherin dieses Satzes in einen begrifflichen Widerspruch verwickeln und ihre Äußerung müsste uns unverständlich erscheinen. Doch wir verstehen die Äußerung durchaus. Daher, so der Einwand, könne (N) nicht richtig sein.96 Zum anderen würden doch der klassische Utilitarismus (oder allgemeiner: die meisten wertmonistischen Positionen) typischerweise gerade bestreiten, dass Autonomie intrinsisch wertvoll ist und damit für sich genommen einen Grund für oder gegen Handlungen darstellt; denn diesen Positionen zufolge gibt es nur ein intrinsisches Gut und das ist typischerweise nicht Autonomie, sondern Nutzen oder Wohlergehen. Auch solche Positionen scheinen sich nicht in einen begrifflichen Widerspruch zu verwickeln, und darum könne (N) nicht beanspruchen, begrifflich wahr zu sein. Richtig ist zunächst, dass wir die Sprecherin der Äußerung „Bert ist autonom, doch damit will ich gar nichts Normatives sagen“ verstehen. Aber wir verstehen ziemlich viel. Ich verstehe auch die Äußerung „Bert ist ein verheirateter Junggeselle“ – vielleicht meint die Sprecherin einfach, dass Bert zwar verheiratet ist, aber noch immer lebt wie ein Junggeselle (oder sich so fühlt). Das ändert aber nichts daran, dass Junggesellen mit begrifflicher Notwendigkeit unverheiratet sind.97 Es kommt offenbar darauf an, wie man zu einem Verständnis der Aussage „Bert ist autonom, doch damit will ich gar nichts Normatives sagen“ gelangt. Eine präzisere Fassung dieser Aussage wäre zum Beispiel: „Bert ist zwar autonom, aber wir sollten oder dürfen dennoch in seine Entscheidung eingreifen.“ Dazu ist zweierlei zu bemerken: Erstens ist eine derartige Aussage völlig vereinbar mit (N), denn die Normativitätsthese besagt lediglich, dass die Autonomie einer Person einen Grund darstellt, nicht in deren Entscheidungen einzugreifen, aber sie sagt nicht, dass man alles in allem betrachtet nicht eingreifen sollte oder nicht eingreifen darf (vgl.
96 In einer etwas ausgefeilteren Variante wird dieser Einwand ergänzt durch die These, dass der mit Autonomiezuschreibungen verbundene normative Umschwung lediglich Teil der Pragmatik, nicht aber der Semantik von Autonomiezuschreibungen sei. (N) sei darum keine semantische These, und die von mir betonten normativen Aspekte hätten darum keine Bedeutung für die noch ausstehende semantische Analyse der Bedingungen personaler Autonomie. (Auf diese Möglichkeit hat mich Wolfgang Freitag hingewiesen; die verallgemeinerte These, dass bei jedem dicken normativen Begriff die normativen Aspekte lediglich der Pragmatik zuzurechnen, nicht aber Bestandteil der Bedeutung der entsprechenden Ausdrücke seien, vertritt Väyrynen 2013.) Mir scheint diese Variante des Einwands allerdings auf einer zu strengen Unterscheidung zwischen Semantik und Pragmatik zu beruhen, die ein unplausibles Bild von Sprache voraussetzt – ein Bild, in dem ein Wort für einen Gegenstand steht, der seine Bedeutung ist, und in dem diese Verbindung zwischen Wort und Bedeutung starr ist (so dass das Wort sozusagen seine Bedeutung mit sich herum trägt, egal wohin man es trägt); vgl. zur Schwierigkeit, Semantik und Pragmatik auf so scharfe Weise zu trennen, ausführlicher die Argumentation von Baz (2012). 97 Schwieriger zu verstehen ist z. B. so etwas wie „Alle Junggesellen sind verheiratet“.
218 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff erstes und zweites Missverständnis der Normativitätsthese, S. 210). Und zweitens verrät das Wort „dennoch“ in der genannten Aussage, dass an der Normativitätsthese etwas dran ist: Denn offenbar wird damit gesagt, dass die Tatsache, dass Bert autonom ist, dafür spricht, von Eingriffen abzulassen, aber man dürfe dennoch eingreifen (etwa weil andere, gewichtigere Überlegungen für derartige Eingriffe sprechen – Bert könnte ja ein großes Unrecht begehen). Wer die Normativitätsthese aushebeln will, muss zeigen, dass man verständlicherweise so etwas wie „Bert ist autonom, aber es gibt gar keinen Grund, von Eingriffen in seine Entscheidung oder Lebensweise abzulassen“ behaupten kann. Ich glaube, wer das behauptet, ist unaufrichtig oder hat einfach nicht verstanden, was es heißt, autonom zu sein.98 Hat der klassische Utilitarismus dann ebenfalls nicht verstanden, was es heißt, autonom zu sein? Dieser Schluss wäre etwas voreilig. Zwar gilt zunächst, dass wertmonistische Positionen wie der klassische Utilitarismus tatsächlich den intrinsischen Wert vieler Dinge bestreiten, die wir gemeinhin für intrinsisch wertvoll halten – Gerechtigkeit oder Schönheit beispielsweise. Falls das so zu verstehen ist, dass es für wertmonistische Positionen jeweils nur einen einzigen dicken Begriff gibt (Nutzen, Wohlergehen oder Glückseligkeit), dann folgt daraus in der Tat, dass Autonomie kein dicker Begriff ist. Allerdings erhält man diese Konklusion wohl nur um den Preis einer reductio ad absurdum des Wertmonismus, denn dass es mehr als einen dicken normativen Begriff gibt, scheint ausgemacht.99 Allerdings muss man die wertmonistische Position nicht zwingend (und sollte sie besser nicht) so deuten, dass sie auf die Behauptung festgelegt ist, es gebe nur einen einzigen dicken Begriff. Denn der Wertmonismus zeichnet sich durch die These aus, dass es genau ein einziges Gut G* gibt, das grundlegenden (basalen) intrinsischen Wert hat (vgl. die Charakterisierung des Wertmonismus von Heathwood 2015); und das ist vereinbar damit, dass es weitere Güter G1 , . . . , G n gibt, die abgeleiteten (derivativen) intrinsischen Wert haben, etwa weil die Tatsache, dass G i instanziiert wird, notwendigerweise auch impliziert, dass G* instanziiert wird (vgl. Harman 1967): Wenn man z. B. Lustempfindungen für das einzige grundlegende intrinsi-
98 Ganz ähnlich ist es im Fall anderer dicker Begriffe: Man kann beispielsweise verständlicherweise sagen „Es ist grausam, aber wir sollten es dennoch tun“, aber die Aussage „Es ist grausam, aber es gibt gar keinen Grund, es zu lassen“ ist m. E. unverständlich. 99 Zudem würde der hier diskutierte Einwand – dass wertmonistische Positionen kohärent formulierbar sind, zeige doch, dass Autonomie kein dicker normativer Begriff im Sinne von (N) sein könne – „übergeneralisieren“: Er ließe sich auf alle analogen Thesen anwenden, nach denen B ein dicker normativer Begriff ist und die Tatsache, dass x unter B fällt, deswegen ein Grund für oder gegen etwas ist. Der Einwand richtet sich dann gar nicht gegen die These, dass Autonomie ein dicker normativer Begriff ist, sondern gegen die These, dass es mehr als einen dicken normativen Begriff gibt.
6.3 Argumente für die Normativitätsthese |
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sche Gut hält, wird man ein lustvolles Leben oder einen Orgasmus als abgeleitet intrinsische Güter (und damit als derivativ intrinsisch wertvoll) ansehen wollen – weil die Tatsache, dass eine Person ein lustvolles Leben führt oder geführt hat, und die Tatsache, dass eine Person einen Orgasmus hat, notwendigerweise implizieren, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt Lust empfindet oder empfunden hat.100 In diesem Sinne könnte man auch der Auffassung sein, dass Autonomie eine „Komponente“ oder „Ausprägung“ von Wohlergehen oder Nutzen ist – so dass die Tatsache, dass jemand autonom ist, impliziert, dass das Wohlergehen oder der Nutzen befördert wird – und dass Wohlergehen oder Nutzen das einzige Gut ist, das grundlegenden intrinsischen Wert hat.101 Autonomie hätte demnach abgeleiteten intrinsischen Wert102 und so könnte auch der Wertmonismus zugestehen, dass es mehr als einen einzigen dicken normativen Begriff gibt und dass die Tatsache, dass jemand autonom ist, für sich genommen einen Grund darstellt, bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen. Wertmonismus und (N) sind somit kompatibel. Ein zweites Argument für die These, Autonomie sei ein dicker normativer Begriff, könnte man das „funktionale Argument“ nennen: Wenn man zeigen kann, dass eine gewisse Funktionsweise charakteristisch ist für dicke normative Begriffe und dass auch der Begriff Autonomie auf diese Weise funktioniert, so folgt, dass Autonomie ein dicker normativer Begriff ist. Tatsächlich zeichnen sich alle dicken normativen Begriffe durch gewisse strukturelle Eigenschaften aus. Demnach ist ein
100 Es ist wichtig zu sehen, dass hier kein instrumentelles, sondern ein konstituierendes Verhältnis vorliegt: Das lustvolle Leben oder der Orgasmus sind keine Mittel dazu, Lust zu empfinden, sondern bestehen (teilweise) darin, Lust zu empfinden. 101 So kann man Mills Position in Kap. III („Of Individuality, as One of the Elements of Well-Being“) aus On Liberty verstehen: „It is desirable, in short, that in things which do not primarily concern others, individuality should assert itself. Where, not the person’s own character, but the traditions or customs of other people are the rule of conduct, there is wanting one of the principal ingredients of human happiness, and quite the chief ingredient of individual and social progress. [. . . ] If it were felt that the free development of individuality is one of the leading essentials of well-being; that it is not only a co-ordinate element with all that is designated by the terms civilization, instruction, education, culture, but is itself a necessary part and condition of all those things; there would be no danger that liberty should be undervalued, and the adjustment of the boundaries between it and social control would present no extraordinary difficulty. But the evil is, that individual spontaneity is hardly recognised by the common modes of thinking, as having any intrinsic worth, or deserving any regard on its own account“(Mill OL, 261; Herv. d. Verf.). 102 Für eine Kritik an der systematischen Überzeugungskraft dieser Position, vgl. Dorsey 2015.
220 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff Begriff B (wie beispielsweise grausam) genau dann ein dicker normativer Begriff, wenn gilt: 1. B ist ein normativer Begriff. Das heißt, dass die Verwendung des Begriffs notwendigerweise mit einer Aussage über das Vorliegen von praktischen Gründen einhergeht. 2. Die Tatsache, dass der Begriff B auf etwas zutrifft, ist ein Grund, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen. Das unterscheidet dicke normative Begriffe wie grausam von dünnen normativen Begriffen wie gut: Dass letztere auf etwas zutreffen, besagt nämlich lediglich, dass es einen Grund gibt, etwas zu tun oder zu unterlassen, aber es ist nicht selbst dieser Grund.103 3. Man kann mit dem Begriff B drei Arten von Fehlern machen: Kategorienfehler („Die Zahl 5 ist grausam“), normative Fehler („Es ist nicht grausam, jemanden bei lebendigem Leib zu verbrennen“), und deskriptive Fehler („Es ist grausam, einen Bekannten auf der Straße nicht zu grüßen“). Bei normativen Fehlern schätzt man eine Situation in normativer Hinsicht falsch ein: Man impliziert mit der Anwendung eines Begriffs, dass es einen Grund für oder gegen bestimmte Handlungen gibt, obwohl es einen solchen Grund tatsächlich nicht gibt (oder umgekehrt). So spricht die Tatsache, dass es grausam ist, dagegen, jemanden beim lebendigen Leib zu verbrennen. Wer hingegen sagt, es sei nicht grausam, der sagt, dass es einen Grund, diese Handlung zu unterlassen, nicht gibt, obwohl es ihn tatsächlich doch gibt. Er täuscht sich also über die vorliegenden praktischen Gründe und das ist ein normativer Fehler. Bei deskriptiven Fehlern stimmt zwar die normative Einschätzung der Situation (es ist in normativer Hinsicht tatsächlich defizitär, einen Bekannten auf der Straße nicht zu grüßen), aber die Beschreibung der Situation geht fehl (es ist nicht grausam, sondern unhöflich). Dicke normative Begriffe sind nun gerade die Klasse von Begriffen, die diese drei Merkmale erfüllen. Bei der Erläuterung der Normativitätsthese hatte ich bereits gezeigt, dass auch der Begriff Autonomie alle diese Merkmale erfüllt: Es ist erstens ein normativer Begriff, weil seine Verwendung immer mit Aussagen über das Vorliegen von praktischen Gründen verknüpft ist. Zweitens funktioniert der Begriff Autonomie in Begründungskontexten so, dass damit eine gehaltvolle Begründung gegeben werden kann („Man sollte es unterlassen, weil die Person autonom ist“); die Tatsache, dass jemand autonom ist, konstituiert somit einen Grund und zeigt nicht bloß an, dass es Gründe gibt. Und drittens kann man mit dem Autonomiebegriff deskriptive Fehler machen (z. B. wird Adeles kaltblütiger Mord an Bert als
103 Siehe dazu auch die Diskussion des Einwands auf S. 226.
6.3 Argumente für die Normativitätsthese |
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Autonomieverletzung nicht angemessen beschrieben). Damit teilt Autonomie gerade die strukturellen Eigenschaften, die dicke normative Begriffe auszeichnen. Personale Autonomie ist somit selbst ein dicker normativer Begriff. Ein drittes Argument für die Normativitätsthese (N) ergibt sich aus dem bereits angesprochenen Zusammenhang von personaler Autonomie und praktischer Autorität. Es ist nicht nur so, dass sich einige Aspekte des autonomiebezogenen Grundes (insb. seine Inhaltsunabhängigkeit) anhand der Parallele zu unserem Verständnis einer Autorität illustrieren lassen; der Zusammenhang zwischen Autonomie und Autorität ist tatsächlich viel enger: Autonomie ist eine Form praktischer Autorität. In der Debatte um personale Autonomie wird dieser Zusammenhang von verschiedenen Autorinnen auch explizit genannt: „[A]utonomy confers normative authority over one’s life; the authority to make decisions of practical importance to one’s life, for one’s own reasons, whatever those reasons might be“ (Mackenzie 2008, 512). „[T]o be autonomous [. . . ] is to have a kind of authority over oneself as well as the power to act on that authority. [. . . ] A theory of autonomy must explain what kind of authority and power is involved“ (Oshana 2006, 1f.). „Autonomous persons are in a kind of authoritative control of their own choices, actions, and goals. To have authoritative control is to ‘own’ the management of one’s choices, actions, and goals. [. . . ] Having the relevant kind of authority guarantees that a person’s life is free of the domination of others“ (Oshana 2006, 4; Herv. i. Orig.). „When I talk of autonomy it is, in particular, this idea of self-governance that is my direct concern. [. . . ] As an initial, basic step we can say that in self-governance the agent herself directs and governs her practical thought and action. [. . . ] As a first step we can say that for the agent to direct thinking and acting is for relevant attitudes [. . . ] to have authority to speak for the agent – to have agential authority. [. . . ] In self-governance, attitudes that have agential authority need to guide relevant thought and action by way of articulating what has, for the agent, justifying significance – what has subjective normative authority for that agent“ (Bratman 2007d, 4f.). „[A]utonomous agents, who fully own their wills, act for reasons for which they possess a special authority to speak or answer“ (Benson 2005b, 102). „The social dimension of agential ownership also exhibits the discursive significance of autonomous agents’ distinctive authority“ (Benson 2005b, 108).
Offenbar scheint die Vorstellung, Autonomie sei eine bestimmte Form praktischer Autorität, recht verbreitet zu sein. Diese Vorstellung hat insofern eine Grundlage in unserem Sprachgebrauch, als man eine Reihe von Dingen, die man (spezifisch) von Autoritäten sagen kann, auch von autonomen Personen sagen kann: Man kann die (praktische) Autorität einer Person untergraben, angreifen, gefährden, verletzen, (miss-)achten, respektieren und anerkennen – genauso wie man
222 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff die Autonomie einer Person untergraben, angreifen, gefährden, verletzen, (miss-) achten, respektieren oder anerkennen kann. Und so wie man die eigene (praktische) Autorität ausüben, bewahren und behaupten kann, kann man auch seine Autonomie ausüben, bewahren und behaupten. Die expliziten Bekenntnisse in der philosophischen Diskussion und die Ähnlichkeiten im begrifflichen Geflecht, in das die Begriffe Autonomie und praktische Autorität jeweils eingebettet sind, legen die Vermutung nahe, dass Autonomie eine Form von praktischer Autorität sein könnte. Nun ist der Begriff praktische Autorität aber selbst ein dicker normativer Begriff: Wenn eine Person nämlich Autorität hat, dann impliziert das erstens, dass ihre Anweisungen Gründe für die der Autorität unterstellten Personen sind, das Angewiesene zu tun; das ist der normative Aspekt des dicken Begriffs Autorität. Und es impliziert zweitens auch, dass die Person, die die Autorität hat, überhaupt Anweisungen geben oder erlassen kann, dass der Inhalt dieser Anweisungen ein Appell zur Folgsamkeit ist und dass die Person Macht (in einem rein beschreibenden Sinne als das Vermögen, bestimmte Dinge erzwingen zu können) über andere hat; das sind deskriptive Aspekte des dicken Begriffs Autorität. Wenn Autonomie nun eine bestimmte Form praktischer Autorität ist, dann ist der Begriff Autonomie ein Unterbegriff zu Autorität, und insofern letzterer ein dicker normativer Begriff ist, muss auch ersterer ein solcher sein: Aufgrund der begrifflichen Beziehungen „erbt“ der Unterbegriff sozusagen die kategorialen Eigenheiten des Oberbegriffs. Und daraus folgt, dass Autonomie ein dicker normativer Begriff ist.
6.3.1 Vorteile der Normativitätsthese Neben dem Argument aus der Phänomenologie von Autonomiezuschreibungen, dem funktionalen Argument und dem Argument aus dem begrifflichen Zusammenhang zu praktische Autorität gibt es eine Reihe weiterer Überlegungen, welche die Normativitätsthese stützen (gleichwohl nicht erzwingen). Erstens stellt (N) nämlich einen begriffsgeschichtlichen Zusammenhang zu den Ursprüngen des Autonomiebegriffs her. Seit der Antike wurde der Begriff Autonomie für lange Zeit nämlich ausschließlich auf staatenähnliche politische Gebilde angewandt; erst mit Kant etabliert sich die Anwendung des Begriffs auf (den Willen von) Personen (Feil 1987, 106–110). Stets war Autonomie ein Begriff des Vertragsrechts, der die normativen Beziehungen zwischen Stadtstaaten regelte: Er diente dazu, einzelnen untergeordneten Stadtstaaten im Rahmen eines übergeordneten Machtbereichs (wie dem Attischen Seebund unter der Führung Athens) eine bestimmte Sphäre der Autorität zu sichern, innerhalb welcher der autonome Stadtstaat allein entscheiden und walten durfte (Bickerman 1958, 326f.; Lévy 1983, 259f.; Ostwald 1982, 7f., 1988,
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83; Pistorius 1985, 172; Whitehead 1993, 321). Der Status der Autonomie bedeutete für die mächtigeren, im Bund vereinten Stadtstaaten, dass sie sich in die inneren Angelegenheiten der autonomen Städte nicht einmischen durften (Bosworth 1992, 147; Pistorius 1985, 155f., 164). Insbesondere war der antike Autonomiebegriff nur im Rahmen von zwischenstaatlichen Beziehungen sinnvoll anwendbar (Bickerman 1958, 325ff.; Ostwald 1982, 12). Die Normativitätsthese unterstreicht diese relationale Struktur, die bereits dem antiken Autonomiebegriff anhaftete. Zugleich setzt sie fort, was dort angelegt war: Der Begriff dient dazu, die Beziehungen (heute zwischen Personen, damals zwischen Stadtstaaten) in normativer Hinsicht zu regeln – so wie Autonomie damals ein Grund für die anderen Staaten eines Bundes war, nicht in die Belange des autonomen Stadtstaats einzugreifen, so ist Autonomie auch heute noch der Grund für andere Personen, nicht in die Angelegenheiten (Entscheidungen, Lebensweisen) einer autonomen Person einzugreifen. Die Normativitätsthese stellt somit hinsichtlich der Funktionsweise und der elementaren begrifflichen Struktur eine begriffsgeschichtliche Kontinuität her zwischen der ursprünglichen, politischen Bedeutung und der heutigen Anwendung des Begriffs auf Personen (vgl. auch Spaemann 1971, 94).104 Zweitens bietet die Normativitätsthese eine Erklärung für die Verunsicherung und unklaren Intuitionen, die im Hinblick auf Fälle des „autonomen Abtritts von Autonomie“ auftreten. Es gibt nämlich Fälle, in denen Personen auf scheinbar autonome Weise eine Entscheidung treffen, die impliziert, dass sie ihre Autonomie (in einem globalen Sinne) verlieren. Der junge Abiturient, der als Novize einem kirchlichen Orden beitritt, könnte ein solches Beispiel sein: Man kann seinen Fall stets so beschreiben, dass er die Entscheidung für den Ordensbeitritt völlig autonom trifft; doch mit der Unterordnung seines Willens unter den des Abtes verliert er im Weiteren ein Stück seiner Autonomie. Es ist notorisch unklar, wie solche Fälle zu bewerten sind: Soll man sagen, dass die Person als Ganzes nicht autonom ist, aber ihre Entscheidung eine autonome war? Soll man sagen, dass die Person bis zum Eintritt in den Orden autonom ist, sobald die Tür ins Schloss gefallen ist aber nicht mehr? Oder besteht hier gar kein Problem, weil die Abtretung der Autonomie selbst gewählt ist und der Abiturient die ganze Zeit über autonom ist? Ich will diese Fragen hier nicht entscheiden, sondern lediglich darauf hinweisen, dass die Normativitätsthese erklärt, warum es hier zu unklaren Intuitionen kommen muss: Gemäß (N) ist die Tatsache, dass sich der Abiturient auf autonome Weise für den Eintritt in den Orden entschieden hat, nämlich ein inhaltsunabhängiger
104 Da Begriffe sich wandeln können, ist die begriffsgeschichtliche Kontinuität natürlich kein Argument für die Wahrheit der Normativitätsthese. Sie motiviert aber einen Anknüpfungspunkt für die Suche nach den Bedingungen personaler Autonomie; vgl. Abschnitt 7.1.
224 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff Grund, nicht in seine Entscheidung einzugreifen; und das heißt, die Tatsache, dass er autonom ist hinsichtlich seiner Entscheidung für den Eintritt in den Orden, ist ein Grund, ihn gewähren zu lassen. Doch ihn gewähren zu lassen heißt zuzulassen, dass er ein Leben führt, dass seiner Autonomie abträglich ist. Es führt zu einer anderen Tatsache – der Tatsache, dass der Abiturient nicht autonom ist hinsichtlich seiner aus der Entscheidung folgenden Lebensweise. Und nach (N) besteht dann gerade kein inhaltsunabhängiger Grund für andere, von Eingriffen in seine Lebensweise abzusehen. Die widerstreitenden Intuitionen im Hinblick auf die Autonomie des zukünftigen Novizen haben ihren Ursprung also darin, dass (N) in solch einem Fall einmal bezüglich der Entscheidung und einmal bezüglich der aus der Entscheidung resultierenden Lebensweise angewendet werden kann und dass die normativen Anforderungen, die sich dann aus der Autonomie bzw. Heteronomie diesbezüglich ergeben, in unterschiedliche Richtungen weisen: Einerseits besteht ein Grund, von Eingriffen in die Entscheidung des Abiturienten abzusehen, andererseits besteht gerade kein Grund, von Eingriffen in seine Lebensweise abzusehen, die aus der Entscheidung resultiert. Doch würde man in seine Lebensweise als Novize eingreifen, würde man damit immer auch in seine Entscheidung eingreifen; und ihn im Hinblick auf seinen Entschluss gewähren zu lassen, hieße umgekehrt immer auch, ihn in Bezug auf seine Lebensweise gewähren zu lassen. Somit sind die normativen Anforderungen an Dritte in Bezug auf die Entscheidung des Abiturienten unklar bestimmt. Und da es bei der Autonomie einer Person gerade um den Status geht, der solche normativen Anforderungen hervorbringt, bleibt auch unklar, wie es um die Autonomie des Abiturienten nun genau bestellt ist. Drittens spielt die Normativitätsthese gut zusammen mit Ergebnissen anderer Untersuchungen im begrifflichen Umfeld der Autonomie: Es gibt eine Reihe von handlungstheoretischen Phänomenen, die in einem mehr oder weniger engen Zusammenhang zur Autonomie von Personen stehen. Dazu zählen beispielsweise die Idee des zwanghaften Wunsches, der Willensschwäche, der moralischen Verantwortung, der psychischen Gesundheit (bzw. des gesunden Verstands) oder des Zwangs. An dieser Stelle kommt es mir nicht darauf an, den Zusammenhang zwischen Autonomie und diesen Phänomenen genauer auszubuchstabieren, sondern lediglich darauf, dass es in der philosophischen Literatur vielversprechende Ansätze gibt, diese Phänomene als normative Phänomene zu verstehen – sie sind alle mit dem Vorliegen bestimmter praktischer Gründe verknüpft: Im Fall von Zwang beispielsweise verhält es sich so, dass die Tatsache, dass die gezwungene Person eine Handlung unter Androhung von Gewalt oder unter ähnlichen Umständen ausgeführt hat, ein Grund ist, sie nicht dafür zu tadeln, dass sie die Handlung
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nicht unterlassen hat.105 Entsprechend entscheidet sich auch die Frage, ob Zwang vorliegt oder nicht, unter anderem an einem normativen Standard – nämlich daran, ob eine bestimmte Tatsache einen Grund konstituiert oder nicht. Zwang ist somit ein normatives Phänomen: „Coercion is an evaluative term. While it has a fixed descriptive core, its meaning cannot be fully explained without noting its moral significance“ (Raz 1986, 148).
Ähnliches gilt auch für die Begriffe gesunder Verstand, moralische Verantwortung, Willensschwäche und zwanghafter Wunsch: Auch in diesen Fällen ist es so, dass die Tatsache, dass etwas unter einen dieser Begriffe fällt, jeweils einen Grund für oder gegen bestimmte Handlungen darstellt, und dass sich die Frage, ob etwas unter einen dieser Begriffe fällt, jeweils an einem normativen Standard entscheidet. Auch diese Begriffe beziehen sich somit auf normative Phänomene und sind insofern normative Begriffe.106 Gegeben dass der Begriff Autonomie in engen begrifflichen Beziehungen zu weiteren Begriffen steht und einige dieser weiteren Begriffe ihrerseits normative Begriffe sind, gewinnt die These, dass auch der Autonomiebegriff selbst normativ sein muss, an Plausibilität: Er bildet zusammen mit diesen anderen Begriffen sozusagen ein ganzes Netz von normativen Begriffen. Diese drei Überlegungen stützen die Normativitätsthese: Wenn sie wahr ist, dann lassen sich Beobachtungen erklären und Zusammenhänge aufdecken, die ohne die Normativitätsthese unverständlich oder zumindest isoliert blieben. Ich betrachte es als „Vorteile“ (wenn auch nicht als schlüssige Argumente) für die Normativitätsthese, dass diese in drei genannten Hinsichten erklärende Kraft hat.
105 Vgl. „P coerces Q into not doing act A only if [. . . ] [t]he fact that Q acted under those circumstances is a reason for not blaming him for not doing A“ (Raz 1986, 149). 106 Für gesunder Verstand, vgl. „Sanity is a normative concept“ (Wolf 1987, 61; Herv. i. Orig.); für moralische Verantwortung, vgl. „I propose that we interpret the debate about moral responsibility in normative terms. The primary issue [. . . ] turns, rather, on the following question: What are the conditions that make it morally fair for us to adopt the stance of holding people responsible? [. . . ] [D]etermining what the conditions of responsibility are will require an excursion into normative moral theory“ (Wallace 1994, 5f.); für Willensschwäche, vgl. „Weak[-willed] agents are distinguishable from victims of compulsion not because they are necessarily able to resist the impulses to which they are subject at the time but because their behavior displays a fault [. . . ] in contrast to the compelled agent who is subject to motivational forces that even a person of exemplary self-control could not resist. This explanation involves a normative standard“ (Watson 2004, 3); und für zwanghafter Wunsch, vgl. „This notion of compulsion is a normative one. Those who are subject to compulsive desires (in contrast to those who are merely weak of will) are those who could not reasonably be expected to hold out“ (Watson 1999, 606).
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6.3.2 Verteidigung der Normativitätsthese gegen Einwände Natürlich ist die Normativitätsthese aber auch Kritik ausgesetzt. Ein erstes Unbehagen, das man mit (N) haben könnte, ist, dass wir eigentlich auf der Suche nach einem deskriptiven, empirisch feststellbaren Autonomiebegriff sind, den man in konkreten Problemstellungen anwenden kann (vgl. für diese Stoßrichtung Oshana 1994). Das scheint in Spannung zu der Idee zu stehen, Autonomie sei ein normativer Begriff. Tatsächlich ist diese Spannung jedoch lediglich eine scheinbare. Denn wie ich bereits in Abschnitt 1.2 (S. 20) betont habe, können auch normative Begriffe inhaltlich gehaltvoll sein – gerade die dicken normativen Begriffe bieten sich aufgrund ihres deskriptiven Gehalts in dieser Hinsicht sogar an. Dass Autonomie ein normativer Begriff ist, heißt also nicht, dass sich damit das Ziel einer begrifflichen Schärfung nicht erreichen ließe. In eine ganz ähnliche Richtung zielen Zweifel, die darauf zurückgehen, dass dicke Begriffe ins Spiel gebracht werden. Manche Philosophinnen sagen dicken Begriffen besondere Eigenschaften nach; und unter anderem haftet dicken Begriffen der Ruf an, „nicht analysierbar“ zu sein.107 Wenn das zuträfe und Autonomie tatsächlich ein dicker Begriff wäre, so ließe sich wohl wenig Erhellendes über die Bedingungen personale Autonomie sagen. Eine Schärfung des Autonomiebegriffs wäre dann aufgrund seiner Natur gar nicht möglich, und (N) wäre inkompatibel mit der eigentlichen philosophischen Aufgabe. So ist es allerdings nicht. Denn zum einen ist die These, dicke Begriffe seien nicht analysierbar, keineswegs die orthodoxe Standardauffassung (vgl. z. B. Elstein und Hurka 2009). Und zum anderen sind gewisse Formen der „Nicht-Analysierbarkeit“ durchaus vereinbar damit, dass man über dicke Begriffe noch etwas Erhellendes sagen kann: Manche dicke Begriffe könnten insofern „nicht analysierbar“ sein, als sie sich nicht in eine saubere Konjunktion aus (a) rein dünnen normativen und (b) rein deskriptiven Begriffen aufspalten lassen.108 Allerdings könnten sie dennoch durch andere dicke Begriffe expliziert werden, und diese Analyse kann durchaus erhellend sein. Die Tatsache, dass die Normativitätsthese dicke Begriffe ins Spiel bringt, steht also nicht in einer grundsätzlichen Spannung zur eigentlichen philosophischen Aufgabe. Ein dritter Einwand setzt ebenfalls bei dicken Begriffen an, wendet sich aber nicht gegen ihre Einführung als solche, sondern gegen das hier zugrunde gelegte Bild von ihrer Funktionsweise: Ich habe behauptet, dass die Tatsache, dass etwas unter einen dicken Begriff (wie Autonomie) fällt, ein Grund ist, etwas zu tun oder zu lassen – und nicht nur darauf verweist, dass es Gründe gibt, die durch andere
107 So werden beispielsweise McDowell (1981) und darauf aufbauend Williams (1985, 140ff.) oft verstanden. Explizit vertreten diese These Thomas und Harcourt (2013). 108 Vgl. dazu die Ausführungen zur Analyse von brutal auf S. 252.
6.3 Argumente für die Normativitätsthese |
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Tatsachen konstituiert werden. Diese These scheint bei genauerer Betrachtung aber folgende Schwierigkeit zu erzeugen:109 Meine Behauptung war, dass die These einen besonderen Status hat – das Wissen, dass die Tatsache, dass etwas unter einen dicken Begriff B fällt, ein Grund für Handlungen oder Unterlassungen ist, sei Ausdruck der begrifflichen Kompetenz einer Sprecherin in Bezug auf B. Das, so der Einwand, lässt sich am ehesten so verstehen, dass der Satz (1)
x ist ein B.
den Satz (2)
Die Tatsache, dass x ein B ist, ist ein Grund für P, H zu tun.
analytisch impliziert. Da (1) selbst wieder in (2) vorkommt, impliziert dies wiederum analytisch den Satz (3)
Die Tatsache, dass die Tatsache, dass x ein B ist, ein Grund für P ist, H zu tun, ist ein Grund für P, H zu tun.
Aber mit (3) behauptet man (im Fall von Autonomie), dass Ps Grund für Unterlassungen in der Tatsache besteht, dass die Autonomie von x für P ein Grund für Unterlassungen ist – man sagt damit, dass die Tatsache, dass etwas ein Grund ist, selbst ein Grund ist. Und diese Konsequenz ist aus mehreren Gründen problematisch: Erstens scheint (3) schlicht falsch. Der Grund, etwas zu tun oder zu lassen, besteht in einer normativ relevanten Tatsache T – und nicht in der anderen Tatsache T ′ , dass T ein Grund ist, etwas zu tun oder zu lassen. Die Frage „Warum? Nenn mir einen Grund, ihn zu schonen!“ beantwortet man einfach nicht richtig, wenn man sagt „Der Grund ist, dass du Grund hast, ihn zu schonen“. Doch selbst wenn man zugesteht, dass die Tatsache, dass etwas ein Grund ist, selbst ein Grund sein kann, so würde Konsequenz (3) zweitens ein Problem der Doppelzählung von Gründen erzeugen: Für die Handlung H sprächen dann nämlich zwei Tatsachen – einmal die Tatsache T, dass x unter einen dicken Begriff B fällt, und einmal die Tatsache T ′ , dass T ein Grund für H ist. Da man überdies (1) auch wieder in (3) einsetzen kann, um (4)
Die Tatsache, dass die Tatsache, dass die Tatsache, dass x ein B ist, ein Grund für P ist, H zu tun, ein Grund für P ist, H zu tun, ist ein Grund für P, H zu tun.
109 Auf diese Bedenken haben mich Jan Gertken, Benjamin Kiesewetter und Thomas Schmidt aufmerksam gemacht.
228 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff zu erhalten, und dies endlos so fortführen kann, erhielte man gar unendlich viele weitere Gründe. Infolge dieser unendlichen Mehrfachzählung scheinen Gründe, die durch die Tatsache gestiftet werden, dass etwas unter einen dicken Begriff fällt, auch ein unendlich hohes Gewicht zu bekommen – und das ist in normativer Hinsicht unplausibel.110 Und drittens zeigt Konsequenz (3) auch, dass die in (2) enthaltene und nicht mehr eliminierbare Referenz auf (1) eine gefährliche Form von Selbstreferenz erzeugt, die es unmöglich zu machen droht, dass man den Grund, der durch die Autonomie einer Person gestiftet wird, überhaupt vollständig spezifizieren kann. Allerdings ist die hier vorgeschlagene Konzeption auf keine dieser unplausiblen Implikationen festgelegt, weil sie gar nicht auf (3) festgelegt ist. Denn der Übergang von (1) und (2) auf die problematische These (3) folgt nur, wenn man etwas unterstellt, was ich nicht behaupte (und auch nicht behaupten muss) – dass nämlich die Aussagen in (1) und (2) synonym und die dadurch beschriebenen Tatsachen identisch sind. Denn (2) identifiziert ja die Tatsache (T1 )
dass x ein B ist
als den „eigentlichen“ Grund für eine Handlung. Diese Tatsache kann man natürlich verschiedentlich beschreiben, aber wenn man aus der Aussage (2) qua Ersetzung einer Beschreibung durch eine andere Beschreibung eine weitere Aussage ableiten möchte, die einen Grund identifiziert, muss es sich um Beschreibungen derselben Tatsache handeln. Andernfalls wird der Schluss ungültig: Aus (2’)
Die Tatsache, dass Peter ein Junggeselle ist, ist ein Grund für das Finanzamt, ihn einer anderen Steuerklasse zuzuordnen als die verheiratete Petra.
folgt ja auch nicht (3’)
Die Tatsache, dass Peter ein Mann ist, ist ein Grund für das Finanzamt, ihn in einer anderen Steuerklasse einzuordnen als die verheiratete Petra.
obwohl der Satz „Peter ist ein Junggeselle“ den Satz „Peter ist ein Mann“ impliziert. Dass der Schluss von (2’) auf (3’) ungültig ist, liegt daran, dass die von den Sätzen „Peter ist ein Junggeselle“ und „Peter ist ein Mann“ beschriebenen Tatsachen trotz der zwischen den Sätzen bestehenden Implikationsbeziehung einfach nicht
110 Die Mehrfachzählung ist normativ nur dann problematisch, wenn die in (3) und (4) genannten Gründe jeweils ein eigenes, unabhängiges Gewicht hätten. Das muss man aber nicht behaupten. Man könnte auch sagen, dass es sich um „abgeleitete“ Gründe handelt, deren Gewicht vollständig auf dem in (2) genannten Grund beruht (siehe dazu Parfit 2011, 39).
6.3 Argumente für die Normativitätsthese |
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identisch sind: Junggeselle zu sein besteht nicht darin, ein Mann zu sein. Wenn Aussagen über begriffliche (analytische) Implikationen also nicht unbedingt Aussagen über eine Konstitutionsbeziehung zwischen Tatsachen implizieren, dann kann man trotz der These, dass (1) (2) analytisch impliziert, nicht einfach (1) in (2) einsetzen, um (3) zu erhalten. Dieser Schluss ist nur dann gültig, wenn man eine Konstitutionsbeziehung zwischen den in (1) und (2) beschriebenen Tatsachen voraussetzt – also davon ausgeht, dass die in (1) und (2) beschriebenen Tatsachen identisch sind. Demnach müsste die Tatsache T1 bestehen in der Tatsache (T2 )
dass die Tatsache, dass x ein B ist, ein Grund für P ist, H zu tun.
Und auf diese Behauptung ist man weder durch die Normativitätsthese (N) festgelegt noch durch die allgemeinere These, dass für jeden dicken Begriff B eine Instanz des folgenden Schemas gilt: „Wer den Begriff B besitzt, weiß, dass gilt: Die Tatsache, dass x ein B ist, ist ein Grund für P, H zu tun.“ Die drei aus (3) resultierenden Schwierigkeiten lassen sich damit vermeiden, weil (3) gar nicht aus (N) folgt.111
111 Die Schwierigkeiten ließen sich ebenfalls umgehen, wenn man scharf zwischen „eine Tatsache p ist ein Grund für A, H zu tun“ und „eine Tatsache p gibt A Grund, H zu tun“ differenzieren würde (wobei p A einen Grund gibt, H zu tun, wenn p notwendigerweise eine Tatsache q impliziert, welche ein Grund für A ist, H zu tun; vgl. Gertken 2014, 347). Man könnte dann (N) – sowie die entsprechende These über dicke Begriffe – modifizieren zu der Aussage „Die Tatsache, dass eine Person autonom ist, gibt anderen einen Grund, Eingriffe zu unterlassen, ist aber nicht selbst ein Grund“. Das würde die obigen Schwierigkeiten vermeiden und dennoch die wichtige methodische Implikation haben, dass die Suche nach den Bedingungen personaler Autonomie eine Suche nach normativ relevanten Bedingungen ist (siehe Abschnitt 6.4) – Bedingungen, die notwendigerweise der Fall sind, wenn man autonom ist, und die ein Grund sind, Eingriffe zu unterlassen. Für den weiteren Gang der Argumentation hätte diese Modifikation also keine Auswirkung. Dass ich dennoch nicht diesem Weg folge, liegt daran, dass ich (N) in der jetzigen, nicht-modifizierten Form für wahr halte, dass sich die Schwierigkeiten auch ohne eine Modifikation von (N) vermeiden lassen und dass die der Modifikation zugrunde liegende Unterscheidung m. E. zu einer leicht revisionistischen Interpretation unserer Begründungspraxis führt: Zwar kann man an der Ausgangsbeobachtung festhalten, dass wir oft auf die Tatsache, dass etwas unter einen dicken Begriff fällt, verweisen, um etwas zu „begründen“ („Du solltest es lassen, weil es grausam wäre/weil sie eine autonome Person ist/ weil es ungerecht wäre . . . “). Dies wäre insofern eine „Begründung“, als es eine Tatsache benennt, die einem Grund gibt. Man müsste allerdings sagen, dass der „eigentliche“ oder „wahre“ Grund eine andere, dadurch notwendigerweise implizierte Tatsache ist – und dass der Verweis auf die Tatsache, dass etwas unter einen dicken Begriff fällt, insofern keine „eigentliche“ oder „wahre“ Begründung liefert. Wer das als verschmerzbare (oder gar begrüßenswerte) Konsequenz betrachtet, kann an den entsprechenden Stellen im Folgenden Sätze der Form „dass P autonom ist, ist ein Grund“ einfach ersetzen durch Sätze der Form „dass P autonom ist, gibt einem Grund“ – wie gesagt ohne Folgen für die Argumentation.
230 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff Ein vierter Einwand gegen (N) besagt, dass hinter (N) eine Verwechselung verschiedener „Sinne“ von Autonomie steht. Joel Feinberg (1986, Kap. 18) hat zwischen vier Sinnen der Aussage „P ist autonom“ unterschieden: Manchmal meinen wir damit, dass eine Person das Vermögen der Autonomie hat („Personen zeichnen sich durch Autonomie aus“); manchmal ist eher gemeint, dass eine Person dieses Vermögen ausübt („Fritz handelt gerade autonom“); manchmal meinen wir eher Autonomie im Sinne einer Tugend oder eines Charakterideals („Erna ist eine außergewöhnlich autonome Person“); und manchmal beziehen wir uns auf ein Recht auf Autonomie („Das tut man nicht, es verletzt Daniels Autonomie“). Nun scheint es so, dass Normativität lediglich beim letzten Sinn (Autonomie als Recht) im Spiel ist und die Normativitätsthese folglich die Unterscheidung zwischen den vier Sinnen verwischt. Doch das ist nicht so: Zwar ist die Behauptung der Normativitätsthese tatsächlich, dass auch dort, wo wir z. B. im Vermögenssinn von Autonomie sprechen, stets eine Aussage über das Vorliegen praktischer Gründe gefällt wird und insofern Normativität in allen vier Sinnen im Spiel ist. Aber die Unterscheidung zwischen den vier Sinnen lässt sich auch im Rahmen von (N) treffen: Denn nach (N) ist Autonomie eine Form praktischer Autorität, und eine Person kann (1) das Vermögen haben, diese Autorität zu besitzen, sie kann (2) ihre Autorität bzw. ihr Vermögen dazu ausüben, sie kann (3) diese Form der Autorität als ein charakterliches Ideal anstreben und sie kann (4) ein Recht darauf haben, diese Autorität zu besitzen. Catriona Mackenzie formuliert dies beispielsweise so: „[A]utonomy confers normative authority over one’s life; the authority to make decisions of practical importance to one’s life, for one’s own reasons, whatever those reasons might be. Autonomous persons are presumed to have the capacity, the right and the responsibility to exercise this authority, even if they do not always exercise it wisely“ (Mackenzie 2008, 512; Herv. d. Verf.).
(N) ist also nicht inkompatibel mit Feinbergs Unterscheidung zwischen vier Sinnen von Autonomie.112 Fünftens könnte man in diesem Zusammenhang zu bedenken geben, dass allein schon die Redeweise von einem „Recht auf Autonomie“ gegen (N) spricht. Denn zwar ist der Begriff Recht ein normativer Begriff, aber das, worauf man ein Recht hat (etwa Arbeit oder Bildung im gängigen „Recht auf Arbeit“ bzw. „Recht auf Bildung“), scheint seinerseits nicht selbst wieder normativ zu sein. Dem ist zum einen entgegenzuhalten, dass die „grammatische“ Beobachtung unvollständig ist:
112 Damit wird lediglich gezeigt, dass sich diese Unterscheidung auf der allgemeinen Ebene der diagnostischen Normativitätsthese treffen lässt. Das Bedenken kehrt an späterer Stelle auf der spezifischen Ebene der Bedingungen für Autonomie allerdings wieder (siehe die Entgegnung in Abschnitt 7.4, S. 305).
6.3 Argumente für die Normativitätsthese |
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Wir kennen nämlich auch die Redeweisen „Recht auf Freiheit“, „Recht auf Achtung“, „Recht auf Gleichheit“ oder „Recht auf ein menschenwürdiges Dasein“. Und die Begriffe Freiheit, Achtung, Gleichheit oder menschenwürdiges Dasein gelten gemeinhin durchaus als normative Begriffe. Zum anderen ist gar nicht klar, dass die Redeweise von einem „Recht auf Autonomie“ philosophisch unterfüttert werden kann: Carl Wellman (1997, 127) argumentiert beispielsweise dafür, dass die Funktion von Rechten im Allgemeinen der Schutz personaler Autonomie ist. Autonomie wäre dann die Grundlage von Rechten und könnte darum gar nicht Gegenstand eines Rechts sein. Selbst wenn man der Rede von einem „Recht auf Autonomie“ Sinn abgewinnen kann, so steht es einer Vertreterin von (N) immer noch frei, darauf zu verweisen, dass die Normativität, die durch das Recht auf Autonomie ins Spiel kommt, eine andere (z. B. eine weitergehende) ist: Wenn die Zuschreibung von Autonomie stets an das Vorliegen eines bestimmten praktischen Grundes geknüpft ist, könnte die Zuschreibung des Rechts auf Autonomie beispielsweise bedeuten, dass dieser praktische Grund ein besonderes Gewicht hat. Auch wenn die Details einer solchen Antwort auf den Einwand von einer umfassenderen Konzeption von Rechten abhängen (die ich in diesem Rahmen natürlich nicht leisten kann), sollte deutlich werden, dass (N) und die Rede von einem „Recht auf Autonomie“ durchaus kompatibel sind. Ein sechster Einwand gegen (N) geht vom Phänomen der „autonomen Bosheit“ aus:113 Offenbar können wir unsere Autonomie für Gutes ebenso wie für Schlechtes einsetzen – auch die Entscheidung des Mafioso, einen Widersacher zu töten, kann ja autonom sein. In einem solchen Fall scheinen aber nicht nur klare Gründe für einen Eingriff in die Entscheidung des Mafioso zu sprechen (Gründe, die dadurch gestiftet werden, dass seine Entscheidung fundamentale moralische Rechte des Widersachers verletzt). Vielmehr scheint selbst dann, wenn die Entscheidung des Mafioso autonom (und nicht z. B. erzwungen) war, überhaupt kein Grund gegen einen Eingriff (bzw. für eine Unterlassung des Eingriffs) zu bestehen: Wenn sich eine Person entscheidet, etwas Böses zu tun, hat man zunächst einmal Grund, sie von der Umsetzung der Entscheidung abzuhalten; und anders als (N) behauptet, fügt die Tatsache, dass sie sich autonom entscheidet, keine weiteren „gegenläufigen“ Gründe, nicht in die Entscheidung einzugreifen, hinzu. Wenn (N) aber zuträfe, müsste es einen solchen Grund gegen Eingriffe doch geben – nämlich die Tatsache, dass der Mafioso in seiner Entscheidung autonom war. (N) führt somit in Fällen „autonomer Bosheit“ offenbar zu einer kontraintuitiven Beschreibung: Man müsste im Fall des autonomen Mafioso sagen, dass die Autonomie seiner Entscheidung
113 Auf die Bedeutung dieses Phänomens für die Verteidigung der Normativitätsthese hat mich Erasmus Mayr hingewiesen.
232 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff Dritten einen Grund gegen Eingriffe in die Entscheidung gibt und dass dieser Grund dann durch gewichtigere Gründe für Eingriffe in die Entscheidung, die durch den Gehalt der Entscheidung gegeben werden, überwogen werden. In Wahrheit aber bestehe von vornherein gar kein Grund gegen Eingriffe. Allerdings halte ich die These, dass im Fall des autonomen Mafioso die Autonomie der Entscheidung gar keinen Grund für die Unterlassung von Eingriffen darstellt, nicht für überzeugend. Denn sie führt ihrerseits zu einer kontraintuitiven Beschreibung von Situationen, in denen es unmöglich ist, die autonome Entscheidung auch umzusetzen: Einmal angenommen, Mario trifft die autonome Entscheidung, seinen Widersacher Carlo aus dem Weg zu räumen, und beginnt mit den entsprechenden Vorbereitungen. Anna erfährt von Marios Entschluss und weiß etwas, das Mario nicht weiß: dass Carlo gerade eines natürlichen Todes verstorben ist. In diesem Fall verschwinden die Gründe, die im ursprünglichen Fall für einen Eingriff in Marios Entscheidung sprachen, da diese Entscheidung Carlos fundamentale Rechte nun nicht mehr verletzen kann. Wenn es nun zuträfe, dass die Tatsache, dass der Mafioso sich autonom dafür entschieden hat, seinen Widersacher zu töten, im ursprünglichen Fall gar keinen Grund gegen Eingriffe konstituieren würde, dann lägen für Anna überhaupt keine Gründe mehr vor114 – sie hätte weder einen Grund für einen Eingriff (denn der ist verschwunden) noch einen Grund gegen einen Eingriff (denn das ist die These, die dem Einwand zugrunde liegt). Was Anna tun oder lassen sollte, wäre also nicht weiter durch praktische Gründe festgelegt. Allerdings scheint mir Anna in Wahrheit etwas falsch zu machen, wenn sie versuchen würde, in Marios Entscheidung und seine Vorbereitungen einzugreifen: Wir, die Annas Wissen ebenfalls haben, könnten sie mit den Worten „Lass ihn doch machen, das ist seine Sache; er richtet ja keinerlei Schaden an.“ darauf hinweisen, dass sie sich auf eine unzulässige Weise einmischt. Hierbei verweisen wir auf einen Grund gegen Eingriffsversuche, der auf der Autonomie von Marios Entscheidung („das ist seine Sache“) beruht. Den Fehler, den Anna begeht, wenn sie in Carlos Entscheidung einzugreifen versucht, kann man also nur dann erklären, wenn man davon ausgeht, dass in diesem Fall ein Grund für die Unterlassung von Eingriffen vorliegt, gegen den Anna dann verstößt – ein Grund, der durch die Tatsache gestiftet wird, dass die Entscheidung des Mafioso autonom war.115 Und das legt nahe, dass die Tatsache, dass der Mafioso sich autonom
114 Das gilt jedenfalls unter gewissen Randbedingungen (etwa dass Marios Vorbereitungen keinen Schaden anrichten, dass Marios Versuch, seine Entscheidung umzusetzen, niemanden zu anderen Missetaten anstiftet, dass Annas Eingriff nicht dazu beitragen würde, weitere entsprechende Vergehen von Mario zu verhindern etc.), die in diesem Beispiel frei festgelegt werden können. 115 Könnte man Annas Fehler nicht auch darin sehen, dass die Pointe ihres Eingriffs – Carlo vor Mario zu schützen – angesichts ihres Wissens über Carlos Tod witzlos ist, und sie insofern irrational
6.3 Argumente für die Normativitätsthese |
233
dafür entschieden hat, seinen Widersacher zu töten, bereits im ursprünglichen Fall einen Grund gegen Eingriffe konstituiert hat (einen Grund, der dann durch einen gegenläufigen Grund für Eingriffe – dass durch die Entscheidung Carlos fundamentale Rechte verletzt würden – überwogen wurde). Gegen diese Verteidigung von (N) kann man nun aber weiter einwenden, dass das starre Festhalten an der These, die Autonomie einer Person liefere stets einen Grund für die Unterlassung von Eingriffen, zu kontraintuitiven Implikationen in der vergleichenden Beurteilung von „autonomer Bosheit“ und „heteronomer Bosheit“ führe:116 Denn wenn die Autonomie einer Person immer einen Grund für die Unterlassung von Eingriffen konstituieren würde, dann scheint man weniger Grund zu haben, in die Entscheidung des Mafioso einzugreifen, wenn er diese autonom trifft, als wenn er diese Entscheidung nicht autonom trifft (und z. B. dazu gezwungen wird). Denn ganz gleich, ob die Entscheidung autonom oder nicht autonom ist, der Gehalt der Entscheidung (jemanden zu töten) ist ja in beiden Fällen derselbe, und entsprechend liegt (sofern die Umsetzung der Entscheidung nicht unmöglich, sondern ohne weitere Eingriffe wahrscheinlich erfolgreich ist) in beiden Fällen derselbe Grund für Eingriffe vor. Wenn nun im Fall der autonomen Entscheidung ein Grund gegen Eingriffe hinzukommt, der im Fall der heteronomen Entscheidung nicht hinzukommt, dann würde das in der Summe dazu führen, dass man stärkere Gründe hat, in eine heteronome böse Entscheidung einzugreifen, als man Gründe hat, in eine autonome böse Entscheidung einzugreifen. In Wahrheit scheint es sich jedoch gerade umgekehrt zu verhalten: Es ist schon schlimm, wenn man jemandem tötet, aber es ist noch schlimmer, wenn man dies auch noch autonom tut. Gerade die autonome Bosheit erfordert daher beherztes Eingreifen, deutliche Kritik und unmissverständliche Versuche, den Böswilligen von der Umsetzung seiner Entscheidung abzubringen. Im Fall moralischer Missetaten scheint Autonomie die Gründe für Eingriffe zu verstärken statt abzuschwächen. Und das scheint im Widerspruch zu (N) zu stehen. Meines Erachtens beruht dieser Einwand auf einem Missverständnis bezüglich der „Arithmetik“ von praktischen Gründen. Er geht von der vereinfachenden Auffassung aus, dass sich Gründe additiv verhalten: Wenn die Tatsache p1 mit der Stärke oder dem Gewicht g1 für die Handlung H spricht, und die Tatsache
ist? Das würde den Schluss von der Beobachtung, dass Anna mit ihren Eingriffsversuchen etwas falsch macht, auf die Konklusion, dass die Autonomie von Marios Entscheidung einen Grund gegen Eingriffe konstituiert, blockieren. Mir scheint dieser alternative Erklärungsversuch aber nicht ganz angemessen, weil Annas Fehler dann lediglich sie selbst beträfe und keine Verfehlung gegenüber Carlo wäre. 116 Man beachte, dass dieser Punkt unabhängig von der gerade diskutierten Frage ist, ob (N) das Phänomen autonomer Bosheit für sich genommen angemessen beschreibt.
234 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff p2 mit der Stärke oder dem Gewicht g2 gegen die Handlung spricht, dann sprechen nach diesem Bild die Tatsachen p1 und p2 , wenn sie zusammen vorliegen, mit der Differenz aus g1 und g2 für oder gegen H. Dieses Bild impliziert dann unter Voraussetzung von (N) tatsächlich, dass das Gewicht der Gründe bei einer heteronomen Bosheit stärker für einen Eingriff spricht als bei einer autonomen Bosheit. Allerdings legt uns nichts auf dieses Bild fest. Das Gewicht g1 , mit dem die Tatsache p1 für H spricht, könnte ebenso gut auch abhängen (d. h. eine Funktion sein) von p2 : Wenn p2 vorliegt, dann spricht p1 stärker für H als wenn p2 nicht vorliegt. Praktische Gründe können, mit anderen Worten, auf komplexe Weise miteinander interagieren. Tatsächlich ist uns dieses Phänomen aus anderen Bereichen bestens vertraut: Der Wert, den eine noch fehlende Briefmarke in einer Serie hat, und entsprechend auch die Stärke des Grundes, diese Briefmarke zu erwerben, variiert abhängig davon, wie viele Briefmarken der Serie man bereits hat. Und die Auswechselung einer schnellen Stürmerin gegen eine langsamere (und ansonsten gleich gute) Spielerin schwächt ein Fußballteam in der Regel (was ein Grund ist, es nicht zu tun), wobei das Ausmaß der Schwächung (und damit die Stärke des Grundes) davon abhängt, welche weiteren Wechsel vorgenommen werden (d. h. wie die Qualitäten der neu Eingewechselten mit der Schwäche der langsamen Stürmerin zusammenspielen). Insbesondere ist es auch möglich, dass eine Tatsache „mit negativer Polarität“ (die also gegen eine Handlung spricht) das Gewicht einer Tatsache „mit positiver Polarität“ (die also für eine Handlung spricht) verstärkt: Dass es regnet, spricht beispielsweise dagegen, aus dem Haus zu gehen (denn man wird nass). Dass die Sonne scheint, spricht hingegen dafür, aus dem Haus zu gehen (denn es hebt die Stimmung). Wie sehr die Tatsache, dass die Sonne scheint, aber dafür spricht, aus dem Haus zu gehen, kann positiv verstärkt werden durch die Tatsache, dass es zugleich regnet – denn dann hat man das seltene Vergnügen, einen Regenbogen sehen zu können, und das hebt die Stimmung noch viel mehr. In diesem Fall ist es womöglich so, dass das Gewicht der Gründe bei Regen und Sonnenschein stärker dafür spricht, aus dem Haus zu gehen, als es das Gewicht der Gründe bei Sonnenschein allein tut – obwohl Regen immer dagegen spricht, aus dem Haus zu gehen. Soweit ich sehe, spricht nichts dagegen, dass es sich bei der Autonomie ebenso verhalten könnte: Auch hier kann der (Un-)Wert, den eine – womöglich moralisch verwerfliche – Entscheidung hat, und entsprechend auch der Grund für andere, in diese Entscheidung einzugreifen, abhängen davon, ob die Entscheidung autonom oder heteronom ist. Und insbesondere kann auch hier das Gewicht einer Tatsache mit positiver Polarität (dass mit der Umsetzung der Entscheidung Rechte verletzt würden, spricht für Eingriffe in die Entscheidung) verstärkt werden durch eine Tatsache mit negativer Polarität (dass der Mafioso autonom entschieden hat, spricht gegen Eingriffe in die Entscheidung). Eine autonome moralisch verwerfliche Ent-
6.4 Die Transformation des Problems |
235
scheidung kann demnach schlimmer sein als eine heteronome Entscheidung mit demselben Gehalt, auch wenn die Tatsache, dass eine Entscheidung autonom ist, für sich genommen stets einen Grund gegen Eingriffe darstellt. Überwindet man die naive Vorstellung, dass sich Gründe wie Gewichte auf einer Waage additiv verhalten, dann sieht man, dass die Normativitätsthese völlig vereinbar ist mit der Beobachtung, dass wir autonome Bosheit als schwerwiegender (und womöglich eines Eingriffs bedürftiger) erachten als heteronome Bosheit. Auch das Phänomen autonomer Bosheit stellt darum keine Bedrohung für (N) dar.
6.4 Die Transformation des Problems Es sprechen somit keine überzeugenden Überlegungen gegen die Normativitätsthese. Doch selbst wenn man nun davon überzeugt ist, dass die Normativitätsthese zumindest nicht falsch ist, so kann man sich fragen, was diese These zur Untersuchung personaler Autonomie beiträgt und warum sie wichtig sein sollte. Die Bedeutung der Normativitätsthese wird klarer, wenn man sich vor Augen führt, wie sich die Ausgangsfrage der Untersuchung („Unter welchen Bedingungen ist eine Person autonom?“) im Lichte von (N) verändert. Denn wenn Autonomie tatsächlich ein dicker normativer Begriff ist, dann muss man die Ausgangsfrage als eine normative Frage verstehen: Die Frage „Wann ist eine Person autonom?“ zielt eigentlich auf die Frage „Unter welchen Bedingungen bestehen inhaltsunabhängige moralische Gründe für andere, von Eingriffen in Entscheidungen oder die Lebensweise von Personen abzulassen?“ (bzw. unter der erstpersonalen Perspektive „Unter welchen Bedingungen bestehen inhaltsunabhängige euzenische Gründe für jemanden selbst, nichts an seinen Entscheidungen oder seiner Lebensweise zu ändern?“). Eine solche „normative Transformation“ der Problemstellung hat zwei Konsequenzen. Erstens verschiebt sie den Gegenstand der Debatte und macht die philosophische Aufgabe zu einem normativen Problem: Gesucht sind eigentlich Bedingungen dafür, dass ein bestimmter Grund für gewisse Unterlassungen vorliegt; denn die Tatsache, für deren Bestehen wir Bedingungen finden wollen – die Tatsache, dass jemand autonom ist –, ist ja ein solcher Grund für Unterlassungen. Sobald man somit gesehen hat, dass Autonomie ein dicker normativer Begriff ist, wird die Suche nach den Bedingungen personaler Autonomie zur Suche nach den Bedingungen für das Vorliegen eines bestimmten praktischen Grundes. Damit suchen wir also eigentlich nach einem normativen „Prinzip“, das uns sagt, wann bestimmte Gründe für gewisse Unterlassungen vorliegen. Ein solches Prinzip könnte z. B. die Form haben „Der gesuchte Grund liegt genau dann vor, wenn B“, und eine Instanz eines solchen Prinzips, in dem B spezifiziert wird, wäre dann eine konstruktive These in Bezug auf die Natur personaler Autonomie. Dabei müs-
236 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff sen die Bedingungen B, die eine Person (oder deren Umwelt oder die Interaktion zwischen Umwelt und Person) erfüllen muss, normativ relevante Eigenschaften enthalten; denn enthielte B ausschließlich normativ irrelevante Eigenschaften, so wäre nicht klar, wie daraus jemals Normativität bzw. ein praktischer Grund resultieren könnte. Welche Eigenschaften dies sind, sagt uns die Normativitätsthese selbst nicht. Sie benennt keine Bedingungen der Autonomie, sondern beschreibt nur die begriffliche Struktur, die die noch zu findenden Bedingungen zu Bedingungen der Autonomie machen: Um Bedingungen der Autonomie handelt es sich dann, wenn sie Bedingungen dafür sind, dass sich die normativen Beziehungen auf die für den Autonomiebegriff charakteristische Weise (die von der Normativitätsthese beschrieben wird) verändern. Ich werde in Kapitel 7 einen Vorschlag unterbreiten, um welche Bedingungen es sich dabei handeln könnte. An dieser Stelle ist lediglich wichtig zu sehen, dass die Normativitätsthese bei der Suche nach den Bedingungen personaler Autonomie insofern weiterhilft, als nun klar ist, welcher Art die Bedingungen personaler Autonomie überhaupt sein müssen: Es müssen normative Bedingungen sein (die normativ relevante Eigenschaften enthalten), die eine Grundlage dafür sein können, dass man Eingriffe (pro tanto) unterlassen sollte. Andernfalls könnte man der inhärenten Normativität des Autonomiebegriffs nicht gerecht werden. Man könnte auch sagen, dass man statt philosophischer Handlungstheorie eigentlich eher Ethik betreiben muss, um die Bedingungen personaler Autonomie zu finden: Denn das Auffinden von Eigenschaften, deren Vorliegen praktische Gründe stiftet, ist ein Geschäft der Ethik. Nun könnte man allerdings einwenden, dass man sich von der Normativitätsthese doch nicht allzu viel versprechen sollte. Denn autonom zu sein, ist eine Sache – dass die Autonomie einer Person respektiert werden muss (und man Eingriffe in die Belange der Person unterlassen sollte), ist hingegen eine gänzlich andere. Selbst wenn man die Bedingungen fände, unter denen Respekt vor der Autonomie berechtigt ist, so heißt das nicht, dass man damit die Bedingungen für Autonomie gefunden hat. Die Normativitätsthese wäre somit im Hinblick auf das eigentliche Anliegen der Untersuchung unfruchtbar und würde bei der Frage, unter welchen Bedingungen eine Person autonom ist, doch nicht weiterhelfen. Doch es stimmt nicht, dass man die Frage, wann eine Person autonom ist, und wann Respekt vor ihrer Autonomie (im Sinne der Unterlassung von Eingriffen) berechtigt ist, in dieser Weise voneinander trennen kann. Die Bedenken wären vollkommen berechtigt, wenn die Tatsache, dass eine Person autonom ist, lediglich bedeuten würde, dass es Gründe gibt, Eingriffe in die Entscheidung oder Lebensweise der Person zu unterlassen. Denn dann wären die Bedingungen für diesen autonomiebezogenen Grund tatsächlich nicht zugleich auch die Bedingungen personaler Autonomie. Denn aus
6.4 Die Transformation des Problems |
237
(P 1)
Wenn P autonom ist, dann gibt es einen Grund bestimmter Art, von Eingriffen in Ps Leben und Entscheidungen abzulassen.
(P 2)
Ein Grund bestimmter Art, von Eingriffen in Ps Leben und Entscheidungen abzulassen, besteht genau dann, wenn B.
und
folgt tatsächlich nicht (C)
P ist genau dann autonom, wenn B.
Wenn aber die Tatsache, dass jemand autonom ist, der Grund ist, aus dem solche Eingriffe unterlassen werden sollten, dann folgt daraus, dass man die Bedingungen für das Vorliegen dieses Grundes findet, automatisch auch, dass man die Bedingungen für die Autonomie der Person gefunden hat. Denn aus (P 1* ) Die Tatsache, dass P autonom ist, ist ein Grund bestimmter Art, von Eingriffen in Ps Leben und Entscheidungen abzulassen.
und (P 2) folgt, dass die Tatsache, dass P autonom ist, genau dann besteht, wenn B – d. h. es folgt nun tatsächlich (C). Natürlich sind (a) Autonomie als eine Eigenschaft von Personen und (b) Respekt vor der Autonomie (im Sinne der Unterlassung von Eingriffen) als eine Verhaltensweise grundverschiedene Dinge. Aber die leitende Idee hinter der Normativitätsthese ist tatsächlich, dass beides äußerst eng miteinander verknüpft ist: Autonomie ist ihrem Wesen nach gerade diejenige Eigenschaft einer Person, die einen Grund darstellt, von bestimmten Verhaltensweisen und Behandlungsformen gegenüber der Person Abstand zu nehmen – es ist diejenige Eigenschaft, die Respekt (im Sinne der Unterlassung von Eingriffen) in gewisser Hinsicht (pro tanto) geboten macht. Eine zweite Konsequenz aus der Normativitätsthese ist, dass sie nicht nur den Gegenstand der Debatte, sondern auch die Natur des Streits um diesen verschiebt. Aus der Transformation des Problems ergibt sich nämlich zugleich auch eine bestimmte Lesart der philosophischen Debatte um die Natur personaler Autonomie (vgl. für ähnliches Manöver in Bezug auf moralische Verantwortung Wallace 1994): Den Streit um die Bedingungen personaler Autonomie sollte man als einen normativen oder auch ethischen Streit interpretieren. Es geht nur auf der Oberfläche um die Frage, wann eine Person autonom ist oder autonom handelt. In Wahrheit ist die Streitfrage, unter welchen Bedingungen es einen inhaltsunabhängigen (moralischen oder euzenischen) Grund (für andere oder für einen selbst) gibt, von Eingriffen (in die Entscheidung oder Lebensweise) einer Person abzusehen. Und
238 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff Bedingungen für das Vorliegen eines (moralischen oder euzenischen) Grundes zu finden, ist klarerweise eine normative oder ethische Aufgabe. Der Streit um die Bedingungen personaler Autonomie wird also eigentlich eher in der Ethik als in der philosophischen Handlungstheorie ausgefochten. Während das in (N) explizierte begriffliche Schema den begrifflichen Kern von personaler Autonomie ausmacht, der allen wichtigen Verwendungsweisen zugrunde liegt, kann man unterschiedliche Autonomiekonzeptionen danach unterscheiden, worin sie die normative Grundlage für den autonomiebezogenen Grund sehen – worin also ihrer Ansicht nach die Bedingungen bestehen, die für das Vorliegen bestimmter praktischer Gründe gegeben sein müssen. Wie ich abschließend zeigen möchte, ermöglicht dieser Blickwinkel ein tieferes Verständnis der Schwierigkeiten, auf welche die Standardstrategien bei der Lösung des Rätsels der Autonomie stoßen.
6.5 Die Lösungsansätze im Lichte der Normativitätsthese Eine befriedigende Autonomiekonzeption muss natürlich zuvorderst das Rätsel der Autonomie unter den in Kapitel 1 eingeführten Adäquatheitsbedingungen lösen. Zu diesem Zweck muss sie eine konstruktive These ins Spiel bringen, in der Bedingungen für die Autonomie einer Person genannt werden. Im Lichte der bisherigen Diskussion und des Scheiterns der drei prominentesten Lösungsstrategien muss eine zufriedenstellende Autonomiekonzeption aber noch mehr leisten: Sie muss zusätzlich auch eine Diagnose für das Scheitern der übrigen Strategien liefern. Das heißt, sie muss mit Hilfe einer „diagnostischen“ These einen Standpunkt definieren, von dem aus man die Debatte um personale Autonomie und die Probleme der einzelnen Ansätze neu beleuchten und vereinheitlichend verstehen kann. Ein befriedigendes Verständnis eines philosophischen Problems besteht nämlich nicht nur darin, das Problem zu lösen (das ist Aufgabe der konstruktiven These), sondern auch darin zu sehen, warum andere Lösungsversuche irren. Die Normativitätsthese ist die diagnostische These dieser Untersuchung. Mit ihr lassen sich die Schwierigkeiten der drei Standard-Lösungsstrategien folgendermaßen verstehen: Internalistische Konzeptionen werden der inhärenten Normativität des Autonomiebegriffs nicht gerecht; externalistische Konzeptionen werden den wesentlichen deskriptiven Elementen des Autonomiebegriffs nicht gerecht; und interaktionalistische Konzeptionen setzen die deskriptiven und normativen Aspekte in die falsche Beziehung zueinander. Jede der drei Standardlösungen übersieht also jeweils bestimmte Aspekte der Tatsache, dass Autonomie ein dicker normativer Begriff ist, der sich auf eine bestimmte Form praktischer Autorität bezieht. Das soll nun in einem Rückblick auf die Schwierigkeiten der in Kapitel 3 bis 5 behandelten Positionen nachgewiesen werden.
6.5 Die Lösungsansätze im Lichte der Normativitätsthese |
239
6.5.1 Der Internalismus im Lichte der Normativitätsthese Das zentrale Ergebnis von Kapitel 3 war, dass der Internalismus grundsätzlich ein Problem damit hat, Autonomie ausschließlich anhand interner Bedingungen zu explizieren, die (1) beanspruchen können, den wahren Willen der Handelnden zu repräsentieren (Frankfurts Autoritätsproblem), die (2) die Unterschiede zwischen verschiedenen Perspektiven auf Autonomie nicht verwischen und zugleich als Bestandteil des gesuchten begrifflichen Kerns von Autonomie in Frage kommen (Watsons Abgrenzungsproblem), und die (3) aus Sicht der Handelnden eine regulative Wirkung entfalten können und damit Autonomie unter der jeweiligen Perspektive erstrebenswert machen (Bratmans Problem motivierender Transparenz). Diese erste Ebene der Kritik an internalistischen Konzeptionen lässt sich unter der Normativitätsthese neu deuten. Zunächst zu Frankfurt: Ausgangspunkt von Frankfurts Konzeption ist die Möglichkeit, dass man von einzelnen Wünschen entfremdet sein kann. Dass man von einem Wunsch entfremdet ist, bedeutet aber, dass man nicht autonom handelt, wenn dieser Wunsch wirksam wird. Und das heißt nach der Normativitätsthese, dass der Wunsch einer Person für sich genommen kein Grund für andere sein kann, von Eingriffen in die Entscheidung oder Lebensweise einer Person abzusehen – denn die Person könnte ja von ihrem Wunsch entfremdet sein. Wenn aber der Wunsch, etwas zu tun, kein Grund gegen eine Einmischung sein kann, dann scheint man nicht verständlich machen zu können, wieso ein Wunsch mit anderem Inhalt – dass nämlich mein Wunsch, etwas zu tun, handlungswirksam wird (Frankfurts Volition zweiter Stufe) – einen solchen Grund und damit Autonomie konstituieren sollte. Wenn ein Wunsch keinen Grund gegen Einmischung abgibt (und das tut er nicht), dann geben Wünsche mit einem besonderen Inhalt – Volitionen zweiter Stufe – sicher auch keinen solchen Grund ab. Frankfurts Problem folgt somit einfach daraus, dass Wünsche (bzw. genauer: die Tatsache, dass jemand etwas wünscht) allein keine Gründe sind, Eingriffe in jemandes Entscheidung oder Lebensweise zu unterlassen. Wenn Wünsche allein keine solchen Gründe sind, sind dann nicht vielleicht Wünsche zusammen mit bestimmten Wertüberzeugungen solche Gründe gegen Einmischungen, nach denen wir suchen, wenn wir Autonomie erklären wollen? Das führt uns auf Watsons Vorschlag. Dieser scheiterte daran, dass er nicht zwischen Willensschwäche und fehlender Autonomie unterscheiden konnte. Im Lichte der Normativitätsthese lässt sich dieses Scheitern als Ausdruck eines tiefer liegenden Versagens deuten: Watsons platonische Konzeption liefert zwar bestimmte Gründe gegen Einmischungen, aber nicht die spezifischen Gründe, die nach (N) für Autonomie charakteristisch sind. Damit verwechselt Watsons platonische Konzeption letztlich zwei verschiedene Arten von praktischen Gründen. Das lässt sich
240 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff so erklären: Wenn jemand unter der lokalen, drittpersonalen Perspektive autonom hinsichtlich einer Entscheidung ist, dann ist dies nach der Normativitätsthese ein (inhaltsunabhängiger, moralischer) Grund für andere, Eingriffe in die Entscheidungen der betreffenden Person zu unterlassen. Dieser Grund besteht aber auch, wenn jemand willensschwach handelt: Selbst wenn beispielsweise eine willensschwache Frau, die Diät hält, zur Schokolade oder eine willensschwache Raucherin zur Zigarette greift, so ist die Tatsache, dass es jeweils ein eigener Entschluss war, immer noch ein Grund für andere, von Eingriffen abzusehen. Wenn ein unbeteiligter Dritter versuchen würde, die Diät haltende Frau umzustimmen oder jemandem die Schokolade oder Zigarette gar aus der Hand nehmen wollte, so wäre dies eine Form paternalistischer Bevormundung. Der Eingreifende würde hier einen bestehenden Grund missachten, der gegen solche Eingriffsversuche spricht und der – unter der drittpersonalen, lokalen Perspektive – die Autonomie des Willensschwachen anzeigt.117 Auch die Autonomie des Willensschwachen verdient es folglich, von anderen respektiert zu werden.118 Die Tatsache, dass jemand gemäß seinem Urteil über die alles in allem betrachtet beste Alternative handelt (d. h. Watsons Vorschlag), kann unter der lokalen drittpersonalen Perspektive also nicht ausschlaggebend sein dafür, dass der inhaltsunabhängige, moralische Grund für andere, von Eingriffen in ihre Entscheidungen abzusehen, vorliegt – denn im Fall der Willensschwäche besteht diese Tatsache ja nicht, aber dennoch besteht der autonomiebezogene Grund, der nach der Normativitätsthese charakteristisch für personale Autonomie (unter der lokalen, drittpersonalen Perspektive) ist. Allerdings kann die Tatsache, dass eine Person gemäß ihrem Urteil über die alles in allem betrachtet beste Alternative handelt, für die Person selbst ein Grund sein, nicht in ihre Entscheidung einzugreifen (bzw. nichts an ihrer Entscheidung zu ändern). Denn aus ihrer Sicht ist ihre Handlung ja vollkommen rational. Und umgekehrt besteht für die Person, die entgegen ihrem Urteil über die alles in allem betrachtet beste Alternative handelt, durchaus ein Grund, etwas an ihrem Tun zu ändern. Damit lässt sich Watsons Abgrenzungsproblem auch so beschreiben: Die Bedingungen, die Watson vorschlägt, konstituieren einen Grund für die Person selbst, von Eingriffen in ihre Entscheidung abzusehen, aber gerade keinen Grund für andere, von Eingriffen in die Entscheidungen einer Person abzusehen. Aber unter der lokalen, drittpersona-
117 Natürlich kann es für Freunde oder Verwandte aufgrund ihrer besonderen Beziehung zu der willensschwachen Person einen Grund geben, in solchen Fällen den Zeigefinger zu heben oder Rat zu geben. Aber in diesen Fällen wird der autonomiebezogene Grund gegen Eingriffe, der für alle besteht, einfach durch die besonderen, qua Freundschaft bestehenden Gründe für Eingriffe überwogen – er ist aber dennoch da. 118 Das meint man, wenn man davon spricht, Autonomie sei ein „Recht auf Irrationalität“.
6.5 Die Lösungsansätze im Lichte der Normativitätsthese |
241
len Perspektive sind gerade Bedingungen für das Vorliegen von Letzterem gesucht. Das Abgrenzungsproblem zeigt somit einfach, dass Watsons Konzeption deswegen die falschen Bedingungen für die in Frage stehende Form von Autonomie angibt, weil seine Bedingungen nicht den (unter der drittpersonalen lokalen Perspektive) gesuchten autonomiebezogenen Grund für andere ausmachen, sondern einen anderen Grund abgeben. Das ist die genauere und meiner Ansicht nach erhellendere Erklärung für das Scheitern seiner platonischen Konzeption, die sich im Lichte der Normativitätsthese ergibt. Eine solche Erklärung steht auch für das Scheitern von Bratmans grundsatzbasierter Konzeption zur Verfügung. Diese konnte das Merkmal motivierender Transparenz personaler Autonomie – dass nämlich die Erkenntnis, dass eine Handlung autonom ist, die handelnde Person zusätzlich motiviert – nicht einfangen. Im Lichte der Normativitätsthese bietet sich dafür die folgende Erklärung an: Wenn Autonomie mit dem Vorliegen von Gründen verknüpft ist, dann ist die Erkenntnis, dass eine Handlung autonom ist, einfach die Erkenntnis, dass ein (zusätzlicher) Grund vorliegt, nicht in eine Entscheidung einzugreifen bzw. nichts daran zu verändern. Und den rationalen Menschen motivieren eben Gründe.119 Der motivationale Beitrag, den die Erkenntnis, dass eine Handlung autonom ist, leistet, ist also einfach der motivationale Beitrag des Erkennens von Gründen. Dass Selbstbestimmungsgrundsätze diesen motivationalen Beitrag nicht leisten, erklärt sich einfach dadurch, dass sie einen solchen Grund nicht liefern. Die Tatsache, dass ich einen Selbstbestimmungsgrundsatz habe, einen bestimmten Wunsch (z. B. nach Vergeltung) als rechtfertigend zu behandeln, ist nämlich für sich genommen kein solcher Grund: Weder spricht diese Tatsache dafür, dass andere sich nicht in meine Entscheidungen (die aus einer praktischen Überlegung resultieren, in der dieser Wunsch vorkommt) einmischen, noch spricht sie dafür, dass ich selbst nichts an meinen derartigen Entscheidung verändere. Und weil Selbstbestimmungsgrundsätze keine Gründe liefern, motivieren sie uns auch nicht, wenn wir erkennen, dass wir einen solchen Grundsatz haben. Dass Bratman dem motivationalen Merkmal personaler Autonomie nicht gerecht wird, ist einfach eine Konsequenz daraus, dass Autonomie an das Vorliegen bestimmter Gründe gegen Einmischungen geknüpft ist und Bratmans Konzeption keine Bedingungen für das Vorliegen derartiger Gründe liefert. All diese Probleme internalistischer Konzeptionen haben eine gemeinsame Wurzel: Wenn die Aufgabe darin besteht, den Autonomiebegriff zu explizieren,
119 Das erklärt auch, inwiefern derjenige, dessen Motivation von einer „Autonomie-Erkenntnis“ gänzlich unbeeinflusst ist, etwas falsch macht: Es ist eine Form praktischer Irrationalität, die zu Kritik berechtigt, wenn man erkennt, dass eine Handlungsoption autonom wäre, sich aber an der Motivation, sie zu verfolgen, nicht das Geringste ändert.
242 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff und die Funktion dieses Begriffs in der Zuweisung eines normativen Status (einer praktischen Autorität) liegt, dann besteht die eigentliche Aufgabe einer Autonomiekonzeption darin, diesen normativen Status zu erklären und Bedingungen dafür anzugeben, dass ein bestimmter Grund besteht, Eingriffe in die Belange der Person zu unterlassen. Man muss also den „normativen Umschwung“ in unseren Beziehungen erklären, der mit dem Wechsel von Heteronomie zu Autonomie (und umgekehrt) einhergeht. Internalistinnen versuchen diese Aufgabe zu meistern, indem sie allein auf die innere Verfassung einer Person – ihre mentalen Zustände – zurückgreifen. Dazu müssen sie (unter anderem) einen normativen Status zwischen Personen durch Tatsachen oder Beziehungen innerhalb einer Person erklären.120 Dieses Projekt kann nur dann gelingen, wenn „bipolare Normativität“ – Normativität, die aufgrund von Beziehungen zwischen Personen besteht – reduzierbar ist auf eine Art von Normativität, die in der inneren Verfassung einer Person begründet ist. Und an einer solchen Reduzierbarkeit kann man begründete Zweifel haben (zur allgemeinen Schwierigkeit, Normativität auf Selbstverhältnissen zu gründen, vgl. z. B. Levy 2015). Die gemeinsame Wurzel der diskutierten Probleme liegt also in der Schwierigkeit, einen bipolaren normativen Status (und das Vorliegen eines entsprechenden Grundes, der auf diesem Status basiert) aus der inneren Verfassung einer Person heraus, d. h. anhand eines Merkmals ihres Willens zu erklären. Denn wenn es darum geht, einen Wechsel in den normativen Beziehungen zwischen Menschen zu erklären, dann sucht man vielleicht an der falschen Stelle, wenn man nur in einen Menschen – und dann auch nur in einen – hineinschaut. Im Lichte der Normativitätsthese erweist sich das grundsätzliche Problem der internalistischen Lösungsstrategie daher als das Problem, dem normativen Aspekt des dicken Begriffs Autonomie gerecht zu werden bzw. die Normativität, die bei personaler Autonomie im Spiel ist, einzufangen: Die internen Merkmale, auf die Internalistinnen sich in ihren Autonomiekonzeptionen ausschließlich beschränken, eignen sich – allein für sich genommen – grundsätzlich nicht als Bedingungen für das Vorliegen des gesuchten autonomiebezogenen Grundes. Somit kann der Internalismus den normativen Umschwung, der mit Autonomie einhergeht und den zu erfassen und zu charakterisieren Aufgabe einer Autonomiekonzeption ist, letztlich nicht als Umschwung in den normativen Beziehungen verstehen. Und darum scheitert er.
120 Es heißt „unter anderem“, weil eine befriedigende Autonomiekonzeption ja unter allen vier Perspektiven, also insb. unter dem drittpersonalen Blickwinkel adäquat sein muss.
6.5 Die Lösungsansätze im Lichte der Normativitätsthese |
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6.5.2 Der Externalismus im Lichte der Normativitätsthese Auch die externalistische Strategie ist, wie in Kapitel 4 ausführlicher erörtert, mit gewissen Schwierigkeiten konfrontiert. Im Lichte der Normativitätsthese lassen sich diese Schwierigkeiten so verstehen: Externalistischen Konzeptionen gelingt es nicht, einigen deskriptiven Aspekten des dicken Begriffs Autonomie gerecht zu werden – sie beschreiben den Umschwung in den normativen Beziehungen, der für Autonomie charakteristisch ist, auf die falsche Weise. Was sind die deskriptiven Aspekte, um die es dabei geht? Erstens hat der Grund, der aus der Autonomie einer Person folgt, einen bestimmten Gehalt – er spricht für bzw. gegen etwas: Es ist ein Grund, nicht in die Entscheidungen oder Lebensweise einer Person einzugreifen. Ein erstes deskriptives Merkmal des Autonomiebegriffs ist somit, dass er mit Eingriffen in Entscheidungen bzw. Lebensweisen (bzw. mit dem Schutz vor eben diesen) zu tun hat. Wenn in einer Situation Eingriffe in die Belange einer Person (sei es durch sie selbst oder durch andere) keine (oder keine entscheidende) Rolle spielen, dann würde man diese Situation falsch oder irreführend beschreiben, wenn man den Autonomiebegriff ins Spiel bringt. Das ist beispielsweise dort der Fall, wo man Adeles kaltblütigen Mord inklusive grausamer Verstümmlung als Verletzung von Berts Autonomie beschreibt – das hier begangene moralische Übel hat nichts oder jedenfalls nicht primär etwas mit Eingriffsversuchen zu tun. Zweitens ist der autonomiebezogene Grund ein inhaltsunabhängiger Grund: Dass ein Grund, Eingriffe zu unterlassen, vorliegt, ist unabhängig davon, wofür sich die Person entscheidet oder wie sie lebt; die normative Kraft des Grundes beruht also nicht auf dem Inhalt der Entscheidung oder Lebensweise. Wenn in einer gewissen Situation ein Grund, nicht einzugreifen, zwar vorliegt, aber auf den Inhalt einer Entscheidung zurückzuführen ist (etwa auf ihre moralische Qualität), dann geht es in dem jeweiligen Fall nicht um die Autonomie einer Entscheidung, sondern um etwas anderes (beispielsweise um deren moralische Qualität). Man würde einen solchen Fall falsch beschreiben, wenn man ihn als einen Problemfall im Hinblick auf die Autonomie einer Person darstellte. Das zweite deskriptive Merkmal des Autonomiebegriffs ist somit, dass der Inhalt einer Entscheidung bzw. Lebensweise für den Umschwung in den normativen Beziehungen für sich genommen keine Rolle spielt. Sowohl der Gehalt des autonomiebezogenen Grundes als auch seine Inhaltsunabhängigkeit sind natürlich als Eigenschaften eines Grundes Eigenschaften von etwas Normativem; aber sie selbst sind keine normativen, sondern deskriptive Eigenschaften: Dass etwas beispielsweise inhaltsunabhängig ist, spricht weder für noch gegen etwas. Die Probleme der verschiedenen externalistischen Spielarten kann man nun so verstehen, dass sie diese deskriptiven Eigenheiten des Autono-
244 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff miebegriffs nicht richtig erfassen. Das will ich nun an den einzelnen Positionen deutlich machen. Substanzielle externalistische Konzeptionen (die den Gehalt einer autonomen Entscheidung oder Lebensweise vorgeben) waren mit zwei Problemen konfrontiert: Erstens verwechselten sie Erfahrungen der Fremd- und Selbstbestimmung mit ganz anders gelagerten Phänomenen wie moralischem Handeln, vernünftigem Verhalten oder dem gelungenen Leben (Konfundierungsproblem). Und zweitens ließen sie keinen Spielraum für Individualität. Im Lichte der Normativitätsthese lassen sich diese Schwierigkeiten folgendermaßen umdeuten: Das Konfundierungsproblem rührt daher, dass substanzielle Konzeptionen das erste deskriptive Merkmal des Autonomiebegriffs – den Gehalt des Grundes – falsch wiedergeben. Wenn autonom zu sein hieße, moralisch oder vernünftig zu sein, dann wäre die Tatsache, dass jemand autonom handelt oder lebt, gleichbedeutend mit der Tatsache, dass diese Handlung oder Lebensweise moralisch richtig oder vernünftig ist. Diese Tatsache gibt – anders als die von Internalistinnen angeführte Tatsache, dass jemand einen bestimmten mentalen Zustand hat – zwar einen Grund für andere Personen ab; aber dieser Grund spricht nicht für das, wofür der autonomiebezogene Grund spricht: Es ist ein Grund für andere, selbst genauso zu handeln oder zu leben – schließlich ist die Lebensweise oder Handlung ja moralisch richtig. Doch das ist nicht der Gehalt des Grundes, der aus der Autonomie hervorgeht: Dass jemand hinsichtlich einer Entscheidung oder Lebensweise autonom ist, spricht nicht dafür, dass andere Personen genauso leben oder genau dasselbe tun – es spricht dafür, dass sie Eingriffe in jemandes Entscheidung oder Lebensweise unterlassen.121 Dass Autonomie etwas anderes als Moralität oder Vernünftigkeit ist, lässt sich somit aus dem Gehalt der jeweils damit einhergehenden Gründe ablesen: Während der Grund, der aus der Autonomie der Person folgt, gegen Eingriffe spricht, spricht der Grund, der aus der Moralität oder der Vernünftigkeit der Person folgt, dafür, es ihr nachzutun.122
121 Man kann dies auch so sagen: Die Tatsache, dass jemand autonom ist, fordert von uns Respekt ein; dies „schützt“ die Person (in normativer Hinsicht) vor Eingriffen. Aber die Tatsache, dass jemand moralisch richtig oder vernünftig handelt und lebt, fordert von uns in erster Linie Hochachtung und Wertschätzung ein: Mit dieser anerkennen wir, dass wir es eigentlich genauso tun sollten. Respekt (die charakteristischerweise zu Autonomie passende Einstellung) ist jedoch etwas anderes als die moralische Wertschätzung (die charakteristischerweise zu moralischem Handeln passende Einstellung). 122 Dass die Gründe nicht dieselben Handlungen empfehlen, sieht man daran, dass man mit manchen Handlungen dem einen Grund gerecht werden kann, ohne dem anderen gerecht zu werden: Man kann Eingriffe in die Entscheidung einer Person unterlassen, ohne es ihr nachzutun; und man kann in ihre Entscheidung eingreifen, gerade indem man es ihr nachtut (die Mutter
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Auch das Problem mit der Individualität, mit dem substanzielle Konzeptionen konfrontiert waren, lässt sich anhand der deskriptiven Aspekte des Autonomiebegriffs nachzeichnen: Denn da die praktischen Gründe, die aus der Moralität oder Vernünftigkeit einer Entscheidung oder Lebensweise folgen, Gründe für andere sind, es der Person nachzutun, würden autonome Person eben größtenteils auf dieselbe Weise handeln und leben. Das ist aber eben unvereinbar mit der Idee, dass Autonomie eng mit der Idee der Individualität verknüpft ist und Personen sich in ihrem Tun und Leben voneinander abgrenzen. Diese Idee der Individualität wird mit dem zweiten deskriptiven Merkmal der Inhaltsunabhängigkeit des autonomiebezogenen Grundes eingefangen: Der durch die Autonomie einer Person gestiftete Grund ist insofern unabhängig davon, wie genau die Person sich entscheidet oder wie sie lebt, als bei einer autonomen Person sowohl die Tatsache, dass sie sich für Handlung H entscheidet, als auch die Tatsache, dass sie sich für das Gegenteil H entscheidet, einen Grund für andere abgibt, nicht in H bzw. H einzugreifen (sofern eine dieser Tatsachen einen solchen Grund abgibt). Das drückt gerade aus, dass Autonomie mit einer Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen und Handlungen vereinbar ist. Substanzielle Konzeptionen werden dem Merkmal der Inhaltsunabhängigkeit des Grundes aber eben nicht gerecht: Denn indem sie Autonomie an die Vernünftigkeit oder Moralität einer Handlung bzw. Lebensweise knüpfen, hängt das Vorliegen des autonomiebezogenen Grundes in dieser Konzeption voll und ganz von der Qualität (und insofern vom Inhalt) der Entscheidung bzw. Lebensweise ab: Angenommen, H sei die in rationaler oder moralischer Hinsicht richtige Handlung; wenn man sich für H entscheidet, ist man substanziellen Konzeptionen zufolge autonom und folglich müsste ein autonomiebezogener Grund für andere bestehen, nicht in die Entscheidung für H einzugreifen. Aber dann kann nicht mehr gelten, dass die Entscheidung für das Gegenteil von H, H, ebenfalls einen solchen Grund erzeugt. Denn wenn man sich für H entscheidet, entscheidet man sich für etwas, das in rationaler und moralischer Hinsicht defizitär ist, und substanziellen Konzeptionen zufolge ist man dann gerade nicht autonom – folglich bestünde der entsprechende Grund nicht. Der Grund, der substantiellen Konzeptionen zufolge durch die Autonomie einer Person konstituiert wird, ist also gerade kein inhaltsunabhängiger Grund, und darum kann es nicht der gesuchte autonomiebezogene Grund sein – was bedeutet, dass substantielle Konzeptionen keine angemessenen Konzeptionen von Autonomie sind. Die Autorität der Vernunft oder der Moral ist sozusagen gerade von der falschen Art, wenn es darum geht, diejenige Form prak-
könnte Bert, der sich autonom entschieden hat, sich tätowieren zu lassen, von seiner Entscheidung abzubringen versuchen, indem sie androht, sich dann ebenfalls tätowieren zu lassen).
246 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff tischer Autorität zu erklären, die charakteristisch für die Autonomie einer Person ist: Aus ihnen ergeben sich keine inhaltsunabhängigen Gründe für Handlungen. Optionsbasierte externalistische Konzeptionen (nach denen der Raum der verfügbaren Alternativen wertvolle Optionen enthalten muss) hatten vor allem mit dem Problem der inneren Perspektive zu kämpfen: Die Adäquatheit des Handlungsspielraums lässt sich nur durch Rückgriff auf das Innenleben der Person bestimmen (explanatorische Priorität), Personen sind dem Handlungsspielraum nicht einfach ausgeliefert (Resilienz), Optionenvielfalt kann der Autonomie auch im Weg stehen (fetischisierte Offenheit), Personen reagieren innerlich auf Autonomieverluste oft anders als auf Verluste von Optionen und viele innere Barrieren für Autonomie werden über den Handlungsspielraum gar nicht erfasst. Auch diese Schwierigkeiten lassen sich so verstehen, dass die Bedingung wertvoller Optionen das erste deskriptive Merkmal des Autonomiebegriffs – den Gehalt des autonomiebezogenen Grundes – nicht richtig erfasst. Nehmen wir einmal an, wertvolle Optionen bzw. ein adäquater Handlungsspielraum seien eine konstitutive Bedingung für Autonomie. Dann kann man sich fragen: Wofür spricht das Gegebensein dieser Bedingung eigentlich? Wenn es sich um eine für Autonomie konstitutive Bedingung handelte und Autonomie etwas mit dem Vorliegen von Gründen gegen Eingriffe zu tun hätte, dann müsste die Tatsache, dass eine Person über wertvolle Optionen verfügt, dagegen sprechen, in ihre Entscheidungen oder Lebensweise einzugreifen. Doch das ist meines Erachtens nicht der Fall: Dass ein Entscheidungsspielraum adäquat ist oder wertvolle Optionen enthält, spricht vielleicht dafür, diesen Spielraum nicht einzuschränken. Aber das ist nicht dasselbe wie gegen Eingriffe in Entscheidungen oder die Lebensweise zu sprechen: Man kann einerseits in eine Entscheidung eingreifen, ohne den Spielraum von Optionen zu beschränken – zum Beispiel durch unnachgiebige Überzeugungsversuche, die wir als Bevormundung oder Angriff auf unsere Selbstbestimmung verstehen, oder durch Zwang, eine ganz bestimmte Handlung zu unterlassen, wobei einem immer noch sehr viele, darunter auch wertvolle Optionen offenstehen.123 Und man kann andererseits den Spielraum beschränken, ohne in eine Entscheidung einzugreifen – etwa indem man jemandem Optionen nimmt, die er ohnehin nicht gewählt oder ausgelebt hätte und die somit seine Entscheidung oder Lebensweise gar nicht berühren. In diesem Fall kann man diejenigen Formen der Spielraumeinschränkung, die auch Eingriffe in Entscheidungen oder Lebensweisen darstellen, nur unter Rückgriff auf die innere Perspektive der Person bestimmen: Erst wenn man weiß,
123 Zudem gibt es eine Reihe von „inneren“ Phänomenen, die einen Angriff auf die Autonomie und sozusagen einen Eingriff „von innen heraus“ in die Entscheidung bedeuten, aber den Spielraum nicht beschränken: Konformismus, innere Zerrissenheit, Besessenheit etc.
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ob jemand bei einem bestimmten Spielraum einen Konflikt erleben würde, ob ihm die verbleibenden Optionen genügen (oder die verschlossenen Optionen wichtig sind) und was er aus dem verbleibenden Spielraum macht (siehe Resilienz), kann man auch wissen, ob eine Einschränkung des Handlungsspielraums auch die jeweilige Lebensweise oder Entscheidung überhaupt berührt und als Eingriff zu werten ist. Wenn man aber auf die interne Perspektive verzichtet, dann kann der Gehalt des Grundes, der aus dem Vorhandensein wertvoller Optionen folgt, nicht der Gehalt des gesuchten, autonomiebezogenen Grundes sein. Da Externalistinnen auf die innere Perspektive verzichten, erklärt dies auch, warum sie das Phänomen der Autonomie nicht richtig erfassen. Man kann sich dies auch umgekehrt verdeutlichen: Wenn man Autonomie unter der erstpersonalen Perspektive als ein Ideal betrachtet, dann ist die Tatsache, dass man noch nicht autonom ist, ein Grund, etwas an der eigenen Situation zu ändern. Einmal angenommen, Autonomie sei wesentlich an die Adäquatheit des Handlungsspielraums gebunden; dann würden fehlende wertvolle Optionen einen Autonomiemangel darstellen und das müsste folglich für sich genommen ein Grund für die Person sein, etwas an ihrer Situation zu verändern. Aber das scheint nicht so zu sein. Denn ob dies tatsächlich ein Grund ist oder nicht, hängt von der inneren Verfassung der Person ab: Für die Pianistin, die mit ihrem Leben rundum zufrieden ist, scheint doch die Tatsache, dass ihr wegen mangelnder sonstiger Talente wertvolle Optionen fehlten, für sich genommen kein Grund zur Veränderung zu sein. Ohne die innere Perspektive der Person zu berücksichtigen, kann somit weder der Mangel an noch das Vorhandensein von wertvollen Optionen den Grund ausmachen, der mit Autonomie einhergeht. Und darum spielen wertvolle Optionen ohne Berücksichtigung der inneren Perspektive für sich genommen keine Rolle für personale Autonomie. Der Verzicht auf die innere Perspektive der Person, der charakteristisch ist für den Externalismus, bringt es also mit sich, dass optionsbasierte externalistische Konzeptionen den Gehalt des autonomiebezogenen Grundes – das erste deskriptive Merkmal des Autonomiebegriffs – nicht richtig erfassen. Historische externalistische Konzeptionen (die eine unabhängige Vorgeschichte der Entscheidung, Lebensweise oder Person als Bedingung ihrer Autonomie ansehen) waren ebenfalls mit dem Problem der inneren Perspektive und zudem mit dem Begründungsproblem konfrontiert: Sie konnten nicht unterscheiden zwischen den für Autonomie konstitutiven Bedingungen (die sicherstellen, dass eine Person autonom ist) und den Bedingungen für die Achtung von Autonomie (die sicherstellen, dass Autonomie nicht verletzt wird), und darum konnten sie auch nicht begründen, was an Verletzungen der Autonomie eigentlich schlecht ist. Auch diese Schwierigkeit lässt sich meines Erachtens erhellend anhand des ersten deskriptiven Merkmals des Autonomiebegriffs verstehen: Wenn Autonomie in der Abwesenheit von Unterwerfungen unter den Willen einer Person – also in der Ab-
248 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff wesenheit von Zwang und Manipulation – bestünde, so müsste diese Abwesenheit ein Grund sein, nicht in die Entscheidung oder Lebensweise einer Person einzugreifen. Doch die Abwesenheit von Zwang oder Manipulation spricht für oder gegen gar nichts; insbesondere spricht sie nicht gegen Eingriffe in die Belange einer (von Zwang und Manipulation freien) Person. Die Tatsache, dass eine Entscheidung nicht unter Zwang oder Manipulation zustande gekommen ist, ist also für sich genommen nicht bereits ein pro tanto Grund, Eingriffe in die Entscheidung zu unterlassen bzw. die Entscheidung zu respektieren. Man kann sich diesen Punkt auch vor Augen führen, wenn man sich fragt, wofür eigentlich die Anwesenheit von Zwang und Manipulation sprechen: Dass eine Handlung Zwang oder Manipulation darstellen würde, spricht dafür, dass die zwingende oder manipulierende Person ihre Taten unterlässt; und für Dritte spricht es dafür, den Zwang oder die Manipulation zu unterbinden – also in die Handlung des Täters einzugreifen. Aber das hat nicht notwendigerweise etwas mit Eingriffen in die Entscheidung oder Lebensweise des Opfers (also der Person, deren Autonomie in Frage steht) zu tun: Die Angestellte Adele wird von dem Bankräuber Bert mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen, den Tresor zu öffnen. Adele ist im Begriff, Bert das Geld auszuhändigen. Die Polizistin Clara beobachtet die Szene durch eine Videokamera und ist in der Lage, durch einen Taser, der das Zielobjekt mittels eines elektrischen Schlags außer Gefecht setzt, in die Situation einzugreifen. Auf wen sollte Clara zielen? Sollte sie auf Bert zielen und damit seinen Zwang unterbinden oder sollte sie auf Adele zielen und damit in ihre Handlung eingreifen?
Ich denke, es ist klar, dass Clara auf Bert zielen sollte: Sie sollte den Zwang unterbinden und nicht Adele daran hindern, ihre Entscheidung umzusetzen. Das zeigt, dass die Anwesenheit von Zwang (und dasselbe gilt auch für Manipulation, eine falsche Sozialisation etc.) nichts mit Eingriffen in die Entscheidung oder Lebensweise des Opfers (also der Person, um deren Autonomie es geht) zu tun hat.124 Darum kann die Abwesenheit von Zwang (Manipulation, falscher Sozialisation etc.) auch nichts mit der Unterlassung derartiger Eingriffe in die Belange der betroffenen Person zu tun haben – das ist im deskriptiven Gehalt des Grundes, der mit Zwang, Manipulation und weiteren Formen der Unterwerfung des Willens einer Person unter den einer anderen einhergeht, einfach nicht enthalten. Darin liegt die eigentliche Ursache für das Begründungsproblem: Denn wenn man die Abwesenheit von Zwang als konstitutiv für die Autonomie einer Person erachtet, aber aus der Abwesenheit von Zwang gar nichts hinsichtlich der Unterlassung von Eingriffen gegenüber dieser Person folgt, dann erhält man aus den 124 Außer natürlich in dem Fall, in dem der Eingriff in die Entscheidung oder Lebensweise des Opfers der einzige Weg ist, um in den Zwang oder die Manipulation einzugreifen.
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Bedingungen, die historische Externalistinnen angeben, nicht den Gehalt, der für den autonomiebezogenen Grund spezifisch ist. Und dann kann man auch nicht begründen, warum man Zwang oder Manipulation als Verletzungen der Autonomie einer Person unterlassen sollte: Dass man es (pro tanto) unterlassen sollte, folgt aus der Autonomie einer Person (denn Zwang oder Manipulation sind Eingriffe, und Eingriffe an autonomen Personen sind nach (N) zu unterlassen). Aber wenn Autonomie – wie historische Externalistinnen behaupten – ihrer Natur nach darin bestünde, nicht gezwungen oder manipuliert worden zu sein, dann müsste die Unterlassung derartiger Eingriffe aus der Abwesenheit von Zwang und Manipulation folgen. Doch wie wir gerade gesehen haben, tut sie das nicht, weil Zwang und Manipulation (bzw. deren Abwesenheit) gar nichts mit Gründen gegen Eingriffe in die Belange des Opfers, dessen Autonomie in Frage steht, zu tun haben. Das Begründungsproblem wurzelt also darin, dass die Bedingungen, die historische externalistische Konzeptionen als Bedingungen der Autonomie anführen, einen Grund mit dem falschen Gehalt abgeben. Soziale externalistische Konzeptionen sehen bestimmte soziale Verhältnisse und Beziehungen als konstitutiv für Autonomie an. Es gibt zwei Varianten dieser Ansätze: Mal ist die für Autonomie konstitutive soziale Bedingung das (Nicht-) Bestehen einer bestimmten sozialen Beziehung selbst, mal ist es die Position innerhalb einer sozialen Beziehung. Die erste Variante stand vor dem Symmetrieproblem: Wenn beispielsweise ungleiche soziale Verhältnisse per se unvereinbar mit der Autonomie einer Person wären, dann müssten die Bessergestellten genauso heteronom sein wie die Schlechtergestellten; doch in der Regel beschreiben wir nur die Schlechtergestellten als heteronom. Auch dieses Problem lässt sich ausgehend vom ersten deskriptiven Merkmal des Autonomiebegriffs leicht erklären: Ungleichheit als solche ist zwar eine normativ relevante Tatsache, aber diese Tatsache spricht (bzw. ist ein Grund) für die Herstellung von Gleichheit und zudem ein Grund für alle – für die Besser- ebenso wie für die Schlechtergestellten. Die Tatsache ungleicher sozialer Verhältnisse hat also weder etwas mit Eingriffen oder Einmischungen in Entscheidungen oder Lebensweisen zu tun, noch hat sie etwas mit Eingriffen oder Einmischungen in die Belange einer bestimmten Person zu tun. Beides ist aber Bestandteil des eigentlich zu erklärenden, autonomiebezogenen Grundes. Der Grund, der aus den sozialen Verhältnissen hervorgeht, ist also ein Grund, der für die Besser- wie für die Schlechtergestellten gleichermaßen verbindlich (und insofern „symmetrisch“) ist. Der Grund, der aus der Autonomie einer Person hervorgeht, ist hingegen ein Grund, der (jedenfalls unter der drittpersonalen Perspektive, die von den sozialen Konzeptionen eingenommen wird) für andere als die betroffene Person selbst verbindlich ist und zum Schutz einer bestimmten Person dient. Der autonomiebezogene Grund ist sozusagen in normativer Hinsicht „asymmetrisch“: Die Autonomie einer Person verlangt anderen etwas ab – näm-
250 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff lich die Unterlassung von Eingriffen gegenüber dieser Person. Und genau darum eignet sich das soziale Verhältnis für sich genommen nicht als Grundlage für den autonomiebezogenen Grund. Die Variante sozialer Konzeptionen, die Autonomie(verluste) stattdessen an einer bestimmten Position innerhalb eines sozialen Verhältnisses festmacht, ließ (unter anderem) keinen Spielraum für Individualität. Auch dies kann man anhand des zweiten deskriptiven Merkmals des Autonomiebegriffs (die Inhaltsunabhängigkeit des autonomiebezogenen Grundes) verständlich machen: Wenn man die Tatsache, dass jemand in einer bestimmten Position innerhalb eines bestimmten sozialen Verhältnisses (etwa finanzielle und materielle Unabhängigkeit von anderen) steht, zur Bedingung für Autonomie macht, dann ist der Grund, der aus der Autonomie einer Person folgt, nicht mehr inhaltsunabhängig. Denn offenbar besteht dann kein Grund, Eingriffe in die Entscheidung oder Lebensweise einer Person zu unterlassen, wenn sich die Person dafür entscheidet, innerhalb eines Verhältnisses die jeweils gegenteilige Position einzunehmen (und zum Beispiel als Hausmann oder als von Abfällen lebende Studentin finanziell und materiell abhängig zu sein). Die normative Kraft des autonomiebezogenen Grundes wäre damit insofern vom Inhalt der Entscheidung oder Lebensweise abhängig, als gilt: Die Tatsache, dass A sich entscheidet, H zu tun, ist zwar ein Grund für andere, nicht in As Entscheidung für H einzugreifen, aber die Tatsache, dass A sich (unter sonst gleichen Umständen) entscheidet, das Gegenteil H zu tun, ist kein solcher Grund.
Das Problem mit der Individualität resultiert also daraus, dass diese Variante der sozialen Konzeptionen dem Merkmal der Inhaltsunabhängigkeit des autonomiebezogenen Grundes nicht gerecht wird. Mit Hilfe der Normativitätsthese lassen sich die Schwierigkeiten der Externalistinnen zusammenfassend auf einen Nenner bringen: Sie erfassen die deskriptiven Aspekte des dicken normativen Begriffs Autonomie nicht. Dafür gibt es meines Erachtens einen tiefer liegenden Grund: die Ablehnung von These (I) des Trilemmas. Der externalistische Ansatz versucht ja, die Bedingungen der Autonomie an einer bestimmten Konfiguration der äußeren Welt festzumachen und dabei auf die Idee des Selbst zu verzichten. Doch wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, bringt der Verzicht auf die Idee des Selbst es mit sich, dass alles, was mit eben dieser Idee des Selbst zu tun hat – Raum für Individualität und die innere Perspektive –, im Externalismus nicht richtig eingefangen werden kann. Das legt die Idee nahe, dass die deskriptiven Merkmale des Autonomiebegriffs (Inhaltsunabhängigkeit und Gehalt des Grundes) gerade in der Idee des Selbst wurzeln. Und tatsächlich lässt sich das so deuten: – Die Inhaltsunabhängigkeit des autonomiebezogenen Grundes drückt gerade die Idee aus, dass eine Entscheidung nicht zu respektieren ist, weil sie gut
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oder richtig ist, sondern weil die Person selbst es so entschieden hat; die normative Kraft des Grundes, der für Autonomie charakteristisch ist, entspringt sozusagen der Person selbst. Der Gehalt des autonomiebezogenen Grundes – dass Eingriffe in die Entscheidung oder Lebensweise einer bestimmten Person zu unterlassen sind – enthält die Idee, dass es etwas („das Selbst“) an einer Person zu schützen gilt.125
Wenn aber die deskriptiven Merkmale in der Idee des Selbst wurzeln, dann ist auch klar, dass das externalistische Projekt mit diesen deskriptiven Merkmalen Probleme bekommen muss – schließlich verzichtet es ja mit der Ablehnung von These (I) des Trilemmas auf die Idee des Selbst. Im Lichte der Normativitätsthese besteht das grundsätzliche Problem des Externalismus also darin, dass diese Lösungsstrategie den deskriptiven Aspekten des dicken Begriffs Autonomie nicht gerecht wird, weil sie die Idee des Selbst vernachlässigt.
6.5.3 Der Interaktionalismus im Lichte der Normativitätsthese Nach der interaktionalistischen Lösungsstrategie ist Autonomie ein „Sich-inBeziehung-zur-Welt-Setzen“. Diese Strategie tritt in zwei Varianten auf: Entweder werden Selbst- und Weltverhältnisse als miteinander kompatibel und als je notwendig für Autonomie erachtet (konjunktive Variante); oder Selbst und Welt werden als ineinander verwoben angesehen, so dass zwischen Selbst- und Weltverhältnissen bzw. zwischen internen und externen Bedingungen gar nicht differenziert werden kann (ausgefeilte Variante). Die Auseinandersetzung mit beiden Varianten in Kapitel 5 hat gezeigt, dass die konjunktive Variante mit dem Problem der Instabilität zu kämpfen hat; sie fällt in eine rein internalistische oder eine rein externalistische Position zurück und handelt sich damit auch deren Probleme ein. Die ausgefeilte Variante hingegen kann entweder die besondere Art der Verwobenheit nicht verständlich machen (Sui-generis-Problem) oder fällt dort, wo sie sie verständlich machen kann, in eine konjunktive Position zurück. Wenn man von der Normativitätsthese ausgeht, dann lassen sich diese Schwierigkeiten so verstehen, dass der Interaktionalismus das Zusammenspiel der normativen und deskriptiven Aspekte des dicken Begriffs Autonomie nicht richtig erfasst. Wie hat man sich dieses „Zusammenspiel“ von deskriptiven und normativen Aspekten vorzustellen? Das lässt sich zunächst gut an anderen dicken normativen Begriffen wie brutal verdeutlichen. Auch mit dem Begriff brutal tun wir zweierlei 125 Dies betont auch (Dworkin 1988, 11): „In all three areas [in which autonomy functions as an ideal] – moral, political, social – we find that there is a notion of the self which is to be respected“.
252 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff zugleich. Zum einen beschreiben wir eine Handlung damit auf gewisse Weise: Sie hat etwas mit dem Zufügen von starken Schmerzen zu tun; deshalb ist es zum Beispiel in deskriptiver Hinsicht angemessen, den Schlag der Squash-Spielerin ins Gesicht ihrer Mitstreiterin als brutal zu bezeichnen, aber unangemessen, wenn man dies vom Nichterwidern eines Grußes sagen würde. Zum anderen bewerten wir mit dem Begriff brutal die Handlung in moralischer Hinsicht: Es gibt immer (recht starke) moralische Gründe, brutale Handlungen zu unterlassen. Wer behauptet, dass die Handlung der Squash-Spielerin zwar brutal sei, aber rein gar nichts dagegen sprechen würde (oder wer behauptet, die Brutalität der Handlung spreche sogar dafür, die Handlung auszuführen), der sollte seine moralischen Grundsätze überdenken – denn er irrt sich in moralischer Hinsicht. Nun könnte man auf die Idee kommen, der Gehalt des Begriffs brutal bestehe einfach darin, dass die deskriptive und die normative Komponente durch eine Konjunktion miteinander verknüpft sind. Dann gilt: Eine Handlung H ist genau dann brutal, wenn (A) H jemandem starke Schmerzen zufügt und wenn (B) es moralische Gründe gibt, H zu unterlassen.
Doch das kann nicht ganz richtig sein. Denn wie andere dicke Begriffe auch funktioniert brutal in Begründungskontexten auf eine charakteristische Weise: Die Tatsache, dass eine Handlung unter den Begriff brutal fällt (also brutal ist), konstituiert einen Grund, die entsprechende Handlung zu unterlassen. Darum kann man auch sagen, dass man es unterlassen sollte, jemandem mit dem Squash-Schläger ins Gesicht zu schlagen, weil dies brutal wäre. Doch wenn brutal wirklich eine Konjunktion aus (A) und (B) wäre, dann könnte man das nicht sagen. Denn nach der obigen konjunktiven Annahme besteht der Begriff aus einer rein deskriptiven Komponente (A) und einer rein normativen Komponente (B). Alles, was man folglich in (normativen) Begründungskontexten zur substanziellen Begründung (der Unterlassung) einer Handlung ins Spiel bringen kann, wäre die Komponente (B) – weil aus einem (rein deskriptiven) Sein kein (normatives) Sollen folgt. Doch die Komponente (B) sagt lediglich, dass es einen Grund gibt, die Handlung zu unterlassen; sie sagt uns aber nicht, worin dieser Grund besteht. Wenn brutal als Konjunktion aus (A) und (B) zu verstehen wäre, dann würde die Tatsache, dass eine Handlung brutal ist, zwar aufgrund von (B) stets implizieren, dass es einen Grund gibt, die Handlung zu unterlassen – aber diese Tatsache wäre nicht selbst der Grund, aus dem man die Handlung unterlassen sollte. Doch genau so funktioniert der Begriff brutal in Begründungskontexten: Die Tatsache, dass etwas brutal ist, ist ein Grund, die entsprechende Handlung zu unterlassen. Offenbar kann man den dicken Begriff brutal also nicht einfach als eine Konjunktion von (A) und (B) verstehen, weil der Begriff dann in Begründungskontexten
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nicht so funktionieren würde, wie er tatsächlich funktioniert. Das hat etwas damit zu tun, dass der im Gehalt des Begriffs brutal enthaltene Grund in gewisser Hinsicht auf der darin enthaltenen Beschreibung „beruht“: Dass jemand dabei starke Schmerzen empfindet, gehört zu denjenigen Eigenschaften, die es in moralischer Hinsicht schlecht machen, jemandem mit einem Squash-Schläger ins Gesicht zu schlagen. Wenn jemand beispielsweise nicht einsehen will, dass man moralischen Grund hat, die Handlung zu unterlassen, so würden wir ihn (unter anderem) auf genau diesen Aspekt aufmerksam machen: „Aber es tut ihm doch sehr weh, wenn du ihm mit dem Schläger ins Gesicht schlägst“. Der normative Aspekt des dicken Begriffs (dass es moralische Gründe gibt, die Handlung zu unterlassen) wurzelt somit – zumindest in Teilen – im deskriptiven Aspekt (dass es starke Schmerzen verursacht). Eine vielversprechendere Analyse von brutal sähe somit eher so aus: Eine Handlung H ist genau dann brutal, wenn (A) H jemandem starke Schmerzen zufügt und wenn (B* ) gilt: wenn H jemandem starke Schmerzen zufügt, dann ist dies ein moralischer Grund, H zu unterlassen.
Im Unterschied zu (B) aus dem ersten Vorschlag ist (B* ) kein rein normativer Bestandteil des Begriffs brutal. Denn bei (B* ) handelt es sich um ein Konditional (so etwas wie ein normatives Brückenprinzip), in dem der deskriptive Bestandteil (A) als Vorderglied auftaucht. Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter diskutieren, ob der zweite Vorschlag eine gelungene Analyse von brutal ist oder nicht. Worauf es lediglich ankommt ist, dass eine zufriedenstellende Analyse dicker Begriffe wie brutal den Begriff nicht – wie im ersten Vorschlag – in einen rein deskriptiven und einen rein normativen Bestandteil zerlegen und beides durch eine Konjunktion verbinden kann; vielmehr muss in dem Bestandteil, in dem der normative Aspekt ins Spiel kommt (im zweiten Vorschlag: (B* )), auch etwas von dem deskriptiven Bestandteil enthalten sein. Man kann dieses Argument auf alle dicken Begriffe verallgemeinern: Der normative „Bestandteil“ muss stets auf den deskriptiven „Bestandteil“ (oder ein Teil dessen) Bezug nehmen, weil der im Gehalt des dicken Begriffs enthaltene Grund in den deskriptiven Eigenschaften einer Handlung (wie der Tatsache, dass sie starke Schmerzen zufügt) wurzelt. Das erklärt, warum die konjunktive Variante des Interaktionalismus gar nicht funktionieren kann: Denn nach der Normativitätsthese ist Autonomie ein dicker Begriff, und aus den gerade angestellten Überlegungen folgt somit, dass jede Explikation von Autonomie, in welcher der normative Aspekt nicht im deskriptiven Aspekt wurzelt, scheitern muss. Doch die konjunktive Variante des Interaktionalismus expliziert Autonomie gerade so, dass der normative Aspekt nicht im deskriptiven wurzelt: Gemäß dem konjunktiven Schema (Skonj ) (bzw. (Sgrund ), vgl. S. 142) besteht der Autonomiebegriff aus einer Komponente S, die
254 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff (anhand von internen Bedingungen) ein Selbstverhältnis beschreibt, und einer anderen Komponente W, die (anhand von externen Bedingungen) ein Weltverhältnis beschreibt: (Sgrund )
Die Person P ist genau dann autonom, wenn P in Selbstverhältnis S steht und wenn die Verhältnisse in der Welt, die P umgibt, auf die Weise W beschaffen sind.
Wie die „Diagnose“ der Probleme des Internalismus und Externalismus gezeigt hat, enthält die Komponente des Selbstverhältnisses S deskriptive, aber nicht die richtigen normativen Aspekte des Autonomiebegriffs, während die Komponente des Weltverhältnisses W normative, aber nicht die richtigen deskriptiven Aspekte enthält. Das heißt, bei einer Analyse gemäß (Sgrund ) wird der Autonomiebegriff stets in eine Konjunktion aus einer rein deskriptiven und einer rein normativen Komponente zerlegt, wobei – und das ist entscheidend – die normative Komponente gerade keinen Bezug auf die deskriptive Komponente nimmt. Denn die normative Komponente wird durch ein Weltverhältnis beschrieben, in der auf die Idee des Selbst (das die deskriptiven Aspekte enthält) gerade verzichtet wird. Die konjunktive Variante des Interaktionalismus scheitert also aus rein formalen Gründen, weil sie eine konjunktive Analyse von Autonomie gibt, Autonomie nach der Normativitätsthese ein dicker normativer Begriff ist und eine „konjunktive Analyse“ dicker normativer Begriffe scheitern muss. Aus dieser Unzulänglichkeit im Ansatz des konjunktiven Interaktionalismus resultiert nun das für diese Position charakteristische Problem der Instabilität. Beginnt man mit einer konjunktiven Position, die am externalistischen Pol angesiedelt ist und überwiegend externe Bedingungen enthält, so hat diese ähnliche Probleme wie rein externalistische Positionen: Sie wird den deskriptiven Aspekten des Autonomiebegriffs (dem spezifischen Gehalt und der Inhaltsunabhängigkeit des autonomiebezogenen Grundes) nicht gerecht. Da diese deskriptiven Aspekte in der Idee des Selbst wurzeln, muss die Position weitere interne Bedingungen aufnehmen, um sozusagen ihre „deskriptive Adäquatheit“ zu verbessern. Damit bewegt sich die Position in Richtung des internalistischen Pols. Beginnt man nun umgekehrt mit einer konjunktiven Position, die eher am internalistischen Pol angesiedelt ist und überwiegend interne Bedingungen enthält, so hat diese zunächst die Probleme, die auch rein internalistische Positionen haben: Sie wird den normativen Aspekten des Autonomiebegriffs (dass Autonomie einen Grund gegen Eingriffe abgibt) nicht gerecht. Dafür scheinen interne Bedingungen grundsätzlich ungeeignet zu sein und darum muss die Position weitere Bedingungen, die nicht interner Art sind – also externe Bedingungen –, hinzunehmen, um sozusagen ihre „normative Adäquatheit“ zu verbessern. Und damit bewegt sie sich in Richtung des externalistischen Pols. Eine stabile Position in der Mitte des Spektrums
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konjunktiver Positionen kann es jedoch nicht geben; denn dazu müsste man eine Konzeption vorlegen, in der die Normativität des Autonomiebegriffs in der internen Komponente wurzelt (in der also die normativen Aspekte auf die deskriptiven Bezug nehmen). Und wie wir gerade gesehen haben, ist für eine derartige Konzeption im Rahmen des konjunktiven Interaktionalismus kein Platz: Die Normativität des Autonomiebegriffs entspringt in Schema (Sgrund ) stets nur der durch externe Bedingungen beschriebenen Komponente des Weltverhältnisses – und diese verzichtet gerade auf die Idee des Selbst. Das Problem der inhärenten Instabilität des konjunktiven Interaktionalismus hat also vor dem Hintergrund der Normativitätsthese einen tiefer liegenden Grund: Das von der konjunktiven Variante gewählte Schema zur Explikation von Autonomie ist grundsätzlich ungeeignet, weil Autonomie ein dicker normativer Begriff ist. Die ausgefeilte Variante des Interaktionalismus scheint an dieser Stelle vielversprechend. Sie betont ja die Verwobenheit von Selbst und Welt, und das passt gut zu der Vorstellung, die manche von der Natur dicker normativer Begriffe haben:126 Nach Auffassung von John McDowell (1981), Bernard Williams (1985, 124–131, 140– 152), Susan Hurley (1990, Kap. 2), Jonathan Dancy (1995) und anderen sind in dicken Begriffen deskriptive und normative Aspekte nämlich untrennbar miteinander verflochten (oft wird dies als „entanglement“ bezeichnet). Das Problem der ausgefeilten Variante des Interaktionalismus bestand allerdings darin, dass es die besondere Verwobenheit von Selbst und Welt nicht recht verständlich machen konnte: Die Interaktion zwischen dem Selbst und der äußeren Welt war angeblich weder empirischer (kausaler) Natur noch begrifflicher Natur. Doch damit blieb völlig unklar, welcher Art der behauptete Zusammenhang zwischen Autonomie und der Interaktion mit der Welt sein soll (das war das Sui-generis-Problem). Der ausgefeilten Interaktionalistin fehlte sozusagen ein Vergleichsmaßstab, anhand dessen sich die besondere Verwobenheit von Selbst und Welt verständlich machen ließ. Es ist für die konstruktive These, die ich im folgenden Kapitel vertreten möchte, wichtig zu sehen, dass gegen die ausgefeilte Variante des Interaktionalismus keine fundamentalen Bedenken sprechen: Es ist nicht ausgemacht, dass es keine „interaktionalistischen“ Bedingungen personaler Autonomie geben kann, die eine genuine Verwobenheit von Selbst und Welt ausdrücken. Darin unterscheidet sich diese Position von den anderen. Internalismus, Externalismus und die konjunkti-
126 Ich bin für die Zwecke meiner Argumentation allerdings nicht auf diese Vorstellung angewiesen. Ich lehne lediglich die Vorstellung ab, dass man dicke Begriffe durch eine Konjunktion aus (i) rein dünn normativen und (ii) rein deskriptiven Bestandteilen analysieren kann. Das ist vereinbar damit, dass normative und deskriptive Aspekte untrennbar verwoben sind, impliziert dies aber nicht.
256 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff ve Variante des Interaktionalismus schienen nämlich jeweils mit fundamentalen Problemen konfrontiert zu sein: Der Internalismus beruht ausschließlich auf Bedingungen, die den Umschwung in den normativen Beziehungen grundsätzlich nicht erfassen können; der Externalismus beruht ausschließlich auf Bedingungen, die den normativen Umschwung grundsätzlich falsch beschreiben; und der konjunktive Interaktionalismus versteht Autonomie innerhalb eines Rahmens, der für dicke Begriffe grundsätzlich ungeeignet ist, weil er das Zusammenspiel von normativen und deskriptiven Aspekten nicht richtig abbildet. Gegen den ausgefeilten Interaktionalismus sprechen keine derartigen fundamentalen Schwierigkeiten. Die Herausforderung für die ausgefeilte Interaktionalistin bestand lediglich darin, die theoretische Unzufriedenheit, die mit dem Postulat einer ganz eigenen Klasse von Bedingungen einhergeht, zu überwinden und die Natur des Zusammenhangs von Selbst und Welt verständlich zu machen. Hilft die Normativitätsthese hier vielleicht auch weiter? Ich denke schon. Denn wenn die Normativitätsthese zutrifft, dann ist die Suche nach den Bedingungen personaler Autonomie eine Suche nach normativen Bedingungen für das Vorliegen des autonomiebezogenen Grundes. Der Zusammenhang, der zwischen einer Bedingung für Autonomie B und der Autonomie einer Person besteht, wäre dann ein normativer Zusammenhang der Form „Dass B erfüllt ist, ist der autonomiebezogene Grund, Eingriffe zu unterlassen“. Derartige normative Zusammenhänge sind zum einen in der Regel nicht von der Art begrifflicher Zusammenhänge:127 Wenn Adele andere normative (insb. moralische) Ansichten als Bert hat darüber, was einen Grund darstellt, dann reden die beiden nicht aneinander vorbei und es
127 Wie die Diskussion um dicke Begriffe gezeigt hat, bin ich der Auffassung, dass manche Aussagen der Form „Dass x ein F ist, ist ein Grund für H“ tatsächlich wahr sind aufgrund der Bedeutung der darin vorkommenden Wörter und somit einen begrifflichen Zusammenhang ausdrücken. Das gilt m. E. aber nicht für alle Aussagen dieser Form (etwa „Dass die Ampel rot ist, ist ein Grund, nicht über die Straße zu gehen“), und das eröffnet eben die Möglichkeit, dass der gesuchte Zusammenhang „Dass B erfüllt ist, ist der autonomiebezogene Grund, Eingriffe zu unterlassen“ auch kein begrifflicher Zusammenhang ist. (An späterer Stelle werde ich diese „Bedingungen“, die einen nicht-begrifflichen normativen Zusammenhang zwischen bestimmten Tatsachen und der Autonomie einer Person herstellen, als „Kriterien“ bezeichnen, und den Ausdruck „Bedingungen“ im engeren Sinne nur für jene begrifflichen Zusammenhänge reservieren; siehe S. 271). Auch Aussagen über das relative Gewicht von Gründen (etwa „Dass es ihn verletzen würde, spricht dagegen, ihm die Wahrheit zu sagen, und es wiegt schwerer als die Tatsache, dass es unser Vertrauensverhältnis belastet, wenn ich ihm nicht die Wahrheit sage“), die nötig sind, um zu Urteilen über das, was alles in allem betrachtet gefordert ist, zu kommen (etwa „Alles in allem betrachtet sollte ich ihm die Wahrheit vorenthalten“), sind in den wenigsten Fällen begrifflich wahr. Versteht man das moralische Sollen also in diesem „Alles-in-allem-betrachtet“-Sinne, so impliziert die These von der Existenz begrifflich wahrer Sätze der Form „Dass x ein F ist, ist ein Grund für H“ somit auch nicht die unplausible These, dass alle moralischen Sollenssätze begrifflich wahr sind.
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ist auch nicht so, dass einer von beiden einen begrifflichen Fehler begeht. Zum anderen sind normative Zusammenhänge aber auch nicht von der Art empirischer Zusammenhänge: Man sieht, hört, riecht, schmeckt oder ertastet nicht, dass etwas ein Grund ist, eine Handlung zu tun oder zu lassen; und es gibt dafür auch kein Messinstrument (vgl. dazu Ernst 2009, Kap. 1.3.C). Wenn die ausgefeilte Interaktionalistin die Verwobenheit von Selbst und Welt also im Rahmen normativer Bedingungen aufzeigen könnte, dann hätte sie den Vergleichsmaßstab, der ihr fehlt: Interaktionalistische Bedingungen wären dann nicht von ganz eigener Art (sui generis), sondern einfach normative Bedingungen – und normative Bedingungen sind uns aus der Praxis unserer moralischen und rationalen Überlegungen ganz gut vertraut. Wichtig ist allerdings, dass dieser Ausweg (den ich in Kapitel 7 beschreiten möchte) der ausgefeilten Interaktionalistin nur dann zur Verfügung steht, wenn sie sich die Normativitätsthese auch zu eigen macht. Und solange man umgekehrt auf (N) verzichtet, beraubt man sich einer Möglichkeit, die besondere Natur interaktionalistischer Bedingungen verständlich zu machen. So gesehen kann man das Sui-generis-Problem des ausgefeilten Interaktionalismus als Ausdruck der Tatsache verstehen, dass – ebenso wie in Internalismus, Externalismus und konjunktivem Interaktionalismus – der wahren Natur des Begriffs Autonomie (dass es sich nämlich um einen dicken normativen Begriff handelt) nicht genügend Beachtung geschenkt wird.
6.5.4 Was noch zu zeigen ist Die vorangegangenen Überlegungen zeigen, dass die Normativitätsthese tatsächlich eine fruchtbare diagnostische These darstellt: Sie liefert einen Standpunkt, von dem aus sich die Schwierigkeiten der Standardlösungen vereinheitlichend verstehen lassen, und sie zeigt auf, in welcher Richtung eine zufriedenstellende Lösung zu finden ist. Zudem wird die Normativitätsthese, wie wir gesehen haben (vgl. S. 209), auch dem dritten Adäquatheitskriterium aus Kapitel 1 gerecht: Sie systematisiert die verschiedenen Perspektiven in einer gemeinsamen Struktur und erklärt sowohl, was die Perspektiven als Perspektiven auf Autonomie zusammenhält, als auch, was die Perspektiven unterscheidet. Darüber hinaus wird die Normativitätsthese auch dem zweiten Adäquatheitskriterium aus Kapitel 1 gerecht: Sie behält nicht nur die praktischen Interessen, die wir mit dem Autonomiebegriff verfolgen, im Blick – sie schreibt sie sozusagen direkt in die begriffliche Grundstruktur hinein. Denn die praktischen Interessen, die hinter der Suche nach der Natur personaler Autonomie stehen, betreffen den Umgang mit anderen Personen und uns selbst: Wir fragen nach der Autonomie von Personen, weil dies Konsequenzen hat dafür, wie wir mit anderen und uns selbst umgehen sollen. In (N) wird dieses Anliegen
258 | 6 Eine Diagnose: Autonomie als dicker normativer Begriff direkt im Gehalt des Grundes, der für Autonomiezuschreibungen charakteristisch ist, deutlich: Der Grund sagt den Adressatinnen ja etwas darüber, wie sie mit einer Person (oder sich selbst) umzugehen haben. So gesehen besagt die These, dass Autonomiezuschreibungen stets Urteile über das Vorliegen bestimmter Gründe sind, lediglich, dass der Autonomiebegriff gerade die praktische Funktion hat, die das praktische Interesse befriedigt. Wie auch immer eine Schärfung entlang von (N) aussieht, sie wird jedenfalls die praktischen Interessen im Blick haben und damit das zweite Adäquatheitskriterium erfüllen. Für eine adäquate Autonomiekonzeption fehlt aber noch die Erfüllung eines Adäquatheitskriteriums: Die vorgeschlagene Autonomiekonzeption muss den Autonomiebegriff überhaupt schärfen. Eine Schärfung leistet die Normativitätsthese selbst nämlich nicht. Aber sie liefert den Ausgangspunkt dafür: Denn wie bereits erörtert folgt aus ihr, dass die Bedingungen personaler Autonomie diejenigen Bedingungen sind, die gegeben sein müssen, damit der autonomiebezogene Grund vorliegt, der in (N) bzw. den Instanzen von (N) näher charakterisiert wird. Eine Schärfung des Autonomiebegriffs muss also bei den Bedingungen für das Vorliegen eines bestimmten praktischen Grundes ansetzen: Sie muss die Bedingungen finden, unter denen ein inhaltsunabhängiger (moralischer oder euzenischer) Grund (für andere oder für die Person selbst) vorliegt, Eingriffe in die Entscheidung oder Lebensweise einer Person zu unterlassen. Das zu leisten ist Ziel des folgenden Kapitels. Es soll der diagnostischen Normativitätsthese eine konstruktive These über die Bedingungen personaler Autonomie zur Seite stellen.
7 Normative Bedingungen personaler Autonomie Nach den Überlegungen des vorherigen Kapitels ist die Antwort auf die Ausgangsfrage – „Unter welchen Bedingungen ist eine Person autonom?“ – auf der normativen Ebene zu finden: Die Bedingungen personaler Autonomie müssen Bedingungen dafür sein, dass ein bestimmter inhaltsunabhängiger Grund vorliegt, Eingriffe zu unterlassen. Es handelt sich somit um normative Bedingungen für das Vorliegen eines autonomiebezogenen Grundes. Dieses Kapitel untersucht, welche normativen Bedingungen dies sein könnten, und schlägt damit eine normative Konzeption personaler Autonomie vor. Dabei ist zu beachten, dass der Typus des autonomiebezogenen Grundes und sein spezifischer Gehalt – wie in Abschnitt 6.2 herausgearbeitet – von der Perspektive abhängen, unter der man Autonomie betrachtet. Es ist deshalb davon auszugehen, dass auch die Bedingungen für das Vorliegen des autonomiebezogenen Grundes zwischen den vier Perspektiven variieren. Mein Vorschlag für die normativen Bedingungen der Autonomie wird sich zunächst auf die drittpersonale (lokale und globale) Perspektive beschränken (Abschnitte 7.1–7.3). In einem weiteren Schritt möchte ich dann dafür argumentieren, dass man Autonomie unter der erstpersonalen Perspektive – Autonomie als ein persönliches Ideal – durch eine Ausweitung und Entgrenzung der vorgeschlagenen Bedingungen charakterisieren kann (Abschnitt 7.4).128 Das Kapitel – und damit die Untersuchung als Ganzes – schließt mit dem Nachweis, dass diese Konzeption die in Kapitel 1 herausgearbeiteten Adäquatheitskriterien erfüllt.
7.1 Das grobe Bild Um die gesuchten normativen Bedingungen personaler Autonomie ausfindig zu machen, ist es hilfreich, zunächst den Kontext zu wechseln und nochmals auf die begriffsgeschichtlichen Wurzeln der Autonomie zu sprechen zu kommen. Wie in Abschnitt 6.3.1 (S. 222) bereits erwähnt war der Begriff Autonomie ursprünglich ein Rechtsbegriff, der die normativen Beziehungen zwischen Stadtstaaten (poleis) regelte. Er bezeichnete einen bestimmten Status: Einer autonomen polis wurde innerhalb eines übergeordneten Machtgefüges (wie Bündnissen unter der Vorherrschaft Athens) ein bestimmter Spielraum zugestanden, innerhalb dessen sie und nur sie allein die Autorität hatte. Wenn eine polis autonom war, dann gab es somit für andere poleis stets einen Grund, nicht in die Belange der autonomen polis einzugreifen. Dieser Status war nicht voraussetzungslos, sondern beruhte
128 Vgl. dazu die Überlegungen zur Entgrenzung binärer Begriffe aus Abschnitt 1.3.
260 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie auf gewissen Bedingungen: Eine polis musste erstens in der Lage sein, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln (Hansen 1995, 26; Ostwald 1988, 83), zweitens in der Lage sein, das eigene Territorium zu sichern und zu verteidigen (Bickerman 1958, 329; Hansen 1995, 26; Lévy 1983, 268; Ostwald 1982, 28–30), und drittens in der Lage sein, in gemeinschaftlichen Angelegenheiten des Bündnisses mitzureden (Hansen 1995, 26; Ostwald 1982, 30). In Bezug auf staatenähnliche Gebilde (wie Regionen oder Provinzen) haben sich diese Bedingungen auch im modernen Sprachgebrauch erhalten: Eine autonome Provinz muss eine gewisse Selbstverwaltung aufgebaut haben, die es ihr ermöglicht, ihre inneren Angelegenheiten ohne Hilfe und Einwirkung des übergeordneten Machtrahmens (des Staats, dessen Provinz sie ist) erledigen zu können. Eine autonome Provinz hat weiterhin einen polizeilichen Apparat (in den Schweizer Kantonen z. B. die Kantonspolizei, in Katalonien die Mossos d’Esquadra), der die innere Sicherheit gewährleistet und als Exekutivgewalt den Zugang zum Territorium kontrolliert (Abschiebungen bzw. Ausschaffungen fallen in der Schweiz beispielsweise in die Zuständigkeit der Kantone). Und schließlich hat eine autonome Provinz eine Stimme innerhalb des übergeordneten Rahmens, in den sie eingegliedert ist, und kann sich dort Gehör verschaffen (jedenfalls soweit sie von etwas betroffen ist, was gemeinschaftlich auf der übergeordneten Ebene entschieden wird). Innerhalb der föderalen Strukturen können sich die deutschen Bundesländer oder die Schweizer Kantone beispielsweise über Konferenzen (wie die Kultusministerkonferenz), Vernehmlassungen, den Bundesrat bzw. Ständerat und teils sogar mit eigenen „diplomatischen“ Vertretungen beim Bund in gemeinschaftliche Angelegenheiten einbringen. Die Autonomie politischer Gemeinschaften scheint also (unter anderem) in ihrer Mündigkeit (oder Selbstständigkeit), Wehrhaftigkeit und Mitsprache zu bestehen. Kehren wir zurück zu personaler Autonomie: Vor allem mit der Aufklärung hat sich die Anwendung des Begriffs Autonomie auf Personen etabliert. Es ist naheliegend, dass dieser vormals politische Begriff dabei zunächst im Sinne einer Metapher verwendet worden ist (vgl. Frazer 2007, 757). Auch wenn uns in unserem heutigen Sprachgebrauch kaum noch klar ist, dass es sich um eine Metapher handelt,129 so hat der Transfer von der politischen Sphäre auf Personen doch sprachliche Spuren hinterlassen: Autonome Personen beherrschen sich und sind Herr ihrer selbst; sie geben sich die Gesetze ihres Handelns selbst; sie haben Macht und Autorität über sich; sie unterwerfen sich nicht und sind auch nicht Sklavinnen ihrer Gefühle.130 Aus rein etymologischen Überlegungen liegt es also
129 Metaphern können – metaphorisch gesprochen – auch „sterben“. 130 In englischsprachigen Arbeiten zu personaler Autonomie spielen Ausdrücke wie „law“, „selfrule“, „(self-)government“ „authority“ oder „power“ einer prominente Rolle. Auch dies weist auf die verlorene Metapher hin.
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nahe, dass die Bedingungen personaler Autonomie etwas mit den Bedingungen politischer Autonomie zu tun haben könnten. Tatsächlich lassen sich Mündigkeit oder Selbstständigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache ja grundsätzlich auch von Personen aussagen: So wie eine staatsähnliche Gemeinschaft ihre inneren Belange regeln kann, wie sie sich zur Wehr setzen kann, wenn jemand ihren Geboten nicht folgt oder andere Gemeinschaften sie angreifen, und wie sie in Bündnisangelegenheiten mitreden kann, kann man auch von einer Person sagen, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regeln kann, dass sie sich wehren kann, wenn sie von außen oder innen angegriffen wird, und dass sie bei gemeinschaftlich getroffenen Entscheidungen mitreden kann. Ich möchte daher vorschlagen, dass Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache die gesuchten normativen Bedingungen personaler Autonomie sind (und damit die Bedingungen dafür, dass ein inhaltsunabhängiger Grund vorliegt, nicht in Entscheidungen oder die Lebensweise einer Person einzugreifen). In einer ersten Näherung (die im Verlaufe des Kapitels noch modifiziert und verfeinert wird) kann man diese Idee folgendermaßen beschreiben: Die normative Konzeption personaler Autonomie (erste Näherung) Eine Person P ist genau dann in paradigmatischer Weise autonom, wenn sie die folgenden drei Bedingungen erfüllt: 1. Mündigkeit: P kann ihre eigenen Angelegenheiten regeln. 2. Wehrhaftigkeit: P kann sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzen. 3. Mitsprache: P kann in Angelegenheiten, die sie betreffen, aber nicht allein von ihr entschieden werden, mitreden.
7.1.1 Die ontogenetische Überlegung Eine begriffsgeschichtliche Analogie ist natürlich kein Argument dafür, dass dies tatsächlich die Bedingungen personaler Autonomie sind – schließlich können sich Begriffe auch wandeln und von ihrem Ursprung entfernen (dies gilt insb. für Begriffe mit politischer Relevanz; vgl. Farr 1989; Skinner 1989). Der Exkurs in die politische Sphäre kann die Position, die ich im Folgenden noch weiter entwickeln werden, somit lediglich einführend motivieren. Um sie zu plausibilisieren, muss man mit Blick auf die Normativitätsthese mindestens zwei Dinge leisten: Erstens muss man zeigen, dass sich eine Reihe von Erfahrungen der Fremd- und Selbstbestimmung unter Rückgriff auf diese Bedingungen beschreiben lässt. Und zweitens muss man zeigen, dass diese Bedingungen tatsächlich den Umschwung in den normativen Beziehungen ausmachen, den der Autonomiebegriff enthält. Beides soll in den folgenden Abschnitten noch geleistet werden. Aber an dieser Stelle möchte ich bereits eine Überlegung zur Entwicklung von Personen anführen, die
262 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie die drei vorgeschlagenen Bedingungen plausibilisiert: Die meisten Personen, die diese Arbeit lesen, sind (hoffentlich) autonom. Aber sie waren es nicht immer. Denn Kleinkinder, die wir alle einmal waren, gelten nach unseren Maßstäben noch nicht als autonom und werden auch entsprechend behandelt: Sie werden bevormundet, getäuscht, zur Reinlichkeit konditioniert und unter Androhung von Sanktionen zu Handlungen gezwungen; Eltern treffen im Namen des Kindes Entscheidungen (wie die Wahl eines Kindergartens oder einer Schule) und sie nehmen das Kind in Schutz, wenn es von anderen Kindern gehänselt wird. Zugleich erfüllen Kleinkinder auch noch nicht die oben genannten Bedingungen: Sie können ihre Angelegenheiten nicht selbst regeln (und sich bei einem Kindergarten oder einer Schule anmelden), sich nicht gegen äußere Eingriffe wehren (weder körperlich noch mental) und sie können weder mitreden noch sich einbringen, wenn es um Dinge geht, die sie betreffen (etwa einen Umzug der Familie in eine andere Stadt). Kleinkindern mangelt es somit an den Charakteristika, die dem Vorschlag zufolge Autonomie ausmachen – und das deckt sich mit unserer vortheoretischen Einschätzung, dass es Kleinkindern auch an Autonomie mangelt. Nun ist es aber wichtig zu sehen, dass Kleinkinder die genannten Bedingungen noch nicht erfüllen. Im weiteren Verlauf der Kindheit kommt jedoch irgendwann der Zeitpunkt, an dem Eltern sich eingestehen (sollten), dass die Kinder die genannten Bedingungen schon erfüllen: Wenn eine 14-Jährige ihre eigenen Angelegenheiten regeln, sich gegen Eingriffe zur Wehr setzen und in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitreden kann, dann wäre es sehr unangebracht, wenn die Eltern sie weiter behandelten „wie ein Kleinkind“ und beispielsweise die Anmeldung bei einem Sportverein oder beim Musikunterricht ohne Rücksprache regelten, die Tochter vor den Hänseleien ihrer Mitschülerin in Schutz nähmen oder ihr die Mitsprache bei einem Umzug der Familie verweigern würden. Natürlich kann man nur schwerlich an einem bestimmten Alter festmachen, wann ein einzelnes Kind die Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache erfüllt. Aber die Überlegung legt Folgendes nahe: In dem Maße, in dem ein Kind diese Bedingungen noch nicht erfüllt, gilt es noch nicht als autonom (und wird auch entsprechend behandelt); und in dem Maße, in dem es diese Bedingungen schon erfüllt, gilt das Kind schon als autonom (und wird auch dementsprechend behandelt). Irgendwann steht dann bei den meisten Personen unzweifelhaft fest, dass sie ihre Angelegenheiten regeln, sich wehren und mitreden können. Und dann steht auch unzweifelhaft fest, dass gute Gründe gegen bestimmte Behandlungsformen der Eltern sprechen, die als Bevormundung oder Verletzung der Autonomie angesehen werden (etwa wenn die Mutter ihre 30-jährige Tochter dazu auffordert, ihren Spinat zu essen, oder für sie einen Partner oder eine Arbeitsstelle sucht). Umgekehrt gibt es im Leben vieler Personen auch eine Phase am Lebensende, in welcher der Status nicht von der Heteronomie zur Autonomie (von „noch
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nicht“ zu „schon“ autonom), sondern in die umgekehrte Richtung (von „noch“ zu „nicht mehr“ autonom) wechselt: Am Lebensende verliert man oft sukzessive seine Selbstständigkeit. Zu körperlichen Einschränkungen treten Einbußen in den kognitiven Fähigkeiten hinzu und irgendwann ist es nicht mehr möglich, seine eigenen Angelegenheiten (finanzielle Entscheidungen, Amtsgeschäfte, Arztbesuche, körperliche Pflege) selbst zu regeln. Man benötigt dabei die Unterstützung Dritter, und diese kann sogar bis zur rechtlichen Entmündigung und der Einsetzung eines Vormunds reichen. In derartigen Fällen (z. B. bei fortgeschrittener Demenz) verliert man auch die Fähigkeit, sich gegen äußere Eingriffe zur Wehr zu setzen: Man ist leichter manipulierbar (durch Verwandte, Kaffeefahrtsangebote, Vertreter für Zeitschriftenabonnements oder telefonische Angebote zu Internettarifen für den computerlosen Haushalt) und körperlich verletzbar (was diese Personen nicht selten zu Opfern von Raub oder Misshandlungen durch Pflegepersonal macht). Schließlich sind auch die Möglichkeiten, in gemeinschaftlichen Entscheidungen mitzuwirken und seiner Stimme Gehör zu verschaffen, eingeschränkt: Mit schwindenden mentalen und körperlichen Kräften zieht man sich aus zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement zurück, und Entscheidungen über den Einsatz des gemeinsamen Vermögens werden dann vom Partner allein getroffen. Diese ontogenetische Überlegung zeigt, dass sich die Statusveränderungen, die im Hinblick auf unsere Autonomie typischerweise in Kindheit und im hohen Alter geschehen, auch als Veränderungen in Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache beschreiben lassen. Zugleich verändert sich mit dem Zugewinn oder dem Verlust an Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache auch die normative Beziehung zu einem Kind bzw. einer dementen Person: Wenn ein Kind mündig ist, sich wehren und mitreden kann, dann haben die Eltern und andere einen Grund, die Entscheidungen des Kindes – z. B. darüber, welches Schulfach es wählt und welches nicht – zu respektieren.131 Und wenn jemand im hohen Alter seine Angelegenheiten nicht mehr regeln, sich nicht mehr wehren und nicht mehr mitreden kann, dann liegt dieser Grund nicht mehr vor.132 Das ontogenetische Argument stützt also auf den ersten Blick die vorgeschlagene Auffassung, dass das Vorliegen von Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache in der Weise normativ relevant ist, die gemäß der Normativitätsthese für Autonomie charakteristisch ist: Es macht für den begründeten Umgang mit einer Person einen Unterschied, ob sie diese Bedingungen erfüllt oder nicht. In dem Maße, in dem eine Person die Bedingungen erfüllt, sollten wir uns ihr gegenüber so verhalten, wie man sich autonomen
131 Es ist wie gesagt lediglich ein Grund, der durch andere Erwägungen auch überwogen werden kann; vielleicht ist die Schulfächerwahl z. B. sehr unvernünftig. 132 Was natürlich nicht heißt, dass man mit der Person machen darf, was man will; andere Erwägungen (wie z. B. die Würde) setzen dem Verhalten immer noch Grenzen.
264 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie Personen gegenüber aufgrund von deren Autonomie verhalten sollte; und in dem Maße, in dem sie die Bedingungen nicht erfüllt, dürfen wir uns ihr gegenüber auch anders verhalten. Bei genauerer Betrachtung des Vorschlags kann einem aber ein Zweifel kommen: Die Behauptung ist ja, dass die genannten Bedingungen normative Bedingungen sind (also Bedingungen für das Vorliegen eines praktischen Grundes). Doch es ist nicht leicht zu sehen, was an den vorgeschlagenen Bedingungen normativ sein soll. Sie enthalten keine klar normativen Ausdrücke wie „sollen“, „gerechtfertigt“, „geboten“, „Grund“ oder „Recht“. Wie sollte aus den Bedingungen aber etwas Normatives folgen können, wenn diese allem Anschein nach selbst gar nicht normativ sind? Darauf gibt es zwei Antworten. Die erste Antwort ist, dass es sich bei den Begriffen Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache selbst um dicke normative Begriffe handelt, die also bereits etwas Normatives enthalten. Für den Begriff Mündigkeit, der teilweise sogar in der Rechtsprechung kodifiziert ist, ist das relativ unstrittig: Mündige Personen haben gegenüber unmündigen und entmündigten einen besonderen normativen Status. Die Tatsache, dass jemand mündig oder nicht mündig ist, konstituiert also einen Grund, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen. Bei Wehrhaftigkeit muss man zunächst den Kontext wechseln, um die Normativität auszumachen: Auf Staatsebene wird Wehrhaftigkeit als die Fähigkeit des Gemeinwesens, sich verteidigen zu können, nämlich angestrebt; schließlich wendet jedes Land einen (zum Teil beträchtlichen) Teil seiner Ressourcen für den Verteidigungshaushalt auf.133 Doch auch in Bezug auf Personen wird Wehrhaftigkeit als etwas Erstrebenswertes angesehen: Kinder werden angehalten, sich gegen Verbalattacken zur Wehr zu setzen (und nicht ständig bei den Eltern Zuflucht zu suchen); man besucht Selbstverteidigungskurse oder kauft Pfefferspray, um sich körperlich verteidigen zu können; und im Boxring wird der Kampf abgebrochen, wenn jemand sich gegen die Schläge des Gegenübers nicht mehr wehren kann. Offenbar wollen wir uns selbst zur Wehr setzen können und wir betrachten Menschen, die sich nicht wehren können, als in besonderer Weise schutzbedürftig. Und das heißt, dass die Tatsache, dass sich jemand (nicht) wehren kann, ein Grund für oder gegen bestimmte Handlungsweisen ist. Normative Elemente enthält schließlich auch die Bedingung der Mitsprache: Wir streben danach, in Dingen, die uns betreffen, mitreden zu können, und wir machen anderen einen Vorwurf, wenn wir außen vor gelassen werden und kein Gehör finden. Wenn wir umgekehrt an einer Entscheidung mitgewirkt haben und uns eingebracht haben, müssen wir auch die Verantwortung dafür mittragen und für mögliche Folgen des gemeinschaftli-
133 Ob das sinnvoll ist oder nicht, ist eine andere Frage.
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chen Entschlusses gerade stehen. Ob jemand bei gemeinschaftlichen Entschlüssen mitreden kann oder nicht, hat also Auswirkungen auf die Verbindlichkeiten, die dadurch für ihn und andere entstehen. Auch wenn uns – anders als bei den im obigen Einwand aufgeführten dünnen normativen Begriffen wie sollen, Recht oder Grund – die Normativität der vorgeschlagenen Bedingungen nicht sofort ins Auge springt, so haben die Begriffe Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache dennoch normativen Gehalt. Nun könnte man zu bedenken geben, dass vielleicht die Begriffe Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache normativen Gehalt haben, aber dass sich das offenbar auf der Ebene der vorgeschlagenen Ausformulierungen der Begriffe (wie z. B. „P kann ihre eigenen Angelegenheiten regeln“) nicht niederschlägt – denn keiner der darin verwendeten Begriffe scheint für sich genommen ein dicker oder dünner normativer Begriff zu sein. Diese Frage führt zur zweiten Antwort auf den anfänglichen Einwand: Zum einen kann man bezweifeln, dass sich die Normativität einer Bedingung in einem einzelnen Begriff niederschlägt; selbst wenn also keiner der Begriffe können, eigen, Angelegenheit oder regeln normativ ist, könnte die spezifische Zusammensetzung dieser Begriffe, die einen neuen Begriff ausmacht, normativ sein.134 Zum zweiten stimmt es gar nicht, dass keiner der in den Bedingungen enthaltenen Begriffe normativ ist. Der Begriff können wird in den drei Bedingungen nämlich mit einer speziellen – normativen – Semantik gebraucht. Das soll nun genauer erklärt werden.
7.1.2 Das normative Können Dass „können“ zumindest manchmal mit einer normativen Bedeutung verwendet wird, sieht man an Aussagen wie „Das kannst du mir nicht antun“, „Das kannst du ihm nicht zum Vorwurf machen“, „Das kannst du nicht von mir verlangen“. Die Sprecherin drückt hier klarerweise keine metaphysische Unmöglichkeit der Art „Ein Dreieck kann nicht vier Ecken haben“ aus, denn natürlich ist es kohärent denkbar, dass er es ihr antut, dass man es ihm zum Vorwurf macht oder dass er es von ihr
134 Man könnte dann vielleicht von einer „dicken Phrase“ sprechen. Dass sich manche semantische Eigenschaft erst auf der Ebene des ganzen Satzes zeigt, sieht man schon am Phänomen der strukturellen Mehrdeutigkeit: „Petra sah den Mann mit dem Fernglas“ ist mehrdeutig, obwohl keiner der darin enthaltenen Wörter mehrdeutig ist. Überhaupt ist es ein allgemein bekanntes (in mereologischen Fehlschlüssen gern übersehenes) Phänomen, dass ein Kompositum eine Eigenschaft haben kann, die keinem seiner Elemente anhaftet: Kein einzelnes Atom, aus denen meine Teetasse besteht, ist blau – und dennoch ist meine Teetasse blau.
266 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie verlangt.135 Vielmehr will sie sagen, dass es falsch wäre, es ihr anzutun, oder dass es ungerechtfertigt oder unfair wäre, es ihm zum Vorwurf zu machen; „können“ hat hier offenbar eine normative Bedeutung. Man könnte in den Aussagen den Ausdruck „können“ daher auch (zumindest annäherungsweise) durch „dürfen“ ersetzen: „Das darfst du mir nicht antun“, „Das darfst du ihm nicht zum Vorwurf machen“ oder „Das darfst du nicht von mir verlangen“. Es gibt aber noch eine Reihe weiterer Verwendungsweisen von können, in denen normative Aspekte eine Rolle spielen und die sich nicht in dem Begriff dürfen erschöpfen. Diese Verwendungsweisen werde ich im Folgenden mit „das normative Können“ oder „Können im normativen Sinn“ zusammenfassen. Das normative Können hat eine etwas komplexere Semantik, die aus zwei Komponenten besteht. Betrachten wir zunächst ein Beispiel: Am Ende einer äußerst anstrengenden Zeit, in der sie unter großem Zeitdruck ihre Dissertation fertig gestellt hat, könnte die Doktorandin Dorothee so etwas sagen wie „Ich kann nicht mehr weiterarbeiten“ oder „Ich kann diesen Druck nicht mehr aushalten“. Ebenso wie Luther mit seiner Aussage „Ich kann nicht anders“ auf dem Reichstag zu Worms keine Denknotwendigkeit zum Ausdruck brachte, trifft auch Dorothee keine metaphysische Aussage: Es gibt eine mögliche Welt, in der sie weiter arbeitet und dem Druck standhält (ebenso wie man sich vorstellen kann, dass Luther seine Lehren eben doch widerruft). Auch lässt sich „können“ in diesen Beispielen nicht durch „dürfen“ ersetzen: „Ich darf nicht mehr weiterarbeiten“ hieße etwas sehr anderes. Eine bessere Lesart von Dorothees Aussage ist meines Erachtens, dass sie zum Ausdruck bringt, dass man von ihr nicht berechtigterweise erwarten darf, dass sie weiterarbeitet oder dass sie dem Druck standhält, und dass andere sie nicht so behandeln dürfen, als dürfe man das berechtigterweise von ihr erwarten. Dahinter steht die Idee, dass es normative Standards dafür gibt, welches Maß an Durchhaltevermögen, Fleiß, starkem Willen, körperlicher und mentaler Belastung man von einer Person erwarten und verlangen darf. Solche Standards scheint es zu geben: Wir würden beispielsweise von einem Folteropfer nicht erwarten, dass es sein Versprechen, die Kameraden nicht zu verraten, unter der Folter einhält; die Qualen, die man in der Folter durchleiden muss, stellen den Willen dafür einfach vor eine zu große Herausforderung. Deswegen könnte das Folteropfer auch so etwas sagen wie „Ich konnte nicht anders, als es zu verraten“. Es ist aber nicht nur so, dass wir rein faktisch nicht erwarten, dass das Folteropfer schweigt; vielmehr dürfen wir es nicht berechtigterweise erwarten: Wenn ein Kamerad es doch erwarten würde und dem Folteropfer Vorwürfe machen würde, nachdem es eine Aussage über das Versteck
135 Darum wäre „Natürlich kann ich es, ich tue es ja gerade“ auch keine gute Entgegnung auf die Sprecherin.
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gemacht hat, so darf man dem „Kameraden“ seinerseits Vorwürfe machen und ihm vorhalten, er habe überzogene Ansprüche. Mit diesem Vorwurf ist gemeint, dass der „Kamerad“ falsche Vorstellungen davon hat, welches Maß an Willensstärke man von einem Folteropfer berechtigterweise erwarten darf. Ein anderer Zusammenhang, in dem uns die Idee des normativen Könnens vertraut ist, hat mit unwiderstehlichen Angeboten oder Wünschen zu tun: Dass ein Angebot oder Wunsch unwiderstehlich ist, heißt ja nicht, dass man ihm im metaphysischen Sinne nicht widerstehen kann; man verletzt schließlich keine Denknotwendigkeit, wenn man sich vorstellt, wie man das Angebot abschlägt oder dem Wunsch nicht nachgibt. Vielmehr ist gemeint, dass man von einer Person, die mit einem unwiderstehlichen Angebot oder Wunsch konfrontiert ist, nicht berechtigterweise erwarten kann, dass sie ihm widersteht: Der Wunsch, nach drei Tagen ohne Flüssigkeitszufuhr in der Wüste ein Glas Wasser zu trinken, ist unwiderstehlich; der Wunsch, nach einer Laufrunde im Park ein Glas Wasser zu trinken, ist es nicht. Der Unterschied hat etwas damit zu tun, dass wir im ersten Fall nicht zu Recht erwarten können, dass jemand das Glas nicht leert, wenn ihm eines zur Verfügung steht, im zweiten Fall hingegen schon. Mit dem normativen Nicht-Können sagen wir also stets etwas darüber, dass man eine Handlung nicht berechtigterweise von einer Person erwarten (bzw. verlangen oder einfordern) darf.136 Umgekehrt enthält das normative Können stets eine Aussage darüber, welche Handlungen man berechtigterweise von einer Person erwarten darf: Mit „Doch, der Versuchung einer Zigarette kann man widerstehen“ oder „Doch, die vermeintliche ‚Folter‘ mit Songs von Dieter Bohlen kann man aushalten, du hättest unser Versteck deswegen nicht verraten dürfen“ meinen wir, dass man die entsprechenden Handlungen von einer Person durchaus berechtigterweise erwarten darf; sie bleiben im Rahmen dessen, wovon man gemäß der normativen Standards für diesen Handlungstyp berechtigterweise ausgehen kann. Das ist die erste Komponente der Semantik des normativen (Nicht-)Könnens. Dass wir von jemandem nicht berechtigterweise erwarten dürfen, dass er etwas tut (oder unterlässt), heißt natürlich nicht, dass er es dann nicht doch tut (oder unterlässt). Es ist metaphysisch möglich, dass das Folteropfer tatsächlich schweigt oder dass die ausgetrocknete Wüstentouristin dem Glas Wasser widersteht – man
136 Vgl. dazu auch die Analyse von Watson (1999, 606, 2002, 135). Die Aussage, dass man etwas von P berechtigterweise „erwarten“ darf, ist also nicht in einem rein epistemischen Sinne als Aussage über die rationale Zulässigkeit von Überzeugungen darüber, was P tun wird, zu verstehen. Vielmehr geht es wie in „Ich erwarte von dir, dass du dich entschuldigst“ um eine normative Erwartung an das Handeln anderer – um das, was man von einer Person berechtigterweise verlangen und einfordern darf, wenn sie es nicht tut. Die Unterscheidung zwischen epistemischer und normativer Erwartung wird später noch einmal relevant (siehe Anm. 149).
268 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie kann es sich vorstellen.137 Anders als das metaphysische „Nicht-Tun-Können“ impliziert das normative „Nicht-Tun-Können“ also nicht, dass niemand in dieser Situation es tut. Das hat eine wichtige Konsequenz für unseren Umgang mit Personen, die etwas tun, obwohl man dies – gemessen an den für diesen Handlungstyp geltenden normativen Maßstäben – nicht berechtigterweise von ihnen erwarten kann:138 Diese Menschen stechen in besonderer Weise hervor und gelten als besonders vorbildlich im Hinblick auf den entsprechenden normativen Maßstab. Wenn das Folteropfer der Folter nämlich tatsächlich widersteht und das Versteck der Kameraden nicht preisgibt, dann ist es in außergewöhnlichem Maße leidensfähig und willensstark. Wenn man von der Doktorandin nicht berechtigterweise erwarten kann, dass sie tagaus, tagein an ihrer Dissertation arbeitet, dann ist sie in außergewöhnlicher Weise fleißig, wenn sie es doch tut. Und wer sich nach einer Reihe von persönlichen Schicksalsschlägen nicht unterkriegen lässt, obwohl man nicht berechtigterweise erwarten kann, dass ein Mensch unter dieser mentalen Last nicht zusammenbricht, der gilt als ganz besonders widerstandsfähig und psychisch stabil. Jemand exemplifiziert eine bestimmte Eigenschaft also in besonderer Weise, wenn er etwas tut, was man von ihm nicht berechtigterweise erwarten darf (wenn er also in gewisser Hinsicht „supererogatorisch“ handelt). In solchen Fällen würden wir von der betreffenden Person in einer Weise, die unsere Hochachtung und Wertschätzung zum Ausdruck bringt, sagen, dass die Person etwas tun kann: „Die Dorothee, die kann arbeiten“, „Bert ist extrem willensstark, er kann sogar der Folter widerstehen“, „Dieser Boxer kann aber einstecken, unglaublich“. Natürlich ist in diesen Aussagen (sofern sie wahr sind) stets auch das metaphysische Können impliziert; aber die Sprecherin möchte mit diesen Aussagen nicht allein zu verstehen geben, dass die betreffenden Personen ihre Fähigkeit ausgeübt haben, sondern sie will auch ihre Hochachtung und Wertschätzung ausdrücken: Das, was Dorothee an Fleiß, Bert an Willensstärke oder der Boxer an Leidensfähigkeit zeigen, übersteigt nach Ansicht der Sprecherin nämlich das, was man berechtigterweise von einem Menschen erwarten darf. Wenn eine Person also etwas tut, obwohl man nach den geltenden normativen Maßstäben für diesen Handlungstyp nicht berechtigterweise erwarten darf, dass die Person es tut, sagen wir von ihr manchmal in einer anerkennenden (und darum normativen) Weise, dass sie es tun kann. Das hat die Konsequenz, dass die erste Komponente des normativen (Nicht-)Könnens – die normativen Maßstäbe,
137 Und Dissidenten in totalitaristischen Systemen liefern reale Beispiele für Personen, die Dinge tun, die man von einem Menschen nicht berechtigterweise erwarten kann. 138 Jedenfalls gilt das, wenn das Tun als Ausübung eines Vermögens (und nicht als bloß zufällig, ohne aktives Zutun der Person zustande gekommenes Ereignis) verstanden wird.
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an denen sich berechtigte Erwartungen bilden – nicht den gesamten Sinn des normativen Könnens abbildet. Denn einmal angenommen, im normativen Sinne nicht H tun zu können hieße lediglich, dass man von der Person nicht berechtigterweise erwarten darf, dass sie H tut. Da wir von einer Person, die gefoltert wird, nicht berechtigterweise erwarten dürfen, dass sie schweigt, müssten wir auch vom willensstarken Bert, der ja gefoltert wird und trotzdem schweigt, sagen, dass er der Folter nicht widerstehen kann. Aber das ist gerade nicht der Fall. Wir würden von ihm mit Hochachtung und Anerkennung sagen, dass er der Folter widerstehen kann. Also kann es nicht der Fall sein, dass etwas im normativen Sinne (nicht) tun zu können ausschließlich heißt, dass man (nicht) berechtigterweise erwarten darf, dass die Person H tut. Vielmehr, so legen die Beispiele nahe, kann man von einer Person nur dann sagen, dass sie etwas (im normativen Sinne) nicht tun kann, wenn sie es auch wirklich nicht tut und wenn man von ihr nicht berechtigterweise erwarten darf, dass sie es tut: Damit Dorothee wirklich nicht mehr (im normativen Sinne) weiterarbeiten kann, muss es erstens der Fall sein, dass man von ihr nicht berechtigterweise erwarten darf, dass sie weiterarbeitet, und zweitens der Fall sein, dass sie tatsächlich nicht mehr weiterarbeitet. Wäre eine der beiden Bedingungen hingegen erfüllt, würde man von ihr sagen, dass sie (im normativen Sinne) weiterarbeiten kann. Damit lässt sich die zweiteilige Semantik des normativen Könnens auf folgende Formel bringen:139 Die Semantik des normativen Könnens (kannnormativ ) 1. 2.
Person P kann (im normativen Sinne) genau dann H tun, wenn gilt: (a) Man darf von P berechtigterweise erwarten, dass P H tut, oder (b) P tut H. Person P kann genau dann nicht (im normativen Sinne) H tun, wenn gilt: (a) Man darf von P nicht berechtigterweise erwarten, dass P H tut, und (b) P tut H nicht.
Nach diesem (wie sich noch zeigen wird: notwendigen) Ausflug zurück zur Autonomie: Ich werde im folgenden Abschnitt 7.2 dafür argumentieren, dass der Ausdruck „können“ in den drei Bedingungen der Mündigkeit (P kann ihre eigenen Angelegenheiten regeln), der Wehrhaftigkeit (P kann sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzen) und der Mitsprache (P kann in Angelegenheiten, die sie betreffen und gemeinschaftlich entschieden werden, mitreden) im eingeführten normativen Sinne zu verstehen ist. Dass P ihre eigenen Angelegenheiten regeln kann, bedeu-
139 Im Folgenden werde ich die Definition des normativen Könnens gelegentlich auch als „disjunktive Analyse“ bezeichnen. Die Definition des normativen Nicht-Könnens ist dabei einfach die aussagenlogische Negation der Definition des normativen Könnens.
270 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie tet also z. B., dass (a) man von ihr berechtigterweise erwarten darf, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regelt, oder dass (b) sie ihre eigenen Angelegenheiten tatsächlich regelt. Wenn dies richtig ist, dann könnte man den obigen Einwand, dass die vorgeschlagenen Bedingungen der Autonomie gar nicht normativ sind (bzw. keine normativen Begriffe enthalten), entkräften. Denn die erste Komponente des normativen (Nicht-)Könnens ist eine normative Komponente – es ist ja eine Aussage darüber, welche Handlungen man berechtigterweise von jemandem erwarten darf.140 Damit lässt sich die erste Näherung der vorgeschlagenen normativen Autonomiekonzeption folgendermaßen präzisieren: Die normative Konzeption personaler Autonomie (erste Präzisierung) I.
Eine Person P ist genau dann in paradigmatischer Weise autonom, wenn sie die folgenden drei Bedingungen erfüllt: (a) Mündigkeit: P kann ihre eigenen Angelegenheiten regeln (was genau dann der Fall ist, wenn man (a) von P berechtigterweise erwarten darf, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regelt, oder wenn (b) P ihre eigenen Angelegenheiten regelt). (b) Wehrhaftigkeit: P kann sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzen (was genau dann der Fall ist, wenn man (a) von P berechtigterweise erwarten darf, dass sie sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzt, oder wenn (b) P sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzt). (c) Mitsprache: P kann in Angelegenheiten, die sie betreffen, aber nicht allein von ihr entschieden werden, mitreden (was genau dann der Fall ist, wenn man (a) von P berechtigterweise erwarten darf, dass sie in derartigen Angelegenheiten mitredet, oder wenn (b) P in derartigen Angelegenheiten mitredet).
Diese Präzisierung wirft die weitergehende Frage auf, wann genau die vorgeschlagenen Bedingungen denn vorliegen. Ich möchte nun genauer erklären, was unter Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache jeweils zu verstehen ist. Dabei ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Bedingungen der Autonomie in der bisherigen Fassung binär formuliert sind: Entweder darf man etwas berechtigterweise von einer Person erwarten oder man darf es nicht berechtigterweise von ihr erwarten; 140 Die obige Motivation verdeutlicht, dass die zweite Komponente der disjunktiven Analyse einen impliziten Kontrast zur ersten enthält – also greifen soll, wenn (a) nicht erfüllt ist. Um diesen Kontrast herauszustellen, könnte man Komponente (b) auch so formulieren „(b’) P tut H, obwohl man dies von P nicht berechtigterweise erwarten darf“. Damit ist klar, dass auch die zweite Komponente einen normativen Begriff enthält. Sofern man die „obwohl“-Formulierung in (b’) als Konjunktion versteht, ist die Disjunktion aus (a) und (b) aber logisch äquivalent zur Disjunktion aus (a) und (b’). Im Folgenden werde ich stets die kürzere Formulierung (b) verwenden. An einer Stelle wird es aber wichtig sein, darauf hinzuweisen, dass eigentlich (b’) gemeint ist (siehe S. 283). Ich danke Kirsten Meyer für Hinweise, die hier zur Klarstellung beigetragen haben.
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entweder tut eine Person etwas (regelt ihre eigenen Angelegenheiten, setzt sich zur Wehr und redet mit) oder sie tut es nicht. Es gibt hier kein Mehr oder Weniger. Das hat damit zu tun, dass ich – wie eingangs des Kapitels erwähnt – mich zunächst auf Autonomie unter der drittpersonalen Perspektive konzentrieren werde (für die eine solche binäre Struktur charakteristisch ist; vgl. Abschnitt 1.3). Auf die erstpersonale Perspektive (unter der man mehr oder weniger autonom sein kann) werde ich in Abschnitt 7.4 noch zu sprechen kommen. Wie also muss man Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache unter der drittpersonalen Perspektive nun genauer verstehen?
7.2 Die Bedingungen personaler Autonomie Die erste Frage, die sich vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen stellt, ist wohl die, ob die Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache interne oder externe Bedingungen sind. Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass sie weder interner noch externer Art sind. Dazu möchte ich zunächst eine Unterscheidung zwischen Bedingungen (oder Merkmalen) der Autonomie und Kriterien (oder Indikatoren) für Autonomie einführen (vgl. dazu in einem anderen Kontext Birnbacher 1994): Bedingungen für eine Sache G sind Merkmale, die vorliegen müssen, damit man von etwas gemäß den Regeln der (Normal- oder Fach-)Sprache sagen kann, dass es G ist. Damit man von Hans sagen kann, dass er ein Junggeselle ist, muss er unverheiratet sein; damit man von einer Frau sagen kann, dass sie schwanger ist, muss sich eine befruchtete Eizelle in ihre Gebärmutter eingenistet haben. Entsprechend sind Unverheiratetsein bzw. die Einnistung einer befruchteten Eizelle Bedingungen für das Junggesellensein bzw. die Schwangerschaft. Der Zusammenhang zwischen einer Sache und den Bedingungen dieser Sache ist somit im Bereich der Sprache oder der Begriffe angesiedelt. Kriterien für eine Sache G sind demgegenüber Indikatoren dafür, dass eine Bedingung für G erfüllt ist. Indikatoren sind nicht in der Sprache angesiedelt, sondern im Bereich der erfahrbaren Welt; sie sind wissens- und theorieabhängig: Dass Hans keinen Ehering trägt, ist ein Indikator dafür, dass er unverheiratet ist; dass der Spiegel des Schwangerschaftshormons hCG erhöht ist, ist ein Indikator dafür, dass die Frau schwanger ist. Indikatoren können mehr oder weniger zuverlässig sein und wie zuverlässig sie sind, hängt ab von unserem Wissensstand (z. B. darüber, wie verbreitet die Konvention ist, dass verheiratete Männer in der Gesellschaft, aus der Hans stammt, ihren Ehering tragen) und unseren Theorien (z. B. über den Zusammenhang von Einnistung der befruchteten Eizelle und Ausschüttung von hCG). Kriterien ergeben sich aber nicht aus rein sprachlichen Überlegungen: Es
272 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie liegt nicht im Begriff des Junggesellen (oder des Unverheirateten), dass er keinen Ehering trägt; und schwanger zu sein (oder dass sich eine befruchtete Eizelle eingenistet hat) heißt nicht, einen erhöhten hCG-Spiegel zu haben. Man kann die Unterscheidung zwischen Bedingungen und Kriterien nicht nur auf soziale oder empirische Phänomene, sondern auch auf normative und moralische Phänomene anwenden: Dass eine Handlung eine moralische Pflicht verletzt, heißt beispielsweise unter anderem, dass die Handlung moralisch falsch ist. Dass die Handlung moralisch falsch ist, ist somit eine Bedingung dafür, dass sie eine moralische Pflicht verletzt; dieser Zusammenhang zwischen „etwas verletzt eine moralische Pflicht“ und „etwas ist moralisch falsch“ ist auf der begrifflichen Ebene angesiedelt. Nun gibt es verschiedene (normative oder moralische) Kriterien dafür, wann eine Handlung moralisch falsch ist. Ebenso wie im Fall empirischer Phänomene sind diese Indikatoren theorieabhängig: Wenn beispielsweise ein hedonistischer Utilitarismus wahr wäre, dann wäre die Tatsache, dass eine Handlung nach Abzug allen Leids geringere Freuden hervorbringt als alternative Handlungen, ein Kriterium (der normative Indikator) dafür, dass sie moralisch falsch ist. Wenn eine kontraktualistische Auffassung von den Geboten der Moral richtig wäre, dann wäre ein Indikator für die Falschheit der Handlung eher die Tatsache, dass sich vernünftige Personen unter idealen Bedingungen nicht auf Institutionen einigen würden, die eine derartige Handlung zulassen. So oder so aber gilt: Die jeweiligen Indikatoren ergeben sich nicht aus dem Begriff moralisch falsch. Darum handelt es sich der hier verwendeten Terminologie zufolge um Kriterien, nicht aber um Bedingungen für moralische Falschheit.141 Der Zusammenhang zwischen „etwas ist moralisch falsch“ und „die Nettobilanz aus Leid und Freuden ist nicht maximal“ ist nicht begrifflicher, sondern (allenfalls) normativer Art – genauso, wie der Zusammenhang zwischen der Einnistung der Eizelle und dem erhöhten Hormonspiegel nicht begrifflicher, sondern empirischer Art ist. Entsprechend ist auch das Wissen, das im Fall von „moralisch falsch“ benötigt wird, um zu beurteilen, ob ein Kriterium angemessen ist oder nicht, ein moralisches oder normatives, aber kein begriffliches Wissen (so wie das Wissen, das man benötigt, um zu beurteilen, ob der Hormonspiegel ein taugliches Kriterium ist, ein empirisches, aber kein begriffliches Wissen ist). Mein Vorschlag ist nun, dass Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache Bedingungen der Autonomie sind und dass es für das Vorliegen dieser Bedingungen
141 Der Ausdruck „Bedingungen“ wird in normativen Kontexten häufig auch in einem weiteren Sinne verwendet (insb. wenn es um statusverleihende Eigenschaften, sog. right- and wrong-making features geht), der dann sowohl Bedingungen als auch Kriterien im hier eingeführten Sinne umfassen kann (siehe Anm. 127, S. 256). Das ist legitim, verwischt aber einen für die Zwecke dieser Arbeit wichtigen Unterschied.
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jeweils interne und externe Kriterien gibt. Damit ist gemeint, dass man den Begriff Autonomie tatsächlich nur dort (eindeutig) ins Spiel bringen und anwenden kann, wo man auch die Begriffe Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache ins Spiel bringen und anwenden kann. Die Bedingungen selbst sind aber irreduzibel normativer Art: Sie lassen sich nicht – jedenfalls nicht auf begrifflicher Ebene – als Aussagen über das Innenleben der Person, nicht als Aussagen über die Welt, die die Person umgibt (über den Gehalt von Entscheidungen oder Lebensweisen, den Optionenspielraum, die Vorgeschichte oder die sozialen Umstände) und auch nicht als eine Konjunktion von beidem verstehen. Auch wenn sich die vorgeschlagenen normativen Bedingungen personaler Autonomie nicht als interne und nicht als externe Bedingungen auffassen lassen, so gibt es dennoch für das Vorliegen von jeder der drei Bedingungen Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache sowohl interne als auch externe Kriterien, d. h. Indikatoren, die ein besonderes Selbstverhältnis der Person beschreiben, und Indikatoren, die besondere Verhältnisse in der Welt, die eine Person umgibt, beschreiben. Die Beziehung zwischen den Indikatoren und den Bedingungen ist dabei nicht von empirischer Art, sondern von normativer (bzw. genauer: moralischer) Art: Es sind Kriterien dafür, dass man von jemandem berechtigterweise ein bestimmtes Maß an Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache erwarten bzw. verlangen darf. Solche Kriterien lassen sich – ebenso wie die Kriterien für „moralisch falsch“ – nur vor dem Hintergrund einer ethischen Theorie formulieren. Ich werde im Folgenden, wenn ich die Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache sowie ihre Kriterien genauer zu erläutern versuche, allerdings keine solche ausgearbeitete ethische Theorie voraussetzen oder gar verteidigen. Vielmehr werde ich an allgemeine moralische „Intuitionen“ appellieren, von denen ich natürlich hoffe, dass sie auf Zustimmung stoßen (und innerhalb jeder ethischen Theorie eine Rolle spielen). Wer meine Intuitionen darüber, was man an Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache berechtigterweise von jemandem verlangen darf, jedoch nicht teilt, hat meiner Auffassung zufolge eben andere normative Ansichten darüber, welche Kriterien dafür erfüllt sein müssen. Solange man dann auch zu entsprechend unterschiedlichen Ansichten betreffend die Autonomie einer Person gelangt, ist dieser normative Dissens vereinbar mit der vorgeschlagenen Konzeption von Autonomie; denn der Dissens betrifft die Frage, unter welchen Umständen man von einer Person noch berechtigterweise erwarten darf, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regelt, sich zur Wehr setzt oder mitredet (das ist eine Frage nach den Kriterien für Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache) – aber er betrifft nicht die Frage, ob Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache überhaupt notwendig für die Autonomie einer Person sind (das ist die Frage nach den Bedingungen für Autonomie).
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7.2.1 Mündigkeit Die Bedingung der Mündigkeit ist dann erfüllt, wenn eine Person ihre eigenen Angelegenheiten regeln kann. Das kann man in einem globalen und in einem lokalen Sinn verstehen: Jemand, der unter einer fortgeschrittenen Demenz leidet, kann einen großen Teil seiner eigenen Angelegenheiten dauerhaft und unwiderruflich nicht mehr regeln – während jemand, der unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen seinen Bausparvertrag kündigt, lediglich im Hinblick auf eine einzelne Tat ein Problem mit seinen eigenen Angelegenheiten hat (auch wenn er vermutlich noch weitere Probleme hat). Dass Mündigkeit von Bedeutung für unsere Selbstbestimmung ist, lässt sich an gewissen psychischen Störungen sehen, die die Mündigkeit einer Person untergraben: Bei einer (schweren) Depression sind die Betroffenen oft nicht mehr in der Lage, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern; das betrifft die Wahl der schulischen und beruflichen Ziele, die Pflege von zwischenmenschlichen Beziehungen und alltägliche Besorgungen wie Einkäufe, Haushaltsarbeit oder Arztbesuche. Dass es einer depressiven Person an Autonomie mangelt, liegt (unter anderem) daran, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten nicht mehr regeln kann.142
142 Man könnte einwenden, dass es gerade im Fall der Depression nahe liegt, den Autonomiemangel auf „erlebte Inauthentizität“ bzw. auf das Fehlen von „erlebter Authentizität“ zurückzuführen: Die depressive Person ist nicht autonom, weil sie nicht bei sich ist, sich in ihrem Tun nicht wiederfindet oder sich mit ihrem Tun nicht identifizieren kann. Darum scheint Authentizität eine Bedingung personaler Autonomie zu sein. (Diesen Vorschlag verdanke ich Dina Emundts.) Allerdings scheint mir das Verhältnis zwischen Autonomie und (erlebter) Authentizität ein anderes: Zum einen ist (erlebte) Authentizität allein nicht hinreichend für Autonomie; denn sofern damit eine bestimmte Art mentaler Einstellung gemeint ist, würde dieser Vorschlag auf die bekannten Probleme internalistischer Positionen führen (z. B. kann das Authentizitätserlebnis völlig unbegründet sein oder auf Manipulation beruhen). Zum anderen ist (erlebte) Authentizität aber auch nicht notwendig für Autonomie; denn es gibt „harmlose“ Fälle von Personen, die sich als inauthentisch erleben: Anna setzt in ihrem Leben ihre tief verwurzelten Wertüberzeugungen um und studiert Medizin. Sie kümmert sich selbstständig um all ihre eigenen Angelegenheiten (Studienorganisation, Finanzierung, Haushalt) und hat erfüllende, gleichberechtigte zwischenmenschliche Beziehungen. Obwohl Anna ihr Studium problemlos und mit großem Erfolg meistert, fühlt sie sich oft überfordert und glaubt, darin nicht zurecht zu kommen. Es fühlt sich für sie nicht richtig zu ihr und ihren Anlagen passend an. Anna hat hier zwar ein Problem mit sich selbst, allerdings eher ein Problem des Selbstvertrauens und der Selbstkenntnis, nicht aber der Selbstbestimmung: Sie traut sich zu wenig zu, kennt ihre eigenen Fähigkeiten nicht gut, bestimmt ihr Leben aber dennoch in hohem Maße selbst. Ganz allgemein gibt es Personen, denen erlebte Inauthentizität oder Entfremdung im Hinblick
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Wie aber schätzen wir ein, ob eine Person ihre eigenen Angelegenheiten erledigen kann oder nicht? Hier muss man zwei Fälle unterscheiden: In dem Fall, in dem eine Person ihre Angelegenheiten tatsächlich regelt, schafft sie im Hinblick auf die Frage, ob sie es kann, durch ihr Tun einfach Fakten. Es gibt aber auch Fälle, in denen eine Person etwas zwar kann, es aber nicht tut. Eine antriebslose Faulenzerin kann sich durchaus um ihre berufliche Zukunft kümmern, ihren Haushalt führen, Besorgungen machen und ihre Bekanntschaften pflegen – sie hat nur keine Lust dazu und tut es nicht. Darin, dass die Regelung der eigenen Angelegenheiten tatsächlich ausbleibt, ähnelt die Faulenzerin der Depressiven. Wie aber kann man dann in dem Fall, in dem eine Person durch ihr Tun keine Fakten in Bezug auf ihre Mündigkeit schafft, zwischen der antriebslosen Faulenzerin – von der wir sagen würden, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regeln kann – und der Depressiven – von der wir sagen würden, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten nicht regeln kann – unterscheiden? Die Antwort darauf ist, dass es von unseren normativen Überzeugungen darüber abhängt, was man von der betreffenden Person jeweils erwarten darf: Nach allem, was wir über die Umstände, das Leid und die Auswirkungen einer Depression wissen, kommen wir zu dem Schluss, dass wir von einer schwer depressiven Person nicht berechtigterweise erwarten oder verlangen können, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regelt. Von der antriebslosen Faulenzerin hingegen können wir es berechtigterweise erwarten. Antriebslosigkeit und Faulheit sind motivationale Hemmnisse, deren Überwindung man von einer Person zu Recht verlangen darf. Dementsprechend begegnen wir der antriebslosen Faulenzerin ja auch mit einer gewissen Missbilligung: Wohl jeder kennt das Gefühl, sich zu unliebsamen Dingen nicht aufraffen zu können oder wichtige Dinge vor sich her zu schieben; aber wir
auf Autonomie wenig anhaben können, weil sie sich einfach darüber hinwegsetzen und diesem Erleben keinen bestimmenden Einfluss auf ihr Leben zugestehen. Darum ist (erlebte) Authentizität auch nicht notwendig für Autonomie. Vielmehr ist der Zusammenhang so zu verstehen: Erlebte Inauthentizität ist nicht an sich ein Problem für Autonomie, kann aber – je nach Schwere und Dauer ihrer Ausprägung – zu einem solchen Problem werden, weil sie Auswirkungen auf die konstitutiven Bedingungen für Autonomie haben kann. Wenn sich Personen stark und dauerhaft als inauthentisch empfinden, sind sie gehemmt, blockiert, wehrlos, trauen sich nichts zu, gehen Dinge auch nicht an und stehen sich im Weg. Das beeinflusst auch, ob man von ihnen noch berechtigterweise erwarten darf, dass sie ihre Angelegenheiten regeln, sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzen oder in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitreden können. Denn wer sich in besonders ausgeprägter Weise nichts zutraut, dem traut man – zu Recht – auch diese Dinge nicht zu. Weil erlebte Inauthentizität also nur manchmal, aber keineswegs immer Autonomie untergräbt, ist sie ein Indikator – aber nicht hinreichend – für einen Autonomiemangel, der sich daraus ergibt, wie Menschen psychologisch gestrickt sind. (Erlebte) Authentizität beeinflusst somit lediglich, was wir von einer Person berechtigterweise erwarten dürfen.
276 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie denken, dass eine Person diese motivationalen Schwierigkeiten überwinden sollte und dass der, der es nicht tut, einer „lasterhaften“ Charakterschwäche erliegt. Diese Einschätzung trifft aber auf die depressive Person nicht zu: Von ihr erwarten wir nicht, dass sie ihre motivationalen Hemmnisse überwindet. Und wenn sie es dann eben auch nicht tut, begegnen wir ihr nicht mit Missbilligung, sondern mit Mitleid. Ob eine Person also ihre eigenen Angelegenheiten regeln kann, hängt – sofern sie nicht bereits durch ihr Tun Fakten schafft – davon ab, was wir von einer Person berechtigterweise erwarten dürfen. Das erklärt meines Erachtens, warum wir die antriebslose Faulenzerin für autonom halten, die Depressive hingegen nicht. Wann genau ist es aber der Fall, dass man von einer Person berechtigterweise erwarten darf, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regelt? Diese Frage abschließend zu beantworten, fällt in die Zuständigkeit der normativen Ethik, und eine ausgearbeitete ethische Theorie kann ich, wie eben betont, nicht vorlegen. Für die Zwecke dieser Untersuchung genügt es darauf hinzuweisen, dass die Antwort auf die Frage, welches Maß an Mündigkeit bzw. Selbstständigkeit man von einer Person erwarten darf, an internen und an externen Kriterien bemessen wird: Was immer der Unterschied zwischen der Depressiven und der antriebslosen Faulenzerin ist, er scheint im Innenleben der Personen begründet zu liegen (denn man könnte in einem Gedankenexperiment alle äußeren Faktoren in beiden Fällen identisch formulieren). Das zeigt, dass die Kriterien für die Erfüllung der Bedingung der Mündigkeit manchmal interner Art sind. Aber sie sind manchmal auch externer Art: Von dem, der beispielsweise an einen Stuhl gefesselt ist, kann man auch nicht berechtigterweise erwarten, dass er seine eigenen Angelegenheiten – von der Körperpflege über die Nahrungsaufnahme hin zu Hobbys und Projekten – erledigt. Aber das hat nichts mit einem Defekt in seinem Innenleben zu tun, sondern mit einem Umstand der äußeren Welt (dass er nämlich gefesselt worden ist). Für die Bedingung der Mündigkeit scheinen also sowohl interne wie externe Kriterien einschlägig zu sein.
7.2.2 Wehrhaftigkeit Die Bedingung der Wehrhaftigkeit ist dann erfüllt, wenn eine Person sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzen kann.143 Auch dies kann man in Bezug auf das ganze Leben (oder Teile des Lebens) verstehen oder in Bezug auf einzelne Hand-
143 Die Bedeutung dieser Komponente („resistance to foreign wills“) hat Garnett (2014, 145) hervorgehoben; m. E. ist seine These, dass Autonomie sich darin erschöpft, allerdings falsch: Eine unmündige Person, die in gemeinschaftlichen Angelegenheiten nicht mitreden kann, kann im re-
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lungen: Eine Frau, der es an Bildung und Selbstvertrauen fehlt, die von ihrem Mann unterdrückt und von der Gesellschaft diskriminiert wird, kann sich gegen die vielen fremden Einwirkungen auf ihr Leben nicht wehren; eine Person, die dazu hypnotisiert wurde, bei Anblick der Karo-Dame eines Kartenspiels den amerikanischen Präsidentschaftskandidaten zu töten, kann sich gegen einen ganz bestimmten Wunsch in ihr nicht wehren. In beiden Fällen würden wir den Personen Autonomie absprechen, und das hat offenbar auch etwas damit zu tun, dass sie sich gegen fremde Eingriffe nicht wehren können. Es gibt zwei Arten von „fremden“ Eingriffen: Auf der einen Seite stehen äußere Eingriffe wie soziale Diskriminierung, Unterdrückung, die Vorenthaltung von Optionen und Entwicklungsmöglichkeiten, Manipulation und Hypnose. Auf der anderen Seite können uns auch innere Einflüsse fremd sein: eine unwiderstehliche Neigung zur Schadenfreude oder Rachsucht, die wir verabscheuen, ein Waschzwang, die Drogensucht oder der eigene Perfektionismus. Doch nicht alle fremden Einflüsse, die auf uns wirken, sind derart, dass wir uns gegen sie nicht wehren können. Wir durchschauen Versuche, uns mittels Täuschungen zu beeinflussen; wir widersetzen uns Benachteiligungen, indem wir den Arbeitgeber verklagen; und gegen den täglich wiederkehrenden Wunsch nach einer Tafel Schokolade kann man sich leicht zur Wehr setzen. Welche fremden Einflüsse sind dann aber derart, dass man sich gegen sie nicht zur Wehr setzen kann, und welche sind derart, dass man dies durchaus kann? Wie schon bei der Mündigkeit so lautet auch hier die Antwort: Das hängt von normativen Voraussetzungen ab. Betrachten wir dazu den Unterschied zwischen der Sucht nach Heroin und dem Rauchen von Zigaretten. Typischerweise144 betrachten wir eine Drogensucht als Verlust von Autonomie; eine Raucherin hingegen behandeln wir nicht als heteronom. Der Unterschied hat meines Erachtens etwas damit zu tun, dass wir nach unserem besten Wissen über die Wirkung von Heroin und Nikotin, die Folgen des Entzugs und den Grad der körperlichen Abhängigkeit zu dem Schluss gelangen, dass man von einer Heroinsüchtigen nicht erwarten kann, dass sie sich dem Einfluss der Droge widersetzt, während man dies von der Raucherin durchaus erwarten kann: Das Rauchen haben schon viele Leute erfolgreich aufgegeben, an Heroin hingegen sind viele Leute zugrunde gegangen. Die relativ kurzzeitige Fahrigkeit beim Entzug von Nikotin scheint im Vergleich zu Schüttelfrost, Wahnvorstellungen und Schlimmerem beim teils monatelang anhaltenden „craving“ nach Heroin von ganz anderer Art zu sein. Entsprechend
levanten Sinne wehrhaft sein; das macht sie aber noch nicht autonom (vgl. auch die ausführlichere Kritik von Weimer 2014). 144 Dass das nicht immer gilt, zeigt Frankfurts Beispiel einer willentlich Drogenabhängigen, das ich an dieser Stelle ausklammere.
278 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie sind wir der Ansicht, dass man von der Raucherin zu Recht durchaus verlangen darf, dass sie dem Verlangen nach Nikotin widersteht, während man dies von der Heroin-Abhängigen nicht zu Recht verlangen darf. Im Hinblick auf die Autonomie der betreffenden Personen ist dabei allein die normative Erwartung entscheidend und nicht die Frage, ob die Person sich dem Verlangen auch tatsächlich widersetzt: Für die aktive Raucherin wie für die ehemalige Raucherin gilt ja, dass man von ihnen berechtigterweise erwarten darf, dass sie dem Verlangen nach einer Zigarette widerstehen; die eine tut es auch, die andere nicht. Dennoch sind beide autonom – denn beide können sich im normativen Sinne gegen das Verlangen wehren. In dem gerade genannten Beispiel ging es um Einflüsse, die von innen heraus wirksam werden. Die besondere Rolle des normativen Könnens lässt sich aber auch für Einflüsse, die von außen wirksam werden, nachzeichnen. Stellen wir uns vor, wie ein Mann von seiner Frau verlangt, in der Öffentlichkeit stets ein Kopftuch zu tragen – andernfalls, so droht er, würde er sie umbringen. Die Drohung ist glaubhaft. Ich halte es für relativ eindeutig, dass wir von der Frau nicht verlangen dürfen, dass sie sich gegen den Zwang zur Wehr setzt und dem Befehl des Mannes nicht nachkommt – schließlich geht es um ihr Leben. Wenn die Frau sich gegen den Zwang auch tatsächlich nicht zur Wehr setzt und das Kopftuch trägt, erfüllt sie gemäß der Semantik des normativen Können die Bedingung der Wehrhaftigkeit nicht: Sie kann sich (im normativen Sinne) nicht wehren – und ist entsprechend auch nicht autonom. Stellen wir uns nun vor, der Mann hätte der Frau nicht mit dem Tod gedroht, sondern damit, sie in Zukunft beim zweiten Vornamen zu nennen, wenn sie das Kopftuch in der Öffentlichkeit nicht trägt. Ich denke, in diesem Fall dürfen wir schon zu Recht erwarten, dass die Frau sich dieser Forderung widersetzt. Gemäß der Semantik des normativen Könnens kann sie sich im normativen Sinne wehren – und darum erfüllt sie die Bedingung der Wehrhaftigkeit ganz unabhängig davon, ob sie sich auch tatsächlich wehrt (und auf das Kopftuch verzichtet) oder nicht. Entsprechend würden wir im zweiten Fall auch die Frau, die das Kopftuch trägt, als autonom ansehen (jedenfalls wenn auch die Bedingungen der Mündigkeit und Mitsprache gegeben sind und man nicht davon ausgeht, dass der Frau auch in anderen Kontexten gedroht wird): Der „Zwang“, dem sie ausgesetzt war, war lediglich ein leichter „Druck“, dem sie hätte widerstehen können. Und dass sie dies nicht tat, obwohl sie (im normativen Sinne) konnte, zeigt an, dass sie sich in gewisser Hinsicht nicht wirklich widersetzen wollte. Ob eine Person sich gegen einen (inneren oder äußeren) fremden Einfluss also zur Wehr setzen kann oder nicht, hängt – sofern sie nicht bereits durch ihr Tun Fakten schafft (und sich tatsächlich zur Wehr setzt) – davon ab, was wir von einer Person berechtigterweise erwarten dürfen: Vom Heroinsüchtigen und der mit dem Tod bedrohten Frau können wir keinen Widerstand erwarten, von der Raucherin und der Frau, der ein unliebsamer Rufname droht, hingegen schon. Was aber sind
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nun die Kriterien dafür, dass man Gegenwehr berechtigterweise erwarten darf? Auch die Klärung dieser Frage ist Aufgabe der normativen Ethik. An dieser Stelle genügt es aufzuzeigen, dass wir die Frage, ob man etwas berechtigterweise von jemandem erwarten darf, anhand interner und externer Indikatoren entscheiden. Das zeigen bereits die Beispiele: Bei der Raucherin bzw. der Drogensüchtigen scheint das Ausmaß des typischen Leids, das von dem Betroffenen empfunden wird, entscheidend dafür, dass man (keine) Gegenwehr erwarten darf, während im Fall des Zwangs eher der inhaltliche Charakter der Forderung (steht das Leben oder nur der Rufname auf dem Spiel?) ausschlaggebend ist. Ersteres ist ein interner Faktor, der das Innenleben einer Person betrifft; Letzteres ist ein externer Faktor, der Umstände der sie umgebenden Welt betrifft. Für die Bedingung der Wehrhaftigkeit scheinen also sowohl interne wie externe Kriterien einschlägig zu sein.
7.2.3 Mitsprache Die Bedingung der Mitsprache ist dann erfüllt, wenn eine Person in Angelegenheiten, die sie betreffen und gemeinschaftlich entschieden werden, mitreden kann.145 Auch hier kann man den Skopus der Bedingung weit oder eng fassen: Steht die Frage im Vordergrund, inwiefern die Bürger in einem totalitaristischen Staat mitreden können, so geht es in einem globalen Sinne um Mitsprache bei den gemeinschaftlichen Angelegenheiten, die (über soziale, rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen) das Leben als Ganzes betreffen. Um Mitsprache im lokalen Sinne geht es, wenn die Frau bei der Entscheidung des Mannes, seine Arbeit als
145 Diese Formulierung ist im Sinne eines Konditionals zu verstehen: Wenn eine Person in sozialen Beziehungen lebt, in denen Entscheidungen, die sie betreffen, gemeinschaftlich getroffen werden, dann muss die Person dabei mitreden können. Dies impliziert nicht, dass eine Person überhaupt in sozialen Beziehungen leben muss, um autonom zu sein. Die vorgeschlagene Autonomiekonzeption wird durch die Bedingung der Mitsprache also nicht zu einer in diesem Sinne „konstitutiv sozialen“ Konzeption (welche mit den in Abschnitt 4.5 diskutierten Problemen konfrontiert ist und z. B. eine Eremitin notwendigerweise als nicht autonom bezeichnen muss). Auch der Einwand, dass die Konzeption durch die Bedingung der Mitsprache insofern konstitutiv sozial wird, als sie spezifische Lebensweisen – etwa die der glücklichen Sklavin – begrifflich ausschließe, ist nicht berechtigt: Begrifflich ausgeschlossen ist nach der ersten Präzisierung (S. 270) lediglich, dass die glückliche Sklavin ein paradigmatischer Fall von Autonomie ist. Und diese Implikation scheint mir nicht besonders problematisch. (Falls die glückliche Sklavin sich freiwillig in die Sklaverei begeben hat, werden noch andere Erwägungen einschlägig; vgl. dazu die Ausführungen zum autonomen Abtritt von Autonomie auf S. 223ff. sowie die Erläuterungen auf S. 296 zu unklaren Fällen, in denen nur eine echte Teilmenge der drei Bedingungen für Autonomie erfüllt ist.) Ich danke Holger Baumann für klärende Diskussionen diesbezüglich.
280 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie Alleinverdiener aufzugeben oder einen großen Teil des gemeinsamen Vermögens in ein Auto zu investieren, nicht einbezogen wird. Auch die Erfüllung der Bedingung der Mitsprache hängt von normativen Aspekten ab. Das kann man sich an zwei Kontexten verdeutlichen: In einem totalitaristischen Regime wie Nordkorea werden Menschen in der Regel stark eingeschüchtert; die Möglichkeiten der politischen Partizipation sind beschränkt, so sie denn überhaupt existieren; Kritik am Regime wird im Keim erstickt und hart bestraft. Unter diesen Umständen kann man von einer regimekritischen Bürgerin nicht berechtigterweise erwarten, dass sie sich in die politische Willensbildung einbringt und ihren Standpunkt vertritt – die drohenden Kosten sind dafür einfach zu hoch.146 Von denen, die sich nicht einbringen und nicht mitreden, kann man auch sagen, dass sie aufgrund der Repressionen (im normativen Sinn) nicht mitreden können. In dieser Hinsicht sind sie auch nicht autonom (im Unterschied zu denen, die sich trotz der Repressionen einbringen). Wenn nun die drohenden Kosten der Regimekritik nicht mehr ganz so hoch sind, dann verändert sich unsere Einschätzung: Auch kritische Stimmen in der ehemaligen DDR oder dem heutigen Russland wurden und werden verfolgt und massiv in ihren Menschenrechten verletzt. Es ist allerdings nicht ganz klar, ob die Repressionen so hoch sind, dass man von einer Person nicht berechtigterweise erwarten darf, dass sie in politischen Angelegenheiten die Stimme hebt und sich einbringt. Und in dem Maße, in dem das weniger klar ist, ist auch weniger klar, dass die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR und des heutigen Russland in politischen Dingen (im normativen Sinn) nicht mitreden konnten bzw. können – und dass sie nicht autonom waren bzw. sind. Ein zweiter Kontext, der den Zusammenhang zum normativen Können verdeutlicht, ist die Mitsprache „im Kleinen“: Es gibt im Hinblick auf die Autonomie einen Unterschied zwischen der unterdrückten Hausfrau, die mit Gewalt dazu gebracht wird, ein Leben im Dienste des Mannes zu führen und in der Familie nichts zu sagen hat, und der Hausfrau, die sich in der Familie ganz bewusst zurücknimmt und dem Mann die Entscheidungen über Finanzen, Wohnort, Familienurlaube etc. überlässt – der erste Fall ist ein Fall fehlender Autonomie, der zweite nicht.147 In beiden Fällen ist es so, dass die Hausfrau in gemeinschaftlichen Angelegenheiten faktisch nicht mitredet. Aber nur die erste, unterdrückte Hausfrau ist eine, die nicht
146 Natürlich gibt es Menschen, die diese Kosten auf sich nehmen und sich einbringen. Diese Kritiker verdienen unsere Hochschätzung. Aber dennoch ist es so, dass wir von ihnen nicht berechtigterweise Mitsprache erwarten können. 147 Natürlich ist der zweite Fall unter der erstpersonalen Perspektive durchaus problematisch; hier bewege ich mich aber in der drittpersonalen Perspektive und unter dieser scheint mir im zweiten Fall – anders als im ersten – ein Grund zu bestehen, Eingriffe in die Belange der Hausfrau zu unterlassen.
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mitreden kann – sie kann es nicht, weil man von ihr angesichts der drohenden Repressionen nicht berechtigterweise erwarten kann, dass sie sich in die Angelegenheiten des Haushalts aktiv einbringt. Von der zweiten, sich zurücknehmenden Hausfrau hingegen kann man durchaus erwarten, dass sie sich einbringt – dass sie es dann nicht tut, ist sozusagen „ihre Sache“, denn sie kann es ja (im normativen Sinn). Auch in diesem zweiten Beispiel lässt sich der Unterschied zwischen dem Fall, in dem eine Person in gemeinschaftlichen Angelegenheiten nicht mitreden kann (und entsprechend ein Autonomiedefizit hat), und einem ähnlichen Fall, in dem eine Person in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitreden kann (und entsprechend kein Autonomiedefizit hat), anhand eines normativen Maßstabs verständlich machen: Es hängt – sofern die Person nicht einfach tatsächlich mitredet – davon ab, was wir von ihr berechtigterweise erwarten dürfen. Natürlich ist es wiederum nicht einfach zu entscheiden, unter welchen Umständen man von einer Person zu Recht Mitsprache erwarten darf. Im Fall der sich zurücknehmenden Hausfrau stellt sich beispielsweise unmittelbar die Frage, ob bestimmte in der Sozialisation erworbene Rollenbilder auch zu den Umständen gehören, unter denen man von einer Person nicht mehr zu Recht erwarten kann, dass sie mitredet. Das ist meines Erachtens zwar nicht der Fall, aber man kann hier durchaus andere Ansichten haben. Wichtig ist nur, dass man dann eine andere normative Ansicht darüber hat, unter welchen Bedingungen man etwas von einer Person berechtigterweise erwarten darf. Um diese Frage – und allgemeiner die Frage, welche Kriterien denn nun gegeben sein müssen, damit man Mitsprache in gemeinschaftlichen Dingen berechtigterweise erwarten darf – zu beantworten, muss man abermals normative Ethik betreiben. Ich möchte das im Rahmen dieser Arbeit nicht tun, sondern nur kurz andeuten, dass dabei sowohl Erwägungen, die sich auf das Innenleben der Person beziehen, als auch Erwägungen die sich auf ihre äußeren Umstände beziehen, eine Rolle spielen werden. Das sieht man daran, dass die Bedingung der Mitsprache auf zwei verschiedenen Wegen untergraben werden kann: Zum einen kann dies dadurch geschehen, dass andere Personen jemanden nicht mitreden lassen und in einer gemeinschaftlichen Angelegenheit übergehen; das ist bei Diskriminierung und Unterdrückung oft der Fall und es ist eine Tatsache über die äußere Welt, die eine Person umgibt. Zum anderen kann der Grund dafür, dass jemand (im normativen Sinne) nicht mitreden kann, auch in seinem Innenleben zu finden sein: Die Person könnte beispielsweise ein vermindertes Selbstwertgefühl haben und sich nicht zutrauen, in einer kompetitiven und äußerst kritischen Gruppe eine Position zu vertreten; in diesem Fall scheint das Hindernis auf dem Weg zur Erfüllung der Mitsprache eher in der Person selbst zu verorten zu sein (denn sie wird ja von den anderen nicht ausgeschlossen). Auch für die Bedingung der Mitsprache scheinen somit interne wie externe Kriterien einschlägig zu sein.
282 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie
7.2.4 Die normative Relevanz der Bedingungen Wenn man zeigen will, dass die vorgeschlagenen Bedingungen tatsächlich die gesuchten Bedingungen personaler Autonomie sind, dann muss man zum einen zeigen, dass sich Erfahrungen der Fremd- und Selbstbestimmung unter Rückgriff auf diese Bedingungen beschreiben lassen; das ist in den vorangegangenen Abschnitten geschehen. Gemäß der Normativitätsthese aus Kapitel 6 muss man aber auch zeigen, diese Bedingungen tatsächlich den Umschwung in den normativen Beziehungen ausmachen, der charakteristisch für den Autonomiebegriff ist – dass sie also tatsächlich Bedingungen dafür sind, dass ein inhaltsunabhängiger Grund vorliegt, Eingriffe zu unterlassen. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, ist dies meines Erachtens auch der Fall. Mündigkeit. Mündigkeit besteht darin, seine eigenen Angelegenheiten selbst regeln zu könnennormativ . Dass eine Person ihre eigenen Angelegenheiten regeln kannnormativ , heißt, (a) dass man das von ihr berechtigterweise erwarten darf oder (b) dass sie es tut (obwohl man es nicht berechtigterweise erwarten darf). In beiden Fällen – (a) und (b) – hat man Grund, der Person die Regelung ihrer Angelegenheiten auch tatsächlich zu überlassen: (a) Dass man Grund hat, einer Person die Regelung ihrer Angelegenheiten selbst zu überlassen, wenn man dies von ihr berechtigterweise erwarten darf, sieht man am deutlichsten dann, wenn Kinder erwachsen und selbstständig werden: In dem Maße, in dem man von ihnen erwarten kann, dass sie Dinge, die sie allein betreffen (wie die Wahl ihrer Freizeitbeschäftigungen, finanzielle Angelegenheiten, ihre beruflichen Ziele), eigenständig regeln, sollten die Eltern ihnen diese Angelegenheiten auch überlassen. Man sieht es aber auch am Beispiel eines Schlaganfallpatienten, der zunächst Hilfe bei Toilettengang und Körperpflege benötigt: Wenn er seine Mobilität und Selbstständigkeit zurückgewonnen hat und man erwarten kann, dass der Patient sich wieder selbst um seine Körperpflege kümmert, sollte das Pflegepersonal ihn diese eigenen Angelegenheiten auch wieder selbst erledigen lassen. Diese Einsicht, dass man Grund hat, einer Person die Regelung ihrer Angelegenheiten selbst zu überlassen, wenn man dies von ihr berechtigterweise erwarten darf, basiert dabei jeweils auf einem begrifflichen Zusammenhang: Denn dass man etwas von ihr berechtigterweise erwarten darf, heißt (u. a.), dass man etwas begründet verlangen und einfordern darf – und das heißt, dass man ausreichend Grund hat, es einzufordern und zu verlangen. Ausreichend Grund, eine Handlung von einer Person einzufordern, hat man aber nur, wenn es auch
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mindestens einen Grund dafür gibt, dass die Person die Handlung tut.148 Und was man hier Grund hat einzufordern oder zu verlangen (und was die Person entsprechend Grund hat zu tun), ist, dass P ihre Angelegenheiten selbst regelt. Und dass P es selbst tut, heißt eben, dass es niemand anderes für P tut, dass man P nicht daran hindert und so weiter. Aus der Aussage „Man kann berechtigterweise erwarten, dass P ihre Angelegenheiten selbst regelt“ folgt somit, dass es einen Grund dafür gibt, dass niemand anderes dies für P übernimmt, dass niemand P daran hindert etc. – es folgt, mit anderen Worten, ein Grund für die Unterlassung von Eingriffen.149 (b) Dass man Grund hat, einer Person die Regelung ihrer Angelegenheiten selbst zu überlassen, wenn sie diese selbst regelt, obwohl man dies von ihr nicht berechtigterweise erwarten darf,150 liegt daran, dass die Person in diesem Fall das Maß an Selbstständigkeit in der Regelung eigener Angelegenheiten übertrifft, das man von ihr berechtigterweise erwarten darf – und dies ist Grund für eine besondere Achtung und Wertschätzung, die man gerade konterkarieren würde, wenn man die Person nicht in der Regelung ihrer Angelegenheiten
148 Damit ist nicht die stärkere Behauptung gemeint, dass man nur dann ausreichend Grund hat, eine Handlung zu erwarten und einzufordern, wenn die Person zwingende Gründe für die Handlung hat (diese also alles in allem betrachtet ausführen sollte) – sie muss lediglich einen Grund haben. 149 An dieser Stelle ist es wichtig, dass es in den Bedingungen der Autonomie jeweils nicht um epistemische Erwartungen – Überzeugungen darüber, was jemand tun wird – geht, sondern um normative Erwartungen darüber, was man von jemandem begründet verlangen und einfordern darf (siehe Anm. 136). Andernfalls wäre nicht zu sehen, inwiefern die Tatsache, dass wir etwas im epistemischen Sinne erwarten dürfen, mit begrifflicher Notwendigkeit impliziert, dass wir den autonomiebezogenen Grund haben, Eingriffe zu unterlassen. Wenn von epistemischen Erwartungen die Rede ist, kann die kompetente Sprecherin nämlich durchaus sagen: „Ja, ich sehe, dass man von P erwarten – d. h. damit rechnen – darf, dass sie ihre Angelegenheiten selbst regelt, aber ich habe gar keinen Grund, es nicht für sie zu tun.“ Das kann man aber aufgrund der eben vorgetragenen Überlegung nicht sagen, wenn von normativen Erwartungen die Rede ist, denn dann würde man sagen: „Ja, ich sehe, dass man von P begründet verlangen und einfordern darf, dass sie ihre Angelegenheiten selbst regelt, aber ich habe gar keinen Grund, es nicht für sie zu tun.“ Und das ist unverständlich, weil die Sprecherin mit dem ersten Teil dieser Aussage gerade sagt, dass sie ausreichend Grund hat, von P einzufordern, dass P ihre Angelegenheiten selbst regelt – was nur dann der Fall ist, wenn es auch einen (nicht unbedingt entscheidenden) Grund dafür gibt, dass P ihre Angelegenheiten selbst regelt. Also gibt es durchaus einen Grund für die Sprecherin, Ps Angelegenheiten nicht für P zu regeln. (Diese Klarstellung geht auf einen Kommentar von Gerhard Ernst zurück.) 150 Hier ist es von Bedeutung, dass man Komponente (b) des normativen Könnens im Sinne von (b’) versteht, also explizit hervorhebt, dass die Handlung unter Umständen geschieht, unter denen man sie eigentlich nicht erwarten (d. h. einfordern oder verlangen) darf; vgl. Anm. 140.
284 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie gewähren ließe. Gegen diesen Grund würde das Pflegepersonal beispielsweise verstoßen, wenn der Schlaganfallpatient entgegen der ärztlichen Prognosen bereits innerhalb kürzester Zeit in der Lage ist, seine Körperpflege selbst in die Hand zu nehmen (es also tut, obwohl man dies von ihm noch nicht erwarten darf) und das Personal ihn trotzdem zur Toilette begleiten und ihn waschen würde. Auch hier handelt es sich m. E. um eine Einsicht, die auf einem begrifflichen Zusammenhang basiert: Dass eine Person etwas tut, obwohl man es nicht berechtigterweise von ihr erwarten (verlangen und einfordern) darf, heißt gerade, dass die Person hinsichtlich dieser Handlung H die berechtigten Erwartungen übertrifft. Und eine berechtigte Erwartung zu übertreffen heißt, Achtung und Wertschätzung zu verdienen. Dass eine Person Achtung und Wertschätzung hinsichtlich H verdient, heißt, dass es Grund für andere gibt, ihr Achtung und Wertschätzung für H entgegenzubringen. Notwendigerweise gilt aber, dass Eingriffe in H gerade keine Achtung und Wertschätzung für H ausdrücken. Darum ist der Grund für die Achtung und Wertschätzung für H auch stets ein Grund für die Unterlassung von Eingriffen in H. Somit gibt uns die Tatsache, dass eine Person ihre eigenen Angelegenheiten regeln kannnormativ , stets Grund, ihr die Regelung ihrer Angelegenheiten auch tatsächlich zu überlassen.151 Und es ihr zu überlassen heißt gerade, sich nicht in ihre Angelegenheiten einzumischen und ihr die Regelung der Angelegenheiten nicht abzunehmen – also bestimmte Eingriffe zu unterlassen. Darum gibt Mündigkeit uns einen Grund für die Unterlassung von Eingriffen. Es ist ein inhaltsunabhängiger Grund, da sein Bestehen nicht davon abhängt, wie die mündige Person ihre eigenen Angelegenheiten regelt (d. h. was sie innerhalb des Bereichs ihrer eigenen Angelegenheiten macht): Wenn die Jugendliche und der Patient wirklich mündig sind, dann besteht der Grund, Eingriffe zu unterlassen, für die Eltern unabhängig davon, ob die Jugendliche Automechanikerin oder Postbotin werden, schwimmen oder Fußball spielen will – und für das Pflegepersonal besteht der Grund unabhängig davon, ob der Patient sich nun eher oft oder eher selten duscht. Wehrhaftigkeit. Wehrhaftigkeit besteht darin, sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzen zu könnennormativ . Dass eine Person sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzen kannnormativ , heißt, (a) dass man das von ihr berechtigterweise erwarten
151 Man beachte, dass dies nicht der (wahren) Beobachtung widerspricht, dass die Tatsache, dass jemand etwas tun kann, kein Grund ist, es zu tun. Diese Einsicht hat die Form „Die Tatsache, dass P1 H1 tun kann, ist kein Grund für P1 , H1 zu tun“, während die hier behauptete Gründe-Aussage die Form „Die Tatsache, dass P1 H1 tun kann, ist ein Grund für P2 , H2 zu tun“ hat (wobei H2 die Unterlassung von Eingriffen in H1 ist).
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darf oder (b) dass sie es tut (obwohl man es nicht berechtigterweise erwarten darf). Auch hier hat man beide Male Grund, es die Person selbst tun zu lassen: (a) Dass man Grund hat, einer Person die Abwehr eines fremden Eingriffs zu überlassen und es sie selbst tun zu lassen, wenn man dies von ihr berechtigterweise erwarten darf, sieht man daran, dass es in solchen Fällen in einer Hinsicht falsch scheint, der Person einfach zur Hilfe zu eilen oder uns auf eine andere Weise einzumischen: Wenn man von Bert beispielsweise berechtigterweise erwarten darf, dass er sich gegen die penetranten Einmischungen seiner Vorgesetzten in sein Privatleben selbst zur Wehr setzt, dann hat sein Kollege Hans Grund, es zu unterlassen, Bert in dieser Angelegenheit mit seinen Ratschlägen zur Seite zu stehen oder die Vorgesetzte zur Rede zu stellen (jedenfalls solange Bert ihn nicht darum gebeten hat). Hans würde sich damit nämlich in etwas einmischen, was Bert gut alleine regeln kann.152 Anders sieht es natürlich aus, wenn man von Bert nicht mehr berechtigterweise erwarten darf, dass er sich selbst zur Wehr setzt und er es auch tatsächlich nicht tut: Wenn die Vorgesetzte Bert etwa mit einer Kündigung und Abmahnung droht, falls er sich nicht fügt, oder wenn er nicht genügend Selbstvertrauen hat, dann kann Bert sich (im normativen Sinne) gegen ihre Einmischungen nicht zur Wehr setzen. Und unter diesen Umständen besteht für Hans kein Grund mehr, es zu unterlassen, Bert zu helfen oder ihm einen Rat zum Umgang mit der Vorgesetzten zu geben.153 Die Erfüllung der Bedingung der Wehrhaftigkeit in Komponente (a) gibt anderen also einen Grund, bestimmte Eingriffe zu unterlassen. (b) Angenommen, eine Person setzt sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr, obwohl man dies von ihr eigentlich nicht berechtigterweise erwarten darf. Auch in diesem Fall hat man Grund, der Person die Abwehr fremder Eingriffe selbst zu überlassen. Das liegt daran, dass die Person das Maß an Wehrhaftigkeit übertrifft, das man von ihr berechtigterweise gegenüber fremden Eingriffen erwarten darf. Dies verdient besondere Achtung und Wertschätzung, und das gibt einem Grund, Einmischungen in die Maßnahmen, die die Person zur Gegenwehr gegen fremde Eingriffe ergreift, zu unterlassen. Würde Bert sich beispielsweise trotz der Umstände, unter denen man von ihm keine Gegenwehr erwarten darf (Kündigungsdrohung und geringes Selbstvertrauen) gegen
152 Das gilt selbst dann, wenn Bert sich zwar zur Wehr setzen kann, es aber tatsächlich gar nicht tut (zum Beispiel aus strategischen Gründen). 153 Das bedeutet nicht, dass es für Hans nun per se einen Grund gibt, sich einzumischen, denn es ist falsch, dass fehlende Autonomie für sich genommen einen Grund für Eingriffe konstituiert (siehe die Bemerkungen zu den Implikationen der Normativitätsthese hinsichtlich Heteronomie, S. 210). Solche Gründe, Bert zu helfen oder zu beraten, könnte Hans natürlich qua Freund oder guter Kollege haben, aber nicht qua Berts fehlender Autonomie.
286 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie seine Vorgesetzte zur Wehr setzen, und würde Hans sich dennoch einmischen (und z. B. die Vorgesetzte zur Rede stellen), so würde Hans gerade diesem Grund entgegen handeln und Bert für seine Gegenwehr nicht die Achtung und Wertschätzung entgegenbringen, die er unter diesen Umständen verdient hat. Somit gibt uns die Tatsache, dass eine Person sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzen kannnormativ , stets Grund, die Person auch sich selbst zur Wehr setzen zu lassen.154 Und sie sich selbst zur Wehr setzen zu lassen, heißt gerade, sie beispielsweise nicht an ihrer statt zu verteidigen, ihr ungefragt zu Hilfe zu kommen oder ihre Gegenwehr zu behindern – also bestimmte Eingriffe zu unterlassen. Darum gibt Wehrhaftigkeit uns einen Grund für die Unterlassung von Eingriffen. Es ist ein inhaltsunabhängiger Grund, weil die Frage, ob der Grund vorliegt oder nicht, nicht davon abhängt, wie sich die Person zur Wehr setzt: Ob Bert eine erfolgreiche Methode wählt und der Vorgesetzten das Zugeständnis abringen kann, sich in Zukunft nicht länger in seine Privatangelegenheiten einzumischen, oder ob Bert von sich aus kündigt, weil er diese Person leid ist, oder ob er die Vorfälle beim Geschäftsführer meldet, ist unerheblich dafür, dass für Hans ein Grund besteht, sich aus der Sache herauszuhalten. Mitsprache. Mitsprache besteht darin, in gemeinschaftlichen Angelegenheiten (die die Person betreffen) mitreden zu könnennormativ . Dass eine Person in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitreden kannnormativ , heißt, (a) dass man das von ihr berechtigterweise erwarten darf oder (b) dass sie es tut (obwohl man es nicht berechtigterweise erwarten darf). Auch hier hat man in beiden Fällen Grund, die Person auch tatsächlich für sich alleine sprechen zu lassen: (a) Dass man Grund hat, eine Person bei der Regelung gemeinschaftlicher Angelegenheit für sich selbst sprechen zu lassen, sofern man dies von ihr berechtigterweise erwarten darf, sieht man daran, dass wir es als eine illegitime Form
154 Auch in diesem Fall beruht diese Einsicht auf allgemeinen begrifflichen Zusammenhängen, wie sie bereits im Fall der Mündigkeit expliziert worden sind. Im Fall (a) gilt: Dass man H von P berechtigterweise erwarten darf, heißt hier, dass man H von P begründet verlangen und einfordern darf, was heißt, dass man ausreichend Grund hat, H von P einzufordern und zu verlangen, was nur dann der Fall ist, wenn es auch Grund dafür gibt, dass P selbst H tut – ein Grund, dem man nicht gerecht wird, wenn man anstelle von P H tut oder wenn man H zu unterbinden versucht; darum hat man Grund, Eingriffe in H zu unterlassen. In Fall (b) gilt: Dass P H tut, obwohl man es nicht berechtigterweise von ihr erwarten (verlangen und einfordern) darf, heißt, dass P hinsichtlich H die berechtigten Erwartungen übertrifft, was heißt, dass P Achtung und Wertschätzung hinsichtlich H verdient, was wiederum heißt, dass es Grund für andere gibt, P Achtung und Wertschätzung für H entgegenzubringen – einen Grund, dem man nicht gerecht wird, wenn man in H eingreift; darum hat man Grund, Eingriffe in H zu unterlassen.
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der Einmischung in etwas, das sie (mit-)betrifft, empfinden, wenn jemand für eine andere Person spricht, für sie das Wort ergreift oder sie gar übergeht. Stellen wir uns vor, wie ein Paar darüber nachdenkt, das gemeinsame Kind zur Adoption frei zu geben. Wenn der zuständige Beamte sie fragt, wie sie sich entschieden hätten, und die Frau ihm entgegnete, „Ich will es, und mein Mann will es auch“, so würde der Beamte einen Fehler begehen, wenn er nicht auch noch einmal den Mann fragen würde. Die Entscheidung, das Kind zur Adoption frei zu geben, betrifft beide Elternteile und muss (zumindest bei ungeteiltem Sorgerecht) auch von beiden gemeinschaftlich gefällt werden. Unter der Voraussetzung, dass man von dem Mann berechtigterweise erwarten darf, dass er bei dieser Angelegenheit mitredet, ist dies für den Beamten auch ein Grund, ihn mitreden zu lassen und ihn entsprechend zu fragen, ob auch er das Kind zur Adoption freigeben möchte. Ebenso unangebracht wäre es, wenn die Frau auf diese an den Mann gerichtete Frage des Beamten dann für den Mann das Wort ergreifen würde und antworten würde: „Ja, er will das auch.“ Auch damit würde sie gegen einen Grund, bestimmte Eingriffe in die Mitsprache des Mannes zu unterlassen, verstoßen – ein Grund, der ihr durch die Erfüllung von Komponente (a) der Bedingung der Mitsprache gegeben wird. In dem Maße, in dem man (z. B. aufgrund einer Depression nach der Geburt des Kindes) von dem Mann nicht berechtigterweise erwarten kann, dass er in dieser weitreichenden Angelegenheit mitredet, in dem Maße verschwindet auch der Eindruck, dass die Frau oder der Beamte einen Grund missachten. (b) Angenommen, man darf von einer Person nicht erwarten, dass sie in einer gemeinschaftlichen Angelegenheit, die sie betrifft, mitredet, aber die Person tut es trotzdem. Unter diesen Umständen hat man ebenfalls Grund, die Person für sich selbst sprechen zu lassen. Denn die Person übertrifft hier das, was man von ihr angesichts widriger Umstände an Mitsprache erwarten darf. Das verdient Achtung und Wertschätzung und gibt einem Grund, sich nicht in die Bemühungen um Mitsprache einzumischen, sie nicht zu unterbinden und sie nicht zu übergehen. Im Fall des depressiven Vaters, der trotz seiner Depression nach reiflicher Überlegung seine Entscheidung erklärt, würde diesem Grund beispielsweise nicht Rechnung getragen, wenn der Beamte über die Willensbekundung des depressiven Vaters einfach hinwegginge und so täte, als hätte es sie gar nicht gegeben, oder wenn die Frau für ihren Mann spricht, obwohl sie weiß, dass er selbst eine Entscheidung getroffen hat.155
155 Das heißt nicht, dass man der Willensbekundung angesichts der Umstände (Depression) dasselbe Gewicht in der gemeinschaftlichen Entscheidung einräumt, das man ihr einräumen würde, wenn der Vater psychisch gesund wäre. Es heißt lediglich, dass man eine solche Bekundung
288 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie Somit gibt uns die Tatsache, dass eine Person in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitreden kannnormativ , stets Grund, die Person für sich selbst sprechen zu lassen.156 Und sie für sich selbst sprechen zu lassen, heißt gerade, beispielsweise nicht für sie zu sprechen, sie zu bevormunden oder sie in der Entscheidungsfindung einfach zu übergehen – also bestimmte Eingriffe zu unterlassen. Darum stellt auch Mitsprache einen Grund für die Unterlassung von Eingriffen dar. Es ist ein inhaltsunabhängiger Grund, weil sein Bestehen unabhängig davon ist, wie die betreffende Person in einer gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitredet und wofür sie sich ausspricht: Ob der Vater für oder gegen die Adoption ist, ist aus moralischer Sicht irrelevant dafür, dass er sich einbringen darf, gehört werden muss und nicht übergangen werden darf. Alle drei vorgeschlagenen Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache sprechen also dafür, bestimmte Formen von Eingriffen zu unterlassen. Dabei betrifft jede Bedingung eine andere Art von Eingriffen (Einmischungen in innere Angelegenheiten, Einmischungen bei der Abwehr von Bedrohungen der inneren Angelegenheiten und Einmischungen bei gemeinschaftlichen Angelegenheiten). Doch zusammengenommen decken sie viel von den Eingriffen ab, deren Unterlassung wir als Gebot der Autonomie einer Person ansehen. Die drei vorgeschlagenen Bedingungen sind also die gesuchten Bedingungen dafür, dass der für Autonomie charakteristische inhaltsunabhängige Grund, Eingriffe zu unterlassen, tatsächlich vorliegt. In Abschnitt 6.1 hatte ich dafür argumentiert, dass Autonomie als eine Form praktischer Autorität verstanden werden sollte. Dieser Vorschlag konnte verständlich machen, inwiefern die Tatsache, dass eine Person autonom ist, einen Grund für die Unterlassung von Eingriffen konstituiert (vgl. S. 202): Der Grund, der durch die Autonomie einer Person (bzw. ihre „autoritativen Anweisungen“, d. h. ihr Tun und ihr Leben) gestiftet wird, ist ein Grund, der vom Bestehen anderer Gründe abhängt (die für die Adressatinnen auch ohne die Anweisung der autonomen Person einschlägig wären) und diese anderen Gründe ersetzt. Nun wird klar, welche anderen Gründe der autonomiebezogene Grund ersetzt und von welchen Gründen er abhängt: Es sind die Gründe, die durch Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache gestiftet werden.
nicht unterdrücken, sie vollständig übergehen oder sie einfach anschließend umdrehen darf (z. B. durch die Behauptung „Er will es auch“, obwohl er sagte, er wolle es nicht). 156 Auch diese Einsicht beruht wieder auf den allgemeinen begrifflichen Zusammenhängen aus Anm. 154.
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7.2.5 Drei Ergebnisse Die Ausführungen zu den drei normativen Bedingungen haben auf drei Ergebnisse geführt: Erstens kann man jede der Bedingungen in einem umfassenden Sinne und in einem spezifischen Sinne auffassen. Wie eng oder weit die „eigene Angelegenheiten“ (die man zu regeln hat), „fremde Eingriffe“ (gegen die man sich zur Wehr zu setzen hat) oder „gemeinschaftliche Angelegenheiten“ (in denen man mitzureden hat) jeweils zu verstehen sind, hängt davon ab, ob die Autonomie einer Person eher hinsichtlich einzelner Entscheidungen bzw. Handlungen in Frage steht, oder ob es eher um ihre Autonomie in Bezug auf die gesamte Lebensführung (oder auch nur Teile der Lebensführung) geht. Der Unterschied zwischen der globalen und lokalen Perspektive aus Abschnitt 1.3 wird also reflektiert im unterschiedlichen Skopus, auf den sich die Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache erstrecken können. Zugleich wird deutlich, dass es sich dabei um einen fließenden Übergang handelt: Bestimmte psychische Krankheiten wie ein Eifersuchtswahn gegenüber dem Partner oder der Partnerin betreffen nicht das Leben als Ganzes, aber auch nicht einzelne Handlungen, sondern einen bestimmten, eng umgrenzten Bereich des Lebens. Einer Person, die an Eifersuchtswahn leidet, würde man nicht in einem globalen Sinne Autonomie absprechen (sie kann schließlich in vielen Bereichen ihres Lebens ungehindert dem nachgehen, was sie wirklich will), aber ihr Autonomiedefizit erstreckt sich auch nicht nur auf eine einzige Handlung (wie bei einer Affekttat) oder einen einzigen Typ von Handlung (wie bei einem Waschzwang). Zweitens hat sich gezeigt, dass das Vorliegen von jeder der drei Bedingungen sowohl von internen als auch von externen Faktoren abhängt: Damit man von einer Person berechtigterweise erwarten darf, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regelt, sich zur Wehr setzt oder in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitredet, müssen sowohl das Innenleben der Person als auch die äußere Welt gewisse „Bedingungen“ erfüllen. Diese „Bedingungen“ sind aber gerade keine Bedingungen der Autonomie, sondern Kriterien dafür, dass die (normativen) Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache erfüllt sind. Denn man findet die (internen oder externen) Kriterien nicht durch begriffliche Analyse der vorgeschlagenen Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit oder Mitsprache, sondern durch normative Einsichten über das, was man von einer Person an Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache verlangen kann. Die vorgeschlagenen Bedingungen der Autonomie sind somit irreduzibel normative Bedingungen, deren Vorliegen aber anhand von internen und externen Kriterien geprüft werden kann. Daraus folgt, dass es in normativer Hinsicht zwischen Selbst- und Weltverhältnissen keinen
290 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie grundsätzlichen Unterschied gibt: Beides ist für das Vorliegen von Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache gleichermaßen von Belang.157 Drittens ergibt sich aus der Unterscheidung zwischen (normativen) Bedingungen und (internen und externen) Kriterien eine Zweiteilung der philosophischen Aufgabe: In einem ersten Schritt geht es darum, die Bedingungen zu finden, die den (dicken normativen) Begriff Autonomie als Begriff ausmachen. Die vorliegende Arbeit argumentiert dafür, dass es sich bei diesen Bedingungen um Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache handelt. Die Behauptung ist, dass man von einer Person, von der man in keiner Hinsicht sagen kann, dass sie ihre Angelegenheiten regeln, sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzen oder in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitreden kann, auch in keiner Hinsicht sagen kann, dass sie autonom ist. Man kann also den Begriff Autonomie nur dort ins Spiel bringen und anwenden, wo man auch die Begriffe Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache ins Spiel bringen und anwenden kann. In einem zweiten Schritt geht es dann aber darum, Kriterien dafür zu benennen, anhand derer man das Vorliegen der Bedingungen bestimmen kann. Da die Bedingungen normativer Art sind, die zum Ausdruck bringen, was man von Personen berechtigterweise erwarten darf, muss man normative Ethik betreiben, um diese Kriterien zu finden. Diese zweite Aufgabe ist nicht mehr Gegenstand dieser Arbeit; sie bleibt einer umfassenden Theorie der Selbstbestimmung vorbehalten. Damit lässt sich die vorgeschlagene normative Autonomiekonzeption wie folgt weiter präzisieren: Die normative Konzeption personaler Autonomie (zweite Präzisierung) I. II.
Siehe S. 270. (a) Jede der Bedingungen Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache kann mit einem lokalen und einem globalen Skopus angewendet werden. (b) Für jede der Bedingungen Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache gilt, dass ihre Erfüllung von internen und externen Kriterien abhängt. (c) Es ist Aufgabe der normativen Ethik herauszufinden, welche Kriterien für die Erfüllung der Bedingungen Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache jeweils ausschlaggebend sind.
157 Die vorgeschlagene Konzeption verwirft also These (III) des Trilemmas. In Abschnitt 7.5 erkläre ich genauer, warum das dennoch nicht auf die spezifischen Probleme des Interaktionalismus führt.
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7.3 Die Flexibilität der Bedingungen Die bisherigen Erklärungen zu den drei Bedingungen beschränkten sich darauf, lediglich einige Kriterien dafür anzudeuten, dass jeweils eine der drei Bedingungen überhaupt vorliegt. Ich habe aber keinen Versuch unternommen, diese Kriterien zu systematisieren und für jede Bedingung eine vollständige Liste von Merkmalen anzugeben, anhand derer man das Vorliegen von Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache überprüfen kann. Aus zwei Gründen ist es meines Erachtens schwierig, eine solche systematische Auflistung von (internen und externen) Kriterien zu liefern. Erstens hängt die Genauigkeit der Kriterien, anhand derer wir beurteilen, ob jemand seine eigenen Angelegenheiten regeln, sich wehren und mitreden kann, davon ab, was auf dem Spiel steht. Vor dem Strafgericht ist es beispielsweise entscheidend, sehr genau zu wissen, ob man vom Angeklagten angesichts einer bestimmten psychischen Erkrankung noch erwarten konnte, dass er sich gegen seinen Impuls, eine von ihm als bedrohlich empfundene Person zu verletzen, zur Wehr setzte – denn davon hängt das Ausmaß seiner Verantwortung und Schuld ab. Entsprechend versucht man sich mittels psychiatrischer Gutachten und anderer aufwändiger Verfahren ein möglichst genaues Bild davon zu machen, welchen Einfluss die Erkrankung auf die Straftat hatte. Wenn die Mutter des Angeklagten hingegen über seine Autonomie nachdenkt, um zu entscheiden, ob sie nun ohne Rücksprache mit ihm seinen Wocheneinkauf erledigen darf oder ob das schon seine Selbstbestimmung beschneidet, dann reichen ihr dafür vielleicht auch einige „Faustregeln“. Ein ähnliches Bild ergibt sich in der Medizinethik: Bei einer harmlosen Tetanus-Impfung reicht das Nicken oder ein bloßes „Ja“, damit die Ärztin davon ausgehen kann, dass die Person ihre eigenen Angelegenheiten regeln kann. Bei einem Schwangerschaftsabbruch oder bei der Einnahme der „Pille danach“ bedarf es schon eines ausführlicheren Gesprächs zwischen Ärztin und Patientin und teils auch einer schriftlichen Erklärung, um sich zu vergewissern, dass jemand eine derart wichtige eigene Angelegenheit wie die eigene Familienplanung auch wirklich selbst in die Hand nehmen kann. Noch anspruchsvoller sind die Kriterien dort, wo es um Leben und Tod geht, wie beispielsweise bei einer Patientenverfügung für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit: Es wird sehr eingehend geprüft, unter welchen Umständen eine Verfügung zustande gekommen ist, wie alt sie ist, was der mutmaßliche heutige Wille der Person wäre etc. Dies dient dazu, sich ein genaues Bild davon zu machen, in welchem Maß die Person zum Zeitpunkt der Verfügung in der Lage war, eine ihrer eigenen Angelegenheiten zu regeln, und auszuschließen, dass die psychische Belastung unter einer schweren Erkrankung oder der Trübsinn über die ungünstige Prognose die Verfügung beeinflusste. Je schwerwiegender die Entscheidung, desto genauer müssen die Kriterien sein, an-
292 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie hand derer das Vorliegen der für Autonomie konstitutiven Bedingungen (in diesem Fall: Mündigkeit) bestimmt wird. Die genaue Ausformulierung der Kriterien für Autonomie (bzw. genauer: für die Bedingungen der Autonomie) ist also variabel. Ihre Genauigkeit hängt davon ab, was auf dem Spiel steht: Je mehr von der Antwort auf die Frage der Autonomie abhängt, desto genauer und zuverlässiger müssen die Kriterien sein, anhand derer wir feststellen, ob Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache gegeben sind. Diese These erzeugt eine gewisse „Kontextualisierung“ der Frage nach Autonomie: Es kommt auf einen bestimmten Aspekt des Kontexts an, in dem sich die Frage nach der Autonomie stellt. Dennoch resultiert daraus keine „Kontextualisierung“ der Autonomie (bzw. des Begriffs Autonomie). Denn anders als bei der in Abschnitt 1.4 zurückgewiesenen kontextualistischen These kommt die Kontextabhängigkeit nicht auf der Ebene der Bedingungen für Autonomie (d. h. auf der Ebene des Begriffs Autonomie) ins Spiel, sondern auf der Ebene der Kriterien für die Bedingungen der Autonomie (d. h. auf der Ebene der normativen Maßstäbe, anhand derer wir feststellen, ob man von jemandem berechtigterweise erwarten darf, dass er seine eigenen Angelegenheiten regelt, sich zur Wehr setzt und in gemeinschaftlichen Dingen mitredet). Die Bedingungen der Autonomie sind also stets dieselben – die Kriterien für diese Bedingungen hingegen variieren je nachdem, was von der Antwort auf die Frage nach der Autonomie abhängt. Der zweite Grund, warum es meines Erachtens schwierig sein dürfte, eine systematische Auflistung von (internen und externen) Kriterien für das Vorliegen der drei Bedingungen zu geben, ist der folgende: Selbst innerhalb eines Kontexts (selbst wenn man also das, was auf dem Spiel steht, konstant hält) scheint die Frage, was wir von einer Person in Bezug auf Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache erwarten dürfen, sehr stark von der individuellen Person, ihrer besonderen Vorgeschichte, ihrem speziellen sozialen Umfeld und ihrer konkreten Entscheidungssituation abzuhängen. Es lässt sich nicht a priori klären, ob ein Mönch, der im Orden dem strengen Regiment des Abtes unterstellt ist, im Hinblick auf seine Selbstbestimmung eher dem indoktrinierten Mitglied einer Sekte oder eher der Eremitin, die in der Einsamkeit in den Bergen ihre Erfüllung findet, ähnelt. Das hängt eher von der konkreten Situation ab, in der sich die betreffende Person als Individuum befindet: Kann der Mönch beispielsweise jeden Moment aus dem Orden austreten? Wird diesbezüglich Druck auf ihn ausgeübt, in der Ordensgemeinschaft zu bleiben? Hat ihn das Klosterleben so verändert oder „ideologisiert“, dass er nicht mehr zurücktreten und seine Lebenspläne reflektieren kann? Wuchs er in einem erzkatholischen Umfeld auf? Hat er vielleicht einen „guten Draht“ zum Abt und kann auf diese Weise Einfluss auf dessen Entschlüsse nehmen? Erst wenn wir über diese Fragen und den jeweiligen Fall als Ganzes besser Bescheid wissen, können wir uns ein Bild davon machen, wie es um die Mündigkeit, Wehrhaftigkeit
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und Mitsprache des Mönchs bestellt ist. Auch im Fall einer kritischen Bürgerin der ehemaligen DDR, die gerne ausreisen will, der aber viele Hindernisse in den Weg gelegt werden, muss man die genauen Umstände des Falls kennen, um beurteilen zu können, ob man von ihr noch berechtigterweise erwarten kann, dass sie sich gegen die Verweigerung der Ausreisebewilligung mit allen Mitteln zur Wehr setzt. Das hängt beispielsweise davon ab, mit welchen Repressalien gerade sie zu rechnen hatte: Wenn ihr beispielsweise damit gedroht wurde, ihr das Kind wegzunehmen, scheint man nicht mehr zu Recht verlangen zu können, dass sie sich weiter zur Wehr hätte setzen müssen (und sofern sie sich dann auch tatsächlich nicht zur Wehr gesetzt hat, gilt sie auch nicht als autonom im Hinblick auf ihr Verbleiben im Land). Ist sie hingegen kinderlos, kann sich ihre Autonomie nicht an diesem Aspekt des DDR-Regimes (dass ausreisewillige Mütter damit zu rechnen hatten, dass ihnen ihre Kinder genommen wurden) entscheiden. Es scheint somit, als seien die Kriterien für das, was man von einer bestimmten Person jeweils berechtigterweise an Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache erwarten darf, in hohem Maße sensibel für die Eigenheiten des partikularen Falls. Es ist allerdings wichtig, die Sensitivität für den partikularen Fall158 an der richtigen Stelle zu verorten. Denn anders als bei der in Abschnitt 2.6 zurückgewiesenen, skeptischen Position von Richard Double (1992) ist die Behauptung nicht, dass die Bedingungen personaler Autonomie vom Einzelfall (und insbesondere dem Individuum, um dessen Autonomie es geht) abhängen. Die Behauptung ist vielmehr, dass es vom Einzelfall unabhängige Bedingungen gibt, an denen sich die Frage der Autonomie einer Person entscheidet (nämlich die Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache) – dass aber die Kriterien, die uns das Vorliegen der Bedingungen anzeigen, sehr spezifisch für den Einzelfall sind. Auch die vorgeschlagene Konzeption personaler Autonomie ist also im Sinne Doubles eine „objektive“ (vgl. S. 62), denn sie versteht Autonomie nach dem Schema (S 1)
Es gibt eine Menge von Bedingungen B, so dass für jede Person S gilt: S ist genau dann autonom, wenn B.
Eine „Subjektivierung“ der Autonomie findet in der vorgeschlagenen Konzeption somit nicht statt. Wenn die beiden bisherigen Überlegungen zutreffen, dann hängen die Kriterien (bzw. normativen Standards), anhand derer wir bemessen, welches Maß an Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache man berechtigterweise von einer Person erwarten darf, von zwei weiteren Faktoren ab: zum einen vom Kontext, in
158 Young (1980, 570) spricht von „person-relativity“.
294 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie dem man die Frage nach der Autonomie stellt (und was dabei auf dem Spiel steht), und zum anderen auch von der individuellen Person, um die es geht. Es scheint, als bräuchte man bisweilen ein hohes Maß an Urteilskraft, um das Vorliegen der einzelnen Bedingungen jeweils festzustellen. Selbst wenn man jedoch weiß, ob einzelne Bedingungen vorliegen oder nicht vorliegen, so hat man damit noch nicht immer auch eine Antwort auf die Frage nach der Autonomie einer Person. Denn bisher hieß es stets, dass eine Person genau dann in paradigmatischer Weise autonom ist, wenn alle drei Bedingungen zugleich erfüllt sind. Das lässt aber offen, wie man Fälle einzuschätzen hat, in denen eine Person nicht alle Bedingungen, sondern nur eine echte Teilmenge davon erfüllt. Dies führt zu einer Frage, die ich bisher ausgeklammert habe: In welchem Verhältnis stehen die drei Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache, und wie spielen sie gegebenenfalls zusammen? Grundsätzlich sind die drei Bedingungen eigenständig; keine lässt sich auf eine oder eine Kombination der beiden anderen zurückführen. Das liegt daran, dass sie jeweils unterschiedliche Bereiche beschreiben, in denen eine Person praktische Autorität ausübt: Nach der Bedingung der Mündigkeit muss eine Person ihre eigenen Angelegenheiten regeln können. Das erfordert vor allem Kompetenz im Umgang mit sich selbst und seiner inneren Welt: Man muss beispielsweise innere Zerrissenheit (sofern sie einen handlungsunfähig macht) überwinden oder kompensieren können; man muss sich darüber klar sein, was man will; man muss sein Leben in die Hand nehmen können; man muss in der Lage sein, sich auf etwas festzulegen. Die zweite Bedingung der Wehrhaftigkeit betrifft eher den Umgang mit der äußeren Welt, insofern diese auf die Person wirkt und die Person vor Herausforderungen stellt: Zwang, Druck, Manipulation, Unterdrückung, Hypnose, „Gehirnwäsche“, Vereinnahmungen durch Dritte oder die Wirkungen einer unreflektierten Sozialisierung oder Erziehung sind äußere Einflüsse, die an eine Person herangetragen werden, und die in bestimmten Ausprägungen159 zur Folge haben, dass die Person sich nicht dagegen wehren kann und ihnen ausgeliefert ist. Gemäß der dritten Bedingung der Mitsprache hingegen muss eine Person Autorität ausüben im Umgang mit der äußeren Welt, insofern die Person auf diese wirkt: Wer in gemeinschaftlichen Angelegenheiten, die ihn betreffen, mitredet, der bringt sich in Angelegenheiten ein, die außerhalb des Bereichs der „eigenen“ Angelegenheiten liegen, die die erste Bedingung betrifft; auf diese Weise gestaltet er die soziale Welt, die ihn umgibt, auch ein Stück weit mit (und „wirkt“ insofern auf die äußere Welt). Um die Parallele zur Autonomie einer polis zu verdeutlichen, kann man den unterschiedlichen Fokus der drei Bedingungen bildlich auch so beschreiben: Wäh-
159 Welche das sind, richtet sich wie gesagt nach normativen Maßstäben.
7.3 Die Flexibilität der Bedingungen |
295
rend Mündigkeit die „innere Welt“ und die Gestaltung innerhalb des Bereichs der „eigenen Angelegenheiten“ (sozusagen die „Innenpolitik“) betrifft, geht es bei der Wehrhaftigkeit um die Abwehr von Bedrohungen, die von außen an diese innere Welt herangetragen werden (das ist sozusagen die „Verteidigungspolitik“); die Mitsprache hingegen zielt auf den Versuch, die äußeren Bedingungen, in welche die „innere Welt“ eingebettet ist, aktiv zu gestalten (sozusagen „Außenpolitik“ zu betreiben). Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache betreffen grundsätzlich also recht verschiedene Bereiche. Das heißt aber nicht, dass die Bereiche gar nichts miteinander zu tun haben. Insbesondere gibt es Faktoren, die mehrere dieser Bereiche zugleich betreffen können: Wenn Adele sich beispielsweise in ein überambitioniertes Projekt verrennt und sich etwas in den Kopf gesetzt hat, das sich dann in ihr verselbstständigt, oder wenn Bert ein Bedürfnis (etwa eine homoerotische Neigung) in sich verspürt, von dem er entfremdet ist, dann betrifft dies Adeles und Berts Autonomie auf zweifache Weise: Zum einen ist ihre Mündigkeit betroffen; denn unsere sexuellen Neigungen und unsere Projekte sind „eigene Angelegenheiten“ und Adele und Bert haben in diesen Bereichen Schwierigkeiten, ihre Angelegenheiten zu regeln. Insofern fehlt es ihnen in Bezug auf diese Bereiche auch an Mündigkeit. Zum anderen ist auch ihre Wehrhaftigkeit betroffen, denn Adele und Bert können sich gegen etwas Fremdes in ihnen nicht zur Wehr setzen.160 In diesen Fällen ist es sogar so, dass Adele und Bert an Mündigkeit in den eigenen Angelegenheiten verlieren, weil sie sich gegen einen fremden Einfluss, der die eigenen Angelegenheiten betrifft und von innen heraus wirksam wird, nicht zur Wehr setzen können. Die drei Bedingungen lassen sich also grundsätzlich voneinander unterscheiden, aber es können – wie im Fall von Adele und Bert – auch mehrere der Bedingungen zugleich von denselben Faktoren betroffen werden: Eine Sucht beeinträchtigt in der Regel Mündigkeit und Wehrhaftigkeit, ein Unterdrückungsregime erschwert Wehrhaftigkeit und Mitsprache.161 Tatsächlich gilt nun für paradigmatische Fälle von Autonomie oder Heteronomie, dass alle drei Bedingungen zugleich erfüllt
160 Beide werden ein gewisses Gefühl der Hilflosigkeit verspüren: Adele gegenüber dem, was sie sich in den Kopf gesetzt hat, und Bert gegenüber seiner Neigung. 161 Zeigt dies nicht, dass die vorgeschlagenen Bedingungen gar nicht distinkt sind? Nein, es zeigt lediglich, dass manche Phänomene die Autonomie von Personen auf mehreren Ebenen bedrohen oder einschränken können – dass Autonomie also auf verschiedenen Wegen verhindert werden kann. Dass eine bestimmte Tatsache (wie Sucht) hinreichend dafür ist, dass gleich mehrere andere Tatsachen (wie Mündigkeit oder Wehrhaftigkeit) nicht bestehen, impliziert allerdings nicht, dass diese anderen Tatsachen nicht distinkt sind: Ein Mann zu sein ist hinreichend dafür, keine Witwe zu sein, und auch hinreichend dafür, keine Jungfrau zu sein – und dennoch ist Jungfrau zu sein doch etwas sehr anderes als Witwe zu sein.
296 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie oder nicht erfüllt sind: Kleinkinder oder geistig und körperlich schwer behinderte Menschen können ihre eigenen Angelegenheiten nicht regeln, sind wehrlos gegenüber Instrumentalisierungen, Manipulationen oder körperlichen Angriffen und können sich nicht in gemeinschaftliche Entscheidungen einbringen. Eine an einen Stuhl gefesselte Person ist ihrem Peiniger vollständig ausgeliefert; sie kann sich nicht wehren, ihre eigenen Angelegenheiten (wie die Nahrungsaufnahme) nicht regeln und auch nicht mitreden, wenn es um die Frage geht, wann das Fenster im Zimmer, in dem sie mit ihrem Stuhl sitzt, geschlossen oder geöffnet wird. Und einer unterdrückten Frau in Afghanistan, der alle Schulbildung vorenthalten wurde, sprechen wir Autonomie ab, weil wir von ihr angesichts fehlender Bildung und gesellschaftlicher Repressionen nicht erwarten können, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regelt, sich gegen die gesellschaftliche und innerfamiliäre Unterdrückung wehrt und sich in gemeinschaftlichen Angelegenheiten zu Wort meldet. Umgekehrt erfüllt jemand wie Barack Obama, den man als besonders autonome Person ansehen kann, alle drei Bedingungen zugleich (vgl. dazu die Biographie von Remnick 2010): Einerseits ist er in hohem Maße fähig, seine eigenen Angelegenheiten zu regeln – er ist ein äußerst selbstreflektierter Mensch, der eine wissenschaftliche, schriftstellerische und politische Karriere erfolgreich verfolgen und diese mit einem erfüllenden Familienleben in Einklang bringen kann. Andererseits zeichnet er sich durch seine Resilienz und seine Fähigkeit aus, gegen verschiedene Widrigkeiten angehen zu können: Er wuchs als Kind einer sozial geächteten Ehe zwischen seiner „weißen“ Mutter und seinem „schwarzen“ Vater auf; sein Vater verließ die Familie früh und so lebte Obama zunächst mit seiner alleinerziehenden, noch studierenden Mutter ohne Einkommen, später dann sogar ohne seine Mutter (die in Indonesien lebte) bei seinen Großeltern; rassistische Ressentiments begleiteten seine Schulzeit. Drittens hat Obama seit seiner späten Jugend ein politisch engagiertes Leben geführt und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zunächst als Sozialarbeiter, dann als Politiker aktiv mitgestaltet; auch im Hinblick auf die Bedingung der Mitsprache ist er also ein Musterbeispiel an Autonomie. So wie die vorgeschlagene normative Konzeption personaler Autonomie bisher eingeführt wurde, beanspruchte sie also lediglich, derartige paradigmatische Fälle von (fehlender) Selbstbestimmung abzudecken. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass die drei Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache zugleich erfüllt oder zugleich nicht erfüllt sind. Doch da die drei Bedingungen eigenständig sind, fallen sie nicht immer zusammen – es gibt also nicht nur paradigmatische Fälle von Selbst- und Fremdbestimmung. Eine Person kann beispielsweise mündig sein, es aber an Wehrhaftigkeit vermissen lassen. Dort, wo die Bedingungen auseinander fallen, haben wir es mit in Bezug auf die Autonomie unklaren Fällen zu tun.
7.3 Die Flexibilität der Bedingungen |
297
Stellen wir uns dazu den jungen Studenten Tom vor, der aufgrund einer existenziellen Verunsicherung und mittelschweren Depressionen nicht in der Lage ist, seine eigenen Angelegenheiten zu regeln (und beispielsweise völlig damit überfordert ist, den Abschluss seines Studiums oder seine berufliche Zukunft in die Hand zu nehmen). Er verzweifelt an seiner Entscheidungsunfähigkeit und ist in Bezug auf Entscheidungen, die ihn selbst und das, was er mit seinem Leben anfangen will, betreffen, wie gelähmt. Er hat hingegen keine Schwierigkeiten, sich bei den in seiner Wohngemeinschaft anstehenden Entscheidungen einzubringen, hat neue Vorschläge für den gemeinsamen Kochabend, die Renovierung des leer stehenden Zimmers und die nächste WG-Party. Auch verfolgt er das politische Tagesgeschehen aufmerksam und kritisch und bildet sich seine eigenen Meinungen. Tom hat offenbar ein Problem mit der Bedingung der Mündigkeit, aber keines mit der Bedingung der Mitsprache. In einem derartigen Fall ist es nicht klar, wie man Toms Autonomie insgesamt einzuschätzen hat: Ist er eine autonome Person? Einerseits kann er wesentliche Aspekte seines Lebens (seine berufliche Zukunft) nicht selbst in die Hand nehmen, andererseits kann er bei anderen wesentlichen Aspekten seines Lebens (seinem Sozialleben) Verantwortung übernehmen und mitgestalten. Ähnlich unsicher sind wir auch bei dem Leben eines Mönchs: Einerseits muss er dem Willen des Abtes Folge leisten und kann in Angelegenheiten, die ihn betreffen, aber von anderen (sprich: dem Abt) entschieden werden, nicht mitreden. Ihm fehlt es an Mitsprache. Andererseits hat er sich wohlüberlegt und mit gewissen Überzeugungen über ein gutes, gelungenes Leben dafür entschieden, in den Orden einzutreten und findet darin Erfüllung; er scheint also seine eigenen Angelegenheiten gut regeln zu können und erfüllt darum die Bedingung der Mündigkeit. Folglich sind wir unsicher, wie wir den Mönch im Hinblick auf seine Autonomie einzuschätzen haben. Wenn also nur eine echte Teilmenge der drei Bedingungen für Autonomie erfüllt ist, dann sind wir in unseren vortheoretischen Intuitionen nicht mehr so sicher, ob eine Person noch oder schon als autonom anzusehen ist. Im Einklang mit der Normativitätsthese wissen wir auch nicht so recht, wie wir mit der Person umgehen sollen: Darf man Tom behandeln wie eine Person mit einer schweren psychischen Störung? Und darf man den Mönch behandeln wie das indoktrinierte Mitglied einer Sekte? Im Lichte der Normativitätsthese lässt sich die Schwierigkeit mit unklaren Fällen als ein normatives Unbehagen verstehen: Um die Frage der Autonomie des Studenten oder des Mönchs zu klären, müssen wir feststellen, ob ein inhaltsunabhängiger Grund vorliegt, Eingriffe in ihre Lebensweise zu unterlassen. Bei einer Person mit einer schweren psychischen Störung oder bei einem indoktrinierten Sektenmitglied ist keine der drei Bedingungen personaler Autonomie erfüllt, weil unsere normativen Ansprüche nicht erfüllt sind: Man kann von ihnen nicht berechtigterweise erwarten, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regeln,
298 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie dass sie sich zur Wehr setzen oder dass sie in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitreden. Es handelt sich somit um paradigmatische Formen von Heteronomie und entsprechend ist unstrittig, dass der autonomiebezogene Grund, Eingriffe zu unterlassen, nicht vorliegt. Bei Tom und dem Mönch hingegen können wir nur einiges nicht berechtigterweise erwarten, was wir auch vom psychisch Kranken oder indoktrinierten Sektenmitglied nicht erwarten können – anderes hingegen schon. Um hier zu entscheiden, ob der autonomiebezogene Grund, Eingriffe zu unterlassen, vorliegt oder nicht (und damit: um die Frage der Autonomie zu entscheiden), müssen wir zu einer neuen normativen Einschätzung gelangen: Wir müssen herausfinden, ob der autonomiebezogene Grund, Eingriffe zu unterlassen, bereits dann vorliegt, wenn man einerseits von Tom nicht berechtigterweise erwarten darf, dass er seine eigenen Angelegenheiten regelt, andererseits aber durchaus berechtigterweise erwarten darf, dass er in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitredet (oder wenn man, wie beim Mönch, einerseits berechtigterweise erwarten darf, dass er seine eigenen Angelegenheiten regelt, aber andererseits nicht erwarten darf, dass er in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitredet). Das ist eine schwierige Frage, deren Beantwortung in die Zuständigkeit der normativen Ethik fällt – schließlich geht es dabei um die Gewichtung verschiedener normativer Ansprüche. Die vorgeschlagene Konzeption hilft aber zu verstehen, was in unklaren Fällen eigentlich unklar ist (nämlich die Gewichtung verschiedener normativer Ansprüche) und in welcher Richtung man weiter suchen muss, um die Unklarheiten zu beseitigen. Die vorgeschlagenen Bedingungen der Autonomie müssen nach den Überlegungen dieses Abschnitts also in dreifacher Hinsicht „flexibilisiert“ werden: Erstens hängt die Genauigkeit (bzw. Schärfe) der Kriterien, anhand derer wir bemessen, welches Maß an Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache man von einer Person erwarten darf, davon ab, was bei der Frage nach der Autonomie einer Person auf dem Spiel steht. Zweitens hängen diese Kriterien in hohem Maße von der individuellen Person, ihrer besonderen Vorgeschichte, ihrem speziellen sozialen Umfeld und ihrer konkreten Entscheidungssituation ab. Und drittens gibt es eine Klasse von unklaren Fällen, wenn nicht alle drei Bedingungen zugleich erfüllt (oder zugleich nicht erfüllt) sind. Damit lässt sich die vorgeschlagene Konzeption nun wie folgt präzisieren: Die normative Konzeption personaler Autonomie (dritte Präzisierung) I. Siehe S. 270. II. Siehe S. 290. III. (a) Die Schärfe dieser Kriterien hängt davon ab, was bei der Frage nach der Autonomie einer Person auf dem Spiel steht.
7.4 Das persönliche Ideal der Autonomie |
299
(b) Die Kriterien, die eine Person erfüllen muss, damit man von ihr berechtigterweise ein bestimmtes Maß an Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache erwarten darf, hängen von individuellen Faktoren (ihrer Persönlichkeit, ihrer Lebenssituation, ihrer Vorgeschichte etc.) ab. (c) Eine Person ist paradigmatisch heteronom, wenn keine der drei Bedingungen erfüllt ist; wenn nur eine oder zwei Bedingungen erfüllt sind, liegt ein unklarer Fall vor, dessen Klärung im Bereich der normativen Ethik angesiedelt ist.
7.4 Das persönliche Ideal der Autonomie Der bisherige Vorschlag bewegte sich innerhalb der drittpersonalen Perspektive, in der es um unseren Umgang mit der Autonomie von anderen Personen geht. Dabei ist für uns stets nur entscheidend, ob die Personen als autonom gelten oder nicht – entsprechend verändern sich unsere normativen Beziehungen zu ihnen. Die vorgeschlagenen Bedingungen personaler Autonomie waren entsprechend „binäre“ Bedingungen: Sie lagen entweder vor oder nicht vor, aber es gab kein Mehr oder Weniger. Eingangs der Untersuchung habe ich jedoch auf ein zweites wichtiges Interesse hingewiesen, das wir an personaler Autonomie haben (vgl. Abschnitt 1.3): Wir wollen wissen, wie wir unsere eigene Autonomie herstellen sollen. Unter dieser erstpersonalen Perspektive wird Autonomie zu einem persönlichen Ideal, das man mehr oder weniger gut realisieren kann (das also kontinuierlich abstufbar ist). Es stellt sich nun die Frage, was die vorgeschlagene Konzeption zu Autonomie als einem persönlichen Ideal zu sagen hat. In Abschnitt 1.3 habe ich darauf hingewiesen, dass man kontinuierlich abstufbare Begriffe auch aus der „Entgrenzung“ eines binär strukturierten Begriffs gewinnen kann. Dazu muss man die Grenze, die an einer bestimmten Stelle gezogen wird, um einen (für uns in praktischer oder theoretischer Hinsicht bedeutsamen) Unterschied zu machen, aufheben. Dieses Verfahren lässt sich auch auf die vorgeschlagenen Bedingungen personaler Autonomie anwenden: Wir können die Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache nämlich auch von einem Standpunkt aus betrachten, bei dem es uns nicht darauf ankommt, ob man seine Angelegenheiten regeln kann, sich zur Wehr setzen kann und sich in gemeinschaftlichen Angelegenheiten einbringen kann (wobei sich dieses „ob“ an normativen Standards bemisst), sondern wo es uns darauf ankommt, wie gut man das kann. Wir können dann von einer Person (und insb. von uns selbst) sagen, dass sie eine Angelegenheit besser oder schlechter regeln, sich gegen einen fremden Eingriff besser oder schlechter zur Wehr setzen und sich in einer gemeinschaft-
300 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie lichen Angelegenheit besser oder schlechter einbringen kann. Zudem kommt es uns nicht nur darauf an, wie gut man etwas in Bezug auf eine einzelne eigene oder gemeinschaftliche Angelegenheit oder einen bestimmten Eingriff tun kann, sondern darauf, in Bezug auf wie viele eigene Angelegenheiten, fremde Eingriffe und gemeinsame Angelegenheiten man das kann: Man kann dann von einer Person sagen, dass sie viele oder wenige ihrer eigenen Angelegenheiten (besser oder schlechter) regeln kann, dass sie sich gegen viele oder wenige fremde Eingriffe (besser oder schlechter) zur Wehr setzen kann und dass sie sich in viele oder wenige gemeinschaftliche Angelegenheiten (besser oder schlechter) einbringen kann. Von diesem Standpunkt aus sind wir nicht an einer Grenze interessiert, anhand derer wir entscheiden, wie wir mit jemandem umgehen sollen; vielmehr interessiert uns unter diesem Blickwinkel, in welchem Maße und in welchem Umfang eine Person jeweils ein Ideal realisiert (und insb. in welchem Maße und welchem Umfang wir selbst diese Ideale realisieren). Das Ideal besteht dann jeweils darin, dass man die Art und Weise des Tuns – der Regelung der eigenen Angelegenheiten, der Gegenwehr gegen fremde Eingriffe und der Mitsprache in gemeinschaftlichen Angelegenheiten – perfektioniert (es also möglichst gut tut) und ausweitet (es also hinsichtlich möglichst vieler Dinge tut). Durch zwei Formen der Entgrenzung (Perfektionierung und Ausweitung) ergeben sich aus den Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache somit drei Ideale. Rein formal lassen sich diese Ideale beschreiben als das Streben danach, möglichst viele eigene Angelegenheiten bestmöglich zu regeln, sich gegen möglichst viele fremde Eingriffe bestmöglich zur Wehr zu setzen und sich in möglichst viele gemeinschaftliche Angelegenheiten bestmöglich einzubringen. Auf diese drei Ideale kann man mit den (ebenfalls dicken normativen) Begriffen Autarkie, Emanzipation und Engagement Bezug nehmen. Das persönliche Ideal der Selbstbestimmung besteht dann aus den drei Komponenten Autarkie, Emanzipation und Engagement. Wenn man im Sinne eines Ideals autonomer werden möchte, sollte man also danach streben, autark, emanzipiert und engagiert zu leben. Um genauer zu wissen, worin diese drei Ideale jeweils bestehen, müsste man wiederum Ethik (diesmal aber eher im antiken Sinne, d. h. als die Frage nach einem gelungenen Leben) betreiben: Man muss normative Indikatoren dafür finden, dass jemand etwas „bestmöglich“ tut. Ich werde an dieser Stelle nicht versuchen, die normativen Indikatoren (die dann Kriterien, nicht aber Bedingungen für Autonomie als Ideal sind) herauszuarbeiten und zu systematisieren. An dieser Stelle kommt es mir lediglich darauf an, anhand einiger Beispiele zwei Punkte zu verdeutlichen: Erstens kann man die Ideale der Autarkie, Emanzipation und des Engagements sowohl mit globalem Bezug (auf die gesamte Lebensführung einer Person) als auch mit lokalem Bezug (auf einzelne Handlungen) anwenden. Und zweitens finden sich unter den
7.4 Das persönliche Ideal der Autonomie |
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Kriterien, anhand derer man über das Vorliegen von Autarkie, Emanzipation und Engagement entscheiden kann, sowohl interne als auch externe Faktoren. Zunächst zur Autarkie: Seine Mündigkeit zu perfektionieren und auszuweiten heißt, möglichst viele der eigenen Angelegenheiten bestmöglich selbst zu regeln.162 Das kann – je nach den individuellen Defiziten – sich darin zeigen, dass man sich bildet und Wissen (etwa über das Steuerrecht) erwirbt, dass man versucht, innerlich ausgeglichener zu werden und sich selbst besser zu beherrschen (damit man sich nicht ständig selbst im Weg steht), oder dass man seinem Bauchgefühl mehr vertraut und lernt, besser auf seine Gefühle zu achten (damit einem die eigene „Verkopftheit“ das Leben und wichtige Entscheidungen nicht zu schwer macht). Neben diesen internen Faktoren sind aber auch externe Faktoren dafür relevant, ob und in welchem Umfang man seine Angelegenheiten bestmöglich selbst regeln kann: Wenn einer Person der sehnlichst erwünschte Beruf nicht offen steht (sei es, weil sie aufgrund von Diskriminierung keine Erlaubnis bekommt, den Beruf auszuüben, sei es, weil die Gesellschaft zu wenig Studienplätze anbietet), dann kann die Person eine ihrer eigenen Angelegenheiten gerade nicht (oder nicht bestmöglich) regeln. Hier wird das Ziel der Autarkie verfehlt, weil die Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dazu führt, dass die Regelung der eigenen Angelegenheiten sich nicht wie erforderlich auf den vollen Umfang („möglichst viele“) erstreckt und auch nicht „bestmöglich“ verläuft (weil der tatsächlich gewählte Beruf eben nur „zweite Wahl“ ist). Die Perfektionierung und Ausweitung von Mündigkeit zielt also auf die Herstellung einer inneren und äußeren Selbstständigkeit – eben: Autarkie –, bei der man für die Erledigung der eigenen
162 An dieser Stelle ist eine Klarstellung angebracht (die ich Monika Betzler verdanke): Es wäre ein Missverständnis der vorgeschlagenen Konzeption, wenn man „Autarkie“ hier in einem stärkeren Sinne verstünde, nämlich als Verzicht auf Abhängigkeiten durch persönliche Beziehungen oder Streben nach sozialer Isolation – eine Vorstellung, die oft insb. von sozial-relationalen Autonomiekonzeptionen kritisiert wird (siehe exemplarisch Mackenzie und Stoljar 2000a, 5–10). Die Autarkie, um die es hier geht, ist insofern bereichsspezifisch, als sie sich allein auf die Regelung eigener Angelegenheiten beschränkt und sich nicht auf alle Angelegenheiten des Lebens erstreckt. Und selbst in diesem eingegrenzten Bereich impliziert Autarkie bezüglich der eigenen Angelegenheiten nicht zwangsläufig auch einen Verzicht auf persönliche Beziehungen: Vielleicht ist es für manche der einzige Weg, um eine eigene Angelegenheit selbst zu regeln, einen Freund aufzusuchen und ihm alles zu erzählen (der Freund soll „einfach nur da sein“). Dass das hier skizzierte Ideal der Autonomie die autonome Person nicht als eine Monade charakterisiert, sieht man insbesondere auch an der dritten Komponente des Ideals (Engagement): Bei der Gestaltung möglichst vieler gemeinschaftlicher Angelegenheiten bestmöglich mitzureden setzt voraus, dass man viele soziale Beziehungen eingeht und pflegt. Darum ist die These, dass Autarkie im eingeführten, bereichsspezifischen Sinne ein Bestandteil des Ideals der Autonomie ist, von der sozial-relationalen Kritik nicht betroffen.
302 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie Angelegenheiten auf möglichst niemanden und nichts angewiesen ist.163 Dabei kann man das Ideal der Autarkie nicht nur, wie in den angedeuteten Beispielen, in Bezug auf das gesamte Leben oder in Bezug auf Aspekte des Lebens (z. B. in finanziellen und steuerlichen Angelegenheiten, in Bezug auf einen cholerischen oder „verkopften“ Charakter oder in Bezug auf das Berufsleben) verfehlen. Man kann dem Ideal der Autarkie auch bei einzelnen Handlungen nicht gerecht werden – etwa dann, wenn man ambivalent ist bezüglich der Wahl der Praktikumsstelle oder wenn man zur Sahnetorte greift, obwohl man abnehmen möchte. Es gibt nämlich eine Hinsicht, in der ambivalente und willensschwache Entscheidungen defizitär sind, und wenn davon eigene Angelegenheiten betroffen sind, regelt eine ambivalente oder willensschwache Person ihre eigenen Angelegenheiten bei diesen defizitären Entscheidungen eben nicht bestmöglich:164 Insofern sie bei der bestmöglichen Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten von ihrem schwachen Willen oder ihrer Unentschlossenheit „behindert“ wird, fehlt es ihr an innerer Selbstständigkeit (Autarkie). Ähnliches gilt auch für Emanzipation: Seine Wehrhaftigkeit zu perfektionieren und auszuweiten heißt, sich gegen möglichst viele fremde (innere und äußere) Eingriffe bestmöglich zur Wehr zu setzen. Das kann sich darin zeigen, dass man soziale Kontexte meidet, wenn diese einen zu vereinnahmen drohen; aber es kann auch heißen, diese Kontexte aktiv umzugestalten. Was in diesem Fall die bestmögliche „Abwehrmaßnahme“ ist, hängt davon ab, ob sich der soziale Kontext, der einen zu vereinnahmen droht, umgestalten lässt: Mit seiner Vorgesetzten kann man ein Gespräch suchen, so Einfluss auf ihr Verhalten nehmen und das unmittelbare Umfeld verändern; wenn die Vereinnahmungsgefahr aber eher von einem institutionellen System ausgeht, wird es schwieriger (das Hochschulsystem als Ganzes lässt sich beispielsweise nicht durch eine einzelne Person umgestalten), und die bestmögliche „Abwehrmaßnahme“ kann dann darin bestehen, das System zu verlassen. Insofern hängt das, was Emanzipation erfordert, von den Umständen der äußeren Welt ab. Es hängt aber auch von den Umständen der inneren Welt ab:
163 Das heißt wie gesagt natürlich nicht, dass man nicht bei anderen Angelegenheiten, die nicht allein einen selbst betreffen, auf andere Personen angewiesen sein darf. Autarkie ist also mit persönlichen Beziehungen und Bindungen vereinbar (siehe Anm. 162). 164 Willensschwäche ist eine Schwäche, einer Neigung widerstehen zu können, die einen dazu bringt, etwas zu tun, was man nicht für das alles in allem betrachtet Beste hält, und das betrifft gleich zwei Komponenten der Autonomie: Insofern diese Schwäche verhindert, dass man das tut, was man für das Beste hält, verhindert sie (dort, wo es um eine eigene Angelegenheit geht), dass man seine eigenen Angelegenheiten bestmöglich regelt – dies betrifft die Komponente der Autarkie. Insofern diese Schwäche aber auch darin besteht, einer Neigung nicht widerstehen zu können, verhindert sie, dass man sich bestmöglich gegen fremde (innere) Eingriffe zur Wehr setzt – und dies betrifft die Komponente der Emanzipation. Siehe dazu den folgenden Absatz.
7.4 Das persönliche Ideal der Autonomie |
303
Wenn eine Person einen unerschütterlichen Charakter aufweist, dann kann die beste Abwehrreaktion auch darin bestehen, einen „inneren Schutz“ aufzubauen, an dem die Vereinnahmungsversuche der Vorgesetzten abprallen („Ataraxie“). Und dort wo – wie bei einem regelmäßig wiederkehrenden Impuls zur Rachsucht oder bei unreflektiert übernommenen elterlichen Normvorstellungen – fremde Einflüsse von innen heraus wirksam werden, kann die Perfektionierung der Wehrhaftigkeit sich darin zeigen, dass man sich bei Freunden Rat einholt, den Ursprüngen dieser Impulse nachgeht, sich darin ausprobiert, bewusst gegen die elterlichen Normvorstellungen zu verstoßen, oder auch sich selbst eine Verhaltenstherapie mit Sanktionen und Belohnungen auferlegt. Ziel dieser Bemühungen ist es jeweils, seine Verletzbarkeit und Formbarkeit zu reduzieren, so dass einem fremde Einflüsse – ob von außen oder von innen, ob hinsichtlich einzelner Entscheidungen oder hinsichtlich des gesamten Lebens – möglichst wenig anhaben können. Es geht also darum, sich von fremden Einflüssen zu emanzipieren. Schließlich hängt auch der dritte Bestandteil des Ideals der Autonomie (Engagement) von inneren und äußeren Faktoren ab: Seine Mitsprache zu perfektionieren und auszuweiten heißt, bei der Gestaltung möglichst vieler gemeinschaftlicher Angelegenheiten bestmöglich mitzureden. Dies zielt darauf, sich auf möglichst vielen sozialen Ebenen, die einen betreffen – in der Familie, in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu Freunden und Verwandten, auf der Ebene der politischen oder kirchlichen Gemeinde, in der Bürgergesellschaft, im Vereinsleben –, umfassend einzubringen und die eigene soziale Umwelt auf diese Weise aktiv mitzugestalten. Engagement bildet dabei einen Kontrast zum Beispiel zu Konformität: Eine konforme Person verhält sich in verschiedenen sozialen Kontexten passiv und rezeptiv, sie gestaltet ihr Umfeld nicht aktiv mit. In welchem Umfang man zu Engagement in der Lage ist, bemisst sich zum einen daran, welche Möglichkeiten man im Rahmen einer Gesellschaft hat (das sind externe Faktoren): In einem totalitaristischen Staat wie Nordkorea sind die Möglichkeiten, sich zu engagieren und sich in gemeinschaftliche Prozesse einzubringen, relativ beschränkt, in einer liberalen Demokratie hingegen bestehen dazu viele Möglichkeiten. Wie gut man seine soziale Umwelt mitgestaltet (und ob man es bestmöglich tut), hängt aber ebenso von internen Faktoren ab: von der eigenen Motivation, von der Fähigkeit, andere zu überzeugen, von dem Durchhaltewillen etc. Welche Kriterien genau erfüllt sein müssen, damit eine Person gemeinschaftliche Angelegenheiten bestmöglich mitgestaltet (und damit als engagiert gilt), ist – wie bereits eingangs erwähnt – eine Frage der Ethik im antiken Sinn. Ebenso wie schon bei Autarkie und Emanzipation lässt sich der Begriff Engagement nicht nur auf das ganze Leben oder Bereiche des Lebens, sondern auch hinsichtlich spezifischer Situationen anwenden: Man kann in einer Verhandlung mit einem wichtigen Kunden unterwürfig, zurückhaltend und duckmäuserisch sein, ansonsten aber ein engagiertes Berufsleben führen.
304 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie Jeder Bestandteil des Ideals der Autonomie – Autarkie, Emanzipation und Engagement – kann also mit einem lokalen und einem globalen Skopus angewendet werden; und für jeden Bestandteil gibt es interne und externe Kriterien. Da dies auch bei den Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache der Fall war, besteht auf einer rein strukturellen Ebene zwischen der erst- und der drittpersonalen Ebene also eine Parallele (was auch zu erwarten ist, wenn es sich bei den vorgeschlagenen Bedingungen der Autonomie wirklich um den gesuchten begrifflichen Kern handeln sollte). Man sollte daraus allerdings nicht den Schluss ziehen, dass die erstpersonale Perspektive bloß im abgeleiteten Sinne von Bedeutung ist. Zwar hängen die Bedingungen, die unter den beiden Perspektiven Autonomie ausmachen, eng zusammen (insofern sich das Ideal der Autonomie durch Perfektionierung und Ausweitung aus Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache ergibt). Doch der Bereich von Phänomenen, auf den sich diese Bedingungen anwenden lassen, ist jeweils sehr unterschiedlich: Einerseits lassen sich die Begriffe Autarkie, Emanzipation oder Engagement bei paradigmatischen drittpersonalen Phänomenen wie Taten im Affekt, Patientenverfügungen oder schweren psychischen Störungen nicht (oder allenfalls nur mit einer starken Dehnung unseres Sprachgebrauchs) anwenden (McLeod 2002, 125). Andererseits scheint sich aus den Begriffen Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache in dem binären Verständnis, das für die drittpersonale Perspektive charakteristisch ist, kein wirkliches Ideal der Autonomie zu ergeben: Die meisten von uns erfüllen als gesunde, „normal“ sozialisierte Personen in einer demokratischen, liberalen Gesellschaft die normativen Standards, die unserem Umgang mit autonomen Personen zugrunde liegen – und dennoch geht im Hinblick auf Autonomie als ein Ideal in unserem Leben oft so manches schief. Ohne eine Entgrenzung und Ausweitung sind die normativen Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache einfach zu schwach, um ein erstrebenswertes Ideal der Autonomie abzugeben. Trotz des aufgezeigten Zusammenhangs zwischen der erst- und der drittpersonalen Perspektiven sind beide Perspektiven also eigenständig und für uns unverzichtbar – was auf der Ebene der vorgeschlagenen Bedingungen das Ergebnis aus Abschnitt 1.3 bestätigt. Mit dieser (lediglich skizzenhaften) Charakterisierung des Ideals der Selbstbestimmung ist die Entwicklung der normativen Konzeption personaler Autonomie abgeschlossen. Ihre vollständige Formulierung lautet:
Die normative Konzeption personaler Autonomie (Endfassung) I. Siehe S. 270. II. Siehe S. 290. III. Siehe S. 298.
7.4 Das persönliche Ideal der Autonomie |
IV.
V.
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Durch Entgrenzung und Ausweitung der Bedingungen Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache lässt sich das persönliche Ideal der Autonomie charakterisieren als das Streben danach (a) möglichst viele der eigenen Angelegenheiten bestmöglich zu regeln (Autarkie), (b) sich gegen möglichst viele fremde Eingriffe bestmöglich zur Wehr zu setzen (Emanzipation), (c) in möglichst vielen gemeinschaftlichen Angelegenheiten bestmöglich mitzureden (Engagement). (a) Jeder Bestandteil des Ideals der Autonomie (Autarkie, Emanzipation und Engagement) kann mit einem lokalen und einem globalen Skopus angewendet werden. (b) Für jeden der Bestandteile Autarkie, Emanzipation und Engagement gilt, dass der Grad seiner Erfüllung von internen und externen Kriterien abhängt. (c) Es ist Aufgabe der Ethik (im antiken Sinn) herauszufinden, welche Kriterien für die Erfüllung der Bestandteile Autarkie, Emanzipation und Engagement jeweils ausschlaggebend sind.
Die vollständige Formulierung der normativen Konzeption personaler Autonomie erlaubt nun auch, auf ein wiederkehrendes Bedenken zu reagieren, das bereits ausgeräumt schien: An früherer Stelle hatte ich erklärt, dass die Normativitätsthese vereinbar ist mit Feinbergs (1986, Kap. 18) Unterscheidung zwischen vier Sinnen der Aussage „P ist autonom“ (vgl. S. 230). Nun kann allerdings der Verdacht aufkommen, dass die vorgeschlagene normative Analyse auf der Ebene der konkreten Bedingungen für Autonomie zumindest einen Unterschied verwischt: Gemäß der normativen Analyse von Autonomie ist eine Person nämlich autonom, wenn sie bestimmte Dinge tun „kann“, was der disjunktiven Analyse zufolge genau dann der Fall ist, wenn (a) man von der Person berechtigterweise erwarten darf, dass sie es tut, oder wenn (b) die Person es tatsächlich tut. Die disjunktive Analyse soll zum Beispiel den Unterschied zwischen einer depressiven Person, der es an Autonomie mangelt, und einer faulen Person, der es nicht an Autonomie, sondern nur an Willensstärke mangelt, erklären. Demnach gilt für die depressive Person, dass sie H nicht tun kannnormativ , weil sie (a) und (b) nicht erfüllt (von ihr dürfen wir nicht erwarten, dass sie H tut, und sie tut es auch tatsächlich nicht), während für die faule Person gilt, dass sie H tun kannnormativ , weil sie (a) erfüllt (das heißt, von ihr dürfen wir sehr wohl erwarten, dass sie H tut – auch wenn sie es dann tatsächlich gar nicht tut und (b) nicht erfüllt). Diese disjunktive Analyse scheint aber zu implizieren, dass es hinsichtlich der Autonomie keinen Unterschied gibt zwischen Personen, die etwas qua Erfüllung von Bedingung (a) ohne Erfüllung von Bedingung (b) tun können, und Personen, die etwas qua Erfüllung von Bedingung (a) und (b) tun können:165 Vergleicht man beispielsweise die faule Person mit
165 Auf dieses Problem hat mich Holger Baumann aufmerksam gemacht.
306 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie einer fleißigen Person, die das, was man von der faulen Person berechtigterweise erwarten darf, im Unterschied zu dieser auch tatsächlich tut, so scheinen der vorgeschlagenen Analyse zufolge beide gleichermaßen autonom. Denn für beide gilt ja, dass sie (im Gegensatz zur depressiven Person) Bedingung (a) erfüllen und damit im relevanten Sinne etwas tun könnennormativ : Sowohl von der faulen als auch von der fleißigen Person dürfen wir berechtigterweise erwarten, dass sie H tun – aber nur die fleißige Person tut es auch tatsächlich und erfüllt damit auch (b). Auf der Ebene der vorgeschlagenen Bedingungen für Autonomie lässt sich somit hinsichtlich der Autonomie kein Unterschied zwischen der faulen und der fleißigen Person ausmachen. Aber es scheint doch sehr wohl einen relevanten Unterschied zu geben: Anders als die Faulenzerin hat die Fleißige nicht nur das Vermögen zur Autonomie, sondern sie übt es auch aus. Die vorgeschlagene normative Konzeption scheint somit keinen Unterschied in der Autonomie der Faulenzerin und der Fleißigen machen zu können, weil sie auf der Ebene der konkreten Bedingungen für Autonomie doch keinen Unterschied zwischen zwei von Feinbergs Sinnen – nämlich „P ist autonom“ im Sinne des Besitz eines Vermögen und „P ist autonom“ im Sinne der Ausübung eines Vermögens – machen kann. Dieses Bedenken scheint mir allerdings auf einer ungenauen Beschreibung des Falls und einem daraus resultierenden Missverständnis zu beruhen. Man kann die Faulenzerin nämlich auf zwei verschiedene Weisen deuten. Versteht man sie als chronisch willensschwach, dann müsste man sie als eine Person beschreiben, die bestimmte Dinge eigentlich tun will (und glaubt, sie tun zu sollen), die sich aber nicht dazu aufraffen kann, sie auch tatsächlich zu tun. Die Fleißige leidet nicht an dieser Schwäche, und da Willensschwäche unter der erstpersonalen Perspektive von Autonomie als einem persönlichen Ideal ein Defizit im Hinblick auf Autarkie und Emanzipation darstellt,166 erlaubt es die vorgeschlagene normative Konzeption durchaus, die Fleißige und die Faulenzerin im Hinblick auf ihre Autonomie unterschiedlich einzuschätzen: Die Fleißige exemplifiziert das Ideal der Autonomie in höherem Maß als die Faulenzerin, weil sie ihre eigenen Angelegenheiten in umfangreicherem Maße tatsächlich selbst regelt und sich mehr fremden Eingriffen (durch Neigungen) widersetzt. In dieser Hinsicht gestaltet die Fleißige ihr Leben somit stärker als die Faulenzerin. Auch wenn also beide das Vermögen zur Autonomie haben, unterscheiden sie sich in der Ausübung ihrer Vermögen, wenn es um das persönliche Ideal der Autonomie geht. Versteht man die Faulenzerin hingegen nicht als chronisch willensschwach, dann handelt es sich um eine Person, die in gewisser Hinsicht bestimmte Dinge nicht tun will, obwohl sie diese Dinge tun könnte: Die (nicht-willensschwache)
166 Siehe Anm. 164.
7.4 Das persönliche Ideal der Autonomie |
307
Faulenzerin ist einfach nur faul und hat keine Lust, die Dinge anzugehen, die nach landläufiger Meinung anzugehen wären, von denen sie selbst aber gar nicht glaubt, dass sie angegangen werden sollten – diese Dinge kümmern sie einfach nicht, weil sie lieber in der Hängematte liegen will. Unter dieser Beschreibung ist die (nicht-willensschwache) Faulenzerin meines Erachtens auch im Sinne der Ausübung ihres Vermögens zur Selbstbestimmung genauso autonom wie die Fleißige. Denn auch die Faulenzerin übt ihr Vermögen aus, sie tut es lediglich in eine andere Richtung als die Fleißige: Sie lässt die Dinge liegen, die die Fleißige anpackt. Das verdeutlicht lediglich die Inhaltsunabhängigkeit des autonomiebezogenen Grundes: Ebenso wie zuvor sowohl die Raucherin als auch die Nicht-Raucherin gleichermaßen autonom sein konnten (obwohl es unter dem Gesichtspunkt der Gesundheit besser ist, nicht zu rauchen als zu rauchen), so können auch Fleiß und Faulheit gleichermaßen Ausübungen des Vermögens zur Autonomie sein (auch wenn es unter dem Gesichtspunkt charakterlicher Tugenden womöglich besser ist, fleißig als faul zu sein).167 Zusammengefasst lautet die Antwort auf das obigen Bedenken somit: Man muss die Situation der Faulenzerin genauer beschreiben. In der ersten Beschreibung unterscheidet sie sich in der Ausübung ihrer Vermögen tatsächlich von der Fleißigen, aber diesen Unterschied kann die vorgeschlagene Konzeption einfangen, nämlich als Unterschied in der Realisierung des Ideals der Autonomie. In der zweiten Beschreibung hingegen besteht zwischen der Faulenzerin und der Fleißigen tatsächlich gar kein Unterschied in der Ausübung ihrer Vermögen zur Autonomie – beide sind in diesem Sinne gleichermaßen autonom. Darum wird Feinbergs Unterscheidung nicht unterlaufen.168
167 Natürlich bringen wir der Fleißigen eine höhere Wertschätzung entgegen als der Faulenzerin, aber das tun wir qua Fleiß, nicht qua Autonomie. Es kommen also andere Werte ins Spiel, und die sollte man nicht mit Autonomie verwechseln. Dieser Unterschied in der Wertschätzung konstituiert also keinen Unterschied im Hinblick auf die Autonomie. 168 Man kann die Unterscheidung zwischen Autonomie im Sinne eines Vermögens und Autonomie im Sinne der Ausübung eines Vermögens auch in der drittpersonalen Perspektive auf der Ebene der Bedingungen für Autonomie verständlich machen: –
–
Eine Person hat genau dann das Vermögen der Autonomie, wenn sie die Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache erfüllt (d. h. die entsprechenden Dinge tun kannnormativ ). Eine Person übt das Vermögen der Autonomie genau dann aus, wenn sie die Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache erfüllt, weil sie Komponente (b) der disjunktiven Analyse erfüllt (also etwas tun kannnormativ , weil sie es tatsächlich tut).
Die vorgeschlagene Konzeption impliziert also nicht, dass man diese Unterscheidung nicht treffen kann – sie impliziert lediglich, dass die Unterscheidung unter der drittpersonalen Perspektive für
308 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie
7.5 Die Adäquatheit der normativen Konzeption Abschließend bleibt noch zu zeigen, dass die entwickelte normative Konzeption adäquat ist. In Teil I hatte ich vier Adäquatheitskriterien formuliert, die eine philosophische Autonomiekonzeption erfüllen muss: 1. Eine Autonomiekonzeption muss den Begriff Autonomie schärfen, das heißt eine Menge von Bedingungen nennen, die uns helfen, in strittigen Fällen zu entscheiden, ob und inwiefern eine Person autonom ist. 2. Die Schärfung muss mit Blick auf die praktischen Erkenntnisinteressen, die durch die drittpersonale und erstpersonale Perspektive definiert werden, geschehen; sie muss uns weiterhelfen bei der Frage, wie wir mit der (fehlenden) Autonomie einer Person umgehen sollen und wie wir unsere eigene Autonomie herstellen können. 3. Die Konzeption muss die Erfahrungen der Fremd- und Selbstbestimmung systematisieren. Dazu muss die Schärfung einen „begrifflichen Kern“bereit stellen, der es erlaubt, alle vier unterschiedlichen Perspektiven in Bezug zueinander zu setzen, und der so verständlich macht, was sie als Perspektiven auf Autonomie zusammenhält; und sie muss zugleich die spezifischen Unterschiede zwischen diesen Perspektiven aufdecken. 4. Die Konzeption muss das Rätsel der Autonomie, das die Form eines Trilemmas hat, lösen. Aus der Diskussion der Lösungsstrategien in Teil II ergibt sich zudem ein weiteres Adäquatheitskriterium: Die gesuchte Konzeption sollte die Probleme und Einwände vermeiden, die gegen die internalistischen, externalistischen und interaktionalistischen Standardstrategien sprechen. Ich möchte nun abschließend nachweisen, dass die in diesem Kapitel entwickelte normative Konzeption personaler Autonomie diese fünf Kriterien erfüllt.
das Vorliegen des autonomiebezogenen Grundes irrelevant ist: Ganz gleich, ob jemand Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache durch Komponente (a) oder durch Komponente (b) erfüllt (ob jemand also das Vermögen zur Autonomie besitzt oder dieses Vermögen auch ausübt), für den Umgang mit dieser Person ist allein entscheidend, dass sie die entsprechenden Dinge tun kannnormativ . Und das ist im Fall der (nicht-willensschwachen) Faulenzerin und der Fleißigen auch plausibel: Die Tatsache, dass die (nicht-willensschwache) Faulenzerin etwas tun kannnormativ , weil sie (a) aber nicht (b) erfüllt, während die Fleißige etwas tun kannnormativ , weil sie (b) erfüllt, ist für den Umgang mit ihnen irrelevant. In beiden Fällen besteht ja ein Grund, nicht in ihre Entscheidungen und Lebensweise einzugreifen. Und in diesem Sinne sind eben auch beide gleichermaßen autonom.
7.5 Die Adäquatheit der normativen Konzeption |
309
7.5.1 Die Immunität gegen die Probleme der Standardstrategien Dass die vorgeschlagene normative Autonomiekonzeption eine fruchtbare diagnostische These liefert, in deren Lichte man das Scheitern der Standardstrategien erhellend verstehen kann, wurde bereits in Abschnitt 6.5 gezeigt: Während internalistische Konzeptionen der inhärenten Normativität und externalistische Konzeptionen den deskriptiven Aspekten des dicken Begriffs Autonomie nicht gerecht werden, setzen interaktionalistische Konzeptionen (in der konjunktiven Variante) die normativen und deskriptiven Aspekte in die falsche Beziehung (eine Konjunktion) zueinander. Die hier vorgeschlagene Konzeption umgeht diese grundsätzlichen Probleme, weil die Bedingungen personaler Autonomie irreduzibel normative Bedingungen sind: Da die vorgeschlagene Autonomiekonzeption nicht allein auf interne Bedingungen für Autonomie setzt, kann sie auch Bedingungen aufnehmen, die der inhärenten Normativität gerecht werden (denn interne Bedingungen leisten das nicht), und darum ist sie nicht mit dem grundsätzlichen Problem der internalistischen Strategie konfrontiert. Da die vorgeschlagene Konzeption aber auch nicht allein auf externe Bedingungen für Autonomie setzt, muss sie nicht auf die Idee des Selbst verzichten, in denen die deskriptiven Aspekte des Autonomiebegriffs wurzeln, und darum ist sie auch nicht dem grundsätzlichen Problem der externalistischen Strategie ausgesetzt. Und da die vorgeschlagene Konzeption auch nicht einfach eine Konjunktion von internen und externen Bedingungen als konstitutiv für Autonomie ansieht, umgeht sie auch das grundsätzliche Problem des konjunktiven Interaktionalismus. Stattdessen geht die vorgeschlagene Autonomiekonzeption davon aus, dass für die Realisierung der drei Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache sowohl interne als auch externe Kriterien normativ relevant sind. Die Beziehung zwischen internen und externen Kriterien (und damit zwischen Selbst und Welt) ist somit als ein normativer Zusammenhang zu verstehen: Beide sind normativ relevante Kriterien für das Vorliegen der Bedingungen personaler Autonomie, aber kein internes und kein externes Kriterium ist begrifflich notwendig oder hinreichend (und insofern eine Bedingung) für Autonomie. Damit ist die vorgeschlagene Konzeption in gewisser Hinsicht dem ausgefeilten Interaktionalismus zuzurechnen: Selbst und Welt sind, wenn man so will, „auf der normativen Ebene verwoben“ – sowohl interne als auch externe Kriterien sind normativ relevant dafür, dass die Bedingungen der Autonomie erfüllt sind, die Bedingungen der Autonomie sind aber weder rein interner noch rein externer Art. Gleichzeitig vermeidet die normative Autonomiekonzeption aber die Probleme der bisher vertretenen Positionen, die dem ausgefeilten Interaktionalismus zuzurechnen sind. Denn diese konnten die besondere „Verwobenheit“ von Selbst und Welt
310 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie nicht verständlich machen, da diese Verwobenheit offenbar weder begrifflicher noch empirisch-kausaler Natur ist. Erst im Lichte der diagnostischen These wurde klar, dass es noch eine dritte Möglichkeit gibt, den Zusammenhang von Selbst und Welt zu deuten, nämlich als normativen Zusammenhang – und normative Zusammenhänge sind weder begriffliche noch empirische Zusammenhänge. Damit liefert die vorgeschlagene Konzeption den Vergleichsmaßstab zur Erklärung der Verwobenheit von Selbst und Welt, der den anderen ausgefeilt interaktionalistischen Ansätzen fehlte. Da die vorgeschlagene Konzeption die grundsätzlichen Probleme, die für das Scheitern der Standardstrategien verantwortlich sind, vermeiden kann, ist sie auch immun gegen die spezifischen Einwände gegen die Standardstrategien, die lediglich Ausdruck der grundsätzlichen Probleme waren. So hatte beispielsweise der Internalismus das Problem, dass man für jede angeführte interne Bedingung stets eine externe Bedingung zu benötigen schien. Denn zahlreiche Beispiele haben gezeigt, dass ein bestimmtes Selbstverhältnis nur dann einen autonomiebezogenen Grund für die Unterlassung von Eingriffen stiftet, wenn es unter den richtigen Verhältnissen in der äußeren Welt zustande gekommen ist. Von diesem Autoritätsproblem (interne Bedingungen zu benennen, die allein für sich – d. h. unter Absehung der äußeren Weltverhältnisse – beanspruchen können, den wahren Willen der Handelnden zu repräsentieren) ist die vorgeschlagene normative Autonomiekonzeption nicht betroffen, weil sie eben nicht allein auf interne Bedingungen setzt, sondern sowohl interne als auch externe Kriterien als Umstände anerkennt, die für die Erfüllung der Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache normativ relevant sind.169 Aus demselben Grund vermeidet die
169 Der Internalismus hatte darüber hinaus noch zwei weitere spezifische Probleme, nämlich das Abgrenzungsproblem (interne Bedingungen zu nennen, die grundsätzlich auch auf alle vier Blickwinkel auf Autonomie übertragen werden können) und das Problem der motivierenden Transparenz (interne Bedingungen zu nennen, die aus Sicht der Handelnden regulative Wirkung entfalten können). Die vorgeschlagene Konzeption vermeidet auch diese Probleme: Das Problem der Abgrenzung erübrigt sich, weil sich zum einen Gehalt, Typus und Adressaten des autonomiebezogenen Grundes, der jeweils durch die Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache gestiftet wird, je nach Erkenntnisinteresse unterscheiden (siehe Tabelle 6.1, S. 208), und weil sich zum anderen diese Bedingungen auf der Ebene der jeweils relevanten internen und externen Kriterien je nach Blickwinkel jeweils sehr unterschiedlich ausbuchstabieren lassen (siehe die ausführlichere Erklärung auf S. 320). Und das Problem der motivierenden Transparenz erübrigt sich, weil in der vorgeschlagenen Konzeption die Erkenntnis, dass eine Person hinsichtlich ihrer Entscheidung oder Lebensweise autonom ist, eine Erkenntnis darüber ist, dass ein Grund vorliegt, Eingriffe zu unterlassen. Und da Einsichten in Gründe den rationalen Menschen motivieren, erklärt dies auch, warum die Einsicht in die eigene Autonomie regulative Wirkung für eine Person haben kann (sofern sie eben rational ist).
7.5 Die Adäquatheit der normativen Konzeption |
311
vorgeschlagene Konzeption auch jene spezifischen Einwände gegen externalistische Positionen, die darauf zurückgingen, dass man für jede angeführte externe Bedingung immer eine interne Bedingung zu benötigen scheint (siehe das Problem der explanatorische Priorität des Innenlebens, das Problem der Resilienz und fetischisierten Offenheit, das Problem der inneren Reaktion auf Autonomieverluste): Für die Autonomie einer Person kommt es nämlich nicht allein darauf an, wie die Verhältnisse der äußeren Welt beschaffen sind, sondern auch darauf, wie sich diese äußeren Bedingungen eigentlich aus Sicht der betreffenden Person darstellen, wie also ihre innere Verfassung ist. Diese Schwierigkeit des Externalismus betrifft die normative Konzeption nicht, denn sie setzt nicht allein auf externe Bedingungen, sondern sieht sowohl interne als auch externe Kriterien als Umstände an, die für die Realisierung der für Autonomie konstitutiven Bedingungen (Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache) normativ relevant sind.170 Und schließlich kann auch die spezifische Schwierigkeit des konjunktiven Interaktionalismus – das Problem der inhärenten Instabilität – vermieden werden: Dieses bestand darin, dass es aufgrund der beschriebenen Dialektik zwischen internen und externen Bedingung (für jede vorhandene interne Bedingung braucht man eine externe, für jede vorhandene externe Bedingung braucht man eine interne) stets argumentativen Druck gibt, einen konjunktiven Interaktionalismus in Richtung eines reinen Internalismus oder eines reinen Externalismus anzupassen – und in diesem Maße handelt sich die angepasste Position dann auch die spezifischen Schwierigkeiten des Internalismus oder Externalismus ein. Dieses Problem wurzelt darin, dass die
170 Darüber hinaus hatte der Externalismus noch drei weitere spezifische Probleme: (1) Das Konfundierungsproblem (die Verwechselung von autonomem Leben und vernünftigem, moralischem oder gelungenem Leben) stellt sich nicht, weil die vorgeschlagenen Bedingungen der Autonomie (Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache) einen inhaltsunabhängigen Grund für die Unterlassung von Eingriffen stiften und damit genau jene (normativen) Charakteristika erfassen, die für Autonomie spezifisch sind; der Grund, der (möglicherweise) durch die Tatsache gegeben wird, dass eine Person moralisch richtig oder rational handelt (oder lebt), ist hingegen ein Grund für andere, selbst genauso zu handeln (oder zu leben), und unterscheidet sich folglich hinsichtlich Inhaltsunabhängigkeit und Gehalt vom autonomiebezogenen Grund (siehe auch die Erklärung auf S. 244). (2) Das Problem mit der Individualität (wenn der Inhalt autonomer Entscheidungen und Lebensweisen substantiellen rationalen oder moralischen Maßstäben genügen muss, lässt dies kaum Spielraum für Individualität) vermeidet die normative Konzeption, weil die Bedingungen personaler Autonomie darin inhaltsunabhängige Gründe für die Unterlassung von Eingriffen konstituieren – das Vorliegen des autonomiebezogenen Grundes ist gerade nicht vom Inhalt der Entscheidungen oder Lebensweise abhängig (vgl. Anm. 82 und 83, S. 199). Weiter unten wird auch klar, wie (3) das Begründungsproblem (die Unfähigkeit, aufgrund einer Verwechselung von Bedingungen, die für Autonomie konstitutiv sind, und Bedingungen, die für die Achtung bzw. Nicht-Verletzung von Autonomie konstitutiv sind, zu begründen, was an Autonomieverletzungen eigentlich schlecht ist) umgangen werden kann (siehe S. 7.5.2).
312 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie internen und externen Bedingungen im konjunktiven Interaktionalismus lediglich durch eine Konjunktion verknüpft werden und somit das normativ relevante Element (die externe Bedingung) nicht auf das deskriptiv adäquate Element (die interne Bedingung) Bezug nehmen und darauf beruhen kann. In der hier vorgeschlagenen Konzeption gibt es aber eine solche konjunktive Aufspaltung von normativen und deskriptiven Bestandteilen auf der Ebene der Bedingungen der Autonomie nicht: Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache sind eben keine rein internen und keine rein externen Bedingungen, sondern normative Bedingungen, in denen Selbst und Welt insofern miteinander „verwoben“ sind, als interne und externe Kriterien für ihre Realisierung (normativ) relevant sind. Darum droht die Position auch nicht in eine rein internalistische oder eine rein externalistische zu kollabieren. Die normative Konzeption ist somit immun gegen die Probleme der drei Standardstrategien.
7.5.2 Die Schärfung des Begriffs Wie verhält es sich nun mit dem ersten Adäquatheitskriterium, der Schärfung des Begriffs? Eine zentrale Schlussfolgerung aus der vorgeschlagenen Konzeption ist, dass man die Frage nach der Autonomie einer Person beantworten kann, indem man drei andere und spezifischere Fragen stellt: 1. Kann die Person (im normativen Sinne) ihre eigenen Angelegenheiten regeln? 2. Kann sie sich (im normativen Sinne) gegen fremde Eingriffe wehren? 3. Kann sie (im normativen Sinne) in Angelegenheiten, die sie betreffen, aber von anderen entschieden werden, mitreden? Das ist ein erster Schritt in Richtung einer Schärfung des Begriffs: Man weiß nun genauer, wonach man überhaupt suchen muss, um die Frage der Autonomie einer Person zu entscheiden. Dieser erste Schritt leistet bereits einiges: Erstens hilft er dabei, Autonomie von anderen dicken normativen Begriffen wie Instrumentalisierung oder Menschenwürde abzugrenzen, die auf der moralischen Landkarte im Umfeld der Autonomie angesiedelt sind. Dass eine Person instrumentalisiert wird, hat beispielsweise auf den ersten Blick nichts damit zu tun, ob sie ihre eigenen Angelegenheiten (im normativen Sinn) regeln kann oder nicht. Weder muss eine Instrumentalisierung sie notwendigerweise darin einschränken (man kann eine Person gerade benutzen, indem man sie ihre eigenen Angelegenheiten regeln lässt; das tut z. B. der Terrorist, der die Diplomatin, die am Grenzposten nicht kontrolliert werden darf, benutzt, indem er in ihrem Aktenkoffer heimlich eine Bombe platziert), noch ist es Voraussetzung für eine Instrumentalisierung, dass die instrumentalisierte Person ihre eigenen Angelegenheiten (im normativen Sinne)
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regeln kann (ein Arzt könnte eine Patientin mit einer seltenen Variante der Depression beispielsweise dazu benutzen, sein Renommee zu steigern). Der Aspekt der Mündigkeit, der gemäß der vorgeschlagenen Konzeption für Autonomie wesentlich ist, spielt also bei Instrumentalisierungen nicht unbedingt eine Rolle. Ähnliches gilt auch für den (ebenfalls recht vielschichtigen) Begriff Menschenwürde: Der moralische Status der Menschenwürde hat etwas mit der Idee zu tun, dass man mit Menschen bestimmte Dinge einfach deshalb nicht tun darf, weil sie Menschen sind (vgl. dazu Maier 2010). Das hat mit dem Aspekt der Wehrhaftigkeit wenig zu tun: Man ist beispielsweise nicht Träger von Menschenwürde, weil man sich (im normativen Sinne) wehren kann – im Gegenteil: Menschenwürde wird oft dort ins Spiel gebracht, wo sich jemand nicht mehr wehren kann, beispielsweise in der Pflege von Wachkomapatienten. Ich kann an dieser Stelle nicht weiter untersuchen, welches Verhältnis zwischen Autonomie und Instrumentalisierung bzw. Würde sich aus der vorgeschlagenen Konzeption ergibt und ob dieses angemessen ist oder nicht (vgl. für das Verhältnis von Autonomie und Menschenwürde z. B. Beyleveld und Brownsword 2004, insb. Kap. 1 und 2; Forst 2005, 592; Macklin 2003; Raz 1979, 21; Velleman 1999). Allein die Tatsache, dass der Vorschlag hilft, überhaupt einen Unterschied zwischen den Begriffen zu benennen, ist meines Erachtens ein Indikator dafür, dass es sich auch tatsächlich um eine Schärfung des Autonomiebegriffs handelt. Denn eine Schärfung muss immer auch aufdecken können, was das Spezifische an einem Begriff ist und worin er sich von anderen, verwandten aber nicht synonymen Begriffen unterscheidet. Zweitens ergibt sich in der vorgeschlagenen Konzeption eine rudimentäre Charakterisierung des Verhältnisses von Autonomie (als persönliches Ideal der Lebensführung) und einem gelungenen Leben. Das autonome Leben besteht unter der globalen erstpersonalen Perspektive nach dem Vorschlag aus Abschnitt 7.4 aus dem Streben nach Autarkie, Emanzipation und Engagement: Wenn man seine eigenen Angelegenheiten bestmöglich selbst regelt, sich gegen fremde Eingriffe äußerst gut wehrt und sich in gemeinschaftliche Angelegenheiten aktiv einbringt und diese mitgestaltet, dann hat man ohne Zweifel einen bedeutenden Teil dessen realisiert, was wir mit einem gelungenen Leben verbinden. Aber die drei Merkmale – und damit das autonome Leben – machen das gelungene Leben noch nicht vollständig aus. Denn auch ein autarkes, emanzipiertes und engagiertes Leben kann in anderen Hinsichten misslingen. Es ist beispielsweise möglich, dass die Liebe zu einer Person nicht erwidert wird, dass man seine besten, lebenslangen Freunde oder seine Kinder bei einem Autounfall verliert oder dass man berufliche Ziele aus rein zufälligen Gründen verfehlt. Natürlich würde sich Autonomie als ein Ideal auch darin manifestieren, wie eine Person mit derartigen Schicksalsschlägen umgeht (und ob sie sich gegen die fremden Einflüsse, die diese Schicksalsschläge auf ihr Leben nehmen, wehren kann oder nicht). Doch selbst wenn man sich eine
314 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie autonome Person vorstellt, die – im Hinblick auf ihre Autonomie – idealtypisch mit diesen Einschnitten umgeht, so hinterließen diese Schicksalsschläge dennoch ein großes Loch in ihrem Leben; ihr Leben wäre wohl besser, wenn es diese nie gegeben hätte. Und darum erschöpft sich das gelungene Leben nicht im autonomen Leben. Auch wenn die entgrenzten Bedingungen Autarkie, Emanzipation und Engagement umfassend und allgemein sind, so sind sie also dennoch nicht so vage und unbestimmt, dass Autonomie und das gelungene Leben zusammenfallen: Autonomie ist ein (bedeutender) Teil des gelungenen Lebens, macht dieses aber nicht zur Gänze aus. Auf diese Weise ergibt sich aus der vorgeschlagenen Konzeption somit auch eine erste Schärfung des Verhältnisses von Autonomie und gelungenem Leben. Drittens hilft der Vorschlag, zwischen Bedingungen der Autonomie, Verletzungen von Autonomie und Bedrohungen der Autonomie zu unterscheiden. Bedingungen der Autonomie sind die genannten Charakteristika: dass man seine eigenen Angelegenheiten (im normativen Sinne) regeln kann, dass man sich gegen äußere Eingriffe (im normativen Sinne) wehren kann und dass man in gemeinschaftlichen Angelegenheiten (im normativen Sinne) mitreden kann. Dass P H im normativen Sinne tun kann bedeutet dabei, dass (a) man von P berechtigterweise erwarten darf, dass P H tut, oder dass (b) P H tatsächlich tut (wobei H für „ihre eigenen Angelegenheiten erledigen“, „sich wehren“ oder „mitreden“ steht). Eine Bedrohung B der Autonomie liegt dann vor, wenn die erste Komponente nicht erfüllt ist – wenn man also von P unter diesen Umständen B nicht berechtigterweise erwarten darf, dass P ihre eigenen Angelegenheiten regelt, sich zur Wehr setzt oder mitredet. Der Verlust des eigenen Kindes ist beispielsweise eine Bedrohung der Autonomie der Eltern, weil man von ihnen unter diesen Umständen (jedenfalls für eine gewisse Zeit) nicht erwarten kann, dass sie ihre Angelegenheiten weiterhin regeln können. Die Repressalien des chinesischen Staates sind eine Bedrohung der Autonomie von Menschen mit kritischen Ansichten, weil man von Menschen, die mit lebenslanger Haft zu rechnen haben, nicht berechtigterweise erwarten kann, dass sie sich zur Wehr setzen. Und die Androhung des Ehemannes, der Frau körperliche Gewalt anzutun, wenn sie je Geld für etwas ausgibt, das er zuvor nicht autorisiert hat, ist eine Bedrohung der Autonomie der Ehefrau, weil man von ihr unter diesen Umständen nicht berechtigterweise erwarten kann, dass sie in einer gemeinschaftlichen (finanziellen) Angelegenheit weiter mitredet. Aber in all diesen Fällen ist es nicht ausgemacht, dass aus der Bedrohung der Autonomie auch tatsächlich ein Verlust oder eine Verletzung der Autonomie wird: Das ist nur dann der Fall, wenn die Eltern in tiefer Trauer versinken und tatsächlich nicht mehr in der Lage sind, ihre Angelegenheiten zu regeln; wenn die chinesischen Kritiker tatsächlich klein beigeben und sich nicht gegen ihre Behandlung zur Wehr setzen; und wenn die Frau tatsächlich nicht mehr versucht, in finanziellen Angelegenheiten mitzureden.
7.5 Die Adäquatheit der normativen Konzeption |
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Der Tod des Sohnes bleibt hingegen eine bloße Bedrohung der Autonomie, wenn die Eltern trauern, ohne zuzulassen, dass die Trauer sie innerlich zerfrisst und handlungsunfähig macht, und so ein hohes Maß an Selbstkompetenz im Umgang mit der eigenen Gefühlswelt an den Tag legen. Die Repressionen des Regimes bleiben lediglich eine Bedrohung, wenn die chinesischen Kritiker den Repressionen trotzen und sich dennoch zur Wehr setzen. Und die Bedrohung des Ehemannes bleibt eine Bedrohung der Autonomie, wenn die Ehefrau weiterhin versucht, sich in finanzielle Angelegenheiten einzubringen. Eine Begebenheit B ist also nur dann eine Verletzung der Autonomie, wenn beide der oben genannten Komponenten (a) und (b) nicht erfüllt sind – wenn man also von P unter diesen Umständen B nicht berechtigterweise erwarten darf, dass P ihre eigenen Angelegenheiten regelt, sich zur Wehr setzt oder mitredet, und wenn P unter diesen Umständen B auch tatsächlich nicht ihre eigenen Angelegenheit regelt, sich nicht zur Wehr setzt und nicht mitredet. Eine Verletzung ist somit eine „erfolgreiche“ Bedrohung: Während eine Bedrohung der Autonomie nur mit sich bringt, dass man nicht berechtigterweise erwarten darf, dass eine Person die für Autonomie charakteristischen Dinge tut, so liegt eine Verletzung nur dann vor, wenn darüber hinaus die Person die für Autonomie charakteristischen Dinge auch tatsächlich nicht tut.171 Die vorgeschlagene Konzeption erklärt die vortheoretische Unterscheidung zwischen Bedingungen, Bedrohungen und Verletzungen der Autonomie etwas genauer und schärft damit den Begriff Autonomie: Man kann anhand der Konzeption unterscheiden zwischen dem, was Autonomie ausmacht, und dem, was Autonomie bedroht oder verletzt. Insbesondere gegenüber einigen externalistischen Ansätzen ist dies ein Vorteil, weil es das Begründungsproblem vermeidet. Dieses beruhte nämlich auf einer Verwechselung von Bedingungen, die Autonomie ausmachen, und Bedingungen, die die Nicht-Verletzung von Autonomie ausmachen, so dass
171 Hier müsste man genau genommen ergänzen, dass eine Bedrohung nur dann zur Verletzung der Autonomie wird, wenn die Person diese Dinge wegen der Bedrohung nicht tut. Würden die chinesischen Kritiker nur aus Faulheit, nicht aber aufgrund der folgenden Repressalien auf die öffentliche Äußerung ihrer Ansicht verzichten, so könnte man die Repressalien nicht als „Verletzung ihrer Autonomie“ bezeichnen. (Eine Bedrohung blieben sie natürlich weiterhin.) Eine weitergehende Frage ist, ob man nicht nur dann von „Verletzungen“ sprechen sollte, wenn die Autonomie durch etwas bedroht wird, das legitimes Objekt reaktiver Einstellungen sein kann (wie etwa eine andere Person, eine Institution, ein korporativer Akteur): Innere Einflüsse wie eine unwiderstehliche Neigung, ein Zwang oder der eigene Perfektionismus oder auch Schicksalsschläge wie der unverschuldete Tod des eigenen Kindes können unsere Autonomie im eingeführten Sinne bedrohen. Und wenn wir dann aufgrund dieser Einflüsse tatsächlich nicht unsere eigenen Angelegenheit regeln, wehrhaft sind oder mitreden, sind diese Bedrohungen auch „erfolgreich“. Aber kann man sagen, dass ihre unwiderstehliche Neigung zur Schadenfreude oder der Tod ihre Sohnes die Autonomie einer Person verletzt hat?
316 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie in der Folge nicht mehr begründet werden konnte, was an Autonomieverletzungen eigentlich schlecht ist (vgl. Abschnitte 4.4.1 und 4.5). Die hier vorgeschlagene Konzeption trennt demgegenüber klar zwischen den Bedingungen, die Autonomie ausmachen, und den „Bedingungen“, die eine Nicht-Verletzung von Autonomie ausmachen: erstere sind Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache; letztere sind die Abwesenheit von erfolgreichen Bedrohungen – also von Begebenheiten und Umständen, unter denen man von einer Person nicht mehr erwarten darf, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regelt, sich zur Wehr setzt oder mitredet, und unter denen eine Person es dann aufgrund dieser Umstände auch tatsächlich unterlässt, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln, sich zur Wehr zu setzen oder mitzureden. Die hier entwickelte Konzeption ist darum vom Begründungsproblem nicht betroffen. Nun mag es zwar sein, dass die vorgeschlagene Konzeption einen Beitrag zur Schärfung des Autonomiebegriffs leistet. Aber man kann sich fragen, wie scharf sie den Begriff denn eigentlich macht. Die Antwort darauf fällt zweigeteilt aus: Jede der eingangs aufgeführten spezifischeren Fragen 1. bis 3. entscheidet sich daran, ob (a) man von der Person die entsprechende Handlung berechtigterweise erwarten darf oder ob (b) die Person die entsprechende Handlung ausführt (das ergab sich aus der disjunktiven Semantik des normativen Könnens). In den Fällen, in denen eine Person die Bedingungen auf dem zweiten Weg – also jeweils die Komponente (b) – erfüllt, sind die drei Fragen recht einfach zu beantworten, weil man ohne größere Schwierigkeiten feststellen kann, ob eine Person ihre eigenen Angelegenheiten tatsächlich regelt, sich tatsächlich zur Wehr setzt und tatsächlich mitredet: Die Person schafft dann durch ihr Tun einfach Fakten im Hinblick auf ihre Autonomie. Die vorgeschlagenen Bedingungen der Autonomie sind in diesen Fällen schärfer als der Begriff Autonomie. Schwieriger zu beurteilen ist aber, wann eine Person die Bedingungen auf dem ersten Weg — also jeweils die Komponente (a) – erfüllt. Das setzt nämlich substanzielle normative Ansichten darüber voraus, was man von ihr berechtigterweise erwarten darf. Nicht nur ist das im Hinblick auf einzelne Umstände manchmal schwierig zu entscheiden: Schränkt beispielsweise eine mittelschwere Phobie vor öffentlichen Plätzen bereits so stark ein, dass man von einer Person nicht mehr berechtigterweise erwarten darf, dass sie noch ihre eigenen Angelegenheiten regelt und Besorgungen erledigt? Durfte man von den Bürgern der ehemaligen DDR erwarten, dass sie sich zur Wehr setzen und in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitreden, oder war der staatliche Repressionsapparat bereits so mächtig, dass man das – wie im Fall Nordkoreas – nicht berechtigterweise von einem Menschen verlangen darf? Die Antworten auf diese Fragen fallen keineswegs leicht. Wie in Abschnitt 7.3 aufgezeigt treten drei Komplikationen erschwerend hinzu: Erstens erfüllen Personen manchmal nur eine echte Teilmenge der drei Kriterien (daraus
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ergeben sich die unklaren Fälle). Zweitens variieren die Anforderungen an die Kriterien je nachdem, was von der Antwort auf die Frage der Autonomie einer Person abhängt. Und drittens scheint es darüber hinaus gar so, dass die Frage, was man berechtigterweise von der Person erwarten darf, in hohem Maße von der individuellen Person, ihrer besonderen Vorgeschichte, ihrem speziellen sozialen Umfeld und ihrer konkreten Entscheidungssituation abhängt: Erst wenn man weiß, wie sehr genau die jeweilige Person unter ihrer Phobie leidet, wie stark gerade ihre Ängste sind und wie gut sich die angstauslösenden Reize in ihrem Leben vermeiden lassen, kann man auch einschätzen, ob man von dieser Person noch berechtigterweise erwarten darf, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regelt oder dass sie sich gegen ihre Erkrankung zur Wehr setzt. Wie scharf man den Autonomiebegriff unter der vorgeschlagenen Konzeption machen kann, hängt also davon ab, wie viel sich dazu sagen lässt, wann man von einer Person berechtigterweise erwarten darf, dass sie ihre Angelegenheiten regelt, sich zur Wehr setzt und mitredet. Diese Aufgabe (die einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben muss) fällt in den Bereich der normativen Ethik: Man muss Ethik betreiben, um herauszufinden, unter welchen Bedingungen man was von jemandem berechtigterweise erwarten darf. Entsprechend hängt auch der Grad der Schärfung von der Schärfe ab, die ethische Theorien zu liefern imstande sind: Einmal angenommen, partikularistische Auffassungen vom Wesen der Moral wären richtig und es gäbe – vereinfacht gesagt – keine ausnahmslos gültigen ethischen Prinzipien (stattdessen könnte man moralische Wahrheiten nur mit Hilfe der „Urteilskraft“ einsehen). Dann scheint auch das Wissen, dass man von der Autonomie einer Person haben kann, sich nicht in derartigen Prinzipien kodifizieren zu lassen: Es gäbe dann einfach keine allgemeingültigen Sätze der Form „Wann immer eine Person Bedingung B erfüllt, darf man von ihr berechtigterweise erwarten, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regelt/sich zur Wehr setzt/mitredet“. Stattdessen bräuchte man moralische Urteilskraft, um zu beurteilen, ob eine Person autonom ist. Doch selbst wenn das der Fall wäre, so böte die vorgeschlagene Konzeption der moralischen Urteilskraft dennoch drei Maßstäbe zur Orientierung: Um im Einzelfall entscheiden zu können, ob eine ganz bestimmte Person autonom ist oder nicht, muss man nach solchen Faktoren suchen, die Auswirkungen darauf haben, was man an Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache von ihr berechtigterweise verlangen kann. Die vorgeschlagene Schärfung des Begriffs Autonomie leistet also einiges, nicht aber alles, was man sich von einer Autonomiekonzeption wünschen kann. Sie benennt eben keine Kriterien dafür, wann man berechtigterweise erwarten darf, dass eine Person ihre Angelegenheiten regelt, sich wehrt oder mitredet. Und sie sagt auch nichts dazu, wie eine Person im Hinblick auf ihre Autonomie einzuschätzen ist, wenn lediglich eine oder zwei, aber nicht alle drei Bedingungen zugleich
318 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie erfüllt sind (das ist eine Frage der Gewichtung verschiedener berechtigter Erwartungen). Beide Fragen fallen meines Erachtens in den Aufgabenbereich der Ethik und müssten separat behandelt werden. Das zu leisten wäre der zweite Schritt einer umfassenden „Theorie“ personaler Autonomie, die in ganz spezifischen praktischen Kontexten Anwendung findet. Die hier vorgeschlagene Konzeption gibt dafür lediglich die Richtung vor.
7.5.3 Die Bewährungsprobe an den praktischen Interessen Die vorgeschlagene Konzeption leistet also etwas, aber noch nicht alles im Hinblick auf die Schärfung des Autonomiebegriffs – doch leistet sie genug? Das bemisst sich daran, ob sie den praktischen Interessen dient, die wir mit dem Autonomiebegriff verfolgen. Davon gab es zwei: Zum einen möchten wir wissen, wann jemand autonom ist, damit wir wissen, wie wir mit ihm umzugehen haben. Zum anderen möchten wir wissen, wann man autonom ist, um uns im Hinblick auf unsere eigene Autonomie zu verbessern. Hilft uns die vorgeschlagene Konzeption dabei weiter? Die Antwort darauf fällt meines Erachtens positiv aus. Zwar ist die hier vorgeschlagene Konzeption, wie gerade zugestanden, nicht so scharf, dass sich damit alle strittigen Fälle endgültig entscheiden ließen.172 Aber der Vorschlag hilft uns mit unseren praktischen Interessen dennoch in drei Hinsichten weiter: Erstens benennt er mit Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache drei Aspekte, nach denen man Ausschau halten muss, wenn die Autonomie einer anderen Person in Frage steht (drittpersonales Interesse). Sobald man weiß, ob diese Bedingungen gegeben sind, hat dies aufgrund der Normativitätsthese Auswirkungen auf die Frage, wie man mit der betreffenden Person umgehen soll: Denn nach der Normativitätsthese weiß man nun, dass ein inhaltsunabhängiger moralischer Grund vorliegt, Eingriffe in ihre Entscheidung oder Lebensweise (je nachdem, in Bezug worauf die Autonomie der Person gerade in Frage steht) zu unterlassen. Wie gewichtig dieser Grund im Verhältnis zu weiteren einschlägigen Gründen ist, ist dann eine weitergehende Frage, die in Ansehung der konkreten Situation beantwortet werden muss. Die vorgeschlagene normative Konzeption liefert dafür aber einen Ausgangspunkt, gerade weil sie die normative Frage, die das praktische Erkenntnisinteresse ausmacht, ernst nimmt. Zweitens gibt einem die vorgeschlagene Autonomiekonzeption im Umgang mit anderen Personen, denen es an Autonomie mangelt, aber noch mehr an die
172 Falls dies überhaupt möglich ist, bräuchte man dazu die besagte umfassende „Theorie“ personaler Selbstbestimmung, die Kriterien für das Vorliegen der Bedingungen Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache liefert.
7.5 Die Adäquatheit der normativen Konzeption |
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Hand: Je nachdem, welche der Bedingungen erfüllt sind und welche nicht, erstreckt sich der Grund, Eingriffe in die Entscheidungen oder Lebensweise einer Person zu unterlassen, auch nur auf bestimmte Bereiche. Die drei Bedingungen Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache decken nämlich verschiedene Bereiche unserer praktischen Erfahrungen ab (vgl. Abschnitt 7.3): Die Bedingung „seine eigenen Angelegenheiten regeln können“ betrifft vor allem den Umgang einer Person mit sich selbst; die Bedingung „sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzen können“ betrifft vor allem den Umgang mit der Welt, insofern diese auf eine Person einwirkt; und die Bedingung „in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitreden können“ betrifft vor allem den Umgang mit der Welt, insofern eine Person auf diese wirkt. Wie wir am Beispiel des jungen Studenten Tom gesehen haben, können Personen Autonomiedefizite auch nur in einzelnen Bereichen haben: Tom hatte ein Problem mit der Bedingung der Mündigkeit (in Bezug auf seine berufliche Zukunft), aber kein Problem mit der Bedingung der Mitsprache (etwa innerhalb der Wohngemeinschaft). Diese Sichtweise hilft zu entscheiden, wie andere Personen wie zum Beispiel seine Mitbewohner mit Tom umgehen sollen: Da es ihm im Bereich der Angelegenheiten, die den Umgang mit sich selbst betreffen, an den für Autonomie notwendigen Merkmalen fehlt, besteht kein autonomiebezogener Grund, Eingriffe in sein Tun und Leben zu unterlassen, wenn es um eben diesen Bereich geht. Es wäre beispielsweise normativ nicht problematisch, wenn ein WGMitbewohner ihm eines Abends raten würde, es doch in Bezug auf seine Probleme einmal mit professioneller psychologischer Hilfe zu versuchen.173 Da es Tom aber im Bereich der gemeinschaftlichen Angelegenheiten nicht an den für Autonomie notwendigen Merkmalen fehlt, besteht in diesem Bereich durchaus ein autonomiebezogener Grund, Eingriffe zu unterlassen. Es wäre beispielsweise falsch, wenn die Mitbewohner versuchten, Tom von gemeinschaftlichen Entscheidungen der WG auszuschließen, weil dieser sich angeblich ohnehin nicht entscheiden könne. Dass es falsch wäre, Tom so zu behandeln, liegt daran, dass er in diesem Bereich durchaus als autonom angesehen werden kann. Insofern liegt in diesem Bereich nach der Normativitätsthese auch ein Grund vor, Eingriffe in seine Lebensweise zu unterlassen, und da gemeinschaftliche Entschlüsse, nach denen sich Tom zu richten hätte und von deren Verabschiedung er ausgeschlossen wäre, ein derartiger Eingriff sind, sollten die Mitbewohner es auch unterlassen, ihn von den gemeinschaftlichen Entscheidungen auszuschließen. Die vorgeschlagene Konzeption hilft also, verschiedene „Kompetenzbereiche“ zu unterscheiden, und ermöglicht so
173 Diese Art der Einflussnahme wäre hingegen problematisch, wenn Tom gar kein Problem im Umgang mit sich selbst hätte und die in diesem Bereich für Autonomie notwendige Bedingung der Mündigkeit erfüllen würde.
320 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie eine differenzierte Antwort auf die Frage, wie mit einer Person umzugehen ist, der es nur an ein oder zwei Bedingungen der Autonomie mangelt. Drittens schließlich lässt sich durch die Entgrenzung von Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache hin zu Autarkie, Emanzipation und Engagement auch eine Antwort darauf geben, wonach man streben sollte, wenn man selbst autonom(er) werden will (erstpersonale Perspektive). Der Rat lautet: Man möge seine Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache perfektionieren und ausweiten – man sollte zusehen, dass man möglichst viele eigene Angelegenheiten bestmöglich regelt, sich gegen möglichst viele fremde Eingriffe bestmöglich zur Wehr setzt und sich in möglichst viele gemeinschaftliche Angelegenheiten bestmöglich einbringt. Damit strebt man nach Autarkie, Emanzipation und Engagement. Insofern die vorgeschlagene Konzeption somit beide praktischen Interessen bedienen kann, besteht sie auch diese Bewährungsprobe.
7.5.4 Die Systematisierung des Gegenstands Kann die vorgeschlagene Konzeption personaler Autonomie die verschiedenen Erfahrungen der Selbst- und Fremdbestimmung systematisieren? Eine Systematisierung des Gegenstands „personale Autonomie“ muss, wie in den Abschnitten 1.3 und 1.4 erklärt, aufzeigen, was den vier Perspektiven auf Autonomie gemeinsam ist und worin sie sich unterscheiden. Die Gemeinsamkeiten zwischen den Perspektiven lassen sich in der vorgeschlagenen Konzeption auf zwei Ebenen nachzeichnen: Erstens stiftet bereits die begriffliche Grundstruktur des normativen Begriffs Autonomie eine einheitliche Grundlage, auf der alle Autonomiezuschreibungen basieren (vgl. Abschnitt 6.2, insb. Tabelle 6.1). Dass eine Person autonom hinsichtlich X ist, heißt stets auch, dass diese Tatsache ein inhaltsunabhängiger Grund vom Typ T für die Adressatin A ist, Eingriffe in X zu unterlassen. Je nach Perspektive variieren Gehalt X, Adressatin A und Typus T des Grundes: Unter der erstpersonalen Perspektive ist die Adressatin A die Person selbst und der Grund ist vom Typ eines euzenischen Grundes (der auf das gelungene Leben gerichtet ist). Unter der drittpersonalen Perspektive sind andere Personen die Adressatinnen und der Grund ist vom Typ eines moralischen Grundes. Und unter der lokalen Perspektive betrifft der Gehalt des Grundes die Unterlassung von Eingriffen in Entscheidungen, während er unter der globalen Perspektive die Unterlassung von Eingriffen in die Lebensweise betrifft. Zweitens ergibt sich auch auf der Ebene der Bedingungen personaler Autonomie eine Vereinheitlichung der vier Perspektiven. Der vorgeschlagenen Konzeption zufolge gibt es lediglich eine einzige Menge von Bedingungen, die den (dicken normativen) begrifflichen Kern von Autonomie (sozusagen die Artverwandtschaft
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der Perspektiven) ausmachen: Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache. Diese Bedingungen lassen sich aber je nach Perspektive recht unterschiedlich ausbuchstabieren (und damit werden die spezifischen Unterschiede zwischen den Perspektiven erklärt): Man kann sie in einem umfassenden Sinne anwenden (einer schizophrenen Patientin fehlt beispielsweise die Mündigkeit in Bezug auf ihre finanziellen, rechtlichen, politischen Angelegenheiten), sie können aber auch situativ angewendet und auf spezifische Bereiche bezogen werden (eine Patientin kann mündig sein, wenn es um ihre Patientenverfügung geht, aber in finanziellen Angelegenheiten eine unmündige „finanzielle Analphabetin“ sein). Auf diese Weise ergibt sich der Unterschied zwischen globalem und lokalem Skopus (Autonomie hinsichtlich der Lebensführung und Autonomie hinsichtlich einzelner Handlungen oder Entscheidungen). Die Unterschiede zwischen erst- und drittpersonaler Perspektive resultieren daraus, dass man die Bedingungen Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache je nach praktischem Interesse zum einen als binäre Begriffe, zum anderen als entgrenzte Ideale auffassen kann: Unter der drittpersonalen Perspektive ist es für den Bankangestellten nur wichtig, ob eine Person geschäftsfähig ist, damit der Kreditvertrag Gültigkeit erlangt. Hier gilt die Person entweder als mündig in Bezug auf ihre finanziellen Angelegenheiten oder nicht als mündig in Bezug auf diese, so dass Mündigkeit wie ein binärer Begriff funktioniert. Wenn uns die bereichsspezifische Mündigkeit in Bezug auf finanzielle Angelegenheiten aber als persönliches Ideal interessiert, dann kann man die Grenze, ab der man unter der drittpersonalen Perspektive als mündig in finanziellen Angelegenheiten gilt, aufheben; man kann dann immer noch mündiger werden (und sich zum Beispiel noch mehr Wissen über Aktienoptionen, Immobilienfonds und strukturierte Produkte aneignen); ein „Entweder-Oder“ gibt es dabei nicht. Auf diese Weise lassen sich die vier Perspektiven auf Autonomie voneinander unterscheiden, obwohl sie in einem gemeinsamen begrifflichen Kern (Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache) wurzeln.174 Damit erfüllt die vorgeschlagene Konzeption auch das dritte Adäquatheitskriterium: Sie systematisiert ihren Gegenstand.
7.5.5 Die Lösung des Rätsels personaler Autonomie Wie geht die vorgeschlagene normative Konzeption mit dem Rätsel der Autonomie um? Nach den Überlegungen dieses Kapitels sollte klar sein, dass die Konzeption, die ich vertreten möchte, am ehesten dem (ausgefeilten) interaktionalistischen 174 Darum stellt sich auch das Abgrenzungsproblem des Internalismus für die hier entwickelte Konzeption nicht.
322 | 7 Normative Bedingungen personaler Autonomie Lager zuzurechnen ist. Denn auch ich möchte den Gegensatz zwischen Selbst- und Weltverhältnissen in gewissem Sinne bestreiten: In normativer Hinsicht nämlich besteht zwischen Selbst- und Weltverhältnissen kein Unterschied. Dass man bestimmte Dinge von jemandem nicht berechtigterweise erwarten darf, kann sowohl auf interne als auch auf externe Faktoren zurückgehen. Jede der drei Bedingungen Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache (bzw. unter der erstpersonalen Perspektive Autarkie, Emanzipation und Engagement) hängt somit – in normativer Hinsicht – vom Bestehen geeigneter Selbst- und Weltverhältnisse ab. Die ausgefeilten Interaktionalistinnen sehen meines Erachtens ganz richtig, dass der Gegensatz von internen und externen Bedingungen letztlich nicht so wichtig ist. Doch sie wollen sagen, dass es zwischen diesen Arten von Bedingungen keinen Unterschied gibt (genau das soll ja das interaktionale Weltbild über die soziale Konstitution des Selbst zeigen). Damit gehen sie aber zu weit: Es lässt sich nicht leugnen, dass Selbst- und Weltverhältnisse in gewissen Hinsichten – jenen, die hinter These (III) des Trilemmas stehen – eben doch sehr unterschiedlich sind. Wenn die ausgefeilten Interaktionalistinnen doch leugnen, dass es überhaupt einen Unterschied zwischen internen und externen Bedingungen (bzw. Selbst- und Weltverhältnissen) gibt, dann kaufen sie sich damit das Problem ein, dass uns nicht mehr klar ist, was der Vergleichsmaßstab sein soll, im Hinblick auf den sich Selbst- und Weltverhältnisse ähneln sollen. Das führt auf das Sui-generis-Problem und in der Folge z. B. auf die Schwierigkeit, dass der postulierte Zusammenhang von Selbst und Welt angeblich weder begrifflicher noch empirischer Natur ist. Im Unterschied zu den ausgefeilten interaktionalistischen Positionen aus Abschnitt 5.3 möchte ich daran festhalten, dass es durchaus Unterschiede zwischen Selbst- und Weltverhältnissen gibt. Nur bestehen diese Unterschiede in der Hinsicht, auf die es ankommt, eben gerade nicht: Da Autonomie ein normativer Begriff ist, kommt es auf die normative Hinsicht an – und in dieser Hinsicht ähneln sich Selbst- und Weltverhältnisse, weil beide – als interne und externe Kriterien – relevant sind für die Erfüllung der Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache. Die diagnostische These, dass Autonomie ein (dicker) normativer Begriff ist, liefert damit den Vergleichsmaßstab, der den interaktionalistischen Positionen fehlte. Das erklärt auch, warum der gesuchte interaktionalistische Zusammenhang von Selbst und Welt weder begrifflicher noch empirischer Natur ist: Selbst und Welt sind sozusagen über ihre gemeinsame normative Relevanz für die Frage, was man von einer Person hinsichtlich Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache erwarten darf, verbunden. Das heißt, der Zusammenhang von Selbst und Welt ist ein normativer – und normative Zusammenhänge sind (oft) weder begrifflicher noch empirischer Natur. Nun sieht man auch, warum es bei der Diagnose des Scheiterns der drei Standardstrategien (Abschnitt 6.5) so wichtig war, zu betonen, dass (im Unterschied zu
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Internalismus, Externalismus und konjunktivem Interaktionalismus) gegen die ausgefeilte interaktionalistische Strategie keine fundamentalen Bedenken sprachen: Es war nicht ausgemacht, dass die besondere Natur „interaktionalistischer“ Bedingungen, die den Gegensatz von internen und externen Bedingungen überwinden sollte, grundsätzlich nicht verständlich gemacht werden kann. Es zeigte sich lediglich, dass dies bisher nicht erfolgreich geleistet worden ist, weil nicht explizit an der richtigen Stelle – nämlich in normativen Bereich – danach gesucht worden ist. Sucht man hingegen an dieser Stelle, dann entpuppen sich die „interaktionalistischen“ Bedingungen für Autonomie, nach denen die ausgefeilte Interaktionalistin (vergeblich) suchte, als normative Bedingungen: Die normativen Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache überwinden den Gegensatz von Selbst- und Weltverhältnissen, ohne ihn (wie im ausgefeilten Interaktionalismus) vollständig aufzugeben. Das führt dazu, dass die vorgeschlagene Konzeption an den Thesen (I) und (II) des Trilemmas festhält, aber These (III) leugnet und diese durch zwei andere Thesen ersetzt: erstens durch die (diagnostische) These, dass es bei Autonomie auf die normative Hinsicht ankommt (dass Autonomie ein dicker normativer Begriff ist), und zweitens durch die These, dass in normativer Hinsicht keine Unterschiede zwischen Selbst- und Weltverhältnissen bestehen. Die Lösung des Rätsels personaler Autonomie besteht also letztlich darin, dass man das Trilemma mit Hilfe der diagnostischen und der konstruktiven These in ein Tetralemma überführt: Die Lösung des Rätsels personaler Autonomie (I) (II) (III* ) (IV)
Autonomie ist von der Art eines Selbstverhältnisses. Autonomie ist von der Art eines Weltverhältnisses. In normativer Hinsicht ähnelt ein Selbstverhältnis einem Weltverhältnis (in anderen Hinsichten hingegen nicht). Autonomie ist seiner Natur nach ein dicker normativer Begriff (das heißt, die normative Hinsicht ist entscheidend).
Während These (III* ) – die Aufhebung des Widerspruchs zwischen Selbst- und Weltverhältnis in normativer Hinsicht – das Ergebnis der konstruktiven Überlegungen dieses Kapitels ist, geht These (IV) auf die diagnostischen Überlegungen aus Kapitel 6 zurück. Diese vier Thesen widersprechen einander nicht mehr – im Gegenteil, sie ergänzen sich. Das philosophische Rätsel personaler Autonomie ist damit zufriedenstellend gelöst.
Zusammenfassung Rückblick Diese Arbeit ist in drei Teilen der Natur personaler Selbstbestimmung – d. h. der Frage, was es heißt, als Person autonom zu sein – nachgegangen. In Teil I wurde zunächst die philosophische Aufgabe näher bestimmt. Eine philosophische Konzeption von der Natur der Selbstbestimmung muss, so zeigte sich, den Begriff Autonomie schärfen und dabei drei weitere Kriterien erfüllen: Erstens muss sie die praktischen Erkenntnisinteressen, die hinter der Ausgangsfrage stehen, befriedigen und uns bei den Fragen, wie wir mit der Autonomie anderer Personen umgehen sollen und wie wir unsere eigene Autonomie herstellen sollen, weiterhelfen. Zweitens muss die Konzeption die verschiedenen Phänomene, die unter verschiedenen Blickwinkeln mit Autonomie zu tun haben, systematisieren. Und sie muss drittens den Widerspruch zwischen den folgenden drei Überzeugungen auflösen, zu denen wir gelangen, wenn wir vortheoretisch über personale Autonomie nachdenken: (I) (II) (III)
Autonomie ist von der Art eines Selbstverhältnisses. Autonomie ist von der Art eines Weltverhältnisses. Ein Selbstverhältnis ist von ganz anderer Art als ein Weltverhältnis, so dass gilt: Wenn etwas von der Art eines Selbstverhältnisses ist, dann ist es nicht von der Art eines Weltverhältnisses.
Dieses Trilemma habe ich das „Rätsel personaler Autonomie“ genannt. Teil II hat die drei Standardstrategien zur Lösung dieses Widerspruchs genauer untersucht. Die internalistische Strategie besteht darin, These (II) aufzugeben und Autonomie als reines Selbstverhältnis zu verstehen. Dies führt auf die Auffassung, dass die Autonomie einer Person ausschließlich von internen Bedingungen abhängt. Interne Bedingungen sind Aussagen über das Innenleben der Person (d. h. über ihre mentalen Zustände oder Vermögen bzw. über Relationen zwischen diesen). Es zeigte sich jedoch, dass man innerhalb dieses Rahmens keine Menge von internen Bedingungen finden kann, die (a) beanspruchen können, den wahren Willen der Handelnden zu repräsentieren (Autoritätsproblem), die (b) sich grundsätzlich auch für eine Übertragung auf alle vier Blickwinkel auf Selbstbestimmung eignen (Abgrenzungsproblem), und die (c) aus Sicht der Handelnden eine regulative Wirkung entfalten können (Problem motivierender Transparenz). Internalistische Konzeptionen haben dabei das grundsätzliche Problem, dass sie mit der Ablehnung von These (II) keine Aussagen machen können über die Umstände in der äußeren Welt, unter denen das Selbstverhältnis, das sie als zentral
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für Autonomie ansehen, zustande gekommen ist – doch genau darauf scheint es oft anzukommen. Die externalistische Strategie geht gerade von diesen Bedingungen in der äußeren Welt aus und konzipiert Autonomie als ein reines Weltverhältnis, indem sie These (I) leugnet. Gemäß dieser Auffassung sind ausschließlich externe Bedingungen für die Autonomie einer Person relevant (wobei externe Bedingungen solche sind, die nicht intern sind, also nicht das Innenleben der Person betreffen, sondern die Welt, die die Person umgibt). Man kann vier Klassen von externalistischen Konzeptionen unterschieden – substanzielle, optionsbasierte, historische und soziale Konzeptionen –, die jeweils mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert sind (Konfundierungsproblem, Problem mit der Individualität, Herausforderung der inneren Perspektive, Begründungsproblem). Dabei wurzeln diese Probleme letztlich in der Ablehnung von These (I) und dem Verzicht auf die Idee des Selbst: Die externalistische Lösungsstrategie spezifiziert nämlich lediglich gewisse äußere Bedingungen für Autonomie, doch es scheint immer auch darauf anzukommen, wie sich diese äußeren Bedingungen eigentlich aus Sicht der betreffenden Person darstellen – und das lässt sich nur mittels interner Bedingungen verstehen, auf die der Externalismus aber gerade verzichtet. Die interaktionalistische Lösungsstrategie schließlich verneinte These (III) des Trilemmas und damit die Auffassung, dass Selbst- und Weltverhältnisse einander ausschließen. Stattdessen müsse man Autonomie als ein Zusammenspiel von Selbst und Welt, als ein „Sich-in-Beziehung-zur-Welt-Setzen“ verstehen. Diese Auffassung tritt in zwei Varianten in Erscheinung: Der konjunktiven Variante zufolge ist Autonomie Selbst- und Weltverhältnis zugleich und entsprechend sind sowohl interne als auch externe Bedingungen für Autonomie ausschlaggebend. Der ausgefeilten Variante zufolge macht es keinen Sinn, zwischen internen und externen Bedingungen zu differenzieren, weil Selbst und Welt untrennbar miteinander verwoben sind. Beide Spielarten des Interaktionalismus stoßen jedoch auf grundsätzliche Schwierigkeiten: Die konjunktive Variante ist inhärent instabil; sie droht stets, in eine rein internalistische oder eine rein externalistische Position zu kollabieren — und damit handelt sie sich auch deren typische Probleme ein. Die ausgefeilte Variante hat demgegenüber das Problem, die besondere Form der „Verwobenheit“ von Selbst und Welt verständlich zu machen: Entweder fällt man dabei stets auf die konjunktive Variante des Interaktionalismus (und deren Problem der inhärenten Instabilität) zurück, oder man postuliert bloß, dass es sich beim Zusammenhang von Selbst und Welt um einen Zusammenhang ganz eigener Art handelt – der letztlich unverständlich bleibt (Sui-generis-Problem). Damit sind die bisherigen Versuche, das Rätsel der Autonomie zu lösen und den Begriff der Autonomie entsprechend der Vorgaben aus Teil I zu schärfen,
326 | Zusammenfassung gescheitert. Als Alternative zu den Standardstrategien hat Teil III eine normative Auffassung personaler Autonomie entwickelt und verteidigt. Diese Auffassung besteht hauptsächlich aus zwei Thesen: Nach der diagnostischen These handelt es sich beim Begriff Autonomie um einen dicken normativen Begriff, der sich auf eine bestimmte Form praktischer Autorität bezieht. Demnach lassen sich Aussagen über Autonomie stets als Aussagen über das Vorliegen von praktischen Gründen für die Unterlassung von Eingriffen verstehen. Dicke normative Begriffe tragen deskriptive und normative Aspekte in sich. Im Lichte dieser diagnostischen These kann man die Probleme der Standardstrategien dann so deuten, dass der Internalismus den normativen Aspekten nicht gerecht wird, der Externalismus die deskriptiven Aspekte nicht richtig erfasst und der Interaktionalismus das Zusammenspiel von normativen und deskriptiven Aspekten falsch konzipiert. Die diagnostische These liefert dabei lediglich einen Standpunkt, von dem aus sich ein neuer Blick auf die Ausgangsfrage ergibt: Die Frage nach den Bedingungen personaler Autonomie wird mit der diagnostischen These „transformiert“ in die Frage nach den Bedingungen für das Vorliegen bestimmter praktischer Gründe. Die konstruktive These der vorgeschlagenen normativen Konzeption personaler Autonomie benennt solche Bedingungen: Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache. Nach dieser Auffassung zeichnet sich die autonome Person dadurch aus, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regeln, sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzen und in Angelegenheiten, die sie betreffen, aber von anderen mitentschieden werden, mitreden kann. Wann diese Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache erfüllt sind, ist eine normative Frage, weil das Können in diesen Bedingungen in einem bestimmten – nämlich normativen – Sinne zu verstehen ist: Es hängt davon ab, was man von einer Person berechtigterweise erwarten darf. Und dafür sind sowohl interne als auch externe Bedingungen relevant. Nach der konstruktiven These besteht also in der Hinsicht, auf die es nach der diagnostischen These ankommt – die normative Hinsicht –, zwischen Selbstverhältnissen (die von internen Bedingungen beschrieben werden) und Weltverhältnissen (die von externen Bedingungen beschrieben werden) gerade kein Unterschied. Das Rätsel der Autonomie löst sich somit in vier Thesen auf: (I) (II) (III* ) (IV)
Autonomie ist von der Art eines Selbstverhältnisses. Autonomie ist von der Art eines Weltverhältnisses. In normativer Hinsicht ähnelt ein Selbstverhältnis einem Weltverhältnis (in anderen Hinsichten hingegen nicht). Autonomie ist seiner Natur nach ein dicker normativer Begriff (das heißt, die normative Hinsicht ist entscheidend).
Ausblick
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Ausblick Damit sind aber natürlich noch nicht alle Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Autonomie von Personen stellen, auch gelöst. In den Ausführungen zu den Bedingungen personaler Autonomie in Kapitel 7 blieben an mindestens drei Stellen weitere Fragen ungeklärt: 1. Anhand welcher Kriterien bemisst sich das Vorliegen der Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache? Diese Frage zielt darauf, normative Prinzipien oder zumindest „Faustregeln“ der Form „Wenn Bedingung B erfüllt ist, dann darf man von einer Person berechtigterweise erwarten, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regelt/sich gegen fremde Eingriffe zur Wehr setzt/in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitredet“ zu formulieren. Es ist, wie mehrfach betont, eine Aufgabe der normativen Ethik, die Bedingungen B zu finden. 2. Wie ist eine Person in unklaren Fällen im Hinblick auf ihre Autonomie zu beurteilen, wenn sie nur eine oder zwei der drei Bedingungen der Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache erfüllt? Da jede der Bedingungen anhand normativer Standards bemessen wird, betrifft diese Frage die Gewichtung von verschiedenen normativen Erwägungen. Wenn beispielsweise Mündigkeit und Mitsprache gegeben sind, Wehrhaftigkeit hingegen nicht, so lautet die relevante Frage: Liegt der für Autonomie spezifische Grund, Eingriffe zu unterlassen, bereits dann vor, wenn man von einer Person erwarten darf, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten regelt und in gemeinschaftlichen Angelegenheiten mitredet, wenn man aber von ihr nicht erwarten darf, dass sie sich zur Wehr setzt? Auch die Beantwortung dieser Frage fällt in die Zuständigkeit der normativen Ethik. 3. Welche Rolle spielt der autonomiebezogene Grund im Verhältnis zu anderen Gründen unserer gesamten normativen bzw. moralischen Praxis? Die diagnostische Normativitätsthese, dass es sich bei Autonomie um einen dicken normativen Begriff handelt, impliziert lediglich, dass Autonomie stets einen (moralischen oder euzenischen) Grund konstituiert, Eingriffe zu unterlassen. Oft sprechen aber auch gute Gründe für derartige Eingriffe (z. B. dann, wenn jemand auf autonome Weise ein Verbrechen begeht). Die Frage, welchen Stellenwert der autonomiebezogene Grund im Vergleich zu anderen Gründen hat, habe ich in dieser Arbeit vollständig ausgeklammert. Sie ist aber zweifelsohne relevant für die praktischen Kontexte, in denen Autonomie in Spannung steht zu anderen Erwägungen (wie Patientenwohl, Menschenwürde, Gleichheit oder dem gelungenen Leben). Doch auch diese Frage der Gewichtung von verschiedenen normativen Erwägungen ist im Bereich der normativen Ethik angesiedelt.
328 | Zusammenfassung Die Beantwortung dieser Fragen kann nicht mehr im Rahmen dieser Untersuchung erfolgen. Diese Arbeit ist somit allenfalls ein erster Schritt einer noch zu entwickelnden, umfassenden „Theorie personaler Autonomie“ (die sich allerdings, wenn die hier angestellten Überlegungen zutreffen, überwiegend „in normativen Gefilden“ – das heißt in der Ethik – bewegen müsste). Eine wichtige Konsequenz hat die hier entwickelte Auffassung von der Natur personaler Autonomie allerdings: Der Begriff personale Autonomie ist nicht grundlegend für die Moral als Ganzes – jedenfalls nicht in dem kantischen Sinne, dass sich die Inhalte moralischer Gebote aus dem Autonomiebegriff ableiten lassen (vgl. auch Raz 1986, 370, Anm. 2; Richardson 2001, 300). Denn wenn die Zuschreibung von personaler Autonomie in eine normative und teils moralische Praxis eingebettet ist und die Bedingungen dafür, dass eine Person autonom ist, teils selbst moralischer Natur sind, dann muss man bereits eine moralisch strukturierte Sphäre (eben die der normativen Bedingungen für Autonomie) voraussetzen, um den Autonomiebegriff überhaupt erst anwenden zu können. Und darum kann man die Moral nicht als Ganzes auf personaler Autonomie gründen. Das heißt natürlich nicht, dass personale Autonomie nicht in einem anderen Sinne eine grundlegende Funktion innerhalb der Moral übernehmen kann: Die besondere Form praktischer Autorität in einem Bereich, über den die Person und nur sie allein verfügen kann, ist ja in der Tat für viele moralische Phänomene von Bedeutung. Nach der Konzeption, für die diese Arbeit argumentiert hat, ist personale Autonomie vielleicht ein Grundbegriff der Moral – nicht aber ihre Grundlage.
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Personenregister A Agich, George J. 4 Allmark, Peter 25 Anderson, Joel 4, 133–135, 147, 168, 173–175, 195 Appiah, Kwame Anthony 23 Ariely, Dan 129 Arneson, Richard J. 93, 122 Arpaly, Nomy 29, 31 B Baumann, Holger 31, 33, 180, 279, 305 Baumann, Peter 216 Baz, Avner 217 Beauchamp, Tom L. 2, 4 Belnap, Nuel 18 Benn, Stanley I. 2 Benson, Paul 94, 104, 108–110, 113, 123, 134, 136, 147, 169, 175–177, 182, 221 Berlin, Isaiah 2, 112 Berofsky, Bernard 44, 47f. Betzler, Monika 180, 301 Beyleveld, Deryk 313 Bickerman, Elias J. 222f., 260 Bieri, Peter 79 Birnbacher, Dieter 195, 271 Bittner, Rüdiger 57 Blöser, Claudia 144, 180–182 Bosworth, A. B. 223 Bransen, Jan 12 Bratman, Michael E. 83–89, 92–95, 113, 221, 239, 241 Brownsword, Roger 313 Buss, Sarah 2, 41, 80, 86, 147, 156–159 Butler, Judith 58 C Carnap, Rudolf 18 Childress, James F. 2 Christman, John 2, 4, 12, 18f., 27, 33, 35, 56, 71, 111, 113, 128–130, 147f., 150–154, 162, 182, 212, 216 Coeckelbergh, Mark 44, 48
Colburn, Ben 4 Collins, Steven 58 Conly, Sarah 213 Crisp, Roger 12 Cuypers, Stefaan E. 2 D Dancy, Jonathan 255 DeGrazia, David 12 Dorsey, Dale 219 Double, Richard 61f., 293 Dworkin, Gerald 12, 29, 34, 109, 119, 121–123, 127, 143, 147, 156, 251 E Ekstrom, Laura Waddell 27, 93, 129 Elstein, Daniel Y. 226 Emundts, Dina 274 Ernst, Gerhard 89, 192, 257, 283 F Faden, Ruth R. 4 Farr, James 261 Feil, Ernst 222 Feinberg, Joel 212, 230, 305–307 Forst, Rainer 313 Frankfurt, Harry G. 2, 71, 74–76, 78–81, 85, 87, 89–95, 119, 239, 277 Frazer, Michael L. 260 Freitag, Wolfgang 217 Friedman, Marilyn 27, 44, 58, 71, 112, 131, 147, 149f., 152–154, 163–166, 168, 203 G Garnett, Michael 276 Gertken, Jan 227, 229 Govier, Trudy 147, 168, 171f., 182 Gowans, Christopher W. 58 Griffin, James P. 15, 18 Gupta, Anil 12 Gutmann, Thomas 27 H Hacker, P. M. S. 11
342 | Personenregister
Hall, John Stuart 118 Hansen, Mogens Herman 260 Harcourt, Edward 226 Harman, Gilbert H. 218 Hart, H. L. A. 199 Haworth, Lawrence 112, 156, 216 Heathwood, Chris 218 Henning, Tim 12, 33, 102, 109, 120, 195 Hildt, Elisabeth 4 Honneth, Axel 133–135, 147, 162, 164, 168, 173f. Hurka, Thomas 226 Hurley, Susan L. 255 J Jagow, Bettina von 2 Johnston, David 111 Jouan, Marlène 24, 100 K Kant, Immanuel 2, 12, 108, 222, 328 Kauppinen, Antti 131, 136 Kiesewetter, Benjamin 227 Kristinsson, Sigurdur 12 Kupfer, Joseph H. 179, 192 L Lévy, Edmond 222, 260 Levy, Yair 242 Luker, Kristin 108 M Mackenzie, Catriona 31, 132, 147, 168, 221, 230, 301 Macklin, Ruth 313 Maier, Andreas 15, 18, 124, 313 Marcel, Anthony 73 Margalit, Avishai 124 Marshall, James D. 4 May, Thomas 56 Mayr, Erasmus 3, 47, 79f., 231 McDowell, John 226, 255 McKenna, Michael 12 McLeod, Carolyn 12f., 147, 170, 304 Meehan, Johanna 162f. Mele, Alfred R. 12, 100 Meyer, Kirsten 270
Meyers, Diana T. 12, 20, 23, 112, 134, 136, 147, 170, 176, 178–183 Mill, John Stuart 112f., 219 Millgram, Elijah 195 N Nedelsky, Jennifer 132, 162, 164 Noggle, Robert 111, 129 Nordström, Karin 4, 195 Nozick, Robert 108 O Obama, Barack 296 Odysseus 129, 149, 151 O’Neill, Onora 108 Oshana, Marina 12, 20, 33f., 44, 71, 114, 122f., 127, 133–135, 147, 153–155, 221, 226 Ostwald, Martin 222f., 260 P Parfit, Derek 228 Pettit, Philip 2, 113 Pistorius, Thomas 223 Pohlmann, Rosemarie 2 R Rabinowicz, Wlodek 196 Rawls, John 2 Raz, Joseph 2, 13, 15, 18, 104, 110, 112, 114–117, 119–121, 147, 153–155, 198f., 202, 225, 313, 328 Reich, John W. 118 Remnick, David 296 Richardson, Henry S. 100, 113f., 328 Rønnow-Rasmussen, Toni 196 Rössler, Beate 41, 109 Roughley, Neil 41 Ryle, Gilbert 162 S Santiago, John 132, 134, 140, 162, 183 Scanlon, T. M. 196 Schaber, Peter 124 Schmidt, Thomas 227 Schöpf, Aron 144, 180–182 Schwartz, Andrew W. 31, 111 Seidel, Christian 111
Personenregister |
Sher, George 4 Siderits, Mark 58f. Skinner, Quentin 261 Smith, Michael 113 Spaemann, Robert 41, 223 Stoecker, Ralf 19, 37, 195 Stoljar, Natalie 108, 301 Strube, Miriam 58 T Taniguchi, Toyo 59 Taylor, Charles 147, 162f., 168, 173 Taylor, James Stacey 34, 56 Taylor, Robert S. 108 Thalberg, Irving 94 Thiele, Felix 4 Thomas, Alan 226 Thompson, Michael 49
343
Velleman, J. David 313 W Wallace, R. Jay 225, 237 Watson, Gary 75–83, 85f., 89, 91f., 94, 113, 225, 239–241, 267 Weimer, Steven 277 Wellman, Carl 203, 231 Wertenbroch, Klaus 129 Westlund, Andrea C. 175f. Whitehead, David 223 Willaschek, Markus 144, 180–182 Williams, Bernard 195, 226, 255 Winch, Christopher 4 Wittgenstein, Ludwig 16, 35 Wolf, Susan 12, 109f., 225 Wright, Georg Henrik von 18
U Ursin, Lars Øystein 56
Y Young, Robert 23, 130, 293
V Väyrynen, Pekka 217
Z Zautra, Alex J. 118
Sachregister A Abgrenzungsproblem 80f., 86, 89, 91, 96f., 111, 239, 241, 310, 324 Adäquatheitskriterien für Autonomiekonzeptionen 4f., 11f., 17, 20f., 30, 34, 36f., 52f., 63, 81, 111, 138, 209, 238, 257–259, 308–324 Affekttat 21, 23, 25, 27, 54, 73, 78–82, 84, 92, 109, 111, 158, 289, 304, siehe auch Entfremdung Alter 2, 16, 117, 262f., 274, 282, 284 Ambivalenz 22–24, 28, 54f., 90–92, 109, 180, 302 ¯ anatta-Lehre 58f. Anerkennung 133, 174 Autarkie 7, 135, 300–302, 306, 313, 320, 322 Authentizität 22, 26, 38, 156, 274f. Autonomie – als dicker normativer Begriff siehe Normativitätsthese – als Metapher 260 – als praktische Autorität 7, 195–203, 209, 221f., 230, 242, 288, 326 – als Vermögen, Ausübung eines Vermögens, Recht oder Ideal 230, 305–307 – autonomer Abtritt von 18, 223f., 279, 297 – Begriff siehe Begriff der Autonomie – der Entscheidung siehe Perspektiven auf Autonomie, lokale – der Lebensführung siehe Perspektiven auf Autonomie, globale – der polis 222f., 259–261, 294f. – Dualismus 52 – Etymologie 222f., 259–261 – Grundschema der Analyse von 69, 100, 142, 254f. – Interesse an 1f., 17, siehe auch Erkenntnisinteresse, praktisches – und Bosheit 231–235 – unklare Fälle siehe normative Autonomiebedingungen, vollständige vs. partielle Erfüllung
– von Personen vs. Nicht-Personen 1, 222f., 261 – Wert siehe Wert der Autonomie Autonomiezuschreibungen – Gegenstände von 12 – normalsprachliche 13–15 – Phänomenologie der 215f. – Skopus 23, 25, 102, 204 Autorität 133f., 222, 245, 259 – praktische 198–200, 202, 211, 222, 246, 294, siehe auch Autonomie als praktische Autorität Autoritätsproblem 75f., 88f., 96f., 153, 239, 310, 324 B Bedingungen der Autonomie 202, 235f. – externe siehe externe Autonomiebedingungen – fundamentale 106 – interaktionalistische siehe interaktionalistische Autonomiebedingungen – Internalisierung externer 70f., 155 – interne siehe interne Autonomiebedingungen – normative siehe normative Autonomiebedingungen – Verhältnis von internen und externen 101, 104–106, 142, 161–163, 165 – vs. Bedingungen der Achtung von Autonomie 127f., 247, 316, siehe auch Begründungsproblem – vs. Kriterien der Autonomie 256, 271–273, 289, 292f. – vs. Verletzungen und Bedrohungen der Autonomie 314–316 Begriff der Autonomie 1, 3, 11, 51, 57, 189–195 – abstufbarer 28, 299 – binärer 27f., 259, 270, 299, 321 – deskriptive Verwendung 216–218, 226 – Kern 34–36, 81f., 209, 214, 238, 304, 308, 320
346 | Sachregister
– praktische Funktion 15, 18f., 31f., 57, 59, 111f., 126, 203f., 214, 222f., 242, 258 – Schärfung 4, 16–21, 36–38, 57, 62f., 111, 138, 142–144, 226, 258, 308, 312–318, 324 – Subjektivierung 62, 293 – Unschärfe 12–15, 57 – Wurzellosigkeit 12–15, 51 Begriffe – dicke 195, 217–219, 222, 242, 250f., 264f., 312, 326 – Analyse 252–255 – Analysierbarkeit 226, 255 – Merkmale 194f., 219–221, 226–229, 252 – Pragmatik vs. Semantik 217 – vs. dünne 192–195, 220, 265 – Zusammenspiel von deskriptiven und normativen Aspekten 251–253, 256, 309, 312 – normative 190–192, 220, 224f. Begründungsproblem 124–128, 131, 133, 137f., 247–249, 311, 315f., 325 Bosheit siehe Autonomie und Bosheit
D Demütigung 124f., 178 Depression 93, 109, 274–276, 287, 297, 305f.
E Eingriffe, verschiedene Arten von 277, 288 Emanzipation 7, 300–303, 306, 313, 320, 322 Engagement 7, 300f., 303, 313, 320, 322 Entfremdung 22, 26, 39, 47, 73–75, 78–81, 91f., 120, 239, 274, siehe auch Affekttat – vs. Willensschwäche 78–80 Entgrenzung 7, 28–30, 259, 299f., 321 Erkenntnisinteresse – praktisches 4, 15, 17–20, 23, 36, 57–59, 63, 127, 138, 204, 257f., 308, 310, 318–321 – theoretisches 5, 52f., 58 Erwartung, normative vs. epistemische 267, 283 Erziehung 4, 17, 42, 71, 122, 126, 130, 150, 171, 212, 294 Ethik 236–238, 272f., 276, 279, 281, 290, 298, 300, 303, 317f., 327f.
Externalismus 6f., 53, 103, 105f., 140–142, 147, 153, 155, 325 – Definition 101f., 104f. – Diagnose aus Sicht der Normativitätsthese 238, 243–251, 326 – grundsätzliche Schwierigkeit 137f., 256, 309 – historische Variante 103, 121f., 134 – Diagnose aus Sicht der Normativitätsthese 247–249 – Probleme siehe Begründungsproblem; innere Perspektive, Herausforderung der – optionsbasierte Variante 103, 114f. – Diagnose aus Sicht der Normativitätsthese 246f. – Probleme siehe innere Perspektive, Herausforderung der; Selbstverhältnis, explanatorische Priorität; Resilienz; Offenheit, fetischisierte; innere Reaktion auf Autonomieverluste – soziale Variante 103, 131f., 279 – Diagnose aus Sicht der Normativitätsthese 249f. – Probleme siehe Begründungsproblem; Symmetrieproblem; innere Perspektive, Herausforderung der – substanzielle Variante 103, 107f. – Diagnose aus Sicht der Normativitätsthese 244–246 – Probleme siehe Konfundierungsproblem; Individualität, Problem mit der externe Autonomiebedingungen 83, 93, 97f., 101–105, 132, 141–143, 147, 153, 161, 254, 309, 325f. – als Normalitätsbedingungen für interne Bedingungen 100f., 141 – kausale Relevanz für interne Bedingungen 71, 149, 163, 172 F Faulheit 275f., 305–308 Feminismus 161 Fleiß 266, 268, 306–308 Folter 124f., 266–269 G Gehalt (von Entscheidungen etc.) 42f., 99, 102f., 107, 114, 137
Sachregister |
Gleichheit 20, 26, 47, 249, 327 Gründe 83, 87, 110, 113f., 157, 175, 190–194, 220, 227–229, 231–233, 246–249, 256, 310 – abhängige 202f., 288 – Arithmetik 233–235 – autonomiebezogene 194–203, 213, 216, 236, 238–247, 249–251, 254, 258f., 282, 288, 318f. – Gewicht 209f., 213, 217, 231 – unter vier Perspektiven 204–208 – bei Entfremdung 79f., 239 – euzenische 207 – inhaltsunabhängige 198–203, 208f., 221, 237, 243, 245f., 250, 254, 258, 284, 286, 288, 307, 311 – Mehrfachzählung 227–229 – moralische 197f., 203, 206f. – Polarität 234 – Rolle in Autonomiekonzeptionen 113 – und Autorität siehe Autorität, praktische – und normativer Umschwung 191f., 204, 213, 242 – und Selbstbestimmungsgrundsätze 84, 241 – und Werte 196 H Handlungsspielraum 5, 42f., 55f., 60, 70, 99, 102f., 114–120, 137, 145, 151, 153f., 246f., 277, 292 Heteronomie 3, 16, 77–79, 86, 109, 210–212, 233–235, 242, 262, 295, 298f. hierarchische Konzeption 74f., 239 Hypnose 22, 129, 149, 152, 191, 277, 294 I Ideal der Autonomie 7, 24, 28–31, 205f., 211f., 247, 299–307, 313f., 321 Individualität 22, 48, 112–114, 245 – Problem mit der 112–115, 122, 135, 137f., 155, 244–246, 250, 311, 325 Inhaltsunabhängigkeit (von Selbstverhältnissen) 45f., 60, 199 – von Gründen siehe Gründe, inhaltsunabhängige innere Perspektive, Herausforderung der 116–121, 129–131, 135–138, 149, 246f.,
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325, siehe auch innere Reaktion auf Autonomieverluste; Offenheit, fetischisierte; Resilienz; Selbstverhältnis, explanatorische Priorität innere Reaktion auf Autonomieverluste 119–121, 137, 154, 246, 311 Instabilität, Problem der inhärenten 158–160, 167, 177, 185f., 251, 254f., 311, 325 Instrumentalisierung 193, 296, 312f. intentionales Handeln 3, 82 Interaktion von Selbst und Welt 6, 53, 139f., 144–146, 161, 325 – kausal vs. begrifflich verstanden 172f., 178, 184, 256f. Interaktionalismus 6f., 53, 105f., 325 – ausgefeilte Variante 6, 145, 161, 185, 325 – Definition 143–145 – Diagnose aus Sicht der Normativitätsthese 255–257 – Probleme 167, 174–178, 180–185, siehe auch Sui-generis-Problem; Interaktionalismus, ausgefeilte Variante, Rückfall in konjunktive Variante – Rückfall in konjunktive Variante 172, 177f., 181f., 184f. – Definition 140–142 – Diagnose aus Sicht der Normativitätsthese 238, 251–257, 326 – grundsätzliche Schwierigkeit 185f., 309 – konjunktive Variante 6, 105, 145–148, 172, 185, 325 – Definition 142f. – Diagnose aus Sicht der Normativitätsthese 253–255 – Probleme 153, 155f., 158–161, siehe auch Instabilität, Problem der inhärenten – Weltbild 162–166, 172, 184 interaktionalistische Autonomiebedingungen 144f., 160f., 167f., 174, 178, 183–185, 323 Internalismus 5–7, 53, 105f., 140, 142, 147, 153, 324f. – Definition 69f. – Diagnose aus Sicht der Normativitätsthese 238–242, 326 – grundsätzliche Schwierigkeit 97f., 256, 309
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– Probleme 89, 96, 274, siehe auch Autoritätsproblem; Abgrenzungsproblem; Transparenz, Problem motivierender – Struktur 72–74, 89, 96 interne Autonomiebedingungen 68f., 95, 97, 101, 105, 128, 141–143, 147, 155, 161, 254, 309, 324–326 – Rolle im Externalismus 104f.
K Kindheit 2, 16, 42, 54, 212, 262f., 282, 284, 296 Können, normatives 266–269, 326 – und metaphysisches 265–268 Kommunitarismus 161 Konformität 22–25, 28, 54, 94, 151, 153, 158f., 168, 205f., 211, 246, 303 Konfundierungsproblem 109–112, 115, 137f., 244, 311, 325 Kontextabhängigkeit 4, 31–34, 292 Kriterien der Autonomie 256, 327, siehe auch Bedingungen der Autonomie vs. Kriterien der Autonomie – Genauigkeit 291f., 298, 317 – individuelle 292f., 298, 317 – interne und externe siehe normative Autonomiebedingungen, interne und externe Kriterien für Kritische Theorie 162
M Manipulation 5, 22, 42, 46, 60, 94, 122f., 126f., 130, 148–154, 169, 175, 181, 248f., 274, 277, 294 Medizinethik 2, 4, 31f., 34, 56, 291 Menschenwürde 15, 18, 124f., 312f., 327 Methode 4, 11–15, 18, 36f. Mitsprache 7, 260f., 272, 279–281, 294f., 318, 320–322, 326f. – als dicker Begriff 264f. – globaler und lokaler Skopus 279f. – interne und externe Kriterien für 280f. – und autonomiebezogene Gründe 286–288 – und normatives Können 269f. Moral 108f., 111, 137, 244–246, 328
Mündigkeit 7, 260f., 272, 274–276, 294f., 318, 320–322, 326f. – als dicker Begriff 264f. – globaler und lokaler Skopus 274 – interne und externe Kriterien für 274–276 – und autonomiebezogene Gründe 282–284 – und normatives Können 269f. N normative Autonomiebedingungen 235f., 256f., 259, 261, 264, 323, siehe auch normative Konzeption von Autonomie; Mündigkeit; Wehrhaftigkeit; Mitsprache – Flexibilität 291–299 – globaler und lokaler Skopus 289 – interne und externe Kriterien für 273, 289f., 309, 311f. – irreduzibel 273, 289 – Verhältnis 294f. – vollständige vs. partielle Erfüllung 295–298, 317 normative Konzeption von Autonomie 7, 261, 270, 290, 299, 326 – diagnostische These 189, 238–258, 309, 322f., siehe auch Normativitätsthese – erst- und drittpersonale Perspektive 259, 271, 299, 304 – Immunität gegen Probleme der Standardstrategien 309–312 – konstruktive These 189, 235, 238, 258, 323 – ontogenetisch plausibilisiert 262–264 – Verhältnis zum Interaktionalismus 309f., 322f. – vollständige Formulierung 304 normativer Umschwung 7, 16f., 190–192, 204, 236, 242f., 261, 263, 282 Normativitätsthese 7, 189–195, 203, 209, 221, 230, 235–237, 261, 263, 282, 297, 305, 318, 326 – Anspruch 214 – Argument aus dem begrifflichen Zusammenhang zu Autorität 221f. – Argument aus der Phänomenologie der Autonomiezuschreibung 215f., 222 – begrifflich wahr 214, 227, 256 – Erklärungskraft 222–225, 238–258 – funktionales Argument 219–222
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– Konsequenzen siehe Transformation der Fragestellung – Missverständnisse 209–214 – Problem der Mehrfachzählung siehe Gründe, Mehrfachzählung – relationale Struktur 203f., 223 – und Heteronomie 210–212, 285 – und Paternalismus 212f. – unter den vier Perspektiven siehe Perspektiven auf Autonomie und Normativitätsthese – Verteidigung 216–219, 226–235 – Vorteile 222–225 O Objektivität 43, 83, 107, 109f., 113f. Offenheit – fetischisierte 118f., 121, 137, 246, 311 – für die Welt 167, 178–180 – für neue Erfahrungen 144–146, 180–182 Optionen siehe Handlungsspielraum; Externalismus, optionsbasierte Variante P Paternalismus 29f., 212f., 240 Patientenverfügung 22f., 27, 205f., 291, 304 Perspektiven auf Autonomie 4, 54–56, 81, 155, 257, 320f. – drittpersonale 23–25, 27–30, 54f., 72, 81f., 89, 155, 259, 318 – erstpersonale 24f., 27–30, 54f., 81f., 90–95, 155, 320 – globale 23, 26f., 29, 55, 83, 95f., 180 – lokale 23, 26f., 54f., 72, 89–95, 180 – Überblick 25 – und Externalismus 106f. – und Interaktionalismus 146f. – und Internalismus 72, 90–95 – und Normativitätsthese 204–209, 257 – Verhältnis der 26–30 platonische Konzeption 76–78, 81, 83, 86, 94, 239–241 politische Philosophie 2, 4, 31f., 56 Poststrukturalismus 58 praktische Überlegung 84f., 88, 94, 157, 213 Prokrastination 129, 152
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psychische Störung 2, 17, 22–24, 27, 54f., 274, 289, 291, 297, 304 R Rätsel der Autonomie 5, 50–52, 308, 324 – Lösung 7, 321–323, 326 – skeptische Lösungsstrategie 53, 56–63 – Standardlösunggstrategien 5f., 53, 324–326, siehe auch Internalismus; Externalismus; Interaktionalismus – therapeutische Lösungsstrategie 53–56 – Trilemma-Formulierung 50 Rationalität 78f., 82, 148, 151, 154, 157, 177, 182, 241, 267 reaktive Einstellung 79, 109, 207, 315 Rechenschaftsfähigkeit 174–178, 182 Rechenschaftspflicht 197f. Recht auf Irrationalität 111f., 240 Regressproblem siehe Autoritätsproblem Resilienz 117–119, 121, 130, 135–137, 139, 145f., 150, 154f., 246f., 268, 296, 311 Respekt 23, 28, 41, 133, 191, 213, 215, 236f., 240, 244, 248, 250, 263 Rollenbild 25, 55, 94, 100, 103, 130, 134, 151, 159, 176, 281 S Selbst – als Chimäre 58 – interaktional konstituiertes 162, 165f., 184, siehe auch Selbst und Welt, Verwobenheit von – sozial konstituiertes 143, 149, 163 Selbst und Welt – Ähnlichkeit von 140, 185, 290, 322f., 326 – Gegensatz von 5f., 45–50, 140f., 161, 165, 185, 290, 322f. – Verwobenheit von 6, 143–145, 163–165, 174, 177–179, 183–185, 251, 255, 309, 325 Selbstachtung 124, 154, 173 Selbstbestimmung siehe Autonomie Selbstbestimmungsgrundsatz 84–86, 88f., 94, 241 Selbstbild 39f. Selbstkenntnis 38–40, 95, 130, 178f., 274 Selbstkontrolle 38–40, 71, 156, 266–268, 301, 305
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Selbstreflexion 56, 60, 128, 148, 151–153, 163 Selbsttäuschung 22, 39, 152, 166 Selbstverhältnis 5, 39–41, 67–69, 75, 101, 140–145, 242, 254 – epistemische Priorität 70f., 100, 141 – explanatorische Priorität 71, 100, 116f., 121, 137, 141, 155, 246, 311 – radikales 59–63 – reines 5, 53, 67–69, 93–98, 101, 140, 147, 167, 185, 324 – vs. Weltverhältnis 45–50, 141–143, 145, 185, 290, 322f. Selbstverständnis 80, 168f., 171 Selbstvertrauen 38–40, 71, 146, 168–173, 182, 274, 277, 285 Selbstwert 38, 146, 168, 173, 281 Selbstwissen 20f., 46f. Semantik vs. Pragmatik 217 Sklaverei 12, 22, 46, 107, 279 soziale Beziehungen 41, 70, 101, 133–135, 137, 154f., 249, 279, 301–303 soziales Umfeld 41–43, 94–96, 99, 103, 129, 131, 145, 203, 292 – kausale Relevanz für Autonomie 71, 131, 136 Sozialisation 22, 54, 71, 130f., 134, 151, 159, 203, 248, 281, 294 Sucht 2, 22, 152, 171, 274, 277–279, 295 Sui-generis-Problem 173, 178, 184f., 251, 255, 310, 322, 325 Symmetrieproblem 134f., 137, 249f. Systematisierung des Gegenstands 21–26, 30, 36, 308, 320f. T Totalitarismus 22, 26, 41, 54, 169, 172, 268, 279f., 303 Transformation der Fragestellung 235–238 Transparenz, Problem motivierender 86–89, 93, 96f., 239, 241, 310, 324 Trilemma siehe Rätsel der Autonomie U Unabhängigkeit 22, 31 – prozedurale 121–123, 126–128, 131, 137, 148–154, 156, 247 – substanzielle 122, 301 Ungleichheit siehe Gleichheit
Unterdrückung 5, 22–24, 28, 41, 54f., 70, 132, 136, 277, 280f., 294–296 Unterwürfigkeit 12, 21, 23f., 54, 168 Unwiderstehliches 267, 277 Utilitarismus siehe Wertmonismus V Verantwortung 2, 16, 27, 29f., 42, 54, 79, 224f. Vernunft 43, 83, 107–111, 137, 148, 244–246 Volition zweiter Stufe 74f., 91f., 94, 239 Vorgeschichte 42f., 93–96, 99, 103, 121, 126f., 130f., 137, 145, 150, 154, 177, 292 – Einstellung zu 128–130, 148, 150f., 155 W Wehrhaftigkeit 7, 118, 260f., 272, 276–279, 294f., 318, 320–322, 326f. – als dicker Begriff 264f. – globaler und lokaler Skopus 276f. – interne und externe Kriterien für 277–279 – und autonomiebezogene Gründe 284–286 – und normatives Können 269f. Weltverhältnis 5, 43f., 98f., 115, 122, 140–145, 254f. – als Normalitätsbedingung für Relevanz von Selbstverhältnis 100f. – radikales 57–59 – reines 6, 53, 99–101, 128, 138, 140, 147, 167, 185, 325 – vs. Selbstverhältnis siehe Selbstverhältnis vs. Weltverhältnis Wert der Autonomie 196, 217–219 Wertmonismus 217–219 Werturteile 76–80, 83, 89, 94, 239 – Buck-passing-Konzeption 196 – Fitting-attitude-Analyse 196 Willensfreiheit 2f. Willensschwäche 21, 23f., 28, 39, 45, 47, 54, 78–82, 86, 92, 111, 169, 175, 180f., 211, 224f., 239f., 302, 306 – vs. Entfremdung 78–80 Willensstärke siehe Selbstkontrolle Z Zerrissenheit 22, 169, 180f., 246, 294 Zirkularitätseinwand 123f. Zufriedenheit 91–94
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Zusammenhang – begrifflicher vs. empirischer 271f., 310, 322, siehe auch Interaktion von Selbst und Welt, kausal vs. begrifflich verstanden; Bedingungen der Autonomie vs. Kriterien der Autonomie – begrifflicher vs. normativer 272, 289f., 309f., 322
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Zwang – äußerer 5, 22, 26, 41, 70, 94, 104, 106, 112, 122f., 126f., 148, 150–154, 169, 175, 181, 224f., 246, 248f., 278f., 294 – innerer 5, 22, 26, 43, 83, 224f., 277, 289 Zwillinge, mentale 100