Seelsorge und »das Böse«: Zum Umgang mit Wertungsunterschieden in der Gefängnisseelsorge [1 ed.] 9783666560491, 9783525560495


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German Pages [353] Year 2022

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Seelsorge und »das Böse«: Zum Umgang mit Wertungsunterschieden in der Gefängnisseelsorge [1 ed.]
 9783666560491, 9783525560495

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31mm

APTLH 99

Inja Inderst

Die Autorin Dr. theol. Inja Inderst wurde mit der vorliegenden Studie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn promoviert.

Wie sollen Seelsorger:innen darauf reagieren, wenn sie mit schrecklichsten, »bösen« Taten eines Gegenübers konfrontiert werden? Diese Studie zeigt anhand juristischer, humanwissenschaftlicher und theologischer Diskurse auf, dass das sogenannte »Böse« nicht zu pauschalisieren ist. Angesichts unterschiedlicher Wertewelten entwickelt die Autorin ein praktisch-theologisches Leitbild, das sie »Normative Differenz*« nennt. Es besteht in einer möglichst genauen Wahr­ nehmung und ihr entsprechenden Kommunikationspraxis, sodass trotz großer Wertungsunterschiede eine verbindende Seelsorgesituation entsteht.

Zum Umgang mit Wertungsunterschieden in der Gefängnisseelsorge

BAND 99

Inderst  Seelsorge und »das Böse«

ARBEITEN ZUR PASTORALTHEOLOGIE, LITURGIK UND HYMNOLOGIE

Seelsorge und »das Böse«

ISBN 978-3-525-56049-5

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier

Band 99

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Inja Inderst

Seelsorge und »das Böse« Zum Umgang mit Wertungsunterschieden in der Gefängnisseelsorge

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-1242 ISBN 978–3–666–56049–1

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ................................................................................................

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Teil I Grundlagen und Prämissen 1. Einleitung ........................................................................................ 1.1 Hinführung zum Thema ............................................................. 1.2 „Das Böse“ und „Polyvalente Normativität“ – Problemstellung ......... 1.2.1 „Das Böse“......................................................................... 1.2.2 „Polyvalente Normativität“ als Grundlage für das Leitbild „Normative Differenz*“ ........................................... 1.3 Gefängnisseelsorge auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert – Eine Standortbestimmung............................................................ 1.3.1 Die Entmythologisierung „des Bösen“ – Der Einfluss psychotherapeutischer Ansätze auf die Gefängnisseelsorge (Ellen Stubbe) ........................................ 1.3.2 Die Kontextualität „des Bösen“ als Interdependenzen im Spiegel der Historie der Gefängnisseelsorge (Peter Brandt) .. 1.4 Aufgabenstellung und These ......................................................... 1.5 Methodischer Zugang und Aufbau der Arbeit ................................. 1.5.1 Prämissen Praktischer Theologie .......................................... 1.5.2 Methodisches Vorgehen und weiterer Aufbau der Arbeit .........

13 13 19 20 32 37

39 46 53 55 55 59

Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen 2. Der Kontext der Gefängnisseelsorge ................................................. 2.1 Der Ort „des Bösen“ – Der Strafvollzug aus strafrechtlicher und seelsorglicher Perspektive ..................................................... 2.2 Strafe als Umgang mit „dem Bösen“............................................... 2.2.1 Strafzweck und Vollzugsziel aus strafrechtlicher Perspektive .... 2.2.2 Strafzweck und Vollzugsziel aus Evangelischer Perspektive....... 2.2.3 Strafzweck und Vollzugsziel aus der Perspektive Gefängnisseelsorgender ....................................................... 2.2.4 Zwischenfazit .....................................................................

65 66 67 67 70 74 76

6

Inhaltsverzeichnis

2.3 Unterschiedliche Perspektiven auf den Kontext Gefängnis................ 2.3.1 Die strafrechtliche Perspektive ............................................. 2.3.2 Die Perspektive der Seelsorge – zwei Institutionen treffen aufeinander ............................................................. 2.3.3 Perspektiven Gefängnisseelsorgender .................................... 2.3.3.1 Gefängnis und Gefangene ......................................... 2.3.3.2 Strafvollzug und Gefängnisseelsorge ganz praktisch ..... 2.3.4 Zwischenfazit ..................................................................... 2.4 Seelsorge im Gefängnis in ihrer pluriformen Gestalt und als integrativer Prozess – zwischen Wahrnehmung und Kommunikation ......................................................................... 2.4.1 Multidimensionale, multiperspektivische Gefängnisseelsorge ... 2.4.1.1 Selbstverständnisse der Gefängnisseelsorge ................ 2.4.1.2 Wahrnehmungsfähigkeit als Voraussetzung und Resultat multiperspektivischer, multidimensionaler Seelsorge ................................... 2.4.1.3 Kommunikation als Instrument multiperspektivischer, multidimensionaler Seelsorge ................................................................ 2.4.2 Rolle und Identität Seelsorgender – Selbstreflexion als unverzichtbarer Bestandteil ............................................ 2.4.3 Zwischenfazit ..................................................................... 2.5 Fazit ......................................................................................... 3. „Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise ....................... 3.1 Woher kommt „das Böse“? – soziologische, psychologische und neurologische Hinweise auf Delinquenzentstehung ................... 3.1.1 Soziologische Perspektiven auf Kriminalität ........................... 3.1.2 Psychologische und neurologische Perspektiven auf Kriminalität ....................................................................... 3.1.3 Zwischenfazit .................................................................... 3.2 Ethik in der Gefängnisseelsorge als Reflexion „des Bösen“ und seiner hermeneutischen Annäherung ...................................... 3.2.1 Ethik als Begründung von Handlungsmaßstäben – eine Problemanzeige ........................................................... 3.2.2 Ethische Maßstäbe als Handlungsorientierung – eine zweite Problemanzeige.................................................. 3.2.3 Zwischenfazit .....................................................................

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101 102 102

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Inhaltsverzeichnis

3.3 „Das Böse“ in theologischer Deutung ........................................... 3.3.1 Hinweise auf „das Böse“ in der Urgeschichte in Gen 3–4 ............................................................................ 3.3.2 Das Phänomen der Sünde als existenzielle Erfahrungswirklichkeit........................................................ 3.3.2.1 Sünde..................................................................... 3.3.2.2 Vergebung .............................................................. 3.3.2.3 Schuld .................................................................... 3.3.2.4 Vergebung praktisch? ............................................... 3.3.3 Zwischenfazit .................................................................... 3.4 Fazit .........................................................................................

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Teil III Kommunikation – Sich-Verhalten 4. Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten ................................................ 4.1 Sprache in ihren Kontexten – Kommunikation im Gefängnis............ 4.2 Seelsorge „aushandeln“ und sich zur „Polyvalenten Normativität“ verhalten – linguistische Hinweise in der Seelsorge ................................................................................... 4.2.1 Seelsorge, Ziele, Rollen „aushandeln“ – Theoretische Hinweise aus der Soziolinguistik (Eberhard Hauschildt) .......... 4.2.2 Seelsorge, Ziele, Rollen „aushandeln“ – ein praktisches Beispiel aus der Gefängnisseelsorge ................. 4.2.3 Mit Absicht rhetorisch (Eike Kohler) – „Polyvalente Normativität“ bewusst überwinden ...................................... 4.2.4 Mit „Polyvalenter Normativität“ umgehen – ein praktisches Beispiel aus der Gefängnisseelsorge ................. 4.2.5 Zwischenfazit ..................................................................... 4.3 Das Evangelium (im Gefängnis) kommunizieren ............................ 4.3.1 Kommunikation als Seelsorgekommunikation........................ 4.3.2 Das Evangelium kommunizieren (Wilfried Engemann) ........... 4.3.3 Kommunikation des Evangeliums im Gefängnis – ein Beispiel aus der Praxis .................................................... 4.3.4 Zwischenfazit ..................................................................... 4.4 Fazit .........................................................................................

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Inhaltsverzeichnis

Teil IV Ergebnisse und Konsequenzen 5. Das Leitbild „Normative Differenz*“ für die Gefängnisseelsorge des 21. Jahrhunderts......................................... 319 5.1 Die Verschränkung von Wahrnehmung und Kommunikation als Ernstnehmen und Sich-Verhalten..................... 321 5.2 Vom Umgang mit „Polyvalenter Normativität“ zum Leitbild „Normative Differenz*“ ................................................... 325 Literatur ............................................................................................... 329 Register ............................................................................................... 349

Vorwort

Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die im Sommersemester 2020 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn angenommen wurde. Viele Menschen haben zur Entstehung dieser Monografie beigetragen, denen ich an dieser Stelle meinen größten Dank aussprechen möchte. Allen voran gilt dieser Dank meinem Doktorvater Prof. Dr. Eberhard Hauschildt, der mich für das Nachdenken über Seelsorge und die Praktische Theologie begeistert hat. Er hat mir den Freiraum und die Selbstständigkeit gelassen, die ich brauchte, um meinen Fragen nachzugehen (vielen Dank für Ihren Vertrauensvorschuss). Er hat sich viel Zeit genommen für intensives Weiterdenken, war dabei durchweg konstruktiv und ermutigend, sodass mir die Forschung zu einer wahren Freude geworden ist. Er wurde mir zum Vorbild dafür, Theologie „auf dem Teppich bleibend“ zu betreiben und dabei Vorhandenes trotzdem mutig weiterzudenken. All das hat zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Prof.’in Dr. Cornelia Richter danke ich für ihr Zweitgutachten, für das fächerübergreifende Interesse an meiner Arbeit sowie die Gelegenheit, am interdisziplinären Diskurs teilzunehmen. Theologische Wissenschaft geschieht nicht im stillen Kämmerlein, sondern lebt durch Austausch und Diskussion. Für den Austausch über (theologische) Fachgrenzen hinweg möchte ich danken: Anja Block, Mirja Petersen, Dr. Ulrike Beiroth, Maximilian Kröger, Paul Becker, Dr. Tobias Wieczorek, Tobias Mölleken, AnnKathrin Armbruster, Daniel Rossa, Dr. Matthew Robinson, Thorben Alles, Dr. Julia Winnebeck und Friederike Vigeland. Insbesondere Dr. Katharina Opalka danke ich für den intensiven Dialog, ihre Unterstützung und Freundschaft. Darüber hinaus danke ich den beiden Gefängnisseelsorgern Pfr. Knut DahlRuddies (JVA Euskirchen) und Pfr. Hans-Christian Heine (JVA Rheinbach) für die intensiven Gespräche, den Einblick in ihre Arbeit und die Möglichkeit des Besuchs vor Ort mit meinem Kurs. Ich danke Vandenhoeck & Ruprecht Verlage sowie den Reihenherausgeber:innen Prof. Dr. Eberhard Hauschildt, Prof.’in Dr. Anne M. Steinmeier und Prof. Dr. Franz Karl Praßl für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe der Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie. Ebenso danke ich insbesondere Dr. Izaak de Hulster und Chrisoph Spill für die Begleitung der Drucklegung des Buches. Ich danke all meinen Freundinnen und Freunden sowie meiner Familie für ihren Zuspruch und ihre Zuneigung. Besonders danken möchte ich meinen Geschwistern: Meinem Bruder Lukas Hagen für den nachdenklichen, interdisziplinären Austausch und meinem Bruder Fabian Hagen für seine Unterstützung unserer Familie im

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Vorwort

ersten Lockdown, ohne die meine Arbeit kurz vor ihrem Abschluss hätte pausieren müssen. Ebenso gilt meiner Freundin Silke Wieczorek großer Dank, die besonders zu Beginn meiner Forschungszeit unsere damals sehr kleine Tochter so häufig betreut und behütet hat. Ich danke meinen Eltern Christel und Thomas Hagen, die nicht unwesentlich zu meinem Interesse an der Theologie beigetragen haben und mich finanziell und besonders mit viel Liebe, Zuspruch, Interesse und Austausch nicht nur während meiner Promotionszeit, sondern während meines gesamten Studiums unterstützt haben. Mein größter Dank gilt meiner eigenen Familie: Meinen drei Kindern Emil, Ida und Jonna, die mich viel entbehren mussten und trotzdem so geduldig mit mir waren, und besonders meinem geliebten Ehemann Conrad Inderst, der mir während meines Studiums zu einem treuen Freund und Begleiter wurde, für den immer außer Frage stand, dass wir als Team zusammenarbeiten und uns gegenseitig ermöglichen, unsere Schritte in der Karriere zu verfolgen und auch die Care-Arbeit gemeinsam bewerkstelligen und der mir während der Dissertationszeit den Rücken freigehalten und gestärkt, mich und mit mir ausgehalten hat, und ohne den dieses Buch nie geschrieben worden wäre. Bonn, im September 2021

Inja Inderst

Teil I Grundlagen und Prämissen

1.

Einleitung

1.1

Hinführung zum Thema

Ein Junge wird als Kind oft von seinen Eltern misshandelt. Sein Großvater bekommt dies mit und schützt den Jungen häufig vor den Schlägen. Doch „eines Tages näherte er sich ihm auf unerlaubte Weise körperlich und missbrauchte ihn […]. Er zwang das Kind Dessous zu tragen […]. Das Kind reagierte hilflos – sich den Eltern anzuvertrauen, war ihm nicht möglich.“1 Davon, von seiner Leidensgeschichte, kann der Gesprächspartner dem Seelsorger erst sehr spät erzählen. Ansonsten sind die Gespräche alltäglich. Man spricht so über dies und jenes. Es geht aber noch weiter: „Die Leidensgeschichte zog sich über Jahre hin. Als junger Erwachsener lernte dieser Mensch ein kleines Mädchen kennen, das von den Eltern oft brutal misshandelt wurde. Er wurde zum Beschützer dieses Kindes und gewann sein Vertrauen. Eines Tages gab er der Kleinen Dessous und zwang sie diese anzuziehen. Und es dauerte nicht lange, da gab es von ihm noch weitere schlimme Übergriffe – ähnlich denen, die sein Opa an ihm vollzogen hatte.“2

So berichtet der langjährige Gefängnisseelsorger Ulrich Tietze aus einem Gespräch mit einem Gefangenen. Im Verlauf des Lesens eines solchen Beispiels wird das Wissen um die Straftat eine Umwertung bewirkt haben. In der Erinnerung werden Person und Gespräch anders empfunden: Die Bewusstwerdung der Tat des Verbrechers verändert die Wahrnehmung seiner Person: er wird vom „Opfer“ zum „Täter“, zu einem „bösen“ Menschen. Diese Erfahrung spiegelte sich auch in der Frage danach wider, ob ich ein solches Beispiel zur Einleitung der Arbeit überhaupt verwenden möchte. Mit solch einem Thema geht es nicht um etwas, über dessen Relevanz, dessen Falschheit, dessen Unmoral man diskutieren könnte. In der westlichen Welt gilt Kindesmissbrauch inzwischen als unbestreitbar grausam. Inzwischen, denn, dass Kindesmissbrauch überhaupt thematisiert und nicht totgeschwiegen wird, ist etwa seit den letzten 15 Jahren zu beobachten. Sexueller Missbrauch befindet sich insgesamt erst in neuerer Zeit in ernsthaften Diskursen. Lange wurde auch Missbrauch in der Ehe und

1 Tietze, Vergib, 321. 2 Tietze, Vergib, 321.

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Teil I Grundlagen und Prämissen

Gewalt an Frauen nicht als Verbrechen deklariert. Gegenwärtig weist auch die seit Oktober 2017 geführte #MeToo-Debatte darauf hin, dass das Thema der sexuellen Übergriffe noch lange nicht abgeschlossen ist. Diese These lässt auch die aktuelle Berichterstattung rund um die Missbrauchsfälle in Münster zu,3 nach der auch die Forderung nach hohen Haftstrafen aufkommt und wortwörtlich keinen Stein stehen lässt, um nichts zu übersehen.4 Der Tatort, so könnte man auch interpretieren, ist so unerträglich, dass er dem Boden gleichgemacht wird. In einer Arbeit über hoch aufgeladene Themen zu schreiben, die unbestreitbar grausam sind, und von sich aus eigentlich keinen Platz für Grauzonen zulassen, ist wie ein Schreiben unter dem Damoklesschwert. Was ist in Anbetracht solcher Taten zu sagen? Ist etwa selbst hier an eine Relativierung der Straftat unter dem Deckmantel christlicher Nächstenliebe zu denken? Gibt jedenfalls solche Tat Anlass für einen christlich begründeten Freibrief, Menschen, die solche Taten begehen, zu verteufeln? In der vorliegenden Arbeit möchte ich weder das eine noch das andere erwägen. Das Beispiel eines solchen Verbrechens zeigt vielmehr – und deshalb wird es auch einleitend angeführt –, dass es, so unterstelle ich den Leser:innen, kaum einer Erklärung bedarf, was gemeint ist, wenn es um die harten Differenzen5 geht, um Gegensätze, um das, was sich ereignet hat, wenn wir von „dem Bösen“ reden. Mit einem solchen Beispiel zeigt sich, so nehme ich an, dass Taten, die wir als „böse“ bezeichnen, und jene harten Differenzen ganz aktuell sind und wir uns tagtäglich mehr oder weniger damit auseinandersetzen – Gefängniseelsorger:innen allemal mehr.

Der Begriff „Das Böse“ ist gerade in der Kommunikation über Straftaten nicht weit hergeholt, wird er doch auf medialer und damit auch gesellschaftlicher Ebene gerne in reißerischer Absicht verwendet. So betitelte die Bild-Zeitung beispielsweise im Jahr 2019: Das Böse geschah hinter dieser Tür – Ute S. ging ins Nebenzimmer, plötzlich stand das Böse vor ihr.6 Von der Gesellschaft draußen, vor den Mauern, wird der Begriff auch in das Gefängnis hineingetragen. Hier lässt sich beobachten, wie selbstverständlich mit dem Begriff „böse“ operiert wird. Beispielsweise greift der Gefängnisseelsorger Ulrich Tietze – zwar in Frageform, aber dennoch Gefangene so benennend – diesen Begriff auf, wie sich im Titel seines Sammelbandes Nur die Bösen? Seelsorge im Strafvollzug 7 widerspiegelt. „Das Böse“ ist jedoch kein Begriff, der leichtfertig und unkritisch verwendet werden sollte, was zu zeigen sein wird.8 Allerdings verweist er in unübersehbarer Weise darauf, dass es schwerwiegende Phänomene gibt, die das gesellschaftliche, zwischenmenschliche und individuelle Leben betreffen. Für den Kontext des Gefängnisses gilt das besonders: Hier sind

3 4 5 6 7 8

Vgl. tagesschau.de, Missbrauchsverdacht in Münster. Vgl. Spiegel Panorama, Polizei. Zu diesem Ausdruck siehe Abschnitt 1.2.2. Redaktion Bild, Das Böse. Tietze, Nur die Bösen? Siehe Kapitel 1.2.1.

Einleitung

scheinbar, manch medialer/gesellschaftlicher Perspektive zufolge, die besonders bösen Menschen zu finden, die bestraft werden müssen. So wird das Gefängnis auch als eine Institution bezeichnet, „in der (potenziell) gefährliche, sprich: gewalttätige, betrügerische oder in anderer Weise für die Gesellschaft untragbare Individuen (verurteilte Verbrecher/innen) eingeschlossen werden“9 . Das Verständnis von „dem“ sogenannten „Bösen“ und auch der Umgang mit ihm sind jedoch nicht eindeutig, sondern sehr facettenreich. Darauf verweist einerseits schon das vorangestellte Beispiel, in dem nicht sofort offensichtlich war, dass sich etwas in Bezug auf den Seelsorgesuchenden zeigen würde, das sich als „böse“ wahrnehmen lässt. Andererseits lässt sich dies auch ganz besonders im größeren Kontext der Gefängnisseelsorge veranschaulichen, in dem viele unterschiedliche Perspektiven zusammentreffen, die das, was als „böse“ wahrgenommen wird, unterschiedlich deuten und verschieden mit ihm umgehen. So wird Strafgefangenen im juristischen Vollzug der Prozess gemacht, indem sie bei Schuldspruch zur Haft verurteilt werden. Für die Außenperspektive nicht unbedingt im Bewusstsein ist, dass die Legislative im Umgang mit delinquent Gewordenen differenziert: Ihr zufolge geht es nicht um reine Bestrafung, denn das offizielle Vollzugsziel besteht eben nicht zuerst in einer solchen, sondern in der Resozialisierung delinquent gewordener Personen.10 Außer der juristischen Ebene und deren Umgang mit Delinquenz (Bestrafung und Resozialisierung) findet sich eine theologische Ebene, die für die Gefängnisseelsorge grundlegend ist. Aus Sicht der Theologie gehört die Gefängnisseelsorge seit Anfängen der Kirche zu den christlichen Aufgaben, in Aufnahme der Matthäuserzählung vom Weltgericht durch den Auferstandenen (Mt 25, 31ff)11 . Die Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge macht den Vers 36b dieses Textes zum Titel ihrer Leitlinien, in dem es aus dem Mund Christi heißt: „Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht“. In dieser biblischen Erzählung habe die „Zuwendung zu Menschen im Gefängnis […] einen klaren Ort; über die Gründe, derentwegen Menschen inhaftiert sind, wird in diesem Zusammenhang nichts gesagt.“12 Damit geht ein Blick auf den Menschen einher, der würdig ist, besucht zu werden, unabhängig von seinen Taten. Der Evangelischen Konferenz für Ge-

9 Das nimmt die Gefängnisseelsorgerin Christine Drexler wahr, vgl. dies., Den Gefangenen, 172. 10 „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel)“ (StVollzG § 2); „Der Vollzug ist darauf auszurichten, dass er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern“ (StVollzG § 3). 11 Explizit in Vers 36b: „ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen“, wie Jesus in der Erzählung sagt. 12 Huber, Vorwort, 6.

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Teil I Grundlagen und Prämissen

fängnisseelsorge zufolge ist die Würde des Menschen unantastbar, „weil sie nach theologischem Verständnis von Gott selber geschenkt und garantiert ist.“13 Öffentliche Wahrnehmung und juristische Bestimmungen der Gefängnisseelsorge treffen am Ort des Gefängnisses aufeinander und sie bedingen und ergänzen sich gegenseitig: Gefängnisseelsorge ist sowohl aus juristischer als auch christlichtheologischer Sicht etabliert, obwohl sie „ein eher verborgenes kirchliches Handlungsfeld darstellt“14 und zumeist außerhalb der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit liegt. Der Grund für Seelsorge, Gefangenen aufgrund ihrer Menschenwürde, trotz ihrer Taten zu begegnen, verdankt sich dabei nicht allein dem Kontext der Seelsorge und Theologie: Dass auch von theologischer Seite so eindeutig auf die moderne Menschenwürdeidee rekurriert wird, findet sich in dieser Weise allerdings erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts.15 Durch das Grundgesetz sind allen Menschen in ihrem Geltungsbereich „die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“16 garantiert – und das Recht auf „ungestörte Religionsausübung“17 . Von daher steht einer:einem Gefangenen „religiöse Betreuung durch einen Seelsorger seiner Religionsgemeinschaft“ (StVollzG § 53,1) zu. Exemplarisch mit Bezug auf die Gefängnisseelsorge wird im Rahmen dieser Arbeit untersucht, dass im gesellschaftlichen Umgang mit dem, was landläufig normierend als „das Böse“ erscheint, unbedingt differenzierter vorzugehen ist. Dies lässt sich noch verstärken, nämlich in Betracht auf die als immer komplexer wahrgenommene Welt, wie sie in wissenschaftlichen Kontexten bedacht wird. Das zunehmende historische Bewusstsein, die Globalisierung mit ihrer kulturellen und religiösen Vermischung sowie der philosophische Theorietyp des Konstruktivismus verweisen auf eine stetig wachsende Pluralität, auch bezüglich allgemein anerkannter Werte und Normen und schließlich Gesetzlichkeiten. All

13 Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland, Ich war im Gefängnis, 27. 14 Rehm, Kirche, 249. 15 Bis ins 20. Jahrhundert lehnte die Theologie die naturrechtliche Menschenwürdeidee eher ab. Die Würde sei gerade nicht natürlicherweise gegeben, sondern werde dem Menschen im Rechtfertigungsgeschehen durch Gott zugesprochen. Karl Barth befürchtete beispielsweise „heillose Verwirrung und Blasphemie“ (Barth, KD I,2, 444), wenn „dem menschlichen Ich in seinem Verhältnis zum Du […] einen nicht weiter abzuleitenden, sondern als gegeben feststehenden Selbstwert zuschreibt“ (Barth, KD I,2, 444) und damit eine „in sich begründete[…] Heiligkeit, Würde und Herrlichkeit des Menschen an sich“ (Barth, KD I,2, 444) zuerkennen würde. Durch die Entwicklung des Grundgesetzes fand schließlich eine theologische Annäherung statt und der Menschenwürdebegriff wurde nun biblisch mit der alttestamentlichen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen verbunden. Ersichtlich wird dies beispielsweise in der sogenannten Demokratie-Denkschrift der EKD (vgl. EKD, Evangelische, 13). 16 GG Art. 4,1 und 2. 17 GG Art. 4,1 und 2.

Einleitung

dies verändert auch die Lage der Gefängnisseelsorge. Im Bewusstsein ist, dass sich auch verändern kann, was als Straftatbestand gewertet wird. Beispielsweise dürfen inzwischen Homosexuelle von Gesetz wegen heiraten (§ 1353 Abs. 1 S. 1 BGB), während die gleichgeschlechtliche Liebe noch Mitte der 1960er Jahre eine Straftat war (§ 175 StGB existierte von 1872–1994). Nicht nur zeitlich, sondern auch kulturell betrachtet werden Wertedifferenzen immer präsenter. So fragt ein Gefängnisseelsorger: „Wie führt man ein Gespräch mit einem Muslim, der unter Depressionen leidet, weil er wegen eines ,Ehrenmords‘ verurteilt wurde, der jedoch zugleich sagt, dass er aus religiösen und sozialen Gründen so handeln musste?“18 Und auch unter Strafgefangenen, die ja, von außen betrachtet, pauschal als „die Bösen im Gefängnis“ bewertet werden, gibt es eine Steigerung zu „böse“: Obwohl der gemeinsame Nenner aller Strafgefangenen ihre Schuldhaftigkeit ist, findet sich dort eine am Handeln der Straftäter selbst erkennbare Hierarchie der Kriminalität: „Täter mit dem Strafbestand der sexuellen Gewalt an Kindern erleiden innerhalb der Gefangenenhierarchie ein Martyrium.“19 Insgesamt lässt sich also wahrnehmen, dass die Toleranz bei nicht wenigen Differenzen normativer Inhalte größer geworden ist (z. B. religiöse Einstellungen, sozialmoralische Differenzen), während in früheren Zeiten oder in anderen Kulturen bereits sozial nichtkonformes Verhalten wie eine Straftat behandelt werden konnte bzw. kann. Zu dieser Zeit gab es in vielen Bereichen viel weniger Pluralität, während heutzutage allgemein von einer erhöhten gesellschaftlichen Pluralität gesprochen werden kann. In Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen stehen die sich stetig verändernden wissenschaftlichen Theorien und ihr jeweiliger Zugewinn. Normensysteme ändern sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen, was das Verständnis von sogenannten Straftaten beeinflusst – und umgekehrt. Konstruktivismus und vorhandene Pluralität verlangen geradezu die Wahrnehmung des kulturellen und interreligiösen Deutungshorizonts von dem, was als „böse“ gilt, sowie den Umgang mit ihm, was in seelsorgliche Konzeptionen einfließen muss. Das eröffnet gleichermaßen Möglichkeiten wie Schwierigkeiten: Differenzen werden positiver bewertet denn zuvor, erschweren aber dennoch einen Umgang mit ihnen – gerade im Zusammenhang mit dem offensichtlich „Bösen“, und zwar einmal für Gefängnisseelsorgende selbst, in der konkreten Seelsorgesituation: Was nützt das Wissen um das Vorhandensein von Wertedifferenzen, wenn die Differenzen zum Gegenüber unüberwindbar erscheinen, weil die erzählte Straftat so grässlich ist, dass sie nicht mit dem Wissen um eine faktische Wertepluralität

18 Reiss, Anwalt, 301. 19 So der Gefängnisseelsorger Bunse, Wenn Hoffnung praktisch wird, 281. Hagenmaier, Wegsperren, 8 berichtet, wie Sexualstraftäter deshalb versuchen, ihre Straftat zu verbergen und sich als Betrüger ausgeben, und zwar nicht nur vor den anderen Gefangenen, sondern auch vor Bediensteten, von denen einige auch nicht einsähen, weshalb Sexualstraftäter betreut werden sollten.

17

18

Teil I Grundlagen und Prämissen

abgetan werden kann? Und zum anderen ist der Umgang mit den Differenzen für das gesellschaftliche Umfeld schwierig, so dass die Gefängnisseelsorge unter einem höheren Legitimierungsdruck steht als andere Seelsorgebereiche. Der Mutter der Geschädigten wird es wenig einleuchten, weshalb der entsprechende Täter seelsorglicher Betreuung bedarf, weil es für sie, verständlicherweise, schwer einleuchtend ist, dass demjenigen, der ihre Tochter verletzt hat, auch noch geholfen werden soll. Umgekehrt ist es für eine ehemals Inhaftierte nach ihrer Entlassung schwierig, wieder in ein geregeltes, soziales Leben zurückzukehren, weil sie die Stigmatisierung als „Verbrecherin“ kaum loswird, was ihre Resozialisierung erschwert, beispielsweise bei der Job- und Wohnungssuche. Wer möchte eine Verbrecherin einstellen oder bei sich wohnen lassen? Entlassene Inhaftierte müssen mit ihrer neu erhaltenen Freiheit zurechtkommen und die Gesellschaft muss damit zurechtkommen, ehemals Inhaftierte unter sich zu wissen und zu integrieren. Das bietet Konfliktpotenzial. Seelsorge im Generellen und Gefängnisseelsorge im Speziellen hat also mit unterschiedlichen Menschen, mit unterschiedlichen Ansichten und auch mit Menschen aus allen Milieus zu tun.20 Im Rahmen der Seelsorge treffen sie aufeinander, sofern der:die Seelsorgende aus dem einen, und der:die Seelsorgesuchende entsprechend aus einem anderen Kontext stammen. Nicht nur das Verständnis von „Gespräch“ und „Seelsorge“ muss zwischen ihnen ausgehandelt werden,21 sondern gerade auch die (Be-) Deutung „des Bösen“ in der Seelsorgepraxis am Ort des Gefängnisses. Wie lässt sich Gefängnisseelsorge so verstehen, dass mit „dem Bösen“ und seinen Hintergründen und Geschichten angemessen in Bezug auf Pluralität umgegangen werden kann? Eine genauere Untersuchung der Gefängnisseelsorge kann auch für die sonstige Seelsorgetheorie einen Nutzen erbringen, wie sich zeigen wird. Gefängnisseelsorge ist dazu veranlasst, das Verständnis „des Bösen“ vielfältig und im Kontext und der jeweiligen Geschichte des:der Seelsorgesuchenden zu berücksichtigen. Zur professionellen Gefängnisseelsorge gehört die Reflexion über einen angemessenen Umgang mit „dem Bösen“. Dies wurde bisher so noch nicht innerhalb der Seelsorgelehre und auch nicht im Rahmen der Gefängnisseelsorge genauer thematisiert und soll nun in der vorliegenden Arbeit genauer bedacht werden. „Das Böse“ stellt dabei gerade nicht ein bereits eindeutig bestimmbares Phänomen dar, sondern wird als Problembegriff im Sinne einer heuristischen Kategorie verwendet: Es ist zu beobachten, dass Phänomene schrecklicher Taten oft in intuitiver und assoziativer Weise unter die Kategorie „das Böse“ gefasst werden, und zwar auch im Kontext von Gefängnisseelsorge.

20 Vgl. Hauschildt, Interkulturelle Seelsorge unter Einheimischen, 263. 21 So Hauschildt, Interkulturelle Seelsorge unter Einheimischen, 264.

Einleitung

Die Arbeit hat das Anliegen, zu eruieren, dass und wie die Differenziertheit „des Bösen“ in Theorie und Praxis der Gefängnisseelsorge begegnet. Sie möchte in Bezug darauf entwickeln, welche Grundsätze für einen fruchtbaren Umgang mit „dem“ vielfältig verstandenen „Bösen“ in der Gefangenenseelsorge gefunden werden können. Wie kann in Differenzen gar ein Mehrwert gesehen werden? Dabei geht diese Arbeit über das Phänomen eines „weichen Pluralismus“22 hinaus, der sich an das plurale Nebeneinander gewöhnt hat. Gerade im Gefängnis zeigen sich Unterschiede als Polyvalente Normativität, also als Differenzen in Bezug darauf, wie etwas normativ beurteilt werden soll. Der Begriff „Polyvalente Normativität“ soll die Erwartung anzeigen, dass zwischen den Beteiligten in der Seelsorge auch gravierende Unterschiede im Normensystem selbst bestehen. Die vorliegende Studie zielt insoweit darauf ab, auf die Frage nach einer theoretisch gut verorteten Gefängnisseelsorge des begonnenen 21. Jahrhunderts – die also Pluralität und Differenzen ernst nimmt und nicht vorschnell relativiert oder gleichgültig (im Sinne von „egal“) macht – eine Antwort zu geben, die sich darin von bisher gängigen Sichten unterscheidet, dass sie die gegenwärtige Pluralität besonders in den Blick nimmt und die sich darin findende Differenzen als berechtigt, ja unter Umständen sogar notwendig deutet. Dazu wird in den folgenden Unterabschnitten dieses einleitenden Kapitels eine etwas ausführlichere Analyse der Thematik und ihres Kontextes gegeben. Zunächst soll das Verständnis „des Bösen“ und der Begriff „Polyvalente Normativität“ erläutert werden (1.2). Anschließend wird diese Arbeit in den wissenschaftlichen Kontext der Gefängnisseelsorge als eine des 21. Jahrhunderts gestellt, indem kurz auf die Klassiker der Gefängnisseelsorge auf der Schwelle zu diesem Jahrhundert eingegangen wird, eben unter der Fragestellung nach einem Umgang mit „dem Bösen“ (1.3). Daraus lässt sich die genauere Fragestellung der vorliegenden Untersuchung ableiten (Abschnitt 1.4), und der methodische Zugang und Aufbau der Arbeit anzeigen (1.5).

1.2

„Das Böse“ und „Polyvalente Normativität“ – Problemstellung

Um den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit explizieren zu können, sollen zunächst die zwei bereits benutzten Begriffe „das Böse“ und „Polyvalente Normativität“ noch genauer erörtert werden.

22 Der Begriff geht auf Karl Ernst Nipkow zurück, der damit die Einstellung bezeichnet, die alles als gleich gültig betrachtet und damit genaugenommen eben nicht mehr die Rede von Pluralismus sein könne. Dagegen würden im „harten“ Pluralismus die Gegensätze (in Weltanschauungen und Religionen) ernstgenommen (vgl. Nipkow, Ziele, besonders 205–207).

19

20

Teil I Grundlagen und Prämissen

1.2.1

„Das Böse“

„Das Böse“ ruft eine Fülle von Assoziationen hervor, auch wenn der Begriff im alltäglichen Sprachgebrauch sparsam verwendet wird. Es werden eher Schattierungen „des Bösen“ benannt, wie z. B., dass eine Tat „unrichtig, bedenklich, zweifelhaft“23 sei oder die entsprechenden Personen „ihre Fehler haben, […] schwach, unvollkommen, ‚menschlich‘“24 seien. Und doch erscheint der Begriff an der ein oder anderen Stelle, etwa in der Rede vom „bösartigen Krebs“ oder im „Bösewicht“, ohne den jeder Hollywood-Film langweilig wäre. Wenn „das Böse“ im alltäglichen Sprachgebrauch der säkularen Gesellschaft vorkommt, soll es offensichtlich ein extremes Negativ des Seins im Kontrast zu einem erstrebenswerten Sollen anzeigen. Der „bösartige Krebs“ etwa verweist auf eine Krankheit, die einen langen Leidensweg vorausweist, dessen Ende ungewiss ist, aber mit höherer Wahrscheinlichkeit tödlich ausgeht. Das Nachdenken über „das Böse“ rührt an grundsätzliche Fragen der eigenen Existenz. Arthur Schopenhauer präzisiert, dass es zweifelsohne „das Wissen um den Tod, und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Noth des Lebens [ist], was den stärksten Anstoß zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der Welt giebt. Wenn unser Leben endlos und schmerzlos wäre, würde es vielleicht doch Keinem einfallen zu fragen, warum die Welt dasei und gerade diese Beschaffenheit habe; sondern eben auch sich Alles von selbst verstehen.“25

So ist die Frage, was „das Böse“ ist, woher es kommt und wie es überwunden werden kann, keine dezidiert religiöse, sondern wird von Philosophie wie Theologie und später den Humanwissenschaften gleichermaßen reflektiert. Ursprünglich lassen sich zwei Richtungen einer Definition „des Bösen“ beobachten. Einerseits diejenige, die „das Böse“ als etwas Essenzielles deutet.26 „Das Böse“ wird zum Gegenpol des Guten, wie es der Manichäismus sich vorstellte, der von einem ewigen Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“ ausging. Die andere Richtung begreift „das Böse“ als Mangel an Gutem (privatio boni), wie es Augustin, der sich vom Manichäismus abwand, oder Thomas von Aquin verstanden.27 Spätestens seit

23 24 25 26 27

Hygen, Das Böse, 11. Hygen, Böse, 11. Schopenhauer, Die Welt, 176. Vgl. auch Susan Neiman, Anfangsfrage, 13. An dieser Stelle sei auf Augustins einschlägige Werke, die „confessiones“, „De spiritu et littera“, „De Libero arbitrio“ sowie „De ordine“, verwiesen. Augustins gesamtes Verständnis von „dem Bösen“ kann an dieser Stelle nicht behandelt werden. Für die vorliegende Studie reicht es zu sehen, dass „das Böse“ auf abstrakter Ebene zu unterschiedlichen Zeiten, aus unterschiedlichen Kontexten heraus, unterschiedlich gedacht wurde.

Einleitung

Augustin wird in kirchlicher Tradition „das Böse“ – als nicht dezidiert religiöser Begriff – durch den der „Sünde“ ersetzt. Der kosmologisch-metaphysische Dualismus der Antike wird durch einen existenziellen Dualismus abgelöst, in dem der Wille Gottes dem menschlichen Willen gegenübersteht. Darin wird „das Böse“ immer stärker zu einem menschlich-moralischen „Bösen“, denn selbst das zuvor gedachte natürliche „Böse“ (Krankheit, Naturgewalten) wird als Strafe für Sünde gedeutet. Es leuchtet ein, dass der Gedanke, Gott strafe die Ungerechten, angesichts der Lebenserfahrung nicht unproblematisiert standhalten konnte. Lebenserfahrungen deckten sich mit denen der Hiobserzählung des Alten Testaments, in der deutlich wird, dass Gott scheinbar auch Gerechte straft. „Das Böse“ bleibt damit nicht mehr bloßer Hinweis auf „das Gute“, sondern wird zum Problem, weil die Frage ist, wieso jemand „das Böse“ zulässt, obwohl er es als allmächtiger/guter Gott doch verhindern können und wollen müsste. So entsteht in der beginnenden Moderne die Auseinandersetzung der Philosophie mit der Theologie über „das Böse“ in der Frage der Theodizee, die Gottfried Wilhelm Leibniz (1644–1716) in seiner „Théodicée“28 ausformuliert und reflektiert. Leibniz verbindet die existenzielle Frage – „Wie kann Gott das zulassen?“ – der Theodizee mit der theoretischen.29 Seine Erklärung beginnt mit der Prämisse, dass Gott alles aus Nichts geschaffen habe, und alles, was Gott geschaffen hat, gut sei, wobei Gott allein vollkommen sei.30 Trotz Leiderfahrungen hält Leibniz an der Harmonie des Kosmos und dem Gedanken der besten aller möglichen Welten fest, die aber nie das Beste schlechthin sein könne, weil Gott dann eine andere Vollkommenheit gegenüberstände.31 Das Gute aber gebe es nur zum Preis von Übel, die Welt sei nur in ihrem Entwicklungspotenzial die bestmögliche.32 So deutet Leibniz menschliches Handeln auch als von Gott vorhersehbares, dennoch freies Handeln. Nichts sei ohne zureichenden Grund, im Rückblick seien Handlungen also determiniert.33 Leibniz differenziert „Böses“ in das „metaphysisch Böse“ (malum metaphysikum), welches die endlichen Substanzen umfasse, die unvollkommen auf die Vollkommenheit Gottes verwiesen; in das „moralisch Böse“ (malum morale), mit dem Verbrechen gemeint sind, die Sünde, die man begehe, wenn man sich von Gott abwende und die auf die fehlgeleitete Freiheit verweise; zu nennen ist noch das „physische Böse“ (malum physikum), unter das Schmerz, Einsamkeit und Leid fallen und das Folge der malum morale sei.34

28 29 30 31 32 33 34

Ursprünglich 1710; deutsche Übersetzung: Buchenau siehe Leibniz, Die Theodizee. Vgl. Frey, Einführung, 223f. Vgl. Leibniz, Theodizee, 101f (§§ 8f). Vgl. Frey, Einführung, 216f; vgl. Leibniz, Die Theodizee, 101f (§§ 8f). Vgl. Leibniz, Theodizee, 112f (§§ 23–25). Vgl. Leibniz, Theodizee, 121ff (§§ 40–42); 112f (§ 23). Vgl. Leibniz, Theodizee, 110f (§ 21).

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22

Teil I Grundlagen und Prämissen

Diese Dreiteilung hält sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, als das Erdbeben von Lissabon (1755) die Vorstellung vom „natürlich Bösen“, im wahrsten Sinne des Wortes, erschüttert. Im Kontext dieser Naturkatastrophe wird es unmöglich, nach einem Schuldigen dafür zu fragen: Warum erschütterte das Erdbeben die Hauptstadt eines streng katholischen Landes und ließ Kirchen einkrachen, in dem sich derzeit Gläubige befanden (während das Rotlichtviertel stehen blieb) – am Tag Allerheiligen? Folgerichtig konzentrierte sich das Nachdenken über „das Böse“ auf das „moralisch Böse“.35 So verortet Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) „das Böse“ nicht in der geschichtlichen Entwicklung, sondern entkoppelt es von einer Naturgegebenheit. Er begreift die Zivilisation als Ursprung „des Bösen“ – nicht die menschliche Natur: Des Menschen Entwicklungs- und Vollkommenheitsfähigkeit führte ihn zu zivilisatorischem Fortschritt. Dieser entfremdete ihn aber von seinem natürlichen Dasein. „Das Böse“ sei damit nicht Folge von Strafe durch eine höhere Wirklichkeit, sondern Folge menschlicher Taten. Diese seien nicht Konsequenz der Erbsünde, sondern Folge gesellschaftlicher Entwicklungen. Veränderungen dieser Art könnten in der Reflexion der Geschichte erfolgen, sodass Handlungen entsprechend verändert würden. Die richtige Reaktion auf „das Böse“ sei nicht Buße, sondern Wissen. Rousseaus „Böses“ lässt sich als „historisches Phänomen“36 deuten.37 Auch Immanuel Kant (1724–1804) findet keinen äußerlichen Grund für „das Böse“. Er verbindet es mit der vernünftigen Freiheit des Menschen.38 „Das Böse“ sei nicht mehr das, was das sinnliche Leben und Begehren sei und die von Gott vorgesehene Ordnung zerstöre. „Das Böse“ sei vielmehr etwas dem Menschen Ursächliches. Fragen, die Gott, seine Schöpfung und deren Sinn betreffen, könnten Menschen schlicht nicht beantworten. Ob die je getroffenen metaphysischen Aussagen auf Gott zutreffen, könne der Mensch mit dem Verstand niemals erkennen.39 Was der Mensch als Vernunftwesen erkennen könne, sei, dass Glück und Tugend unabdingbar zusammengehörten. Es gebe den „Hange“40 zum „Bösen“ in der menschlichen Natur, der der subjektive Grund der Möglichkeit einer Neigung sei.41 Kant zufolge ist „das Böse“ „radical“42 , insofern der Hang zum „Bösen“ in der menschlichen Natur verwurzelt sei. Der Mensch sei sich moralischer Gesetze durchaus bewusst, seine tief verwurzelten Neigungen, der Hang zum „Bösen“,

35 36 37 38 39 40 41 42

Vgl. Neiman, Das Böse, 353–367. Neiman, Das Böse, 84. Vgl. Rousseau, Der Brief, 508–510. Vgl. Kant, RGV, AA VI: 32. 13–33. Vgl. Kant, KrV, AA III. RGV, AA VI: 28. 26. Vgl. RGV, AA VI: 28. 26. RGV, AA VI: 37.11.

Einleitung

könnten jedoch „den Grund aller Maximen“43 verderben. Demgemäß ist nach Kant zwar „das Böse“ individuell verschuldet, sodass der Einzelne für sein Verhalten verantwortlich gemacht wird, das radikal „Böse“ versteht er jedoch als tiefes, als in dem Menschen verwurzeltes. Angesichts der Erfahrungen von Ausschwitz erfährt die Theorie „des Bösen“ erneut eine einschneidende Umdeutung, namentlich durch Hannah Arendt (1906–1975). In ihrer Beobachtung des Eichmann-Prozesses (1961) verweist sie darauf, dass unermesslich viel „Böses“ von Menschen ohne „böse“ Absicht verbreitet werden könne. Zunächst nimmt sie Kants Begriff des „radikal Bösen“44 auf, um das zu formulieren, „was Menschen weder bestrafen noch vergeben können […], das man weder verstehen noch erklären kann durch die ‚bösen‘ Motive“45 . Wie Kant meint auch Arendt, dass „das Böse“ etwas menschliches ist. Sie geht über Kant hinaus, wenn sie nicht von „bösen“ Absichten als individuelle Entscheidungen ausgeht, sondern von der Unterwerfung unter eine Ideologie, die die Fähigkeit, „Gut“ und „Böse“ voneinander zu unterscheiden, bloß suggeriert. „Das radikal Böse […] hat nichts zu tun mit Psychologischem […] und nichts mit Charakterlogischem […]. Wesentlich ist 1. der Über-Sinn und seine absolute Logik und Konsequenz. 2. das Überflüssigmachen des Menschen bei Erhaltung des Menschengeschlechts, von dem man Teile jederzeit eliminieren kann.“46

Arendt zufolge vermittelte die bisherige Philosophie, dass „das Böse“ nur von „bösen“, menschlichen „Bestien“ verübt werde, die unfähig dazu seien, ihre Begierden zu steuern oder „Böses“ absichtsvoll und planvoll täten. Arendt beobachtet besonders im Eichmann-Prozess, dass dies nicht der Fall ist. „Das Böse“ sei den Menschen nicht anzusehen, es komme nicht von „Bestien“. Arendt ändert ihren Begriff des „radikal Bösen“. Sie schreibt mit Blick auf den Eichmann-Prozess: „I changed my mind und spreche nicht mehr vom radikal Bösen. […] Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert.“47

43 44 45 46 47

RGV, AA VI: 37.12. Arendt, Elemente, 941. Arendt, Elemente, 941. Arendt, Denktagebuch, 18. Arendt/Jaspers, Briefwechsel, 18.

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Weil „das Böse“ nicht radikal, als ein in der Tiefe liegendes „Böses“, sondern ein ganz oberflächliches ist, spricht Arendt von der „Banalität des Bösen“48 . So stellte sich selbst der SS-Obersturmführer Adolf Eichmann (1906–1962) als Idealist dar, der bei seiner Arbeit keine „bösen“ Absichten gehegt habe, weil er für eine höhere Idee gelebt habe.49 Von „wahnwitzigem Judenhass, von fanatischem Antisemitismus“50 habe jede Spur gefehlt. Eichmann war aus Arendts Sicht „ein durchschnittlicher, ‚normaler‘ Mensch, der weder schwachsinnig noch eigentlich verhetzt, noch zynisch ist“51 , und doch „ganz außerstande […], Recht von Unrecht zu scheiden“52 . Der Kern der „furchtbaren Banalität des Bösen, vor der das Wort versagt und das Denken scheitert“53 ist „dieser neue Verbrechertypus“54 , der „unter Bedingungen handelt, die es ihm beinahe unmöglich machen, sich seiner Untaten bewusst zu werden“55 . „Eichmanns vollständiger Mangel an Vorstellungsvermögen und seine Unfähigkeit zu denken, folgten aus einer Unterwerfung unter die Logik einer Idee und aus der Auslöschung der menschlichen Pluralität – der Tatsache, dass es Menschen im Plural sind, die die Welt bewohnen.“56

Arendt erkennt, dass „das Böse“ in jedem Menschen verankert sei. Jeder Mensch sei fähig zu solch „Bösem“. Wenn der Mensch zu träge sei, sich selbst ein Urteil über die Geschehnisse der Welt zu bilden, dann bestehe die Gefahr eines unhinterfragten Befolgens von Handlungsanweisungen, und so sei „das Böse“ von der Art geschehen, bezogen auf das, von wo aus sich Arendts Gedanken entwickelten: die unfassbaren, sinnlosen Schrecken des Holocaust. Arendt verweist auf die fehlende Selbstreflexion. „Die Voraussetzung für diese Art der Urteilsbildung ist keine hochentwickelte Intelligenz oder ein äußerst differenziertes Moralverständnis, sondern schlicht die Gewohnheit,

48 Arendt, Eichmann, 371. 49 Vgl. Stangneth, Eichmann. Stangneth zeigt dagegen, dass dem nicht so war und Eichmann doch aus „bösen“ Absichten heraus gehandelt habe und seine Selbstdarstellung zu seiner Abwehrstrategie gehörte. Dennoch schmälert das keineswegs Arendts Beobachtungen, weil Eichmann offenbar einer totalitären („guten“) Logik folgte und aufgrund dessen nicht mehr seine „bösen“ Taten als solche verbuchen konnte. 50 Arendt, Eichmann, 99. 51 Arendt, Eichmann, 100. 52 Arendt, Eichmann, 100. 53 Arendt, Eichmann, 371. 54 Arendt, Eichmann, 400. 55 Arendt, Eichmann, 400f. 56 Legros, Die furchtbare, 32.

Einleitung

ausdrücklich mit sich selber zusammenzuleben, das heißt, in jenem stillen Zwiegespräch zwischen mir und meinem Selbst zu stehen“57 .

Folgendes soll an dieser Stelle deutlich gemacht werden: Ein Nachdenken über „das Böse“ ist zutiefst menschlich. Die Welt kann also als eine wahrgenommen werden, die fehlerhaft und voll ist von sinnlosen, schrecklichen Tatsachen. Dies ist seit Menschengedenken formuliert und Anlass für Theolog:innen und Philosoph:innen, über „das Böse“ nachzudenken. Retrospektiv geben deren diverse „großen Erzählungen“58 den Anschein, als könne man „das Böse“ entziffern, so als wäre es ein Gegenstand, den es nur lange genug zu untersuchen gilt. Es lässt sich jedoch besonders mit der an Kant erfolgenden Dialektik der Aufklärung sehen, dass wir „das Böse“ nicht mit unserer Vernunft überwinden können und mit Arendt – über das aufklärerische Denken hinaus – lässt sich konstatieren, dass es nicht reicht, sich auf „das Böse“ als rein subjektorientierte Betrachtung zu fokussieren. Es ist immer die Betrachtung des Kontextes nötig. Trotz der Unvollständigkeit der hier dargelegten Skizze der Forschungsgeschichte vom „Bösen“ wird der andauernde Wandel ersichtlich. Daraus ergibt sich, dass der Begriff „des Bösen“ nicht eindeutig definiert werden konnte und kann, weil „Böses“ vor dem Hintergrund der jeweiligen Umstände immer anders erfahren und deshalb anders nach ihm gefragt wurde. Es bildet sich ein existenzielles Nachdenken im Kontext einer jeweiligen Erfahrung „des Bösen“ aus. „Alle Versuche, „das Böse“ irgendwie festzulegen, fokussieren auf ein Beispiel und vergessen dabei alle anderen“59 . „Das Böse“ zeigt sich als polyvalenter 60 Begriff, das heißt, es gibt unendlich viele Deutungsmöglichkeiten „des Bösen“, von denen es nicht eine richtige oder beste gibt, sondern die mit ihren Differenzen nebeneinander bestehen. „Das Böse“ findet zum Beispiel innerhalb der Dogmatik in Begriffen wie „Theodizee“ oder „Sünde“ seinen Ort, die wiederum auch auf unzählig verschiedene Weise reflektiert werden. Solche Begriffe – „das Böse“ eingeschlossen – sind sinnvoll, sofern sie „einer konsensorientierten Verständigung […] über all das, was den christlichen

57 Arendt, Was heißt, 93f. 58 Dieser Begriff stammt von dem Philosophen Jean-François Lyotard (1924–1998), der als Vordenker der Postmoderne gesehen werden kann. Lyotards, Der Widerstreit begründet aus philosophischer Perspektive das Individuelle, Differente und Heterogene als unhintergehbar. In seinem Werk „Das Postmoderne Wissen“ delegitimiert er die „großen Erzählungen“ der Moderne (Emanzipation des Menschen [Kant] und philosophisch-spekulative [Alexander von Humboldt, G.W. Friedrich Hegel]). Er kritisiert allgemein verbindliche wissenschaftliche Rationalitäten, an deren Stelle eine Vielfalt von Diskursen trete und den großen Erzählungen kein Glaube mehr geschenkt werde (vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, 14). 59 Neiman im Interview mit Catherine Newmark, in: Newmark, Anfangsfrage, 14. 60 Vgl. Richter, C., Situative.

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Glauben in und trotz seiner pluralen Vielfalt nach innen und außen orientiert“61 dienlich sind. Jedoch nicht in dogmatisierender Weise, dass die einmal gedeuteten Begriffe eine einzige Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen könnten. Sie sind immer bezogen auf das „konkrete einzelne Leben […], das jeder lehrmäßgen Darstellung vorgängig ist. Lebensvielfalt ist nicht nur von pluralen, der Sache nach unterschiedlichen Motiven durchzogen, sondern auch voneinander widersprechenden und der Sache nach gegenläufigen Motiven, so dass die Vorstellungen von Gott und Leben samt ihren Identifikationsmustern variieren können je nach ihrem aktuellen Lebensbezug: Was in der einen Situation überzeugend ist, mag es in einer anderen Situation gerade nicht sein, ohne dass eine der beiden Vorstellungen deshalb sofort ihre allgemeine Valenz verlieren würde. […] Das gilt auch für die Rezeption von materialen Glaubensvorstellungen.“62

Im Rahmen einer Seelsorge wird es unmöglich, die philosophischen und theologischen Reflexionen als einander konkurrierende zu betrachten, zu skizzieren und zu analysieren, um sich für eine aus ihnen zu entscheiden oder aus ihnen eine bessere zu konzipieren. Dies müsste bedeuten, wie die Philosophin Susan Neiman63 trefflich problematisiert, Lissabon mit Ausschwitz zu vergleichen und „Ausschwitz entweder mehr oder weniger als Naturkatastrophe zu nehmen und seine Architekten zu entschuldigen oder den Schöpfer mit Verbrechern der übelsten Sorte zu vergleichen.“64 Solche Theorien sind als Orientierungshilfe wenig hilfreich für die je gegenwärtige lebensweltliche Erfahrung „des Bösen“, die sich damals wie heute voneinander unterscheiden.65 Deutungen „des Bösen“ in ihrer philosophischen und theologischen Reflexion zeugen von deren jeweils mitgeführten Erfahrung, können aber nie reduktiv gebraucht werden. Hier erweist sich mithin die Kontextualität „des Bösen“. „Das Böse“ in seiner Determination birgt also die ständige Gefahr in sich, generalisierend eingesetzt zu werden, was einer Gefängnisseelsorge, die innerhalb eines pluralisierten Umfeldes agiert, nicht zuträglich ist. Es gibt noch ein weiteres Problem, wenn „das Böse“ als determinierendes Nomen verwendet wird. Es suggeriert, „das Böse“ als fremdes Prinzip bzw. als höhere Macht zu verstehen. Zunächst ist damit die erlebte Passivität von „Bösem“ zum Ausdruck gebracht,

61 Richter, C., Situative, 61f. 62 Richter, C., Situative, 62. 63 Die amerikanische Philosophin Susan Neiman macht die Beobachtung, dass sich das Nachdenken über „das Böse“ wie ein roter Faden durch die Philosophiegeschichte zieht und orientiert daran ihre eigene Philosophiegeschichte in ihrem Werk Das Böse denken. 64 Neiman, Das Böse, 33. 65 Vgl. auch Neiman, Das Böse, besonders 35f.

Einleitung

das unvorhergesehen und grausam über einen hereinbricht und einen überwältigt, ohne dass man etwas tun könnte und man bestenfalls nur noch auf eine göttliche Gegenmacht hoffen kann, die man im Gebet, um die Erlösung von „dem Bösen“ bittet. Dieses Verständnis würde die Vorstellung „des Bösen“ in den Bildern von Dämonen und dämonischen Gottheiten der Mythen erklären. Die Kehrseite dessen aber ist, „das Böse“ von sich ab- und anderen aufzudrängen, so wie Eichmann, der sagte, er hätte nicht anders gekonnt, er habe nur seine Befehle befolgt. „Das Böse“ erscheint so als das Andere. Dieser Prozess wird in der Philosophie mit dem Begriff othering benannt.66 In ihm wird Selbstverantwortung abgegeben und man läuft Gefahr, sich jeder Selbstreflexion zu entziehen. In Form des othering sowie der Vereindeutigung „des Bösen“ zeichnen sich also Schwierigkeiten bezüglich eines festgelegten Begriffes „des Bösen“ ab. Folglich scheint es von höchster Relevanz zu sein, was sich in den Ansätzen von Rousseau bis Arendt abzeichnet, „das Böse“ sich selbst verständlich zu machen – es geht um dessen Reflexion. Eine solche Reflexion, so wurde bisher deutlich, muss kontextgebunden, d. h. an je konkreten Lebenserfahrungen orientiert, erfolgen. Andernfalls bliebe sie theoretisch und wäre einer Gefängnisseelsorge nicht zuträglich, da nicht eine Deutung auf alle Lebenssituationen gleichermaßen zutrifft. Es gilt also „das Böse“ in konkreten Lebenserfahrungen der Menschen zu suchen und zu eruieren, was jeweils gemeint ist. Eine Annäherung in dieser Ausrichtung bietet der Ansatz des Religionsphilosophen und Theologen Ingolf U. Dalferth:67 Die Kontextualität „des Bösen“ spiegelt sich nun nicht nur in den unterschiedlichen philosophischen wie theologischen Theorien wider, sondern auch in gegenwärtigen kontextuellen Erfahrungen. Kontext bedeutet hier: in einem zeitlichen wie kulturellen Zusammenhang sich befindend, auf den etwas sich bezieht, aber auch stets vor einem individuellen Bezug, vor dem es verstanden wird. Jede Person versteht „das Böse“ stets etwas anders im Vergleich zu einer anderen Person, weil sie in einem anderen Kontext steht. Kontexte können sich vehement voneinander unterscheiden, z. B. weil sie zeitlich weit auseinanderliegen oder kulturell, weil sie aus unterschiedlichen Kontinenten kommen, mit anderen Gewohnheiten, oder einer anderen Religion oder einer anderen Tradition. Aber auch, wenn Personen aus demselben kulturellen Umfeld, aus demselben Ort, gar aus derselben Gemeinde stammen, ist ihr Kontext

66 Vgl. dazu Spivak, The Rani. 67 Dalferths Sicht auf „das Böse“ ist für die vorliegende Arbeit genau deshalb so gewinnbringend, weil er „das Böse“ nicht festlegt, sondern pluralisiert denkt. Er nimmt „das Böse“ als „kulturelle Denkform“ in den Blick, die „zu jeder Zeit das komplexe Resultat vielschichtiger religionsgeschichtlicher und philosophischer Hintergründe und Entwicklungen“ (Dalferth, Böse, 36) abbildet. Das Böse ist „nie einsinnig verstehbar, sondern kann stets in mehr als einem Sinn ausgelegt werden“ (Dalferth, Böse, 37).

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nie ganz derselbe, weil sie sich in ihrer je individuellen Geschichte, in ihrem je individuellen Umfeld unterscheiden. Das heißt, dass der Kontext ein (anderes) Verständnis, wenigstens aber einen anderen Blick auf das Wahrgenommene bedingt.

Es werden wohl beinahe jeder Person Geschichten oder Erfahrungen einfallen, mit denen sie „das Böse“ beschreiben oder in Verbindung bringen kann. „Es gibt Böses“ heißt jedoch nicht, dass es „Böses“ im ontischen Sinne gibt. Die sogenannten „großen Erzählungen“68 , auf die sich Theologie heute beziehen könnte, sind nicht unbedingt aus sich heraus für alle lebensnah und hilfreich; sehr wohl aber gilt: „Böses“ wird als eine lebensgeschichtliche reale Größe erfahren, insofern etwas für jemanden „böse“ ist.69 Unsere Bilder „des Bösen“ sind nicht allein durch individuelle Geschichten unserer Erfahrungen beeinflusst, sondern auch durch kulturelle. Religiöse Geschichten, wie die von Kain und Abel, Adam und Eva und Hiob, oder mythologische, wie die von Ödipus und Antigone, historische von Pest und Hungersnöten, von Ausschwitz und Hitler oder gegenwärtige Erfahrungen wie die Berichte von Terroranschlägen in Paris und Berlin, von Strömen von Flüchtlingen, die vor „Bösem“ fliehen, wie von den Folgen des Klimawandels oder Kriegen.70 In all ihnen zeigt sich „das Böse“, das seinen Ort im Leiden hat. „Das Böse“ wird erfahren als etwas, das lebensschädigend, -(zer)störend oder -behindernd ist, obgleich dies auf unzählige und verschiedene Weise geschehen kann.71 „Böses zerstört ohne Sinn, Ziel und Verstand, und weil es sinnlos schädigt und zerstört, ist es böse.“72 Allerdings bedeutet das nicht, dass alles Leiden „böse“ sein muss.73 Man denke an die Leiden einer natürlichen Geburt, die schmerzhaft für die Frau sind und oft als „Naturgewalten“ beschrieben werden. Die erfahrenen Leiden einer Geburt als etwas „Böses“ zu bezeichnen, würde wahrscheinlich keine grundsätzliche Zustimmung erfahren.74 Der Begriff „des Bösen“ stellt sich dadurch als ein normativer heraus. Eine Person nimmt ein Widerfahrnis als „böse“ wahr. Nicht „das Böse“ widerfährt ihr, sondern das Widerfahrnis wird als „böse“ bewertet. „Das Böse“ existiert nicht schon mit dem Widerfahrnis an sich, sondern immer in der Bewertung dessen, also mit dem,

68 69 70 71 72 73 74

Siehe Anm. 58. Vgl. Dalferth, Böse, 22. Ähnlich auch Dalferth, Böse, 39. Vgl. auch Dalferth, Malum, 15. Dalferth, Malum, 15. So auch Dalferth, Leiden, 28ff. Vorausgesetzt die Geburt verläuft insgesamt gut. Ist die Geburt mit einem Schicksalsschlag verbunden, z. B. im Falle einer Totgeburt oder wenn der Frau etwas zustößt, dann kann die Erfahrung einer Geburt sicherlich auch als etwas „Böses“ erfahren werden.

Einleitung

als was wir etwas erfahren.75 So kann man aus der Außenperspektive zwar sagen, dass jemand, der Drogen nimmt, eigentlich „Böses“ erlebt. Die drogenabhängige Person erlebt und bewertet den eigenen Drogenkonsum aber möglicherweise nicht (nur) als „böse“, sodass es schwierig ist – zumindest in einem Seelsorgegespräch – mit genau dieser Person über ihren „bösen“ Drogenkonsum zu sprechen. Festzuhalten ist: 1. Wenn von etwas „Bösem“ die Rede ist, dann wird etwas – ein Widerfahrnis – als „böse“ bewertet. „Das Böse“ ist also nicht wertfrei, sondern verweist auf eine sinnlose, schreckliche, d. h. negative Erfahrung. Der Mensch ist fähig, das Sein vor dem Hintergrund eines Sollens wahrzunehmen, sodass er „das Böse“ als negative Erfahrung als solche bewerten kann. Mit dem Bewusstsein, dass die Deutungen des Seins und des Sollens ebenfalls kontextuell sind, ist also auch die Erfahrung „des Bösen“ stets kontextuell. Der Begriff chiffriert vieles. 2. Gegenstand der Seelsorge ist nicht „das Böse“, sondern es sind die jeweiligen Erfahrungen, in denen etwas als „böse“ wahrgenommen und bewertet wird. Das scheint auch der Grund zu sein, weshalb Dalferth „das Böse“ aus seiner Determination löst und konsequent von „Bösem“ spricht. Im Unterschied zu Dalferths durchaus verständlichen Entscheidung „das Böse“ zu indeterminieren und von „Bösem“ zu sprechen, soll im Folgenden, trotz aller dargestellten Problematiken, die Determination aus folgenden Gründen gewahrt werden, stets vor dem Bewusstsein, dass „das Böse“ mehrdeutig ist: In der Abstrahierung „des Bösen“, wie sie in philosophischen und theologischen Theorien vorgenommen wurde, entsteht der Anschein eines „Bösen“ als Objekt, dessen genauer Inhalt noch herausgefunden werden muss. Dass dies nicht eindeutig funktioniert, wurde umfassend dargestellt. Durch eine Objektivierung „des Bösen“ würde es im Verständnis eines Ontischen gar gefahrlaufen, distanziert zu werden, sodass „das Böse“ überall, nur nicht bei einem selbst zu finden ist. Vor dem Hintergrund, dass der Begriff normativ verwendet wird, insofern er ein Widerfahrnis, also das eigentliche Objekt, bewertet, kann „das Böse“ demnach nicht als Objekt betrachtet werden. Deshalb soll es an dieser Stelle als das betrachtet werden, was es ursprünglich ist, nämlich als Begriff. „Das Böse“ ist erstmal eine Bezeichnung für etwas. Wie ist dieses „etwas“ zu denken? Dalferth schreibt, hinsichtlich „des Bösen“ sei es entscheidend, dass Geschichten „in Fiktion oder Erinnerung paradigmatisch Böses vor Augen stellen, das uns in unserer eigenen Lebenswirklichkeit Böses wahrzunehmen, zu vermeiden und zu beurteilen erlaubt“76 . All diese Geschichten, ob sie der Wahrheit entsprechen oder Fiktionen sind, „helfen uns, angesichts der Erfahrungen von Bösem nicht sprachlos

75 Vgl. Dalferth, Böse, 24. 76 Dalferth, Böse, 39.

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und kommunikationsunfähig zu werden.“77 In ihnen wird „das Böse“ greifbar und ansprechbar.78 Dem ist vollumfänglich zuzustimmen und es ist im seelsorglichen Umgang mit „Bösem“ von hoher Bedeutung, weil es den „performativen“79 Charakter von Narrationen anschneidet, wie noch zu sehen sein wird. Ich möchte aber, über Dalferth hinaus, zunächst noch einen Schritt zurück gehen: Nämlich dahin, dass besagte Erfahrungen in dem Begriff „das Böse“ zum Ausdruck gebracht wurden und werden. Wenn Widerfahrnisse, in aller Unterschiedlichkeit, als so extrem schrecklich erlebt wurden und werden, dass kein Wort zum Ausdruck bringen vermag, was der Erschütterung durch diese Erfahrung gerecht würde, dann treffen sie sich in der Bezeichnung: „Das Böse“. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die Erzählung aus Gen 3. Solch biblische Erzählungen wurden als Erklärungs- und Orientierungshilfen, bis hin als historische Darstellungen, tradiert, sind aber in dieser Lesart unserer Lebenserfahrung nicht besonders zuträglich. Gen 3 wurde als Erklärung dafür gelesen, wie „das Böse“ in die Welt kam bzw. wieso der Mensch „böse“ handelt. So gedeutet, sind sie in einer säkularen Gesellschaft nicht mehr lebensdienlich. Relevanz haben sie nur als Erzählungen, die als Narrationen aus und in den jeweiligen Kontext hineinwirken, sofern sie nicht den Ursprung „des Bösen“ erklären, sondern auf die existenzielle Erfahrung der Irrationalität „des Bösen“ verweisen.80 In der Hiob-Novelle beispielweise wird nicht auf theoretischer Ebene nach einem kognitiven „Bösen“, und warum Gott dieses zulässt, gefragt – diese Frage lässt sich, wie Kant beschrieb, nicht vernünftig klären. Sondern sie zeugt von der emotionalen Erfahrung „des Bösen“ und der verzweifelten Klage, wie so etwas geschehen kann, die das zutiefst Betroffensein ausdrückt. Es geht um die Person Hiobs selbst und durch die Narration um denjenigen, dem sie erzählt wird, wenn er seine eigenen Lebenserfahrungen mit der Narration verbindet.

77 Dalferth, Böse, 40. 78 Dalferth, Böse, 40 denkt über diesen Schritt hinaus und versteht die Geschichten „als Orientierungspunkte“, die „Leitlinien vor[geben], wie man sich in unübersichtlichen Lebenslagen angesichts von Bösem verhalten kann und soll und wie nicht.“ Dieser Schritt geht mir an dieser Stelle zu weit, weil nicht jede Geschichte und besonders das individuelle Verhalten darin exemplarisch für jede:n andere:n auch ist. Jede individuelle Geschichte verläuft anders und jede wird auch anders gedeutet. Es leuchtet aber ein, wenn Dalferth z. B. an den Holocaust und „dem Bösen“ darin denkt und die Erinnerung daran sehr wohl orientierungsgebend dafür sein sollte, dass so etwas unter keinen Umständen wieder geschehen darf. 79 Richter, C., Ethik, 182: „Von Performanz spricht man dann, wenn mich ein Wort (Bildrede, Narration…) im Innersten so trifft, dass es für mich – längerfristig oder nur für den Moment – die Wirklichkeit neu schafft.“ 80 Dieser Auffassung ist auch Dietrich Korsch, Antwort auf die Grundfragen, 104. In dieser Funktion wird Gen 3–4 in 3.3.1 genauer beleuchtet.

Einleitung

„Das Böse“ soll hier also nicht ohne Artikel stehen, weil etwas für jemanden „das Böse“ sein kann. Mit „dem Bösen“ kann auf eine existenzielle Erfahrung hingewiesen werden, auch dann, wenn „das Böse“ als solches gar nicht benannt wird, sich aber Situationen und Erfahrungen darstellen, die in ihrer Vehemenz das berühren, was „das Böse“ als Begriff zum Ausdruck zu bringen vermag. In dieser Form bildet es einen Reflexionshintergrund, Erfahrungen in ihrer Vehemenz wahr- und ernstnehmen zu können, was besonders in der Gefängnisseelsorge vorkommen dürfte. „Das Böse“ soll in seiner Determination dabei aber stets als mehrdeutig verstanden und bezeichnet werden. „Das Böse“ kann also verstanden werden als eine Art gemeinsamer Nenner, der all die unterschiedlich bewerteten Widerfahrnisse am Ort des Leidens in einem sprachlosen Sein hinsichtlich eines Sollens auf den Begriff bringt. Dann ist „das Böse“ ein Begriff, der als Ausgangspunkt dienlich ist, der ein Weiterdenken und besonders Weiterkommunizieren ermöglicht. Und zwar ein Ausgangspunkt, der nicht auf ein theoretisches Phänomen verweist, sondern der in der Begrifflichkeit „des Bösen“ eine Emotion zum Ausdruck bringt. Die Emotion über ein Widerfahrnis, das nicht anders als mit dem Begriff „böse“ zum Ausdruck gebracht werden kann, oder so unfassbar ist, dass man es einem Menschen nicht zutraut und deshalb als „das Böse“ in einer Art Prinzip oder einer Art Macht verbildlicht. Seelsorge hat demnach zur Aufgabe, „das Böse“ in der jeweiligen Situation zu entschlüsseln. Sie tut dies, indem sie, wenn der konkrete Begriff fällt, Narrative findet, die die Situation beschreiben und die damit verbundenen Affekte zur Sprache bringt. Dies gilt auch, wenn Seelsorgende mit Formen des othering konfrontiert sind: Was steckt hinter dem „Von-sich-Weisen“ bzw. einer Weigerung oder einer Unkenntnis jedweder Selbstreflexion? Und es ist auch dann bedeutsam, wenn der Begriff nicht fällt, sich aber Situationen und Erfahrungen als so einschlägig erweisen, dass sie in dem Begriff „des Bösen“ Ausdruck finden könnten, d. h. auf eine grundlegende, existenzielle Dimension verweisen. Seelsorge wäre einseitig, beschränkt und unflexibel, nähme sie nur eine Form und Erscheinung „des Bösen“ in den Blick. „Das Böse“ ist die Möglichkeit, es als etwas Mächtiges wahrzunehmen, das zugleich geschieht, aber zugleich auch getan wird. Besonders im Gefängnis treten „böse“ Taten zutage, die lebensverneinend und beziehungszerstörend sind, gleichzeitig wird hier „das Böse“ auch als Macht erfahren, die genau zu diesen Taten getrieben hat. Die Verwendung des Begriffes „das Böse“ schließt im Folgenden nicht die einen Phänomene gegen andere aus, denkt also nicht im „entweder – oder – Gefüge“, sondern im Gefüge des „sowohl – als auch“. Das soll nicht heißen, dass für jedes Verständnis alle Chiffren inhärent sein müssen, sodass ein plurales Verständnis für jede Person normativ gesetzt werden müsste. Es heißt aber, dass aus Sicht der Seelsorgelehre ein pluralisiertes Verständnis „des Bösen“ normativ gesetzt werden sollte, insofern man mit allen Deutungen rechnen können muss, sodass unterschiedliche Deutungen für das, was

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als „böse“ erfahren wird, wahrgenommen werden können. Aufgrund dessen soll „das Böse“ als Fragehorizont verstanden werden, der pluralisiert zu denken und zu verwenden ist. Daraus ergeben sich allerdings Herausforderungen, die Gefängnisseelsorgende betreffen. Denn „das Böse“ zu verstehen und zu reflektieren bedeutet, nicht nur „das Böse“ im und mit dem Gegenüber zu reflektieren, sondern auch das je eigene. Daraus können sich Differenzen ergeben, die konträr zueinanderstehen und der Umgang mit ihnen nicht eindeutig ist. 1.2.2

„Polyvalente Normativität“ als Grundlage für das Leitbild „Normative Differenz*“

Es wurde gezeigt, dass „das Böse“ durch eine hohe Varianz geprägt ist, insofern das, was als „das Böse“ bezeichnet wird, höchst verschieden ausfallen kann. In dem Begriff „das Böse“ werden die je unterschiedlich erlebten, existenziellen Erfahrungen eines schrecklichen Widerfahrnisses bezeichnet und bewertet. Was bedeutet dies konkret für die Gefängnisseelsorge? Wie kann sie einen Umgang mit den Phänomenen „des Bösen“ finden, wenn die jeweiligen Erfahrungen „des Bösen“ ihre Berechtigung haben und nicht auf eine richtige reduziert werden können? Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst auf die klassische, allgemeine Seelsorgelehre zu blicken. In ihr stellt sich Seelsorge als eine kirchliche Aufgabe dar. Seelsorgende unterstehen ihrem kirchlichen Auftrag, sodass Seelsorge nicht einfach aus einem persönlichen Interesse oder einer persönlichen Einstellung erfolgt. „Seelsorge ist Nachfolgepraxis im Wirkungsbereich des Evangeliums“81 , wozu Seelsorgende in ihrer Arbeit berufen sind.82 Dies gilt auch für Seelsorge im Gefängnis, wo die „Gottesebenbildlichkeit […] jedem Menschen zugesprochen [wird], unabhängig davon, ob er frei leben kann oder wegen einer Straftat gefangen ist.“83 Die Arbeit Seelsorgender wird demnach auch an „totalen Institutionen“84 gebraucht, zu denen Justizvollzugsanstalten gehören. Seelsorgende haben eine Aufgabe von Amts wegen zu erfüllen, wobei die Begründung dessen auf kirchlichen und damit also institutionellen und im übrigen auch individuellen Glaubensgrundlegungen beruht. Seelsorge ist demnach sowohl Amt als auch persönliches Interesse – beides verhält sich in einer Weise zueinander, wie sich besonders in der Rolle Seelsorgender zeigt. Seelsorgende haben eine bestimmte Rolle zu erfüllen. In Rollenfindung und Rollenausführung spielen unterschiedliche Aspekte zusammen. Seelsorgende setzen sich in ihrer Rolle mit unterschiedlichen Fremd- und Selbstbildern auseinander 81 82 83 84

Ziemer, Seelsorgelehre, 220. Vgl. Ziemer, Seelsorgelehre, 220; vgl. Klessmann, Seelsorge, 322. Klessmann, Seelsorge, 369. Goffman, Asyle, 13ff.

Einleitung

und benötigen die Fähigkeit, sich von unpassenden loszulösen. Zu letzterem Falle gehört z. B. der Anspruch, in jeder Situation helfen und um Rat wissen zu können. „Dieses Bild, in dem sich ein narzisstischer Selbstanspruch von innen mit einer projektiven Fremderwartung von außen verbindet, verhindert Seelsorge eher, als dass es sie möglich macht.“85 Stattdessen geht es mehr darum, sich nicht nur als gebend, sondern auch als empfangend wahrzunehmen.86 Die Teilhabe an den Lebensgeschichten und Erfahrungen anderer „erweitert meine eigene Erfahrung, das gewährt mir Einblick in das Leben und Einsicht in seine Tiefe und Abgründigkeit, die ich ohne diese Menschen nicht hätte.“87 Um aufmerksam und mit Bereitschaft auf diese Lebenserfahrungen reagieren zu können, ist es wichtig, sich mit der eigenen Person auseinanderzusetzen, die die Rolle der:des Seelsorgenden ausfüllt. In gewisser Weise ist es die Person, die sich in den Seelsorgesituation mitbetroffen macht. Es ist „einerseits eine Distanz notwendig und […] andererseits ein gewisses Maß emotionaler Mitbetroffenheit“88 . Das ist vor dem Hintergrund wichtig, um solidaritätsfähig und sympathiefähig zu sein, indem Seelsorgende eine gewisse Ahnung von dem haben, was andere erfahren.89 Um eine „Personenkompetenz“90 entwickeln zu können, bedarf es einer „kritischen Selbstwahrnehmung“91 , zu der es gehört, die eigenen Grenzen zu kennen und zu wissen, wie und wo der eigene Glaube verankert ist. Ebenso notwendig ist das Wissen um Zweifel, die eigenen Stärken und Schwächen sowie um die Konfliktfähigkeit.92 In der Seelsorgepraxis ist es relevant, „sich als Person erkennen zu geben“93 , damit sich „der/die Andere als individuelle Person […] wahr- und ernstgenommen fühlt.“94 Seelsorgende brauchen also eine fachliche wie auch eine persönliche Kompetenz.95 Beide sind in der Rolle des:der Seelsorgenden eng miteinander verbunden. Gefängnisseelsorge bietet Anhaltspunkte dafür, wie schwierig sich die Verknüpfung von Profession und Person gestalten kann. In welchen Situationen und unter welchen Bedingungen braucht es mehr Person bzw. mehr Profession? Dies in der Seelsorgeausbildung zu lernen und in Supervision zu festigen, also dafür ein Gespür zu bekommen, ist seit der Seelsorgebewegung Ende der 1960er Jahre möglich und

85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95

Ziemer, Seelsorgelehre, 220, vgl. auch Klessmann, Seelsorge, 322–326. Vgl. Ziemer, Seelsorgelehre, 220. Ziemer, Seelsorgelehre, 220. Ziemer, Seelsorgelehre, 221. Vgl. Ziemer, Seelsorgelehre, 221; vgl. auch Klessmann, Seelsorge, 449–451. Ziemer, Seelsorgelehre, 222 [original: kursiv]. Ziemer, Seelsorgelehre, 222. Vgl. Ziemer, Seelsorgelehre, 222f. Klessmann, Seelsorge, 329 [original: fett]. Klessmann, Seelsorge, 329. Vgl. Ziemer, Seelsorgelehre, 222.

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Teil I Grundlagen und Prämissen

etabliert.96 An dieser Stelle soll jedoch die These aufgestellt werden, dass damit zu rechnen ist, dass es keine allgemeingültige und funktionierende Methode gelingender Seelsorge gibt, die auf jede Seelsorgesituation anwendbar wäre. Und zwar nicht nur deswegen, weil Seelsorgesuchende in je unterschiedlichen Kontexten stehen, aus denen heraus sich eine Pluralität ergibt, mit der Seelsorgesuchende umgehen können sollten, sondern auch deshalb, weil ebenso die Person Seelsorgender im Moment des Seelsorgevollzugs unterschiedlich berührt wird, weil auch sie in unterschiedlichen Kontexten steht. Eine gewisse Flexibilität und Spontanität ist besonders zu erwarten, wenn der Rollenteil der Person gefragt ist, der für Affekte empfänglich ist. Dieser ist vehement gefragt, wenn es darum geht, wirkliche „emotionale Mitbetroffenheit“ zu bewirken und „empfangend“ zu sein, was durch Affekte evoziert wird. Affekte, die starke emotionale Wertungen einer Situation bewirken, sind in der Gefängnisseelsorge zu erwarten. Besonders in der Gefängnisseelsorge ist nicht nur eine gewisse Pluralität, sondern sind auch erhebliche Diskrepanzen im Umgang mit „Bösem“ zu erwarten. So lässt sich einerseits eine Tendenz erkennen, dass Täter:innen immer auch als Opfer zu sehen seien, z. B. wenn „Opfer extremer Erfahrungen zu Tätern werden“97 , oder „der bei weitem größte Teil der Menschen, die uns hinter Gittern begegnen, […] psychische bzw. physische Störungen [auf]weist“98 oder in der Frage „nach der Schuldfähigkeit […], die in den letzten Jahren u. a. von der Hirnforschung neu gestellt […] worden ist“99 und sich damit die Frage nach dem „freien Willen“ in der Praxis konkretisiere.100 Gleichzeitig wird die Relevanz einer Öffentlichkeitsarbeit hervorgehoben, um das gesellschaftliche Bild von „bösen“ Verbrecher:innen als Monster zu relativieren. Darin wird postuliert, „den ganzen Menschen zu sehen“, als einen, der „mehr ist als die Summe seiner (Un)Taten“101 , der „Gerechter und Sünder zugleich“102 sei, und vielleicht sogar in Tat und Person differenziert werden sollte.103 Darüber hinaus wird postuliert, dass die Menschen im Gefängnis nicht „,böser‘ sind als die Zeitgenossen ,draußen‘“104 , jeder Mensch eine „böse Seite“105 habe, die glücklicherweise (noch) nicht durchgebrochen sei.106 Bisweilen werden

96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106

Vgl. Klessmann, Seelsorge, 446–468. Tietze, Opfer, 69. Tietze, Rede, 331; ähnlich Brandner, Gottesbegegnungen, 250. Tietze, Menschliche, 34. Vgl. Tietze, Menschliche, 34. Höbel, Was kommt nach dem „Drinnen“?, 68; vgl. Pohl-Patalong, S., Freiräume, 193. Merzyn, Lebenslange, 357. So z. B. Nafzger, Gefängnisseelsorge, 180. Tietze, Opfer, 67. Tietze, Vergib, 319; ähnlich Brandner, Gottesbegegnungen, 251. So z. B. Tietze, Vergib, 319; ders., Menschliche, 33.

Einleitung

solche Ansichten formuliert, um den Blick von der Straftat auf den Menschen dahinter zu lenken.107 Auf der anderen Seite bleibt es in der Gefängnisseelsorge nicht aus, dass Seelsorgende sich mit extremen Lebenserfahrungen und -geschichten auseinandersetzen müssen und dem begegnen, was bisher unter „das Böse“ gefasst wurde. Wenn eine Insassin erzählt, wie es dazu kam, dass sie ihren Säugling erstickt hat,108 dann kann sich eine emotionale (Mit-)Betroffenheit in doppeltem, gar ambivalentem Sinne zeigen, nämlich betroffen von der „bösen“ Tat einerseits, und von dem, was dem Gegenüber widerfahren ist andererseits. So beschreibt etwa auch die Gefängnisseelsorgerin Marta Green eines ihrer Gespräche mit einem Gefangenen: „I took in the whole sad story. […] I had great empathy for the abused child, but did that mean anything if I did not deal with the adult thief as well? Did my need to be empathetic derail me from a real meeting with the whole man?“109 In diesem Beispiel zeigt sich ein Schrecken über die Tat des Gefangenen. Diese wird nicht einfach relativiert, indem beispielsweise die eigene, potenzielle Schuld, der Mensch als ganzheitlicher oder psychisch Kranker ins Bewusstsein gerufen wird – obgleich dies für den Verstehenshorizont „des Bösen“ unabdingbar ist, und auch, um solidaritätsund sympathiefähig zu sein. Das Mitleid für den kleinen Jungen, der unfassbares, „böses“ Leid erfahren hat, ist da. Aber dennoch ist da auch der erwachsene Mann, der einem Mädchen gleiches „Böses“ angetan hat. Die Polyvalenz „des Bösen“ tritt als Differenz zweier normativer Bewertungen zutage, und zwar in der persönlichen Wahrnehmung der:des Seelsorgenden, der:die in der Reflexion des Gegenübers „das Böse“ erkennt, das dem Straftäter widerfahren ist, und gleichzeitig durch die Erzählung der schrecklichen Straftat betroffen wird, wenn er:sie, seiner:ihrer Rolle entsprechend, sich empfangend auf die Lebenserfahrungen seines:ihres Gegenübers einlässt. Beides macht den:die Seelsorgende (mit)betroffen. Wie soll sich der:die Seelsorger:in hier „als Person erkennen geben“ (s.o.), damit sich „der Andere als individuelle Person wahr- und ernstgenommen fühlt“ (s.o.)? Wie aufrichtig kann ein solches Ernstnehmen sein? Hier müsste sich eine theologische Deutung in der Seelsorger-Praxis bewähren, die dies aber in ihren gängigen Spielarten nicht so ohne Weiteres tut. Denn Seelsorger:innen müssen hier mit einer Spannung umgehen, die darin besteht, dass Gefangene sich nicht nur als Opfer fühlen, sondern „sie sind es auch – was [umgekehrt, Anm. v. Inderst] nicht ausschließt, dass sie eben auch und gleichzeitig

107 Dies kann nicht überbetont werden, um einem moralisierenden, verurteilenden Umgang entgegenzuwirken, der m.E. nicht hilfreich ist bzw. leidzufügendes Handeln sogar bestärken kann. Diese Erkenntnis ist nicht nur eine, die sich die Humanwissenschaften zuschreiben können, sondern kann ebenso ethisch hergeleitet werden, vgl. dazu Kapitel 3.2. 108 Davon berichtet Windischer, Im Gefängnis, 201, siehe auch ausführlich in Kapitel 4.3.3. 109 Green, Pastoral, 208.

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Täter sind.“110 Die Konsequenz sollte nicht sein, „in linearer Weise Ursache und Wirkung zu verknüpfen, sondern ein komplexes Verursachungsfeld zu beschreiben, das weder zur individualisierten Schuldzuschreibung noch zur billigen Exkulpierung benutzt werden darf “111 . Das bedeutet, dass Seelsorge in ihrer Praxis plural und polyvalent denken und agieren können muss. Wieviel Person kann und sollen Seelsorgende an dieser Stelle zeigen, um authentisch zu sein? Können sie dem Anspruch, mitbetroffen ihr Gegenüber ernst zu nehmen und ihm:ihr kompetent zuträglich zu werden, gerecht werden? Genau darin besteht die Herausforderung einer „Polyvalenten Normativität“, also in der polyvalenten Gegenüberstellung von Deutungen „des Bösen“, die konträr zueinanderstehen. Sie können nicht im Sinne einer weichen Toleranz stehen bleiben. Sie führen unweigerlich den Streit um ihre Wertigkeit mit sich. Es handelt sich um harte Differenzen. Diese „Härte“ besteht darin, dass jene Differenzen nicht einfach so behandelt werden können, als ließen sie sich auflösen. Damit wird hier ein Leitbild gesetzt, das hier als „Normative Differenz*“ bezeichnet sei. Was darin impliziert ist, wird im Gang durch die Arbeit aufgezeigt. Die Rede von „Normative Differenz*“ meint ganz bewusst etwas anderes als das, was man bei der Rede von „Normativen Differenzen“112 vermuten könnte, nämlich die Aufforderung, Differenzen normativ zu setzen und damit Differenzen geradezu heraufzubeschwören. Dagegen erhebe ich den Anspruch, dass differente und konträre Deutungen unausweichlich sein können. So drängt es sich angesichts der seelsorglichen Erfahrungen im 21. Jahrhundert und im Bewusstsein der unterschiedlichen wissenschaftlichen Richtungen auf. Die vorliegende Arbeit geht dieser These in einem praktisch-theologischen Interesse nach. Obgleich Pluralität förmlich eindeutige Orientierungsmöglichkeiten verlangt, wurde bereits gezeigt, dass eine Vereindeutigung „des Bösen“ den Individuen nicht gerecht würde. Dasselbe ist nun für die Seelsorgearbeit aufzeigen. Hier tut sich ein Spannungsfeld auf, das sich zwischen Beliebigkeit und dogmatisierenden Ansprüchen bewegt. Bis hierher festzuhalten ist: Seelsorgende sollten gerade in der Gefängnisarbeit mit unterschiedlichen und ambivalenten Chiffren „des Bösen“ rechnen. Seelsorgende stehen auf der Schwelle der jeweiligen Deutungen. Sie sind vor die Schwierigkeit gestellt, dass sie nicht einfach objektiv bleiben können, weil sie qua ihrer Person – die auch ihren Anteil

110 Klessmann, Gefängnisseelsorge, 44. 111 Klessmann, Gefängnisseelsorge, 44. 112 Die Schwierigkeit, dies auf einen unmissverständlichen Begriff zu bringen, sei mit dem Asterisk /*/ angezeigt, weil es um eine Modifizierung des Differenzbegriffs gehen müsste, der hier, in der Tat, nicht ganz trennscharf ist. Es sollen Differenzen normativ gesetzt werden, wenn sie präsent sind. „Normative Differenz*“ bleibt also ein zu diskutierender Arbeitsbegriff für das Gemeinte.

Einleitung

zur Profession des:der Seelsorgenden beiträgt – nicht wertfrei gegenüber den Erfahrungen anderer bleiben können. Daraus ergibt sich die Frage, welche Methode den Seelsorgenden und den Seelsorgesuchenden hilft, dieser Konstellation Rechnung zu tragen.

1.3

Gefängnisseelsorge auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert – Eine Standortbestimmung

Die vorliegende Arbeit wendet sich vornehmlich der Literatur zur Gefängnisseelsorge aus dem 21. Jahrhundert zu. Dies ist damit zu begründen, dass auch die Gefängnisseelsorge seit der Seelsorgebewegung ab den 1960er Jahren einen Umbruch erfährt, wobei allerdings die „verkündigende Seelsorge hier sehr viel intensiver nachwirkt[e] als in anderen seelsorgerlichen Handlungsfeldern.“113 Doch auch die Gefängnisseelsorge wird inzwischen von pastoralpsychologischen Ansätzen geprägt. Einschlägig für die dazugehörige „Umbruchsituation“114 ist Ellen Stubbes Buch Seelsorge im Strafvollzug. Historische, psychoanalytische und theologische Ansätze zu einer Theoriebildung 115 , das sie 1978 veröffentlichte. Es wurde zu einem immer wieder zitierten „Klassiker“116 der Gefängnisseelsorge. Stubbe begreift Gefängnisseelsorge zu ihrer Zeit als eine, die vor der Aufgabe stehe, „ein Selbstverständnis zu entwickeln“117 , in dem „Kriminalität, de[r] Umgang mit Rechtsbrechern und diesbezügliche Erwartungen an die Gesellschaft“118 neu beurteilt werde. Jene Neubeurteilung erklärt sich für Stubbe „aus den humanwissenschaftlichen Erkenntnissen über Kriminalitätsentstehung. Soziologische, empirisch-psychologische und psychoanalytische Forschungen und Erkenntnisse führen zu einer neuen Sicht und Beurteilung der Kriminalität.“119 Diesen Prozess beschreibt Stubbe als einen, der zu ihrer Zeit „noch voll im Gang“120 sei. Ein weiterer „Klassiker“, der sich innerhalb dieser Umbruchssituation der Gefängnisseelsorge verorten lässt, ist die Dissertation von Peter Brandt aus dem Jahre

113 Rehm, Kirche, 249. 114 Stubbe, Seelsorge, 11. 115 Unter dem Titel Identifikation – Projektion. Ansätze zu einer theologischen und humanwissenschaftlichen Theoriebildung der Seelsorge im Strafvollzug wurde die Arbeit 1976/77 von dem Theologischen Fachbereich der Christian-Albrechts-Universität Kiel als Dissertation angenommen. 116 Klessmann, Seelsorge, 366 bezeichnet die Dissertationen von Stubbe und Brandt als eben solche. 117 Brandt, evangelische, 14. 118 Stubbe, Seelsorge, 11. 119 Stubbe, Seelsorge, 11. 120 Stubbe, Seelsorge, 11.

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Teil I Grundlagen und Prämissen

1985. Er „stellt sich die Aufgabe, historische Perspektiven zur Diskussion von inhaltlichen und funktionalen Fragen der Gefangenenseelsorge aufzuzeigen.“121 Er geht davon aus, dass sich die Gefängnisseelsorge seinerzeit in „einem Ablösungsprozeß von der bisherigen funktionalen Integration in den Justizvollzug“122 befinde, der „ausschließlich definiert“123 , was Verbrechen sind und wie sie rechtlich zu sanktionieren sind. Dadurch stehe Gefängnisseelsorge vor der Aufgabe, „ein Selbstverständnis zu entwickeln, das es ihr ermöglicht, christlich motivierte Sorge um den Menschen in der Strafe zu üben, ohne inhaltlich und final an die Intentionen des Vollzuges gebunden zu sein.“124 Brandts breit aufgestellte historische Analyse enthält Material, das geeignet ist, die Relevanz auch einer interdisziplinären Betrachtung „des Bösen“ und dem Umgang mit ihm erkennbar zu machen. Nach diesen „Klassikern“ der Gefängnisseelsorgeliteratur ist verhältnismäßig wenig Weiteres erschienen. Neben wenigen, theologischen Hochschulschriften – zu nennen sind hier die von Ralf Günther125 , Michael Hagenmaier126 , Tobias Brandner127 , Elisabeth Roth128 sowie aus kriminologischer Perspektive die empirische Arbeit von Alexander Funsch129 , gibt es einige Aufsätze, die eher der Kategorie „Erfahrungsberichte“ von Gefängnisseelsorgenden zuzuordnen sind.130 In ihnen berichten Gefängnisseelsorger:innen von ihren Erfahrungen aus der Praxis, formulieren von da aus Fragen an die Gefängnisseelsorge und wollen zur Konzeptionierung einer Gefängnisseelsorgelehre beitragen. In der Poimenik des 21. Jahrhunderts tut sich demnach eine Forschungslücke auf. Insofern das Verständnis und der Umgang mit „dem“ sogenannten „Bösen“ bisher auf „klassische“ Weise behandelt wurde (exemplarisch dafür ist der folgende Abschnitt 1.3.1) und

121 122 123 124 125 126 127 128 129 130

Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 15. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 14. Callies, Theorie, 38 zitiert bei Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 14. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 14. Günther, Seelsorge. Hagenmaier, Mythen. Brandner, Gottesbegegnungen. Roth, E., Denn dieser mein Sohn. Funsch, Seelsorge. Die Erfahrungsberichte sind in dieser Arbeit vielfach aufgenommen. Peter Rassow, selbst Gefängnisseelsorger von 1965–1993 hat im Jahre 1998 eine Bibliografie der Literatur zur Gefängnisseelsorge (es verzeichnet die Jahre 1528–1995) herausgegeben, vgl. Rassow, Bibliographie. Seither ist diese nicht weitergeführt worden – vermutlich auch, weil grundsätzlich nicht viel Neues zu dem Thema erschienen ist. Davon zeugt auch eine 2019 neu veröffentlichte Bibliografie zur Gefängnisseelsorge, die sich eher an Themen orientiert und nicht chronologisch vorgeht wie zuvor Rassow. So wird hier vornehmlich auch Literatur aufgeführt, die bei der Arbeit zu einer Gefängnisseelsorge hilfreich sein könnte, weil sie bspw. Themen zur Strafprävention enthalten oder fundamentalethische Themen, vgl. Reininger, Bibliografie.

Einleitung

gerade nicht in so differenzierter Weise, wie es Verständnis von und Umgang mit „dem Bösen“ eigentlich erforderlich machen. Um sich dem anzunähern, wie sich die Gefängnisseelsorge des 21. Jahrhunderts darstellt, wird vorab zunächst genauer auf die Arbeiten von Ellen Stubbe und Peter Brandt eingegangen. Sie stehen im Vergleich zu der ihr vorausgehenden Literatur schon eher auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert und repräsentieren den Umbruch in der Gefängnisseelsorge im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, auf den die gegenwärtige Literatur zur Gefängnisseelsorge noch bezogen bleibt. 1.3.1

Die Entmythologisierung „des Bösen“ – Der Einfluss psychotherapeutischer Ansätze auf die Gefängnisseelsorge (Ellen Stubbe)

Ellen Stubbe beabsichtigt mit ihrer Theorie zur Gefängnisseelsorge einen radikalen Neuanfang. Sie bezieht einen Seelsorgeansatz – der besonders in der Krankenhausseelsorge seinen Anfang nahm – auf ein Milieu, in dem eine kerygmatische Seelsorgepraxis auf den ersten Blick naheliegender zu sein scheint und eine therapeutische Seelsorge – besonders zu ihrer Zeit – als seltsam angesehen werden könnte. Während der therapeutische Seelsorgeansatz in der allgemeinen Seelsorge 1976 nicht mehr ganz neu ist, hatte sich ihr Eintrag in die Gefängnisseelsorge noch nicht stärker etabliert. Stubbe intendiert in ihrer Arbeit eine veränderte Sicht auf Strafe und Gefängnis sowie auf Gefängnisseelsorge und ihre Begründung. Beides ergibt sich für Stubbe aus humanwissenschaftlichen, insbesondere psychoanalytischen Erklärungsmodellen. Stubbe möchte eine veränderte Einstellung hinsichtlich der Kriminalität evozieren. Darauf weisen Stubbes Auseinandersetzungen mit den Phänomenen der latenten Kriminalität, des Sündenbockprojektionsmechanismus und als Lösungsansatz mit dem der Identifikation. Diese sind im Weiteren von besonderem Interesse, um Stubbes Sicht auf „das Böse“ zu erfassen. Stubbes Ergebnisse werden bezüglich des oben dargestellten Verständnisses vom „Bösen“ sowie der „Polyvalenten Normativität“ kritisch auf ihre Leistungen und Grenzen hin befragt. Der Begriff des „Bösen“ wird bei Stubbe nicht konkret definiert, es lässt sich aber aus den wenigen dezidierten Nennungen erschließen, was Stubbe unter den Begriff des „Bösen“ fasst und welche Bedeutung sie ihm zumisst. Vor dem Hintergrund psychologischer Deutungen, besonders der freudschen Schule, bezeichnet Stubbe „eigensüchtige“131 Triebe als „böse“132 , die bei

131 Freud, Zeitgemäßes, 333; vgl. Stubbe, Seelsorge, 19. 132 Stubbe, Seelsorge, 19.

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jedem Menschen gleich veranlagt seien.133 Sie diagnostiziert jedem Individuum eine „,latente Kriminalität‘“134 , die als triebhaftes Verhalten, also als das „,Böse‘“135 , den „,Schatten‘“136 , ebenso der Gesellschaft als Kollektiv zu eigen sei. Mit Eduard Naegelis137 Erklärungsmodell vom „Sündenbockprojektionsmechanismus“138 bezieht Stubbe „das Böse“ im Individuum sowie das des Kollektivs aufeinander und leitet daraus ihre Kritik von Strafe ab.139 Sie beanstandet, dass Kriminelle als „soziale Minoritäten, […] zum ,Symbolträger für alles Böse‘ würden, das die ganze Gesellschaft bedroht. Aggressionen, die auf andere Weise nicht bewältigt werden können, werden an sie weitergegeben.“140 Die Schuld des Täters fungiere als gutes Gewissen der Gesellschaft.141 Hinsichtlich „des Bösen“ wird daraus ersichtlich, dass Stubbe mit humanwissenschaftlichen Erkenntnissen zu ähnlichen Intentionen gelangt, wie zuvor Hannah Arendt: „Das Böse“ steckt in jeder Person und es wird zu einem individuellen wie auch gesellschaftlichen Problem, wenn eine Gruppe – hier konkret die Kriminellen – zu alleinigen Träger:innen im Prozess des othering zu solch „Bösem“ dämonisiert werden, sodass man sich selbst immer als „gut“ darstellen und empfinden kann. Stubbe stellt dem die psychoanalytische Lehre entgegen.142 Auf diese Weise stellt sie Straftäter:innen und Strafende auf eine moralische Ebene – sie enthierarchisiert sie gleichsam, indem sie auch das Bedürfnis zu 133 Zur Äußerung krimineller Triebwünsche Nichtkrimineller vgl. Freud, Die Traumdeutung; ders., Das Unbehagen, 470f, referiert bei Stubbe, Seelsorge, 22f. 134 Stubbe, Seelsorge, 65. 135 Stubbe, Seelsorge, 65. 136 Stubbe, Seelsorge, 65. 137 Naegelis Ansatz ist besonders von der jungschen Schule und deren Ausführungen zur „SchattenProblematik“ beeinflusst. Naegeli war in den 1960er Jahren einer der bedeutenden Strafreformer. Er setzte sich für die Resozialisierung ein und machte dafür Gruppentherapie und Sozialpädagogik stark. Naegeli arbeitete disziplinübergreifend und integrativ. 138 Vgl. Naegeli, Das Böse; vgl. ders., Strafvollzug. 139 Stubbe, Seelsorge, 11 erhofft sich im Strafvollzug „grundlegende […] Veränderungen“, die „von besonderen theoretischen Konzeptionen“ ausgehen sollen. 140 Stubbe, Seelsorge, 60 mit Bezug auf Richter, H.-E., Eltern, 199. 141 Vgl. Stubbe, Seelsorge, 76 mit Bezug auf Ostermeyer, Strafrecht, 63. 142 Vgl. Stubbe, Seelsorge, 76. Die Autorin erklärt Teile der Psychoanalyse Freuds sehr detailliert, was an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden soll bis auf Stellen, an denen es für das weitere Verständnis unbedingt notwendig ist. Der Fokus vorliegender Arbeit liegt an dieser Stelle auf der Analyse von Stubbes Ausführungen unter der Fragestellung, was für eine Sicht auf „das Böse“ sich aus ihnen erschließen lässt. Grundkenntnisse der von Stubbe beachteten Psychoanalyse Freuds werden hier vorausgesetzt. Ich verweise für das genauere Studium auf Sigmund Freud, Neue Folge, 81; ders., Unbehagen, 470ff, 484; ders., Zeitgemäßes, 331ff,337f; ders., Die Zunkunft, 332; ders., Totem, 44, 89, 150; ders., Tatbestandsdiagnostik, 13; ders., Charaktertypen; ders., Ich, 281. Stubbe bezieht sich in ihren Ausführungen darüber hinaus besonders auf Aichhorn, Verwahrloste sowie Reik, Geständniszwang und Alexander/Staub, Einige für deren genannte Arbeiten ebenfalls Freud zugrunde liegt.

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strafen – wie auch Straftaten an sich (s.u.) – als „unbewußt triebhaftes Verhalten“143 charakterisiert. Da die je eigenen Triebe nicht ausgelebt werden dürften, würden über den Weg des Kollektivs solche im Strafverhalten ausgelebt.144 Ein Kollektiv könne es rechtfertigen, Übertretungen bestrafen oder sühnen zu müssen, da andernfalls andere Mitglieder der Gesellschaft zu Nachahmung animiert würden, indem „sie den eigenen Wunsch […] dasselbe zu tun wie die Gesetzesübertreter“145 wahrnehmen würden.146 Vorausgesetzt, jedes Mitglied der Gesellschaft trage „[d]as Verlangen, die verbotene Tat zu begehen“147 in sich – im Unbewussten –, rege sich das verdrängte Begehren, eben dieses zu befriedigen, sobald ein Einzelner genau dies zuvor getan hat.148 Und weiter: „um diese Versuchung niederzuhalten, muß der eigentlich Beneidete um die Frucht seines Wagnisses gebracht werden, und die Strafe gibt den Vollstreckern […] Gelegenheit, unter der Rechtfertigung der Sühne dieselbe frevle Tat auch ihrerseits zu begehen.“149 Mit Naeglis Sündenbockprojektionstheorie festigt sie diese These. Jene Theorie geht davon aus, dass kollektiv aufgestaute Aggressionen (Strafe), die aus der Frustration der Triebunterdrückung resultierten, auf ein Gegenüber (Bestrafte) verschoben würden. Auf „Sündenböcke“, für die zumeist eine andersartige Minderheit herhalten müsse, würden die eigenen Wünsche projiziert.150 So kommt es, dass schnell die Rede von den Kriminellen sei – oder übertragen: von „den Bösen“. Die anderen sind schuld, die anderen sind „böse“ und all das hat nichts mit mir zu tun. Vom Wesen her sei Strafe nicht vom Verbrechen unterschieden, sie setze Gewalt gegen Gewalt.151 Der Unterschied der legalisierten „Gegenaggression“152 zum Verbrechen liege im gesetzlich festgelegten Strafrecht.153 So diagnostiziert Stubbe der Gesellschaft ein generelles „Strafverlangen“154 , das „in keinem Verhältnis zu den konkreten Verbrechen steht, auf die es

143 Stubbe, Seelsorge, 51. Solche Triebe als Gründe des Strafbedürfnisses seien ‚Angst‘ (dies., Seelsorge, 54), „Sühnedrang“ (dies., Seelsorge, 54) „Rache“ (dies., Seelsorge, 55) und der „Drang nach Vergeltung“ (dies., Seelsorge, 55 [original: kursiv]). 144 Vgl. Stubbe, Seelsorge, 54–56, wo sie den genauen psychologischen Prozess nachzeichnet. 145 Stubbe, Seelsorge, 20. 146 Vgl. dazu Freud, Totem, 44. 147 Stubbe, Seelsorge, 20. 148 Vgl. Freud, Totem, 44; vgl. Stubbe, Seelsorge, 20f. 149 Freud, Totem, 89. 150 Vgl. Stubbe, Seelsorge, 52–66; vgl. auch Ostermeyer, Sündenbockprojektion, 241–244. 151 Vgl. Stubbe, Seelsorge, 51 mit Bezug auf Ostermeyer, Strafrecht, 32. 152 Stubbe, Seelsorge, 51. 153 Vgl. Stubbe, Seelsorge, 51 mit Bezug auf Ostermeyer, Strafrecht, 30. 154 Stubbe, Seelsorge, 51 [original: kursiv].

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sich beruft.“155 Die Legitimation von Strafe verstecke sich unter dem Deckmantel „einer Sicherung gegen das Verbrechen“156 . Einem verurteilenden othering setzt Stubbe das „Verstehen“ entgegen. Es sei die je eigene Biografie mit ihrem frühkindlichen Sozialisierungsprozess darüber entscheidend, ob die latente Kriminalität eines jeden Menschen im Laufe seines Lebens ausbricht oder im Verborgenen bleibt.157 Die „psychischen Unterschiede zwischen Verbrechern und Nichtverbrechern [sind] nicht qualitativer [orig. kursiv, Anm. v. Inderst] Natur“158 . Stubbe zeigt aus psychoanalytischer Perspektive, wie es von einer latenten Kriminalität zu einer „manifeste[n] Kriminalität“159 kommen kann. Unter diesen Prämissen sei es möglich zu sagen, dass einer Straftat eine Fehlentwicklung durch einen gestörten Sozialisierungsprozess zugrunde liege, und zwar auf dem Weg von einem asozialen, auf Hilfe angewiesenen Kind, hin zu einem gesellschaftsfähigen, verantwortungsbewussten Erwachsenen.160 Im Heranwachsen zu solch einer gesellschaftsfähigen Person bestehe die große Herausforderung in der Triebumbildung, die stets ein „labiles Gebilde“161 sei und durch Störungen in der frühkindlichen Entwicklung nicht vollständig vollzogen werde oder im plötzlichen Hervorbrechen bereits überwundener Triebe unterbrochen werden könne. Das labile Triebgebilde sowie eine Unterdrückung damit einhergehender, auf Triebe bezogene Schuldgefühle, brächten das Potential zur Kriminalität mit sich.162 Bedenkenswert an dieser Stelle ist Stubbes Darlegung der unbewussten Beweggründe eines Verbrechens. Das eigentliche Motiv sei im Unbewussten verborgen und dessen tiefliegende, zumeist in der frühen Kindheit verortete Ursache blieben i.d.R. unerkannt.163 Damit nimmt Stubbe „das Böse“ als Anlage zur Kriminalität also als kontextuelles in den Blick, das entsprechend sozialisiert wird. Es sind nicht mehr die Entscheidungen zu kriminellem, „bösem“ Handeln. Welche Konsequenzen hat das für Gefängnisseelsorge im Konkreten? Dass latente Kriminalität, also „das Böse“, in jedem Menschen ist, soll nun, Stubbe zufolge, die Gefängnisseelsorge erneuern. In Stubbes Ansätzen zeichnet sich die Notwendigkeit

155 156 157 158 159 160

Stubbe, Seelsorge, 51 mit Bezug auf Ostermeyer, Strafrecht, 28. Stubbe, Seelsorge, 51. Vgl. Stubbe, Seelsorge, 69. Stubbe, Seelsorge, 17. Stubbe, Seelsorge, 26. Vgl. Stubbe, Seelsorge, 17f. Aichhorn, Verwahrloste, 173ff stellt eine Fehlentwicklung durch eine Fehlerziehung durch zu viel Liebe, zu großer Strenge und inkonsequente Anwendung beider extremer Erziehungsverfahren dar, aus denen Verwahrlosung resultierten. 161 Stubbe, Seelsorge, 19. 162 Vgl. Stubbe, Seelsorge, 19–29. 163 Vgl. Stubbe, Seelsorge, 29 bezieht sich hier auf Reik, Geständniszwang, 102, dessen Ausführungen auf das Ergebnis zulaufen, dass ein Straftäter sich nicht über die Beweggründe seiner Tat und deren psychologische Bedeutung bewusst sei.

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ab, sein Gegenüber zu reflektieren. So verweist Stubbe auf eine Neustrukturierung Seelsorgender, die „sich um Strafgefangene in besonderer Weise bemühen“164 , und zwar „in der Regel auf eine bewußtere, theologisch durchdachte und begründete Haltung.“165 Die Profession der Seelsorgenden unterscheide sich zum „Durchschnittsbürger, dessen Einstellung zum Rechtsbrecher meistens nicht in besonders reflektierter Form in Erscheinung tritt“166 . Von dort aus ist Stubbes Theorie als Plädoyer gegen eine Seelsorge zu lesen, die Kriminelle verurteilt. Sie nutzt psychoanalytische Erkenntnisse über die Entstehung von Delinquenz, um die Gefängnisseelsorge, die „Heilung“167 zum Ziel habe, an ihre grundlegende Intention, den Strafvollzug zu verändern, anzulehnen.168 Sie zielt auf ein „gesunde[s] Erziehungsprogramm“169 ab, dessen Basis nicht Bestrafung, sondern die Förderung von Beziehungsfähigkeit durch „gleichmäßige Liebe und konstante Zuwendung“170 sei. Von da aus stellt sich die Frage, wie Seelsorgende konkret eine solche Haltung erlangen können, denn das Verstehen der Entstehung der Kriminalität scheint ein notwendiges, aber kein hinreichendes Moment zu sein. Verständnis allein führt nicht zu einer Überwindung der je eigenen Diskrepanzen. Stubbes Antwort darauf ist in ihren Darstellungen dessen zu suchen, was sie unter den Begriff der „Identifikation“171 fasst. Stubbe zufolge gehört eine Überwindung des Sündenbockprojektionsmechanismus in Form gelingender Identifikation zu den Grunderfordernissen seelsorglicher Profession.172 Sie verortet eine solche zwischen den beiden „Identifikationsfronten“173 von „Gesellschaft und Kriminalität“174 . Gefangenenseelsorge „setzt Einfühlung in die besondere Situation der Gefangenschaft und in kriminelles Verhalten ebenso voraus, wie die Fähigkeit der Vermittlung dieser Kenntnisse zum Zwecke der Aussöhnung der Vollzugswelt wie der Gesellschaft […] mit ihren Kriminellen.“175 Hier wird mehr als deutlich, dass eine Reflexion in doppelter Hinsicht – Krimineller wie Strafender – für die Seelsorgearbeit unerlässlich wird. Stubbe postuliert die Aufgabe einer Arbeit, die aus dem Verstehen beider Pole aus ihrem jeweiligen Kontext heraus erfolgen muss. Ihr gemeinsamer Nenner ist die latente 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175

Stubbe, Seelsorge, 14. Stubbe, Seelsorge, 14. Stubbe, Seelsorge, 14. Zuerst bei Herren, Freud, 173; vgl. Stubbe, Seelsorge, 12, 20. Vgl. Stubbe, Seelsorge, 11f. Stubbe, Seelsorge, 39. Stubbe, Seelsorge, 39. Stubbe, Seelsorge, 224. Stubbe, Seelsorge, 67–117. Stubbe, Seelsorge, 224. Stubbe, Seelsorge, 224. Stubbe, Seelsorge, 225.

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Kriminalität, durch die „die Gemeinsamkeit zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen […] allzumal größer ist, als das sie trennende Delikt.“176 Allerdings wird in der Konzeption Stubbes keine „Polyvalente Normativität“ zugelassen. Sie versucht sie vielmehr in dem gemeinsamen Nenner der latenten Kriminalität aufzulösen. Hervorzuheben ist Stubbes fortschrittliches Einbeziehen des:der Seelsorgers:Seelsorgerin in den Prozess der Selbstreflexion, indem sie dessen:deren Identifikation mit Straftäter:innen zur Profession erheben möchte. Die Selbstreflexion Seelsorgender besteht in „einer realistischen, angstfreien Selbsteinschätzung“177 , die sie ihrer Arbeit voraussetzen sollen. Stubbe nimmt dadurch in den Blick, dass Wertedifferenzen zwischen Strafenden und Kriminellen, aber eben auch zwischen diesen Gruppen und die der Seelsorgenden bestehen. Allerdings führt die Selbstreflexion nicht automatisch zu einem Ernstnehmen von „Polyvalenter Normativität“, wo unterschiedliche Werte nebeneinander stehen bleiben könnten. Seelsorgende sollen, Stubbe zufolge, ihre je eigenen negativen Triebe und Strukturen in ihr Selbst integrieren.178 Denn eine Identifizierung sei die „vorübergehende[…] Aufhebung von Ich-Grenzen zum Zweck des SichHineinversetzens in den anderen Menschen“179 und bewirke ein empathisches Verstehen, das mehr sei, als sich dazu herabzulassen sich mit ihnen in Beziehung zu setzen.180 Die Gefahr dabei bestehe in einer Art „falschen“ Identifikation durch einen Wechsel des Projektionsträgers. Das eigene „Böse“181 werde nicht integriert, wenn plötzlich „,die Gesellschaft‘ zum Gegenstand moralisierender Affekte wird“182 . Identifikation geschehe auf Basis „einer zureichenden Realitätskontrolle (und zwar der inneren Realität der eigenen Person wie des Gegenübers); […] einer zureichenden Triebkontrolle (die die Abfuhr aggressiver und libidinöser Spannung an Schwächeren überflüssig macht); […] einer zureichenden Ich-Integration (die nicht der Projektion des eigenen ,Bösen‘ auf andere bedarf.)“183

Und weiter: „Im Gegensatz zur Sündenbockpsychologie, in welcher der Einzelne sein Böses an die Schwachen abschiebt, kommt es hier eher zu dem umgekehrten Phänomen, nämlich dem

176 177 178 179 180 181 182 183

Stubbe, Seelsorge, 77. Stubbe, Seelsorge, 101. Vgl. Stubbe, Seelsorge, 81. Stubbe, Seelsorge, 100. Vgl. Stubbe, Seelsorge, 101–103. Stubbe, Seelsorge, 101. Stubbe, Seelsorge, 101. Stubbe, Seelsorge, 102.

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des ‚stellvertretenden Leidens‘. Der Einzelne nimmt einen Teil der Last des Kollektivs in die eigene Verantwortung mit hinein und entgiftet und integriert in seiner inneren Verwandlungsarbeit dies Böse. Wenn es gelingt, führt dies zu einer inneren Befreiung des Kollektivs, das wenigstens teilweise von diesem Bösen erlöst wird“184 .

Wenn der Sündenbockprojektionsmechanismus durch Identifikation überflüssig gemacht worden wäre und es infolgedessen keines Projektionsträgers mehr bedürfe, „dann kann ihm auch eine Veränderungsmöglichkeit zugedacht werden, dann kann der Umgang mit dem Straftäter eine Zukunftsvision der Versöhnung mit sich und der Umwelt beinhalten.“185 Seelsorge bzw. die Seelsorgenden müssten sich in ihrer Profession besonders im Rahmen der Gefangenenseelsorge die Funktion der Identifikation zu eigen machen. Umso „größer die Möglichkeit der Identifikation mit Gefangenen, desto hilfreicher die Seelsorge.“186 Diesem Ansatz zufolge aber weicht „Polyvalente Normativität“ einem absoluten Verständnis für Straftäter:innen oder den Strafenden, sodass die eigenen Ambivalenzen zurückgedrängt werden. Seelsorger:innen scheinen als Mittler:innen zwischen Gesellschaft und Straftäter:innen zu fungieren. Sie sollen beide Positionen verstehen lernen und sich durch die Beschäftigung mit dem je eigenen „Bösen“ in eben jene voll und ganz hineinversetzen können. Damit wendet sich die Arbeit Stubbes gegen eine kerygmatische Seelsorge oder gegen gar moralisierende Tendenzen, die gute Menschen den „bösen“ bzw. „sündigen“ Menschen gegenüberstellt. Das eigene Entsetzen über die Tat des Gegenübers wird auf diese Weise jedoch nur bedingt reflektiert wahrgenommen, weil es unmittelbar einem echten Verständnis weichen soll, und zwar durch die Erkenntnis der eigenen, angelegten Fähigkeit kriminellen Verhaltens. Es scheint, als wäre es Ziel, dass die eigenen Ansichten, mit denen des Gegenübers in der Identifikation miteinander identisch werden. Das Verstehen soll zu „gleichmäßiger Liebe und […] Zuwendung“187 , führen. Es ist zweifelhaft, ob Verstehen allein dazu ausreicht. Die Grenzen im Ansatz Stubbes liegen in einer Art von Selbstreflexion der Seelsorgeperson, die eigentlich keine echte Selbstreflexion ist: Die eigenen wahrgenommenen Schwächen und Grenzen müssen dem Ansatz Stubbes nach einem absoluten Verständnis für das Opfersein des Gegenübers weichen. Damit verortet sich der psychologische Seelsorgeansatz Stubbes weniger neben als mehr über allen anderen Seelsorgetheorien. Stubbes Theorie der Gefängnisseelsorge läuft auf diese Weise Gefahr, ebenfalls als „große Erzählung“ gelesen zu werden. Stubbes Theorie zufolge führt die ihrer Meinung

184 185 186 187

Neumann, Tiefenpsychologie, 132; zit. nach Stubbe, Seelsorge, 81. Stubbe, Seelsorge, 102. Stubbe, Seelsorge, 115. Stubbe, Seelsorge, 39.

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nach notwendige Erkenntnis der eigenen Schwächen oder „des eigenen Bösen“ (auch wenn sie nur als „Triebe“ veranlagt und noch nicht hervorgebrochen sind, wie in dem Begriff der latenten Kriminalität zum Ausdruck kommt) dazu, dass für alle Schwächen bzw. „bösen“ Taten des Gegenübers Verständnis bzw. die Identifizierung mit ihnen geleistet werden müsste. Folglich lässt ihr Ansatz keine Theorien zu, die davon abweichen oder von einer anderen Perspektiven her argumentieren. Festhalten lässt sich aber: Bei Stubbe ist das Verstehen „des Bösen“ als kontextuelles und der verurteilenden Haltung Entgegenwirkendes bereits angelegt. Damit ist für die Gefängnisseelsorge insgesamt ein neuer Horizont eröffnet. 1.3.2

Die Kontextualität „des Bösen“ als Interdependenzen im Spiegel der Historie der Gefängnisseelsorge (Peter Brandt)

Dass die Relevanz eines breitaufgestellten kontextuellen Nachdenkens für die Gefängnisseelsorge in den Seelsorgediskurs Eingang gefunden hat, davon zeugt der zweite „Klassiker“ der Gefängnisseelsorge, die Dissertationsschrift (1985) von Peter Brandt188 . Brandt zeigt in seiner historischen Studie zu Strafvollzug und Gefangenenseelsorge, „daß die Entwicklung der Gefangenenseelsorge in enger Wechselbeziehung zur Entwicklung des Strafvollzuges steht“189 . Brandt deckt Interdependenzen auf, die nicht nur das äußere institutionelle Gefüge betreffen, „sondern auch […] die innere Entwicklung der Inhalte der Gefangenenseelsorge in Relation zu den Innovationstendenzen, die zur Einführung der Freiheitsstrafe geführt haben.“190 Mit seiner wissenschaftsgeschichtlichen Methode zielt Brandt darauf ab, parallele Problemfelder zwischen der Gefangenenseelsorgediskussion und der Strafvollzugsentwicklung darzustellen. So will er „die Entstehung und Entwicklung der Aufgaben der Seelsorge an Inhaftierten und ihrer Relation zur Strafvollzugsentwicklung“191 nachvollziehbar machen. Die Auseinandersetzung mit Brandts Studie eignet sich, um zu eruieren, dass und wie sich der Umgang mit „dem Bösen“ – das sich, entsprechend der historischen Untersuchung eines kirchlichen Umfeldes, um das Begriffsfeld der „Sünde“ bewegt, – im Rahmen der Gefängnisseelsorge, aus unterschiedlichen Kontexten

188 Peter Brandt verfasste seine Dissertation bei Friedrich Wintzer an der Universität Bonn. Wie sein Lehrer verknüpft auch Brandt sein seelsorgetheoretisches Interesse mit einem historischen. Sein historisches Interesse begründet er aus dem gewachsenen „Interesse an der historischen Betrachtung der Arbeitsfelder pastoralen Handelns unter der Fragestellung […], Problemfelder gegenwärtiger Diskussionen von Theorie und Praxis im Kontext ihrer Entwicklung […] zu reflektieren“ (Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 15). 189 Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 159. 190 Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 13. 191 Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 13.

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gestaltet (hat). Es zeigt sich, dass das Bewusstsein einer solchen Kontextualität bereits Eingang in die Gefängnisseesorgetheorie gefunden hat und darum stets mitzuberücksichtigen ist. Welche Konsequenzen zieht Brandt daraus für seine Seelsorgekonzeption und welche Erkenntnisse ergeben sich daraus hinsichtlich „des Bösen“ und der „Polyvalenten Normativität“? Brandt skizziert die Strafvollzugsgeschichte, die von dem mittelalterlichen Gedanken von Rache und Vergeltung reicht, über die sich im 16. und 17. Jahrhundert calvinistisch intendierte, langsam durchsetzende Idee von einer sozialen Wiedereingliederung, bis zur, durch die Aufklärung beeinflusste, Neugestaltung des Strafgefangenenvollzugs in Preußen sowie ihre Weiterentwicklung der Straftheorie des 19. Jahrhunderts.192 Dorthinein trägt er ausführlich die Entwicklung und Begründung der Gefängnisseelsorge ein – ausgehend von der Alten Kirche, über die Reformationszeit bis zur Institutionalisierung im 19. Jahrhundert sowie ihre Entwicklungen vor und nach dem Dritten Reich.193 Brandt gelangt im Hinblick auf seine Gegenwart zu dem Schluss, dass die „Gefangenenseelsorge […] ihren Auftrag der Sorge um den Menschen unter den Bedingungen des Freiheitsentzuges unzureichend [erfüllte], richtete sie [doch] ihre Aktivitäten nur auf den Zeitraum der Haft und klammerte die sozialen Probleme des Inhaftierten nach der Entlassung aus.“194 Für den kirchlichen Auftrag gegenüber Inhaftierten müsse darum eine Einstellungsänderung der Gemeinden erfolgen. Es sei deutlich zu machen, „daß Gefangenenseelsorge nicht nur als Aufgabenbereich des Pfarrers zu definieren ist, sondern die Gesamtorganisation Kirche und deren Mitglieder betrifft.“195 Die Darlegung der breiten wie komplexen historischen Entwicklung von Strafvollzug und Gefängnisseelsorge in der Darstellung Brandts soll an dieser Stelle nicht geleistet werden. Es sei nur exemplarisch, um die Interdependenzen aufzuzeigen, auf ein paar einschneidende Ereignisse aufmerksam gemacht, an denen Brandts Überlegungen bezüglich einer Gefangenenseelsorge seiner Gegenwart deutlich werden. Brandt orientiert sich mit seinem Verständnis von Gefängnisseelsorge an Trillhaas’ (1950) Modell der „‚ganzheitlichen Seelsorge‘“196 , die „den Menschen in seiner Gesamtheit der Lebensbezüge und -bedürfnisse als Gegenüber des Seelsorgers“197 annimmt. Die Haltung Seelsorgender besteht für Brandt darin, „[f]ür den Menschen da zu sein, ihm vertrauensvoll zu begegnen, die Liebe nicht nur mit

192 193 194 195 196 197

Vgl. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 17–55. Vgl. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 56–226. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 329. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 330. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 308. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 308.

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Worten zu beteuern, sondern auch mit der Tat zu beweisen“198 . Von hier aus gelangt Brandt zu dem Ergebnis, dass Gefängnisseelsorge Inhaftierte aus ihrer jeweiligen spezifischen Problemlage heraus an- und aufnehmen solle. Wie zuvor Stubbe, geht es demnach auch Brandt darum, Seelsorgesuchende aus ihrem Kontext heraus zu verstehen und zu reflektieren. Darüber hinaus geht Brandts Behauptung, dies ginge nur über „eine weitgehende ‚Differenzierung‘ der seelsorgerlichen Methodik und Grundhaltung unter der Zielsetzung“199 . Der „Erfolg“ der Seelsorge stehe letztendlich nicht in der Macht des Seelsorgers und seiner Methoden, sondern „‚liegt jenseits des Dialogs, jenseits aller Dialektik‘“200 . Zu diesen Ergebnissen kommt Brandt durch seine historischen Analysen. Umgekehrt helfe der „poimenische Ansatz der ,ganzheitlichen Seelsorge‘ […], auf den speziellen Bereich der Gefangenenseelsorge übertragen, historisch gewachsene Strömungen der Seelsorge zu orten und zugleich Verengungen und Problemfelder innerhalb von Gefangenenseelsorgekonzeptionen aufzuarbeiten.“201 Schon auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist bei Brandt also das Postulat einer vielfältigen Seelsorgemethode bereits angelegt. Brandt zeigt mit seinen Analysen die Interdependenzen zwischen politischen wie gesellschaftlichen Voraussetzungen und kirchlich-religiösen Anliegen auf, aus denen für die Gegenwart Schlüsse gezogen werden können. Interessant sind diesbezüglich besonders die Anfänge der ganzheitlichen Sicht auf den Menschen, die in der Gefangenenseelsorge „in ihren Wurzeln bis zu Wagnitz und Wichern zurückzuverfolgen“202 sind. Der Gefängnisprediger Heinrich Balthasar Wagnitz (1755–1838) nahm soziologische und psychologische Perspektiven neben theologischen in den Blick, um der Sorge Delinquenter zuträglich zu werden. Wagnitz forschte die psychologischen und soziologischen Ursachen von Delinquenz.203 Er stellte Interdependenzen zwischen Delinquenz und der Gesellschaft heraus.204 Es sei wichtig, Straftäter zurück ins gesellschaftliche Leben zu führen, indem sie im Strafvollzug von innen heraus verbessert würden, durch die Vermittlung einer „ernsthaftere[n] Denkart“205 . Die Aufgabe, Inhaftierten „die rechte Richtung wiederzugeben“206 , hätten Gefangenenseelsorger, die mit dem Gefängnispersonal zusammenarbeiten sollten. Weil die Strafe nicht dem Zweck der Abschreckung, sondern dem der Besserung dienen solle, seien Haftstrafen einer angemessenen Dauer entsprechend zu

198 199 200 201 202 203 204 205 206

Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 308. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 309. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 309 zitiert hier Trillhaas, Dienst, 96f. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 309. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 309. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 23. Vgl. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 23. Wagnitz, moralische Verbesserung, 70. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 60.

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verhängen, die ausreichend Zeit zu moralischer Erziehung böten. Damit Strafgefangene keine Zeit für „böse Gedanken“207 hätten, sollten sie mit Arbeit beschäftigt werden, um ständig in Bewegung zu sein. Damit eine „kriminelle Infektion“208 der Häftlinge untereinander verhindert werde, solle die Kommunikation der Häftlinge untereinander unterbunden werden. Nach der Entlassung seien ihnen Arbeitsstellen bereitzustellen, weil „Armut und Mangel des Unterkommens“209 viele „auf ihre vorigen Wege und zu ihrer vorigen bösen Gesellschaft zurückzukehren“210 zwinge.211 Wagnitz’ Ansatz blieb auf theoretischer Ebene, da „seine Zeitgenossen kein Verständnis [für seinen Ansatz, Anm. v. Inderst] aufbringen konnten“212 . Zu jener Zeit standen die Freiheitskriege einer praktischen Anwendung der theoretischen Reflexionen und den Reformen des Strafvollzugs im Wege. Obwohl Wagnitz, aus heutiger Perspektive, für seine Zeit sehr fortschrittliche Ansätze nachverfolgte, sind sie aufgrund der damaligen äußeren, gesellschaftlichen Umstände in die Versenkung geraten. Johann Hinrich Wichern (1808–1881) fügte Wagnitz’ Anliegen den der Relevanz von Öffentlichkeitsarbeit hinzu. Er begann Mitte des 19. Jahrhunderts Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, um die Gesellschaft für Gefängnisfragen zu interessieren. Er stellt die Gefangenenfrage „als eine der Zentralfragen des großen sozialen Problems“213 dar. Er kritisierte die staatliche, soziale Isolation von Delinquenten als Verstoß gegen die göttliche Weltordnung, und begründete, dass nur durch die christliche Freiheit 214 , in der der wahre göttliche Wert 215 des Menschen erkannt werde, der Inhaftierte als christlicher Bruder 216 angenommen werden könne, „der durch Buße für seine Missetat vor Gott wieder zu ewiger Ehre und zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes gelangen kann“217 . 1859 ereignete sich ein Vorfall, bei dem „ein renitenter Gefangener auf Befehl des ‚Bruders‘ Kügler […] in einer Arrestzelle erschossen wurde“218 . Presse und Öffentlichkeit sowie Politiker und Strafrechtler erhoben sich zu einer Welle der Proteste gegen Wichern. Sie hatten

207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218

Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 67f. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 67f. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 67f. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 67f. Vgl. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 24. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 24. Wichern, Gefangenenfrage, 86. Vgl. Wichern, Gefangenenfrage, 87. Vgl. Wichern, Gefangenenfrage, 87. Vgl. Wichern, Gefangenenfrage, 87. Wichern, Gefangenenfrage, 87. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 47 mit Bezug auf Gerhardt, Johann, 197ff.

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nun den „Beweis“, dass die Brüderschaft219 nicht imstande war, die Einzelhaft zu tragen.220 Wicherns und Wagnitz’ Ansätze kamen, Brandt zufolge, gesellschaftlich zu früh. Ihre eigentlich bahnbrechenden Errungenschaften sind erst viel später, nämlich in der EKD-Denkschrift von 1979 wieder der Sache nach aufgenommen. Dort wurde die Gefängnisseelsorge als kirchlicher Dienst innerhalb einer staatlichen, streng geregelten Institution verortet.221 Folglich wurde ihre theologische Grundlegung aus denen des gesamtkirchlichen Auftrags entwickelt, nämlich die gute „Botschaft vom Anbruch der Herrschaft Gottes in dieser Welt, von Gericht und Gnade, von Versöhnung mit Gott und den Menschen, von der Vergebung der Sünden und der Erneuerung der Liebe“222 . Gefängnisseelsorge sollte zur Annahme ermutigen und Raum zur Überwindung persönlicher Probleme bieten.223 Die Denkschrift wendet sich gegen die seelsorgliche Aufgabe, staatliche Urteile als „Handeln an Gottes statt einsichtig zu machen“224 . Gottes Handeln wird vielmehr über jedes menschliche Richten und Sühnen gestellt.225 Es zeigt sich, wie Brandt all jene Elemente zusammenfügt, die in der Historie des Strafvollzugs und der Gefangenenseelsorge einst für sich standen. In seinem ganzheitlichen Seelsorgeverständnis verbinden sich Humanwissenschaften, medizinische Elemente, Soziologie und Theologie. Von da aus kann Brandt diejenigen Seelsorgetheorien kritisieren, die den Inhaftierten einseitig „als zu bekehrende[n] Sünder“226 verstehen und die Seelsorge am zum Tode Verurteilten oder den in der Freiheitsstrafe Befindenden darauf beschränken. Das andere zu kritisierende Extrem stellt für Brandt die damals „neuere“ Gefängnisseelsorgetheorie227 , gemeint ist die therapeutisch beeinflusste, in der „der Inhaftierte aufgrund seiner defizitären und infantilen Persönlichkeitsstrukturen als Objekt einem therapeutischen Prozeß unterworfen wird.“228 Brandts Arbeit geht über diejenige Stubbes hinaus,

219 Mit der Brüderschaft sind die „Brüder des ‚Rauhen Hauses‘“ (Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 47) gemeint. Wichern hatte 1833 jenes Haus gegründet, mit der Intention verhaltensauffällige oder straffällig gewordene Kinder zu unterhalten und auf Berufe vorzubereiten. U.a. wurden sie nach ihrer Ausbildung im „Rauhen Haus“ auch in Aufgabenfelder außerhalb entsandt, z. B. eben in Gefängnisse als Gefängniswärter (vgl. ders., Strafgefangenenseelsorge, 42f). 220 Vgl. Gerhardt, Johann, 200. 221 Brandt, Strafgefangenenvollzug, 285. 222 Evangelische Kirche in Deutschland, Seelsorge, 9 zit. nach Brandt, Strafgefangenenvollzug, 285. 223 Vgl. Brandt, Strafgefangenenvollzug, 286. 224 EKD-Denkschrift 1979, 12, zit. nach Brandt, Strafgefangenenvollzug, 287. 225 Vgl. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 287. 226 Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 309. 227 Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 309 nennt in diesem Zusammenhang den Ansatz Stubbes explizit. 228 Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 309. An dieser Stelle wird ein bemerkenswertes Licht auf die Psychologie geworfen, indem offensichtlich die Auffassung herrscht, eben jene begreife psychisch

Einleitung

insofern er die therapeutisch geprägten Ansätze nicht gegen die kerygmatischen stellen möchte, sondern einen Mittelweg sucht. Das, was unter den Begriff der „Polyvalenten Normativität“ gefasst wurde, ist bei Brandt in folgender Weise bereits angedeutet: Ein Seelsorgender müsse „alle Aufgaben, die ihm aus der Sorge um den Menschen in der Strafe erwachsen, qualitativ gleichwertig betrachten und ernst nehmen“229 . Er sei dabei nicht gefordert „als Beherrscher von Methoden […], sondern vorrangig als Mensch mit seinen individuellen Fähigkeiten und Defiziten.“230 Brandt benennt auf diese Weise also Grenzen, die sich innerhalb der Individualität gestalten. Für ihn steht Seelsorge nicht unter einem „Effektivitätszwang“231 . Laut Brandt sei die Aufgabe des Seelsorgers eine persönlichkeitsadäquate Sorge um den Gefangenen, die er mit Hilfe humanwissenschaftlicher und theologischer Kompetenzen erreichen könne.232 Aufgabe des Gefängnisseelsorgers sei die wechselseitige „,Verkündigung und Menschenbegleitung‘“233 . Dabei könne der Seelsorger seine Methodik selbst wählen, insofern er die Tätigkeiten der Gefangenenseelsorge, motiviert von der Versöhnungsbotschaft und ausgehend von einem ganzheitlichen Menschenbild, individuell ausfüllt. Damit relativiert Brandt die zu seiner Zeit geführte Diskussion um eine spezielle Seelsorgemethodik.234 Der Gefängnisseelsorger solle den Inhaftierten auf seinem Weg der eigenen Ichstärke begleiten, als eine, die versagen könne und dies auch dürfe. Brandt beschreibt dieses „Teilen der Last“, „als Tragen des Kreuzes im eigenen und im Leben des anderen.“235 Es gehealso nicht darum, die Probleme des Gefangenen zu lösen. Die Tendenz dazu bestehe allerdings, wenn Seelsorger sich zur Aufgabe machten, Gefangene dahin zu führen, Eigeninitiative aufzubringen, Hilfe zur Selbsthilfe anzunehmen und einen guten Umgang mit der Frage ihrer Schuld, der Erfahrung ihrer Ablehnung und der Angst vor ihrem Scheitern zu finden.236 Realistischer und präziser stellt Brandt jedoch die folgende Erwartung auf:

229 230 231 232 233

234 235 236

Kranke als anormal, als „Mangelwesen“ (Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 314). Seither hat sich dieses Licht zwar langsam, aber doch stetig verändert, und es ist zweifelhaft, ob sich zumindest der Blick der Psychologinnen und Psychologen mit Brandts Ansicht deckt. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 310. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 310. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 310. Vgl. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 310. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 301. Um 1985 waren Seelsorger dem Strafvollzugsgesetz sowie den Dienstanweisungen und Ordnungen ihres jeweiligen Bundeslandes verpflichtet. Ein einheitlicher Aufgabenkanon, der übergreifend für alle Bundesländer geltend war, existierte nicht. Vgl. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 310. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 307. Vgl. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 306f.

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Teil I Grundlagen und Prämissen

„Daß der Gefangenenseelsorger dabei immer wieder an Grenzen stoßen muß, die in seiner Person, den institutionellen Bedingungen des Justizvollzuges, der gesamtgesellschaftlichen Haltung zum Bereich des Strafvollzuges oder in der Persönlichkeit des Inhaftierten liegen, sollte einen integrierten Bestandteil des seelsorgerlichen Selbstverständnisses darstellen“237 .

Brandt schließt dabei an Stubbe an, insofern er ihre Überlegungen „zur inneren Haltung des Seelsorgers [für] richtungsweisend“238 befindet. Er macht ihre Reflexion stark, insofern der „Umgang mit dem ,Bösen‘ als Anteil jedes Einzelnen und der Gesellschaft […] die Frage der Schuld neu stellen [läßt] und die gesellschaftlichen Dimensionen ihrer Überwindung unter der Versöhnungsforderung zu einer noch nicht gelösten Aufgabe für die Gefangenenseelsorge werden.“239 Gefängnisseelsorger müssten „den Menschen als schuldhaftes und versagensträchtiges Wesen, demgegenüber der Seelsorger keine qualitative Sonderstellung einnimmt“240 , annehmen. Vor dem Hintergrund der Versöhnungsbotschaft Gottes für „den Menschen in seiner von Defizit- und Versagenserlebnissen geprägten Existenz“241 ständen Seelsorger und Gesprächspartner in einer interpersonalen Interdependenz: „Beide wissen sich von der zukunftseröffnenden Perspektive der Versöhnungszusage Gottes getragen“242 , sodass Gefängnisseelsorge ausgeübt werde „als Sorge eines Menschen um einen Menschen.“243 Aus der Historie zieht Brandt drei Grundstrukturelemente, die dabei unverzichtbare Eckpfeiler bilden: „Die theologische verantwortliche Sorge um den Menschen in der Ganzheit seiner Lebensbezüge als theoretische und praktische Basis“244 – hier verortet Brandt Seelsorgegespräch und Fürsorge. Sodann „die Eröffnung von interaktioneller Vergegenwärtigung des Versöhnungszuspruchs“245 – zu denen Gottesdienst und Gruppenarbeit Raum gäben. Und zuletzt den „Rückbezug auf den gesamtkirchlichen Auftrag, der schwerpunktmäßig in der Entlassenenfürsorge und der Öffentlichkeitsarbeit relevant wird.“246

237 238 239 240 241 242

243 244 245 246

Vgl. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 310. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 290. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 290. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 290. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 307. Brandt, Strafgefangenenseelsorge 307. Ob dies in der heutigen säkularen Gesellschaft auch der Fall ist, wäre stark anzuzweifeln. Gerade im Ort des Gefängnisses ist eine konzentrierte Interreligiosität wie Interkulturalität zu vermuten und darüber hinaus gibt es Menschen, die den Deutungshorizont „Gott“ nicht gebrauchen. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 307. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 310. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 310. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 310.

Einleitung

Durch Brandts Benennungen der Aufgabenbereiche Gefängnisseelsorgender zeigt sich deren interkontextuelle Arbeit. Gefängnisseelsorgende sind Grenzgänger:innen zwischen Lebensgeschichten. Sie bewegen sich auf der Schwelle zwischen für juristisch verurteilte, als gesellschaftlich „böse“ bewertete Straftaten, den Lebenserfahrungen Gefangener und den Lebensgeschichten der je eigenen Person innerhalb der Rolle als Seelsorgende:r sowie der Öffentlichkeit. Die Arbeiten Stubbes und Brandts als „klassische Theorien“ der Gefängnisseelsorge geben Anhaltspunkte für die Ausgangslage des Nachdenkens über einen Umgang mit dem Phänomen „des Bösen“ im 21. Jahrhundert. Stubbes Arbeit eröffnet einen Verstehenshorizont aus psychologischer Perspektive, aus dem hervorgeht, dass Kriminalität, aber auch der Drang zu Strafen in jedem Menschen angelegt ist. Mit ihrem Ansatz ist jedem Versuch der Stigmatisierung oder des othering zu wehren. Während Stubbe die in der allgemeinen Seelsorgelehre aufgenommenen psychologischen Ansätze nun in die Gefängnisseelsorge integriert, wendet sie sich damit gegen kerygmatische Ansätze. Ihre Theorie lässt wenig Spielraum für Multiperspektivität und Multidimensionalität. Dagegen zeigt Brandt mit Blick auf die Historie des Strafgefangenenvollzugs, dass unterschiedliche Ansätze und Theorien – der soziologische, psychologische und medizinische – in die Seelsorgetheorie mit einbezogen werden sollten. In Brandts Arbeit sind bereits Elemente der späteren Seelsorgekonzepte des 21. Jahrhunderts angelegt, die Abstand von einer alleingültigen Methode nehmen. Auch lässt sich in seinen Ausführungen etwas davon finden, was die Rolle der Seelsorgenden als etwas aufzeigt, das die persönliche und institutionelle/methodische Strukturen vereint. Seine Arbeit kann hinweisgebend in Hinblick darauf sein, kein Seelsorgekonzept generalisieren und über alle anderen stellen zu wollen, sodass es eine neue „große Erzählung“ gibt. In seinem Ansatz nimmt er außerdem Seelsorgende als Personen ernst, die durchaus zweifeln können, und dass ein Erfolg der Seelsorge nicht in ihrer Macht steht. In seinem Ansatz spiegelt sich der grundsätzliche Zweifel wider, der Mensch könne sich mit seinem Gegenüber absolut identifizieren.

1.4

Aufgabenstellung und These

Gerade in der Gefängnisseelsorge sollten Seelsorgende mit „dem Bösen“ umgehen können, und zwar nicht erst dann, wenn Seelsorgesuchende Chiffren „des Bösen“ oder den Ausdruck an sich verwenden, sondern schon deswegen, weil sie es im Gefängnis grundsätzlich mit Menschen zu tun haben, die auch als „die Bösen“, „die Anderen“, bewertet werden. Der Begriff „das Böse“ ist polyvalent zu verstehen und bezeichnet unterschiedlich – also je individuell und kontextuell – erfahrene und bewertete Widerfahrnisse, die als schrecklich und überwältigend erlebt werden. Der Begriff „des Bösen“ verweist – mit Blick auf seine Verwendung in Geschichte

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und Gegenwart – selbst auf die Problematik, jemanden schlichtweg und generell für „böse“ zu halten. Längst hat das auch die Seelsorge erkannt, wenn sie Seelsorgesuchenden nicht (mehr) moralisierend entgegentritt. In der Bewusstwerdung dessen verweist der Begriff „das Böse“ Seelsorgende auf einen Verstehenshorizont. Gefängnisseelsorge müsste sich in Seelsorgesituationen zur Aufgabe machen, „das Böse“ in der jeweiligen Situation zu entschlüsseln, wobei die sogenannte „hermeneutische Kompetenz“247 der Seelsorger:in-Rolle gefragt ist. „Das Böse“ in seiner Polyvalenz wahrzunehmen, bedeutet, es auch reflektieren zu können. Zu der Wahrnehmung des Gegenübers tritt die eigene Wahrnehmung hinzu, die sich gerade auch in der Seelsorge als unabdingbar hervortut. Es ist zu vermuten, dass in der praktischen Gefängnisseelsorge Spannungen auftreten können, die unter den Begriff der „Polyvalenten Normativität“ gefasst wurden. Seelsorgende begeben sich mitten in die Varianz des Bösen aus Ambivalentem und Konträrem: Die Erfahrungen und Deutungen des Täters oder der Täterin stehen denjenigen der Seelsorgerin oder des Seelsorgers gegenüber. Sie bewerten Unterschiedliches als „böse“. Hinzu treten indirekt, manchmal auch sehr deutlich, die Erfahrungen und Deutungen der Opfer oder die gesellschaftlichen. Um überhaupt festzustellen, dass sich zwei Perspektiven gegenüberstehen, das heißt, divergieren, ist es unabdingbar, die gegenüberliegende Seite und auch die eigene Seite bewusst wahrzunehmen und zu reflektieren, um seelsorglich angemessen reagieren zu können. Wie ist nun seelsorglich angemessen zu reagieren, wenn sich zwei Seiten divergierend oder gar konträr gegenüberstehen? „Das Böse“ würde abstrahiert und die gegenüberliegende Erfahrung wie Deutung ausgeschlossen oder das Gegenüber gar durch othering ausgegrenzt, wenn man sich für eine Deutung entscheiden würde. Umgekehrt würde „das Böse“ entschuldigt, der:die Täter:in zum Opfer äußerer Umstände degradiert – eine andere Form des othering. Hier tut sich ein Spannungsfeld innerhalb der Gefängnisseelsorge auf, das sich zwischen Beliebigkeit und dogmatisierenden Ansprüchen bewegt. Und die Frage lautet, was das ist, was dazwischen liegt. Welche Seelsorge wird Seelsorgenden und Seelsorgesuchenden gleichermaßen zuträglich? In der Gefängnisseelsorge wurde „das Böse“ bereits entmythologisiert und durch Stubbe die psychologische Ebene eingezogen. Mit Brandts Arbeit ist eine Psychologisierung „des Bösen“ jedoch auch kritisch zu sehen. Der Umgang mit „dem Bösen“ steht damit zwischen einer psychologischen und einer doch wieder moralisierenden Perspektive. Dieses „dazwischen“ deutet sich bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts an, wie aus der Darstellung der „Klassiker“ in der Gefängnisseelsorge hervorging. Es deutet sich auch für die Gefängnisseelsorge im speziellen und damit für den seelsorglichen Umgang mit „dem Bösen“ an, dass es nicht nur die

247 Vgl. Scharfenberg, Seelsorge, 147f; vgl. Ziemer, Seelsorgelehre, 223.

Einleitung

eine Seelsorgemethode geben kann, um der Komplexität in Wahrnehmung und Umgang mit „dem Bösen“ angemessen umzugehen. Hier deuten sich zwei Linien an, denen weiter nachgegangen werden soll: die Linie, die der Relevanz der Wahrnehmung und Reflexion folgt, und diejenige des konkreten seelsorglichen Verhaltens, das mit der Wahrnehmung einhergeht und das sich als seelsorgliche Kommunikation herausstellen lässt. Sie sind in allgemeinen Seelsorgelehren unter die seelsorglichen Kompetenzen der hermeneutischen und der kommunikativen gefasst.248 Es wird herauszustellen sein, welche Elemente den jeweiligen Kategorien zukommen und wie sie sich zueinander verhalten. Die These der vorliegenden Arbeit ist, dass „Polyvalente Normativität“, also Differenzen, bestehen bleiben können sollten, wenn sie denn auftreten. Weder die eine noch die andere Richtung kann allein zu Voraussetzung und Ziel der Seelsorgesituation werden. Das führt zu einem veränderten Verständnis, wie Differenzen wahrgenommen werden und wie mit ihnen umgegangen wird. Hierin besteht das Leitbild der „Normativen Differenz*“. In ihm lässt sich die Frage zuspitzen, nämlich, ob das Bestehen von Differenzen sogar einen gewissen Mehrwert haben könnte.

1.5

Methodischer Zugang und Aufbau der Arbeit

Nachdem bis hierher die inhaltlichen Ausgangspunkte festgestellt wurden, soll im Folgenden dargestellt werden, welches Verständnis praktisch-theologischen Arbeitens (1.5.1) dem Hintergrund meiner Arbeit zugrunde liegt, und wie die Arbeit aufgebaut wird (1.5.2). Schon hier sind auch inhaltliche Prämissen für das vorliegende Verständnis von Gefängnisseelsorge angelegt. 1.5.1

Prämissen Praktischer Theologie

Seit Friedrich D. E. Schleiermacher (1768–1834) versteht sich die Praktische Theologie als Theorie. Er reagiert mit seiner Theoriebildung auf den gesellschaftlichen Wandel seiner Zeit und macht dabei die differenzierte Wahrnehmung von kirchlichem, gesellschaftlichem und individuellem Christentum sowie ihrer Wechselwirkung zur Aufgabe der Praktischen Theologie.249 Dies ist bis heute von hoher

248 Vgl. Ziemer, Seelsorgelehre, 223. Bei Klessmann, Seelsorge, 326 in den Begriffen ‚Wahrnehmungskompetenz‘ und ‚Gesprächskompetenz‘ benannt. 249 Vgl. Meyer-Blanck/Weyel, Studien- und Arbeitsbuch, 9f. Schleiermacher zufolge ist die Praktische Theologie als Theorie nicht mit ihrer Praxis im Leben und Erleben von Religion – als „Anschauung und Gefühl“ (Schleiermacher, Über die Religion, 49) zu verwechseln.

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Aktualität.250 Man kann sagen, Praktische Theologie entstand als Fach genau da, wo sich Praxis pluralisiert hat. Von Schleiermacher ausgehend, ist Praktische Theologie also als Wahrnehmungs- und Verstehenswissenschaft zu begreifen, die schon von dort aus weder eindimensional zu denken ist noch zum Ziel haben kann, die eine große Erzählung hervorzubringen. Anstatt sich für eine Weltanschauung zu entscheiden und damit andere auszuschließen, lässt sich Praktische Theologie als „Hybrid“ unterschiedlicher Disziplinen und Wissenschaften verstehen.251 Auf diese Weise ist es ihr möglich, angesichts von Pluralisierung und Säkularisierung, die Vielfalt und Gegensätzlichkeit von Erfahrungen, Ansichten und wissenschaftlichen Ansätzen nebeneinander stehen zu lassen, miteinander ins konstruktive Gespräch zu bringen, ohne die einen gegen die anderen auszuspielen. Sie zieht interdisziplinär andere Wissenschaften zurate, wie beispielsweise die Soziologie und Psychologie – hat dabei aber nicht das illusionäre Ziel, die eine neue Welterklärung zu bieten. Praktische Theologie macht sich zur Aufgabe, religiöse und kirchliche Praxis zu verstehen und verständlich zu machen. Zu ihrer Reflexion gehört nicht nur deskriptive Wahrnehmung, sondern gleichzeitig immer die Auslegung und Deutung dessen, was wahrgenommen wird. Als „‚Wahrnehmungswissenschaft‘ […] [ist sie] eine Form von Verstehenslehre, von Hermeneutik“252 und fragt nach den empirischen und aktuellen Bedingungen christlichen Glaubens und schafft so einen gegenwartsbezogenen Praxisbezug.253 Hermeneutik ist diejenige Kunst, die es vermag, auf Grundlage theoretischer Wissensbestände, empirischer Anhaltspunkte und Interpretationsmöglichkeiten einen Gegenwartsbezug herzustellen, einen ihm zuträglichen Verstehenshorizont zu öffnen, auf den semiotisch geantwortet werden kann. Mit Michael Meyer-Blancks Worten ist Praktische Theologie „Hermeneutik christlicher Praxis“254 . Wenn die Theologie als Ganze den Anspruch hat, „für das Leben von Christenmenschen Deutungs- und Handlungsperspektiven [zu] entwickeln, die mit realen Vollzügen und nicht nur mit begrifflichen Distinktionen zu tun haben“255 , dann greift eine

250 Vgl. Meyer-Blanck/Weyel, Studien- und Arbeitsbuch, 9. So erinnert besonders Rösslers dreifache Gestalt des Christentums an diese Trias von kirchlichem, individuellen und öffentlichem Christentum, vgl. Rössler, Grundriß, 90ff. 251 Claudia Schulz, Tabea Spieß und Eberhard Hauschildt zufolge lässt sich „eine[…] Theorie der Kirche als Hybrid“ (Schulz/Spieß/Hauschildt, Zwischen, 235) deuten, die davon ausgeht, dass in der evangelischen Kirche mehrere Logiken, die sich auch konträr zueinander verhalten, nebeneinanderstehen (vgl. Schulz/Spieß/Hauschildt, Zwischen, 235). 252 Meyer-Blanck/Weyel, Studien- und Arbeitsbuch, 47. 253 Vgl. Meyer-Blanck/Weyel, Studien- und Arbeitsbuch, 40; vgl. auch Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 79f. 254 Meyer-Blanck/Weyel, Studien- und Arbeitsbuch, 47. 255 Meyer-Blanck/Weyel, Studien- und Arbeitsbuch, 47.

Einleitung

„bloße Beschreibung der Vielfalt christlicher Praxis“256 zu kurz. Deshalb ist Praktische Theologie auch Hermeneutik christlicher Praxis, die diese „im Hinblick auf neues theologisches Verstehen und auf verändertes kirchliches Handeln“257 reflektiert. Sie arbeitet zugleich mit deskriptiven wie normativen Sätzen. Die Deskription, als unverzichtbarer, charakteristischer Teil ihres Gegenwartsbezugs, kennzeichnet Praktische Theologie als Praktische. Durch ihre normative Selbstvergewisserung wird sie zur Praktischen Theologie.258 „Die sorgfältigen Übergänge zwischen deskriptiven und normativen Sätzen sind darum der Ernstfall von PT.“259 Als Hermeneutik kommt Praktische Theologie nicht umhin, multiperspektivisch und multidimensional zu arbeiten. Praktische Theologie steht folglich in engem Austausch mit all den anderen (theologischen) Disziplinen. Sie ist also transdisziplinär angelegt. Ihr liegen die biblischen Überlieferungen zugrunde, aus denen sich das Evangelium erschließen kann – nicht insofern es bereits in exegetischen Befunden offenliegt, sondern sich jenes über den Weg der Hermeneutik „in seiner Lebensbedeutsamkeit für Menschen der Gegenwart vermittels kommunikativ zu vollziehender Auslegungs- und Mitteilungsakte“260 erschließt. Vor diesem Hintergrund macht sich die vorliegende Arbeit auch zur Aufgabe, gängige Theorien und Erkenntnisse aus der Theologie daraufhin zu befragen, ob sie sich in der Praxis bewähren – dafür ist besonders das Umfeld des Gefängnisses mit seinen extremen Situationen, Anliegen und Prämissen sehr aufschlussreich, weil es trotz seiner gesellschaftlichen Sonderstellung aufzeigt, an welchen Stellen gerade die theologische Theorie nachjustieren müsste. Darüber hinaus liegt ein Schwerpunkt Praktischer Theologie auf der Reflexion über (religiöse) Kommunikation. Aus der Seelsorge, ebenso wie aus Predigt und Formaten religiösen Unterrichts ist die Praxis von Kommunikation nicht wegzudenken. Auf diesem Aspekt liegt derzeit ein Schwerpunkt innerhalb des PraktischTheologischen Diskurses, der ihren gesamten Gegenstand unter die Formel „Kommunikation des Evangeliums“261 fasst. Das Kirchenverständnis im protestantischen Sinne, „als einer sozialen, kommunikativen, vielfältig geprägten und zugleich re-

256 257 258 259 260 261

Meyer-Blanck/Weyel, Studien- und Arbeitsbuch, 47. Meyer-Blanck/Weyel, Studien- und Arbeitsbuch, 47 [original: kursiv]. Meyer-Blanck/Weyel, Studien- und Arbeitsbuch, 48. Meyer-Blanck/Weyel, Studien- und Arbeitsbuch, 48. Gräb, Kommunikation, 68. Vgl. Lange, E., Bilanz 65. Zu nennen sind im Rahmen des Diskurses die Werke von Grethlein, Kommunikation; ders., Grundinformation; Dalferth, Evangelische, 90–113, 149–153; Preul, Kommunikation; Hauschildt/Pohl-Patalong, U., Kirche, 411–415; vgl. Kläden/Könemann/Stoltmann, Kommunikation; vgl. Domsgen/Schröder Kommunikation, 8 Anm. 7.

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flektierten Praxis“262 bezieht sich nicht zuerst auf das kirchliche Amt, sondern auf die „Kommunikation des Evangeliums“263 . Ernst Lange, der den Leitbegriff Kommunikation des Evangeliums in den 1960er/ 1970er Jahren prägte, löste mit ihm die Praktische Theologie von ihrem Verkündigungsparadigma, weil in der Kommunikation alle Beteiligten aktiv an ihr beteiligt sein müssen.264 Menschen werden mit ihm nicht als passive Empfänger betrachtet, sondern werden als handelnde Subjekte ernstgenommen.265 Folglich muss auch die Vielfalt dieser Subjekte wahrgenommen und mitbedacht werden. All jene unterscheiden sich in ihrer Wahrnehmung und kommunizieren verschieden. Kommunikation kann entsprechend adäquat darauf reagieren. So verweist Watzlawicks Grundgedanke „man kann nicht nicht kommunizieren“ auf die Vielfalt von Kommunikation, die dort stattfindet, wo zwei Größen einander wahrnehmen können. Sie stellt unterschiedliche Zeichensysteme bereit und umfasst zwischenmenschliche Mitteilung nicht nur verbaler, sondern auch nonverbaler Art, also auch Zeichen, Ästhetik, Musik; sie findet explizit wie implizit statt.266 Auch dies wird in jeder Gefängnisseelsorge mit zu bedenken sein, in der Kommunikation ihren unterschiedlichen Kontexten entsprechend sehr unterschiedlich ausfällt, wie sich zeigen wird. Weil „[s]innvolle Kommunikation […] immer auf bestimmte Inhalte bezogen“267 ist, ist Kommunikation im kirchlichen Kontext und damit im Kontakt der Praktischen Theologie „nicht von seinem Genitiv ,des Evangeliums‘ abzulösen, der logisch sowohl Ursache wie Gegenstand der Kommunikation benennt.“268 „Evangelium begegnet in der Form von Religion, als Rede vom Unverfügbaren und Ganzen, von Transzendenz in menschlichen Sprachen.“269 Religion ist für die Praktische Theologie „unhintergehbar“270 , weil Religion ihr einen „theoretischen Zugriff “271 ermöglicht über „entscheidende Inhalte und Erfahrungen“272 , wie Meyer-Blanck erklärt. Nach diesem Kommunikationsverständnis reflektiert Praktische Theologie nicht nur diejenige Kommunikation, in der sich Evangelium und Religion explizit äußern, sondern auch diejenige, in der sich Religion zwischen den Zeilen offenbart.

262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272

Hermelink/Weyel, Vernetzte, 22. Hermelink/Weyel, Vernetzte, 22 [original: kursiv]. Vgl. Lange, E., Bilanz 65, 101. Vgl. Pohl-Patalong, U./Hauschildt, Kirche, 412. Siehe dazu auch Engemann, Personen, 15.ff; vgl. Pohl-Patalong, U./Hauschildt, Kirche, 412. Pohl-Patalong, U./Hauschildt, Kirche, 413. Pohl-Patalong, U/Hauschildt, Kirche, 413. Meyer-Blanck, Gebildete, 103. Meyer-Blanck, Gebildete, 103. Meyer-Blanck, Gebildete, 103. Meyer-Blanck, Gebildete, 103.

Einleitung

Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang das, was die Rezeptionsästhetik lehrt, nämlich die Unverfügbarkeit und Unplanbarkeit gelingender Kommunikation. Die Bedeutung eines Textes, eines liturgischen Aktes, eines gesprochenen Wortes werden nicht notwendigerweise so verstanden, wie sie gemeint waren, sondern erhalten einen neuen/individuellen Sinn in der Auseinandersetzung der Rezipient:innen mit ihnen. Sie verstehen die wahrgenommene Semiotik stets vor Hintergrund ihres eigenen Kontextes.273 Auch das lässt sich besonders in der Gefängnisseelsorge exemplifizieren.274 Mit Hauschildt lässt sich Seelsorge von da aus als Hermeneutik konzeptualisieren: „[a]ls Lehre davon, wie das Verstehen zwischen Individuen vor sich geht, genauer zwischen Individuen samt den ihnen zugehörigen Interpretationswelten“275 . In der Perspektive der Poimenik ist es völlig unsinnig, der Frage nach der Wahrheit abstrakt nachzugehen. Denn nichts gilt für den nächsten, der hinter der Tür wartet, was für denjenigen gilt, der davorsteht.276 Das, was Seelsorge eigentlich ist, muss immer neu ausgehandelt werden. Die Frage der Poimenik ist nicht die Frage nach der Wahrheit an sich, sondern, was der Nächste an Wahrheit braucht. Und das ist immer nur individuell herauszufinden. Die Frage ist insofern nicht diejenige nach Wahrheiten, sondern nach Möglichkeiten. Die vorliegende Arbeit wird demnach in dem Wissen geschrieben, dass sie keine allgemeingültigen Wahrheiten abschließend formulieren kann, in dem Bewusstsein, dass sie Themenfelder nicht in ihrer Gänze erfassen kann und in der Hoffnung, dass sie Möglichkeiten und Räume für weitere Reflexionen und Weiterdenken schafft. 1.5.2

Methodisches Vorgehen und weiterer Aufbau der Arbeit

Wie sich aus Vorangegangenem abzeichnet, folgt diese Arbeit in ihren Grundzügen der Reflexion von Wahrnehmung und der von Kommunikation. Beides ist aufeinander zu beziehen und steht in der Seelsorge nicht unabhängig voneinander. Grundlage meiner Untersuchungen sind hinsichtlich der seelsorglichen Perspektive im Gefängnis hauptsächlich veröffentlichte Erfahrungsberichte Gefängnisseelsorgender sowie bereits erschienene Ergebnisse empirischer Studien. Auf dieser Ebene ist die vorliegende Studie deskriptiv und nimmt die Praxis Praktischer Theologie ernst. Hier wird Religion von Seelsorgepersonen – im weitesten Sinne – zwischen den Zeilen des Gesagten kommuniziert, und darüber auch zwischen den Zeilen dessen, was die Gefangenen zum Ausdruck bringen. In dieser Arbeit 273 274 275 276

Vgl. Pohl-Patalong, U./Hauschildt, Kirche,414f. Vgl. Kapitel 4.1. Hauschildt, Seelsorgelehre, 250. Ähnlich formuliert auch Stollberg, Schweigen, 366: „Beinahe nichts, was für einen gerade verabschiedeten Ratsuchenden gilt, trifft für den schon vor der Tür wartenden nächsten zu.“

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werden diese Praxiserfahrungen mit wissenschaftlichen Perspektiven zusammengeführt. Besonders in der Frage nach „dem Bösen“ in der Delinquenzentstehung werden Studien aus anderen Fachbereichen hinzugezogen. Das ist bislang kaum unternommen worden. Auch sonst soll im Folgenden auf neuere humanwissenschaftliche Erkenntnisse ein Augenmerk gelegt werden. Die Zusammenführung unterschiedlicher Perspektiven hat keine einheitliche Gefängnisseelsorge zum Ziel, sondern soll im Gegenteil ihre Multidimensionalität – gerade im Verständnis von und einem Umgang mit „dem Bösen“ – aufzeigen, die eine multiperspektivische Kompetenz nicht nur erlaubt, sondern erforderlich macht. Dem wissenschaftlichen Hintergrund entsprechend, wird von der grundsätzlichen Notwendigkeit von Wahrnehmungskompetenzen ausgegangen. Eine reflektierte Wahrnehmung macht die Reflexion von Kontexten erforderlich. Wenn nach dem Umgang mit „dem Bösen“ in der Gefängnisseelsorge gefragt wird, ist die Erschließung ihres Kontextes unabdingbar. Zunächst wird im 2. Kapitel der Kontext der Gefängnisseelsorge beleuchtet, denn hier – so wird davon ausgegangen – befinden sich „die besonders Bösen“. Die Realität gestaltet sich jedoch komplexer. Um den Ort differenzierter zu erfassen, wird sich dem Strafvollzug und Strafverständnis aus strafrechtlicher sowie evangelischer und seelsorglicher Perspektive angenähert werden. Daraus ergibt sich nicht nur ein multiperspektiver Blick auf den Kontext Gefängnis, sondern es lassen sich auch Differenzen herausstellen, auf deren Schnittstellen sich Gefängnisseelsorge bewegt. In einem nächsten Schritt wird sich deshalb mit den Seelsorgeverständnissen im Gefängnis befasst. Wie einleitend angedeutet, ist Seelsorge im 21. Jahrhundert vor die Herausforderungen der Pluralisierung und Säkularisierung gestellt, was sich auch im Gefängnis zeigt. Seelsorge im Gefängnis lässt sich deshalb als multidimensionales und multiperspektivisches Verstehen und Handeln nachvollziehen, in dem Seelsorger:innen sich verorten müssen, d. h., flexibel zwar, aber doch bestimmt ihre Rollen und ihre Identität finden müssen. In diesem Kapitel wird weiterhin die Interpretationswelt der Gefängnisseelsorge erschlossen, durch den sie „das Böse“ und sich selbst innerhalb dieses Kontextes wahrnehmen und reflektieren kann. Von da aus schließt sich im 3. Kapitel die Beschäftigung mit dem sogenannten „Bösen“ an. Um mit denen seelsorglich umgehen zu können, die als „die Bösen“ beschrieben werden oder als diejenigen, die „Böses“ getan haben, ist eine ebenfalls differenzierte Wahrnehmung von höchster Relevanz, um nicht vorurteilsgeleitet oder gar verurteilend zu agieren. Aufgrund dessen sollen auch hier unterschiedliche Perspektiven zurate gezogen werden. In einem ersten Schritt wird der Frage „Woher kommt ‚das Böse‘?“ nachgegangen. Das wird mithilfe von neueren soziologischen und psychometrischen sowie neurologischen Erkenntnissen in Bezug auf die Delinquenzentstehung erarbeitet. Hier wird sich herausstellen, dass Delinquenz immer innerhalb komplexer Zusammenhänge steht und zugleich „das Böse“ nicht an sich existiert, sondern als solches von Deutenden bestimmt wird.

Einleitung

Es zeigt sich aber auch, dass „Böses“ dadurch nicht weniger „böse“ wird und sich Menschen allgemein, aber Seelsorger:innen im Speziellen mit wirk-lich (insofern sie eine nicht zu ignorierende Wirkung für jemanden oder auf etwas haben) „bösen“ Seiten des Menschen auseinandersetzen müssen, ohne sich in eine Relativierung dieser flüchten zu können. Daran schließt sich das ethische Nachdenken darüber an, was als richtig und falsch bewertet wird und ob „das Böse“ allein eine Sache der „falschen“ Entscheidung ist. Hier wird sich herausstellen, dass es nicht möglich ist, allgemeingültige Kategorien zu schaffen, an denen sich die Bewertung von „richtig“ und „falsch“ orientieren kann. Ethische Reflexion lässt sich demzufolge also nicht als das Mittel verstehen, mit dem sich „das Böse“ eruieren, und auch nicht als das Mittel, mit dem sich „das Bösen“ überwinden ließe. Ethik verweist lediglich darauf, dass wir beides zu tun gewillt sind und sie schafft einen notwendigen Raum, beidem nachzugehen. In der Theologie gehört das Nachdenken über „das Böse“ und der Umgang mit ihm seit je zu ihren zentralen Themen. Theologie hat biblische Erzählungen zur Grundlage, in denen sich die Beschäftigung mit „dem Bösen“ als existenzielle Frage und Erfahrung herausstellt. In der theologischen Reflexion des Glaubens und der Lebensdeutung – gerade angesichts „des Bösen“ – spielen Schuld, Sünde und Vergebung eine zentrale Rolle. Sie wurden in der Geschichte der Kirche zum „Brennpunkt poimenischer Reflexion und Praxis“277 . Die theologische Perspektive geht über alle anderen darin hinaus, dass sie durch die Verknüpfung dieser Phänomene mit religiösen Begriffen die Erfahrungen „des Bösen“ bzw. „der Sünde“ und „der Schuld“ und „der Vergebung“ vor dem Hintergrund des Glaubens deutet. Die multiperspektive Darstellung des Bösen in diesem Kapitel soll für eine differenzierte, reflektierte seelsorgliche Wahrnehmung im Umgang mit Delinquenten plädieren, wodurch Seelsorgende der Person hinter ihren Taten zuträglich werden kann – ein erster Schritt, „Polyvalente Normativität“ wahrnehmen und darüber hinaus nebeneinander stehen lassen zu können. Sie „stehen lassen“ bedeutet nicht, sie einfach zu ignorieren, sondern Differenzen nicht schon vorab als abschließend beseitigt zu behandeln, indem sie beispielsweise relativiert werden: „Täter:innen sind ja eigentlich die Opfer!“, oder (in Bezug auf die Tat): „Das macht man aber nicht!“ Daran schließt sich die Frage nach dem „Wie“ an. Wie können Seelsorgende trotz „Polyvalenter Normativität“ und Angesichts „des Bösen“ seelsorgliche Verbindungen schaffen, in denen das Gegenüber wirk-lich „ernstgenommen“ wird – d. h. in seiner Teilverantwortlichkeit und in seinem Menschsein, in dem der Mensch trotz unerklärlich „bösen“ Taten seine menschliche Würde nicht verliert – und wahrgenommen wird, ohne dass Seelsorgende sich auf eine Seite stellen müssen, sondern Unterschiede als solche stehen lassen können, ohne das Gegenüber zu

277 Eschmann, Sünde, 139.

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Teil I Grundlagen und Prämissen

verurteilen? Im 4. Kapitel wird zur Beantwortung dieser Frage Kommunikation als Medium seelsorglicher Arbeit im Umgang mit „dem Bösen“ reflektiert. Es lässt sich mit Beispielen von geführten Seelsorgegesprächen, die in der Seelsorgeliteratur dokumentiert und soziolinguistisch analysiert wurden, auf ganz praktischer Ebene anzeigen, wie es möglich ist, dass über Kommunikation, auch über Grenzen hinweg, Verbindungen geschaffen werden können. Darüber hinaus zeigt sich hier, inwiefern Seelsorge ihre Glaubensperspektive in die Kommunikation einfließen lässt, ohne dass damit ihre zuvor als so notwendig erachtete Multiperspektivität und Multidimensionalität wieder dadurch relativiert werden, dass beispielsweise dezidiert religiöse Zeichencodes angewendet werden müssten oder es unabdingbar wäre, explizit religiöse Themen anzusprechen. Hier zeigt sich die Kommunikation des Evangeliums auf anderem Wege, die aufs Engste mit Glaubensperspektiven Seelsorgender zusammenhängt und darin eine Möglichkeit bereitstellt, mit „Polyvalenter Normativität“ umzugehen. Im abschließenden 5. Kapitel werden die Ergebnisse zusammengeführt, mit dem Ziel einer gut verorteten Gefängnisseelsorge des 21. Jahrhunderts, die außerdem einen Ausblick für Seelsorge, die Praktische Theologie und die Theologie in ihrer Gesamtheit schafft, von dem aus in Zukunft kritisch weitergedacht werden kann.

Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

2.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

Im Gefängnis begegnet man „dem Bösen“. Diese plakative Sichtweise ist kein Sonderfall etwa unreflektierten Denkens. Auch der Rat der EKD verortet in seiner Denkschrift zum Strafvollzug von 1990 „das Böse“1 im Zusammenhang mit Delinquenz in den Ort „Gefängnis“. In Justizvollzugsanstalten wird „das Böse“ im Strafvollzug bestraft. Wie aber gestaltet sich ein solcher Strafvollzug? Wie sieht der Ort aus, in dem mit „dem Bösen“ umgegangen werden soll (2.1)? Strafvollzug und Gefängnisseelsorge haben aus ihren, sich voneinander unterscheidenden Kontexten heraus, unterschiedliche Wahrnehmungen davon, wie mit Delinquenz umgegangen werden sollte und damit auch unterschiedliche Wahrnehmungen von der Institution Gefängnis sowie der Bedeutung von Strafe. Dem hermeneutischen Ansatz folgend, sollen im Folgenden zunächst Gefängnisseelsorge und ihre Seelsorger:innen kontextualisiert werden, um sich später von dort aus dem seelsorglichen Verständnis von dem sogenannten „Bösen“ als Delinquenz und dem seelsorglichen Umgang mit ihm anzunähern. Im Hintergrund des Strafvollzugs steht eine bestimmte Auffassung von Strafzweck und Vollzugszweck. Doch auch das Verständnis von „Strafe“ und dessen Zweck ist kontextuell gebunden, sodass die Perspektiven dessen beleuchtet werden sollen (2.2). Hier zeigt sich, wie Gefängnisseelsorge sich neben und auch gegen strafrechtliche Intentionen im Umgang mit Delinquenz positioniert und sich Gefängnisseelsorger:innen darüber hinaus von beiden Auffassungen von Strafzweck und Vollzugszweck unterscheiden. Auf Strafzweck und Vollzugszweck baut der tatsächliche Strafvollzug auf. Was ist das für ein Ort, an dem Kriminelle eingeschlossen werden und von dem der Rest der Gesellschaft in aller Regel ausgeschlossen ist (2.3)? Die Institution Gefängnis bedeutet eine Herausforderung für die Institution Kirche und umgekehrt. Beides – die Anforderungen an Seelsorge durch den Auftrag der Kirche sowie die Anforderungen durch die Institution Gefängnis müssen sich in der Praxis bewähren, in der sich die Wirklichkeit als komplex darstellt. Was muss Seelsorge in solch einem komplexen Umfeld also leisten können? Es schließt sich die Frage nach dem Selbstverständnis von Gefängnisseelsorge und Gefängnisseelsorgenden an, die einen anderen Umgang mit „dem Bösen“ im Gefängnis anstreben. Was bedeutet Seelsorge im Gefängnis konkret? Es wird sich herausstellen, dass das Seelsorgeverständnis nicht eindeutig, sondern pluriform bestimmt ist (2.4). Einleitend wurde „das Böse“ bzw. das als „böse“ Bezeichnete

1 Evangelische Kirche in Deutschland, Strafe, 74, 76, 79.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

beleuchtet, um die seit je multiperspektivische Wahrnehmung dessen herauszustellen. Pluralisierung und Säkularisierung beeinflussen den Wertewandel und fördern eine konstruktivistische Weltsicht überhaupt, was auch einen Einfluss auf das Verständnis von Seelsorge hat (2.4.1). Es soll dazu betrachtet werden, was für ein Seelsorgeverständnis sich aus der vorliegenden Gefängnisseelsorgeliteratur erschließen lässt (2.4.1.1). Aus dem Vorangegangenen ist zu erwarten, dass dieses der Wahrnehmungsvielfalt entsprechend multidimensional ist. Es gibt also kein spezifisches Konzept der Gefängnisseelsorge, sondern eine bewusste „Seelsorge in der Vielfalt“. Folglich müssten sich unterschiedliche Seelsorgefunktionen und -ziele in der Gefängnisseelsorge herausstellen. Dann wäre damit zu rechnen, dass es keine allgemeingültige und funktionierende Methode gelingender Seelsorge im Gefängnis gibt, die auf jede Seelsorgesituation anwendbar wäre. Die Befürchtung liegt nahe, dass Seelsorge deshalb entweder der Beliebigkeit oder doch dogmatisierenden Ansprüchen verfällt. Dagegen sollen, in der Beleuchtung multidimensional verstandener Seelsorgekonzepte, zwei Ankerpunkte herausgestellt werden, die jede Form von Seelsorge begründen und besonders in der Gefängnisseelsorge unverzichtbar zu sein scheinen (2.4.1.2 und 2.4.1.3). Dass Seelsorge multiperspektiv und multidimensional gedacht werden muss, liegt nicht nur daran, dass Seelsorgesuchende in je unterschiedlichen Kontexten stehen, aus denen heraus sich eine Pluralität ergibt, mit der Seelsorgende umgehen können sollten, sondern auch deshalb, weil die Person Seelsorgender, im Moment des Seelsorgevollzugs, unterschiedlich berührt wird, weil sie eben auch in unterschiedlichen Kontexten steht. Was für die eine Seelsorgerin in der einen Situation hilfreich ist, gilt für den anderen Seelsorger eben nicht unbedingt genauso. Dies lässt nach der Identität und nach der Rolle Seelsorgender fragen, die den herauszustellenden seelsorglichen Grundpfeilern entsprechend nicht beliebig zu sein scheinen, aber dennoch nur plural und individuell vorkommen (2.4.2). Welche Konsequenzen für den Blick auf „das Böse“ und mit dessen Umgang hat also eine pluralisierte Seelsorge am Ort des Gefängnisses?

2.1

Der Ort „des Bösen“ – Der Strafvollzug aus strafrechtlicher und seelsorglicher Perspektive

Das Gefängnis ist beinahe Sinnbild für die menschliche Überforderung eines Umgangs mit den sogenannten „Bösen“. Es ist der Ort, an dem, von außen betrachtet, die Stigmatisierungen „des Bösen“ nicht bloße Worte bleiben, sondern Wirklichkeit werden. Die als „Die Bösen“/„Die Kriminellen“ Bezeichneten sind im Gefängnis, weil sie aufgrund einer Straftat für schuldig gesprochen worden sind und dem entsprechend behandelt werden. Sie werden aus der Gesellschaft aus- und im Gefängnis eingeschlossen. Innerhalb der Gefängnismauern scheint sich die Stigmatisierung fortzuführen. Und doch zeigt sich sowohl auf rechtlicher als auch auf theologi-

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

scher Seite, dass „die Bösen“ nicht einfach nur weggesperrt werden, um „Böses“ zu beseitigen, abgesehen davon, dass es sich dadurch nicht einfach verschwinden würde, denn „[i]m Gefängnis findet eine Rollenverteilung statt, die mit der Welt draußen zweifellos Überschneidungen aufweist, eine Welt aus ‚den Guten‘, ‚den Bösen‘, ‚den Opfern‘. Aber hinter Gittern kann niemand aus der Rolle ausbrechen. Die Zuordnung bleibt fast ausnahmslos erhalten.“2 Was also ist der Sinn hinter dem Strafvollzug und wie leistet er seinen Beitrag im Umgang mit „den Bösen“? Welche Differenzen ergeben sich aus den unterschiedlichen Perspektiven, der evangelischtheologischen und seelsorglichen auf der einen Seite und der strafrechtlichen auf der anderen?

2.2

Strafe als Umgang mit „dem Bösen“

In der Frage nach dem Zweck des Strafvollzugs als Umgangsform mit „dem Bösen“ steht zunächst einmal die Frage nach Inhalt und Ziel von „Strafe“. Das bildet sich bereits in dem Begriff Straf vollzug ab, wie auch in der Straf tat, die straf bar ist. „Strafe“ wird häufig unmittelbar mit „Vergeltung“ assoziiert. Allerdings haben sich Strafziel und Strafzweck stetig gewandelt.3 Auch gegenwärtig wird Strafe als Umgang mit Kriminalität nicht ausgeschlossen – auch nicht aus theologischer Perspektive. Das, was als Strafzweck und Vollzugsziel – beides ist unbedingt voneinander zu unterscheiden – definiert wird, ist allerdings mehrdimensional. Es lässt sich aus strafrechtlicher (2.2.1), aus evangelisch-theologischer (2.2.2) sowie aus Perspektiven Gefängnisseelsorgender (2.2.3) beleuchten. In ihrem Vergleich lassen sich Hinweise auf theologische Motivationen im Umgang Seelsorgender mit „dem Bösen“ eruieren, die zu den strafrechtlichen Motivationen divergieren. 2.2.1

Strafzweck und Vollzugsziel aus strafrechtlicher Perspektive

Das rechtlich vorgeschriebene Strafziel hat sich weiterentwickelt; es dient gegenwärtig nicht mehr in erster Linie der Vergeltung, auch wenn der Vergeltungsgedanke nicht ganz verschwunden ist.4 Im BVerfGE 22 steht zwar: „Jede Kriminalstrafe ist

2 Tietze, Neues, 593. 3 Dazu sei nochmals auf Brandt, Strafgefangenenseelsorge verwiesen; ferner Funsch, Seelsorge. 4 An dieser Stelle sei auf den besonders auch in der Gefängnisseelsorge viel zitierten Philosophen Michel Foucault, Überwachen und Strafen, verwiesen, der die Veränderung des öffentlichen Strafens im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts darstellt. Er beleuchtet, wie die Strafpraxis der Marter des 18. Jahrhunderts auf immer mehr Kritik stößt, und stellt heraus, dass „Macht“ als Disziplinierung das Individuum unterwirft, sodass produktive Mitglieder einer Gesellschaft durch gefügsame, unterworfene Körper geschaffen werden.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

ihrem Wesen nach Vergeltung durch Zufügung des Strafübels“5 . Gegenüber der Vergeltung der Tat ist aber die Wiedereingliederung der Täter in die Gesellschaft als Strafzweck in den letzten Jahren stärker geworden (Resozialisierung). Neben der Resozialisierung als Strafzweckgedanken stehen gleichrangig weitere Zwecke, die sich mit einem Blick in die nebeneinanderstehenden Strafzwecktheorien eruieren lassen.6 Der absoluten Strafzwecktheorie zufolge sind Strafe keine Zwecke inhärent. Es geht allein um die Vergeltung des Gesetzesverstoßes um der Gerechtigkeit willen.7 Auch die Kirchen haben absolute Straftheorien vertreten, in denen Strafe, als Instrument staatlicher und rechtlicher Ordnung, mit ihrem grundsätzlichen Vergeltungs- und Sühnegedanken auf die göttliche Anordnung abzielte, für die rechtliche und staatliche Ordnung als Erhaltungsordnungen gedacht wurden.8 Gegen absolute Straftheorien wird nun der Einwand erhoben, dass der moderne Strafzweck in der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens und eines relativen Rechtsfriedens bestehen müsste und nicht in der Verwirklichung einer metaphysischen Weltordnung.9 Denn nicht alle metaphysischen und religiösen Überzeugungen können für alle Gesellschaftsmitglieder in einem säkularen Staat geltend gemacht werden. Daneben stehen relative Strafzwecktheorien. Zu ihnen gehören die generalpräventive und die spezialpräventive Theorie. Nach ihnen besteht der Zweck der Strafe im Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten. Nach der generalpräventiven Theorie dient Strafe dem Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung sowie der Konfliktlösung und -beilegung zwischen Opfer und Täter. Als Abschreckung wirke Strafe präventiv gegen potenzielle Täter:innen.10 Die spezialpräventive Strafzwecktheorie legt ihren Schwerpunkt auf den:die Straftäter:in. Kriminalität sei nicht nur sozialschädigend, sondern auch sozialbedingt.11 Über die Stärkung des Rechtsbewusstseins des Täters oder der Täterin werde er:sie durch die Strafe erneut

5 Darüber hinaus verweist Funsch, Seelsorge, 209 in dem Zusammenhang auf die Schwere der Schuld als Strafmaß, insofern eine Strafe der Tat und der Schuld entsprechend angemessen zu sein hat. 6 Vgl. Funsch, Seelsorge, 208 mit Verweis auf BVerfGE 39, 1, 57; 45, 187, 253f. 7 Sie lässt sich auf den deutschen Idealismus zurückführen und hatte starke Vertreter durch Immanuel Kant und Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Der Gesetzesverstoß bedarf der Vergeltung durch ein gleich schweres Übel. Der Täter sühnt durch das Erleiden eines ihm auferlegten Strafübels (vgl. Hegel 1962, § 101, 96–98). Dahinter steht die Auffassung, der Täter würde durch eine zweckgebundene Strafe zur Sache erniedrigt, weil der Täter zum Mittel zum Zweck degradiert würde; vgl. dazu Funsch, Seelsorge, 203f. 8 Vgl. Körtner, Strafe, 107. 9 Vgl. Körtner, Strafe, 107 mit Bezug auf Frister, Strafe, 2395. 10 Vgl. Funsch, Seelsorge, 205f mit Bezug auf Roxin, Strafrecht, § Rn 26 und Joecks/Miebach, Münchener Kommentar sowie Schönke/Schröder u. a., Strafgesetzbuch. 11 Vgl. von Liszt, Zweckgedanke, 40.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

in die Gesellschaft integriert, sodass ihm:ihr ein Leben ohne Straftaten möglich werde.12 Relative Straftheorien unterscheiden also zwischen Täter:in und Tat. Die Strafe soll demnach nicht die Person treffen, sondern sanktioniert die Tat. Die relative Straftheorie lässt sich auf empirischer Ebene kritisieren, weil nicht eindeutig ist, ob und inwieweit Strafe tatsächlich präventiv wirkt und ihr fehlt darüber hinaus eine normative Grundlage. Damit steht sie konträr zum Schuldprinzip, das besagt, dass niemand bestraft werden kann, wenn ihn keine Schuld trifft bzw. nur, wenn dem Täter oder der Täterin seine:ihre Tat persönlich zum Vorwurf gemacht werden kann (§ 46, Abs. 1, S. 1 StGB).13 Während sich in der Frage nach dem Straf zweck eine gewisse Pluralität feststellen lässt, trifft solche nicht auf das Vollzugsziel zu.14 Das Vollzugsziel von Vollzugsanstalten besteht in der Befähigung der Gefangenen, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“ (§ 2 StVollzG). Dieses Vollzugsziel ist nicht als Besserung bzw. Erziehung zu interpretieren, sondern als „Resozialisierung“15 der Straftäter:innen.16 Der Begriff der „Befähigung“ verweist darauf, dass künftig soziale Kompetenzen nicht erzwingbar sind und ihr Erlernen von der Lernbereitschaft des:der Inhaftierten abhängt.17 Das Resozialisierungsbemühen nimmt Gefangene demnach in die Pflicht.18 Sie sollen soziale Fähigkeiten erlernen und sich darüber hinaus aktiv mit Tat und Opfer auseinandersetzen. Zum Erreichen des Vollzugziels sollen die Einsicht der Täter:innen über die Folgen der begangenen Straftat für das Opfer geweckt und entsprechende Maßnahmen angestrebt werden (§ 2 Abs. 5 JVollzGB-BW III). Der Strafvollzug ist der Achtung der Menschenwürde und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet. Es ist gesetzlich verankert, dass Täter:innen nicht zum Objekt der Verbrechensbekämpfung degradiert werden

12 Sie geht auf Franz von Liszt zurück, vgl. Funsch, Seelsorge, 206 mit Bezug auf von Liszt, Zweckgedanke; vgl. Schönke/Schröder u. a., Strafgesetzbuch, Vorbem. §§ 38ff StGB Rn 7; Fischer, T., Strafgesetzbuch, § 46 StGB Rn 3. Mit Verweis auf Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, § 3 Rn 43 ordnet Funsch, Seelsorge, 207 den spezialpräventiven Theorien auch den „Täter-Opfer-Ausgleich“ zu, in dem auch das Opfer mitberücksichtigt wird. Gegen diese Zuordnung ist Stratenwerth, Was leistet die Lehre, 14. 13 Vgl. dazu auch Körtner, Strafe, 108. 14 Vgl. Funsch, Seelsorge, 306f. 15 Hervorhebung v. Inderst. Der Begriff wird im Strafvollzugsgesetz nicht bzw. sehr zurückhaltend gebraucht, sodass er schwer zu interpretieren ist. Laubenthal, Strafvollzug, 97 interpretiert ihn unter „Heranziehung des Vollzugsziels […]: (Re-)Sozialisierung steht für die Summe aller Bemühungen im Strafvollzug zum Zweck einer Befähigung des Gefangenen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.“ 16 Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 96f. 17 Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 104. 18 Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 104f.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

dürfen, sodass sich der Strafvollzug stets an die Resozialisierung der Täter:innen zu orientieren hat. Deshalb müssen die „grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen […] erhalten bleiben“19 , woraus abgeleitet wird, dass auch im Strafvollzug „jenes Existenzminimum zu gewähren [ist], das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst möglich macht.“20 Aus diesem Grundsatz folgt, dass die beiden Hauptstrafformen in Europa die Geldstrafe und die Freiheitsstrafe sind, weil die Todesstrafe nach europäischer Lehre mit der Menschenwürde und Menschenrechten unvereinbar ist. Allerdings sollte auch die Freiheitsstrafe nicht unkritisch betrachtet werden, als löse sie allein Folter- und Körperstrafen sowie Hinrichtungsmethoden ab – was sie unhinterfragt tut –; allerdings wurde sie ursprünglich nicht als rein erzieherische Maßnahme konzipiert, mit dem Zweck der Humanisierung des Strafrechts, sondern sollte dagegen sogar mit einem größeren Effekt abschreckend wirken, durch lebenslange und mit Zwangsarbeit verbundene Haftstrafe.21 Nicht zuletzt stellten in dieser Zeit Schleiermacher und Rousseau den pädagogischen Nutzen von Strafe überhaupt in Frage. Ihrer Auffassung nach solle Erziehung eher darauf abzielen, das Gute um seiner selbst willen zu wollen, sodass die menschlichen Antriebe, dies zu tun, gefördert werden sollten.22 Aus strafrechtlicher Perspektive wäre es also viel zu kurz gegriffen, den Zweck der Strafe im Sinne einer Strafe als Vergeltung zu verstehen. Der Vollzugszweck besteht darüber hinaus einzig und allein darin, Individuen wieder gesellschaftsfähig zu machen, sie also zu resozialisieren, wohl in dem Bewusstsein – und das ist wichtig – dass eine solche Resozialisierung nicht erzwingbar ist. Der Strafvollzug spricht damit den Gefangenen die Eigenverantwortung und insofern auch ihre Autonomie nicht gänzlich ab. Im Hintergrund steht dennoch, nach wie vor, ein gewisses Strafziel und damit auch Bestrafung im Sinne von Vergeltung der Tat, die zum Schuldspruch geführt hat. 2.2.2

Strafzweck und Vollzugsziel aus Evangelischer Perspektive

Im Jahre 1990 legte der Rat der EKD eine Stellungnahme zum deutschen Strafzweckverständnis vor.23 In jener Denkschrift kritisiert die EKD insbesondere solche weltlichen Strafzwecktheorien, die vom Vergeltungsgedanken durchzogen sind.24

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BVerfGE 45, S. 228f; vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 100. BVerfGE 45, S. 228f; vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 100. Vgl. Körtner, Strafe, 109 mit Verweis auf Beccaria, Verbrechen. Vgl. Körtner, Strafe, 109 mit Verweis auf Schleiermacher, Pädagogische, 90. Vgl. EKD, Strafe. Dem ging die frühere Stellungnahme, EKD, Seelsorge, im Jahre 1979 voraus. Vgl. EKD, Strafe, 57–65.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

Ebenso kritisch gesehen wird die unbegründete Übereinstimmung über eine Notwendigkeit von Strafe. Laut dem Rat der EKD sei die gesellschaftliche Ordnung nicht abhängig von einem Bestehen des Strafrechts und es gäbe weniger belastende Maßnahmen von Sozialkontrolle als das Zufügen eines weiteren Übels. Sozialpsychologische Ansichten sähen in der Vergeltungsstrafe „ein natürliches Bedürfnis des Menschen, das im Strafrecht zu kanalisieren sei“25 , womit sie dem Recht in unangebrachter Weise unterstelle, „daß der wechselseitige Aggressionsausgleich [dessen] Aufgabe“26 sei. Individualethisch sei Strafe ebenso wenig zu begründen, weil das Bedürfnis, sich von Schuld zu befreien, nur autonom und nicht aufgezwungen werden könne, wie es aber im Falle der Strafe praktiziert werde.27 Der EKD-Rat nimmt besonders am Rache- und Vergeltungsgedanken Anstoß. Die Reaktion auf den Rechtsspruch dürfe sich nur an der Versöhnung und der Solidarität mit den Delinquenten, Opfern und der Gesellschaft orientieren.28 Als „Notwehr“ sei Strafe deshalb „fragwürdig und auf das geringstmögliche Maß zu reduzieren“29 , weil sie „den rechtlichen Kriterien der ,Erforderlichkeit‘ und der ,Notwendigkeit‘ standhalten“30 müsse, die „zu einer Einschränkung denkbarer Strafmaßnahmen“31 führten. Der auf den staatlichen Machteinsatz beruhende Strafzweck könne demnach nur in „der Wiedereingliederung in die Gesellschaft“32 liegen. Die EKD kritisiert, dass „selbst die fürsorglichste ‚Fürsorgemaßnahme‘ Zwangscharakter hat“33 und hebt dadurch die Bedeutung von Strafe als Übel hervor, das einem:einer Delinquenten zugefügt wird. Das von der EKD vorgelegte Strafzweckverständnis orientiert sich an der von ihr konzipierten „christliche[n] Ethik“34 , die das zur „Erhaltung des Lebens Notwendige[...]“35 , das der „Liebe Mögliche[…]“36 und das „der Situation Angemessene[…]“37 zum Grundsatz verantwortlichen Lebens und Handelns macht. Der Mensch sei angehalten, das zur Erhaltung des Lebens Notwendige zu tun, weil jeder Mensch – als Geschöpf Gottes – von Gott gewollt sei. Der Mensch solle sich deshalb für die Erhaltung des Lebens und seiner Mitmenschen einsetzen. Die 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37

EKD, Strafe, 57. EKD, Strafe, 57. Vgl. EKD, Strafe, 57. Vgl. EKD, Strafe, 57f, 79f. EKD, Strafe, 57. EKD, Strafe, 57. EKD, Strafe, 57. EKD, Strafe, 78 [original: kursiv]. EKD, Strafe, 76f. EKD, Strafe, 72 [original: kursiv]. EKD, Strafe, 74. EKD, Strafe, 74. EKD, Strafe, 74.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

Mindestbedingungen für Existenzerhaltung und Lebensentfaltungen zu schaffen, sei Aufgabe des Staates und der Rechtsordnung, „wenn nötig, auch mit vom Recht begrenzter Gewaltandrohung und Gewaltanwendung“38 , auch wenn „Gewalt das Böse nur eindämmen und nicht überwinden kann“39 . Die Bewahrung des Lebens setze Versöhnungsbereitschaft voraus, durch die Konflikte und Feindschaft überwunden werden könnten. „Aus erfahrener Liebe wagen es Christen deshalb in der Freiheit des Glaubens immer wieder, den Weg der Versöhnung zu gehen.“40 Folglich würden Christen für die Reduzierung von Gewalt eintreten und für ein Miteinander, das „den Frieden und gemeinsames Leben in Gerechtigkeit und Liebe sucht.“41 Aus den Grundsätzen, das zur Erhaltung des Lebens Notwendige sowie das in Liebe Mögliche zu tun, ergibt sich für den EKD-Rat ein „Grundsatz für das christliche Handeln in Gesellschaft, Staat und Politik“42 , der da lautet: „In allen Bereichen ist es uns geboten, für die Bewahrung des Lebens einzutreten, Recht und Gerechtigkeit zu schaffen und Liebe und Solidarität zu üben.“43 Liebe schließe Gerechtigkeit und die Bewahrung des Lebens ein und gehe über sie hinaus. Liebe lasse sich aber nicht befehlen und die Ziele christlichen Handelns könnten in Spannung geraten, wenn beispielsweise um der Liebe Willen auf Machteinsatz verzichtet und dadurch Gerechtigkeit verletzt werde. „Darum ist in einem verantwortlichen christlichen Handeln jeweils nach dem in der Situation Angemessenen zu fragen.“44 Als Hilfe, ein solches „Angemessenes“ zu erkennen, würden die Fragen nach dem Maß der Liebe, Solidarität und Versöhnungsbereitschaft dienen, die man selbst ohne Zwang erbringen könne, aber auch, welches Maß derselben man anderen zumuten könne. Versöhnungsbereitschaft und Solidarität würden die Ermöglichung eines Neuanfangs für andere anstreben. Versöhnung und Liebe könnten missverstanden und missbraucht werden, sodass „Mißbrauch […] zu wehren [ist], nach Wegen der Versöhnung jedoch beharrlich zu suchen“45 sei, wenn damit einem konstruktiven Prozess des Neubeginns Rechnung getragen werde. Das Strafzweckverständnis dieses Typs ist demzufolge vom Gedanken der Versöhnung geprägt – in dem gleichzeitigen Wissen, dass die Bereitschaft zur Versöhnung „[d]ie Realität des Bösen“46 nicht verdränge, sondern nur richtungsweisend

38 39 40 41 42 43 44 45 46

EKD, Strafe, 74. EKD, Strafe, 74. EKD, Strafe, 74. EKD, Strafe, 74. EKD, Strafe, 75. EKD, Strafe, 75. EKD, Strafe, 75. EKD, Strafe, 75. EKD, Strafe, 75.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

sein könne und „die Botschaft des Evangeliums mit Leben füllen will.“47 Strafe könne ausschließlich zum Schutz der Gesellschaft gebilligt werden, indem das unrechte Handeln des Täters unterbrochen und damit das Leben bewahrt werde. Strafe habe damit die Funktion der Wiederherstellung sozialen Friedens.48 Der Strafzweck dürfe nicht der Vergeltung dienen, sondern nur dem Schutz der Gesellschaft. Die EKD zielt auf Versöhnung, die sich insbesondere im Opfer-Täter-Ausgleich konkretisieren solle. Insgesamt läuft der Strafzweck auf die Resozialisierung des Täters:der Täterin in die Gesellschaft hinaus. Sühne und Schuldeinsicht als Zweck der Strafe lehnt die Evangelische Kirche ab, weil beides nicht erzwungen werden könne.49 Auch die Stärkung des Rechtsbewusstseins benötige keine Strafe, es reiche, das Unrecht aufzuzeigen. Hinsichtlich des Vollzugsziels lehnt die Evangelische Kirche die Vergeltung ab und fokussiert die Resozialisierung. Gefangene müssten, statt Schuld auszugleichen, befähigt werden, ein Leben ohne Straftaten zu führen. Darin stimmt das kirchliche Strafvollzugszielverständnis mit dem weltlichen weitgehend überein. Darüber hinaus dürfe der Strafvollzug die Versöhnung nicht aus den Augen verlieren, denn „das Böse [kann] letztlich nur dort überwunden werden […], wo Menschen bereit sind zur Versöhnung und zu einem Handeln aus Liebe.“50 Das „Ziel des Strafvollzugs ist die Resozialisierung und Reintegration der Gefangenen in das gesellschaftliche Leben. Durch Arbeit, Schul- und Berufsausbildung, Freizeitmaßnahmen, gezielte Interventionen und Therapie sollen Ursachen für kriminelles Verhalten bearbeitet und Eigenverantwortlichkeit und soziale Kompetenz verbessert werden. […] Insbesondere am Ende ihrer Haftzeit sollen Gefangene […] auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden.“51

Während sich der Strafzweck aus strafrechtlicher Perspektive aus general- wie auch spezialpräventiven Theorien zusammensetzt, wendet sich die Evangelische Kirche in Deutschland gegen den Vergeltungsgedanken der generalpräventiven Theorie. Aus evangelischer Perspektive führt insbesondere der Versöhnungsgedanke zu einer Überwindung „des Bösen“, wobei Strafe dabei nicht selbst zur Versöhnung führt, sondern höchstens – wie der Titel der EKD-Schrift ausdrückt – „Tor zur Versöhnung“ ist.52

47 EKD, Strafe, 76. 48 Vgl. EKD, Strafe, 76ff. 49 In diesem Punkt unterscheidet sich die Stellungnahme der EKD von der katholischen Kirche, vgl. auch Funsch, Seelsorge, 258ff. 50 EKD, Strafe, 79. 51 Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland, Ich, 17f. 52 So auch schon zuvor Körtner, Strafe, 114.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

Interessant ist die Perspektive seitens der EKD auf den Strafzweck im Vergleich zur strafrechtlichen Perspektive. Während sich auf strafrechtlicher Perspektive deutlich der Schutz der Gesellschaft sowie das Vollzugsziel der Resozialisierung, d. h. ein Individuum wieder in die Gesellschaft einzugliedern, abzeichnet und damit der Fokus auf einer funktionierenden Gesellschaft liegt, nimmt die Institution Kirche auch die Auswirkungen auf das Individuum, als den Täter oder die Täterin, in den Blick. So fragt sie beispielsweise nach dem der Situation angemessenen Handeln. Die EKD billigt zwar Strafe zum Schutze der Gesellschaft, wendet sich aber eindeutig gegen jedweden Vergeltunsgedanken, der für den:die Gefangene:n nicht sinnführend wäre. Ihr Ansatz „Böses“ zu überwinden, geht entgegen der strafrechtlichen Perspektive auch nicht von abschreckenden und präventiven Maßnahmen aus oder einer Veränderung des Individuums allein, damit es wieder gesellschaftsfähig wird, sondern von dem Versöhnungsgedanken, sodass Individuum und Gesellschaft oder Opfer und Täter:in aufeinander zubewegt werden. Damit haben Institution Kirche und das Strafrecht in ihrem Ansatz völlig andere Vorstellungen dessen, wie mit Kriminalität umgegangen wird. Es agieren also zwei unterschiedliche Institutionen mit zwei unterschiedlichen Ansätzen und unterschiedlichen Perspektiven und Zielrichtungen an einem Ort – dem Gefängnis. Hinzu kommt nun eine dritte Perspektive nämlich diejenige Gefängnisseelsorgender selbst, die nicht mit dem Strafverständnis ihres Arbeitgebers oder demjenigen der Institution Gefängnis, in dem sie auch als Vollzugsbedienstete arbeiten, völlig übereinstimmen. 2.2.3

Strafzweck und Vollzugsziel aus der Perspektive Gefängnisseelsorgender

In der Wahrnehmung und Beurteilung einzelner Gefängnisseelsorgender vermischen sich unterschiedliche Ansichten von Strafzweck und Vollzugsziel. Es kann nicht behauptet werden, dass sie die Ansichten des EKD-Rates eins zu eins in ihren Arbeitsalltag übernommen hätten, auch wenn sie ihnen näherstehen, als denjenigen des Strafrechts. Aufschluss darüber geben die empirischen Studien des Kriminologen Alexander Funschs, der bundesweit Gefängnisseelsorger:innen u. a. zu ihrem Verständnis von Strafzweck und Vollzugsziel befragt hat.53 Diese Studien lassen Rückschlüsse darauf zu, wie sich Gefängnisseelsorgende in der tatsächlichen Praxis zu den unterschiedlichen Straf- und Vollzugsverständnissen positionieren.54

53 Funsch, Seelsorge. 54 Funschs Befragung ist nach meinem Forschungsstand der einzige Nachweis, der Rückschlüsse auf die dezidierte Wahrnehmung Gefängnisseelsorgender auf den Sinn von Strafvollzug und Strafe überhaupt zulässt. Die vorliegenden Erfahrungsberichte lassen eher Rückschlüsse auf die tatsächliche Umsetzung des Strafvollzugs zu (siehe Abschnitt 2.3.3).

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

Aus Perspektive Gefängnisseelsorgender sei die zentrale Aufgabe von Strafe die Resozialisierung von Täter:innen, sodass sie zukünftig straflos leben können.55 Des Weiteren solle Strafe die Allgemeinheit vor den Täter:innen schützen und das Vertrauen der Gesellschaft in die Rechtsordnung stärken.56 Kaum Beachtung findet die Abschreckung potenzieller Täter:innen57 und sehr gering – aber nicht ausgeschlossen – sei der Zweck der Vergeltung.58 Es gibt die Wahrnehmung, dass es Strafe als Ausdruck dafür gebe, dass sich Verbrechen nicht lohnen würden, aber ein „Verbrechen lohnt sich nur deshalb nicht, weil man erwischt worden ist.“59 Die Ergebnisse in Funschs Befragung der Vorstellung über das Strafvollzugsziel Gefängnisseelsorgender ähneln denjenigen der Befragung zu den Zielen des Strafzwecks.60 Eine leichte Steigerung bei den Zielen „Schutz der Allgemeinheit vor dem Täter“ sowie „Künftige Straflosigkeit/Resozialisierung des Täters“ lassen sich feststellen, während die anderen Ziele an Relevanz verloren.61 Daraus lässt sich zumindest schlussfolgern, dass sich Gefängnisseelsorgende in ihrem Verständnis des Strafzwecks sowohl von der strafrechtlichen als auch von dem der kirchlichen Ebene unterscheiden. Während auf strafrechtlicher Ebene die unterschiedlichen Strafzwecktheorien nebeneinanderstehen – Prävention und Vergeltung (s.o.) –, auf kirchlicher Ebene der Strafzweck insgesamt kritisiert, höchstens zum Schutz der Gesellschaft gebilligt und ihm ansonsten der Versöhnungsgedanke entgegengesetzt wird, ist unter Gefängnisseelsorgenden eine deutliche Abstufung zu erkennen: 1. Resozialisierung, 2. Schutz der Allgemeinheit, 3. Abschreckung. Gleichzeitig zeigt sich, dass Gefängnisseelsorgende Strafzweckverständnis und Vollzugszielverständnis aus beiden Perspektiven – der kirchlichen und der strafrechtlichen – unterschiedlich stark zustimmen. Sie haben nicht allein das evangelisch-kirchliche Verständnis übernommen, aber auch nicht allein das strafrechtliche. Die unterschiedliche Gewichtung zeigt darüber hinaus, dass Gefängnisseelsorgende sich auch untereinander in ihren Verständnissen unterscheiden, auch wenn es mehr Übereinstimmungen im Resozialisierungsgedanken und am wenigsten in dem der Abschreckung gibt.

55 Vgl. Funsch, Seelsorge, 297; Nafzger, Gefängnisseelsorge, 174f; vgl. Höbel, Was kommt nach dem „Drinnen“, 66. 56 Vgl. Funsch, Seelsorge, 296. 57 Vgl. Funsch, Seelsorge, 295. 58 Vgl. Funsch, Seelsorge, 294f. 59 Brandner, Gefängnisseelsorge, 400. 60 Viele befragte Gefängnisseelsorger:innen verstanden laut Funsch den Unterschied zwischen Strafzweck und Vollzugsziel in der Befragung nicht, woraus das Ergebnis auch zu erklären ist (vgl. Funsch, Seelsorge, 313). 61 Vgl. Funsch, Seelsorge, 313.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

2.2.4

Zwischenfazit

Sowohl Strafe als auch der Strafvollzug sind nicht das, womit sie sich zunächst assoziieren lassen. Selbst aus strafrechtlicher Perspektive bedeutet Strafe nicht zuerst – aber auch – Vergeltung und der Strafvollzug darf sich nur am Zweck der Resozialisierung orientieren, wobei diese eben auch nicht erzwungen werden kann. Als Ausgangspunkt der strafrechtlichen Perspektive hat sich der Fokus auf eine funktionierende Gesellschaft herausgestellt. Dagegen stellt sich die Ausgangsperspektive der EKD anders dar: Sie nimmt das Individuum, das heißt den Straftäter oder die Straftäterin besonders in den Blick. Damit ignoriert sie zwar nicht die Perspektive auf die Gesellschaft – so billigt sie zwar Strafe zum Schutze der Gesellschaft –, wendet sich aber eindeutig gegen jedweden Vergeltungsgedanken. Im Hintergrund steht dagegen der Versöhnungsgedanke. Gefängnisseelsorger:innen stehen mit ihrem Strafzweck- und Vollzugszielverständnis wiederum zwischen beiden Perspektiven der jeweiligen Institutionen. Sie haben nicht allein das evangelisch-kirchliche Verständnis übernommen – Strafkritik und Versöhnungsgedanken –, aber auch nicht das strafrechtliche – Prävention, Vergeltung und Resozialisierung –, sondern tendieren zumeist zum Resozialisierungsgedanken, dann zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten und zuletzt und am wenigsten zur Abschreckungsfunktion. Das Hintergrundverständnis derer, die tatsächlich in der Gefängnisseelsorge arbeiten, wird von beiden theoretischen Verständnissen derer Institutionen mitbeeinflusst, für die sie arbeiten und darüber hinaus von den je eigenen Wahrnehmungen. Faktisch positionieren sich Gefängnisseelsorgende damit zwischen einer weltlichen und einer kirchlichen Anschauung zur Strafe. Die Unterschiede zu den Positionen in dem Text des EKD-Rates aus dem Jahre 1990 mögen sich zusätzlich auch durch den zeitlichen Abstand erklären. Die Vermutung liegt nahe: Die Ansichten der Gefängnisseelsorgenden rühren daher, dass sie es sind, die tatsächlich ganz praktisch und alltäglich auf der Schwelle zwischen beiden Institutionen und in beiden Institutionen agieren, während die Institutionen selbst eher den theoretischen Rahmen schaffen, an dem sich die Praxis orientieren sollte – einmal mehr zeigt sich, dass die Praxis die Theorie „korrigiert“, insofern sich in der Praxis die Theorien zunächst an konkreten Situationen bewähren müssen. Im größeren Kontext, also dem „des Bösen“ und des Umgangs mit ihm, zeigt sich also an, dass nicht nur das, was als „böse“ bewertet wird, ganz unterschiedlich ist, sondern auch die Bewertung des Umgangs mit ihm. Das Strafverständnis schafft den übergeordneten Rahmen für den tatsächlichen Strafvollzug, der ebenfalls unterschiedlich wahrgenommen wird.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

2.3

Unterschiedliche Perspektiven auf den Kontext Gefängnis

Das Gefängnis ist der Ort, an dem Strafe umgesetzt, also vollzogen wird – der Strafvollzug. Was ist das für ein Ort, an dem Kriminelle eingeschlossen werden und von dem der Rest der Gesellschaft in aller Regel ausgeschlossen ist? Auch hier gibt es sehr unterschiedliche Perspektiven auf den Ort, in dem Delinquentgewordene inhaftiert sind. Die strafrechtliche Perspektive (2.3.1) zeigt, wie Strafvollzug eigentlich gedacht ist. Die seelsorgliche Perspektive (2.3.2) zeigt, vor welche Herausforderungen ihre kirchliche Institution in dieser anderen, strafrechtlichen Institution mit ihrem jeweiligen Arbeitsanliegen gestellt ist. Gefängnisseelsorgende haben darüber hinaus einen detaillierten Einblick in die Welt des Gefängnisses und der Gefangenen (2.3.3). 2.3.1

Die strafrechtliche Perspektive

Das Gefängnis liegt in der Regel außerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungsbereiches. Hier werden diejenigen eingesperrt, die der Gesellschaft nicht zuträglich sind, weil sie Verbrechen begangen haben. Es ist der Ort, an dem, von außen betrachtet, die Stigmatisierungen „des Bösen“ nicht bloße Worte bleiben, sondern Wirklichkeit werden – „die Bösen“ gehören ins Gefängnis. Auf das Urteil: „der:die Kriminelle“ folgt nach der offiziellen Schuldigsprechung vor Gericht die konsequente Handlung als Überführung ins Gefängnis. Was für ein Ort ist das Gefängnis? Im Folgenden wird dargestellt, wie das Strafrecht den Kontext des Gefängnisses vorsieht. Es wird sich zeigen, dass mehr hinter dem Konzept „Strafvollzug“ steht als ein bloßes Wegsperren. Der strafrechtlich geregelte Vollzug ist daran interessiert, Möglichkeiten im Sinne der Resozialisierung im Gefängnis zu schaffen. Für Gefängnisseelsorgende ist das Gefängnis ihr täglicher Arbeitsplatz. Um hinter die Straftat auf die individuelle Person blicken zu können, ist es wichtig, den:die Gefangene:n in ihrem Kontext wahrzunehmen. Das heißt: auch in ihrem je aktuellen Kontext. Denn andernfalls würde der Mensch – durch die Beschränkung der Beschäftigung mit der Straftat – auf seine Straftat, auf „sein Böses“ beschränkt. Der Gefängnisalltag will von Gefangenen und Bediensteten jedoch auch bewerkstelligt und der Kontext, in dem sie sich gerade bewegen, im Rahmen der Möglichkeiten gestaltet werden. Das bringt genauso Fragen nach Lebensgestaltung, Bedeutung und Konfliktbewältigung mit sich, wie es sie in der Welt außerhalb der Gefängnismauern gibt. Gefängnisseelsorgende müssen sich also mit den Besonderheiten und Allgemeinheiten der Institution Gefängnis auskennen.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

Der Haftantritt stellt für viele ein traumatisches Erlebnis dar.62 Gefangene werden nicht nur aus ihrer gewohnten Umwelt ausgegliedert, sondern verlieren auch ihre bisherige gesellschaftliche Position. Sie haben sich in ein fremdbestimmtes System einzufügen, wobei besonders im Aufnahmeverfahren „der Statuswandel mit Prozeduren der Entpersönlichung beginnt“63 . Die:der Gefangene muss sich entkleiden, wird körperlich durchsucht, muss seine:ihre mitgebrachte Habe abgeben und diejenigen Gegenstände aushändigen, die während der Haftzeit unzulässig sind. Anschließend muss die:der Gefangene sich Prozeduren der Reinigung und Desinfektion unterziehen und wird ggf. mit uniformer Anstaltskleidung eingekleidet. Das Aufnahmeverfahren wird mit einer Vorstellung bei der Anstaltsleitung oder von ihr bestimmten Vollzugsbediensteten abgeschlossen. Hier wird der:die Inhaftierte über seine:ihre Rechte und Pflichten informiert. Gemäß § 5 Abs. 2 StVollzG haben Gefangene ein Recht auf Informationen, um am Vollzugsziel mitwirken zu können.64 An das Aufnahmeverfahren schließt sich die Behandlungsuntersuchung an – mit dem Ziel, eine psycho-soziale Diagnose zu stellen, an der sich die Aufstellung des Vollzugsplans orientieren soll.65 Die Unterbringung der Strafgefangenen soll den Rahmen bilden, innerhalb dessen rückfallverhütende Maßnahmen hinsichtlich des Vollzugsziels ausgestaltet werden sollen. Es ist dabei zwischen offenem und geschlossenem Vollzug zu unterscheiden. Entscheidend dabei ist der Grad der Sicherheitsvorkehrungen. Der geschlossene Vollzug sieht „eine sichere Unterbringung vor“ (§ 141 Abs. 2 StVollzG), während im offenen Vollzug „keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen“ (§ 141 Abs. 2 StVollzG) vorhanden sind. „Im offenen Vollzug können bauliche und technische Sicherungsvorkehrungen, insbesondere Umfassungsmauer, Fenstergitter und besonders gesicherte Türen, entfallen. Innerhalb der Anstalt entfällt in der Regel die ständige und unmittelbare Aufsicht“ (VV zu § 141 StVollzG). Aufgrund des Art. 1 Abs. 1 GG ist die geforderte Achtung der Menschenwürde auch für schuldbeladene Menschen – Strafgefangene – verpflichtend, was die Unterbringung in den Hafträumen beeinflusst.66 Das betrifft beispielsweise die Unterbringung mehrerer Gefangener in einem Haftraum. Es gibt das Prinzip der Einzelhaft. Aufgrund von Überbelegung ist es funktional nicht immer möglich, dieses Prinzip zu realisieren. Die Anstaltsleitung muss die Auswahlentscheidungen

62 63 64 65 66

Vgl. Hagenmaier, Seelsorge, 216. Laubenthal, Strafvollzug, 219 [original: fett]. Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 217–219. Vgl. dazu Laubenthal, Strafvollzug, 220–224. Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 266.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

für eine gemeinschaftliche Unterbringung Strafgefangener dem Strafvollzugsgesetz und dem Vollzugsziel entsprechend nachvollziehbar treffen.67 Allerdings kann eine „bloße gemeinsame Unterbringung ohne Vorliegen der gesetzlich normierten Ausnahmekriterien vom Prinzip der Einzelhaft […] ohne Hinzutreten erschwerender, den Gefangenen benachteiligender Umstände noch nicht als Verstoß gegen Menschenwürde angesehen werden. Wann eine Verletzung der Menschenwürde durch Unterschreiten etwa einer bestimmten Haftraummindestgröße infolge Mehrfachbelegung vorliegt, ist nicht eindeutig geklärt“68 .

Die Kriterien sind Ländersache. Als Maßstab gelten z. B. die Abtrennung und Entlüftung von Toiletten. Der OLG Karlsruhe zufolge verstößt „die dauerhafte Unterbringung zweier Strafgefangener in einem gemeinsamen Haftraum nicht gegen die Menschenwürde, wenn dieser über eine Größe von 9m2 verfügt und mit einer räumlich abgetrennten und durch eine Tür verschließbare Nasszelle mit Toilette und Waschbecken von 1,3m2 Grundfläche ausgestattet ist.“69

Der Haftraum Gefangener soll dem Angleichungsgrundsatz gemäß den allgemeinen Lebensverhältnissen möglichst entsprechen. § 144 StVollzG verpflichtet zu einer wohnlichen bzw. zweckentsprechenden Ausgestaltung, § 19 StVollzG gibt dem:der Inhaftierten ein Recht auf Ausstattung seines:ihres Haftraums in angemessenem Umfang mit eigenen Sachen. Damit sind weder ein bestimmter Haftraum noch eine bestimmte Ausstattung gemeint. Die entsprechenden Paragraphen geben der Insassinnen und Insassen keine subjektiven Rechte, sondern richten sich an die Vollzugsbehörde: sie hat dafür Rechnung zu tragen, dass die Unterbringung „keine besondere Übelzufügung bedeuten darf.“70 Eine Vollzugsanstalt muss über viele verschiedene Räumlichkeiten verfügen, um den Gestaltungsbereichen des Anstaltslebens zu entsprechen. Neben Räumen für die Unterbringung während der Ruhezeit muss es solche für Arbeit, Aus- und Weiterbildung, für Freizeit und Sport, für therapeutische Maßnahmen, Seelsorge und Besuche geben. Die Vollzugsbehörde ist verpflichtet, die Räumlichkeiten dem Zweck des Angleichungsgrundsatzes möglichst den allgemeinen Lebensbedingungen entsprechend auszustatten (§ 144 Abs. 1 StVollzG). 67 Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 268. 68 Laubenthal, Strafvollzug, 267; Tietze, Rückblick, 252 spricht von „wenige[n] Quadratmeter[n], die [die Zelle, Anm. v. Inderst] alles zugleich ist: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Raum für die Einnahme der Mahlzeiten und für die erlaubten Hobbies wie etwa Malen, Schreiben lesen.“ 69 OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2005, 156. 70 Laubenthal, Strafvollzug, 265f.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

Das Vollzugsziel der Resozialisierung bedingt gleichermaßen die Bauweise der Justizvollzugsanstalten. Sie sind „gemäß den Prinzipien der Strafvollzugsgesetze nach sozialisationsorientierten Gesichtspunkten zu errichten.“71 Es gibt allerdings keine genauen Bauvorschriften.72 Im Strafvollzug gibt es verbindliche Tageseinteilungen. Generell richten sich die Tageseinteilungen nach den Phasen der Arbeitszeit, Freizeit und Ruhezeit (§ 82 Abs. 1 S. 1 StVollzG), wobei die genaue zeitliche Verteilung der Hausordnung der jeweiligen Anstalt unterliegt.73 Durch die jeweilige Phase ist auch die Unterbringung der Gefangenen bedingt, „wobei die Gesetze sich an den Grundzügen ihrer Regelungen an den üblichen Verhältnissen in der Gesellschaft orientieren.“74 So liegt die Arbeitsphase außerhalb der Einschlusszeit, was bedeutet, dass sich Gefangene i.d.R. in Gemeinschaft aufhalten dürfen (§ 12 Abs. 1 StVollzG M-V).75 In der Freizeit haben Gefangene die Wahl zwischen Alleinsein und Gemeinschaft (§ 17 Abs. 3 Nr. 3 StVollzG). Dabei haben Gefangene kein Recht, ihre gesamte Freizeit in Gemeinschaft verbringen zu können, sondern nur den Anspruch auf gemeinsame Freizeit an sich. Das heißt, in Vollzügen ohne Wohngruppenvollzug haben Gefangene weder das generelle Recht auf Aufschluss noch auf Umschluss; letzteres meint, mit mehreren Gefangenen für eine bestimmte Zeit in der Zelle eines Mitgefangenen eingeschlossen zu sein.76 Gefangene werden dazu angehalten und motiviert, an Freizeitangeboten teilzunehmen (§ 67 S. 1 StVollzG). Diese beinhalten sportliche, kulturelle und Bildungsangebote, und in manchen Bundesländern das Angebot einer Mediathek und Bibliothek.77 In der Ruhezeit werden die Gefangenen aufgrund der Sorge vor subkulturellen Einflüssen sowie aufgrund der Wahrung der Intimsphäre eingeschlossen. Für den offenen Vollzug ist Gemeinschaft auch während der Ruhezeit möglich, sofern keine Gefahr schädlicher gegenseitiger Beeinflussung besteht und die Zustimmung Betroffener erfolgt ist (§ 18 Abs. 2 S. 2 StVollzG).78

71 Laubenthal, Strafvollzug, 255. 72 Gefängnisse, die vor dem ersten Weltkrieg gebaut wurden, symbolisieren noch die damaligen Vollzugsziele der wirkungsorientierten Abschreckung sowie der Isolation und Distanz. Nach „innen geprägt durch den Grundsatz der Zellenisolierung, zur besseren Überwachbarkeit häufig in panoptischer Bauweise; nach außen hin durch Gitter und Mauern, welche Sicherheit vor Gefährlichem sowie Ausgrenzung symbolisieren. Solche alten Gefängnisbauten mussten und müssen durch neue ersetzt bzw. […] umgebaut werden“ (Laubenthal, Strafvollzug, 255). 73 Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 260. 74 Laubenthal, Strafvollzug, 260. 75 Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 261. 76 Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 262. 77 Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 435; vgl. Tietze, Rückblick, 252. 78 Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 263.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

Gefangene sollen soziale Kontakte zur Außenwelt haben; sie dienen „einer zumindest partiellen Angleichung des Daseins innerhalb der Anstalt an die allgemeinen Lebensverhältnisse.“79 So erhält der „auf Kommunikation mit anderen angelegte und angewiesene Mensch […] die Möglichkeit, bestehende Beziehungen aufrechterhalten zu können.“80 Darüber hinaus soll Kommunikation den „schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenwirken.“81 Denn der bewirkt eine Entfremdung vom Leben in Freiheit wie von den Bezugspersonen und Angehörigen.82 Persönliche Beziehung erhöhen hingegen die Chancen einer gesellschaftlichen Wiedereingliederung.83 Kommunikationsformen sind der Empfang von Besuchen, Telekommunikation, Schriftwechsel und Paketverkehr. Aus dem Recht auf Schriftwechsel (§ 28 Abs. 1 StVollzG) folgt ein Anspruch der Gefangenen auf Schreibmaterial, das ihnen kostenlos zur Verfügung gestellt werden muss, wobei Portokosten selbst übernommen werden müssen (VV Nr. 2 zu § 28 StVollzG). Schriftwechsel erfolgt auf dem Weg der Vermittlung über die Anstalt (§ 30 Abs. 1 u. 2 StVollzG). Sind Sicherheit und Ordnung gefährdet, können Anstalten den Briefwechsel untersagen (§ 28 Abs. 2 StVollzG). Außerdem dürfen sie den Schriftwechsel überwachen (§ 29 Abs. 3 StVollzG), d. h. die Texte kontrollieren, um Gefahren für das Erreichen des vollzuglichen Sozialisationsauftrags abzuwehren. Davon ausgenommen sind Schriftwechsel mit Strafverteidiger:innen, die niemals geöffnet und kontrolliert werden dürfen (§ 29 Abs. 1 S. 1 StVollzG).84 Pakete, die Nahrungs- und Genussmittel enthalten, dürfen nur dreimal pro Jahr (Weihnachten, Ostern und zu einem beliebig anderen Zeitpunkt) in angemessenen Abständen empfangen werden (§ 33 Abs. 1 StVollzG), weil sie einen hohen organisatorischen und personellen Aufwand verursachen.85 Aus überwachungstechnischen Gründen dürfen die Weihnachtspakete ein Gewicht von 5kg nicht überschreiten, die anderen Pakete 3kg (VV Nr. 2 Abs 1 zu § 33 StVollzG). Der Paketinhalt wird auf verbotene Gegenstände hin untersucht (VV Nr. 7 Abs. 1 zu § 33 StVollzG) und bestimmte Gegenstände sind vom Empfang ausgeschlossen (§ 33 Abs. 1 S. 4 StVollzG). Gefangene haben ein Recht auf regelmäßigen Besuchsempfang (§ 24 Abs. 1 S. 1 StVollzG). Die Mindestbesuchszeit ist länderabhängig geregelt und liegt zwischen 1–4 Stunden pro Monat. Besuche von Angehörigen und insbesondere von Kindern, die unter der Trennung besonders leiden, werden besonders gefördert (§ 26 Abs. 2 StVollzG M-V). Allerdings kann die Anstalt auch Besuchsverbot, Durchsuchung

79 80 81 82 83 84 85

Laubenthal, Strafvollzug, 346. Laubenthal, Strafvollzug, 346. Laubenthal, Strafvollzug, 346. Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 346. Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 347. Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 348–355. Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 362.

81

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der Besucher:innen, Überwachung und Besuchsabbruch erlassen, wenn Sicherheit und Ordnung gefährdet sind (§ 25 StVollzG; § 24 Abs. 3 StVollzG; § 27 Abs. 1,2 StVollzG).86 Im Strafvollzug besteht Arbeitspflicht. Arbeit und Bildung dienen der beruflichen und sozialen Integration, d. h. dem vollzugszielorientierten Behandlungsprozess. Die berufliche Qualifikation wird verbessert, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit erprobt, soziale Verantwortung, Selbstbewusstsein, Leistungsfähigkeit und -bereitschaft gefördert.87 Die Insass:innen des Strafvollzugs haben ein Recht auf religiöse Veranstaltungen, auf Seelsorge und auf einen angemessenen Besitz religiöser Gegenstände. In letzter Konsequenz entscheiden die Seelsorgenden, ob ein:e Gefangene:r zu religiösen Veranstaltungen zugelassen oder ausgeschlossen wird (StVollzG §§ 53,54). Gesetzgeber erhoffen sich davon „sittliche Besserung und moralische Herzensbildung“88 , Gefangene nutzen das Angebot häufig als Alltagsabwechslung. Untereinander wird dies als „schlau und gescheit interpretiert“89 , während wahre Frömmigkeit „eher negativ sanktioniert“90 wird. Es zeigt sich, dass der rechtlich geregelte Strafvollzug sich an dem Vollzugziel der Resozialisierung orientieren soll. Am vorgesehenen Umgang mit kriminell gewordenen Menschen wird deutlich, dass sie nicht einfach weggesperrt werden sollen. Ihnen soll vielmehr menschlich begegnet werden und darauf hingearbeitet, dass sie in die Gesellschaft zurückkehren und dort ein möglichst straffreies Leben führen. Allerdings unterscheidet sich der Ort des Gefängnisses auch von anderen Orten totaler Institutionen, wie dem Krankenhaus. Folglich werden auch kritische Stimmen laut, die eine erfolgreiche Resozialisierung unter den Rahmenbedingungen des Strafvollzugs anzweifeln. Sie nehmen wahr, dass Vollzugsanstalten Kontrolle und Funktionalismus zu ihren zentralen Gestaltungsmechanismen machen. Das betrifft den Tagesablauf sowie die Vereinheitlichung der Gefangen durch „Anstaltskleidung, Wäschetausch, Duschen, Wecken, Aufenthalt im Freien, Besuchsreglementierung, drastische Einschränkungen privaten Besitzes“91 . Dies führe zur „faktische[n] Entmündigung der Insassen“92 , was sich auf die zwischenmenschliche Kommunikation sowie die individuelle Entwicklung auf psychischer und emotionaler Ebene auswir-

86 87 88 89 90 91 92

Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 368–379. Vgl. Laubenthal, Strafvollzug, 275. Girtler, Lebenswelt, 74. Girtler, Lebenswelt, 74. Girtler, Lebenswelt, 74. Beckmann, Lebenslagen, 81. Beckmann, Lebenslagen, 81.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

ken könne. Es wird angezweifelt, ob ein Leben innerhalb einer „totalen Institution“93 zu einem verantwortungsvollen Leben danach führt. Demnach nähmen Vollzugsanstalten keinen effektiven Einfluss auf die Lebenstüchtigkeit Gefangener nach ihrer Entlassung.94 Eine Überforderung im Umgang mit „Bösem“ wird schon aus strafrechtlicher Perspektive deutlich. Einerseits kann man straffällig Gewordene, die gesellschaftliche Regeln verletzt haben und damit ein friedliches Zusammenleben stören, nicht einfach ungestraft lassen; sie müssen (zeitweise) aus dem gesellschaftlichen Umfeld herausgenommen werden. Andererseits hat der Strafvollzug nur begrenzte Möglichkeiten, angestrebte Resozialisierung auch tatsächlich zu ermöglichen.95 2.3.2

Die Perspektive der Seelsorge – zwei Institutionen treffen aufeinander

Seelsorge im Gefängnis geschieht auf der „Schwelle zwischen Drinnen und Draußen“96 in einer Reihe von Varianten97 : Gefängnisseelsorgende „sind Grenzgänger zwischen der Welt ausserhalb und der Welt innerhalb der Gefängnismauern.“98 Seelsorger:innen gehören von Amts wegen und auch privat zur Gesellschaft draußen. Als Institution in der Institution gehören sie aber auch zur „Drinnen-Welt“. Diese Position Gefängnisseelsorgender ist konfliktbehaftet, denn § 155 Abs. 2 StVollzG zufolge sind Seelsorger:innen der Berufsgruppe der Vollzugsbediensteten zugeordnet, die beauftragt sind, gemeinsam an dem Ziel der Erfüllung des Vollzugziels zu arbeiten (§ 154 Abs. 1 StVollzG). An einigen der Zielsetzungen des Strafvollzugs nimmt Seelsorge teil, wenn sie in dieser Institution arbeitet und damit Teil dessen ist.99 Dennoch sind Seelsorger:innen als Pfarrer:innen Beamt:innen einer Landeskirche – und nicht des Landes –, sodass den Verpflichtungen der Zusammenarbeit mit Bediensteten der Anstalt Grenzen gesetzt sind. Hier liegt ein

93 Goffman, Asyle, 13ff. 94 So z. B. Beckmann, Lebenslagen, 80. 95 Drexler, Gefangenen, 172 schreibt dazu, man könne „das Gefängnis […] als eine Institution bezeichnen, in der (potenziell) gefährliche, sprich: gewalttätige, betrügerische oder in anderer Weise für die Gesellschaft untragbare Individuen (verurteilte Verbrecher/innen) eingeschlossen werden, was gleichzeitig bedeutet, dass sie aus dem gesellschaftlichen Leben (fast gänzlich) ausgeschlossen sind.“ 96 Günther, Seelsorge, 312. 97 Im Folgenden orientiere ich mich in erster Linie an Rehm, Kirche. Johannes Rehm ist Pfarrer und apl. Professor für Praktische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er arbeitete mehrjährig als nebenamtlicher Gefängnisgeistlicher an der JVA Erlangen und begleitete einen ehrenamtlichen Helferkreis, der Inhaftierte der JVA Bamberg und Ebrach besuchte und mit ihnen freizeitpädagogisch arbeitet (vgl. Rehm, Kirche, 257). 98 Rehm, Kirche, 249. 99 Vgl. Hagenmaier, Zwei, 55; vgl. ders., Seelsorge, 218.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

Konfliktpotential zwischen Bediensteten und Seelsorgenden, weil für letztere das Gebot der „Sicherheit und Ordnung“ nicht zwangsläufig das höchste ist.100 Dennoch ist Seelsorge nicht völlig abgekoppelt vom System und von dem Vollzugsziel des Strafvollzuges. Um das gesetzlich verankerte Vollzugsziel nicht zu verfehlen, müssen Gefängnisseelsorgende sich bis zu einem gewissen Grad in das System integrieren. Beispielhaft dafür ist u. a. der Umstand, dass viele Gefängnisseelsorger:innen in Besitz der Schlüssel sind, sodass sie eine gewisse Verantwortung für Sicherheit übernehmen.101 Im Gefängnis müssen sich Seelsorgende in die stark strukturierten Abläufe einfügen, die insbesondere über das Verhalten der Gefangenen und die Rolle der Beamt:innen bestimmen, aber teilweise auch über die der Gefängnisseelsorger:innen. Durch ihre gesetzliche Zuordnung zur Berufsgruppe der Vollzugsbediensteten haben Gefängnisseelsorgende die Mitarbeit am Vollzugsziel zur Aufgabe. Gleichzeitig haben sich hauptamtliche Gefängnispfarrer:innen in ihrer Ordination auf Schrift und Bekenntnis verpflichtet. Deshalb haben sie v.a. auch pastorale Aufgaben von ihrem Glaubensbekenntnis her zu erfüllen: an den Gefangenen, dem Vollzugspersonal und auch an der Institution Gefängnis. Die EKD positionierte sich bereits 1979 neben dem Strafgeschehen, mit dem sie sich nicht identifiziert, sondern sie möchte dabei helfen, es zu verarbeiten. Auf diese Weise nimmt sie ihre Verantwortung im Justizvollzug wahr.102 Ihre Arbeit, die unter dem Leitbild der „Versöhnung“103 steht, führt auch dazu, dass sie die Institution Gefängnis kritisch wahrnimmt, „wo diese dazu neigt, sich in ihrem Anspruch an die ihr anvertrauten Menschen zu verabsolutieren und damit unmenschlich zu werden.“104 Davon sind Gefängnisseelsorgende mitbetroffen.105 Es entstehen also immer wieder Interessengegensätze, die Konfliktpotential bergen. Gerade dann, wenn Seelsorge über die rechtlich festgeschriebene, freiheitliche Religionsausübung (Gottesdienste, Sakramente) hinausgeht und nicht dezidiert religionskultisch, sondern beispielsweise diakonisch arbeitet, „wird sie immer wieder mit dem normativen Anspruch der ,totalen Institution‘ konfrontiert.“106 Seelsorger:innen wird in solchen Fällen zum Vorwurf gemacht, sich in die Rolle eines

100 Vgl. auch Merzyn, Lebenslange, 352. 101 Vgl. Merzyn, Lebenslange, 352. Ihnen kommt darüber hinaus Macht zu, denn Schlüsselträger:innen haben die Macht des Auf- und Einschlusses, während die Gefangenen demgegenüber machtlos sind. 102 Vgl. EKD, Seelsorge in Justizvollzugsanstalten; vgl. Rehm, Kirche, 254f. 103 Das expliziert auch der Titel der EKD-Denkschrift zum Strafvollzug „Strafe: Tor zur Versöhnung?“. 104 Rehm, Kirche, 255. 105 Vgl. Rehm, Kirche, 255 mit Hinweis auf Peter Rassow, dessen Arbeitsbuch nicht von ungefähr den Titel „Seelsorger eingeschlossen“ trägt. 106 Rehm, Kirche, 254.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

Fürsprechers oder einer Fürsprecherin der Gefangenen zu begeben, was in Spannung zu ihrer rechtlichen Stellung stehe und den reibungslosen Anstaltsablauf gefährden könne. Für die Bedürfnisse Einzelner ist wenig Platz und Seelsorger:innen bemühen sich darum, ab und an Freiräume in den festen und vorgegebenen Lebensstrukturen Gefangener zu schaffen. Fordern Seelsorgende solche ein, werden sie häufig als „Störfaktor“107 empfunden. Seelsorgende im Gefängnis sind jedoch nicht nur Gefangenenseelsorger:innen, sondern auch Gefängnisseelsorger:innen, wodurch sie auch für das Gefängnispersonal ansprechbar sind. Dadurch stehen Seelsorger:innen im Gefängnis häufig zwischen gegensätzlichen Erwartungen – denjenigen Gefangener und denjenigen Bediensteter. Seelsorgende sind jedoch auf das Vertrauen der Gefangenen und auch das der Bediensteten angewiesen – und das in einem Umfeld, in dem ein Klima des Vertrauens durch die streng schematischen Abläufe, durch Kontrolle und Grenzensetzung schwierig herzustellen ist.108 Hilfreich ist auch hier, sich von jedweder Stigmatisierung zu lösen. Genauso wie die Gefangenen aus ihren Kontexten heraus wahrgenommen nicht „die Bösen“ sind, ist auch das Personal nicht mit der Institution gleichzusetzen. „Mancher lästige Entscheidungs- und Solidarisierungsdruck auf den Anstaltsgeistlichen von Seiten der Wachleute zielt nicht nur darauf ab, den Gefängnispfarrer im Sinne des Systems funktionieren sehen zu wollen, sondern stellt ein Hilferuf dar bezüglich eines schwierigen Dienstes, der sich auch bei den Vollzugsbeamten in der Dynamik von gesetzlichen Vorgaben und eigenen mitmenschlichen Impulsen zu vollziehen hat.“109

Es sind auch hier Einfühlungsvermögen, Zeit und Geduld gefordert, um eine Vertrauensbasis aufzubauen. Um mit einem Gefängnisseelsorger oder einer Gefängnisseelsorgerin ins Gespräch zu kommen, müssen Inhaftierte einen Antrag stellen. Gefängnisseelsorgende berichten von 20–30 Anfragen pro Woche und mehr.110 Schon das Anfragen bedeutet dann ein Stück Autonomie und schafft Raum für einen freiwilligen Austausch. Diese Freiwilligkeit in diesem sonst stark strukturierten System bildet eine andere Grundbasis für Beziehung. Dem voraus gehen meist andere Begegnungen mit dem:der Gefängnispfarrer:in, im Zusammenhang mit einer anderen ihrer Aufgaben. So findet eine Erstbegegnung häufig während des Gottesdienstes statt. Gefangene besuchen ihn nicht unbedingt

107 108 109 110

Rehm, Kirche, 255. Vgl. Rehm, Kirche, 257. Rehm, Kirche, 257. Vgl. Windischer, Gefängnis, 201.

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aus religiösem Interesse, sondern weil er einen Freiraum und Abwechslung vom Vollzugsalltag bietet. Ein:e Gefangene:r kann die Entscheidung – anders als sonst – völlig frei treffen, ob er am Gottesdienst teilnehmen möchte oder nicht. „Zum anderen nun erfährt er [der:die Gefangene, Anm. v. Inderst] sich im Gottesdienst durch die Botschaft vom gefangenen und leidenden Gottessohn als ein vom Heilswillen Gottes getragener Mensch. Auch wenn der Gefangene dies natürlich kaum selbst dogmatisch präzise ausdrücken könnte, so nimmt dennoch auch der in der Tradition Unkundige gerade an diesem Ort sehr schnell den befreienden Zuspruch wahr.“111

Darüber hinaus gibt es auch Versuche, den Gottesdienst als Freiraum für Schmuggeln von Briefen und andere verbotene Interessen zu nutzen, weil es für Gefangene schwer sein kann, Freiheit von einer Übertretung von Vorschriften zu unterscheiden. Pfarrer:innen stehen vor der Herausforderung, an dieser Stelle Grenzen zu setzen, ohne sofort das Vertrauen zu verspielen.112 Neben dem Gottesdienst gibt es auch alltäglichere Anknüpfungspunkte, die beispielsweise in der Bitte um ein Telefongespräch mit Familienangehörigen, um Briefmarken, Tabak oder ein Halskettchen mit Kreuz bestehen. Doch „hinter dem scheinbar harmlosen Anknüpfungspunkt verbirgt sich der Wunsch nach einem tiefgehenden Gespräch.“113 Ein Gespräch findet auf Wunsch und Antrag entweder in der Zelle des:der Inhaftierten statt oder im Sprechzimmer der Seelsorgerin oder des Seelsorgers. Seelsorge im Gefängnis ist also vom Rahmen, in dem sie stattfindet, deutlich unterschieden von anderen Seelsorgeorten – der Gemeinde und dem Krankenhaus – und changiert auf einem schmaleren Grad zwischen Vertrauen und Misstrauen, zwischen Wahrnehmen und wahrgenommen werden als „böse“ und „gut“. In ihren Grundtätigkeiten – Wort, Sakramente und v.a. Gespräch – unterscheidet sie sich nicht vehement von anderen Orten der Seelsorge. Der Ort der Seelsorge – die Institution Gefängnis – verschärft jedoch Aufgaben und Rolle Seelsorgender. „Die Erfahrungen in einer ‚totalen Institution‘ lassen kein Ausweichen zu. Sie lehren die Seelsorger und Seelsorgerinnen, deutliche Akzente zu setzen. Sie müssen sich selbst, ihre Überzeugungen und ihren eigenen Lebensgrund im Gefängnisleben offen vertreten, um vertrauenswürdig zu sein.“114

111 Rehm, Kirche, 258. 112 Vgl. Rehm, Kirche, 258, wobei „tiefgehend“ zu relativieren ist. Andere Seelsorger:innen berichten davon, wie sie auch nur für ein lockeres Gespräch zur Abwechslung angefragt werden, worauf später eingegangen wird. 113 Rehm, Kirche, 259. 114 Rehm, Kirche, 261.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

Schon aus der Sicht der beiden Institutionen – Strafvollzug und Kirche – zeigen sich unterschiedliche Perspektiven auf die Institution Gefängnis und auch auf die jeweils andere Institution an. Es wäre zu kurz gegriffen zu behaupten, der Strafvollzug bestrafe schuldig gesprochene Menschen. Dagegen sieht das Recht vor, den Strafvollzug an dem Vollzugsziel der Resozialisierung auszurichten. Die entsprechenden Paragraphen verweisen auf die entsprechend vorgeschriebene Umsetzung, die allerdings, auch unter Strafrechtler:innen kritisch wahrgenommen wird. Es bestehen angesichts des Eingreifens in die physische und psychische Freiheit von Individuen berechtigte Zweifel, ob die entsprechenden Maßnahmen tatsächlich die Resozialisierung fördern. Diese Diskrepanz zwischen Sollen und Sein verweist auf eine grundsätzliche Überforderung, mit Menschen umzugehen, die einer Gesellschaft mit ihren entsprechenden Regeln des Zusammenlebens nicht zuträglich sind. Welche Alternative gibt es? Menschen, die dieses Zusammenleben gefährden, einfach gewähren lassen ist keine Alternative. Aus funktionalen Gründen scheinen Gefängnisse und ihre Strukturen anders kaum realisierbar. Interessant ist auch die Sicht des Strafrechts auf die Funktion der Seelsorge, nämlich die der sittlichen und moralischen Besserung. Abgesehen davon, dass sich damit der Wunsch nach Mithilfe Seelsorgender an dem Resozialisierungsgedanken äußert, steht dahinter ein Bild der Funktion von Kirche, die ihr seit je zugeschrieben wird: Kirche als moralische Instanz. Abgesehen davon, dass selbst Gefangene Seelsorger:innen nicht aus dem Interesse heraus anfragen, sich moralisch bessern zu wollen, stellt auch die Institution Kirche ein anderes Interesse in den Mittelpunkt ihres Auftrags: Versöhnung. Sie positioniert sich dabei neben den Resozialisierungsgedanken und wirkt, so muss man schlussfolgern, insofern an ihm mit, als dass sie ihn nicht behindert bzw. zu ihm gegenläufig agieren würde. Sollte die Seelsorge nebenbei der Resozialisierung, in dem was sie tut, zuarbeiten, ist dies erfreulich, ihr eigentlicher Auftrag besteht von kirchlich-institutioneller Seite jedoch nicht darin. Darüber hinaus – und hierin ist sie doch kritisch und stößt damit wiederum auch auf Kritik – versucht sie dem Gefängnis, also der Gefangenschaft, entgegenzuwirken, indem sie im Rahmen des Möglichen Freiräume und Abwechslung schafft. Schon darin zeigt sich die kirchliche kritische Haltung gegenüber dem umgesetzten Strafvollzug. 2.3.3

Perspektiven Gefängnisseelsorgender

2.3.3.1 Gefängnis und Gefangene

Gefängnisseelsorger:innen ergänzen durch ihre Wahrnehmung des Strafvollzugs das Verständnis von ihm: So entwickele sich, trotz der äußeren Rahmenbedingungen und der ständigen Kontrolle innerhalb des geschlossenen sozialen Systems

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

eine eigene Subkultur.115 In ihr existiere eine ganz eigene Hierarchiestruktur und Sprache.116 Es handle sich im Gefängnis „um eine hochmanipulative überwiegend männliche Umgebung, verstärkt durch Suchtdruck und unterirdische Dealerei. […] Nichts besitzt einen Eigenwert. Beziehungen werden zum Tauschhandel oder zum Erreichen des Ziels genutzt, die Institution zu bekämpfen, zu ertragen, zu hintergehen, sie sich untertan zu machen oder wenigstens nicht allzu sehr unter ihr zu leiden.“117

Neben der ausgeübten Umgangssprache leitet sich der Knastjargon teilweise aus dem alten „Rotwelsch“118 ab.119 Die Sprache hängt auch von den jeweiligen Milieus ab, die im Gefängnis aufeinandertreffen, sodass beispielsweise Worte aus der Drogenszene verwendet werden. Wenn ein Gefangener nach einem „Koffer“ fragt, meint er ein Päckchen Tabak. Verlangt er nach einer „Bombe“, ist ein Glas mit löslichem Kaffee gemeint.120 „Bello“ ist das WC in der Zelle; „peikern“ meint: tätowieren, „Muschi“ ist der Begriff für einen Gefangenen, der in der Hierarchie weit unten steht und Arbeit für andere Gefangenen erledigen muss, „Sitte/Sittich“ bezeichnet eine:n Sexualstraftäter:in. Auf die Relevanz der Wahrnehmung von Sprache und der Verwendung sowie dem Verständnis von Symbolen wird später zurückzukommen sein (siehe Kapitel 4.1). Die Sprache bildet also auch Aspekte der Hierarchiestrukturen ab. Die Position eines Gefangenen ist abhängig von Kontakten, Geld, verbalem und körperlichem Durchsetzungsvermögen. Gefangene kennen sich oft von draußen und bringen die Hierarchie der Straße mit. Je mehr Leute man kennt, desto höher ist die Rangordnung. Es wird deutlich, dass in der Subkultur „Gefängnis“ andere Normen und Werte gelten: Während beispielsweise außerhalb der Gefängnismauern Bildungskriterien eine große Rolle spielen und Bildung ein gesellschaftlich anerkannter Wert zukommt, haben es im Gefängnis diejenigen schwerer, die durch eine gepflegte Sprache auffallen.121 Begangene Delikte spielen keine Rolle bei der Bewertung, außer bei Sexualstraftätern, die innerhalb des Gefängnisses „ein Martyrium“ erleben. Diejenigen, die in der Rangliste oben stehen, schikanieren die unteren, indem ihnen teure Dinge abgegeben werden müssen (Tabak, Kaffee), indem sie Gewalt

115 116 117 118

Vgl. Girtler, Lebenswelt, 69. Rehm, Kirche, 250. Hagenmaier, Seelsorge, 214. Dieser Begriff umfasst sondersprachliche Soziolekte gesellschaftlicher Randgruppen. Schotter=Münzgeld; Schickse=Mädchen/Frau; malochen=arbeiten; Spanner=Zuschauer. 119 Vgl. Girtler, Lebenswelt, 69. 120 Vgl. Tietze, Rede, 332. 121 Vgl. Tietze, Neues, 592.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

ausüben oder ihre Zelle von den Rangniedrigen putzen lassen. Die Werte „der am wenigsten erziehbaren Gefangenen in der Subkultur dominieren“122 , Gelegenheitstäter:innen haben in ihrer „Drinnen-Welt“ einen geringeren Status.123 Konsequent „gilt das Gebot des Zusammenlebens und der Loyalität unter den Häftlingen und der Solidarität gegen die Beamten“124 , d. h. die Normen „Verpfeif nie einen Mitgefangenen, misch dich nicht in fremde Angelegenheiten, lass dir von den Beamten nichts gefallen, rede nicht so viel, schnüffle nicht hinter dem Rücken anderer“125 . Gegenläufig dazu berichten andere, dass es im (Jugend-)Knast keine Freunde gebe, man niemandem vertrauen sollte und könne. Ein erstrebenswertes Mittel zum Wert der Unabhängigkeit unter den Gefangenen ist Macht. Wer seinen Mitinsassen seinen Willen aufzwingen kann, hat dadurch einen erweiterten Handlungsspielraum.126 Eine enorme Wertschätzung erfährt „Männlichkeit“. „Da aber eines der wichtigsten Kriterien der Männlichkeit, die heterosexuelle Aktivität, im Gefängnis wegfällt, gewinnen andere Bezugsgrößen eine verstärkte Bedeutung. Man ist ‚ein Mann‘, wenn man bei allen Deprivationen und Züchtigungen Härte und Zähigkeit zeigt und Würde bewahrt.“127 Besonders gilt auch „Gewaltsamkeit als Beweis für Männlichkeit“128 . Die Norm dazu ist: „Lass dich nicht unterkriegen, nicht weich werden, lerne Nehmen und Geben wie ein Mann.“129 Solche Normen werden in der „Drinnen-Welt“ der Gefangenen eingeübt und durch Ermahnung und Gewöhnung etabliert. Bei Nichteinhaltung bestrafen auch Gefangene ihre Mitgefangenen. Den „Strafgefangenen trifft es hart genug, wenn er – von der konventionellen Welt abgelehnt – auch unter seinesgleichen ausgestoßen wird.“130 Er findet keinen Schutz mehr, kann keinen Handel mehr betreiben und mit keiner Gefälligkeit mehr rechnen. Im schlimmsten Fall wird er zum Prügelknaben.131 In der Hierarchie weiter oben befinden sich auch diejenigen, die mehr Besitz haben, der von außen hereingeschmuggelt wird, beispielsweise Zigaretten, Geld, Alkohol und Drogen, die Platz in präparierter Kleidung oder Speisen finden oder über „länger andauernde Abschiedsküsse“132 übermittelt werden.

122 123 124 125 126 127 128 129 130 131

Höbel, Was kommt nach dem „Drinnen“, 56. Vgl. Höbel, Was kommt nach dem „Drinnen“, 56. Höbel, Was kommt nach dem „Drinnen“, 56. Harbordt, Subkultur, 22. Vgl. Höbel, Was kommt nach dem „Drinnen“, 57. Höbel, Was kommt nach dem „Drinnen“, 57. Höbel, Was kommt nach dem „Drinnen“, 57. Harbordt, Subkultur, 24. Höbel, Was kommt nach dem „Drinnen“, 57. Vgl. Höbel, Was kommt nach dem „Drinnen“, 57. Da sich Höbel selbst auf männliche Gefangene bezieht, wird an dieser Stelle bewusst nicht gegendert. 132 Girtler, Lebenswelt, 70.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

Die Hierarchiestrukturen übertragen sich auch auf die Gefängnisseelsorge. Das, was Gefangene als „gut“ oder „böse“, besser übersetzt als „hilfreich“ oder „hinderlich“, empfinden, kann sich von der Wahrnehmung und Bewertung der Draußenwelt vehement unterscheiden. Tietze berichtet von einer Unterhaltung mit einem Bediensteten, der sagt: „‚Haben Sie nicht mal wieder einen anständigen Mörder für uns? Uns gehen die Drogenabhängigen so auf den Wecker.‘ Beide schmunzeln wir. […] [E]s erfasst wesentliche Teile des Erlebens im Gefängnis viel genauer als viele Vermutungen, die von draußen kommen. Sucht ist lebensbestimmend. […] [D]iese Formen kommen im Gefängnis eher als die Ausnahme vor. Eine Gewalttat resultiert häufig aus einer Beziehung. […] Gewalttäter therapieren – schwierig, aber keineswegs unmöglich und nicht selten erfolgreich. Einem Süchtigen die Sucht abgewöhnen, besser: ihm Hilfe zur Selbsthilfe zu vermitteln, ist sehr viel schwieriger. Es heißt letzten Endes: gegen wesentliche Bestandteile seiner Biographie anzuarbeiten. […] Es ist nicht möglich eine Justizvollzugsanstalt ‚drogenfrei‘ zu bekommen.“133

Aus dem Bedürfnis heraus, ein Statement zu setzen, aus Langeweile oder durch das Nachdenken, ist das Anbringen von Tätowierungen mit Hilfe von „Tusche, Tinte oder in Wasser aufgelöste[r] Ziegelfarbe“134 verbreitet. Symbolträchtig sind beispielsweise die „berühmten drei Punkte am Winkel zwischen Daumen und Zeigefinger, die andeuten sollen, daß der Träger ein verschwiegener Mann ist, der ‚nichts sagt, nichts sieht und nichts hört‘“135 . Schmerz erlitten zu haben und die Fähigkeit, ihn ertragen zu können im weitesten Sinne, jemanden ermordet zu haben im eigentlichen Sinne, symbolisiert eine tätowierte Träne neben dem Auge. Als Glückssymbol gelten Kreuze oder Darstellungen von Frauen. Durch die Brille Gefängnisseelsorgender zeigt sich das Leben im Strafvollzug sehr viel detaillierter als in den übergeordneten, theoretisch erdachten Rahmenbedingungen seitens der Gefängnisseelsorge und des Strafvollzugs. Die Wahrnehmung und Erfahrung derer, die sich tagtäglich und ganz praktisch in der Gefängniswelt bewegen und eben genau dort im Dienst der Seelsorge stehen, ist unbedingt mitzubedenken. Die Wahrnehmung Gefängnisseelsorgender führt gleichzeitig auch zu einer kritischen Betrachtung des Strafvollzugs, eben auch wieder mit Blick zum Detail und weit über das hinaus, was aus strafrechtlicher Perspektive selbst kritisch angedacht wurde.

133 Tietze, Neues, 594. 134 Girtler, Lebenswelt, 72. 135 Girtler, Lebenswelt, 72.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

2.3.3.2 Strafvollzug und Gefängnisseelsorge ganz praktisch

Die Erfahrungsberichte derer, die regelmäßig oder partiell als Gefängnisseelsorger:innen gearbeitet haben, lassen sich, zumindest teilweise, auch mit den empirischen Studien Funschs stützen. Der Strafvollzug sowie die seelsorgliche Arbeit in ihm stellen sich aus Perspektive Gefängnisseelsorgender nochmals differenzierter dar als in der Reflexion der übergeordneten Instanzen. Insgesamt lässt sich anzeigen, dass Gefängnisseelsorger:innen nicht grundsätzlich gegen den Strafvollzug sind. Vorzüge des Strafvollzugs lägen in dem Herausreißen von Straftäter:innen aus einer unheilvollen Bewegung sowie der Unterbrechung von kriminellen Karrieren zugunsten von Halt und Struktur. Auch die Therapieund Resozialisierungsbemühen werden positiv hervorgehoben.136 Doch größtenteils wird das System des Freiheitsentzuges in der Wahrnehmung Gefängnisseelsorgender kritisiert. Dies spiegelt sich in den Angaben Gefängnisseelsorgender über die größten Mängel des Strafvollzugs wider. Aus der Perspektive Gefängnisseelsorgender sei in der Vollzugspraxis der Schutz der Allgemeinheit vor den Täter:innen am wichtigsten.137 Gleichzeitig lege die Vollzugspraxis mehr Wert auf die Vergeltung begangenen Übels, während Seelsorger:innen die Resozialisierung wichtiger sei (ehrenamtliche Gefängnisseelsorger:innen bestätigten dies übrigens nicht).138 So werden beispielsweise die Haftumstände besonders angesichts des juristisch geregelten Vollzugsziels kritisiert und es wird die Frage gestellt, wie sich jemand, der eingesperrt ist, auf ein Leben in Freiheit vorbereiten soll oder wie jemand, dem alles genommen wird, lernen soll, verantwortungsvoll mit Dingen umzugehen.139 Man dürfe es sich einerseits nicht zu leicht machen, denn „viele Gefangene verharren in Lethargie, gelten (keineswegs immer unbegründet) als unfähig oder unwillig, therapeutische Maßnahmen und eigene Mitarbeit am Vollzugsziel wahrzunehmen. […] Aber die […] Absurdität des Strafvollzugs und seine tägliche Umsetzung tragen erheblich dazu bei, dass entweder Resignation oder unkontrollierte Aggressivität die Oberhand zu gewinnen drohen.“140

136 Vgl. Funsch, Seelsorge, 319–324. 137 Vgl. Funsch, Seelsorge, 316–318. 138 So Pohl-Patalong, S., Freiräume, 195; Drexler, Gefangenen, 173 meint, durch Straftaten und Gerichtsurteil werden Straftäter jenen Maßnahmen ausgesetzt, „von denen man begründeter Weise annimmt, dass sie zu einer erfolgreichen Resozialisierung führen.“ 139 Vgl. Tietze, Kreuz, 75. 140 Tietze, Kreuz, 76.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

Der Sicherheitsaspekt erfahre eine große Überbewertung, sodass sich der Strafvollzug hin zum Verwahrvollzug entwickle.141 Nicht ohne Grund wird Erving Goffmans Bezeichnung des Gefängnisses als „totale Institution“142 von Seelsorgenden häufig übernommen.143 Gefangene würden im Vollzugsalttag völlig entmündigt.144 Bei Strafantritt verlören Strafgefangene durch den Verlust ihrer persönlichen Gegenstände und ihrer Kleidung ihre „Identitätsausrüstung“145 , sodass sich Gefangene nicht mehr als Individuum präsentieren könnten. Sie fänden sich im Gefängnis einem enormen Anpassungsdruck gegenübergestellt, der auf diese Weise im „Draußenleben“ nicht auftrete.146 Sie hätten „nicht mehr die Möglichkeit […], ,normal‘ am gesellschaftlichen Leben und damit an anderen Funktionssystemen teilzunehmen.“147 So wird die individuelle Lebensgestaltung zentraler Lebensbereiche als im Gefängnis organisiert, vereinheitlicht und stark reglementiert wahrgenommen.148 Das beginnt schon damit, dass für alles Formulare und Anträge geschrieben werden müssten – auch seitens Inhaftierter –, beispielsweise auch, wenn ein Seelsorgegespräch gewünscht sei.149 Der Gefängnisalltag sei durch Kontrolle bestimmt, was sowohl die gesetzlichen Vorgaben als auch die Beschreibungen Gefängnisseelsorgender widerspiegeln. Tietze berichtet aus seiner Zeit als Gefängnisseelsorger in Hannover von der „allmorgendlich[en] […] ‚Lebendkontrolle‘ – die diensthabenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des AVD (Allgemeinen Vollzugsdient) schließen die Hafträume auf und überprüfen, ob der Gefangene noch lebt.“150 Kontrolle bewirke großes Misstrauen: „Ein Beispiel: ein Gefangener wird 13mal kontrolliert, bis er in der Zelle ist – morgens vor dem Gang zur Arbeit, nach der Arbeit, vor und nach der Freistunde usw. bis abends zum Einschluss – das lässt jede Form von Vertrauen bei ihm so schrumpfen, bis schließlich kaum noch etwas davon vorhanden ist.“151

141 Vgl. Funsch, Seelsorge, 319–324. So nimmt Tietze, Neues, 594 den Strafvollzug als einen wahr, in dem es scheinbar nur noch um technische Sicherheit gehe und nicht mehr um soziale Sicherheit. 142 Goffman, Asyle, 13. 143 Vgl. Klessmann, Seelsorge, 366 [original: kursiv]; vgl. Karle, Ausweg, 232; Tietze, Rückblick, 251; ders., Kreuz, 74; vgl. Merzyn, Lebenslange, 350. 144 Vgl. Funsch, Seelsorge, 319–321. 145 Goffman, Asyle, 233. 146 Vgl. Merzyn, Lebenslange, 350. 147 Karle, Ausweg, 231. 148 Vgl. Klessmann, Seelsorge, 366f. 149 Vgl. Tietze, Neues, 593. 150 Tietze, Rückblick, 252. 151 Tietze, Kreuz, 74.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

Dadurch verhielten sich Inhaftierte angespannt. Ihr Verhalten werde erfasst und in moralische Kategorien eingeordnet, die analysiert und hinsichtlich des Fortschritts der Resozialisierung beurteilt würden.152 „Alle Bediensteten, die mit einem Gefangenen Kontakt haben, geben in Vollzugsplankonferenzen Beurteilungen über seine Entwicklung ab.“153 Das hat direkte Konsequenzen für den:die Inhaftierte:n hinsichtlich seiner:ihrer Haftdauer- und Art. Von dort aus ist es verständlich, dass das Gefängnis als „Gegenüberstellung von weitreichender und z.T. totaler Macht und (zumindest subjektiv erlebter) weitreichender Ohnmacht“154 erlebt wird. „In diesem System wird Kirche, wird Seelsorge oft ein Fremdkörper sein – und sein müssen. Aber zugleich und gerade deshalb wird sie von Gefangenen und (sehr viel seltener, aber auch) von Bediensteten als ‚Licht in der Dunkelheit‘ und als ‚Oase in der Wüste‘ wahrgenommen. Und zwar nicht deshalb, weil die SeelsorgerInnen bessere Menschen wären als die anderen, als Gefangene und Bedienstete […], sondern weil sie unter anderen Bedingungen arbeiten, weil eine relativ weitreichende Unabhängigkeit bei ihnen gegeben ist.“155

Neben der kritischen Betrachtung Gefängnisseelsorgender des Sicherheitsaspektes und der Kontrolle fehle gut ausgebildetes Personal sowie ausreichend pädagogische und psychologische Betreuung für die Gefangenen.156 Dass solche auch aus seel-

152 153 154 155 156

Vgl. Merzyn, Lebenslange, 352. Merzyn, Lebenslange, 352. Tietze, Kreuz, 74. Tietze, Kreuz, 74. Die Kritik an Bestrafung überhaupt und am Strafvollzug im Besonderen spiegelt sich auch in der Auseinandersetzung mit Alternativen. So findet in der Literatur Restorative Justice immer wieder Erwähnung. Die Grundidee von Restorative Justice, dass es zwischen Opfer und Täter:in zu einer friedlichen Einigung kommt, ist im mennonitischen, christlichen Umkreis entstanden (vgl. Hagenmaier, Heilende Gerechtigkeit, besonders 380–383). Restorative Justice wurde 1974/ 75 in Nordamerika von Mennoniten entwickelt, die als Bewährungshelfer arbeiteten, die einen therapeutischen Mehrwert darin sahen, wenn sich Opfer und Täter gegenüberträten. 1976 wurde die evangelikale Bewegung Prison Fellowship in den USA von einem im Zusammenhang mit Watergate verurteilten Nixon-Berater gegründet. Das Programm der Bewegung zielt darauf ab, dass die Begegnung zwischen Opfer und Täter:in zu einer Umkehr des:der Täter:in führt. Von hier aus wird deutlich, „dass es sich um ein täterzentriertes Programm handelt“ (Hagenmaier, Heilende Gerechtigkeit, 381). U.a. die ökumenische Vereinigung von Gefängnisseelsorger:innen „International Prison Chaplains Association“ (IPCA) tritt für das Verfahren Restorative Justice ein, das als alternative Form von gerichtlicher Strafe konzipiert ist, um statt Rache und Vergeltung Beziehungen wiederherzustellen (restorative). Restorative Justice ist bestrebt, die Perspektive der Täter:innen, Opfer und die der Justiz gleichermaßen mit einzubeziehen. „Restaurative Gerechtigkeit ist ein Prozess, der die von einer konkreten Tat Betroffenen weitestgehend beteiligt und die gemeinsamen Schäden, Bedürfnisse und Verpflichtungen benennt und behandelt, um zu heilen

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

sorglicher Perspektive erwünscht sind und sich Seelsorgende von jenen Aufgaben abgrenzen, wird besonders in Berichten Gefängnisseelsorgender deutlich, die nicht nur das „erträglich Ungute“, sondern eher das „Mega-Böse“157 betreffen. Denn es gibt diejenigen Gefangenen, die „schon viele Jahre im Gefängnis verbracht haben und verbringen müssen, die mit schwerer Schuld leben müssen, die vielleicht noch nie eine Chance auf gelingendes Leben hatten, die kaum noch Perspektiven auf ein Leben in Freiheit haben, die nicht mehr therapierbar und auch nicht mehr resozialisierbar zu sein scheinen und vielleicht auch nicht mehr sind.“158

Hier deutet sich der Unterschied zu Sozialarbeit und Sozialwissenschaften, zu Therapie und Psychologie an, denn offenbar haben Seelsorgende einen anderen Ansatz im Umgang mit dem, was als „böse“ empfunden wird. Für Gefangene im Allgemeinen, aber besonders für Langzeitinhaftierte und Insassen in der Sicherheitsverwahrung, bedeutet Gefängnis Perspektivlosigkeit, besonders auch, wenn sie als austherapiert und nicht resozialisierbar gelten. Seelsorge setzt sich auch mit Perspektivlosigkeit auseinander.159 Dies hat auch mit ihrem Selbstverständnis zu

und die Dinge soweit wie möglich in Ordnung zu bringen“ (Zehr, Fairsöhnt, 49). Restorative Justice „versteht das Verfahren: als Lernsituation für den Täter, neue Wege und Handlungsmuster zu lernen und sich neu als Mitglied eines Gemeinwesens zu verstehen; als Handlungssituation für das Opfer, indem Beratung, Therapie und andere Hilfen gewährt werden; als Orientierungssituation für das Gemeinwesen. Restorative Justice ermuntert kommunale Institutionen – eingeschlossen kirchlicher Institutionen – zu einer Rolle, moralische und ethische Standards zu etablieren, um neue, nachfolgende, verantwortliche Strukturen zu schaffen, weil diese der Schlüssel zu einem (re)integrativen, vertrauensvollen Gemeinwesen sind“ (Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge, Restorative Justice.) In Deutschland wird Restorative Justice überwiegend mit dem Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) identifiziert. In ihm können Opfer und Täter:innen in einem Mediationsverfahren zusammenkommen, um den Konflikt außergerichtlich und einvernehmlich beizulegen. Der TOA ist gesetzlich in § 155a § 155 b StPO § 46a StGB festgelegt. Restorative Justice wird wiederum kritisch betrachtet, so beispielsweise Hagenmaier, Heilende Gerechtigkeit?, 286ff, insofern die Gefängnisseelsorge einen anderen theologischen Hintergrund habe als Prison Fellowship, das Programm sehr täterzentriert sei und auch die beiden Gesprächsparteien nicht moralisch ebenbürdig seien: „Opfer sind doch normalerweise nicht aktiv in das Geschehen verwickelt, sondern werden ihm unterworfen […]. Und schon gar nicht möchten sie sich mit jemandem einigen, der sie angreift, ihnen etwas wegnimmt oder betrügt“ (Hagenmaier, Heilende Gerechtigkeit?, 388). Vgl. auch ders., Straftäter. Zur weiteren Vertiefung zu Thema und Kritik zur Restorative Justice siehe Zehr, The Little Book; Domenig, Restorative. 157 Diesen Begriff verwenden Hess/Scheerer, siehe Kapitel 3.1.1. 158 Karle, Ausweg, 231. 159 Vgl. Karle, Ausweg, 234.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

tun. Isolde Karle bestimmt Seelsorge im Gefängnis als „praktizierte Rechtfertigungslehre“160 . Therapeut:innen, Ärzt:innen, Sozialarbeiter:innen kümmern sich so lange um den:die Gefangene:n, wie sie es von Amts wegen müssen. Gilt ein:e Gefangene:r als austherapiert oder nicht resozialisierbar, endet die Behandlung. Davon unterscheidet sich Seelsorge. Sie „beansprucht einen Sinn jenseits und unabhängig von Resozialisierung.“161 Ihr Zweck und ihr Ziel dienen nicht der Heilung und der gesellschaftlichen Wiedereingliederung, obwohl beides als „Nebenprodukt[…]“162 seelsorglicher Arbeit entstehen kann, wodurch Seelsorge auch in dieser Hinsicht „wertvolle Ressource“163 sein kann. Für Karle haben Seelsorger:innen Symbolcharakter, der:die „in der Begegnung mit dem Inhaftierten […] zum Symbol für Gott [wird], der keinen Menschen aufgibt“164 . Seelsorgende nähmen den anderen wahr und „trotz aller Abgründe“165 an. Der Seelsorger „fragt kritisch nach“166 und sei „ein aktiver Gesprächspartner, der sich nicht darauf beschränkt, die Perspektive seines Gegenübers empathisch zu spiegeln.“167 Von da aus lässt sich Seelsorge als Begleitung konzipieren, die schon aus dieser Charakterisierung heraus nicht das Ziel der Veränderung oder Besserung zur Aufgabe hat. So betrachtet, unterscheiden sich Seelsorgende von Therapeut:innen und Sozialarbeiter:innen in ihrer Rolle, weil sie keine „Soll-Schablone“ als Zielrichtung ihrer Aufgabe haben, weder moralisch, noch zwecks Heilung oder Wiedereingliederung. Gefängnisseelsorge „geschieht nicht im Hinblick auf bestimmte Resultate – weder um bessere Bürger oder angepasstere Insassen zu machen noch zu Hebung ihrer Moral.“168 Dies wird auch unter Gefangenen wahr- und angenommen: „‚Vor mehr als 100 Jahren haben Psychologie und therapeutische Arbeit die Menschen von der Religion befreit. Jetzt sind es die Seelsorger, die uns von der Therapie und ihrem Anspruch befreien.‘ (Willi L./58 J., am Ende seiner Hanftzeit von 32 J. und 28 Personen,

160 161 162 163 164 165 166 167

Karle, Ausweg, 236 [original: kursiv]. Brandner, Gottesbegegnungen, 73. Brandner, Gottesbegegnungen, 97. Karle, Ausweg, 237. Karle, Ausweg, 236. Karle, Ausweg, 236. Karle, Ausweg, 236. Karle, Ausweg, 236 scheint hier auf die populären Gesprächsmethoden der psychologischen Therapie anzuspielen und grenzt Seelsorge an dieser Stelle auch in ihrer Methodik von dieser ab. Sie erwähnt auch die Schwierigkeit ihr bekannter therapeutischer Methodik, insofern sie ebd. formuliert, dass in der „Seelsorge […] ein Inhaftierter nicht primär als psychisch krank oder als Objekt von Resozialisierung betrachtet [wird],“ sondern „Akzeptanz und Bajahung“ (Karle, Ausweg, 236) grundlegend für sie seien. 168 Brandner, Gottesbegegnungen, 237.

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die er während der Haft aus den Fachgebieten Psychiatrie, Psychologie und Therapie kennen lernen durfte)“169 .

Seelsorge ist auch funktional von staatlichen Zielen abgegrenzt. Sie „distanziert sich von der totalen Funktion Gefängnis.“170 Deshalb ist sie von den staatlichen Maßnahmen der Resozialisierung, für die Therapie und Sozialarbeit im Gefängnis eingesetzt werden, unterschieden.171 Die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat wird im Gefängnis mehr als deutlich. So bildet die Unabhängigkeit von Seelsorge im Gefängnis die Grundlage für das Vertrauen Seelsorgesuchender in den:die Seelsorger:in.172 Seelsorge ist völlig unbewacht. Während Besuche von Familienmitgliedern und Freunden von Vollzugsbeamten überwacht und abgehört werden (können) und auch Therapien und Sozialarbeit im Rahmen des Strafvollzugs stattfinden, ist Seelsorge dagegen von diesen Interessen losgelöst und keine Rechenschaft schuldig, weil das Berufsgeheimnis sich nicht im Staat, sondern im Gottesglauben gründet.173 Seelsorge repräsentiert nicht das Gefängnis, nicht die Gesellschaft, sondern einen religiösen Schutzraum, innerhalb dessen alles gesagt werden kann. Den:die Seelsorger:in von der Schweigepflicht zu entbinden, würde den funktionalen Schritt bedeuten, die Kirche als Institution unter Druck zu setzen. Von da aus betrachtet, gewinnt das Amt der Seelorger:in an Bedeutung. Aus der Perspektive der Gefangenen, ist kein:e Gesprächspartner:in so sicher wie der:die Seelsorger:in, weil sie Kraft ihres Amtes unter einem unverrückbaren Beichtgeheimnis steht. Gemäß §139 Abs. 2 StGB besteht für Pfarrer:innen keine Anzeigepflicht, und zwar auch dann nicht, wenn Hinweise auf gemeingefährliche Verbrechen vorliegen. Für Gefangene kann dieses Wissen eine enorme Kommunikationsförderung bedeuten. Sie können offen darüber reden, was sie denken, was sie bewegt und besonders auch darüber, was sie getan haben. Ein 36-jähriger Gefangener erzählt: „‚Jede Gefühlsregung und jedes Wort, das ich sage, wird in unserer therapeutisch geprägten Justizanstalt auf die Goldwaage gelegt. Ich möchte nicht missinterpretiert werden, daher schütze ich mich und rede nur mit jenen, die mir nicht schaden können, offen.‘“174 Seelsorge schafft damit einen „Vertrauensraum. Die Bedeutung von Vertrauen ist in einer durch tiefes Misstrauen geprägten sozialen Umgebung kaum zu überschät-

169 Das Zitat ist zu finden in einem Aufsatz des Gefängnisseelsorgers Matthias Geist, Gefängnisseelsorge, 9 [original: kursiv]. 170 Karle, Ausweg, 238. 171 Vgl. Karle, Ausweg, 238. 172 Vgl. auch Karle, Ausweg, 238. 173 Vgl. Brandner, Gefängnisseelsorge, 399. 174 Zit. in Geist, Gefängnisseelsorge, 11 [original: kursiv].

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

zen.“175 Vor diesem Hintergrundverständnis kann eine „latente Herrschaftsstruktur zwischen Ratsuchendem und Ratgebendem aufgeweicht [werden].“176 Seelsorge kann nicht von dem alleinigen Ziel der Resozialisierung ausgehen, weil dies insbesondere zur lebenslangen Haftstrafe177 Verurteilte, die als nicht resozialisierbar gelten, aus der Seelsorge ausschließen würde. Ein weiterer Kritikpunkt seitens Gefängnisseelsorgender am Strafvollzug ist der, dass Gefangene nur unzureichend auf ihre Entlassung vorbereitet würden. Resozialisierung würde sogar erschwert, weil es nicht genügend Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten gäbe.178 Aus Perspektive Seelsorgender im Gefängnis wird Arbeit mehr als eine Pflicht angesehen. In der Arbeit könnten Gefangene einer Aufgabe nachgehen, wodurch sie ihre Zeit als sinnvoller gestaltet wahrnehmen können, als wenn die Zeit im Gefängnis wortwörtlich abgesessen würde.179 Auch der soziale Außenkontakt werde reduziert. Aus Perspektive Gefängnisseelsorgender ist der Ausbau und die Erhaltung sozialer Kontakte jedoch „für die Wiedereingliederung […] zwangsläufig nötig“180 , wozu „im besten Falle die Seelsorge [verhelfe].“181 Gefangene würden „als ,ganze‘ [Menschen, Anm. v. Inderst] inkorporiert“182 werden, weil sie nicht mehr an verschiedenen Sozialsystemen partizipieren können, sondern in dem System Gefängnis „in extremer Weise reduziert auf das eine soziale Selbst, das durch die korporative Institution adressiert wird“183 lebten. Durch die Isolation von der Gesellschaft würden Insassen von sozialen Resonanzmöglichkeiten isoliert.184 Durch den damit meist einhergehenden Kontaktabbruch zur „Draußenwelt“, „verliert der Inhaftierte bestimmte kommunikative und kulturelle Fähigkeiten, die ihn anschlussfähig machen, an das ,normale‘ soziale Leben.“185

175 Karle, Ausweg, 239. Ähnlich Tietze, Rückblick, 260: „Gefängnisseelsorge bedeutet: Ein Ort des Vertrauens wird angeboten, wo sonst, allein schon vom System her, keine Förderung von Vertrauen ihren Platz hat, sondern fast ausschließlich das Misstrauen.“; siehe auch Tietze, Kreuz, 74f. 176 Merzyn, Lebenslange, 353. 177 Lebenslang bedeutet, dass ein Antrag auf Haftprüfung frühestens nach 13 Jahren gestellt werden kann. Der Bundesdurchschnitt für die Haftdauer liegt bei 19 Jahren. Ausschlaggebend für die Aussetzung der Haft sind die Schwere der Schuld sowie die Sozialprognose (vgl. Merzyn, Lebenslange, 355). 178 Vgl. Funsch, Seelsorge, 319–321. 179 Vgl. Tietze, Rückblick, 252. 180 Tietze, Rückblick, 252. 181 Tietze, Rückblick, 252. 182 Karle, Ausweg, 231. 183 Karle, Ausweg, 232. Auch Tietze, Neues, 592 zweifelt eine erfolgreiche Resozialisierung in den Gefängnisstrukturen an: „Dass durch die erlebte Haft aber jemand in die Lage versetzt wird, künftig straffrei zu leben, wird kaum jemals vorkommen“. 184 Vgl. Karle, Ausweg, 232. 185 Karle, Ausweg, 232.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

Dies wird als „zutiefst anti-resozialisierende Dynamik“186 bewertet. Inhaftierte hätten kaum Rückzugsmöglichkeiten. Hier exemplifiziert sich die kommunizierte Stigmatisierung als „Krimineller“ zur umgesetzten Handlung als „der Kriminelle“. „Muss jemand ins Gefängnis, dann ist er zutiefst in seiner Identität markiert und gebrandmarkt. Der Weg zurück in die Gesellschaft ist für viele schwer, selbst für die, die der Resozialisierung eigentlich gar nicht bedürfen, weil sie schon immer mehr oder weniger ‚gute Bürger‘ waren, lediglich an einem Punkt tief gefallen sind.“187

Die Wahrnehmung Gefängnisseelsorgender des Strafvollzugs lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wenn Vollzugsanstalten Kontrolle und Funktionalismus zu ihren zentralen Gestaltungsmechanismen machen, führt dies zur Entmündigung der Insassen. Das wirkt sich wiederum auf die zwischenmenschliche Kommunikation sowie der individuellen Entwicklung auf psychischer und emotionaler Ebene aus. Damit nehmen Vollzugsanstalten keinen effektiven Einfluss auf die Lebenstüchtigkeit Gefangener nach ihrer Entlassung. 2.3.4

Zwischenfazit

Gefängnisse haben nach dem Dargestelltem strafrechtlich nicht einfach die Funktion, Delinquente wegzusperren und im Sinne von Vergeltung und Rache ihre Taten zu bestrafen. Strafe bedeutet zumindest in deutschem Kontext des 21. Jahrhunderts weit mehr als „Vergeltung“, und ist durch den Zweck der Resozialisierung als Wiedereingliederung in die Gesellschaft geprägt. Daraufhin sind die Justizvollzugsanstalten ausgerichtet und die Gestaltung der Haft und dem Alltag in ihr rechtlich verankert. Hier liegen die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Perspektiven: aus strafrechtlicher Sicht können straffällig gewordene, die gesellschaftliche Regeln verletzt haben und damit ein friedliches Zusammenleben stören, nicht einfach ungestraft gelassen werden, sie müssen aus dem gesellschaftlichen Umfeld herausgenommen werden. Der Strafvollzug hat allerdings nur begrenzte Möglichkeiten, Resozialisierung zu ermöglichen, allein die Freiheitsberaubung und die Isolation stehen im Widerspruch zu ihr. Dies führt auch zu kritischen Stimmen bei Gefängnisseelsorgenden, die auf einem schmaleren Grad zwischen Vertrauen und Misstrauen, zwischen Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden als „böse“ und „gut“ changieren. Das Strafverständnis ist nicht einheitlich, was sich aus strafrechtlicher Perspektive mit den general- und spezialpräventiven Straftheorien analysieren lässt. Der tatsächliche Strafvollzug, also die praktische Umsetzung

186 Karle, Ausweg, 232. 187 Karle, Ausweg, 231.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

der Strafe, darf sich laut Grundgesetz jedoch allein am Strafziel der Resozialisierung orientiert. Der Rat der EKD, stellvertretend für den Kontext „Kirche“, spricht sich 1990 eindeutig gegen den Strafzweck der Vergeltung aus und macht darüber hinaus Versöhnung zum Grundsatz im Umgang mit Delinquenten. Gefängnisseelsorgende, die sich zwischen beiden Kontexten bewegen, indem sie im Umfeld des Strafvollzuges, aber als Mitarbeitende und Praktiker:innen der Kirche arbeiten, positionieren sich in ihrer Praxis zwischen die weltlichen und kirchlichen Strafauffassungen. Das bedeutet auch, dass sich Praktiker:innen auch mal kritisch gegenüber beiden Institutionen äußern, auch gegenüber ihrer Arbeitgeberin.188 Gleichzeitig tragen sie ihr individuelles, eigenes Strafverständnis in ihre alltägliche Praxis ein. So sprechen sie sich, ebenso wie der EKD-Rat, gegen den Strafzweck der Vergeltung aus, und begreifen den Strafvollzug als Resozialisierungsmaßnahme, bewegen sich jedoch auch in ihren je individuell gedeuteten Kontexten und deuten vor diesem Hintergrund „Böses“ bzw. Kriminalität und den strafrechtlichen sowie seelsorglichen Umgang mit ihm. Daraus ergeben sich neue Perspektiven für die Arbeit und einen transdisziplinären Austausch. Dies lässt sich an dieser Stelle wiederum durch einen Ausschnitt eines Erfahrungsberichtes veranschaulichen: Die Gefängnisseelsorgerin Hildegard Himmel berichtet aus der JVA Köln von jungen Untersuchungsgefangenen „eines Hafthauses“189 , die Hakenkreuzzeichnungen auf Papier schmierten und es daraufhin seitens des Hauses zu Hausstrafen kam, mit dem Strafbestand der Verwendung eines verbotenen Symbols (§81, 82 StVollzG, § 86a StGB). Dazu wollte die Seelsorgerin zusammen mit dem psychologischen Dienst und dem Sozialdienst eine „deutliche Alternative zu den üblichen Anstaltsreaktionen vorher, die aus Sanktionen […] bestanden“190 schaffen.

188 Vgl. dazu Schäfer, Strafvollzug. Er problematisiert die Entscheidung des EKD-Rates, die Stelle des Beauftragten für die Seelsorge im Strafvollzug aufzulösen (vgl. Schäfer, Strafvollzug, 377). Der Umgang der EKD mit den Stellen Seelsorgender im Strafvollzug bildet einen ganz eigenen Diskussionsstrang, der hier nicht weiter vertieft werden kann und soll. Die vorliegende Arbeit macht aus wissenschaftlicher Perspektive hoffentlich deutlich, wie relevant Seelsorger:innen im Gefängnis sind. Daneben kritisiert Schäfer auch die Ansicht mancher Vollzugsverantwortlicher: „Gefängnispfarrer seien […] keine Sozialarbeiter und sollten sich ausschließlich um das Seelenheil der Gefangenen, die Schuldverarbeitung und die Glaubensvermittlung, nicht jedoch um deren Vollzugssituation und die Vollzugspolitik kümmern und diese sogar noch öffentlich kommentieren und kritisieren“ (Schäfer, Strafvollzug, 388). Wenn Vollzugsverantwortliche dieser Ansicht seien, verrate dies nicht nur, „Unkenntnis […] der vorhandenen Rechtsvorschriften, es widerspricht auch dem diakonischen Auftrag von Seelsorge“ (Schäfer, Strafvollzug, 388). 189 Himmel, Gefängnisseelsorge, 212. 190 Himmel, Gefängnisseelsorge, 212f.

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Dies sei die erste Erfahrung „interdisziplinärer Gruppenarbeit“191 gewesen.192 So entstand das Projekt einer Gesprächsgruppe „Rechtsextremismus“193 , in der die Jugendlichen „auf der emotionalen Ebene angesprochen werden“194 sollten. Dazu wurden sie u. a. von zwei Zeitzeugen besucht, die der Gruppe sowohl aus Opferals auch Täterperspektive von ihren Erfahrungen aus der NS-Zeit berichteten. Die Besuche wurden jeweils in einer weiteren Sitzung in Abwesenheit der jeweiligen Besucher reflektiert. Die Geschichten machten die Jugendlichen „betroffen“195 , es wurden jedoch auch kritische Fragen gestellt.196 Damit wurde „ein wesentliches Ziel [der] Veranstaltung, Jugendliche, die sich von der rechtsextremen Ideologieangesprochen fühlen und/oder sich ihrer auch bedienen, zu einer längeren Reflexion zu diesem Themenbereich zu motivieren“197 , erreicht. Das Beispiel zeigt, wie weder dezidiert Resozialisierung noch Versöhnung Ziel der Maßnahme der interdisziplinären Gruppe darstellten (durch Seelsorgerin und psychologischem wie sozialem Dienst waren die beiden übergeordneten Institutionen vertreten), sondern es ging um einen Perspektivwechsel, der für die Gefangenen gestaltet wurde und dem also auch ein mindestens impliziter Perspektivwechsel der Institutionsvertreter:innen vorausgegangen ist, die sich gemeinsam einen Umgang mit dem Vorfall in der Untersuchungshaft überlegt haben, der sich an den Insassen selbst orientierte: wie können sie etwas verstehen, ohne einfach bestraft zu werden? In Form des Strafvollzugs kommt Strafe also durchaus vor und bildet damit einen Umgang mit „dem Bösen“. Kirche und Gefängnisseelsorge tragen in dieses Strafsystem jedoch über das gesetzlich geregelte Strafrecht und Strafverständnis hinaus noch weitere Aspekte in den Kontext Strafvollzug ein. Vor dem Hintergrund des Versöhnungsgedankens und ihrer Glaubensperspektive haben sie einen anderen Blick auf den Umgang mit Menschen im Gefängnis, wodurch seelsorgliche Handlungen erfolgen, die sich von strafrechtlichen unterscheiden. In ihren Aufgaben – Wort, Sakramente und v.a. Gespräch – unterscheidet sich Seelsorge im Gefängnis nicht signifikant von ihren Aufgaben an ihren anderen Orten. Der Ort der Seelsorge – die Institution Gefängnis – verschärft jedoch Aufgaben und Rolle Seelsorgender. Der eng begrenzte Rahmen der totalen Institution Gefängnis macht ein offenes Vertreten erforderlich, wofür sie einstehen. Dies erfordert ein

191 Himmel, Gefängnisseelsorge, 213. 192 Von einem „multiprofessionellen Team“ bestehend aus „Sozialarbeiter, Psychologen, Psychiater und Seelsorger“ berichtet auch Windischer, 197. 193 Himmel, Gefängnisseelsorge, 212. 194 Himmel, Gefängnisseelsorge, 213. 195 Himmel, Gefängnisseelsorge, 214. 196 Vgl. Himmel, Gefängnisseelsorge, 214. 197 Himmel, Gefängnisseelsorge, 215.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

reflektiertes Rollenprofil und Verständnis dessen, was Seelsorge und ihre Aufgaben beinhaltet. Welche Überzeugungen sollten Gefängnisseelsorger:innen haben? Worin liegen Seelsorgeverständnis und -rolle genau?

2.4

Seelsorge im Gefängnis in ihrer pluriformen Gestalt und als integrativer Prozess – zwischen Wahrnehmung und Kommunikation

Das Selbstverständnis von Seelsorge mit ihrer Theorie, Praxis, ihren Seelsorgepersonen und -rollen ist plural geworden. Längst beschränken sich die wissenschaftlichen Debatten nicht mehr auf den Widerstreit zweier Seelsorgekonzepte mit ihren Methoden – die Debatten zwischen Kerygmatischer und Therapeutisch/Beratender Seelsorge werden nicht mehr mit jener Vehemenz ausgetragen, wie noch zu Zeiten der Seelsorgebewegung, als Rufe laut wurden, sich endlich auf das Wesentliche zu konzentrieren, statt ständig über die „richtigere“ Seelsorge zu streiten.198 Eine der Pioniergestalten199 der Pastoralpsychologie, Michael Klessmann, räumt 2005 ein: „Die Seelsorgebewegung und ihre therapeutische Orientierung ist nicht mehr das leitende Paradigma für die Seelsorge; die Seelsorgeszene hat sich in einer kaum noch übersehbaren Weise pluralisiert.“200 Die Globalisierung bewirkt, dass in Gesellschaften unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, man von anderen Kulturen weiß und sie mit der eigenen vergleicht, sie integriert oder differenziert, teilweise ablehnt. Dies wirkt sich auch auf die Seelsorge aus, die mit Menschen aus unterschiedlichen Milieus zu tun hat. „In einer globalisierten Welt aber treffen immer häufiger unterschiedliche Seelsorgekulturen aufeinander.“201 So gibt es kein „dominantes Paradigma der Seelsorge mehr, sondern eine Vielfalt an individuell, kulturell, methodisch und religiös differenzierten Formen“202 . Es hat sich bestätigt, was Eberhard Hauschildt bereits im Jahre 2000 prophezeite: „Auf uns kommt nicht das Ende der Seelsorgebewegung zu, wohl aber das Ende der Dominanz

198 Schon Eberhard Hauschildt formulierte 2000: „Nicht mehr dran sind die innerkirchlichen Grabenkämpfe zwischen Verkündigern und Therapeuten“ (Hauschildt, Trümpfe, 181). Es soll nicht die Notwenigkeit und letztendliche Bereicherung jener Seelsorgebewegung und ihrer Streite für die Poimenik in Abrede gestellt werden, trugen doch gerade sie zu einem fruchtbaren Wandel der Seelsorgelehre und -praxis bei. 199 So auch Nauer, Seelsorge, 84. 200 Klessmann, Kirchliche Seelsorge, 250. 201 Hauschildt, Seelsorgelehre, 246; vgl. auch ders., Interkulturelle und interreligiöse Seelsorge, 176. 202 Klessmann, Im Strom der Zeit, 14.

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einer Theorie und Praxis von Seelsorge allein unter der (tiefen)psychologischen Perspektive.“203 Eine zusätzliche Vielzahl an Konzepten wurde inzwischen theoretisch reflektiert, debattiert und in die seelsorgliche Praxis integriert. Von Seelsorgekonzepten mit einseitiger Perspektivendominanz verabschiedet man sich mehr und mehr. Seelsorge ist multiperspektiv, multidimensional und multioptional geworden. Nicht nur auf theoretischer Ebene, auch in der gängigen Praxis ist längst nicht mehr eindeutig, was Seelsorge ist – das trifft auch auf Gefängnisseelsorge zu. Seelsorgende wie Seelsorgesuchende haben eigene Vorstellungen über Inhalt und Ziele der Seelsorge, sodass stets neu ausgehandelt werden muss, was Seelsorge eigentlich ist. Der Wahrnehmung „des Bösen“ und dem seelsorglichen Umgang mit ihm kommen diese Entwicklungen zugute. Auf die Multidimensionalität „des Bösen“ kann nur seelsorglich angemessen reagiert werden, wenn Seelsorge multiperspektivisch arbeitet und sich dadurch als ebenso multidimensional strukturierte begreift. Das bringt auch Unsicherheiten mit sich. Hinsichtlich der wachsenden Pluralität, in der sich auch Differenzen auftun, wenn die Seelsorgepraxis interkultureller und interreligiöser wird, schreibt Christoph Schneider-Harpprecht: „Denn im Umgang mit Fremden merken Seelsorgerinnen und Seelsorger, dass sie mit ihrem Latein schnell am Ende sind, weil die sprachliche Verständigung nicht klappt, weil es zu Missverständnissen kommt oder weil sie keine Interventionsmöglichkeit sehen und sich ohnmächtig fühlen.“204 Wie lässt sich also eine multiperspektivisch arbeitende, multidimensionale Seelsorge für die Arbeit im Gefängnis konkretisieren? 2.4.1

Multidimensionale, multiperspektivische Gefängnisseelsorge

2.4.1.1 Selbstverständnisse der Gefängnisseelsorge

In den 2009 veröffentlichten Leitlinien zur Gefängnisseelsorge der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge zeigt sich ihre Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Stigmatisierung von Gefangenen, die als „Sündenböcke[…]“205 herhielten, sowie ihr Bestreben, „das Vertrauen der Gefangenen [zu] bewahren“206 . Schon in dem Titel der Leitlinien – „Ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen“ 207 – zeigt sich das Verständnis der Evangelische Kirche von Gefängnisseelsorge als

203 204 205 206

Hauschildt, Seelsorgelehre, 245f. Schneider-Harpprecht, Interkulturelle Seelsorge, 39. Huber, Vorwort, 5. So formuliert es der damalige Bischof und Vorsitzender des EKD-Rates Wolfgang Huber in seinem Vorwort der Leitlinien, vgl. Huber, Vorwort, 5. 207 Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland, Ich.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

ursprünglich pastorale Aufgabe, die in den biblischen Überlieferungen wurzelt.208 Sie begreift ihre Arbeit als „Dienst an der Menschenwürde“209 , aufgrund derer jeder Mensch ein Recht auf Seelsorge hat. Seelsorge in Gefängnissen wolle dabei menschliche Schuld nicht verharmlosen, sondern Gefangenen dabei helfen, sich ihrer Schuld zu stellen und einen Neuanfang zu wagen. Dabei wolle sie jedoch „nicht neue Feindbilder aufbauen“ 210 , sondern der gleichen Würde jedes Menschen dienen.211 Für Menschen, die einen Neuanfang nicht wagen können oder wollen, seien „barmherzige Begleitung, Demut und Bescheidenheit im Blick auf die Möglichkeit des Menschen […] gefragt. Dabei gehört es zur Nüchternheit, damit zu rechnen, dass trotz allem manchmal unerwartete Veränderungen zum Guten geschehen.“212 Gefängnisseelsorge orientiere sich als kirchliches Handeln und wie jedes kirchliche Handeln an dem Handeln Jesu.213 Die evangelische Gefängnisseelsorge betont dabei Gerechtigkeit, Versöhnung und Frieden, die für die soziale Gemeinschaft notwendig seien. Gerechtigkeit wird nicht in erster Linie als Einhaltung von Normen verstanden, sondern bestehe darin, „den Beziehungen im Leben gerecht zu werden“214 . Versöhnung sei dabei ein Gemeinschaftsgeschehen, das zerstörte Beziehungen wiederherstelle. Die Erzählungen von Frieden, ohne jedwede Gewalt und Ungerechtigkeit, wie sie in den biblischen Überlieferungen gemalt werde (etwa in Jes 11,1–9; Ps 85,11; 1 Petr 3,11), stehe der weltlichen Erfahrung zwar entgegen, führe jedoch zu Hoffnung und dazu, sich nicht mit dem Status von Ungerechtigkeit und Gewalt abzufinden, sowie zu Visionen, die – auch im konkreten Fall von Gefängnisseelsorge, die täglich mit Gewalt, Leid und Intrigen zu tun habe – vor Resignation und Abstumpfen schütze. Der Glaube, wie er sich im Handeln Jesu und seiner Nachfolger zeige, bilde „gegen alle Erfahrung keine abstrakte Größe […], sondern sei Gegenerfahrung im konkreten Einzelfall“215 .216 Hier wird also insbesondere auf den Menschen in Schuld Bezug genommen, sodass Seelsorge im Gefängnis sich als eine konstituiert, die sich mit Schuldfragen auseinandersetzt und den Menschen in seiner Schuld begleitet mit dem möglichen Weg der Versöhnung. Der Glaube spielt insbesondere für die Seelsorgepersonen eine

208 Ähnlich die katholische Kirche: Die Deutschen Bischöfe veröffentlichten eine Leitlinie zur Gefängnisseelsorge mit Bezug auf Hebr. 13,3: „denkt an die Gefangenen, als wäret ihr mitgefangen“ (vgl. Deutsche Bischofskonferenz, Denkt an die Gefangenen). 209 Huber, Vorwort 5. 210 Huber, Vorwort 5. 211 Vgl. Huber, Vorwort 5. 212 Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland, Ich, 26f. 213 Vgl. Huber, Vorwort, 5. 214 Vgl. auch Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland, Ich, 23. 215 Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland, Ich, 23. 216 Vgl. Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland, Ich, 22f.

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grundlegende Rolle, als Schutzfunktion und als Motivation sich mit Gewalt und Leid – mit „dem Bösen“ – auseinandersetzen zu können. Deutlich wird auch, dass Seelsorge im Gefängnis nicht Heilung oder Resozialisierung zum Ziel hat, sondern begleiten will, auch und gerade dann, wenn ein Neuanfang aussichtslos wird. Die Leitlinien spiegeln jedoch auch hier erneut kein generelles Seelsorgeverständnis Gefängnisseelsorgender wider. Seelsorgende differenzieren sie oder denken über sie hinaus. Das Seelsorgeverständnis Gefängnisseelsorgender lässt sich als ein sehr vielfältig verstandenes wahrnehmen, das auch in der je eigenen Arbeit und Situation erörtert wird.217 Hintergrund dessen ist auch, dass die postmoderne Gesellschaft als säkular und plural wahrgenommen wird.218 Pluralität und Säkularisierung zeigen sich auch am Ort des Gefängnisses. Gefangene können nicht einfach als eine Einheit, als einheitliches Milieu oder als einheitlicher Kontext betrachtet werden, nur weil sie sich am selben Ort befinden, aus demselben Grund sich durch eine Straftat schuldig gemacht zu haben. Gefangene konstruieren ihre je eigene Situation individuell und subjektiv, sodass Seelsorge nicht nur eindimensional bestimmt ist, sondern sich pluriform gestaltet.219 So gehen auch einige Seelsorgende davon aus, dass das, was Seelsorge im Gefängnis bedeutet, ein offener Prozess ist und nicht auf ein Ziel hinarbeitet oder etwas bewirken will.220 Gefängnisseelsorgende positionieren ihre Praxis damit als von dem Ziel der Resozialisierung unabhängige, obgleich sie dennoch eine Ressource für solche sein könne.221 Es komme darauf an, Situation und Person richtig wahrnehmen zu können, und zwar noch „vor aller Theorie“222 .223 Daraus folgt, dass Seelsorgende sich die Fähigkeit Person und Situation richtig wahrzunehmen als Aufgabe zuschreiben.

217 Vgl. Drexler, Gefangenen, 179. 218 Beispielsweise Brandner, Gefängnisseelsorge, 393f, der in Folge der Postmoderne „eine stärker pluralistische, integrative und ganzheitliche Sicht von Strafe und Rehabilitierung“ wahrnimmt, und „religiöse Elemente in Kombination mit sozialen, pädagogischen und psychologischen Elementen innerhalb des Rehabilitierungsprozesses“ sieht, sodass Seelsorge zumindest zum Teil die Aufgabe der Rehabilitierung zukommt, darüber hinaus aber mit anderen Bereichen zusammenarbeitet; auch Hagenmaier, Seelsorge, 213. 219 Vgl. Hagenmaier, Seelsorge, 212. 220 So beispielsweise Pohl-Patalong, S., Freiräume, 200, Günther, Seelsorge, 253, 298 und Nafzger, Gefängnisseelsorge, 170; Karle, Ausweg, 237. 221 So konkret Brandner, Gottesbegegnungen, 73: „christliche Begleitung und Betreuung von Menschen im Gefängnis beansprucht einen Sinn jenseits und unabhängig von Resozialisierung.“; vgl. Karle, Ausweg, 237. 222 Nafzger, Gefängnisseelsorge, 170. 223 Vgl. Karle, Ausweg, 237 versteht das Seelsorgeziel als Begleitung und schließt das Ziel der Veränderung aus.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

Neben der Betonung der Wahrnehmungsfähigkeit von Situationen und Personen, wird häufig die Aufgabe der Begleitung genannt, gerade dann, wenn Inhaftierte als austherapiert oder nicht resozialisierbar gelten oder auch, wenn es gerade nicht um Schuldaufarbeitung geht, sondern um die Gestaltung des Gefängnisalltags: um Konflikte und Beziehungen mit anderen Inhaftierten, um Jobsuche, darum, „immer wieder kleine Ziele zu stecken“224 , um in dem täglichen Trott nicht zu verzweifeln oder einfach, um mit auszuhalten.225 Merzyn schreibt: „Der Glaube kann dabei Zuversicht geben, dass das Erreichen des Lebensziels, die Verbindung der einzelnen Fragmente, das Werk Gottes ist. Diese Zuversicht ist keine Vertröstung, sondern ermöglicht einen Aufbruch. Sie kann ermutigen, auf ein neues Ziel, ein verantwortliches Leben in Freiheit, zuzugehen und nicht angesichts des fragmentarischen Charakters der Zukunft in Resignation zu verfallen. Ein solches Bewusstsein kann dem Gefangenen helfen, den Schmerz in Bezug auf seine Zukunft auszuhalten und nicht an übersteigerten, unerfüllbaren Träumen zu verzweifeln, sondern in der Sehnsucht nach dem Ganzen die über sich hinausweisenden Lebensfragmente des Gefängnisalltags anzunehmen.“226

Damit grenzt sich Gefängnisseelsorge insbesondere von therapeutischen Maßnahmen ab, die „von oben verordnet werden und Vorteile versprechen“227 , während Seelsorge freiwillig angefragt wird. Es ist naheliegend, das Thema der Schuld als Hauptthema der Gefängnisseelsorge zu vermuten. In der Schuldfrage geht es für manche Seelsorgende im Gefängnis darum, „Hilfe zur Selbsthilfe“228 zu schaffen, wobei es auch dazu gehöre, dem Gefangenen „seine Freiheit zu lassen, für seine Verantwortung auch selber einzustehen.“229 Der:Die Seelsorger:in sei „Anwalt der Realität“230 : Durch die Wahrnehmung, dass Menschen stets sowohl die zerstörerische als auch die liebevolle Seite innewohne, gebe der:die Seelsorger:in den Raum für die konstruktive Bearbeitung der destruktiven Seite.231 Zur personalen Grundhaltung gehöre die Authentizität

224 Merzyn, Lebenslange, 347, 356. 225 Vgl. Karle, Ausweg, 244, 336; vgl. Merzyn, Lebenslange, 354ff; vgl. Pohl-Patalong, S., Freiräume, 196; vgl. Tietze, Vergib, 322; vgl. Ziemer, Seelsorgelehre, 177 zufolge ist Seelsorge „nicht am Ende, wo therapeutisches Vorgehen sinnlos zu werden scheint. In der Seelsorge gibt es keine ‚hoffnungslosen Fälle‘.“ 226 Merzyn, Lebenslange, 356. 227 Karle, Ausweg, 236. 228 Pohl-Patalong, S., Freiräume, 199. 229 Pohl-Patalong, S., Freiräume, 199. 230 Pohl-Patalong, S., Freiräume, 194. 231 Vgl. Pohl-Patalong, S., Freiräume, 194.

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und Echtheit des:der Seelsorgers:Seelsorgerin. Es gehöre zu seiner:ihrer Profession, keine Fassaden aufzubauen, sondern echt zu bleiben, gerade dann, wenn sich schreckliche Verbrechen aufdeckten – man solle sie nicht gutheißen –, gerade weil Menschen im Strafvollzug sehr sensibel dafür seien, ob das Gegenüber wirklich meint, was es sagt.232 Seelsorgepersonen sollen sich als Antwort auf die eigene (die der Seelsorgeperson) Schuldhaftigkeit solidarisch verhalten.233 Doch in der Gefängnisseelsorge geht es nicht immer um das Anliegen einer Schuldbearbeitung oder einer Beschäftigung mir der Straftat. Die Menschen innerhalb der Gefängnismauern haben ähnliche Anforderungen wie die Menschen draußen – abgesehen davon, dass die Themen der Schuld und Vergebung offensichtlicher und konzentrierter auftreten, wenn sie auftreten. Genau wie Menschen außerhalb der Gefängnismauern erleben Inhaftierte Sorgen, Ängste und Hoffnungen, weil sie in Beziehungen leben und lebten, Enttäuschungen erfahren, um Arbeitsstellen kämpfen und sich weiterbilden, unter dem körperlichen Verfall leiden und versuchen, ihrem Leben einen Sinn zu geben, Konflikte austragen und auf Vertrauen hoffen.234 Die Themen der Seelsorge sind also im Gefängnis genauso vielfältig, wie außerhalb. Was Seelsorge bedeutet, ist auch im Gefängnis längst nicht eindeutig. Dies liegt auch mit daran, dass „[d]ie multikulturelle […] Realität […] die Seelsorge eingeholt [hat].“235 Im Gefängnis erscheint diese Multikultur in komprimierter, verschärfter Weise, weil die Menschen gezwungenermaßen auf engem Raum zusammenleben müssen. Sie kommen aus unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Kulturen und Geschichten. Die Begegnungen im Gefängnis sind also interkulturell, sodass eine interkulturelle Seelsorge gefragt ist. Interkulturell meint nicht nur die Unterschiedlichkeit zwischen verschiedenen Sprachen und Völkern, sondern auch zwischen verschiedenen Milieus innerhalb einer Gesellschaft.236 Damit sind auch Interkulturelle Begegnungen hier nicht auf solche mit aus dem Ausland stammende Personen beschränkt, sondern betreffen auch Begegnungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Milieus oder solche zwischen unterschiedlichen Szenen, in denen Inhaftierte sich vor ihrer Inhaftierung bewegt haben und sich innerhalb des Gefängnisses solchen Szenen entsprechend wiederfinden oder voneinander abgrenzen.237 Das Seelsorgeverständnis ist also auch im Gefängnis pluriform. Das, was im Einzelfall als Seelsorge verstanden wird,

232 233 234 235 236 237

Vgl. Nafzger, Lebenslange, 178f. Vgl. Nafzger, Lebenslange, 180. Vgl. Drexler, Gefangenen, 176f. Schneider-Harpprecht, Interkulturelle Seelsorge, 39. Vgl. Hauschildt, Seelsorgelehre, 242. Vgl. Pohl-Patalong, S., Gefängnis, 136f.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

wird auch von Gefängnisseelsorgenden zu Gefängnisseelsorgenden unterschiedlich gewichtet.238 Einige konstatieren Seelsorge als Beziehungsgeschehen.239 Sie habe die Funktion, Begegnungen zu schaffen, in denen Beziehungen als ein aufeinander Bezogen-Sein entstehen.240 Begegnung ist dabei von zentraler Bedeutung, weil sich in ihr „ein Akt des Personseins allein dadurch [vollzieht], dass die totale Einsamkeit unterbrochen wird und der Gefangene in Beziehung zu einem leiblich anwesenden Menschen tritt. […] Für viele Inhaftierte ist es eine neue Erfahrung, einem anderen von ihren Gefühlen, Sorgen und Scheitern erzählen zu können, ohne dass es gegen sie verwendet wird.“241

Kämen zwei Menschen zusammen, „kann es geschehen, dass einem jeden von ihnen etwas vom inneren Sein und Wesen des anderen zukommt, und zwar so, dass er dieses ihm Zukommende in sein eigenes Leben aufnimmt und sein eigenes Leben dadurch bereichert findet.“242 Solche Beziehung könne jedoch nicht „,gemacht‘“243 werden. Man könne sich nur für sie offen halten, „indem man verweilt, Zeit hat, wartet, zuhört und erwartet.“244 Begegnung sei Konsequenz theologischer Identität, in der der Mensch „erfahren darf, dass er begnadet ist und dass er, wenn er dies auch annehmen kann, sensibler und hellhöriger wird für das, was sich in der Begegnung zwischen den Personen ereignet.“245 Auf der anderen Seite kann seelsorgliches Beziehungsgeschehen auch so verstanden werden, dass es einem höheren Zweck unterliegt. So unterscheidet Brandner ein seelsorgliches Beziehungsgeschehen von einem freundschaftlichen dadurch, dass „Freundschaft […] persönliche Bindung und Abhängigkeit [schafft], die der Reifung und der Heilung von Konflikten hinderlich sein können.“246 Damit erklärt er mindestens implizit das Erreichen von Reifung und Heilung von Konflikten zu einem Seelsorgeziel. Einige Seelsorgende explizieren Seelsorge als „religiöse Kommunikation“247 , und zwar nicht, weil es ständig um religiöse Themen gehen würde, sondern weil „Seel-

238 239 240 241 242 243 244 245 246 247

Ähnlich Klessmann, Gefängnisseelsorge im Spiegel, 50. Vgl. Brandner, Seelsorge, 190; vgl. Merzyn, Lebenslange, 347f; vgl. Tietze, Opfer, 67. Vgl. Nafzger, Gefängnisseelsorge, 182. Merzyn, Lebenslange, 348. Moor, Reifen, 147f, zit. nach Nafzger, Gefängnisseelsorge, 181f. Nafzger, Gefängnisseelsorge, 182. Nafzger, Gefängnisseelsorge, 182. Nafzger, Gefängnisseelsorge, 182. Brandner, Seelsorge und Freundschaft, 190. Karle, Ausweg, 239; Hagenmaier, Szenen, 63 betont sogar: „Missionierung gehört nicht in Zwangssituationen!“, weil Wirklichkeit immer konstruiert werde und dort wo man auf Pluralität treffe auch nur multiperspektivische und multidimensionale Seelsorge passe.

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sorge als Teil des Religionssystems in besonderer Weise die Kontingenzerfahrung von Menschen zu adressieren vermag.“248 Themen und Fragen in Krisensituationen würden in diesem System relevant: „Religion absorbiert hoch irritierende und letztlich nicht still zu stellende Fragen“249 . Während Institutionen wie das Gefängnis Kontingenz durch Handlungen bearbeite, mache ein Religionssystem solche zum Thema. Wenn in einem Seelsorgegespräch beispielsweise geschwiegen werde, werde nicht direkt gehandelt, aber Kontingenz würde trotzdem zum Thema.250 Handlungen könnten bewusst vermieden werden, weil die Religion die Frage stelle, wie mit Nichtwissen, mit Ambivalenzen und mit Uneindeutigkeiten umgegangen werden könne.251 „Der Seelsorger muss schon aus diesem Grund keine Lösungen anbieten, sondern kann das Nichtwissen, den Zweifel, die Vieldeutigkeit aushalten.“252 Darüber hinaus ist Schweigen keine Form des Handelns im engeren Sinne, aber durchaus eine Kommunikationsform. Schweigen ist also Kommunikation, die in der Religion „fallweise auf[tritt], nicht systematisch.“253 Ambivalenzen werden nicht „als Ende möglicher Kommunikation, sondern als Kommunikationsangebot betrachtet, das auch im Schweigen bestehen kann.“254 Diese Vielseitigkeit dessen, was von Gefängnisseelsorgenden unter Seelsorge und ihren Aufgaben verstanden wird, kann vor dem Hintergrund einer pluralen und säkularen Gesellschaft nicht gegeneinandergestellt oder hierarchisiert werden. Wie die Seelsorgedebatten des frühen 21. Jahrhundert zeigen, sind sie als multiperspektivisch und multidimensional verstandene Seelsorge, nebeneinander zu stellen, wobei sich zwei Parameter – die auch in den unterschiedlichen Verständnissen dessen, was Gefängnisseelsorge ist, bereits angedeutet wurden – herausstellen lassen, die allen Seelsorgekonzepten als unverzichtbare Elemente zugrunde liegen scheinen: Wahrnehmungsfähigkeit und Kommunikation.

248 249 250 251 252 253 254

Karle, Ausweg, 239. Emlein, Eigenheiten, 218. Vgl. Karle, Ausweg, 239. Vgl. Karle, Ausweg, 239. Karle, Ausweg, 239. Emlein, Eigenheiten, 225. Karle, Ausweg, 240.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

2.4.1.2 Wahrnehmungsfähigkeit als Voraussetzung und Resultat multiperspektivischer, multidimensionaler Seelsorge

Spätestens Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde es durch Uta PohlPatalong zum Programm, im Seelsorgediskurs Seelsorge im Plural255 zu denken.256 Seelsorge im Plural ist dabei nicht als eigenständiges Konzept zu verstehen, gleichsam einer beliebig anderen der „großen Erzählungen“, die als „the one and only“ über alle andere gestellt würde, sondern mehr als Grundhaltung praktischen und theologischen Arbeitens im Kontext der Seelsorge in Zeiten einer säkularen und pluralen Gesellschaft.257 Pohl-Patalong deutet die Gesellschaft um die Jahrtausendwende als postmoderne und individualisierte, sodass ihr zufolge Seelsorge nur plural erfolgen kann.258 „Für eine von postmodernen Einsichten geprägte Seelsorgetheorie wird der Zentralbegriff der Pluralisierung auf allen Ebenen relevant. […] Das Interesse liegt dabei nicht auf abgrenzender Eindeutigkeit, sondern auf der Erweiterung der Möglichkeitsspielräume und der Berücksichtigung situativer Erfordernisse. Seelsorge kann auf diese Weise unbefangener in die Nähe anderer Disziplinen rücken, ohne sich von der Angst um ein abgegrenztes Profil blockieren zu lassen.“259

Pohl-Patalongs Konzeption einer plural verstandenen Seelsorge sucht nach Verbindungen zwischen widerstreitenden Theorien.260 Dies erfordert und ermöglicht eine hohe Flexibilität. Nicht auf bestimmte Inhalte, Zielsetzungen und Methoden

255 So tituliert Uta Pohl-Patalong 1999 ihren Sammelband (in Zusammenarbeit mit Frank Muchlinsky), der innerhalb der Seelsorgedebatten Programm wurde, vgl. Pohl-Patalong, U./Muchlinsky, Seelsorge. Für die Anregung einer „plural verstandenen Seelsorge“ (Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 272), um die Seelsorgetheorie neu zu konzeptionieren, ist jedoch Pohl-Patalongs Dissertationsschrift (1996) einschlägig und richtungsweisend – wofür u. a. Nauers multiperspektivische Seelsorgekonzeptionierung exemplarisch ist. 256 Schon 1994 sah Rolf Schieder die Seelsorge aufgrund der Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen vor Herausforderungen gestellt: „Pluralisierung bewirkt am Ort des Individuums dessen Entpathologisierung“ (Schieder, Seelsorge, 43), sodass in der postmodernen Gesellschaft das psychotherapeutische Paradigma der Seelsorge an Stringenz verlöre und die Praktische Theologie nach einem neuen Seelsorgeverständnis suchen müsse (vgl. Schieder, Seelsorge, 27). 257 Dagegen fasst Nauer, Seelsorgekonzepte, 366 „Seelsorge im Plural“ als eigenes Seelsorgekonzept, indem sie Pohl-Patalongs Ansatz als überwiegend sozialwissenschaftlich interpretiert und ihn der Kategorie von Seelsorgekonzepten mit soziologischer Perspektivendominanz zuordnet. 258 Vgl. Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 280. 259 Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 247. 260 Vgl. auch Nauer, Seelsorgekonzepte, 366.

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angewiesen zu sein, eröffnet die Möglichkeit, Seelsorgesuchende mit ihren spezifischen Bedürfnissen, in ihren spezifischen Kontexten wahrnehmen zu können und daraufhin ihnen entsprechend angemessen zu reagieren.261 Von dort aus lassen sich Seelsorgetheorien und Seelsorgekonzepte als nebeneinanderstehende denken und fruchtbar machen, sodass sowohl auf theoretischer wie auch praktischer Ebene mehr im „Sowohl-als auch“, denn im „oder“ zu denken ist. Dies ist anders kaum möglich, möchte Seelsorge einer individualisierten, postmodernen Gesellschaft zuträglich werden.262 Um auf die wahrgenommene Individualisierung und Pluralisierung angemessen reagieren zu können, wurde es zum seelsorglichen Auftrag, auf wissenschaftlicher Ebene die Seelsorgetheorien und Konzepte ebenfalls pluraler zu begreifen. Pohl-Patalongs Konzeption ist auch für die Gefängnisseelsorge von hoher Relevanz, weil sie mit ihrem soziologischen Ansatz eine gesellschaftlich orientierte Seelsorge intendiert und davon ausgeht, dass Seelsorge einerseits von gesellschaftlichen Entwicklungen geprägt wird, andererseits aber ebenso auf die Gesellschaft zurückwirkt.263 Pohl-Patalong verweist also einerseits auf die Perspektive, die das Individuum vor Hintergrund seines soziales Umfeldes wahrnimmt, von dem sie annimmt, dass es die jeweilige Person andererseits prägt.264 Gerade vor Hintergrund des gegenwärtigen Wissens von Delinquenzentstehung, bei der das soziale Umfeld und gesellschaftliche Kontexte eine große Rolle spielen, kommt Seelsorge im Gefängnis nicht umhin, soziologische Kontexte in den Blick zu nehmen, wenn sie dem Individuum angemessen begegnen möchte. Dies lässt auf die hohe Relevanz einer soziologischen Betrachtung bei der Deutung dessen, was als „böse“ wahrgenommen wird, schließen.265 Die seelsorgliche Wahrnehmung kann sich nicht mehr eindimensional auf das Individuum beschränken, weil gerade solches nicht mehr ihm entsprechend wahrgenommen würde, ohne den Blick auf sein Umfeld und seinen Kontext. Seelsorge muss jedoch nicht nur den gesellschaftlichen Kontext in ihre Arbeit mit einbeziehen, sondern auch umgekehrt damit rechnen, selbst einen Einfluss auf die Gesellschaft zu haben. „Denn zum einen beeinflusst das seelsorgliche Gespräch (mehr oder weniger direkt) das Handeln der Individuen, das immer in einem sozialen Kontext steht. Zum anderen stabilisiert eine ‚unpolitische‘, individualistisch konzipierte Seelsorge die gegenwärtig herrschenden Verhältnisse, wenn nur das individuelle Wohlbefinden erhöht und der

261 262 263 264 265

Vgl. Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 248. So auch Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 180. Vgl. Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 265. Vgl. Pohl-Patalong, U., Individuum. Siehe Kapitel 3.1.1.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

Umgang mit den Folgen gesellschaftlicher Probleme erleichtert wird, ohne diese zu thematisieren.“266

Auch diese Erkenntnis beeinflusst die Gefängnisseelsorge. Seelsorge hat unweigerlich eine Wirkung auf Einstellung und Verhalten ihres Gegenübers, auch wenn sie sich nicht explizit dem Ziel der Resozialisierung unterwirft und zu ihrem eigenen Ziel macht. Das heißt, dass Seelsorge dadurch einerseits die „gefängnisinterne“ Gesellschaft und anderseits auch die Gesellschaft „draußen“ bis zu einem gewissen Grad mitbeeinflusst, wenn die seelsorgesuchende Person mit ihren Einstellungen und Haltungen in die Gesellschaft zurückkehrt. Mit Pohl-Patalong ist für die Poimenik zu schlussfolgern, „daß Gesellschaft nicht mehr nur als Kontext und Hintergrund der Individuen gefaßt werden kann, […] sondern […] einerseits als ‚Ressource‘, andererseits als ‚Produkt‘ seelsorgerlichen Handelns begriffen werden muß.“267 Nun ist es nicht so, dass allein Seelsorgekonzepte – der gesellschaftlichen Pluralität entsprechend – multikonzeptionell verstanden werden müssen. Gerade in der Gefängnisseelsorge konkretisieren sich darüber hinaus auch Differenzen und Divergenzen, die zwischen seelsorgesuchender Person und der Seelsorgeperson auftauchen können, die als Ambivalenzen sogar innerhalb ein und derselben Person aufkommen können – dies wurde oben unter den Begriff der „Polyvalenten Normativität“ gefasst. Wie ist mit dieser Art von Pluralität umzugehen? Wie können harte Grenzen, besonders hinsichtlich einer geschilderten Straftat überwunden werden? Zumindest mit Pohl-Patalong ist davon auszugehen, dass Divergenzen und Ambivalenzen überwunden werden können, „ohne daß ein gemeinsamer Konsens der Werte erreicht wird, indem die Seelsorgerin sich bemüht, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen.“268 Pohl-Patalong schafft hier die Möglichkeit, über Grenzen hinaus zu denken, ohne sich zum Ziel machen zu müssen, sie aufheben zu müssen oder zu können. Ihr Ansatz ist damit nicht pluralistisch im Sinne all der anderen „-Ismen“, die sich als einzige Wahrheit darstellen. Mit ihrem Ansatz wird eine Möglichkeit gegeben, mit „Polyvalenter Normativität“ umzugehen. Eine andere Perspektive einzunehmen, bedeutet nämlich etwas anderes, als die Identifikation mit dem Gegenüber – wie es Stubbe konstatiert – wonach Grenzen eben nicht bestehen bleiben können, sondern die eigenen Grenzen zugunsten des Gegenübers aufgegeben werden müssten. Pohl-Patalong zufolge darf jedoch „das Bemühen um Verständigung und Verständnis nicht die Fixierung auf einen Konsens bedeuten,

266 Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 265. 267 Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 265. 268 Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 254.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

zumal dieser in postmoderner Sicht keine zwingende Voraussetzung für Verständigung bildet.“269 Verständigung kann gelingen, indem der andere Mensch in seiner Andersheit wahrgenommen wird – und nicht in seinen Defiziten. In einem Perspektivwechsel ist eine gewisse Flexibilität erforderlich, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen.270 Das bedeutet aber nicht, dass man zum Gegenüber wird, im Sinne eines Genauso-Seins. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Seelsorgende nicht nur ihr Gegenüber in seinem sozialen Umfeld angemessen wahrnehmen können müssen, sondern auch sich selbst. Es geht auch zu einem hohen Grad um Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion des je eigenen Kontextes und der Gegenüberstellung beider je wahrgenommener Kontexte, um sich der Frage anzunähern: „Wie kommt es, dass mein Gegenüber so anders denkt und fühlt als ich?“ Insgesamt sieht das plural verstandene Seelsorgekonzept also vor, dass Seelsorger:innen „Widerstreitendes und Fremdes nicht nur in ihrem eigenen Leben wahrnehmen und auf der Basis transversaler Übergänge sinnvoll in ihre Person integrieren […] können, sondern diese Kompetenz auch bei anderen Menschen zuzulassen und aktiv zu fördern.“271 Seelsorge ist also multiperspektiv, insofern sie viele unterschiedliche Perspektiven einnehmen können sollte. Ihre Wahrnehmungsfähigkeit beinhaltet, den Blick auf sich selbst werfen zu müssen, auf das Gegenüber, auf die Kontexte des Gegenübers und sein Umfeld, all dies getrennt voneinander und wieder zusammenführend mit Blick auf die Differenzen und Ambivalenzen. Dies führt dazu, dass Seelsorge in ihrem Selbstverständnis ebenfalls nicht eindimensional bleiben kann. Doris Nauer hat den pluralen Seelsorgeansatz 2001 weitergedacht und konzipiert eine multiperspektivische Seelsorge, die über Pohl-Patalongs „soziologische Perspektivendominanz“272 hinauszugehen bestrebt ist.273 Sie unterscheidet

269 270 271 272 273

Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 254. Vgl. Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 255. Nauer, Seelsorgekonzepte, 374. Nauer, Seelsorgekonzepte, 366. Den multiperspektivischen Seelsorgeansatz hat durch den Gefängnisseelsorger und Kriminologen Martin Hagenmaier Einzug in die Gefängnisseelsorgelehre gefunden. Er begründet einen solchen von seinem konstruktivistisch-systemischen Ansatz her in seiner Dissertation Mythen, Konstruktionen, Lebensentwürfe. Perspektiven evangelischer Seelsorge in Zwangseinrichtungen aus dem Jahre 2009. Er verdeutlicht in seiner Arbeit, dass das, was „immer Menschen zu ,sehen‘ möglich ist, […] untrennbar an der allgemein menschlichen und darüber hinaus an der jeweiligen individuell – subjektiven Perspektive ihres Platzes in der Gesellschaft [hängt], über die weder Offenbarungsglaube noch wissenschaftlich – methodische Erkenntnisse im Sinne einer Ontologie hinausführen“ (Hagenmaier, Mythen, 406f).

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

30 Seelsorgekonzepte und systematisiert sie nach „Theologisch-Biblische[r]“274 , „Theologisch-Psychologische[r]“275 und „Theologisch-Soziologische[r] Perspektivendominanz“276 und stellt sie auf eine theologisch-philosophische Grundlage.277 Daraus entwirft sie ein neues Konzept „Multiperspektivische[r] Seelsorge“278 , das jedoch ebenfalls nicht als „Meta-Konsens-Konzept[…]“279 verstanden werden soll, weil dies der Konzept-Pluralität zuwiderlaufen würde. „Konzept-Differenzen sind […] nicht herunterzuspielen oder zu verwischen, sondern konturiert herauszuarbeiten, um auf der Basis des Widerstreits rational begründete Übergänge zwischen Konzepten und Konzeptanteilen zu finden.“280 Mit Nauer lässt sich ein Seelsorgekonzept als „dynamisches Konstrukt verstehen, das angesichts individueller, kirchlicher und gesellschaftlicher Wandlungsprozesse nicht nur von denen, die es konzipiert haben, sondern auch von denen, die es für sich rezipieren, immer wieder aktualisiert werden muss.“281 Nauer ergänzt ihr Konzept der multiperspektivischen Seelsorge in ihrer später vorgelegten Seelsorgelehre durch ein multidimensionales.282 Viele Perspektiven einnehmen zu müssen, um sich dem Gegenüber angemessen seelsorglich zu verhalten, hat eine Rückwirkung auf die Seelsorge selbst. Weil Seelsorge „ganzheitliche Sorge um die komplexe und ambivalente Seele Mensch“283 ist, wäre es eine Engführung, Seelsorge rein pastoralpsychologisch oder sich rein auf das Religiöse beschränkende zu verstehen, obwohl oder weil beide wichtiger Bestandteil von Seelsorge sind. Weil Seelsorge den Menschen ganzheitlich als einen betrachten muss, der viele Dimensionen hat, folgt daraus für sie selbst, dass sie multidimensional aufgestellt ist.284 Ihr multidimensionales Seelsorgeverständnis begründet Nauer mit ihrem Gottesund Menschenbild. Davon ganz abgesehen steht Seelsorge im Dienst der (jeweiligen) Kirche, wodurch Seelsorge an sich religiös fundiert ist. Von ihr aus wird das Leben immer vom Glauben her gedeutet. Nun hat Seelsorge aber generell und erst

274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284

Mit seiner Arbeit versucht er Praktische Theologie im Allgemeinen und Seelsorge im Besonderen neben und im konstruktiven Gespräch mit den Humanwissenschaften zu positionieren. Geschehe das nicht, „könnte es immer wieder zu einer Vorstellung vom Ende der Seelsorge kommen, […] wie es zuletzt bei der Kritik der Seelsorgebewegung der Fall war“ (Hagenmaier, Mythen, 13). Nauer, Seelsorgekonzepte, 388. Nauer, Seelsorgekonzepte, 388. Nauer, Seelsorgekonzepte, 388. Vgl. Nauer, Seelsorgekonzepte, 376–388. Nauer, Seelsorgekonzepte, 376. Nauer, Seelsorgekonzepte, 437. Nauer, Seelsorgekonzepte, 437. Nauer, Seelsorgekonzepte, 13. Vgl. Nauer, Seelsorgekonzepte, besonders 261–264, 318. Nauer, Seelsorgekonzepte, 261. Vgl. Nauer, Seelsorgekonzepte, 262.

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recht am speziellen Ort des Gefängnisses mit Menschen zu tun, die verstärkt in einem säkularen Kontext leben und aufgewachsen sind und mit konkretisierten Glaubensfragen wenig oder gar nichts zu tun haben – und dennoch wird im Gefängnis nach Seelsorgenden verlangt, mit der Hoffnung, dass sie beispielsweise ein Gespräch mit der Familie ermöglichen oder Zigaretten besorgen. Wie steht es also um die religiöse Dimension der Seelsorge? Seelsorge muss Glaube und säkulare Weltanschauung voneinander unterscheiden, wobei sie „in ihrer Eigenlogik wahrgenommen und belassen werden, um nicht das eine durch das andere zu vereinnahmen.“285 Mit Pohl-Patalong ist zu konstatieren, dass auch hier nur angemessen ist, sich in der jeweiligen Andersheit wahrzunehmen, ohne Glaube gegen Vernunft gegeneinander auszuspielen. Es gibt womöglich Übergänge zwischen den nebeneinanderstehenden, anders-seienden Logiken, nach denen transversal gesucht werden kann. „So können Nahtstellen gefunden werden, an denen punktuell und ohne den Anspruch auf ein umfassendes System Verständigung und gegenseitiges Lernen möglich ist.“286 Es ist jedoch nicht Ziel und Voraussetzung, auf einen inhaltlichen, religiösen Konsens zu kommen, denn schlimmstenfalls blockiert dies die Kommunikation.287 „Damit wird auch der Defizitperspektive gewehrt, indem das Gegenüber nicht für die eigene Perspektive vereinnahmt wird, sondern wirkliche seelsorgliche Begegnung stattfinden kann.“288 Es stellt sich also die Bedeutung der Kommunikation heraus und dass es dafür notwendig ist, Andersheit gegebenenfalls als anders wahrnehmen und stehenlassen zu können, ohne in eine Defizitperspektive zu verfallen. „Dies beinhaltet eine Abkehr vom christlichen Absolutheitsanspruch“289 , so Pohl-Patalong. Theologisch fundieren lässt sich das durch den Gedanken „Gottes als Viele“290 , den Nauer im trinitarischen Gottesbild konkretisiert. Sie sieht das „[m]ultidimensionale[…] geheimnisvolle[…] Gottesbild“291 , besonders in der Trinität als Erfahrungsmodus zum Ausdruck gebracht. Ihr zufolge werden Aussagen über Gott im Modus der Erfahrung getroffen, die als schriftlich fixierte Gotteserfahrungen, mündlich tradierte und kreativ verdichtet wahrgenommen und dargestellt werden und auch gegenwärtig noch stattfinden und sich jeder Beweisführung entziehen. Dadurch entsteht eine Vielfalt auch ambivalenter Gottes- und Glaubenserfahrungen, die Nauer in dem Trinitäts-Bild zu systematisieren sucht. In jenem werde die Komplexität des Gottesbildes benennbar, denn hier hätten wir es „mit Gott

285 286 287 288 289 290 291

Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 271. Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 272. Vgl. Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 272. Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 272. Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 272. Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 272. Nauer, Seelsorge, 132.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

selbst zu tun […], so wie Menschen ihn erfahren haben und noch stets erfahren“292 . Das trinitarische Gottesbild soll helfen, „an einem einzigen Gott festzuhalten und zugleich den pluralen und ambivalenten Gotteserfahrungen vergangener und gegenwärtiger Menschen auf der Ebene des Gottesbildes selbst gerecht zu werden.“293 Es spiegelt die Pluralität vergangener und gegenwärtiger Erfahrungen wider, die „Menschen sowohl mit dem Vater Jesu Christi als auch mit Jesus Christus selbst und dem Heiligen Geist gemacht haben und auch heute noch machen“294 . In den trinitarischen Dimensionen werde Gott in seiner Ambivalenz erfahrbar, zwischen Transzendenz und Immanenz, Jenseits und Diesseits, verborgen und offenbar.295 In dem trinitarischen Gottesbild lassen sich also multidimensionale und ambivalente Gottesbilder miteinander vereinen, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Neben dem trinitarischen Gottesbild kann es aber auch potenziell andere Bilder geben, die der anthropologischen Pluralität zuträglich werden. Das trinitarische Gottesbild sollte – und kann – nicht wiederum zu einem einheitlichen Gottesbild erhoben werden, sondern es ist stets von einem Pluralismus von Symbolen auszugehen, wobei die Wahl jener begründet und reflektiert erfolgen muss, um jeder Funktionalität von Religion entgegenzustehen.296 Weiter ist sich bewusst zu machen, dass Gottesbilder stets Resultat menschlicher Erfahrungen sind. Sie sind also auch deshalb plural zu denken, weil menschliche Erfahrungen plural sind. Analog zu jenem multidimensionalen Gottesbild beschreibt Nauer ein „[m]ultidimensionales geheimnisvolles Menschenbild“297 . Um den Menschen aus biblischer Perspektive „als gottgewolltes ganzheitliches Seelenwesen“298 in seiner Komplexität erfassen zu können, unterscheidet Nauer verschiedene Dimensionen des Menschen („Körper-Dimension“299 , „Psyche-Dimension“300 , „Geist (Spiritus)-Dimension“301 , „Soziale-Dimension“302 , „Kontext-Dimension“303 , „Historische-Dimension“304 ), „obgleich sie nur ineinander verwoben Mensch-Sein in vollem Umfang ausmachen.“305 Daraus ergibt sich für Nauer ein Menschenbild,

292 293 294 295 296 297 298 299 300 301 302 303 304 305

Nauer, Seelsorge, 105. Nauer, Seelsorge, 104. Nauer, Seelsorge, 104. Vgl. Nauer, Seelsorge, 100–140, bes. auch das Schaubild auf Seite 135. Ähnlich Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 273. Nauer, Seelsorge, 178. Nauer, Seelsorge, 165. Nauer, Seelsorge, 165. Nauer, Seelsorge, 167. Nauer, Seelsorge, 170. Nauer, Seelsorge, 172. Nauer, Seelsorge, 175. Nauer, Seelsorge, 177. Nauer, Seelsorge, 165.

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in dem sich der Mensch als multidimensionales und nur dadurch ganzheitliches, ambivalentes und geheimes (nie vollständig zu enträtselndes) Wesen herausstellt.306 Das trinitarische Gottesbild als multidimensionales Gottesbild zusammen mit dem multidimensionalen Menschenbild führen Nauer zu einer multidimensionalen Seelsorge, die eine „Spirituell-Mystagogische“307 , eine „Pastoralpsychologisch Heilsame“308 und eine „Diakonisch Prophetische Dimension“309 umfasst, die ebenfalls ineinander verwoben sind. Seelsorge habe ein christliches Gottesbild zum Fundament und unterscheide sich dadurch von anderen Formen der Sorge. Sie habe den ganzen Menschen im Blick, und zwar „in seinen sozialen, geschichtlichen und kontextuellen Vernetzungen“310 . In dieser Anthropologie nimmt Seelsorge den Menschen ganzheitlich in den Blick, als „Sorge um das komplexe gottgewollte Seelenwesen […], lässt sie sich nicht auf eine Teildimension des Menschen beschränken, sondern nimmt in ausgewogener Balance alle Dimensionen menschlicher Existenz in den Blick“311 . Den Menschen als „gottgewollt“ zu beschreiben, ist allerdings, so ist hier anzuführen, eine Sache der Perspektive. Evangelische Seelsorger:innen bewegen sich stets in einem kirchlichen Kontext und ergo auch in einem christlichen Glaubenskontext, sodass sie Seelsorgesuchende aus ihrer eigenen Perspektive als gottgewollt ansehen können. Es ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, dies auch genau so zu kommunizieren, weil nicht von vornherein klar ist, ob die:der Seelsorgesuchende sich selbst genauso versteht und wahrgenommen wissen möchte. Man könnte nun sagen, dass dies vorauszusetzen sei, weil der:die Seelsorgesuchende nun eben Seelsorge aufsucht und sich darüber klar sein müsste, was er:sie damit eigentlich in Anspruch nimmt und die explizit geäußerte Religion somit selbstverständlich hinnehmen müsse. Allerdings ist genau dies in einer säkularen Welt eben nicht mehr klar. Insgesamt scheint es von daher von höchster Relevanz für Seelsorge zu sein, eine Wahrnehmungskompetenz zu entwickeln, die es ermöglicht, Menschen in und vor dem Hintergrund ihrer Kontexte wahrzunehmen, Differenzen zu erkennen, sie stehen zu lassen und auszuhalten. Wenn nicht nur der:die Andere als „der:die Böse“, „der:die Schlechte“ wahrgenommen werden soll, dann gehört es dazu, sich

306 307 308 309 310 311

Vgl. Nauer, Seelsorge, 181f. Nauer, Seelsorge, 184. Nauer, Seelsorge, 184. Nauer, Seelsorge, 184. Nauer, Seelsorge, 261. Nauer, Seelsorge, 261.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

selbst und das Gegenüber in der Seelsorgesituation genau wahrzunehmen und zu reflektieren.312 2.4.1.3 Kommunikation als Instrument multiperspektivischer, multidimensionaler Seelsorge

Mit der Situation, dass eben nicht mehr klar ist, was Seelsorge ist oder anders, dass Verständnisse plural geworden sind und dadurch unübersichtlich, beschäftigt sich auch die praktisch-theologische Milieuforschung, für die insbesondere Eberhard Hauschildt federführend ist.313 In soziale Milieus lassen sich Gruppen mit ähnlichen Werten, Lebensführungen und Mentalitäten zusammenfassen, sodass die Vielfalt sozialer Umfelder sich strukturierter und übersichtlicher darstellen lässt. Hauschildt zufolge ist das, was „ein Gespräch sei und was da Seelsorge sei, […] im Gegenüber der Milieus noch gar nicht ausgemacht, sondern wird erst miteinander ausgehandelt.“314 Seelsorge findet ihm zufolge stets interkulturell und interreligiös statt. Interkulturelle und interreligiöse Seelsorge ist mit Hauschildt als „Normalfall“ zu bestimmen. Etwas „als interreligiös bzw. interkulturell zu identifizieren, bedeutet eine Mittelposition einzunehmen zwischen zwei extremen Möglichkeiten, den Sachverhalt zu verstehen.“315 Dies ist nicht nur in Debatten der Fall, in denen beispielsweise christliche und islamische Seelsorge316 in einen Dialog gebracht werden,

312 So konstatiert auch Hauschildt, Seelsorgelehre, 258, für die interkulturelle Seelsorge, in der er Wahrnehmungsfähigkeit als wichtiges Mittel versteht, über die Wahrnehmung des Gegenübers als „individuelles Fremdes“ hinauszugehen. 313 Vgl. zum genaueren Studium der Milieuperspektive in der Praktischen Theologie Hauschildt/ Kohler/Schulz, Milieus praktisch. sowie Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus praktisch II. 314 Hauschildt, Interkulturelle Seelsorge unter Einheimischen, 264. 315 Hauschildt, Interkulturelle Seelsorge unter Einheimischen, 171. 316 Die Vorstellung von islamischer Seelsorge befindet sich in Deutschland noch in ihrer Anfangsphase, was die Praxis wie die Theorie betrifft. „Die islamische Seelsorge ist eine neue Fachdisziplin und bedarf einer wissenschaftlichen Aufarbeitung, um den Bedürfnissen muslimischer Bürger/innen entsprechende Konzepte entwickeln zu können.“ (Cimsit, Wünsche, 115). Dabei arbeitet die islamische Seelsorge eng mit der evangelischen und katholischen Kirche zusammen, steht aber „vor der Herausforderung den Fundus der christlichen Seelsorge adäquat in ihre Theorie und Praxis einfließen zu lassen“ (Cimsit, Wünsche, 115). Es geht besonders auch um Termini und Begriffe, die zwar aus christlichen Traditionen stammen, die in die islamische Seelsorge übernommen, aber „mit ihr nicht identisch sind“, (Cimsit, Wünsche, 115). Der Bereich der islamischen Seelsorge ist also noch ein eigenes, zu erschließendes Feld, was an dieser Stelle und im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann. Dennoch bildet es auch in der Gefängnisseelsorge ein wichtiges Anliegen, das auch eine besondere Stellung in der Gefängnisseelsorge einnimmt, angesichts der muslimischen Gefangenen im Gefängnis. Hingewiesen sei zu der islamischen Gefängnisseelsorge in diesem Zusammenhang auch auf Elsdörfer, Ein weiter Horizont, die ebenfalls Bezug auf Cimsit, Wünsche nimmt sowie auf die Arbeit von Jahn, Götter, die die Umsetzung des Rechts auf Religions-

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

wie mit dem Begriff „Interreligiosität“ assoziiert wird,317 sondern trifft demnach auch dann zu, wenn in einem Seelsorgegespräch im Gefängnis unterschiedliche Vorstellungen von Chiffren „des Bösen“, von „Schuld“ oder „Sünde“ aufeinandertreffen. Solche Differenzen bestehen nicht nur zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen, sondern auch zwischen unterschiedlichen Milieus. Interreligiös und Interkulturell legt als „dazwischen“ zugleich Wert auf besagte Mittelposition, denn es „wäre ja auch denkbar, die Sache als ganz spezifisch für eine Religion bzw. eine Kultur“318 – und ergänzend dazu – ein Werteschema bzw. Bewertungsschema dessen, was „Böse“ und was „Gut“ ist und wie man sich demgegenüber zu verhalten hat, anzusehen. Interkulturelle und Interreligiöse Seelsorge vertieft dagegen den Dialog über die Grenzen hinweg.319 Milieus spiegeln unterschiedliche Traditionen, Sprachwelten und Alltagsgewohnheiten wider.320 „Die Situation ist gar nicht so unähnlich der, wenn Menschen aus verschiedenen Ländern oder verschiedenen Religionen aufeinandertreffen […]. Da kommt es darauf an, 1. Die Einbettung von Individuen in ihre sozial gegebene ‚Kultur‘ wahrzunehmen, 2. Die damit gegebenen Differenzen zur eigenen Kultur und die dadurch produzierten Missverständnisse zu beachten und 3. Auf eine Kommunikation über die kulturellen Grenzen hinweg zu zielen.“321

Genau wie schon Pohl-Patalong und Nauer geht es auch mit Hauschildt darum, Individuen in ihren Kontexten wahrzunehmen, und zwar auch in ihrer Andersheit. Darüber hinaus expliziert Hauschildt einen Umgang mit dieser Wahrnehmung, indem er u. a. dezidiert die Kommunikation über Grenzen hinweg nennt. Es mag unterschiedliche Gesprächsziele in der Seelsorge geben und auch unterschiedliche Verständnisse dessen, was Gespräch ist, und dennoch funktioniert Seelsorge nicht ohne irgendeine Art von Kommunikation. So schreibt Hauschildt: „Zur Seelsorge gehört eine große Breite helfender Gespräche und anderer am Modell des Gesprächs orientierter Kommunikation: vom Beichtgespräch bis zur Arbeit der kirchli-

317 318 319 320

321

freiheit angesichts der wachsenden religiösen Pluralität auch im Strafvollzug in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt. Vgl. auch Hauschildt, Interkulturelle und interreligiöse Seelsorge, 171. Hauschildt, Interkulturelle und interreligiöse Seelsorge, 172. Vgl. Hauschildt, Interkulturelle und interreligiöse Seelsorge, 172. Vgl. Hauschildt, Interkulturelle und interreligiöse Seelsorge, 264. Eine solche Wahrnehmung von Interreligiosität/Interkulturalität dezidiert im Kontext Gefängnis reflektiert Brandner, Seelsorge und Freundschaft, 189 mit Rekurs auf Hauschildt. Hauschildt, Interkulturelle und interreligiöse Seelsorge, 264f.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

chen Beratungsstellen, von der Seelsorge in Notfällen bis zur ständigen Begleitung und zufälligen Begegnung, von der Seelsorge durch Spezialisten bis zur Alltagsseelsorge der Menschen in den gewöhnlichen Gesprächssituationen. […] [E]s gibt Seelsorge mittels nonverbaler Mittel und durch Rituale.“322

Hier zeigt sich: Der gemeinsame Nenner multidimensionaler Seelsorge(-Methoden) ist noch nicht mal zuerst das Gespräch, wohl aber Kommunikation, unter die sich die Kommunikationsform „Gespräch“ fassen lässt. Es braucht Kommunikation, wenn man begleiten möchte, es braucht sie, wenn man Beziehung herstellen möchte, es braucht sie, um zu beraten, um zu beichten, kurz: um irgendeine Form von Verbindung herzustellen. Vorausgesetzt ist, dass diese Verbindung auf Gleichberechtigung aufbaut. Besonders die „Kommunikationsweise ,Gespräch‘ setzt voraus, dass beide Seiten sich je eigenes zu sagen haben, beide berechtigt sind, das Wort zu führen, zu hören und zu reden, und geht insoweit von einer Gleichwertigkeit beider Gesprächspartner […] aus.“323 Dies ist deshalb so wichtig, weil Wahrnehmung niemals die Wahrheit abbildet, weil Wahrnehmung stets aus dem eigenen Kontext heraus geschieht. Wie Isolde Karle schon 1996 von Schleiermacher her in ihrer Auseinandersetzung mit ihrem Verständnis einer modernen Seelsorge feststellt, kommt es deshalb immer wieder zu Missverständnissen in der seelsorglichen Kommunikation, weil es immer strukturelle und kognitive Grenzen in jeder Beobachtungs- und Kommunikationsform gibt. „Jeder beobachtende Blick erzeugt das Gesehene mit, jede Beobachtung einer anderen Person bleibt Beobachtung und ist niemals in Deckung zu bringen mit der Wirklichkeit der Person selbst“324 . Das bedeutet aber auch, Unterschiede dessen wahrnehmen können zu müssen, was überhaupt als Gespräch verstanden wird. „In der Seelsorge müssen nicht nur beide Seiten mit ihren jeweiligen einzelnen Vorstellungen und Werten zu Wort kommen, sondern auch beide Seiten mit ihrem kulturell geformten Verständnis vom Reden und Handeln überhaupt“325 . Dabei geht Wahrnehmung der seelsorglichen Kommunikation voraus und gleichzeitig geht jener die (nonverbale) Kommunikation voraus, weil Wahrnehmung anders nicht möglich ist als über irgendeine Form von Mitteilung und Informationsaustausch. Wie seelsorgliche Kommunikation aussieht, kann ganz unterschiedlich sein, wichtig ist, dass sie stattfindet. Was also als oberstes Ziel von Seelsorge stehen sollte, ist erst einmal, dass Kommunikation nicht abbrechen darf.

322 Hauschildt, Interkulturelle und interreligiöse Seelsorge, 266f. 323 Hauschildt, Seelsorgelehre, 248. 324 Karle, Seelsorge, 221. Schon Schleiermacher formulierte: „Es kann keiner sagen, daß er das Motiv kennt, wenn der andere es ihm nicht gegeben hat, alles andere ist nur Conjectur“ (Schleiermacher, Praktische Theologie, 13,436). 325 Hauschildt, Seelsorgelehre, 249.

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Damit sie nicht abbricht und darüber hinaus auch noch Seelsorge stattfinden kann – unabhängig davon, was das im einzelnen Fall bedeutet – sollten Kontexte, Milieus, Umfelder wahrgenommen werden können und die Kommunikation ihnen entsprechend angepasst werden.326 Was bedeutet das? Hauschildts Beispiel einer Gefängnisseelsorgesituation veranschaulicht dies. Es geht um einen Jugendlichen im Gefängnis, der das Gespräch mit dem Seelsorger sucht, in der Hoffnung, dass ihm der Seelsorger zu einem Telefonat mit der Freundin des Jugendlichen verhilft und es stellt sich für den Seelsorger heraus, dass es eigentlich weniger um das Telefongespräch, denn mehr um den Beziehungsstress zwischen dem Jugendlichen und seiner Freundin geht. „Der Seelsorger verwickelt den Jugendlichen in ein Gespräch darüber, was ihn bewegt: ‚Was geht denn ab bei Euch?‘ Der Jugendliche erzählt: […] Dass er vermutet, dass sie mit anderen ‚rummacht‘. […] Der Seelsorger nimmt Angst und Ohnmacht als die zentralen Gefühle des Gefangenen wahr und sagt: ‚Jetzt, wo Du hier bist, ist zuhause die Kacke am Dampfen.‘“327

Hier fällt besonders die Sprache des Seelsorgers auf, der sich eines Jugendjargons bedient. Der Seelsorger schafft dadurch kommunikative Verbindungen, was in diesem konkreten Fall dazu führt, eine Verbindung zu dem Jugendlichen aufzubauen.328 Daraus ist allerdings nicht zu schlussfolgern, sich in der Seelsorge der Kommunikationsebene des Gegenübers grundsätzlich anzupassen. „Vielmehr besteht der größere Effekt an helfender Erweiterung der Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten durch Seelsorge darin, dass Seelsorger/innen die für sie typischen Kompetenzen, auf die ihr Gegenüber in seiner Lebenswelt sonst gerade nicht trifft, in die Begegnung einspielen. […] Sie soll Hilfestellungen anbieten und sich auf die milieuspezifischen Möglichkeiten und Grenzen einlassen.“329

Christliche Deutungen und das christliche Selbstverständnis – um auf diese Frage zurückzukommen – müssen also dem jeweiligen Kontext (Milieu) entsprechen, wenn sie Ausdrucksmöglichkeiten sein und Handlungsmöglichkeiten eröffnen sollen. Geht es beispielsweise um die Alltagstauglichkeit von Entscheidungen, können biblische Szenen oder Sprüche kreative Möglichkeiten sein, Handlungsspielräume

326 Vgl. zu konkreten Beispielen dazu besonders Hauschildt, Interkulturelle Seelsorge unter Einheimischen, 267–278. 327 Hauschildt, Interkulturelle Seelsorge unter Einheimischen, 266. 328 Vgl. Hauschildt, Interkulturelle Seelsorge unter Einheimischen, 266. 329 Hauschildt, Interkulturelle Seelsorge unter Einheimischen, 279.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

in der je eigenen Lebenspraxis zu erweitern. Oder wenn trotz großer Differenzen gegenseitige Akzeptanz und Annahme entstehen sollen, dann kann es wichtig werden, Gestaltungen zu schaffen, die Akzeptanz und Annahme zum Ausdruck bringen.330 An dieser Stelle ist nochmal zu betonen, dass Seelsorgende, besonders im Gefängnis, auch mit Seelsorgesuchenden zu tun haben, die sich selbst als nicht gläubig oder anders gläubig empfinden. Seelsorge wird nicht unreligiös, wenn Religion nicht explizit zur Sprache kommt oder vom Gegenüber gefordert wird. Die religiöse Perspektive wird durch den:die glaubenden Seelsorger:in (wie auch immer der Glaube im Detail aussieht) in die Seelsorge hineingetragen, auch wenn sie nicht explizit kommuniziert wird. Sie entsteht in der Deutung des Lebens aus der Glaubensperspektive. Exemplarisch dafür ist der christliche Gemeinschaftsgedanke. Von außen betrachtet ist das Zusammensitzen mit einem Gefangenen bei Kaffee und Kuchen (abgesehen davon, dass es für den:die Gefangenen schon allein deshalb etwas Besonderes ist, weil Zusammensitzen und ganz besonders Kaffee und Kuchen nicht zu dessen Alltag gehören) nicht ein christliches Spezifikum oder seelsorgliches Spezifikum, denn auch ein:e Therapeut:in kann theoretisch in ihrer Sitzung Kaffee und Kuchen anbieten. Doch aus christlicher Perspektive – und die wird bei der Seelsorgeperson mitschwingen – kann Gemeinschaft als zutiefst christlich gedeutet werden. Davon zeugen biblische Narrationen, in denen Jesus von Nazareth die Gemeinschaft mit denjenigen pflegte, die sonst von der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden – und mit ihnen speiste (z. B. Lk 19, 1–10). Daneben meint „das christliche Verständnis von ‚communio‘ […] eine Gemeinschaft, die Gott herstellt, die gerade darin, dass sie nicht einfach gleichgesetzt wird mit sozialer Bindung, etwas von der Freiheit anzeigt, zu der Gott befreit.“331 So gedeutet wird das Zusammensitzen bei Kaffee und Kuchen im Gefängnis zutiefst religiös und damit auch ein Proprium der Seelsorge. Und zwar selbst dann, wenn es einfach nur bei diesem Zusammensitzen und Reden über dies und jenes bleibt.332 Die Kunst Seelsorgender besteht besonders in „der Fähigkeit zu gelungenen Übergängen zwischen unterschiedlichen Dimensionen der Seelsorge“333 . Das bedeutet 330 Hauschildt, Interkulturelle Seelsorge unter Einheimischen, 281. 331 Hauschildt, Interkulturelle Seelsorge unter Einheimischen, 281. 332 Hauschildt, Seelsorgelehre, 252 erklärt, dass Seelsorge „immer nur graduell christlich, in einem Moment besonders christlich, später wieder weniger, von der einen Seite her mehr, von der anderen weniger“ ist. „[I]nsoweit der Rückgriff auf transzendente Größen oder theologische Aussagen oder die Tatsache, dass Vorgänge religiöse Funktionen erfüllen, verstanden werden als etwas, das in einer auf Christus bezogenen Perspektive zu sehen ist oder in Beziehung zur christlichen Institution Kirche steht. Evangelisch wird christliche Seelsorge dann, wenn und insoweit die christlichen Interpretationen als Interpretationen von sola scriptura, solus Christus, sola gratia und sola fide vollzogen werden“ (ders., Seelsorgelehre, 252, Anm. 30). 333 Pohl-Patalong, U., Rübermachen, 15.

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auch, bewusst mit der Vielfalt an Seelsorgekonzepten umzugehen. Seelsorgende folgen nicht nur einer Berufung, sondern auch einem anerkannten und bezahlten Beruf, sodass ihre Profession und ihr Rollenprofil kommunizierbar sein müssen. Seelsorgende sollten also in der Lage sein, ihre Rolle und ihre Arbeit zu reflektieren und inhaltlich wie methodisch zu beschreiben. Dies schützt sie ebenfalls vor Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit. „Seelsorgekonzepte verleihen SeelsorgerInnen nicht nur ein inhaltliches theologisches Profil (Proprium), sondern verankern und beheimaten diese auch in ihrer christlichen und spirituellen (Glaubens)Tradition.“334 Das heißt jedoch nicht, sich für ein einziges Seelsorgekonzept entscheiden zu müssen. „Das Multiperspektivische Modell zielt darauf ab, SeelsorgerInnen ausdrücklich die Freiheit und den Spielraum zu eröffnen, mit den vielen Konzeptvarianten so umzugehen, dass sie selbst auf kreative Art und Weise das für ihre Person und ihren spezifischen Tätigkeitsbereich passende Konzept auswählen bzw. die für sie jeweils adäquateste Konzeptkombination zusammenzustellen.“335

Seelsorge kann also nur multimethodisch verstanden werden. Aus dem multiperspektivischen, multidimensionalen Seelsorgeverständnis kann nur folgen, dass ein flexibler Umgang erfordert, multimethodisch zu agieren. Dies ist es, worauf Nauers Kompendium abzielt. Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass nicht nur Nauers unterschiedene und beschriebene Seelsorgekonzepte als Richtschnur gelten sollten und dürften, sondern damit gerechnet werden sollte, dass sich stets neue Konzepte entwickeln können und entwickelt wurden (!) – auch solche, die noch nicht reflektiert worden sind – und die in ihrem Kompendium mitgedacht werden müssen. Ein multiperspektivischer Blick auf eine multidimensionale Welt erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion Seelsorgender, wie bereits mit Pohl-Patalong angedeutet wurde. In einer pluralen, säkularen Welt sind Biografien fragmentarisch und verlaufen nicht nach bestimmten Mustern.336 „Die Sicht des Menschen als von prinzipieller Fragmentarität geprägt hebt die […] Defizite der Seelsorger und Seelsorgerinnen stärker hervor und unterstützt die Absage an eine Haltung des Expertenwissens, was gut für den anderen Menschen ist.“337 Darin schwingt mit, dass die Rolle und Identifikation der Seelsorgeperson eben auch nicht mehr eindeutig, sondern multidimensional, weil individuell geprägt, verstanden werden.

334 335 336 337

Nauer, Seelsorgekonzepte, 435. Nauer, Seelsorgekonzepte, 438. Vgl. Hauschildt, Auftrag, 2. Pohl-Patalong, U., Seelsorge, 255.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

Dies erfordert von Seelsorgenden eine präzise Selbstreflexion und eine genaue Wahrnehmung, in welchen Kontexten die eigene Person eigentlich steht und aus welchem eigenen Kontext heraus das Gegenüber wahrgenommen wird. 2.4.2

Rolle und Identität Seelsorgender – Selbstreflexion als unverzichtbarer Bestandteil

So vielfältig das allgemeine Verständnis und das Verständnis von den Aufgaben der Seelsorge im Gefängnis sind, so vielfältig sind auch die Erwartungen an die Seelsorgeperson. Auch hier verhält es sich im Gefängnis nicht grundlegend anders als außerhalb seiner Mauern. Seelsorgende unterstehen ihrem kirchlichen Auftrag, sodass Seelsorge nicht einfach aus einem persönlichen Interesse oder einer persönlichen Einstellung erfolgt. „Seelsorge ist Nachfolgepraxis im Wirkungsbereich des Evangeliums“338 , wozu Seelsorgende in ihrer Arbeit berufen sind.339 Dies gilt auch für Seelsorge im Gefängnis, wo die „Gottesebenbildlichkeit […] jedem Menschen zugesprochen [wird], unabhängig davon, ob er frei leben kann oder wegen einer Straftat gefangen ist.“340 Seelsorgende haben eine Aufgabe von Amts wegen zu erfüllen, wobei die Begründung dessen auf kirchlichen und also institutionellen sowie individuellen Glaubensgrundlegungen beruht. Seelsorge ist demnach nicht allein Amt und auch nicht allein persönliches Interesse – beides verhält sich in einer Weise zueinander. Seelsorger:innen müssen also ihre Rolle gestalten. Gefängnisseelsorger:innen können Ansprech- und Vertrauensperson sein. Sie werden in diakonischen Belangen angefragt – beispielsweise, wenn materielle Unterstützung notwendig wird, die durch entsprechende Stellen nicht geleistet werden können oder auch in der Arbeit nach der Entlassung Gefangener, indem sie weiterhin über die Diakonie betreut oder ihnen beispielsweise über die Diakonie Wohnungen gestellt werden.341 Seelsorger:innen werden als Mittlerpersonen aufgesucht, die zwischen den Inhaftierten und ihren Bezugspersonen außerhalb des Gefängnisses vermitteln sollen. Es wird erwartet, dass Seelsorgende eine Brücke zwischen der Drinnen- und Draußenwelt bilden, also Öffentlichkeitsarbeit leisten.342 Kurz: Die Rollenanforderungen an Gefängnisseelsorger:innen sind vielfältig. Die Unterschiede zur Welt draußen sind struktureller Art. Seelsorgende im Gefängnis befinden sich in einer Schwellenposition zwischen der Welt drinnen und der Welt draußen. Während Seelsorgende beispielsweise in der „Draußenwelt“ grundsätzlich von jeder und jedem aufgesucht werden können, müssen sich Seelsorgende 338 339 340 341 342

Ziemer, Seelsorgelehre, 220. Vgl. Ziemer, Seelsorgelehre, 220; vgl. Klessmann, Seelsorge, 322. Klessmann, Seelsorge, 369. Vgl. dazu Moser, Interview. Vgl. Drexler, Gefangenen, 176ff.

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im Gefängnis darüber klar werden, ob sie sich als „Gefangenenseelsorger:in“ oder als „Gefängnisseelsorger:in“ verstehen. Im ersten Fall füllen Gefangenenseelsorger:innen die Rolle der Ansprech- und Vertrauensperson für Inhaftierte aus. Im zweiten Fall sind sie für alle Personen im Gefängnis da, einschließlich der Vollzugbeamten und Vollzugsbeamtinnen. Dies hat unter Umständen Konsequenzen hinsichtlich der Wahrnehmung ihrer Person zur Folge, mit denen sie rechnen und umgehen können müssen. Gefangenenseelsorgende erhalten leichter einen Vertrauensvorschuss von Inhaftierten, werden jedoch auch schneller verdächtigt, mit ihnen zu konspirieren, sodass die Einflussmöglichkeiten Seelsorgender innerhalb der Institution geringer sind.343 Folglich ist es nicht verwunderlich, dass die jeweiligen Selbstverständnisse von Gefängnisseelsorger:innen sehr individuell und dem eigenen Arbeitsumfeld und -verständnis entsprechend ausfallen.344 Die plurale und säkulare Gesellschaft zeigt sich auch im Gefängnis als Spiegel der Gesellschaft und die Ansprüche an Seelsorger:innen variieren folglich. Gefängnisseelsorger:innen werden mit einer Vielzahl von Rollen konfrontiert, sodass „Rollenpräferenzen und Rollenprojektionen aufeinander[treffen]“345 . Wie können Seelsorgepersonen im Gefängnis also ihre Identität und ihre Rolle finden? „Seelsorgerliche Identität, das meint die Identität im Sein und Handeln einer Seelsorgerin, eines Seelsorgers“346 und ist als professionelle Identität bewusst gestaltet.347 Doch der Begriff der „Identität“ weist auf einen persönlichen individuellen Anteil innerhalb der professionellen Rolle hin – oder umgekehrt: Seelsorger:innen müssen sich mit ihrer Rolle identifizieren können. Besonders in der Gefängnisseelsorge, in der – wie in jeder Seelsorge auch – echtes Mitgefühl und echte Empathie gefragt sind, sind Seelsorger:innen dazu aufgefordert, mitbetroffen zu sein. Ein Gemeindepfarrer, den der Tod eines Kindes nicht betroffen macht, wird eher Schwierigkeiten haben, eine tröstende Traueransprache zu verfassen. Hier ist seine Person, sein Selbst mitbetroffen. Nun hat jener Gemeindepfarrer aber gleichzeitig die Aufgabe, professionell, tröstend, der Gemeinde und ihren Anforderungen entsprechend, durch die Beerdigung zu führen. Mit der Trauergesellschaft

343 Vgl. Drexler, Gefangenen, 178; Ähnliches berichtet Hagenmaier, Seelsorge, 217 sowie Brandner, Seelsorge und Freundschaft, 187. 344 Vgl. Drexler, Gefangenen, 178f. 345 Brandner, Seelsorge und Freundschaft, 186. 346 Hauschildt, Auftrag, 2. 347 Vgl. Hauschildt, Auftrag, 2. Eberhard Hauschildts, in der Seelsorgelehre viel rezipierten Arbeiten zu einer plural gedachten und der gesellschaftlichen Pluralität entsprechenden Seelsorge werden in diesem Kapitel auf die Praxis der Gefängnisseelorger:innen und ihr Selbstverständnis bezogen. Rezipiert beispielsweise von Günther, Seelsorge, 301.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

gleichermaßen aufgelöst zu sein und zu verzweifeln, ist also genauso wenig hilfreich. Seine Rolle als Pfarrer, die er zu Hause getrost wieder ablegen kann, hilft zur nötigen Distanz. Es ist nicht sein Kind, dass er verabschieden muss, und doch ist das Mitgefühl mit der Familie und ihrer Trauer unverzichtbar. Rolle und Selbst treffen in der professionellen Identität also aufeinander. Im Gefängnis werden Seelsorger:innen jedoch auch ambivalent zu ihrem Gegenüber betroffen. Die eigenen Gefühle sind mit den Gefühlen des Gegenübers nicht unbedingt, wenn nicht gar selten, deckungsgleich. Wenn das Gegenüber davon berichtet, was es alles mit Kindern angestellt hat, kann ein Gefängnisseelsorger mitunter so betroffen sein, in der Empathie und dem Mitgefühl für diese Kinder, dass es schwerfällt, auch für den Täter Empathie zu empfinden und eine Vertrauensbasis zu schaffen – dies wurde unter den Begriff der „Polyvalenten Normativität“ gefasst. Wie sehr und wovon Gefängnisseelsorger:innen betroffen werden, ist von den jeweiligen, individuellen Kontexten abhängig. Der stetige gesellschaftliche Wandel beeinflusst auch die jeweilige Biografie der jeweiligen Gesellschaftsmitglieder. Die jeweiligen Lebenswege verlaufen nicht mehr nach einem traditionellen, vorhersehbaren Schema, sondern gestalten sich fragmentarischer. „Biografien verlaufen nicht mehr nach festen Mustern und in abgeschlossenen Räumen.“348 Das führt dazu, dass auch in Seelsorgesituationen nicht mehr eindeutig ist, was Seelsorge ist. Ihre Bedeutung muss in jeder einzelnen Seelsorgesituation zwischen seelsorgesuchender Person und Seelsorgeperson neu ausgehandelt werden. Dies beeinflusst auch Rolle und Identität der Seelsorgeperson und ihre Profession, einerseits, weil eine Rollenvielfalt durch die Anforderungsvielfalt an sie herangetragen wird, mit der sich Seelsorgende auseinandersetzen müssen, andererseits, weil nicht nur die Biografien der seelsorgesuchenden Personen, sondern auch diejenigen der Seelsorger:innen vom gesellschaftlichen Wandel betroffen sind.349 Das heißt, dass auch das Verständnis und der Umgang von und mit „dem Bösen“ kontextuell angegangen wird, weil das Mitbetroffensein von einer erzählten Situation von Seelsorgeperson zu Seelsorgeperson unterschiedlich sein kann. Die gegenwärtige Pluralität, die sich im Gefängnis als Spiegel der Gesellschaft genauso abzeichnet wie außerhalb der Gefängnismauern, erlaubt es nicht, sich

348 Hauschildt, Auftrag, 1. Schon Henning Luther sensibilisierte für die Mehrdeutigkeiten und Differenzen der Moderne, die sich auch auf die Identitätsbildung auswirken. Identität könne nicht rekonstruiert werden, sondern sei immer wieder neu zu konstruieren und stellt sich damit dem „Mythos der Ganzheit“ (Luther, H., Leben, 263) entgegen. Identitäten seien stets fragmentarisch (vgl. ders., Umstrittene, 167ff). Glaube ist Luther zufolge, „als Fragment zu leben und leben zu können“ (Luther, H., Identität, 172), also nicht immer, um sich selbst zu kreisen, und einer Ganzheit nachzueifern. 349 Vgl. Hauschildt, Auftrag, 1f.

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unflexibel eine einzige Identität, auf ein einziges Rollenverständnis zu beschränken, so wie es andere Epochen hergaben. In anderen Zeiten schien die Identitätsfindung Seelsorgender klarer. Die kerygmatische Seelsorge identifizierte sich über den Auftrag, die christliche Botschaft auszurichten. Die Welt sollte unter dem Blickwinkel Gottes gesehen werden und die Seelsorgepersonen kamen in ihrer theologischen Profession „[k]lar und unangefochten, theologisch tiefgründig und in der Theologie aufgehend […] daher.“350 Gegenwärtig ist dies nicht mehr möglich, insbesondere nicht im Gefängnis, wo Inhaftierte aus den unterschiedlichsten Milieus kommen. Eine solche Seelsorge würde diejenigen ausgrenzen, die eine andere Vorstellung von Religion haben – und unterschiedliche Vorstellungen müssen nicht zwangsläufig zwischen den Religionen bestehen, sondern kommen auch innerhalb derselben Konfession vor.351 Wenn die Seelsorge suchende Person beispielsweise gar nicht von Seelsorge erwartet, Schuld, Sünde und Vergebung zu thematisieren, sondern alltägliche Probleme ansprechen möchte, dann werden solche Themen ausgegrenzt, wenn sie sich nicht theologisieren lassen. „Diese Identität ist stark in ihren Konturen, aber sie ist schwach in einer differenzierten Betrachtung der Phänomene“352 , weil sie sich nur in den Polen Theologie oder Nicht-Theologie bewegt und kein „Dazwischen“ kennt. Die Seelsorgeanlässe sind jedoch komplexer ebenso wie die Seelsorgeverläufe sowie die biografischen Identitäten von seelsorgesuchender und Seelsorgeperson.353 Die Seelsorgebewegung der 1960er Jahre zeugt davon. Sie entwickelte durch den Eintrag der Humanwissenschaften und der Empirie eine enorme Fachkompetenz, sodass die therapeutisch/beratende Methode die Seelsorge stark beeinflusst hat. Sie führte sie zu einer professionellen, erlernbaren Gesprächsführung. Auch eine solche Fachkompetenz kann identitätsbildend sein. Kompetentes Handeln gibt Sicherheit. Allerdings führte dies dazu, dass die Integration der Theologie schwieriger geworden ist. Denn die Logik der Fachkompetenz scheint Theologie nicht zu benötigen. Was unterscheidet dann eine Seelsorgerin oder einen Seelsorger von einer Therapeutin bzw. einem Therapeuten? Wird der Unterschied in seiner:ihrer Handlung überhaupt sichtbar? Solange Beratung und Therapie erwartet werden, gibt es keine Schwierigkeiten. Wenn von Seelsorge und der Seelsorgeperson jedoch etwas anderes erwartet wird, kommt es auch hier zu Ausgrenzungsbewegungen. Sie lässt zwar die biographischen Identitäten nicht hinter ihrer Fachlichkeit verschwinden, grenzt aber ebenso die Perspektiven anderer aus, beispielsweise wenn es um soziologische, gesellschaftliche Konstruktionen geht, die nicht allein biologisch und psychologisch verstanden werden wollen.354 350 351 352 353 354

Hauschildt, Auftrag, 3. Vgl. Abschnitt 2.4.1.3. Hauschildt, Auftrag, 3. Vgl. Hauschildt, Auftrag, 3f. Vgl. Hauschildt, Auftrag, 4f.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

Die Diskussionen um die Seelsorge in den vergangenen Jahrzehnten zeigen, dass es nicht mehr angemessen ist, sich unflexibel und einseitig – nur dem theologischen Auftrag oder allein der fachlichen Kompetenz entsprechend – zu identifizieren. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Rolle die Seelsorgeperson in welcher Situation innehaben kann und soll. „Es gehört zur seelsorgerlichen Professionalität, auf diesen Rollenwechsel theoretisch vorbereitet zu sein und vollziehen zu wollen und zu können. […] Der Rollenwechsel wird so zu einem Teil unserer professionellen Identität als Seelsorgerinnen und Seelsorger.“355 Bei einer Fixierung auf eine einzige Rolle, wird das Gespräch gestört oder behindert. Eine Rolle erfolgt durch gesellschaftliche Zuschreibung. Rollen sind nicht immer offensichtlich und müssen wahrgenommen werden, in expliziten Worten, durch Anspielungen oder Körpersprache oder indem sich Seelsorgende ihrer Rollenzuschreibung durch das Gegenüber über dessen familiären und kulturellen Kontext annähern.356 Eine Rolle wird gespielt, kann aber auch wieder abgelegt werden und fällt dadurch nicht mit dem „Ich“ zusammen. Anders als die theologische Identität verlangt eine Rolle nicht, dass man sich ihr mit seinem ganzen Sein unterwirft. „Die Rolle hält die Differenz von Eigenem und Rolle offen; sie unterscheidet deutlich zwischen biographischer Identität und sozialer Identität. Sie hält aber auch die Differenz von Erwartetem und Angebotenem offen.“357 Rollen erlauben auch, mehrere Rollen anzunehmen, sodass eine Flexibilität angesichts der ausdifferenzierten Gesellschaft möglich wird. Die Identität zeigt sich danach im Umgang mit den verschiedenen Rollen. Rollen sind jedoch nicht vollkommen losgelöst von der eigenen Identität. „Identität zeigt sich daran, wie ich bei den vielfältigen Rollenanforderungen, die an mich gestellt werden, auswähle, was ich bejahe und was ich negiere, wie ich die Rolle modifiziere und wie ich die Rolle interpretiere.“358 Die jeweiligen Rollen unterscheiden sich voneinander und nicht alle lassen sich auf einen Nenner bringen, es geht also auch darum, Spannungen zwischen den Rollen aushalten zu können – es geht um „Ambiguitätstoleranz“359 . Aus Perspektive Seelsorgender sollte es also darum gehen, weniger im Gefüge des „Entweder-Oder“ zu denken, denn mehr im „Sowohl-Als auch“. Die Seelsorgeperson bewegt sich graduell, es geht nicht um ein „entweder deine Interpretation oder meine Interpretation, […] entweder christlich oder nichtchristlich, entweder professionell oder laienhaft“360 . Seelsorger:innen bewegen sich in einem „Dazwischen“. Das bedeutet, sie müssen flexibel zwischen Auftrag und Fachkompetenz

355 356 357 358 359 360

Hauschildt, Auftrag, 7. Vgl. Brandner, Seelsorge und Freundschaft, 188. Hauschildt, Auftrag, 6. Hauschildt, Auftrag, 6. Hauschildt, Auftrag, 6. Hauschildt, Auftrag,10.

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changieren und beide zusammenbringen.361 Dies erfolgt dann, wenn „die Auftragsbezogenheit und die Christlichkeit der Seelsorge offener“362 formuliert werden, was jedoch nicht bedeutet, keinen Bezug zur Theologie zu haben. „Der Begriff und die Vorstellung von Seele sind Indiz für eine Sehnsucht nach etwas am Menschen, das sich nicht verrechnen und naturalisieren lässt.“363 Gemeint ist etwas im Inneren des Menschen, das sich nicht bis ins Letzte durch physische oder chemische Verortungen fassen lässt. Diese Sehnsucht ist interkulturell, weil sie allzu menschlich ist. Die Seele „wird sich ihrer selbst im Verstand bewusst und wird im Handeln erlebt und sie ist dabei immer affektiv gefärbt.“364 Sie ist relational zu verstehen. Seelsorgende werden so zu „Anwälte[n] für Seelen“365 . Aus humanwissenschaftlicher Perspektive lässt sich dies als „Projektion von Selbst- und Weltverhältnis“366 interpretieren, die christliche Perspektive hingegen setzt eine Bezogenheit der Seele auf Gott voraus, die im Religiösen bewusst gemacht und erlebt wird.367 Die methodische und fachliche Kompetenz sind dabei nicht wegzudenken. Es gibt jedoch auch in ihr nicht nur eine Theorie und eine Methode, sondern eine ganze Reihe an Methoden und Theorien. Seelsorger:innen müssen also aus den Möglichkeiten solcher Methoden und Theorien wählen, denn niemand kann sich angemessen auf allen Gebieten auskennen. Die Wahl geschieht „je nach Neigung, Angebot, situative[r] Notwendigkeit und auch mit einer gehörigen Portion Zufall.“368 Im Vergleich zu anderen Gesprächsführer:innen haben Seelsorger:innen über sie hinaus eine Kompetenz der religiösen Dimension. Sie stellt eigene Kommunikationsmittel bereit. Seelsorger:innen kennen ein großes religiöses System und Grundbegriffe der Religion. Um bei aller Pluralität der Seelsorgesituation und seelsorgesuchenden Person sowie dem eigenen Können und Wollen angemessen zu handeln, benötigt eine Seelsorgeperson insbesondere Wahrnehmungskompetenz und darüber hinaus muss sie interagieren, d. h. kommunizieren können. Seelsorge ist „ein durch und durch interaktives Geschehen“369 .

361 Hauschildt, Auftrag, VIf bestimmt deshalb zum Auftrag für die Seele zu werben und zur Fachlichkeit „Spezialist für die religiöse Dimension“ zu sein. Er versprachlicht die Vereinbarung von theologischem Auftrag und fachlicher Kompetenz. 362 Hauschildt, Auftrag, 8. 363 Hauschildt, Auftrag, 8. 364 Hauschildt, Auftrag, 9. 365 Hauschildt, Auftrag, 8. 366 Hauschildt, Auftrag, 9. 367 Vgl. Hauschildt, Auftrag, 9. 368 Hauschildt, Auftrag, 9. 369 Hauschildt, Auftrag, 10.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

Genau dies kommt in der Gefängnisseelsorge zur Anwendung. Um der Situation entsprechend angemessen interagieren, d. h. kommunizieren zu können, ist eine ausgeprägte Wahrnehmungskompetenz unabdingbar. Der:die Seelsorgende braucht in Bezug auf Delinquente eine geschärfte Wahrnehmung, mit der er:sie sein:ihr Gegenüber „vorurteilfrei wahrnimmt und [es] so gelten lässt, wie [es] sich im Moment zeigen möchte. Dies allerdings immer mit dem Bewusstsein, dass sich hinter einer ersten Wirklichkeit noch weitere Dimensionen auftun können.“370 Dabei soll der:die Seelsorger:in nicht nur das wahrnehmen wollen, was gelungen und problemlos ist oder besser wird, und auch nicht nur das, was schwach und mangelhaft ist. Ersteres würde bald zu einer Frustration und Resignation der Seelsorgeperson führen, Letzteres lenke den Blick weg von dem, was trotz allem gelungen ist. „Der Seelsorger kann in seinem Berufsfeld ‚Gegensatz-Erfahrungen‘ machen. Weil er nichts muss und will, ist er in der Lage, anderes wahrzunehmen und zu deuten. Seine Wahrnehmungen und Erfahrungen sind nicht besser oder wahrer als die der übrigen Helfer. Sie können zum Teil aber anders sein. Es können andere Gesichtspunkte sein, weil sie sich nicht primär innerhalb der Dialektik Strafe versus Resozialisierung zeigen, sondern in der Spannung Wunsch nach Grenzen versus Wunsch nach Zuwendung.“371

Die eigenen Rollen zu finden und ihnen zu entsprechen, verlangt von Seelsorgenden Authentizität und Glaubwürdigkeit.372 Das äußere Verhalten sollte dem inneren Erleben entsprechen, damit der Seelsorger:die Seelsorgerin weder sich selbst noch sein:ihr Gegenüber täuscht. „V.a. wenn der Seelsorger mit Insassen zu tun hat, die kapitale und scheussliche Verbrechen begangen haben, steht er in der Gefahr, Fassaden aufzurichten, sodass das innere Erleben und das äussere Verhalten nicht mehr deckungsgleich sind.“373 Würde die Seelsorgeperson auch bei gegensätzlichen Gefühlen vermitteln, dass sie alles versteht, erhält das Gegenüber eine falsche Rückmeldung gegenüber seiner Geschichte „und wird der Möglichkeit beraubt, sich in der personalen Begegnung mit seinen Erzählungen auseinanderzusetzen.“374 Nicht nur die Annahme des Gegenübers ist wichtig, sondern v.a. auch Selbstannahme. Besonders angesichts der Konfrontation mit schrecklichen und traurigen Geschichten im Gefängnis, ist es für Seelsorger:innen wichtig, eigene Angst, Abwehr und Zögern annehmen zu können. „Er [der Seelsorger, Anm. v.

370 371 372 373 374

Nafzger, Gefängnisseelsorge, 173. Nafzger, Gefängnisseelsorge, 174. Vgl. Nafzger, Gefängnisseelsorge, 179. Nafzger, Gefängnisseelsorge, 179. Nafzger, Gefängnisseelsorge, 180.

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Inderst] muss es selber erleben, dass er mit seinen ambivalenten Gefühlen so sein darf, dass er keine Fassaden aufrichten muss, um sich zu schützen.“375 Wahrnehmung ist Voraussetzung für Kommunikation und eine solche gilt es in der Gefängnisseelsorge aufrecht zu erhalten. „Die Arbeit des Seelsorgers im Gefängnis steht immer wieder in der Gefahr, dass Gesprächssituationen durch Vorurteile und die entsprechenden Fantasien behindert oder sogar blockiert werden.“376 Die Wahrnehmung dessen, was die erzählende Person auszudrücken versucht, wirkt Vorurteilen entgegen. Es geht darum, „entweder die Handlungen oder den sozialen und kulturellen Kontext oder das Gefüge der Beziehungen oder die emotionale Atmosphäre gut und immer besser zu verstehen. Sobald Details ins Blickfeld der Betrachtung kommen, verlieren Vorurteile an Bedeutung, weil die phänomenologische Wahrnehmung automatisch andere Bilder und Inhalte vermittelt, die eher die Wirklichkeit abbilden.“377

Den unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, was Seelsorge bedeutet und was zur Seelsorgeperson gehört, liegt allen gemeinsam der Glaube zugrunde. Der in der Gefängnisseelsorge so oft verwendete Ausdruck, der Mensch sei „Gerechter und Sünder zugleich“ ist eine Glaubensaussage als Vertrauen darauf, dass der Mensch „von Gott auf Ganzheit hin angelegt ist, und zugleich, dass die Ganzheit Sache Gottes ist.“378 Der Glaube daran, Menschen trotz ihrer Fragmenthaftigkeit eine Daseinsberechtigung haben, findet Ausdruck darin, dass „Gott die Menschen ansieht und annimmt“379 . Unter „diesem Vorzeichen lassen sich Trost und eine Perspektive für ein Leben mit Schuld schöpfen“380 . Seelsorgende werden durch ihr Amt damit „zum Symbol dafür, daß diese Sichtweise für alle Menschen wirklich sein kann“381 . Seelsorgende schaffen es, Rechtfertigungslehre zu praktizieren, indem sie den anderen wahr- und annehmen.382 „Christliche Seelsorge wurzelt in einer Anthropologie, die das Versagen und Scheitern immer schon als Teil der conditio humana mitdenkt“383 . Der Glaube schützt davor, „sich ständig zu überfordern, weil er es […] mit der Vorläufigkeit und Gebrochenheit des menschlichen Lebens zu tun

375 376 377 378 379 380 381 382 383

Nafzger, Gefängnisseelsorge, 181. Nafzger, Gefängnisseelsorge, 181. Nafzger, Gefängnisseelsorge, 181. Merzyn, Lebenslange, 357. Pohl-Patalong, S., Freiräume, 193. Pohl-Patalong, S., Freiräume, 193f. Pohl-Patalong, S., Freiräume, 194. Vgl. Karle, Ausweg, 236; vgl. auch Nafzger, Gefängnisseelsorge, 177–179. Karle, Ausweg, 237.

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

hat und er die dialektische Spannung in seinem Arbeitsfeld aushalten muss.“384 In der Gefängnisseelsorge stellt sich gegenwärtig also auch heraus, dass Glaube Seelsorgende dazu befähigt, ihren Zielen in ihrer jeweiligen Seelsorgearbeit nachgehen zu können. Glaube bildet das persönliche Fundament seelsorglichen Arbeitens. 2.4.3

Zwischenfazit

Deutlich wird: Seelsorgende im Gefängnis setzen unterschiedliche Schwerpunkte in ihrer Arbeit. Die einen zielen auf die Schuldaufarbeitung ab und wollen so zu verantwortlichem Handeln führen. Die anderen legen ihren Schwerpunkt auf Begleitung im Gefängnisalltag, aber auch in Situationen, in denen Vergebung und Versöhnung schwer zu fallen scheinen. Sie halten mit aus. Viele setzen keine Ziele und wollen sich dadurch von anderen Maßnahmen, wie der Therapie, abgrenzen. Kein Ziel zu setzen, macht frei, insofern nicht an irgendeinem Punkt aufgegeben werden muss, wenn das Ziel nicht erreicht wird. Gerade das befähigt dazu, weiter begleiten und aushalten zu können. Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung hängt mit dem eigenen Rollenverständnis zusammen, das wiederum durch die je individuell geprägte Identität beeinflusst wird. Rolle und Identität beziehen sich wechselwirkend aufeinander. Angesichts Pluralität und Säkularisierung sind eine Rollenvielfalt und ein flexibler Umgang mit ihr gefragt. Die Rolle bemisst sich an den Erwartungen, die an den Seelsorger oder die Seelsorgerin herangetragen werden, aber auch an der eigenen Identität, also dem, was die eigene Person einzubringen vermag. Beides kann in einem Konflikt zueinander treten. Als unerlässlich zeigt sich hier die Wahrnehmungsfähigkeit Seelsorgender, um den Seelsorgesituationen zuträglich zu werden. Seelsorgende legen einen Schwerpunkt auf die Wahrnehmung von Kontexten, innerhalb derer sich Inhaftierte bewegen oder im Rahmen ihrer Straftat bewegt haben. Darüber hinaus spielt der Glaube eine enorme Rolle: Er ist rollen- und identitätsbildend. Glaube dient nicht dazu, jemandem den moralischen Spiegel vorzuhalten oder das Gegenüber zu missionieren, sondern scheint vielmehr Quelle Seelsorgender zu sein, gerade Personen gegenüber treten zu können und sie zu begleiten, die „Böses“ begangen haben und ggf. Ansprechpartner:in in religiösen Fragen zu sein. Um mit der Herausforderung „Polyvalenter Normativität“ umgehen zu können, scheinen beide – Wahrnehmung und Glaube – unverzichtbare Parameter darzustellen.

384 Nafzger, Gefängnisseelsorge, 178.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

2.5

Fazit

Die vorangegangenen Analysen sind in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich. Das jeweilige Verständnis von Straf- und Vollzugszweck konstituiert die Wahrnehmung des tatsächlichen Strafvollzugs mit. Das Strafrecht hat eine funktionierende Gesellschaft im Fokus, die vor Kriminalität geschützt werden muss, weshalb Straftäter:innen – d. h. diejenigen, die der Gesellschaft aufgrund ihrer Taten nicht zuträglich sind – aus der Gesellschaft herausgenommen werden. Das hat auch einen abschreckenden Charakter und zumindest im Grunde genommen auch einen der Vergeltung. Der tatsächliche Vollzug darf sich jedoch einzig und allein am Vollzugsziel, der Resozialisierung, d. h. der Wiedereingliederung in die Gesellschaft orientieren. Die EKD, als kirchliche Institution, legt ihren Fokus eher auf das Individuum, ohne dass sie die Gesellschaft außer Acht lässt. Im Hintergrund steht der Versöhnungsgedanke, der ihre Perspektive mitbegründet. Von dort aus kritisiert sie den Strafvollzug gerade vor Hintergrund seines Vollzugsziels, das in seinem stark reglementierenden, kontrollierenden Charakter gerade nicht zu Autonomie und Verantwortungsfähigkeit führe und damit dem Ziel der Resozialisierung sogar entgegenwirke. Gefängnisseelsorger:innen wiederum stehen mit ihrem Strafzweck- und Vollzugszielverständnis nochmal zwischen beiden Perspektiven der jeweiligen Institution. Sie haben nicht allein das evangelisch-kirchliche Verständnis übernommen – Strafkritik und Versöhnungsgedanken –, aber auch nicht das strafrechtliche – Prävention, Vergeltung und Resozialisierung –, sondern tendieren zumeist zum Resozialisierungsgedanken, dann zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten und zuletzt und am wenigsten, aber auch (!), zur Abschreckungsfunktion. Den Strafvollzug sehen sie ähnlich kritisch wie ihr kirchlicher Auftraggeber, bringen aber detailliertere, exemplifizierende Einblicke für die Sicht auf das Gefängnis und dessen Insassen und Insassinnen mit ein. Das Hintergrundverständnis derer, die tatsächlich und ganz praktisch in der Gefängnisseelsorge arbeiten, wird von theoretischen Verständnissen derer beiden Institutionen, für die sie arbeiten, mitbedingt und verbindet sich mit den je individuellen Wahrnehmungen der eigenen alltäglichen Praxis. So sprechen sie sich, genau wie der EKD-Rat, gegen den Strafzweck der Vergeltung aus, und begreifen den Strafvollzug als Resozialisierungsmaßnahme, bewegen sich jedoch auch in ihren je individuell gedeuteten Kontexten und deuten vor diesem Hintergrund „Böses“ bzw. Kriminalität und den strafrechtlichen sowie seelsorglichen Umgang mit ihm. Die jeweiligen übergeordneten Kontexte verorten die Seelsorger:innen in einer gewissen Tradition und in einem gewissen gesetzlichen Rahmen – beides bewährt und konkretisiert sich allerdings erst durch die tatsächliche Praxis. Als Spiegel der Praxis verweisen Gefängnisseelsorger:innen darauf, wie graduell zwei

Der Kontext der Gefängnisseelsorge

so unterschiedliche Ausgangsperspektiven – Versöhnungsgedanke (zwei Parteien sollen aufeinander zubewegt werden), daneben der Schutz der Gesellschaft (eine Partei wird aus der anderen herausgenommen) tatsächlich sind. Gefängnisseelsorgende nehmen jeweils partiell Ansichten aus den jeweiligen Perspektiven der entsprechenden Institution auf und ergänzen sie mit ihrem je eigenen Verständnis. Das führt dazu, dass sie auch unterschiedliche Schwerpunkte in ihrer Seelsorgearbeit setzen – Schuldarbeit, Begleitung, Begegnung, Beratung, Aushalten e.g. – und dementsprechend auf die pluralen Anforderungen der unterschiedlichen Personen mit ihren unterschiedlichen Kontexten reagieren. Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung hängt mit dem eigenen Rollenverständnis zusammen, das wiederum durch die je individuell geprägte Identität beeinflusst wird. Angesichts Pluralität und Säkularisierung sind eine Rollenvielfalt und ein flexibler Umgang mit der Identität gefragt. Die Rolle bemisst sich an den institutionellen wie auch in der Praxis konkreten Erwartungen, die an den Seelsorger oder die Seelsorgerin herangetragen werden, aber auch an der eigenen Identität, also dem, was die eigene Person einzubringen vermag. Mit dem Spezialfall der Seelsorge im Gefängnis erweist sich das, was in der allgemeinen Seelsorge unlängst diskutiert wurde, als unbedingt erforderlich – und umgekehrt: die Praxis Gefängnisseelsorgender weist darauf hin, dass der theoretische Rahmen der Seelsorge als eine multidimensionale, multiperspektive konzeptionierte überaus anschlussfähig ist. Er befähigt dazu, flexibel auf eine plurale, säkulare Gesellschaft zu reagieren und bildet dadurch ein theoretisches Grundgerüst für die Orte, die einen Umgang mit Pluralität und Säkularismus geradezu erforderlich machen – wobei dies auf so ziemlich alle Seelsorgebereiche in mehr oder weniger starker Ausprägung zutreffen dürfte. Am Ort des Gefängnisses wäre eine eindimensionale Seelsorge undenkbar. Obgleich Gefangene zumeist nicht religiös und gar christlich sozialisiert sind, werden genau hier Seelsorger:innen wahrscheinlich so häufig und dezidiert der Seelsorge wegen angefragt, wie sonst an kaum einem anderen Ort. Dafür ist hier auch ungleich weniger im Voraus klar, um was es in der Seelsorge geht und mit welchen Zeichen kommuniziert wird. Dies ist zuerst als Chance zu begreifen: Gerade am Ort des Gefängnisses hat man mit Menschen zu tun, die durch alle Systeme fallen, sogar durch das System Gefängnis, indem sie als nicht resozialisierbar oder austherapiert gelten, sollten alle Maßnahmen keine „Besserung“ bezwecken. Seelsorge ist jedoch ergebnisoffen und eine Begleitung hört auch dann nicht auf, wenn der Mensch als „unverbesserlich“ gilt. Auf der anderen Seite gibt es natürlich Unsicherheiten, wenn Seelsorge so offen scheint, dass ein Orientierungsverlust droht. Doch, so wurde gezeigt, lassen sich zwei unverrückbare Grundpfeiler der Gefängnisseelsorge herausstellen, die sich, bei all ihrer Pluralität, für jede Form von Seelsorge festmachen lassen: Die Wahrnehmungsfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit Seelsorgender.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

Letztere führt zu einer Verbindung über Grenzen hinweg, und zwar nur, wenn erstere – die Wahrnehmungsfähigkeit – im Hintergrund der Kommunikation steht. Am Ort des Gefängnisses zeigt sich also schon in den äußeren Rahmenbedingungen eine Pluralität an, die über die „weiche Pluralität“ hinausgeht. Die unterschiedlichen Ausgangsperspektiven, Zielsetzungen und Aufgabenverständnisse treffen hier aufeinander und sind zwar gleich gültig, aber nicht gleichgültig. Es bestehen Differenzen und Konflikte, doch keine Institution lässt sich absolut setzen: Gefangene werden aus der Gesellschaft herausgenommen, und doch nicht allein gelassen; sie sollen gesellschaftsfähig werden und auch während ihrer Gefangenschaft möglichst würdevoll leben. Am Ort des Gefängnisses wird einem also die Gesellschaft in ihrer Pluralität vor Augen geführt. In einer multiperspektiven Wahrnehmung werden Differenzen bewusst gemacht und einbezogen – vor dieser Aufgabe steht Seelsorge. Seelsorger:innen changieren im Gefängnis zwischen bestimmten Rahmenbedingungen, einerseits denjenigen der Evangelischen Kirche und andererseits denjenigen des Strafrechts mit der Institution des Gefängnisses, die zusammen einen größeren Rahmen bilden, weil und obwohl sie divergieren und sich teilweise widersprechen. In der Praxis der Gefängnisseelsorger:innen zeigt sich, dass keine der beiden Rahmen allein maßgeblich ist, sondern beide Rahmenbedingungen den Umgang mit Gefangenen mitbeeinflussen. Nun haben Gefängnisseelsorger:innen jedoch auch ihre ganz eigenen Rahmenbedingungen, die durch ihre Persönlichkeit, Geschichte, Sozialisation und ihre beruflichen wie privaten Kontexte bestimmt sind. Damit befindet man sich mitten in der Frage der „Polyvalenten Normativität“. Denn wie gelingt hier ein Changieren zwischen den Rahmenbedingungen, wenn jene so eng mit den eigenen Kontexten verbunden sind? „Polyvalente Normativität“ entsteht auf einer anderen, auf einer persönlicheren Ebene, wenn sich, in der Gefängnisseelsorge zumeist zwei, Personen austauschen. Dann werden Seelsorger:innen mit Geschichten konfrontiert, in denen sich „Böses“ ereignet. Es ist nun angezeigt, sich auf diese individuellere Ebene zuzubewegen, genauer: von der Wahrnehmung gesellschaftlich institutionalisierter Phänomene hin zu dem, was sich an Individuen vorfindet. Wie entsteht Delinquenz – und was ist „das Böse“? Es ist wichtig, dass Seelsorger:innen verschiedene Deutungsmuster „des Bösen“ kennen, um einen Perspektivwechsel, ein Ernstnehmen und entsprechendes Sich-Verhalten leisten zu können, sodass wissenschaftliche Deutungsmuster daraufhin zu befragen sind, warum und woher Delinquenz entsteht.

3.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

Einleitend ist deutlich geworden, dass der Begriff „Das Böse“ nicht unreflektiert verwendet werden kann. Wenn – was unter dem philosophischen Begriff „othering“ gefasst ist – eine Gruppe von Menschen auf einen einzigen Begriff gebracht wird, bedeutet dies Dehumanisierung. Individuen und Gruppen werden nicht mehr als menschliche Wesen mit vielen Facetten wahrgenommen, sondern als „Die Juden“, „Die Deutschen“, „Die Flüchtlinge“, „Die Bösen“ etc., die mit ihren Taten – meist über Vorurteile zugeordnete Taten – zusammenfallen.1 Das führt dazu, „DIE Anderen“ von sich selbst völlig abgetrennt zu verstehen, was dazu führt, dass Menschen entsprechend behandelt werden – wir gegen die Anderen. Seelsorger:innen benötigen eine hermeneutische Kompetenz, mit der sie sich dem, was als „das Böse“ in der jeweiligen Person begriffen wird, verstehend annähern und vor dem Hintergrund ihres Kontextes verstehen können, um sich eine differenzierte Wahrnehmung anzueignen. Im Folgenden soll deshalb „dem Bösen“ als Delinquenz nachgegangen werden. Dazu werden soziologische und humanwissenschaftliche Perspektiven beleuchtet (3.1), um der Frage nach dem „Woher?“ nachzugehen. Eine weitere Perspektive auf „das Böse“ ist die ethische, insofern sie sich mit den Fragen und Begründungen des Richtigen und des Falschen auseinandersetzt (3.2). Schließlich ist „das Böse“ seit je Inhalt theologischer Auseinandersetzung (3.3). Welche Wahrnehmung „des Bösen“ erfolgt aus dieser transdisziplinären Betrachtung und welche Konsequenzen folgen daraus für die Gefängnisseelsorge hinsichtlich „des Bösen“ und „Polyvalenter Normativität“?

3.1

Woher kommt „das Böse“? – soziologische, psychologische und neurologische Hinweise auf Delinquenzentstehung

Gefängnisseelsorger Ulrich Tietze berichtet: „Eine Kollegin geht mit mir durch die Innenstadt Hannovers. Mit uns beiden unterwegs: ein tiefer Sucher nach Gott, ein musikalisch begabter Mensch, der mit viel Humor beschenkt ist, ein Mensch mit hoher Sensibilität und Bereitschaft zur Kommunikation, […]

1 Dies suggeriert auch Nachtwei, Gefängnisseelsorge, 135: „Im Gefängnis sitzen keine Diebe und Mörder, sondern Menschen“.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

der Poesie liebt und gern Gedichte […] zitiert, ein Mörder. All das vereinigt in einer Person.“2

Er lenkt mit dem Anfang seines Berichts die Sicht auf den gesamten Menschen und generalisiert die beschriebene Person nicht als „Mörder“, sondern zeigt auf, was für Eigenschaften und Interessen sie auch charakterisieren.3 Weil Tietze nicht „den Mörder“, sondern den gesamten Menschen wahrnimmt und all seine anderen Charakteristika daneben sieht, kommt er überhaupt zu der Frage: „Wie konnte er zum Mörder werden? Wie konnte das Böse in diesem Menschen durchbrechen?“4 Dass er von einem „Durchbrechen“ – und nicht etwa von einem „Hereinbrechen“ – schreibt, impliziert, dass auch Tietze, wie schon zuvor Stubbe, von einer Art latentem Bösen ausgeht, das in jedem Menschen steckt.5 So fragt er weiter: „Wo ist meine eigene böse Seite? Warum brach sie in anderen Menschen durch – und mir blieb das bislang erspart? […] Gegen welche Gesetze (strafrechtlich relevante und andere) habe ich im Laufe meines Lebens verstoßen?“6 Tietze versucht hinter die Tat zu schauen, indem er nach ihrer Herkunft fragt. Auf diese Weise scheint ihm eine Arbeit mit Gefangenen möglich zu sein.7 Mit seinem Verstehen der Taten möchte er „nichts entschuldigen, aber vielleicht ist manches auf diesem Gebiet doch noch einmal kritisch zu betrachten.“8 Er wirkt dadurch einer Stigmatisierung der Person als nur „dem Mörder“ aus der Gruppe „der Bösen“ entgegen. Besonders im Kontext Gefängnis verdient ein solches Fragen erhöhte Aufmerksamkeit, weil es Gefängnisse aufgrund von Straftaten gibt und allein deshalb schon der gesellschaftliche Blick vornehmlich auf die Straftaten gelenkt wird. In diese Richtung formuliert auch Konrad Merzyn,9 der den ganzen Menschen, also auch alle weiteren Charakteristika neben der Straftat wahrnehmen möchte und nicht, wie der Strafvollzug selbst, „seine ganze Person […] auf die eine verurteilte Tat der Vergangenheit reduzier[en].“10 Personen in ihrer jeweiligen Kontextualität wahrzunehmen, führt zu einem näheren Verständnis der Person. „Die Seelsorgerin hat die Aufgabe, den Inhaftierten mit seiner ganzen Lebensgeschichte […]

2 3 4 5 6 7 8 9 10

Tietze, Vergib, 319. Tietze, Vergib, 321: „Ich weigere mich, diese Menschen auf ihre schlimmen Taten zu reduzieren.“ Tietze, Vergib, 319. So auch Tietze, Menschliche, 33: „Vielleicht ist nicht jeder Mensch fähig, jede Straftat zu begehen. Aber in jedem Menschen ist auch die Möglichkeit angelegt, Straftaten zu begehen.“ Tietze, Vergib, 319. Vgl. Tietze, Vergib, 319–321. Tietze, Vergib, 321; vgl. Tietze, Neues, 594. Er berichtet von seinen Erfahrungen als Praktikant in der JVA Celle I, in der überwiegend zu lebenslanger Haftstrafe verurteilte Inhaftierte sind (vgl. Merzyn, Lebenslange, 343). Merzyn, Lebenslange, 347.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

wahrzunehmen und ihm nach Möglichkeit Räume zu eröffnen, neue Rollen zu übernehmen. Aus einem ‚Mörder‘ kann so ein inhaftierter Redakteur, Küster oder Computerfachmann werden“11 . Die Person vor dem Hintergrund ihrer Kontexte wahrzunehmen bedeutet, ebenfalls nach den Kontexten ihrer (Straf-) taten zu fragen. So nimmt beispielsweise Tietze wahr, dass viele Straftaten aus selbst erlebter Gewalt erfolgten.12 Die Lebensgeschichte, festgehalten in der Akte eines jeden Häftlings, sei Grundlage jeder Kommunikation mit dem Gefangenen im Vollzug, sodass ihr Verstehen von höchster Relevanz wird, wenn seelsorgliche Arbeit im Gefängnis Beziehungsarbeit bedeutet.13 Unabhängig davon, wie jene seelsorgliche „Beziehung“ aussehen soll, folgt daraus, dass ein solches „Verstehen“ für seelsorgliche Kommunikation als Fundament seelsorglicher Beziehung unerlässlich ist. Daraus ergibt sich, dass das Verstehen des Kontextes von hoher Relevanz ist, wenn es um die Frage geht, wie Seelsorgende mit der gehörten Straftat umgehen müssen, auch und gerade dann, wenn sie davon mitbetroffen werden und wenn es allzu einfach erscheint, Erfahrungen und Phänomene zu generalisieren und zu dämonisieren. „Wo Anderssein dämonisiert wird […], endet jede Möglichkeit des Dialogs.“14 Das gilt für die praktische, wie für die wissenschaftliche Ebene: „Wir brauchen […] den Dialog aller: der Theologie, der Humanwissenschaften, der Naturwissenschaften. Und wir brauchen diesen Dialog auf Augenhöhe – nicht so, dass ein bestimmter Zugang von vornherein die Wahrheit für sich beansprucht.“15 Denn gerade hinsichtlich der Schuldfrage, insofern davon ausgegangen wird, ein Mensch entscheide stets rational, bewusst und unabhängig, lässt sich fragen: „ob die alte Antwort, der Mensch besäße einen freien Willen und entscheide selbst über seine Taten, unverändert gilt“16 , was insbesondere hinsichtlich der „Frage nach der Schuldfähigkeit […], die in den letzten Jahren von der Hirnforschung neu gestellt […] worden ist“17 , zur Diskussion steht. Aus der Praxis heraus stellt sich also die Frage nach der Entstehung kriminellen Handelns, und zwar auf individuell kontextueller Ebene,18 und führt von da aus auf eine grundsätzlichere, theoretische Ebene. In den praxisnahen Erfahrungsberichten der Gefängnisseelsorgenden werden Humanwissenschaften und Naturwissenschaften in- und explizit erwähnt und mit Beispielen untermauert. Sie werden aber

11 12 13 14 15 16 17 18

Merzyn, Lebenslange, 347. Vgl. Tietze, Vergib, 321. Vgl. Tietze, Opfer, 66f. Tietze, Menschliche, 35. Tietze, Menschliche, 35. Tietze, Menschliche, 34. Tietze, Menschliche, 34. Vgl. dazu insbesondere Hagenmaier, Seelsorge.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

kaum einer wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen – und führen dennoch zu generalisierten Formulierungen.19 Was sagen die aktuellen Theorien zur Ätiologie kriminellen Handelns oder „des Bösen“? Wie bereits einleitend (Kapitel 1.2.1) skizziert, ist „das Böse“ komplex und seine Definition kontextabhängig. Im Kontext „Gefängnis“ kann „das Böse“ auf „Kriminalität“ eingeschränkt werden, denn im Kontext mit Gefangenen können ihre Straftaten als „böse“ bewertet werden, sodass alles Kriminelle als „böse“ wahrgenommen werden kann – alles „Böse“ ist aber nicht gleichzeitig kriminell. Im Folgenden wird „das Böse“ also auf Kriminalität begrenzt. An dieser Stelle soll Seelsorgenden keinesfalls unterstellt werden, sie würden Delinquente in ihrer Arbeit (zunächst) grundsätzlich als „böse“ wahrnehmen, davon zeugen insbesondere die bereits hinzugezogenen Erfahrungsberichte. Seelsorgende müssen allerdings damit umgehen, dass Strafgefangene von irgendwem immer als „böse“ bewertet werden – vom Strafrecht, von den Opfern, von einigen Vollzugsbeamten und -Beamtinnen, der Öffentlichkeit, den Medien und teilweise eben auch von Seelsorgenden selbst. Im Folgenden soll die Delinquenz als Aspekt des „menschlichen Bösen“ thematisiert werden. Um einer seelsorgesuchenden Person nicht vor- und verurteilend zu begegnen und so Kommunikation und damit Beziehung zu blockieren, sondern den Kontext „böser“ Taten zu verstehen sowie eine seelsorgliche Beziehung herzustellen, ist es wichtig, eine Straftat in ihren Kontext einordnen und von dort aus wahrnehmen zu können. Hiermit beginnt bereits die seelsorgliche, hermeneutische Leistung. Es gibt auch kritische Stimmen gegenüber humanwissenschaftlicher Eintragungen in die Gefängnisseelsorge: Christine Drexler befürchtet, dass „zentrale Aspekte der christlichen Botschaft zugunsten einer unkritischen Übernahme neuer, attraktiv(er) erscheinender Methoden aus den Humanwissenschaften über Bord

19 Diesbezüglich als positives Beispiel hervorzuheben sind die Arbeiten des Gefängnisseelsorgers Michael Hagenmaier. Hagenmaier, Seelsorge, 214f zieht beispielsweise soziologische Theorien hinzu. Er stellt damit fest, dass Beziehungen zur Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildungen dienten und gut gingen, „so lange so etwas wie ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen und ein gewisser Ausgleich zwischen stark und schwach organisiert werden kann. Ansonsten entstehen anomische Gebilde.“ An dieser Stelle mit Mertons soziologischem Modell – der Anomietheorie – zu argumentieren, auch wenn Mertons Anomietheorie „zu den meist zitierten Werken in Soziologie und Kriminologie gehört“ (Hagenmaier, Seelsorge, Anm. 9), sensibilisiert für die Notwendigkeit eines wissenschaftlichen, interdisziplinären Austausch. Allerdings greift sie allein zu kurz, gerade wenn, wie auch Hagenmaier, an die pluriforme Gesellschaft und Seelsorge die Forderung gestellt wird, den Gefangen nicht „summarisch als ‚Gattung‘ in besonderen Umständen“ (Hagenmaier, Seelsorge, 213) abzuhandeln, sondern den „heftigst umstrittenen Bereich ‚Gefängnis‘ zugleich theoretisch kompatibel und praxistauglich“ (Hagenmaier, Seelsorge, 213) zu beschreiben.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

[geworfen]“20 werden, weil „seelsorgerliche[…] Bemühen mit psychotherapeutischen Ansätzen […] zur Zeit en vogue“21 seien. Auch gibt es die Sorge, dass durch humanwissenschaftliche Perspektiven, insbesondere der der Psychotherapie, ein Hierarchiegefälle provoziert wird. Die Psychologie suggeriere, ein Bild eines Strafgefangenen als „krank“ wahrzunehmen und zu behandeln, was bereits Brandt vorausschauend kritisierte.22 In der Tat wird dies in Formulierungen unterstützt, die in der Frage nach der Kriminalitätsentstehung „Persönlichkeitsstörungen“23 von Gefangenen formulieren wollen, die dann auch unbelegt und unreflektiert in die Öffentlichkeit getragen werden. Dies widerspricht dem gegenwärtigen Seelsorgeverständnis im Gefängnis. Ein Hinzuziehen der gegenwärtigen psychologischen Studien zu der Frage nach der Ätiologie „des Bösen“ wird jedoch zeigen, dass es auch der Psychologie nicht mehr um Bewertungen, Philosophie und Moral geht, sondern um subklinische, d. h. um zunächst deskriptive Darstellungen, die durchaus einen Verstehenshorizont eröffnen und vor Stigmatisierungen und ungeprüften Annahmen schützen können. Die beratende Seelsorge hat sich seither ebenfalls weiterentwickelt. Vornehmlich werden in therapeutisch orientierten Seelsorgekonzepten vor allem tiefenpsychologische und gesprächstherapeutische Ansätze rezipiert sowie – mittlerweile – systemische Ansätze. Die Psychotherapie heute tendiert ihrerseits jedoch nicht mehr dazu, die psychologischen Paradigmen im Sinne von psychologischen Schulen zu betreiben. Dagegen wird das Kriterium der „Wirksamkeit“ maßgeblich, das sich auch als leitend für die Kognitive Verhaltenstherapie

20 Drexler, Gefangenen, 182. 21 Diese Unterstellung vollführt Drexler, Gefangenen, 183. 22 Vgl. Brandt, Strafgefangenenseelsorge, 309, der ein therapeutisch verstandenes Modell von Seelsorge kritisiert, weil der Gefangene „als Objekt einem therapeutischen Prozess unterworfen wird“; vgl. Nafzger, Gefängnisseelsorge, 176. 23 Als solche nimmt Hagenmaier, Seelsorge, 222f den von Gefängnispfarrer:innen beschriebenen „Blick auf die Gefangenen“ (Bethkowsky-Spinner/Djambasoff/Wever u. a., Grundlegung, 216) wahr, die er kritisiert. Er zweifelt nachvollziehbar an, ob die „Beschreibung der ‚Persönlichkeitsstörung Gefangener‘ […] wirklich die Delinquenz erklärt“ (Bethkowsky-Spinner/Djambasoff/Wever, Grundlegung, 216). In jener Grundlegung verorten sich die Autor:innen in einer pastoralpsychologischen Perspektive und plädieren für eine „differenzierte, methodisch gesicherte Wahrnehmung“ (BethkowskySpinner/Djambasoff/Wever, Grundlegung, 216), um „ihrer [der Gefangenen, Anm. v. Inderst] Individualität gerecht werden zu können“ (Bethkowsky-Spinner/Djambasoff/Wever, Grundlegung, 216). Jene Wahrnehmung zeige, dass die „Art der Gefangenen in der Welt zu sein […] wesentlich mitgeprägt [ist][…] von der Verleugnung von Realitäten […] von defizitärer Selbstwahrnehmung und defizitärem Selbstwertgefühl […] von unausgereifter Gewissensbildung und nicht angemessener Schuldakzeptanz […] von einer nicht ausgereiften Geschlechts- und Rollenidentität“ (BethkowskySpinner/Djambasoff/Wever, Grundlegung, 216f). Durch solche Formulierungen „defizitär“, „unausgereift“, „Verleugnung von Realität“, wird in der Tat ein Hierarchiegefälle vermittelt.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

herausstellen lässt.24 In jüngster Zeit werden Poimenik und Kognitive Verhaltenstherapie in einen interdisziplinären Dialog gebracht. Einschlägig dafür ist die Arbeit von Katja Dubiski25 . Ziel Kognitiver Verhaltenstherapie ist, „Hilfestellung zur Selbsthilfe zu geben und die Übernahme von Eigenverantwortung zu fördern“26 . Verhaltenstherapie beruht auf dem Ansatz, dass wesentliche Verhaltens- und Denkmuster im Laufe des Lebens erlernt werden, indem sich in der Bewertung einer Erfahrung, Kognitionen, Emotionen und Verhalten gegenseitig beeinflussen und zu Schemata, also Verhaltensmustern führen.27 In der Kognitiven Verhaltenstherapie wird davon ausgegangen, dass dadurch Problemursachen eine Lernerfahrung darstellen können, sodass Schemata entstehen, die den zukünftigen Umgang mit ähnlichen Situationen beeinflussen.28 So können erlernte Muster u.U. einen hohen Leidensdruck erzeugen. Daraus folgt im Umkehrschluss auch die Annahme, dass Personen durch weitere Lernprozesse ihre Probleme lösen können. „Kognitive Therapie zielt dementsprechend darauf, einzelne, konkrete Denk- oder Verhaltensweisen therapeutisch zu bearbeiten, statt die ganze Person mit ihrer Geschichte oder ihren Eigenschaften ins Zentrum der Therapie zu rücken.“29 Gleichzeitig spricht sie damit dem Klienten oder der Klientin eine enorme Steuerungskompetenz zu. Anders als die Psychoanalyse ist die Kognitive Verhaltenstherapie also auf Gegenwart und Zukunft ausgerichtet, indem sie lösungsorientiert arbeitet. „Das zukunftsoffene Vorgehen […] ist aus christlicher Perspektive eine Möglichkeit, christliche Hoffnung zu leben“30 , wie Dubiski diese Perspektive Kognitiver Verhaltenstherapie mit der Poimenik verbindet. Kognitive Verhaltenstherapie arbeitet aktivdirektiv. Zugleich werden Gedanken, Gefühle, Wünsche und Einstellungen von Patienten in die Therapie mit einbezogen.31 Die Therapie soll für Klient:innen transparent gemacht werden, indem Methoden offengelegt und als mögliche Variante dargestellt werden.32 Dadurch ist die Hierarchie zwischen Therapeut:in und Klient:in begrenzt.33 Die Beziehung zwischen Therapeut:in und Klient:in lässt sich als „gemeinsame Suche nach der für Patienten optimalen Lösung und ihrer anschließenden Umsetzung des Therapeuten“34 charakterisieren. Die Gesprächsführung gestaltet sich dabei non-direktiv, solange Lebensphilosophie und -ziele erarbeitet werden, wird aber aktiv-direktiv gestaltet, wenn die Gesprächsführung in

24 Vgl. dazu auch der Forschungsstand in der Rezeption von Psychotherapie in der Seelsorge bei Dubiski, Seelsorge, 21–84. 25 Dubiski, Seelsorge. 26 Stavemann, Therapie, X. 27 Vgl. Ellis, Grundlagen, 102. 28 Vgl. Beck/Rush/Shaw/Emery, Kognitive, 47; vgl. Stavemann, Integrative, 18. 29 Dubiski, Seelsorge, 119. 30 Dubiski, Seelsorge, 145. 31 Vgl. Beck, Kognitive, 37. 32 Vgl. Stavemann, Integrative, 2; vgl. ders., Integrative, 62. 33 Vgl. Dubiski, Seelsorge, 135. 34 Stavemann, KVT-Praxis, 6f.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

die Phase der Kognitiven Umstrukturierung übergeht.35 Dadurch wird die „therapeutische Methodendirektivität […] durch die Zieldirektivität des Patienten ergänzt.“36 Auf diese Weise soll die Klientin oder der Klient ernst genommen werden. In der Bewusstmachung und Reflexion, dass ein Hierarchiegefälle dennoch besteht, wird dieses transparenter und greifbarer. „Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auf diese Weise Gleichberechtigung mehr gelingt als durch die unrealistische Leugnung jeder Asymmetrie. Die in der poimenischen Literatur wiederholt genannte Befürchtung von Manipulation speziell in der Kognitiven Verhaltenstherapie erweist sich damit als nicht angemessen“37 , wie Dubiski resümiert. Für den Kontext „Gefängnisseelsorge“ scheinen die Methoden der Kognitiven Verhaltenstherapie dann eine Möglichkeit zu sein, wenn Seelsorger:innen in einer beratenden Funktion angesprochen werden. Doch selbst dann können verhaltenstherapeutische Erkenntnisse und Methoden nur begrenzt angewendet werden, weil Seelsorger:innen nach wie vor keine Therapeut:innen sind. Schwierigkeiten ergeben sich gerade an der Stelle, an der Kognitive Verhaltenstherapie in der Perspektive der „Draußenwelt“ ansetzt, wenn sie besonders „irrationale“ Schuldgefühle, verminderte Selbstwertgefühle bearbeitet und zu Überzeugungen verhelfen möchte, die auch beinhalten, dass nicht alle den Klienten oder die Klientin als so schlecht wahrnehmen, wie er:sie sich selbst. Im Gefängnis käme dies einer Heuchelei gleich, weil eine Stigmatisierung als „die Bösen“, die weggesperrt werden müssen, bereits stattgefunden hat. Trotzdem können präzise Gesprächsführungen, die aus den Methoden der Kognitiven Verhaltenstherapie entnommen werden, gerade bei der Schuldbearbeitung Möglichkeiten schaffen. Nicht zu unterschätzen ist auch die kognitive Umstrukturierung, die therapeutisch besonders auch bei Suchtkranken eingesetzt wird. Die Überzeugung „Meine Abhängigkeit ist stärker als ich“ kann zu „Ich bin mir nicht sicher, ob die Abhängigkeit stärker als ich ist, das finde ich nur heraus, wenn ich mich auf die Therapie einlasse“ umgewandelt werden. Allerdings ist dies eine Zuständigkeitsfrage, in der sich zeigen wird, dass sie Therapeut:innen obliegt, denen die Seelsorge höchstens zuarbeiten kann. Für die Rolle von Gefängnisseelsorger:innen gilt in diesem Rahmen, dass sie als Berater:innen angesprochen werden, dass von ihnen erwartet wird, ihr Gegenüber an die Hand zu nehmen. Dies ist eine Perspektive, die ein Hierarchiegefälle als Erwartungshaltung an die Seelsorgeperson heranträgt, die ernstgenommen werden sollte, ohne sie auszunutzen. Dies erfordert ein hohes Maß an Sensibilität, Wahrnehmungsfähigkeit, Expertise und Erfahrung mit erlernten Gesprächsmethoden, die sich Seelsorgende zutrauen können sollten, wenn sie sich in der verhaltenstherapeutischen Rolle der Seelsorge wiederfinden wollen. Gleichermaßen müssen sie selbstreflektierend ernstnehmen, wenn die Anforderungen des Gegenübers die eigenen Beratungskompetenzen übersteigen.

35 Vgl. Stavemann, Lebenszielanalyse; vgl. ders., Integrative, 61; vgl. Dubiski, Seelsorge, 135. 36 Dubiski, Seelsorge, 136. 37 Dubiski, Seelsorge, 136.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

Die Notwendigkeit, eine seelsorgesuchende Person aus ihrem Kontext heraus zu verstehen, indem die Straftat in ihren Kontext eingeordnet und wahrgenommen wird, spiegelt sich in Postulaten seitens Gefängnisseelsorgender wider, dass Menschen als „simul iustus et peccator“38 und in der Person „mehr als die Summe ihrer Taten“39 zu verstehen seien. Pastor:innen sollten dafür einstehen, um dem Gegenüber dabei zu helfen, sich nicht nur als „böse“ oder „gut“ wahrzunehmen, sondern „alle Seiten [die schwarzen und weißen, Anm. v. Inderst] zu entdecken“40 , obwohl die „Wirklichkeit, in der Tat und Person getrennt angesehen werden“41 ,von Pastor:innen letztendlich nicht hergestellt werden könne.42 Hinter solchen Aussagen steht mindestens die Wahrnehmung, dass kriminelles Handeln weitaus komplexer ist als einfach nur „dem Bösen“ geschuldet. An dieser Stelle konkretisiert sich die Frage, wie es überhaupt zu kriminellem Handeln kommen kann. Ohne „das Böse“ aufzulösen, soll es auf diese Weise sein Dämonenhaftes, das ihm leicht anhaftet, verlieren. Dem geht die Prämisse voraus, dass niemand einfach nur „Böses“ tut, weil er „das Böse“ ist – woraus die Frage resultiert, wie er „böse“ geworden ist. Auf wissenschaftlicher Ebene haben sich unterschiedliche Disziplinen mit der Beantwortung dieser Frage beschäftigt. So hat Ellen Stubbe in ihrer Gefängnisseelsorgetheorie, ihrer Zeit entsprechend, bereits den Versuch unternommen, Delinquenz aus psychoanalytischer bzw. freudscher Perspektive zu erläutern.43 Die gegenwärtige psychologische Perspektive, die mittlerweile über die Theorien Freuds hinausgeht, soll in einem zweiten Schritt hinsichtlich der Frage nach dem Ursprung kriminellen Handelns hinzugezogen werden (3.1.2). Unbewusste und unverarbeitete Strukturen des Individuums können Stubbe zufolge – im Anschluss an Freud – zu Delinquenz führen. In der Darlegung von Stubbes Sicht auf den Sündenbockmechanismus44 deutete sich aber auch eine weitere Ebene an, nämlich die gesellschaftliche, die zuerst einer genaueren Betrachtung unterzogen werden soll (3.1.1).

38 Pohl-Patalong, S., Freiräume, 194; vgl. Merzyn, Lebenslange, 49; Brandner, Gottesbegegnungen, 250. 39 Pohl-Patalong, S., Freiräume, 193; auch Höbel, Was kommt nach dem „Drinnen“, 68 und ähnlich Merzyn, Lebenslange, 344. 40 Pohl-Patalong, S., Freiräume, 194. 41 Pohl-Patalong, S., Freiräume, 194. 42 Pohl-Patalong, S., Freiräume, 194. 43 Siehe Kapitel 1.3.1. 44 S.o. Kapitel 1.3.1.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

3.1.1

Soziologische Perspektiven auf Kriminalität

Gesellschaftsperspektivisch beschäftigen sich die soziologischen Kriminalitätstheorien mit der Frage der Delinquenzentstehung. Gegenwärtig machen es sich besonders Allgemeine Kriminalitätstheorien zur Aufgabe, Kriminalität in ihrer Ganzheit zu beschreiben und zu erklären. Und zwar auch, um für ein besseres Verständnis einem generischen Modell zu folgen, „das nicht nur auf die Faktoren blickt, die in dem Moment wirksam sind, in dem ein Phänomen auftritt, sondern jedes Phänomen als Resultat eines fortschreitenden Prozesses rekonstruiert, bei dem in zeitlicher Abfolge immer wieder neue (Vor-)Bedingungen für den weiteren Verlauf geschaffen werden (das implizit [sic!] die Absage an jeden Determinismus und an die Illusion, es ließe sich der Endpunkt einer Entwicklung schon aus den ursprünglichen Ausgangsbedingungen vorhersagen).“45

Zuvor konzentrierten sich spezielle Kriminalitätstheorien auf die Erklärung eines bestimmten Phänomens aus einer Perspektive heraus – beispielsweise hinsichtlich eines bestimmten Deliktes oder der Eingrenzung der Tätergruppe auf Alter oder Geschlecht. Den Allgemeinen Kriminalitätstheorien sind in Deutschland besonders die Theorien der Soziologen und Kriminologen Henner Hess und Sebastian Scheerer sowie von Dieter Hermann zuzuordnen.46 Hess/Scheerer gehen dabei so vor, dass sie die gängigsten Teiltheorien in ihre Theorie integrieren. Hermann sieht allerdings darin die Problematik, dass Theoriebausteine zusammengefügt würden, die womöglich nicht kompatibel sind und so das Selbstverständnis der entsprechenden Theorie verkehrt werde.47 Dagegen möchte er „die Isoliertheit der gängigen Kriminalitätstheorien […] überwinden“48 , indem er versucht, „aus einer allgemeinen soziologischen Handlungs- und Gesellschaftstheorie eine umfassende Kriminalitätstheorie abzuleiten“49 . Beiden Theorieansätzen ist gemein, dass sie die individuelle mit der gesellschaftlichen Ebene verbinden. Sie verwenden dabei das durch den US-Amerikanischen Soziologen James Samuel Coleman (1926–1995) prominent gewordene, soziologische Makro-Mikro-Makro-Modell, auch bekannt unter den

45 Hess/Scheerer, Theorie, 71. 46 Im englischsprachigen Raum sind besonders die Arbeiten von Gottfredson/Hirschi, A Genereal; Agnew, Why Do Criminals Offend?; Tittle, Control Balance einschlägig. 47 Vgl. Hermann, Werte, 29. 48 Hermann, Werte, 18. 49 Hermann, Werte, 18.

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Namen Coleman-boat oder Coleman ‘s-bathtub.50 Er unterscheidet zwischen der Makro- und der Mikroebene. Die Makroebene bezeichnet gesamtgesellschaftliche Strukturen, die Mikroebene die einzelnen Akteure innerhalb eines (gesellschaftlichen) Systems. Das Modell wird genutzt, um generelle gesellschaftliche Veränderungen zu erklären – ist also nicht auf Delinquenztheorien beschränkt. Dem Modell zufolge lässt sich das Auftreten neuer Makrophänomene über die Ebene der Mikrophänomene erklären, die wiederum durch Makrophänomene geprägt wurden. Eine soziale Norm (Makro) beispielsweise beeinflusst das Individuum in seinem Handeln (Mikro). Wenn viele Individuen, von der Makroebene beeinflusst, entsprechend handeln, wirkt sich dies wiederum auf die Gesellschaft (Makro) aus. Das Modell eignet sich also, die gegenseitige Beeinflussung von Gesellschaft und Individuen darzustellen.51 Das Makro-Mikro-Makro-Modell wird von einigen Soziologen angewendet, um das Entstehen von Delinquenz nicht allein von gesellschaftlicher Ebene her zu erklären, sondern das Individuum mit einzubeziehen, wobei die Richtung immer von der Gesellschaft zum Individuum und wieder zurück verläuft. Der von der Kriminologie viel rezipierte Ansatz der Soziologen und Kriminologen Henner Hess (1940) und Sebastian Scheerer (1950) konzipiert eine sozialkonstruktivistische Kriminalitätstheorie mit handlungstheoretischer Herangehensweise, in der sowohl die Makro- als auch die Mikroebene berücksichtigt werden.52 Sie systematisieren vorhandene, gängige Teiltheorien der letzten hundert Jahre sowie die Labeling- und Machttheorien mit Hilfe des Makro-Mikro-Makro-Modells und haben zum Ziel, dadurch die Interaktion jener Teiltheorien darzustellen anstelle eines additiven Nebeneinanders ihrer Einzelteile.53 Auf der Makroebene lassen sich die Normgenese, die soziale Kontrolle ihrer Aufrechterhaltung und Definition von Kriminalität sowie ihre Darstellung durch Kriminalitätsstatistiken verorten. Auf der Mikroebene kriminelles Verhalten und die Interaktion mit Kontrollinstanzen. Hess/Scheerer gehen davon aus, dass der Mensch ein Beziehungswesen sei, um sich mit der Natur auseinandersetzen zu können. Dazu erschaffe der Mensch soziale Strukturen. Das Entstehen sozialer Ordnungen erfolge ausschließlich aus menschlichen Handlungen und sei nur durch sie aufrechtzuerhalten. Die dazu gehörenden Eigenschaften und Verhaltensweisen seien nicht naturgegeben, sondern müssten durch soziale Ordnung suggeriert bzw. erzwungen werden. Das bedeute gleichzeitig, dass der Mensch diese soziale Ordnung immer überschreiten und 50 Auf die Form seines Diagramms des Modells geht die Bezeichnung der Badewanne bzw. des Bootes zurück; vgl. Coleman, Foundations. 51 Vgl. Coleman, Microfoundations; ders., Micro foundations, 347; ders., Social theory, 1322. 52 Vgl. Hess/Scheerer, Theorie, 69–71. 53 Vgl. Hess/Scheerer, Theorie, 71.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

so im „Widerspruch Individuum-Gesellschaft“54 die soziale Ordnung gefährden könne.55 Während dieser Widerspruch universal sei, verhalte es sich in einem zweiten Widerspruch anders, mit dem sich die Normgenese erklären lässt. Der „Widerspruch zwischen Herrschendem und Beherrschten“56 sei während der sozialen Evolution entstanden, in der sich Herrschaft politisch als institutionalisierte Macht und ökonomisch als Herrengewalt an den entscheidenden Wirtschaftsmitteln herausbildete und sich im Zuge der Entwicklung von Konfliktverständnis und -regelung die Phänomene Recht (als durch Erzwingungsstäbe garantierte Normen), Verbrechen (als Verstöße gegen solche Rechtsnormen) und Kriminalstrafen (als Sanktionierungen von Verbrechen) entwickelten.“57 . An dieser Stelle stellen sich Herrschaftspositionen politisch als institutionalisierte Macht heraus, ökonomisch als Herrengewalt von Wirtschaftsmitteln.58 Konflikte und Konfliktregelungen, wie sie zuvor in akephalen Gesellschaften als Gefährdungen der sozialen Ordnung gesehen worden seien, seien nun als Handlungen gegen die Vorzugsstelle der Machthaber gedeutet worden, woraus sich die Phänomene Recht, Verbrechen als Verstoß gegen Rechtsnormen und Kriminalstrafen herausgebildet hätten. Das Sanktionsmonopol legitimiere gleichzeitig wieder ein Herrschaftsgefüge.59 Mit diesem herrschaftstheoretischen Ansatz erklären Hess/ Scheerer also die Normgenese, deren Beginn auf der Makroebene einzuordnen ist.60 Auf derselben Ebene ließen sich diejenigen Kräfte verorten, die Handlungen als Risiko für die soziale Ordnung wahrnähmen und ihnen mit Kontrollmaßnahmen begegneten. Zu solcher Kontrolle gehöre bereits die Typisierung unerwünschter Verhaltensweisen, um sie für die Zukunft handhabbar und im Einzelfall anwendbar zu machen. Sie könnten „als Sünde (mit Bearbeitung durch Kirche), als Revolte (Militär), Krankheit (Psychiatrie), Verwahrlosung (Erziehung) oder eben Kriminalität stigmatisiert und den darauf spezialisierten Institutionen (Polizei, Justiz) überlassen werden.“61 Solche Stigmatisierungen würden durch Machtverhältnisse bzw. Interessenskonstellationen beeinflusst. Durch solche Definitionsleistungen 54 55 56 57 58

Hess/Scheerer, Theorie, 72 [original: kursiv]. Vgl. Hess/Scheerer, Theorie, 72; vgl. Gehlen, Der Mensch. Hess/Scheerer, Theorie, 72 [original: kursiv]. Hess/Scheerer, Theorie, 72. Hier fließen die herrschaftssoziologischen Theorieelemente Haferkamps ein; vgl. Haferkamp, Herrschaft. 59 Vgl. Hess/Scheerer, Theorie, 72. 60 Gleichwohl ist kritisch anzumerken, dass insbesondere in demokratischen Strukturen von einem Beginn der Normgenese auf Mikroebene auszugehen wäre, weil nach demokratischem Verständnis die Rechtsbestimmung vom Individuum ausgeht. 61 Hess/Scheerer, Theorie, 73.

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entstehe erst „Kriminalität“, weil Handlungen als solche bezeichnet und damit bewertet würden. Genauso würden auch erst die Gesetzgeber bestimmen, was als Kriminalität gilt und was nicht.62 Das Phänomen der Normgenese sei allerdings komplexer, als dass Machthaber allein darüber bestimmen würden, was als kriminell zu gelten habe und was nicht. Dieses komplexe Phänomen lösen Hess/Scheerer in ihrer begrifflichen Unterteilung der „Kriminalität“. „[S]trafrechtlich definierte bzw. theoretische Kriminalität“63 bezeichnet das Strafrecht – es befindet sich also auf gesetzlicher Ebene. Der Ausruf „das ist ja kriminell!“ sei aber nicht zwangsläufig Ausdruck einer tatsächlichen Straftat, die gesetzlich sanktioniert wird, sondern verweise auf ein Empörtsein des:der Ausrufenden. Der:die Sprecher:in drücke auf diese Weise aus, was er:sie als anstößig empfindet. Hess/Scheerer bezeichnen dies als „moralunternehmerisch definierte Kriminalität“64 . So entstünden positives Recht und daneben andere Normen, aus denen wiederum Veränderungen im geschriebenen Recht resultieren könnten. „Informell definierte Kriminalität“65 sei die Masse derjenigen Handlungen, die unter die Kategorie der theoretischen Kriminalität subsumiert seien, die allerdings erst von den Tätern, Opfern, Kriminologen und Beobachtern so klassifiziert würden. Erst die „[f]ormell definierte Kriminalität“66 bezeichne diejenigen Handlungen, die tatsächlich seitens der Kontrollinstanzen verarbeitet würden und in die Kriminalstatistik übergehen. „Erst die vorurteilslose Anerkennung des wirklichen Sprachgebrauchs kann eine Vorstellung vermitteln von den Grenzen und der Beschaffenheit jener Sinnprovinz der Kriminalität, die sich an ihrer unteren Grenze vom erträglich Unguten (z. B. der Lüge) und an ihrer oberen Grenze vom Mega-Bösen (z. B. dem Vernichtungskrieg) unterscheidet und offenbar nicht leicht über diese Grenzen hinweg ausgedehnt werden kann. Sie kann aber andererseits auch nicht so einfach von der Landkarte getilgt oder einfach umbenannt werden. Man kann zwar diese und jene konkrete Verhaltensweise umdefinieren und ihr das Etikett Kriminalität nehmen, doch die Kategorie als solche ist extrem resistent.“67

Die Entstehung kriminellen Handelns verorten Hess/Scheerer auf der Mikroebene. Allerdings – dem Colmanschen Boot entsprechend – nicht allein um ihrer selbst willen, sondern hinsichtlich der Frage, wie die Mikroebene – also kriminelles

62 63 64 65 66 67

Vgl. Hess/Scheerer, Theorie, 73f. Hess/Scherer, Theorie, 74 [original: kursiv]. Hess/Scherer, Theorie, 74 [original: kursiv]. Hess/Scherer, Theorie, 74 [original: kursiv]. Hess/Scherer, Theorie, 74 [original: kursiv]. Vgl. Hess/Scheerer, Theorie, 74 mit Verweis auf Frehsee, Zur Abweichung sowie Jäger, Makrokriminalität.

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Handeln – ein Makrophänomen, hier z. B. das Entstehen von Kriminalitätsraten oder illegaler Märkte, bewirkt und nur über die Mikroebene verstehbar würden.68 Warum Sexueller Missbrauch, Steuerhinterziehung oder Hausfriedensbruch als disparate Phänomene trotz ihrer Verschiedenheit alle in derselben Kategorie der Kriminalität (der definierten) zugeordnet wurden, müsse laut Hess/Scheerer erklärbar sein. Sie fragen nach ihren Gemeinsamkeiten, die aufgrund ihrer Kategorisierung, in ihrem strafrechtlichen Verbot liege. Daraus ergebe sich, dass diejenigen, die eine solche Taten begehen, dies im Bewusstsein dieses Verbots täten. Folglich müsse der darin bestehende materielle/immaterielle und physische/psychische Mehraufwand erklärt werden.69 Zur Klärung der Frage wählen Hess/Scheerer drei Perspektiven: die traditionelle, diejenige, die vom unmittelbaren Ereignis der Straftat ausgeht, und die Labelingperspektive. Die traditionelle Perspektive sehe „sozusagen durch die Augen des Täters“70 und arbeitet mit dem Karrieremodell, nach dem Kriminalität als Ketten von Einzelereignissen im Laufe von Kriminalitätskarrieren betrachtet wird.71 Durch unterschiedliche soziologische Theorien lasse sich erklären, warum sich ein Akteur bestimmte Ziele setze, denen gegenüber er sich aus seiner Perspektive in einem Gegenüber relativer Deprivation wahrnehme, aus der er seiner Einschätzung nach nur durch illegale Mittel heraushelfen könne.72 Auch, weshalb ein Akteur sich als fähig dazu empfinde, zu solchen Mitteln zu greifen – sich also Handlungsentwürfe konstruiere. 68 69 70 71 72

Vgl. Hess/Scheerer, Theorie, 75. Vgl. Hess/Scheerer, Theorie, 75. Hess/Scheerer, Theorie, 76. Vgl. dazu Hess, Mafia; vgl. Hess, Karriere-Modell; vgl. Clarke/Cornish, Modeling Offenders. Hess/Scheerer, Theorie, 77 nehmen hier Bezug auf die Anomie-Theorie, die Theorie der differenziellen Assoziation und die Sub- bzw. Sozialisationstheorien. Die Anomietheorie besteht aus einem Konglomerat unterschiedlicher Theorien zur Erklärung delinquenten Verhaltens, die insbesondere mit den Namen Émile Durkheim (1858–1917), Robert K. Merton und Karl-Dieter Opp zusammenstehen. Merton zufolge ist Devianz ein Auseinanderklaffen kulturell vorgegebener Ziele und sozial strukturierter Wege ursächlich. Gesellschaftsmitglieder könnten unter enormem Druck stehen, die Zielvorgaben zu erreichen. Wenn Gesellschaftsmitglieder zu wenig Möglichkeiten hatten, wie z. B. Arbeit oder Erbschaft, griffen einige von ihnen zu illegalen Instrumenten. Hauptvertreter der Theorien der differenziellen Assoziation ist Edwin H. Sutherland, der die These vertritt, dass kriminelles Verhalten erlernt wird. Wird kriminelles Verhalten durch soziale Kontakte erfolgreich vermittelt, werden überwiegend die Einstellungen erlernt, die kriminelles Verhalten begünstigen, anstatt diejenigen Einstellungen, die kriminelles Verhalten negativ bewerten, vgl. zu dieser Theorie Sutherland/Cressey/Luckenbill, Principles of Criminology. Subkulturtheorien nehmen die Diskrepanz zwischen dominierenden Normen und gesellschaftlichen Zielen der Mittelschicht und denen der Unterschicht, die ersteren untergeordnet sind, zum Ausgang. Sozialbenachteiligte könnten aufgrund ihrer Sozialisation ihre Ziele nicht auf legalem Wege erreichen. Durch die Partizipation an Subkulturen könne die Verweigerung von Statuserwerb kompensiert werden. In solchen Subkulturen herrschten Mittelschicht negierende Normen und Werte und die Wahrscheinlichkeit delinquenten Handelns sei erhöht; hierzu sei auf die Klassiker

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Zwischen der Handlungsmöglichkeit und der tatsächlichen Bereitschaft stehe allerdings noch eine „inhibierende Wirkung antizipierter Kontrollen“73 . Mit diesen beschäftigen sich soziologische Kontrolltheorien74 , die erklären, warum massenhaft verbreitete Motivationen verhältnismäßig selten zu tatsächlicher Bereitschaft kriminellen Handelns führten. Aber umgekehrt auch, warum der Karriereprozess trotz ihm entgegenstehender verinnerlichter Normen und Werte als Kontrollsystem, seinen Fortgang nehme. Dabei spielten Kontakte, Szenen und Subkulturen eine Rolle. Und die jeweilige subjektive Gewichtung beider Phänomene, die sich aufeinander beziehen. „Die Befürchtung, dass sich aktuelle Bezugspersonen wegen der Tat oder deren Entdeckung/Bestrafung abwenden würden, ist womöglich ein sehr viel wirksameres Präventionsmittel als das durch die Sozialisation vermittelte oder in einer bestimmten Lebensstilszene vorherrschende Wert- und Normgefüge.“75 Aber auch andersherum: Die Motivation führe dann eher zur Bereitschaft, wo es das soziale Umfeld suggeriere, auf die Begehung von Straftaten positiv zu reagieren.76 Das Individuum wäge Kosten-Nutzen-Faktoren ab, stets aus der eigenen Perspektive und Wahrnehmung heraus – also: Wie hoch sind die Sanktionierungswahrscheinlichkeit und -konsequenzen. Hinzu kämen die gegebenen Bedingungen: Besitzt das Individuum Fertigkeiten und Kenntnisse, eine Straftat zu begehen? Und selbst wenn Motivation, Bereitschaft, Fähigkeit und Gelegenheit gegeben sind, müsse daraus nicht zwangsläufig die tatsächliche Strafhandlung resultieren. Denn das Individuum „kann immer die Umstände bedenken, ihre direkte Wirkung durch Reflexion brechen, aus Alternativen wählen und selbst dann, wenn alles auf eine Handlung zuzulaufen scheint, immer noch in plötzlicher Kehrtwendung ganz anders entscheiden.“77 Es sei durch Makro-Bedingungen und Biografie geprägt, aber nicht determiniert.78 Die Theorien der rational choice gehen dabei von einer utilitaristischen Grundannahme aus, dass der Mensch der Handlungsalternative

73 74

75 76 77 78

dieser Theorie Miller, W., Die Kultur; Cohen, Kriminelle Jugend; ders., Kriminelle Subkulturen; Trasher, The Gang; Shaw, C./McKay, Juvenile Delinquency. Hess/Scheerer, Theorie, 77 [original: kursiv]. Sie wählen eine andere Perspektive, indem sie konformes Verhalten zu erklären suchen. Sie gehen von einem Menschenbild aus, in dem der Mensch zuerst zu deviantem Verhalten motiviert ist. Verschiedene Kontrollen, die von Gesellschaft und Institutionen ausgehen, halten ihn davon ab. Danach lässt sich Kriminalität durch fehlende Kontrolle erklären. Prominente Vertreter dieser Theorie sind Hirschi, Causes of Delinquency; Gottfredson/Hirschi, Genereal; Le Blanc, Prevention; ders., A Generic Control. Hess/Scheerer, Theorie, 77; dagegen Hermann, Werte, 326ff, 343ff. Vgl. Hess/Scheerer, Theorie, 77. Hess/Scheerer, Theorie, 78. Hier integrieren die Autoren die Utilitaristische Kriminalitätstheorie. Sie geht von der vollkommenen Eigenverantwortlichkeit des Menschen aus, der rational und willensfrei agiere. Danach resultiert

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folgt, die am meisten Nutzen verspricht, wobei dieser nicht nur ökonomischer, sondern auch emotionaler Art sein könne. Das bedeute nicht, dass „Straftäter immer nur aufgrund einer bewussten Entscheidung über Handlungsalternativen Delikte begehen. Oft scheint nur ein Hineingleiten (drift) in kriminelles Tun registrierbar. Manchmal ist auch ein Verhalten vom Handelnden durchaus als konform, als Spiel oder Risiko auf der Grenze gemeint, und erst informelles oder formelles Etikettieren […] mag ihm ein anderes Bewusstsein davon geben.“79

Unter „Kriminalität als Ereignis“80 beleuchten Hess/Scheerer die Erklärung nach der Entstehung kriminellen Handelns, die dafür den situativen Kontext der Straftat heranzieht. Es gibt die Begründung seitens Täter:innen und Kriminologen, die Situation als Grund für die Straftat heranzuführen.81 Nach Hess/Scheerer gebe es aktuelle Situationen, die aus der Perspektive des Täters hinsichtlich seiner Straftat günstig erscheinen. Die Autoren betiteln dies vorsichtig als „objektive Möglichkeit“82 , wobei eben solche immer subjektiv interpretiert würde. Es seien „Situationen, die manchmal mühsam hergestellt werden, sich manchmal aber auch ergeben oder geradezu aufdrängen.“83 Dennoch sprechen sich Hess/Scheerer gegen die Auffassung aus, Situationen seien determinierend, die Dynamik der Situation sei „letztlich […] keineswegs so unabhängig von Entscheidungen des Akteurs […]. So ist auch die spontane und hoch-affektgeladene actio nicht selten libera in causa.“84 Die Labelingperspektive85 erklärt die Entstehung kriminellen Handelns als Folge sozialer Kontrollen (sekundäre Devianz). Dies sei der Fall, wenn die Erfahrung der kriminellen Handlung als positiv gewertet wird, z. B. weil die Handlung an sich so befriedigend war, dass sie selbst zum Handlungsziel werde oder wenn die Handlungsziele erfolgreich erreicht worden seien.

79 80 81 82 83 84 85

Kriminalität aus einer willensfreien und rationalen Entscheidung. Vertreter sind insbesondere Cesare Beccaria (er gilt als Begründer der Kriminologie); John Howard, Jeremy Bentham. Hess/Scheerer, Theorie, 78. Hess/Scheerer, Theorie, 79. Vgl. Hess/Scheerer, Theorie, 79. Hess/Scheerer, Theorie, 79 [original: kursiv]. Hess/Scheerer, Theorie, 79. Hess/Scheerer, Theorie, 79. Die Labelingtheorie fragt, anders als ätiologische Ansätze, nicht nach den Ursachen kriminellen Handelns, sondern erklärt sie über die Interaktionen zwischen Delinquenten und denjenigen, die Kriminalität definieren. Sie betrachten die Makroebene und fragen, welche Phänomene zur Kriminalisierung bestimmten Handelns führen. Der Labeling-Ansatz wird beispielsweise vertreten von Tannenbaum, Crime and Community; Becker, Außenseiter und Lemert, Social Pathology; ders., Der Begriff vertreten.

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Der Täter antizipiere nun in konkreterer Weise Kontrollen, indem er versuche, sie abzuwehren, und möglichst wenig Informationen an Sanktionierende gelangen ließe. Dadurch versuche er die Etikettierung „kriminell“ und die damit einhergehende Rolle als „Krimineller“ zu vermeiden. Der Informations- bzw. Interaktionsstop mit konformen Interaktionpartnern und die vermehrten Kontakte mit Personen in derselben Lage führe zu einer Devianz innerhalb der Bezugsgruppen des Akteurs. Wenn dieses verheimlichende Verhalten von anderen nun als suspekt wahrgenommen werde, führe dies zur ersten Fremdsubsumtion als kriminelles Verhalten und bliebe zumindest im engeren Personenkreis oft auf informeller Ebene. Wenn solche aber zu privaten Anzeigern würden, gelängen diese Handlungserfahrungen an tatsächliche Kontrollinstanzen, die sie auf Ebene der formellen Kontrolle bestätigten oder verwürfen. Eine Handlung unter eine Kategorie zu subsumieren hieße „meistens zugleich: den Handelnden als ganze Person unter eine Personenkategorie zu subsumieren. Man ‚erkennt‘, dass er im Grunde ein Krimineller ist […] und interpretiert rückwirkend seine bisherige Biographie unter diesem Aspekt.“86

Hierin besteht der Labelingprozess, durch den die Chance, in non-konformen Rollen einen gewissen Status zu gewinnen, signifikant steige. Wenn ein Akteur seine Handlung zunächst als „kriminell“ bezeichnen würde, bliebe sie anfangs eine Handlung unter vielen. Nun aber werde mit seinen Handlungen seine ganze Person neu definiert, woraus eine Verwandlung seiner Identität erfolge. Besonders dann, wenn er in dem gesamten Prozess seinen Bezugspersonen erkläre, wie sie sich bisher in ihm getäuscht hätten, zuzüglich der Neudefinition durch Kontrollinstanzen. So passe sich die subjektive Identität der zugeschriebenen, neuen an. Folglich erwarte er zukünftig von sich selbst ein der kriminellen Rolle entsprechendes Handeln.87 Das Makro-Mikro-Makro-Modell beschreibt, wie bereits erwähnt, über die von der Makro-Ebene beeinflusste Mikro-Ebene das Zustandekommen neuer Makrophänomene. Hess/Scheerer skizzieren u. a., wie über informelle Regeln „Siebungsmechanismen, nach denen etwa Medien- oder Wissenschaftsdiskurse zustande kommen“88 . In der Bevölkerung beruhe das Wissen bezüglich Kriminalität zumeist auf unmittelbarer Erfahrung, persönlicher Kommunikation und dem Mediendiskurs. Für viele gelte das medial vermittelte Bild als eigentliche Wahrheit von Kriminalität. Die Autoren machen auf Kriterien der Beeinflussung von Berichterstattung aufmerksam, die „neben dem an Aufklärung interessierten journalistischen Ethos

86 Hess/Scheerer, Theorie, 81. 87 Vgl. Hess/Scheerer, Theorie, 80–82. 88 Hess/Scheerer, Theorie, 82.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

– politische Interessen, die Auswahl, Modifizierung und Zensur von Nachrichten über Kriminalität […], weiterhin wirtschaftliche Erwägungen der konkurrierenden Medien wie Auflagenhöhe und Einschaltquote, […] sowie die Bedürfnisse der Konsumenten nach Sensation und Unterhaltung“89 . Daraus resultierten entsprechende Aussagen über Quantität, Qualität und Ursachen der Kriminalität sowie Stereotypen von Straftätern und Kontrolleuren. „Ein besonderes Kennzeichen des massenmedialen Diskurses ist das Zusammenfassen vieler Einzelereignisse zu demagogisch handhabbaren Entitäten (‚die Kriminalität‘, ‚der Terrorismus‘ oder ‚das Drogenproblem‘).“90 Der Mediendiskurs werde durch Informationen anderer Quellen und Hintergrundwissen der Rezipienten gefiltert. Ebenso wie Hess/Scheerer geht auch Soziologe und Kriminologe Dieter Hermann in seiner allgemein konzipierten Kriminalitätstheorie von der Grundannahme aus, dass „Normen, Werte, Glaubensüberzeugungen und Handlungsmuster […] durch Sozialisationsprozesse [entstehen]“91 . In seiner voluntaristischen Delinquenztheorie geht Hermann davon aus, dass die Wertorientierungen des Handelnden maßgeblich für Kriminalität seien. Wie schon Hess/Scheerer berücksichtigt auch er in seiner Theorie das Modell der Makro-Mikro-Makro-Ebene statisch-dynamische Modelle und die Handlungs- und Zuschreibungsebene. Der Autor legt seiner Theorie die Handlungstheorie Talcott Parsons zugrunde.92 Er versteht den Menschen als produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt, eingebunden in seine äußerst komplexe Umwelt. Um jene Komplexität zu reduzieren, Informationen zu verarbeiten und subjektiv Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, greife der Mensch auf Stereotype sowie Normen und Werte zurück. Demnach sind es Normen und Werte, die die Informationsverarbeitung während der Situationswahrnehmung beeinflussten. Normen und Werte würden aber besonders bei der Auswahl von Handlungszielen und den Mitteln zu ihrer Umsetzung wirken. Werte würden dabei zwischen wichtigen und unwichtigen Zielen unterscheiden und Normen differenzierten zwischen akzeptierten und nicht akzeptierten Mitteln. Jede Handlung resultiert danach aus der Wahrnehmung der Situation sowie der Auswahl von Handlungszielen und Handlungsmitteln.93 Damit ist der Ansatz Hermanns handlungstheoretisch. Für die Erklärung der Entstehung von Kriminalität folgt daraus, dass Werteorientierung von zentraler Bedeutung ist. Herrmann zeigt, dass die Wertorientierung differenziert werden kann zu einer traditionellen Orientierung – also an Leistung, Religion und konservativer Konfor89 90 91 92 93

Hess/Scheerer, Theorie, 85. Hess/Scheerer, Theorie, 85. Hermann, Werte, 327. Vgl. Hermann, Werte, 45–52. Vgl. Hermann, Werte, 46–48; vgl. Parsons, The Structure; vgl. ders.: Beiträge, 56.

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mität – und einer materialistischen Orientierung – darunter fallen hedonistische und subkulturell materialistische Ziele.94 Die Wertorientierung sei abhängig von Alter und Bildung – was Hermann empirisch aufarbeitet – und beeinflusse die Normakzeptanz des Individuums. Hermann formuliert daraus folgende, empirisch überprüfte Hypothesen95 : a) „Je ausgeprägter die Akzeptanz von Rechtsnormen ist, desto geringer ist die Delinquenzbelastung einer Person und die Bereitschaft, delinquent zu handeln. Individuell reflexive Werte beeinflussen die Akzeptanz von Rechtsnormen.“96 b) „Je ausgeprägter die Orientierung an traditionellen Werten ist, […] desto höher ist die Normakzeptanz. Je ausgeprägter die Orientierung an modernen materialistischen Werten ist, […] desto geringer ist die Normakzeptanz.“97 c) „Je älter eine Person ist, desto ausgeprägter ist die Orientierung an traditionellen Werten […] [und] desto geringer ist die Orientierung an modernen materialistischen Werten.98 Je höher der erreichte Bildungsstatus (statistisch als Erreichter Schulabschluss definiert) einer Person ist, desto geringer ist die Orientierung an traditionellen Werten.“99 Die Wertorientierung ändere sich im Laufe des Lebens des Individuums, abhängig von Alter, Bildung und Wertewandel des sozialen Umfeldes (Mikro-Ebene). Eine steigende Kriminalitätsrate könne durch die Veränderung gesamtgesellschaftlicher Werte erklärt werden – ceteris paribus –, 94 Die beiden Dimensionen zur Werteorientierung leitet Herrmann faktoranalytisch mit einer Hauptkomponentenanalyse mit schiefwinkliger Rotation von Daten aus einer schriftlichen Befragung in Heidelberg (n=1.463) und Freiburg (n=1.467) im Mai und Juni 1998 ab (vgl. Herrmann, Werte, 395–418). 95 Sie beziehen sich auf die Verhältnisse der modernen westeuropäischen Länder und den USA (vgl. Hermann, Werte, 332). 96 Hermann, Werte, 332. Die Überprüfung der Hypothese auf Basis der oben genannten Daten ergibt Pfadkoeffizienten zwischen Normakzeptanz und Delinquenz von -0,2 für leichte Delinquenz, -0,2 für schwere Delinquenz und -0,48 für Delinquenzbereitschaft. Die Koeffizienten sind alle signifikant von null verschieden (p < 0,05) (vgl. Herrmann, Werte, 177). 97 Hermann, Werte, 332. Eine für diese Hypothese sprechende Evidenz konnte nur teilweise geliefert werden. Konservativ konformistische Werte und eine hedonistische Orientierung zeigen keine signifikanten Regressionskoeffizienten zur Normakzeptanz. Allerdings wird der Zusammenhang zwischen normorientierter Leistungsethik, subkulturell materialistischer Orientierung und religiöser Orientierung mit der Normakzeptanz signifikant mit Koeffizienten von 0,32, -0,05 und 0,08, entsprechend, aufgezeigt (vgl. Herrmann, Werte, 180f). 98 Diese Hypothese scheint in den Daten mit Regressionskoeffizienten des Zusammenhangs zwischen Alter und Normorientierter Leistungsethik, Konservativer Konformismus, Subkulturell materialistischer Orientierung, Religiöser Orientierung und Hedonistischer Orientierung (0,14, -0,20, 0,27, 0,42, entsprechend) widergespiegelt zu werden (vgl. Herrmann, Werte, 184). 99 Hermann, Werte, 332. Auch dies zeigt die Studie mit Regressionskoeffizienten für die Erklärung Reflexiver Werteorientierung durch den Schulabschluss von -0,3 (für Normorientierte Leistungsethik), -0,19 (für Konservativer Konformismus und -0,05 für religiöse Orientierung (vgl. Hermann, Werte, 184).

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die sich zugunsten einer modern-materialistischen Werteorientierung auswirke (Makro-Ebene).100 Sanktionen und Strafe wirkten sich ebenfalls auf die Wertorientierung und Normakzeptanz des Individuums aus. Schwere Sanktionen führten zu einer stärker materialistischen Werteorientierung, während traditionelle Werte abgebaut würden. Das wiederum führe zu einer Verringerung der Akzeptanz geltender Rechtsnormen, woraus kriminelles Handeln wahrscheinlicher werde.101 Empirische Untersuchungen hierzu liefern laut Herrmann aber keine klaren Ergebnisse.102 Somit lässt sich zusammenfassen: Die Delinquenztheorien aus soziologischer Perspektive sind in der Frage nach der Entstehung „des Bösen“ als Kriminalität in mehrerlei Hinsicht hinweisgebend: Die Allgemeinen Theorien der Soziologen Hess/Scheerer sowie die von Hermann versuchen alle Phänomene, die unter die Kategorie der Kriminalität fallen, zu erklären und verbinden dabei die Dynamiken und Wechselwirkungen makro- und mikrosoziologischer Ebenen. Auf diese Weise werden sie dem Umstand der Komplexität der Kriminalitätsentstehung gerecht und stellen die Unmöglichkeit dar, den Endpunkt einer Entwicklung schon aus den ursprünglichen Ausgangsbedingungen vorhersagen zu können. Daraus folgt umgekehrt, dass es im Verstehen von Personen und ihren Taten im Gefängnis nicht möglich ist, Personen nach ihren Straftaten zu kategorisieren und solche alle als Folge ähnlicher Kontexte und Umstände verstehen zu wollen. Jemand, der einen Mord begangen hat, ist nicht verstanden, wenn er mit demjenigen in der Zelle nebenan verglichen wird, der ebenfalls einen Mord beging. Auch wenn der Versuch eines Verstehens der Tat da wäre, wäre die Stigmatisierung „der Mörder“ in diesem Falle nicht aufgehoben und damit eine Wahrnehmung der Person als Individuum nicht Rechnung getragen. Hess’ und Scheerers sozialkonstruktivistischer Ansatz ist wissenschaftlich dahingehend zu würdigen, dass sie die gängigen Kriminalitätstheorien der letzten hundert Jahre – mit Hilfe des Makro-Mikro-Makro-Modells – in ihre Theorie integriert haben. Besonders hervorzuheben sind die Normgenese, soziale Kontrolle und die Definition von Kriminalität, die sich auf Makroebene erklären lassen. Demnach stellt sich das, was als kriminell, aber auch als strafbar gilt als etwas heraus, das sich in sozialen Ordnungen formiert – und nicht etwa als etwas, das an sich existiert, so als sei selbstverständlich, was richtig und was falsch ist. Kriminalität entsteht in dem Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft sowie in dem, zwischen Herrschendem und Beherrschten. Dies unterstützt die Wahrnehmung

100 Vgl. Hermann, Werte, 279–306 und 340ff. 101 Vgl. Hermann, Werte, 307–324 und 342. 102 Vgl. Hermann, Werte, 260–264.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

in der Gefängnisseelsorge, dass der:die Strafgefangene im Gefängnis hinsichtlich ihrer Tat komplexen, äußeren Verstrickungen unterliegt und nicht kriminell wurde, weil er:sie einfach „böse“ wäre. Normgenese sowie die Stigmatisierung von einem Tatbestand als „Kriminalität“ – oder in anderen zeitlichen und kulturellen Kontexten als „Sünde“, „Krankheit“, „Verwahrlosung“ – unterliegen also einem gesellschaftlichen Wandlungsprozess, in dem Informelle und Formelle Kriminalität miteinander korrelieren. Dies geschieht beispielsweise durch Empfindungen einer Empörung über eine Tat, die sich von der Ebene einer informellen schließlich zu einer auf der Ebene der formellen Festschreibung als „Kriminalität“ formiert. Das, was als „kriminell“ (informell/formell) empfunden und schließlich stigmatisiert wird, entsteht durch oberflächliche Information, beispielsweise mediale Generalisierungen und vereinfachte Darstellungen von Sachverhalten. Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, weshalb Tat und Person im öffentlichen Kontext und von dort aus auch individuell häufig nicht getrennt wahrgenommen werden können, sodass jemand, der einen Mord begangen hat, als „der Mörder“ wahrgenommen und dargestellt wird. Hier bildet sich ein Grund für (moralisches) Urteilen heraus. Es zeichnet sich ab, dass auch Appellationen eines Verstehens an solche, die etwas als „böse“ bewerten, ebenfalls in ein Moralisieren kippen kann: „das musst Du doch verstehen!“/„Du Moralapostel!“. Dadurch werden aber wiederum jene nicht verstanden, an die dieser Appell gerichtet ist, sodass Moral mit Moral beantwortet wird. Gleichzeitig wurde soziologisch herausgearbeitet, welche Auswirkung ein solcher Labelingprozess haben kann, nämlich dann, wenn der:die Stigmatisierte die Rolle, beispielsweise als „der Aggressive“ tatsächlich einnimmt und ausführt, die ihm zugeschrieben wird, sich also mit jener Zuschreibung identifiziert. Das soziale Umfeld im größeren, aber besonders auch das direkte soziale Umfeld eines Individuums stellte sich als besonders großer Einfluss auf dessen Verhalten heraus, sowohl als Kontrollinstanz als auch im Kriminalitätsprozess. Das lässt vermuten, dass die Anerkennung derer, deren Aufmerksamkeit und Zugehörigkeit als wichtig bewertet werden, eine größere Rolle spielen, als Gesetze und die Sorge vor formellen Sanktionen – wobei das Individuum dabei stets Kosten-Nutzen-Faktoren abwäge. Das bedeutet, dass es nach wie vor zu einfach wäre zu sagen, Gesetze und Sanktionen schützten vor Kriminalität und jemand handelte kriminell, weil er diese Sanktionen einfach nicht achte oder gegen Gesetze verstoßen wollte. Dahinter liegen vielmehr Strukturen eines Zugehörenwollens zu einer Gruppe. Der Mensch handelt demnach nicht direkt aus generellen Normen und Werten heraus, sondern gestaltet sie individuell sowie gesellschaftlich mit und hält sich entsprechend daran oder nicht, je nachdem, wie er sich in gesellschaftliche Strukturen eingebunden fühlen möchte und fühlt, oder eben nicht. Dies verweist auf die (nicht generell böswillige) gesellschaftliche Mitverwobenheit in die kriminellen Verstrickungen von Individuen. Dadurch wird eine

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bewusste, reflektierte und vorsichtige Annäherung an Wahrnehmung, Weitergabe und Diskussion von kriminellen, „bösen“ Taten relevant, weil sie wiederum auf Wahrnehmung und Ausführung kriminellen Handelns eine direkte Auswirkung hat. Hermanns Voluntaristische Theorie berücksichtigt über Hess/Scheerer hinaus – neben der Kriminalität – auch Kriminalisierungsphänomene. Seine Theorie ist zudem durch empirische Evidenz gestützt und bringt neue Aspekte ein, die bei vorschnellen Vorurteilen Vorsicht walten lässt, wie z. B. in der gängigen – durch Hermanns Studien falsifizierten – Annahme, insbesondere sozial und ökonomisch benachteiligte Schichten der Gesellschaft zeigten Kriminalitätsbereitschaft. In seiner voluntaristischen Delinquenztheorie geht Hermann davon aus, dass Wertorientierungen für kriminelles Handeln maßgeblich seien. Allerdings sollte man nicht dem Fehlschluss erliegen – und es wird nicht ganz ersichtlich, ob Hermann ihn selbst begeht –, dass Menschen sich zuerst an Werten orientieren. Hermann beschreibt selbst, wie Menschen auf Stereotype, Normen und Werte zurückgreifen, um die Komplexität von Situationen, Erfahrungen und Phänomenen überhaupt bewerkstelligen zu können. Was als Handlungsziel und Handlungsmittel gilt, ergibt sich also immer aus der Wahrnehmung der jeweiligen Situation – ist also nicht generell, sondern kontextbezogen. Es ist dabei naheliegend, wie auch aus den Analysen Hermanns zu entnehmen ist, dass sich aus den Situationen gewisse Muster, Werte und Normen herausbilden, die die Wahrnehmung von Situationen beeinflussen und dadurch eben auch zu Kriminalität führen können. Die Wertorientierung gestaltet sich eben auch aus den jeweiligen Kontexten heraus: Tradition, individuellem Kontext und der damit verbundenen Akzeptanz von Rechtsnormen und Bildung. Hervorzuheben sind die soziologischen Erkenntnisse zur Normengenese in beiden Ansätzen, die aufzeigen, dass das, was als kriminell bewertet und empfunden wird, ebenfalls nicht selbstverständlich und grundsätzlich ist, sondern einer gesellschaftlich-individuellen Wechselwirkung unterliegt. Dies eröffnet auf seelsorglicher Seite neue Perspektiven, wodurch auch im interreligiösen- bzw. interkulturellen Dialog nicht a priori als selbstverständlich vorausgesetzt sein kann, was als kriminell zu gelten hat. Die Allgemeinen Kriminalitätstheorien sind demnach hilfreich, den Verstehenshorizont in Seelsorgesituationen am Ort des Gefängnisses zu erweitern und zeigen konkrete Anstöße, Sozialisierungsprozesse mitzudenken. Allerdings bergen sie gleichzeitig die Gefahr einer Generalisierung und Kategorisierung, beispielsweise welche Werte und Normen dem Gegenüber fehlen, weshalb er so oder so gehandelt hat. An dieser Stelle wäre insbesondere in Bezug auf voluntaristische Modelle zu fragen, ob Normen und Werte immer grundgebend für kriminelles Handeln sind, oder ob es nicht auch Kriminalität gibt, die sich nicht von Normen und Werten ableiten lässt.

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Abgesehen von dem Einbezug von Alter, Geschlecht, Familienstand, Schulabschluss und Schichtselbsteinstufung in Hermanns Studien ist den Ansätzen Hess/ Scheerers und Hermanns gemein, dass sie von der Makroebene ausgehen. Individuelle Werte und Normenentstehung sowie kriminelles Verhalten unterliegen demnach immer einem erfolgreichem oder misslungenem Sozialisierungsprozess. Dies birgt die Gefahr, eigene Charakteristiken des Individuums nicht zu berücksichtigen. Erkenntnisse aus der Psychologie, der Neurowissenschaft und der Wirtschaftswissenschaft verweisen jedoch darauf, dass Empfinden und Empfängnis über richtiges und falsches Handeln auch instinktiv angelegt sind – also teilweise vom Individuum selbst ausgehen. 3.1.2

Psychologische und neurologische Perspektiven auf Kriminalität

Wie bereits erwähnt, zeichnet sich in der Gefängnisseelsorge eine Wahrnehmung von Gefangenen als solche ab, die vor ihrer Tat selbst Opfer gewesen seien. Eingangs wurde von Ulrich Tietzes Seelsorgegespräch mit einem Gefangenen berichtet, der Opfer und später Täter sexueller Gewalt wurde.103 Tietze selbst stellt in seiner Zwischenüberschrift Vom Opfer zum Täter 104 die Straftat in einen kausalen Zusammenhang mit der Erfahrung eines sexuellen Übergriffs, der den Täter selbst zum Opfer machte. Er benennt die inzwischen beinahe gängige Kausalität später und meint, „sehr viele Gefangene, die Kinder missbraucht haben, sind als Kind selbst missbraucht worden. (Es hieß einmal in einer Veröffentlichung: bei 80% sei dies der Fall.)“105 Diese Vorstellung des Täters als Opfer und „[d]er Glaube an einen Kreislauf des sexuellen Missbrauchs von Kindern wird praktisch als Dogma akzeptiert.“106 Entweder, weil Täter psychisch so traumatisiert seien, dass sie selbst nicht mehr „richtig“ und „falsch“ unterscheiden könnten oder weil sie die Vorstellung internalisiert hätten, dass ein sexueller Kontakt zwischen Erwachsenen und Kindern akzeptabel sei.107 Solche Annahmen sind allerdings Annahmen, die aus psychoanalytischen und verhaltensanalytischen Theorien entstanden sind, wie zu sehen sein wird. Psychometrische Studien lassen solche Aussagen nicht ohne Weiteres zu. Die Wirklichkeit gestaltet sich komplexer. Die gängige Annahme, die meisten Sexualstraftäter, die Kinder missbraucht haben, seien als Kinder selbst

103 Vgl. Tietze, Vergib, 321. 104 Tietze, Vergib, 321. 105 Tietze, Vergib, 321, ein Verweis auf die Quelle seiner Behauptung fehlt. Allerdings spiegelt seine Erzählung eine Erfahrung bzw. seine Wahrnehmung wider, die auch nicht gänzlich durch empirische Studien zu missachten ist. Möglicherweise trifft seine Beobachtung auf Straftäter in dem Gefängnis, in dem Tietze arbeitet, häufiger zu als die Studien annehmen lassen. 106 Shaw, J., Böse, 191. 107 Vgl. Shaw, J., Böse, 192.

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missbraucht worden, lässt sich nicht durch empirische Analysen unterstützen.108 Zwar geht von Opfern sexueller Gewalt in der Kindheit ein höheres Risiko aus, später einmal Täter zu werden,109 allerdings scheinen die meisten Täter keine Opfer gewesen zu sein.110 Man kann also auch in der Seelsorge nicht so ohne Weiteres davon ausgehen, dass der:die Gesprächspartner:in, der:die das Delikt der sexuellen Straftat begangen hat, zuvor selbst Opfer ähnlicher Gewalttaten gewesen ist. Darüber hinaus lässt es auch nach anderen Einflüssen fragen, die dazu führen, solche Taten zu begehen, und die nicht allein in dem sozialen Umfeld und den Erfahrungen mit ihm begründet liegen. Ist „das Böse“ innerhalb des Menschen verankert? Es ist naheliegend im Zusammenhang mit Kriminalitätsentstehung zunächst danach zu fragen, wie bei einem Individuum Aggression entsteht, weil vornehmlich solche Delikte als besonders schrecklich wahrgenommen werden, die in einem Gewaltzusammenhang stehen – Körperverletzung, sexueller Missbrauch oder Mord – und damit mit aggressivem Verhalten in Verbindung gebracht und innerhalb der Grenzen des „erträglich Unguten und […] Mega-Bösen“111 eher in die Richtung „böserer Taten“ wahrgenommen werden. Aber sogar Lüge (von Hess/Scheerer als „erträglich Ungutes“112 dargestellt), Betrug und Rufmord können zu aggressivem Verhalten gezählt werden, wenn man betrachtet, was unter Aggression zu verstehen ist. Unter Aggression verstehen die Sozialpsychologen Deborah Richardson und Robert Baron „any form of behavior directed toward the goal of harming or injuring another living being“113 . Aggression habe dabei vier notwendige Merkmale: Erstens sei Aggression ein Verhalten und nicht nur ein Gedanke. Zweitens sei sie kein affektives Handeln, sondern ein intentionales. Drittens beinhalte sie den Willen, jemandem wehtun zu wollen.114 Viertens richte sich Aggression gegen ein Lebewesen. Teller absichtlich auf den Boden zu werfen sei also noch kein aggressives Verhalten. Teller auf den Boden zu werfen, weil dies die Mutter verletzen würde, die an ihren antiken Tellern hänge, sei sehr wohl aggressives Verhalten.115 Aggression ist also zielgerichtet.

108 109 110 111 112 113 114 115

Vgl. Paolucci/Genuis/Violato, A Meta-Analysis, 17–36. Vgl. Whitaker/Le/Hanson u. a., Risk factors. Vgl. Glasser/Kolvin/Campbell u. a., Cycle of child sexual abuse. Hess/Scheerer, Theorie,74 [original: kursiv]. Hess/Scheerer, Theorie, 74 [original: kursiv]. Richardson/Baron, Human aggression, 7. Vgl. Richardson/Baron, Human, 9f. Vgl. Richardson, Everyday aggression, 220f.

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Man kann mehrere Formen von Aggression und ihren Äußerungen unterscheiden:116 – Die Instrumentelle Aggression, bei der ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll, wie zum Beispiel ein Foul beim Sport, um ein Tor zu verhindern oder ein Krieg zur Landgewinnung; – Die Reaktive Aggression, in der aufgrund von Schmerz oder Wut anderen Wesen Schaden zugefügt wird. Aggression äußert sich direkt, indirekt oder passiv aggressiv.117 – Bei direkter Aggression wird eine Person durch verletzende Worte oder Handeln angegriffen; – Bei indirekter Aggression wird eine Person (z. B. durch Gerüchte) oder ein anderes Objekt (z. B. Beschädigung von Besitz) verletzt; – Bei passiver Aggression wird Kommunikation durch Nichtreaktion abgeblockt. Aggression kann sich also verbal, physisch oder beides in Kombination miteinander äußern. Betrug und Rufmord beispielsweise lassen sich also neben körperlicher Gewalt auch aggressivem Verhalten zuordnen, weil sie ein intentionales Verhalten voraussetzen und sich indirekt aggressiv äußern. Über die Entstehung von Aggression wird spätestens seit Freud geforscht und auch hier gibt es keine allgemeingültige Erklärung. Zu den triebtheoretischen Ansätzen lassen sich diejenigen von Freud und Konrad Lorenz118 (1903–1989) zählen. Beiden gemein ist die Auffassung, Menschen haben von Geburt an den Hang zu aggressiven Verhalten. Nach Freud erfolge aggressives Verhalten aus Unlust, die wiederum aus unbefriedigten Trieben resultiere (z. B. Hunger). Aggressionen würden sich gegen das, was Unlust bewirkt, richten.119 Lorenz geht ebenfalls von angeborenen Aggressionstrieben – Instinkten – aus, die zwecks Arterhaltung eine evolutionäre Bedeutung gehabt hätten. Ursprünglich habe er sich durch solche Hierarchien geschaffen. Aggression diente der Verteidigung gegen Feinde, der Weitergabe der eigenen Gene und der Erbeutung von Nahrung.120 Anders als im Tierreich, in dem Lorenz im Rahmen seiner Studien eine Art natürliche Barriere als Tötungshemmung beobachtet, überwinde der Mensch diese Barriere beispielsweise durch moderne Waffen. Es brauche wesentlich mehr Körper- und Handlungseinsatz, jemanden beim Faustkampf zu schaden, 116 117 118 119 120

Vgl. Anderson/Bushman, Human Aggression, 27–51. Zu folgenden Punkten vgl. Richardson, Everyday, 221; vgl. Richardson/Green, Circuitous harm. Der Verhaltenspsychologe gehört zu einem der Begründer der Ethologie. Vgl. Freud, Jenseits. An dieser Stelle wird sein Bezug zu Charles Darwin sehr deutlich.

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während das Abdrücken einer Pistole eine einzige Handlung erfordere. Mit modernen Waffen übergehe man die natürliche Barriere weiterzumachen, wenn der andere wehrlos ist. Aggression sei als angeborener Trieb unüberwindbar, sodass er auch nicht unterdrückt werden solle oder könne, weil er dann zur Eskalation führe. Dagegen könne Gewalt spielerisch ausgelebt werden, beispielsweise durch Sport.121 Die Psychologen John S. Dollard (1900–1980)122 und Neal E. Miller (1909–2002)123 verknüpften psychoanalytische Konzepte mit der systemischen Verhaltenstherapie nach Clarke L. Hull (1884–1952)124 . In ihrer gemeinsamen Arbeit entstand u. a. die sogenannte Frustrations-Aggressions-Hypothese. Frustration wird hier als Grund von Aggression angenommen. Frustration führe immer zu Aggression und Aggression sei immer Folge von Frustration. Frustration, als subjektives Erleben negativer Gefühle, wird dabei nicht als Veranlagung, sondern als Folge eines äußeren Reizes verstanden. Gäbe es keine Frustration, gäbe es auch keine Aggression. Denn eine aggressive Handlung führe zur Erleichterung des Frustrationsgefühls. Miller erweitert Dollards Theorie um die Aggressionsverschiebung, in der er davon ausgeht, dass gegen den Frustrationsursprung nicht aggressiv gehandelt werden kann, weil dieser zu stark erscheint (z. B. in Form einer Bestrafung). Deshalb richte sich in diesem Fall die Aggression gegen ein Ersatzobjekt.125 Das Konzept der Aggressionsverschiebung wird später als Wirkmechanismus der Sündenbock-Theorie verstanden. Neben triebtheoretischen Ansätzen gibt es diejenigen der Lerntheorien. Der USAmerikanische Psychologe Burrhus F. Skinner (1904–1990), bekannter Vertreter des Behaviorismus, begründete die Verhaltensanalyse. Er geht von einer Instrumentellen Konditionierung aus.126 Danach wird Aggression über ein Erfolgserlebnis erlernt. Wird jemand nach aggressivem Verhalten durch Erfolg belohnt insofern, als dass er durch dieses Verhalten zum Ziel gelangt ist, entstehen Verhaltensmuster, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, zukünftig wieder aggressiv zu handeln. Albert Bandura (1925) baut darauf auf, erweitert die Theorie jedoch um seine Modelltheorie. Ihm zufolge werde Verhalten nicht nur durch direkte Erfahrung erlernt, sondern auch durch Beobachtung anderer Personen (Modell). Beobachte jemand

121 122 123 124

Vgl. Lorenz, Das sogenannte Böse. War Sozialwissenschaftler und Psychoanalytiker. Er wurde später zum Schüler Hulls. Miller lernte bei Anna Freud und stieß 1936 zur Gruppe um Hull (Yale-Gruppe) hinzu. Wird zu den Lerntheoretikern gezählt und ging von einer Kombination erlernten Verhaltens mit triebhaften Verhalten aus. 125 Vgl. Miller, N., Experimental studies; vgl. Dollard/Doob/Miller, N./Mowrer/Sears, Frustration. 126 Prominent sind dabei die sogenannten Skinner-Boxen, in dem Testtiere in einem reizarmen Umfeld (Käfig) automatisiert ein neues Verhalten lernen können. Vgl. Skinner, A case history; vgl. ders., The Behavior, 48ff.

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das aggressive Verhalten eines anderen, das zum Erfolg führt, übernehme er dieses womöglich als adäquates Verhalten.127 Die gegenwärtige Psychologie geht in ihrer Methodik und Erkenntnisgewinn inzwischen über solche Ansätze hinaus, obgleich sie nach wie vor einen Verstehenshorizont eröffnen, der die menschliche Psyche im Fragen nach menschlichem Verhalten mit einbezieht. Heute geht es jedoch mehr um empirische Orientierung und das wissenschaftliche Verstehen psychischer und psychologischer Mechanismen, weniger um moralische Beurteilung.128 Es wird also nicht nur versucht, menschliche Persönlichkeit zu verstehen, sondern die bisherigen Annahmen empirisch zu belegen – kurz: psychometrisch zu erfassen. Wenn in theologischen Diskursen im Allgemeinen und in der (Gefängnis-)Seelsorge im Speziellen die Psychologie zu Rate gezogen wird, sind dagegen, nach meiner Kenntnis zum Forschungsstand, die Erkenntnisse aus dem 19./20. Jahrhundert nach wie vor populär.129 In der Psychologie des 21. Jahrhunderts zeigt sich jedoch, dass es zu einfach gedacht ist, zu sagen, dass „das Böse“ im Menschen ist, der Mensch also zwangsläufig diese Tat begehen musste und nicht anders konnte, gleichzeitig aber auch nicht gesagt werden kann, dass jede:r Delinquente zuvor Schlimmes erfahren hat. Obwohl gerne angeführt wird, dass Neurologie und Psychologie die Freiheit des Willens in Frage stellten,130 ist Vorsicht geboten, von einem in das andere Extrem zu rutschen – weg von einem freien Willen, hin zu einer ultimativen Unfreiheit menschlichen Willens. Angemessener ist, wie Klessmann postuliert, „ein komplexes Verursachungsfeld zu beschreiben, das weder zur individualisierten Schuldzuschreibung noch zur billigen Exkulpierung benutzt werden darf “131 .

127 Vgl. Bandura, Sozial-kognitive Lerntheorie. 128 Ähnlich formuliert dies die Rechtspsychologin Julia Shaw in einem Interview mit dem Philosophie Magazin, In jedem von uns steckt Sadismus, 49. 129 Exemplarisch dafür ist, dass die Gefängnisseelsorgedebatte nach Stubbe, Seelsorge, die insbesondere Freud und Jung rezipiert haben, keine weiteren psychologischen Rezeptionen erfahren hat, obwohl die Nachfrage zumindest implizit besteht, vgl. die genannten Aufsätze des einführenden Abschnitts aus 3.1. In der Gefängnisseelsorge gelten „[g]rundlegende Kenntnisse psychologischer bzw. psychotherapeutischer Einsichten und Methoden als wesentliche Grundlage“ (Drexler, Gefangenen, 180) für eine Seelsorgearbeit, die den Menschen individuell und „menschenfreundlich[…]“ (Drexler, Gefangenen, 180) begleiten möchte. Wenn solche Kenntnisse in seelsorglichem Kontext hinzugezogen werden, zeigt sich allerdings, dass gegenwärtige psychologische Erkenntnisse nicht rezipiert werden. Drexler, verweist ebd. selbst darauf, dass um die Jahrtausendwende innerhalb der Gefängnisseelsorge des Psychoanalytikers Udo Rauchfleisch, Begleitung, rezipiert wurde. Rauchfleisch versteht seine Arbeit selbst als „psychoanalytische Sozialarbeit“ oder „sozialarbeiterische Psychoanalyse“, (Rauchfleisch, Behandlung, 284–289.); Merzyn, Lebenslange, 346 bezieht sich auf C. G. Jung. 130 So z. B. Tietze, Menschliche, 34. 131 Klessmann, Gefängnisseelsorge, 44.

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In jüngerer Zeit wurde versucht, „das Böse“ im Menschen psychometrisch zu erfassen. Dabei scheint sich in der wissenschaftlichen Debatte momentan das Modell der Dark Triad – der dunklen Triade durchzusetzen.132 Unter der dunklen Triade sind die Persönlichkeitsmerkmale der Psychopathie, des Machiavellismus und des Narzissmus, (in Ergänzung des Merkmals Sadismus: die „Dunkle Tetrade“133 ) gefasst, welche durchaus miteinander korrelieren. Dennoch können sie als hinreichend unterschiedlich betrachtet werden. Sie alle beschreiben subklinische Eigenschaften, werden also nicht als Persönlichkeitsstörung im Sinne der gängigen Definitionen (momentan DSM 5 und ICD-10) aufgegriffen. Sie haben die Verhaltensweisen gemein, sich selbst in den Fokus zu stellen sowie Doppelzügigkeit, emotionale Kälte und einen gewissen Grad an Aggressivität mit sich zu bringen.134 Die dunkle Triade wird u. a. auch in Zusammenhang mit Aggression und antisozialem Verhalten in Verbindung gebracht, wenn jemand hohe Werte hinsichtlich der ihn umfassenden Persönlichkeitsmerkmale aufzeigt.135 Psychopathie wird gegenwärtig über die Psychopathie-Checkliste (PCL-R) definiert.136 Nach ihr gehören zu den bestimmten Merkmalen der Psychopathie u. a. Lügen, oberflächlicher Charme, antisoziales Verhalten, Mangel an Gewissensbissen, Egozentrik und Mangel an Empathie. „Es scheint ein allgemeiner Konsens zu herrschen, dass es Straftäter und psychopathische Straftäter gibt – und dass Letztere in eine gesonderte, beängstigende Kategorie fallen.“137 Forscher fanden heraus, dass dieses Empathie-Defizit teilweise im Hirn verankert ist. „[J]üngste Bildgebungsstudien legen nahe, dass dem psychopathischen Verhalten eine abnormale Hirnaktivität zugrunde liegt“138 . Die Teile des Gehirns, die für Entscheidungen sowie derjenigen, die für Emotionen verantwortlich sind, funktionierten nicht richtig.139 Daraus lässt sich ableiten, dass die durch genetische und Umwelteinflüsse bestimmte Hirnstruktur teilweise für die Verbrechen eines Psychopathen verantwortlich gemacht werden kann.

132 Sie wurde 2002 durch die Psychologen Delroy L. Paulhus und Kevin M. Williams geprägt. 133 Vgl. Chabrol/Leeuwen/Rodgers/Sejourne, Contributions; vgl. Paulhus/Buckels, The Dark Tetrad. Die dunkle Tetrade ist allerdings noch nicht soweit empirisch überprüft wie die dunkle Triade. 134 Vgl. Paulhus/Williams, The dark triad. 135 Jonason/Webster, A protean approach. 136 Vgl. Hare, The Hare Psychopathy. 137 Shaw, J., Böse, 42. 138 Poeppl/Donges/Rupprecht u. a., Meta-analysis, 349. 139 Vgl. Poeppl/Donges/Rupprecht u. a., Meta-analysis, 349, danach sei Psychopathie durch „eine abnormale Gehirnaktivität des bilateralen präfrontalen Kortex und der rechten Amygdala charakterisiert […], welche für psychische Funktionen verantwortlich sind, die bei Psychopathen bekanntermaßen beeinträchtigt sind.“

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Narzissten werden häufig als arrogant und streitsüchtig empfunden. „Main Objectives: The narcissistic personality is characterized by grandiosity, entitlement, and low empathy.“140 Narzissmus lässt sich in zwei Gruppen unterteilen – in die vulnerablen und die grandiosen. Grandiose Narzissten werden als selbstgefällig, selbstbewusst und angeberisch erlebt, während vulnerable Narzissten als verbittert, nörglerisch und abwehrend wahrgenommen werden. Grund dafür sei, dass sie selbst nicht ganz von ihrer Überlegenheit überzeugt sind.141 Laut der Forscher Zlatan Krizan und Omesh Johar, sei es der vulnerable Narzissmus, der gefährlich werden könne, während grandiose Narzissten nur frustrierend sein könnten. Narzisstische Vulnerabilität sei „a powerful driver of rage“, geschürt durch „ suspiciousness, dejection, and angry rumination“142 . Der Machiavellismus ist nach dem Philosophen Machiavelli benannt, der die Ansicht vertrat, dass einige Menschen bereit seien, alle Mittel zu nutzen, um an ihr Ziel zu gelangen.143 Peter Muris u. a. definieren Machiavellismus als einen „duplicitous interpersonal style, characterized by a cynical disregard for morality and a focus on self-interest and personal gain.“144 Hier sind also nicht (fehlende) Gefühle ausschlaggebend, wie mangelnde Empathie oder das Gefühl der Überlegenheit, sondern funktionaler: es liegt eine soziale Strategie vor, um sich einen persönlichen Vorteil sowie Macht zu verschaffen. Machiavellismus lässt sich nach Muris durch drei Eigenschaften diagnostizieren: „manipulative Taktiken (z. B. ‚Es ist klug, wichtigen Menschen zu schmeicheln‘), eine zynische Sicht der menschlichen Natur (z. B. ‚Jeder, der irgendjemandem vollständig traut, provoziert Ärger‘) und die Missachtung der konventionellen Moral (z. B. ‚Manchmal sollte man handeln, auch wenn man weiß, dass es moralisch falsch ist‘)“145 .

Der der dunklen Triade 2013 hinzugefügte Sadismus wurde von den Sozialpsychologen Roy Baumeister und Keith Campbell „as the direct achievement of pleasure from harming others“146 definiert und gehöre damit zum „most obviously intrinsic

140 141 142 143 144 145

Konrath/Bushman, Development, 1. Vgl. Shaw, J., Böse, 46. Krizan/Johar, Narcisstic, 784. Vgl. Jones/Paulhus, Machiavellianism. Muris/Merckelbach/Otgaar/Meijer, The malevolent, 184. Shaw, J., Böse, 47 bringt hier hilfreiche Beispiele zu den durch Muris u. a. genannten Eigenschaften ein, vgl. Muris /Merckelbach/Otgaar/Meijer, The malevolent, 184. 146 Baumeister/Campbell, Intrinsic Appeal, 211.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

appeal of evil acts“147 . Ihnen zufolge sei der Sadismus der Grund dafür, dass Menschen „Böses“ tun. Die Erkenntnisse innerhalb der Studien zur dunklen Triade ergeben insgesamt einen messbaren Teil von Persönlichkeitsmerkmalen, die eher zu aggressivem und antisozialem/kriminellem Verhalten führen. Diese Merkmale sind zum Teil genetisch belegbar, zu einem anderen Teil durch die soziale Umwelt bedingt. Was bedeutet dies nun hinsichtlich „des Bösen“? Muss die Schlussfolgerung gezogen werden, dass delinquente Menschen, deren Werte von Persönlichkeitsmerkmalen der dunklen Triade höher sind als bei nicht delinquenten Personen, „böse“ sind, zu kriminellem Handeln, genetisch bedingt, determiniert sind? Es gibt Studien, durch die solche Annahmen relativiert werden müssen. Obwohl es Untersuchungen gibt, die zeigen, dass Psychopathie neurologisch im Gehirn verankert ist, heißt das nicht, dass jeder Psychopath zwangsläufig kriminell werden muss. Der Neurologe und Psychiater James Fallon scannte und untersuchte die Gehirne psychopathischer Mörder. Er erhielt das Bild eines eindeutig pathologischen Hirns, das, wie sich herausstellte, sein eigenes gewesen ist. Fallon selbst sagt in einem Interview, dass er nie jemanden getötet oder vergewaltigt habe. Er überlegte deshalb, ob seine Hypothese vielleicht falsch wäre, wo doch diese Hirnbereiche keine ausreichenden Hinweise auf Psychopathie oder Morde geben. Weitere Nachforschungen ergaben jedoch, dass unter Fallons Ahnen mindestens acht Personen jemanden umgebracht hatten. Er schlussfolgerte daraus, dass er seinem Hirn zufolge doch ein Psychopath sein könnte und bezeichnet sich selbst als „prosozialen Psychopathen“. Er habe Schwierigkeiten, Mitgefühl zu empfinden, verhalte sich aber dennoch sozial. Das heißt, dass danach nicht alle Psychopathen zwangsläufig Kriminelle sind.148 Selbst mit dem Sadismus verhält es sich ähnlich. Sadismus ist viel „normaler“, als angenommen, also ebenfalls subklinisch zu begreifen.149 Sadismus ist zumindest ansatzweise in jedem Menschen veranlagt: etwa in der Schadenfreude, denn auch hier wird Freude am Leid anderer empfunden. Oder in dem Phänomen der cute aggression, d. h. dem Verlangen, niedlichen Wesen plötzlich wehtun zu wollen – mindestens bekannt unter dem Ausruf beim Anblick eines niedlichen Säuglings „Der ist ja zum Anbeißen!“. Dieses Paradox, also einem Wesen, das als so niedlich empfunden wird, dass man es beschützen möchte, gleichzeitig Schmerzen zufügen zu wollen, wird in der Psychologie unter dem Begriff der „Dimorphen Emotion“ geführt. Solche entstehen dann, wenn das Gehirn von einer Emotion unaushaltbar überwältigt zu werden 147 Baumeister/Campbell, Intrinsic, 211f. 148 Vgl. Das Interview mit Fallon in dem Radiobeitrag des SWR 3: Schlag/Wustrack, Sind Psychopathen therapierbar; vgl. auch Shaw, J., Böse, 43. 149 Vgl. die Studien von Buckels/Jones/Paulhus, Behavioral.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

droht, sodass das Gehirn mit einer konträren Emotion dagegensteuert.150 Zu beobachten ist dies beispielsweise auch in der Reaktion auf furchtbare Nachrichten, wenn mit einem Lachen reagiert wird. Oder in dem Phänomen der Freudentränen. Dies liefert einen Hinweis darauf, dass selbst Aggression – eingangs angeführt als das als „schlechthin Böse“ Verstandene – nicht ohne Weiteres immer mit Böswilligkeit verbunden ist. Dafür spricht auch, dass sich nach einer Studie von Richardson und Green die meisten Menschen besonders denjenigen aggressiv gegenüber verhielten, die ihnen am nächsten ständen, die sie liebten. Dies hänge mit der Emotion der „Wut“ zusammen. War jemand wütend auf jemanden, hat er:sie sich ihr:ihm gegenüber auch sehr häufig aggressiv verhalten. Nahestehende seien leicht erreichbar und weckten starke Gefühle.151 Wenn Menschen sich aber denjenigen, die geliebt werden, besonders häufig aggressiv gegenüber verhalten, schließt dies ein von langer Hand geplantes, hasserfülltes, also stereotypisch „böses“ Verhalten aus. Darüber hinaus kann Aggression auch Folge einer mangelhaften emotionalen und physischen Selbstkontrolle sein. Ein niedriger Blutzuckerspiegel führt Studien zufolge zu erhöhter Aggressionsbereitschaft. Hunger triggert demnach das Gefühl der Wut.152 Was folgt daraus? Paulhus selbst weist auf die feine Nuancierung in der Verwendung des Begriffs „Aggression“ hin: „In common parlance, aggression is a trait, that is, a stable and enduring style of thinking, acting, and feeling that can be measured on a continuum of individual differences“153 , woraus die Wahrnehmung folgt, dass jemand aggressiv ist, so als sei es für die Person ein fundamentaler Charakter. Aggression muss aber aus Dargestelltem mehr als normal, denn als „böse“ verstanden werden. Und obwohl die Studien der dunklen Triade auf etwas im Menschen verweisen, was ihn eher zu aggressivem, antisozialen Handeln führen kann, sind die Merkmale nach wie vor wertfreier zu verstehen, als solche, die einfach im Menschen veranlagt sind. Menschen mit „dark personalities […] can get along (even flourish) in everyday work settings, scholastic settings, and the broader community.“154 Sie ist also zunächst einmal nichts für sich Klinisches/Pathologisches. Daraus folgt, dass diese Merkmale erst einmal nicht an sich „böse“ sind oder „Böses“ machen. Verknüpfen sich die Merkmale doch auch mit gesellschaftlich sogar anerkannten Charakteristika von Ehrgeiz und daraus resultierendem Erfolg etc. Mit der Psychologin

150 Vgl. eine Studie zu diesem Phänomen der cute aggression von Aragón/Clarke/Dyer/Bargh, Dimorphous. 151 Vgl. Richardson/Green, Direct and indirect aggression. 152 Vgl. Bushman/DeWall/Pond/Hanus, Low glucose. 153 Paulhus/Curtis/Jones, Aggression. 154 Paulhus, Toward, 421.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

Julia Shaw ist zu betonen, dass die wissenschaftlichen Begrifflichkeiten allein schon problembehaftet sind und negative Normativität suggerieren. „Indem wir Begriffe wie ‚dunkel‘ oder ‚psychopathisch‘ verwenden, um menschliche Wesen zu beschreiben, laufen wir Gefahr, Personen zu entmenschlichen. Wir laufen Gefahr, die Vorstellung zu akzeptieren, dass eine bestimmte Person schlecht ist: ‚Die Missetäter können sich nicht ändern, es ist in ihrer DNA‘, ist etwa eine erstaunlich weitverbreitete Annahme. Das riecht stark nach medizinischer Monsterisierung.“155

Das bedeutet, dass Menschen, die Merkmale der dunklen Triade aufweisen, nicht automatisch „böse“ sind. Hier erfährt die Wahrnehmung aus der Gefängnisseelsorge, in jedem von uns steckten Persönlichkeitsmerkmale, die zu Kriminalität führen könnten, ihren wissenschaftlichen Nachweis. Aus psychometrischer Perspektive stellt sich heraus, dass es Persönlichkeitsmerkmale als Veranlagungen oder als neurologische Strukturen gibt, die zu „Bösem“ führen können. Man kann also sagen, dass es auch innerhalb des Menschen Strukturen gibt, die zu kriminellem, als „böse“ bewertbarem Handeln führen können. Als subklinische Merkmale können sie allerdings nicht als „das Böse“ schlechthin begriffen werden. Vielmehr kommen solche Veranlagungen in jedem Menschen mehr oder weniger stark vor und brechen mehr oder weniger wahrscheinlich durch, wobei selbst stark ausgeprägte neurologische Strukturen, die ein „psychopathisches Hirn“ aufzeigen, nicht zwangsläufig zu kriminellem Handeln führen müssen. Man kann Kriminalität rückwirkend mit solchen Strukturen erklären, aber nicht rechtfertigen, weil offensichtlich mehrere Parameter eine Rolle spielen. Auch die psychologische Perspektive erlaubt demnach keine einfachen Kausalzusammenhänge und Voraussagen, sondern verweist auf komplexe Verstrickungen hinsichtlich kriminellen Verhaltens. Darüber hinaus zeigt sie, dass Persönlichkeitsmerkmale, die in gesteigerter Form zu Kriminalität führen, in jedem Menschen vorhanden sind. Demzufolge ist es richtig, wenn auch vereinfacht zu sagen, was in der Gefängnisseelsorge besonders durch Ulrich Tietze angeführt wird, dass „das Böse“ in uns allen schlummert, bei den einen ausbricht und bei den anderen nicht. Die Gründe dafür liegen sowohl im Inneren des Individuums als auch in den Außenmechanismen, die Umwelt und Gesellschaft mitbedingen. 3.1.3

Zwischenfazit

Die soziologischen und psychologischen Perspektiven des 21. Jahrhunderts wurden in der Frage nach der Entstehung von Kriminalität beleuchtet, um einen herme-

155 Shaw, J., Böse, 41.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

neutischen Zugang zu dem zu erfassen, was gegenwärtig aus unterschiedlichen Positionen heraus bezüglich Straftaten als „böse“ bewertet werden kann und wird. In den soziologischen Delinquenztheorien Hess’/Scheerers sowie derjenigen Hermanns zeigte sich die Korrelation zwischen Makro- und Mikrostrukturen, durch die sich sowohl die Normgenese als auch Kriminalitätsentstehung darstellen lassen. Äußere gesellschaftliche Strukturen bedingen beides mit. Das bedeutet auch, dass sich erst entwickelt, was als „richtig“ und „falsch“ gilt und damit als „gut“ und „böse“ bewertet wird, beides kann nicht als selbstverständlich erachtet werden. Die Beschränkung einer Kriminalitätsätiologie auf die Geschichten und äußeren Kontexte der jeweiligen Individuen stellte sich jedoch als zu kurz gefasst heraus. So zeigte sich insbesondere in den neueren Studien zur dunklen Triade, dass es psychologische und neurologische Hinweise gibt, die „böses“ Verhalten auch innerhalb des Individuums verankern. Dabei muss sowohl aus soziologischer als auch aus psychologischer Perspektive gesagt werden, dass eine Vorhersage von Kriminalität nicht möglich ist, weil unterschiedliche Parameter wirken. Äußere und innere Umstände führen gerade nicht zwingend zu Kriminalität. Besonders die Neurologie, die gerne als Argument gegen die Willensfreiheit hinzugezogen wird, zeigt vielmehr auf, dass selbst ein offensichtlich „psychopathisches Gehirn“ nicht in psychopathischkriminelles Verhalten führen muss. Die hinzugezogenen Studien verweisen also auf eine differenzierte Wahrnehmung: Die Humanwissenschaften behaupten nicht, dass der Mensch unter gewissen inneren Umständen zu kriminellem/„bösem“ Verhalten determiniert ist. Humanwissenschaftliche Erkenntnisse eignen sich also nicht pauschal, um „das Böse“ weg zu theoretisieren/wegzurationalisieren, d. h. Delinquenz unter dem Deckmantel der Wissenschaft durch kausale Verursachung vom Täter oder von der Täterin zu trennen. Über solche Erklärungen wird „das Böse“ anderen Wirkfaktoren zugeschrieben, sodass der:die Täter:in zum Opfer wird. In dieser Form des „Wegtheoretisierens“ wird „Polyvalente Normativität“ nicht stehen gelassen, sondern hat zur Folge, dass Seelsorger:innen selbst keine Differenzen mehr aushalten müssen, weil eine Assimilation an das Gegenüber stattfindet. Darüber hinaus lässt sich jedoch mit den dargestellten humanwissenschaftlichen Perspektiven davor warnen, den Begriff „das Böse“ unreflektiert anzuwenden und wahrzunehmen. Die Labelingtheorie sowie die Stigmatisierung zeigen, dass Kriminalität durch generalisierende Rollenzuschreibung sogar gefördert werden kann bzw. Personen dadurch mit ihrer Tat zusammenfallen. Niemand ist jedoch „böse“. Darüber hinaus zeigte sich die Schwierigkeit jedweder Stigmatisierung, die auch die Bezeichnung/Wahrnehmung als „Opfer“ miteinschließt. Ein solches Bilden von Typologien birgt die Gefahr einer Dehumanisierung, sodass im konkreten Seelsorgefall mindestens unbewusst ein Hierarchiegefälle entsteht, indem die Person als „krank“ oder als „fehlerhaft“, also in irgendeiner Weise als zu verbessernde betrachtet wird.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

Die hermeneutische Annäherung an „das Böse“ durch das Einbinden interdisziplinärer, aktueller Forschungsstände ermöglicht die Eröffnung eines Verstehenshorizonts und verweist zugleich auf die Notwendigkeit eines solchen Einbezugs. In der Frage nach dem „Woher?“ wird der Mensch nicht als „der Böse“, sondern als Mensch wahrgenommen, der aus inneren und äußeren Umständen heraus, „Böses“ zu tun vermag. Mit der Beschäftigung der Frage nach dem „Woher?“ wird hinter seine Taten geschaut, sodass voreiligen Stigmatisierungen entgegengewirkt wird. „Das Böse“ verliert sein Dämonenhaftes, bleibt aber dennoch bestehen, denn die Erklärungen der Delinquenzenstehung machen die Delinquenz nicht ungeschehen, das Leid bleibt bestehen. Die Hinzuziehung humanwissenschaftlicher Erkenntnisse des 21. Jahrhunderts schafft zudem ein kritisches Bewusstsein für jegliche Stigmatisierung im Kontext Gefängnis. Beispielsweise werden in Formulierungen wie „vom Opfer zum Täter“, Täter:innen unreflektiert – übrigens aus wohlwollendem Grund, mit dem Ziel, etwas „Gutes“ im „Bösen“ zu sehen – als Opfer stigmatisiert. Das Opferdasein führte demnach in die Delinquenz. Um den Menschen auf diese Weise nicht von der anderen Seite her genauso zu dehumanisieren, müsste man vielmehr sagen, dass er ernst genommen wird, wenn eben auch seine Straftaten und das, woher sie rühren, als manchmal unerklärlich oder zu komplex wahrgenommen werden können, ohne sie dadurch als „das Böse“ abzutun. Auch und gerade auf diese Weise werden sie als entdämonisiertes „Böses“ wahrgenommen, ohne Diskussion, Dialog und damit Beziehung zu blockieren. Gefängnisseelsorge würde der Komplexität der Delinquenz(entstehung) Rechnung tragen, wenn der:die Seelsorger:in als „Anwalt [oder Anwältin, Anm. v. Inderst] der Realität“156 , die oft unerklärliche, „böse“ Seite eben als Realität wahrnimmt und benennen kann, weil „auch die zerstörerische und brutale Dimension unseres Lebens [dazu] gehört“157 .

3.2

Ethik in der Gefängnisseelsorge als Reflexion „des Bösen“ und seiner hermeneutischen Annäherung

Es wurde bis hierher nachvollzogen, dass es „das Böse“ als solches nicht gibt. Es ist immer Sache von Wahrnehmung und Bewertung. Dennoch bestehen gesellschaftliche Konsense über Sachverhalte, die eher als „böse“ und eher als „gut“ wahrgenommen werden. In gesellschaftlichen Kontexten der westlichen Welt beispielsweise wäre es schon eher eine Ausnahme, wenn jemand die Misshandlung einer Frau oder den Mord an einem Menschen als „gut“ bewerten würde. Müsste

156 Pohl-Patalong, S., Freiräume, 194. 157 Pohl-Patalong, S., Freiräume, 194.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

man also sagen, dass es möglich ist, grundsätzlich zu lernen, was „richtig“ und was „falsch“ bzw. was „gut“ und was „böse“ ist? An dieser Stelle wird der Bereich der Ethik berührt, weil sie sich mit der reflexiven Beurteilung moralischer Unterscheidungen von „gut“ und „böse“ auseinandersetzt. Wenn über Straf -taten nachgedacht wird – was im Gefängnis allzu offensichtlich ist –, drängt sich das Nachdenken über „richtiges“ bzw. „falsches“ Handeln geradezu auf. In dem Moment, wo Taten als „gut –böse“, „richtig-falsch“ oder sogar Personen als „die Bösen“, die anders sind als „die Guten“ bewertet oder verurteilt werden, befindet man sich im Nachdenken darüber im Bereich der Ethik. Kann Seelsorge also von ihr lernen, was gesellschaftlich und individuell als „böse“ bzw. „gut“ bewertet werden sollte und dies seelsorglich weitergeben? Demgegenüber besteht eine gewisse Skepsis. „Traditionell und aufgrund des Rechtfertigungsdrucks im Gefängnis besteht gegenüber der Seelsorge große Angst vor moralisierender Zurechtweisung.“158 Gleichzeitig möchte Seelsorge im Gefängnis „bei der Bewältigung der Orientierungskrise helfen und bemüht sich um sittliche Verantwortungsbereitschaft und ethische Urteilsfähigkeit der Gefangenen.“159 Wie also steht es um das Verhältnis zwischen Gefängnisseelsorge und Ethik? Im Folgenden soll den Fragen nachgegangen werden, ob es aus ethischer Perspektive möglich ist, festzustellen, was „böse“ und was „gut“ ist, und wie aus seelsorglicher Perspektive ein Ethikverständnis aussehen könnte, das Seelsorgesituationen zuträglich wird, in denen keine moralisierende Haltung eingenommen bzw. Praxis ausgeübt wird. 3.2.1

Ethik als Begründung von Handlungsmaßstäben – eine Problemanzeige

Die Frage nach einem seelsorglich-ethischen Umgang im Gefängnis ist zunächst einmal eine Frage nach dem generellen Verhältnis von Seelsorge und Ethik. Denn Seelsorgende sind nicht vorrangig Ethiker:innen im Sinne von Ethiker:innen in einer entsprechenden Kommission, wie beispielsweise im Kontext von medizinischen Entscheidungen im Krankenhaus.

158 Günther, Seelsorge, 325; Vgl. Merzyn, Lebenslange, 349: „Die meisten Gefangenen haben in verletzender Weise die Erfahrung gemacht, abgelehnt zu werden, sobald sie zu ihrer Verantwortung zu stehen versuchten. Ermahnungen werden dem Gefangenen also wenig dabei helfen, die eigene Verantwortung auf sich zu nehmen.“; vgl. Pohl-Patalong, S., Freiräume, 191: Der Mensch braucht „nicht Ermahnung zu guten Taten, sondern die Zusage der Liebe Gottes […], um möglichst gut nach Gottes Willen leben zu können“. 159 Günther, Seelsorge, 325.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

Die Debatte, in der es um das grundsätzliche Verhältnis zwischen Ethik und Seelsorge ging, wurde von Praktischen und Systematischen Theolog:innen schwerpunktmäßig in den 1990er Jahren geführt. Dort wird Ethik eine enorme Relevanz für die Seelsorge zugesprochen.160 So wird „Ethik selber als Theorie der Seelsorge in Anspruch [genommen]“161 , oder als „Struktur aller Seelsorge“162 betrachtet. Andere systematisieren Seelsorge in unterschiedliche Dimensionen – darunter auch in die ethische, neben der religiösen, therapeutischen bzw. kommunikationsfördernden oder derjenigen, die mit Schicksalsschlägen zu tun hat.163 Der ethische Bereich, an dem Seelsorge relevant werde, beziehe sich auf ethische Konflikte bzw. ethische Krisen.164 Überwiegend kristallisiert sich eine Funktion der Seelsorge heraus – sofern das Ethische in der Seelsorge betroffen ist – die darin besteht, zu verantwortlichem Handeln anzuleiten, indem sie zu eigenständigem Urteilen verhilft.165 In dem Erwerb ethisch-moralischer Kompetenz liege die Zielsetzung christlicher Seelsorge.166 Seelsorge wird darin als „Hilfe zu ethischer Lebensführung“167 verstanden. Ziemer konkretisiert sie als „Orientierungsarbeit“168 und setzt ihr das gegenwärtige „Leiden am Fehlen eindeutiger Handlungsmaßstäbe“169 voraus, die Folge der Postmoderne seien.170 Dies führe zu Entscheidungsunfähigkeit, „weil die Sicherheit

160 Für einen Überblick des in den 1990er Jahren geführten Diskurses zur Verhältnisbestimmung von Ethik und Seelsorge verweise ich auf meinen Aufsatz Inderst, Die Wiederentdeckung, in dem die wichtigsten Positionen zusammengefasst sind. Darüber hinaus vgl. Lasogga/Roth, M., Seelsorge in deren Tagungsband erneut Praktische und Systematische Theolog:innen sowie Seelsorger sich mit dem Thema Ethik-Seelsorge beschäftigen. 161 Herms, ethische, 60. 162 Winkler, Seelsorge, 283. 163 Vgl. Wintzer, Seelsorge, 18 sowie Körtner, Seelsorge und Ethik, 97f; Klessmann, Seelsorge, 300; vgl. Kunz/Neugebauer, Ethische Seelsorge, 247f; vgl. Roser, Spiritual Care, 285. 164 Vgl. Winkler, Umgang, 29, 33f; vgl. Lange, D., Evangelische Seelsorge, 66.; vgl. Müller, Ethos, 12f; vgl. Klessmann, Seelsorge, 303; vgl. Körtner, Seelsorge, 98. 165 Vgl. Wintzer, Seelsorge, 18; vgl. Müller, Ethos, 8, 13; vgl. Lange, D., Evangelische Seelsorge, 63; vgl. Herms, Struktur, 53; vgl. Körtner, Seelsorge 99; vgl. Ziemer, Seelsorgelehre, 118; vgl. Kunz/ Neugebauer, Seelsorge 247. Zum konkreten methodischen Vorgehen vgl. Winkler, Umgang, 35ff in dem Winkler einen pädagogisch-erzieherischen Umgang vorschlägt, ähnlich wie Herms, ethische Struktur, 62 für den Seelsorge nicht in einer „,Entlastung‘ der Klienten [original: kursiv, Anm. v. Inderst]“ besteht, sondern in der methodischen Förderung ihrer eigenverantwortlichen Entscheidungsfähigkeit, (vgl. Herms, ethische Struktur, 46, 50, 62). 166 So Nauer, Seelsorge, 216 mit Rekurs auf Schneider-Harpprecht, Thesen, 284f. 167 Lange, D., Evangelische Seelsorge, 62. 168 Ziemer, Seelsorgelehre, 143. 169 Ziemer, Seelsorgelehre, 143. 170 Vgl. Ziemer, Seelsorgelehre, 143.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

für das ethische Urteil fehlt“171 . Klessmann wünscht sich eine Ethik, die frei ist von Subjektivität. Sie solle sich auf Normen berufen, die auch für diejenigen nachvollziehbar sind, die andere Wertvorstellungen haben.172 Allgemeinverbindliche Normen entlasteten das Individuum, weil „sie die Orientierung nicht ausschließlich der individuellen Entscheidung überlassen“173 . Es müsse „vor allem darum gehen, situationsunabhängige Verhaltensmaximen als verbindliche Größen erlebbar zu machen“174 . Menschliches Handeln bedürfe einer überindividuellen Orientierung, also einer Theorie, mit deren Hilfe ethische Fragestellungen reflektiert werden können.175 Ethik wird hier als Orientierungshilfe konzipiert, die objektive, allgemeingültige Verhaltensmaßstäbe begründet. Dies impliziert, dass es möglich ist, Maßstäbe zu begründen, aufgrund derer man zwischen „Gut“ und „Böse“, „Richtig“ und „Falsch“ unterscheiden könne. Mit dem Systematischen Theologen Michael Roth, der neben Johannes Fischer einer der wenigen Theologen aus ethischer Perspektive im Rahmen des SeelsorgeEthik-Diskurses den Eintrag der Ethik in die Seelsorge kritisch betrachtete, ist ein solcher Anspruch an die Ethik zu problematisieren. Roth unterzieht den weitreichenden Konsens, Ethik sei die „Wissenschaft von der Moral“176 bzw. „die Theorie der Moral“177 , die als Reflexion der Moral eben jene zum Gegenstand habe einer kritischen Betrachtung. Der Gegenstand der Moral werde dabei von der Ethik nicht nur betrachtet, insofern als dass traditionelle Werte und Normen einfach beschrieben würden, sondern sie habe den Anspruch, solche auch zu reflektieren und kritisch zu überprüfen.178 Eine solche Ethik als Reflexion guter/richtiger Handlungsführung liege dann nahe, so suggeriere es die Ethik, „wenn nicht mehr selbstverständlich ist, was gut ist“179 .180 In Zeiten der Pluralisierung und Säkularisierung – so wurde es u. a. durch Ziemer suggeriert – sei dies der Fall. Roth stellt dies in Frage, ob tatsächlich nicht mehr selbstverständlich sei, was gut ist – umgekehrt muss man im Übrigen auch fragen, zu welcher Zeit das jemals

171 172 173 174 175 176 177 178 179 180

Ziemer, Seelsorgelehre, 143. Vgl. Klessmann, Seelsorge, 301f. Winkler, Umgang, 32. Winkler, Umgang, 33. Vgl. Wintzer, Seelsorge, 23; vgl. Herms, ethische Struktur, 61; vgl. Müller, Ethos, 14; ähnlich Körtner, Seelsorge, 99. Piper, Einführung, 17. Birnbacher, Analytische, 2. Vgl. Roth, M., Warum, 20f. Andersen, Einführung, 2. Vgl. Roth, M., Moralapostel, 21.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

der Fall gewesen sein soll. Der Ethiker Ernst Tugendhat beispielsweise spricht von einer „moralischen Desorientierung“181 : „Obwohl die meisten durchaus bestimmte moralische Überzeugungen haben, können sie doch gewöhnlich nicht sagen, worauf sie beruhen. Diese Orientierung gründet darin, daß die Moral früher, in unserer wie in anderen Kulturen, stets religiös oder durch das Herkommen begründet war und eine solche Begründung heute nicht mehr überzeugt. Frühere Moralen waren in einer Autorität begründet, an die geglaubt werden musste, die Autorität eines Gottes oder des Herkommens oder in beidem. Sie waren also heteronom, nicht autonom. Sie gründeten in einem Glauben und im Gehorsam an das Geglaubte, nicht in eigenem Einsehen oder Wollen. Die heutige Desorientierung ergibt sich dadurch, daß auf der einen Seite eine heteronome Moral nicht mehr überzeugen kann und man sich auf der anderen auf eine autonome Moralbegründung nicht geeignet hat.“182

Dies impliziert, dass Menschen nur so lange moralisch richtige und falsche Entscheidungen sicher treffen könnten, solange sie einer Autorität folgen könnten. Mit dem Philosophen Julian Nida-Rümelin ist eine solche moralische Desorientierung in der säkularen Welt zu bezweifeln. „Unterziehen sie das Gesamt ihrer moralischen Überzeugungen einem radikalen Zweifel? Glauben sie sich auf keine einzige ihrer moralischen Überzeugungen mehr verlassen zu können? Suchen sie wie Descartes verzweifelt nach einem Fundament, von dem aus sich das System ihrer moralischen Überzeugungen neu entwickeln ließe? Nein, nichts davon trifft zu. Menschen haben wie eh und je moralische Überzeugungen, sie sind davon überzeugt, dass sie Verpflichtungen in ihren jeweiligen sozialen Rollen, als Eltern, Lehrer, Vorgesetzte, Mitarbeiter, Kinder und Schüler haben, daß sie gegebene Versprechen einhalten sollten, daß Verträge zu erfüllen sind, auch wenn keine Sanktionen drohen, daß Hilfsbedürftigen geholfen werden sollte, daß niemand mutwillig beschädigt werden sollte, daß man respektvoll miteinander umgehen sollte. […] Dies alles scheint für eine bemerkenswerte moralische Vitalität und nicht für eine umfassende moralische Krise zu sprechen“183 .

Nida-Rümelin exemplifiziert also, dass der säkulare Mensch nicht etwa amoralisch ist. Gleichzeitig lassen sich seine Beispiele trotzdem unterschiedlich mit Inhalt füllen: Was bedeutet es, seinen elterlichen Verpflichtungen nachzugehen? Es ist noch nicht allzu lange her, dass die Prügelstrafe als Erziehungsmethode gängige

181 Tugendhat, Über das Problem, 13. 182 Tugendhat, Über das Problem, 13. 183 Nida-Rümelin, Gibt es ein Problem.

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Praxis gewesen ist, d. h. zu den elterlichen Verpflichtungen zählte. Strafbar ist sie erst seit dem Jahr 2000 (§ 1631 BGB; § 223 StGB; § 225 StGB). Man kann mit Nida-Rümelin aber davon ausgehen, und so verfährt Roth, dass der säkulare Mensch nicht unter einem Werteverfall leidet, sondern dass es einen Wertewandel unterschiedlicher Wertesysteme gibt.184 Die Welt gerät also nicht aus den Fugen, wie man annehmen könnte. Vielmehr wird die Problematik in dem Anspruch an die Ethik deutlich, allgemeingültige Begründungen als Grundlage für moralisch richtiges oder falsches Handeln generieren zu wollen. Denn mit Roth wäre nun weiter zu fragen, wie denn Ethik die Moral prüft, d. h. außerhalb des jeweiligen Moralsystems stehende Begründungsprädikate zu finden, mit denen sich moralische Werte und Normen begründen lassen?185 Roth geht davon aus, dass es keine Begründungsmerkmale gibt, die außerhalb ihrer Moralsysteme stehen und gleichsam alle Moralsysteme miteinander verbinden würde. Nach allgemeinem Ethikverständnis habe Ethik ein „distanziert-reflektierendes Verhältnis“186 . Ethik sei rationaler orientiert als der moralische Diskurs, der die Werte und Normen anwende, in dem es also um moralische Bewertung an sich gehe.187 Moral werde als Anwendung bestimmter Normen und Werte verstanden, während Ethik, davon unterschieden, die Reflexion dieser Normen und Werte bedeute. Roth stellt nun heraus, dass es nach dieser Auffassung aber eigentlich auch in der Ethik um Bewertungen gehe, nämlich dann, wenn sie die moralischen Bewertungsmaßstäbe bewerte.188 Ethik greife dadurch selbst in die Moral ein und nehme an moralischen Bewertungen teil, sodass „das Verhältnis von Ethik und Moral […] wesentlich intimer“189 sei. Es sei nun zu fragen, woher die objektiven, übergeordneten Begründungsprädikate kommen, durch die sich Werte und Normen

184 Vgl. Roth, M., Moralapostel, 12. 185 Vgl. Roth, M., Moralapostel, 21. 186 Birnbacher, Analytische, 5. Birnbacher, Analytische, 2f schreibt: „Das ‚Sprachspiel‘ der Ethik oder Moralphilosophie ist nicht schlicht identisch mit dem ‚Sprachspiel‘ der Moral. Vielmehr ist die Ethik ein theoretisches und speziell philosophisches Meta-Sprachspiel, das eigenen Regeln gehorcht. Die Rolle des Ethikers oder Moralphilosophen besteht nicht primär darin, das Sprachspiel der Moral selbst zu spielen, d. h. den Regeln des Sprachspiels gemäß zu urteilen und zu bewerten, sondern primär darin, das Sprachspiel der Moral von einem außerhalb des Sprachspiels gelegenen Standpunkt zu beschreiben, zu analysieren und möglicherweise zu begründen“. 187 Vgl. Birnbacher, Analytische, 5. 188 Vgl. Roth, M., Moralapostel, 22. Dies gesteht auch Birnbacher, Analytische, 2 ein, der sagt, dass die Ethik mit der Moral „in vielfältiger Weise in Wechselwirkung steht, - z. B. so, dass sie bestimmte Moralnormen postuliert und kritisiert und damit direkt oder indirekt in die Entwicklung der Moral eingreift“. 189 Roth, M., Moralapostel, 23.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

begründen lassen sollen. Mit Tugendhat erklärt Roth, dass sich solche Begründungsprädikate eben nicht begründen ließen.190 „Es gibt keine – von der jeweiligen Moral unabhängigen – Begründungsprädikate.“191 Woher sollten sie stammen? Im 19. Jahrhundert wurde diesbezüglich die Vernunft ins Feld geführt. Das aber sei ein „überholte[s] Vernunftkonzept“192 , weil nicht mehr von „der Vernunft“, als eigene Entität gesprochen werden könne. Es gebe dagegen unterschiedliche Rationalitäten, sodass Vernunft dispositional und nicht mehr substanziell verwendet werde. Von daher sei „‚Vernunft‘ immer ‚Vernunft von…‘ […]: Vernunft eines Menschen, eines Systems, eines Prozesses, einer Institution etc.“193 , wie Roth mit Dalferth konstatiert. Vernunft sei stets situierte Vernunft. „Sie ist eingebettet in die leiblichen […] Vollzüge menschlichen Lebens […], und sie ist zusammen mit diesen eingebunden in konkrete Situationen und den Wechsel von Lebenssituationen in Interaktion mit wechselnden Umwelten“194 . Roth schlussfolgert, es gebe keine „ethische Vernunft […], die nicht immer in eine bestimmte Moralkonzeption eingebettet ist.“195 Denn sie sei immer Teil einer bestimmten Moral. Folglich gebe es „auch nicht die Ethik, sondern unterschiedliche Ethiken, die sich jeweils der zugrundeliegenden Moral verdanken. Daher hat die Ethik mit der Moral nicht nur die Form des Bewertens gemeinsam […], sondern nimmt auch inhaltlich an der jeweiligen Struktur des Bewertens teil. Die Ethik erwächst aus der Moral.“196

Allgemeingültige, gut begründete Werte und Normen kann es danach nicht geben. Aus vorangesagtem, sowie aus Abschnitt 3.1.1 stellt es sich eher so dar, dass Menschen und Gesellschaften ihre je eigenen Werte und Normen generieren, die nicht mit denen anderer übereinstimmen müssen. Auch hier zeigt sich: Es ist je unterschiedlich, was als „böse“ und „gut“ wahrgenommen und bewertet wird, wobei schon davon auszugehen ist, dass sich Gesetzmäßigkeiten sowie persönliche Wertvorstellungen gegenseitig bedingen und beeinflussen. Daraus folgt für die Seelsorge, besonders in Zeiten der Postmoderne, dass sie gerade keine eindeutigen Handlungsmaßstäbe weitergeben kann und auf diese Weise Entscheidungshilfe leisten könnte. Eine Ethik, die frei wäre von jeder Subjektivität, stellt sich als utopisch heraus, sodass der Seelsorge nur bleibt, mit Subjektivität und damit auch mit (Werte-)Differenzen umzugehen. In der konkreten Praxis tut Seelsorge dies auch

190 191 192 193 194 195 196

Vgl. Tugendhat, Probleme, 59ff. Roth, M., Moralapostel, 23. Roth, M., Moralapostel, 23. Vgl. Dalferth, Fundamentaltheologie, 172. Dalferth, Glaubensvernunft, 619. Roth, M., Moralapostel, 24. Roth, M., Moralapostel, 24f.

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längst – von da aus verwundert es umso mehr, dass sie in der Theorie, zumindest in dem konkreten Seelsorge-Ethik-Diskurs anders formuliert. Einerseits wird theoretisch nach universalgültigen Normen gefragt, andererseits zeigt die gelebte Praxis etwas anderes. Es zeigt sich also, wie sich Seelsorge in einem Spannungsverhältnis zu einem Anspruch an Ethik als Begründerin objektiver und allgemeingültiger Handlungsmaßstäbe befindet, und zwar an dem Punkt, an dem Theorie sich in der Praxis bewähren muss. In der konkreten Praxis stellt sich auch tatsächlich heraus, dass Seelsorger:innen auch bei ethischen Fragen und Entscheidungssituationen sich selbst mehr als Seelsorgende denn als Ethiker:innen verstehen und einen flexiblen, situations- und am Individuum orientierten Umgang mit dem Ethischen zeigen, d. h. mit Subjektivität umgehen. Sie üben sogar Zurückhaltung gegenüber normativen Setzungen, weil solche mit der Komplexität konkreter Situationen divergierten.197 Hier stellt sich eine seelsorgliche Dimension im Ethischen heraus und weniger eine ethische Dimension in der Seelsorgearbeit.198 Trotz eines theoretisch geführten Diskurses, zeigt also die Reflexion der Seelsorgepraxis, dass Seelsorgelehre weniger moralisch als vielmehr individuell und situativ arbeitet. Und selbst auf theoretischer Ebene zeigt sich eine Skepsis gegenüber der Umsetzung universalgültiger Normen an: So wird beispielsweise Moral als theoretisches Wissen zum praktizierten Ethos konstituiert. Sie diene mehr der Verständigung über ethisch verantwortliches Handeln, als dass sie Motive für solches bilde.199

197 Dazu sei auf die Studien des Praktischen Theologen Wilfried Sturms und des Ethikers Thorsten Moos verwiesen. Moos u. a., Ethik, erfasst in seiner empirischen Arbeit den Umgang Klinikseelsorgender mit ethischen Situationen. Sturm, Gottes Namen, untersucht ethische Entscheidungssituationen Seelsorgender in der Neonatologie. Gerade weil jedes Kind als eigene Persönlichkeit gesehen werde, lehnten die Seelsorgenden universalisierende Tendenzen der Ethik ab. Es zeigt sich sogar, dass sich Eltern bei gleicher Diagnose ihres jeweiligen Kindes mit gleichem Operationsrisiko unterschiedlich entschieden haben und auch ihre Entscheidung retrospektiv als „richtige“ bewertet haben, vgl. Sturm, Gottes Namen, 280. 198 Diese Perspektive findet sich auch bei Roth, M., Die Seelsorge; Schneider-Harpprecht, Was ist interkulturelle Seelsorge; Inderst, Wiederentdeckung. In der Gefängnisseelsorge wird dies konkret, wenn beispielsweise Hagenmaier, Seelsorge, 232 das systemische Seelsorgekonzept stark macht, das „von sich aus keine Ethik“ kenne und dadurch keinen „‚gut – böse‘ Antagonismus“ bilde. Systemisches Denken verstehe „die sich selbst schaffenden und weiterschaffenden Systeme in (freier) dynamischer Interaktion.“ Damit charakterisiert Hagenmaier das systemische Seelsorgekonzept als eines, das nicht in wertenden Kategorien denkt. 199 Vgl. Wintzer, Seelsorge, 21f.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

3.2.2

Ethische Maßstäbe als Handlungsorientierung – eine zweite Problemanzeige

Die Schwierigkeit eines Ethikansatzes, der sich zur Aufgabe macht, Handlungsmaßstäbe zu begründen, an denen man sich orientieren soll, bezogen auf die Arbeit im Gefängnis, liegt zunächst in der Natur der Sache, dass er auf ethische Konflikte vor eigentlichen Handlungsentscheidungen hin konzipiert ist, sodass er als Prävention von falschen/schlechten Entscheidungen fungieren soll. Im Gefängnis haben Seelsorgende allerdings mit Verurteilten zu tun, die bereits ein Gesetz und damit mindestens eine ethische Norm überschritten haben. Sie sind bereits schuldig gesprochen. Dies ist ein Unterschied zu anderen Lebenssituationen, in denen Entscheidungskonflikte tatsächlich ex-ante entstehen, beispielsweise wenn es um Trennung, Abtreibung oder Sterbehilfe u.v.m. geht. Die Straftat betreffend funktioniert eine so verstandene Ethik nur ex-post, und zwar als ethische Reflexion über die getane Straftat und darüber, dass und warum sie richtig/falsch bzw. gut/schlecht gedeutet wird. Nun könnte man sagen, dass Ethik hinsichtlich des Ziels der Resozialisierung auch im Gefängnis präventiv zum Tragen kommt. Allerdings spielen ethische Fragen für Straftäter:innen oft keine Rolle. Inhaftierte, die (un)längst in einer Gerichtsverhandlung für schuldig gesprochen und verurteilt wurden, nehmen zwar oft die damit verbundene Scham und den Verlust an Selbstachtung wahr, nicht jedoch ihre ethischen und strafrechtlichen Verhaltensdefizite, wie der Gefängnisseelsorger Gerhard Ding berichtet: „Immer wieder habe ich den Eindruck, dass ethische Fragestellungen gegenüber den strafrechtlichen Überlegungen nachgeordnet sind. Es wird vor allem danach gefragt, was strafbar ist, nicht was ethisch ‚richtig oder falsch‘ sein kann. Gängig ist die Grundhaltung: Es kann doch jeder machen, was er will, solange er nicht ‚erwischt‘ wird. Eine ethische Ratlosigkeit: ‚Was soll ich nur tun? Was ist denn richtig, was falsch?‘ verbindet sich mit der Schwierigkeit, ethische Entscheidungen zu begründen.“200

Aber auch Gefangene haben ihre Moralen. Sie denken auch in den Mustern „gut“ und „böse“: „Ich bin doch kein böser Mensch, kein Verbrecher, Verbrecher, das sind die anderen, die Vergewaltiger, die Missbraucher, vielleicht die Mörder. Ich bin nur ein kleiner Junkie.“201

200 Ding, Rendezvous, 25f. 201 Ding, Rendezvous, 25f.

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Nicht allen Straftäter:innen kann also grundsätzlich das Vorhandensein moralischen Empfindens abgesprochen werden. Sie unterscheiden durchaus „gut“ und „böse“. Aber die Perspektive ist eine andere. Ihre eigene Tat scheint aus ihrer Perspektive individuell begründbar zu sein. Sie sehen ihre Tat in ihrem persönlichen Kontext. Damit wird sie zumindest nicht als moralisch falsch bewertet oder anders: nicht als „böse“, auch wenn Mitgefangene durchaus als „böse“ gesehen werden und davon auszugehen ist, dass auch sie selbst durch andere als „böse“ wahrgenommen werden. Sie sehen ihre eigene Tat rückblickend in ihrem persönlichen Kontext, sodass sie sie als eine logische Konsequenz ihrer Situation oder Person begründen können. Es stellt sich die Frage, ob Straftäter:innen „moralisch richtig“ gehandelt hätten, hätten sie sich an anderen ethischen Urteilen orientiert. Damit geht die Frage einher, ob für Handlungen tatsächlich ethische Urteile konstitutiv sind. Moralische Urteile bzw. moralische Wertungen sind solche der Form „X ist richtig/falsch, gut/schlecht‘“202 .203 Moralische Urteile gelten als solche, wenn sie rational, d. h. durch Regeln, allgemeine Kriterien und Prinzipien, gerechtfertigt werden können. „Rationale Begründung“ meint in diesen Fällen eine Begründung durch Argumente, d. h. Gründe, die das Urteil als richtig bzw. wahr beweisen oder wahrscheinlich machen. Mit Johannes Fischer ist dieser Ansatz zu hinterfragen. Er erklärt, dass jemand „das, was er tut, nicht deshalb tut, weil es moralisch gut ist […], sondern vielmehr deshalb, weil es dem Nächsten zugute kommt.“204 Wenn wir uns moralisch orientieren, dann orientieren wir uns nicht an moralischen Urteilen, sondern an der Situation, die uns Grund für ein bestimmtes Handeln gibt.205 Man stelle sich vor, ein Mann kommt zu einem brennenden Haus, in dem sich einige Menschen, u. a. seine Frau befinden. Er kann nur eine Person retten. Er rettet seine Frau. Auf die Frage, warum er gerade sie gerettet hat, antwortet er: „Weil ich sie liebe“. Als Antwort auf die gestellte Frage ist diese Antwort schlüssig. Als Grund ex-ante für die Rettung hingegen weniger. Denn dann müsste er sich vor der Rettung Gründe überlegt haben, weshalb er genau seine Frau retten sollte. Er hätte dann aus der Norm heraus gehandelt, die Frau zu retten, die er liebt. Paradoxerweise hätte er dann aber aus einem Prinzip heraus gehandelt und gerade nicht aus Liebe.206 Wenn jemand so antwortet, müsste man annehmen, dass es dem Menschen um das Prinzip und

202 Fischer, J., Verstehen, 26. 203 Diese Ethiktheorien stellten die Frage „Was soll ich tun?“ in den Mittelpunkt, die zur Zeit der Aufklärung durchaus revolutionär gewesen ist. Sie brachte die Emanzipation des Individuums zum Ausdruck, das sich von den traditionellen Autoritäten loslösen wollte. In den westlichen Demokratien ist dies aber nicht mehr das hauptsächliche Problem, vgl. Fellmann, Die Angst, 28. 204 Vgl. Fischer, J., Ethische, 208. 205 Vgl. Fischer, J., Verstehen, 13. 206 Vgl. Fischer, J., Grundkurs, 381.

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nicht um die Frau gegangen wäre, man würde denken, dass das Gegenüber gar nicht merken würde, „um was es eigentlich geht“207 . „Erachten wir nicht einen solchen Menschen als moralisch rigide, wenn nicht gar als psychisch gestört, weil ihm offensichtlich der Sinn dafür abgeht, worauf es in einer solchen Situation ankommt und er somit das Wesentliche mit dem Unwesentlichen verwechselt“208 ? Liebe wird in ethischen Theorien als Wert hochgeschätzt. In solchen Theorien wird jedoch übersehen, dass man Liebe nicht erreicht, wenn sie zum Handlungsziel wird. Liebe muss ihren Grund im Dasein des:der anderen haben – nicht in ihr selbst. Es ist nicht möglich zu lieben, um zu lieben, denn wenn man liebt, dann liebt man den Menschen, den man vor sich hat, und nicht die Liebe.209 Zur Liebe muss man befähigt und befreit sein. Natürlich können die Güter in einer erfolgreichen Liebesbeziehung erreicht werden, die von ethischen Theorien als hohe Werte angesehen werden. Man erreicht sie nur nicht, indem man den Theorien gemäß lebt.210 Moralische Handlungen erfolgen also nicht hauptsächlich aus moralischen Wertungen, der Mensch handelt nicht gut, um gut zu handeln, sondern der Mensch handelt um dessen willen, um den es geht.211 Fischer stellt damit die vorherrschende Ethikdefinition als Theorie menschlichen Handelns in Frage, insofern er sich gegen die Ansicht stellt, die Ethik habe die Aufgabe, gute Gründe für entsprechendes Handeln zu geben und so zu verantwortlichem Handeln zu führen.212 Dagegen wendet Fischer ein, Handlungen hätten nur in der Kommunikation über sie Gründe und nur in ihrer Kommunikation über sie trete das Subjekt ins Blickfeld. In der Antwort auf die Frage, „warum“ es so oder so gehandelt habe, seien ex post Gründe und Motive nennbar, die es ex-ante so gar nicht gegeben habe. Handlungen vollzögen sich viel mehr spontan.213 Grund für sein Handeln gibt also die betreffende Situation und ist durch Verständigung mit dem Handelnden nennbar. Die Beziehung zwischen Grund und Handlung liegt damit im Verstehen, und zwar in der Frage-Antwort-Struktur.214 Dadurch unterscheiden sich Gründe von Motiven.215 Während Motive und Ursachen Handlungen erklären, lassen sich demgegenüber Gründe verstehen.

207 208 209 210 211 212

Roth, M., Nichts als Illusion, 82. Fischer, J., Verstehen, 13. Vgl. Fischer, J., Grundkurs, 381. Vgl. Roth, M., Moralapostel, 98. Vgl. Fischer, J., Verstehen, 27. Vgl. Fischer, J., ethische Dimension, 215. Eine solche Ansicht vertritt Körtner, Moral, 233. Mit diesem Aufsatz veröffentlicht Körtner seine überarbeitete Fassung von „Seelsorge und Ethik“. 213 Vgl. Fischer, J., ethische Dimension, 216. 214 Vgl. Fischer, J., ethische Dimension, 216. 215 Vgl. Fischer, J., Theologische Ethik, 110.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

Ein solches „Verstehen“ stellt sich hier anders dar als das Verstehen, welches sich unter psychologischer Perspektive bei Stubbe herausstellte und als wirkliche „Identifikation mit…“ gedeutet wurde. Das Verstehen von Handlungsgründen, die sich in der Kommunikation über sie herausstellen, vollzieht sich in einer Erschließung des Kontextes, nämlich des Handlungskontextes bzw. der Situation, in der sich die Handlung ereignet hat. Mit Fischer lässt sich dann sagen, dass nicht moralische Urteile im Mittelpunkt der Moral stehen, sondern Gründe für moralisches Handeln, in Form von Situationen, in denen sich Menschen befinden. Es ist nicht möglich und sinnvoll durch argumentative Begründungen prüfen zu wollen, ob eine Handlung aus einer bestimmten Situation so geboten war oder nicht. Vielmehr ist es die Situation selbst, die Grund dazu gibt, so oder so zu handeln. Es gilt also, Situationen richtig zu erfassen und aus ihnen heraus richtig zu handeln.216 Diese Perspektive lässt sich mit einem Verständnis verbinden, das die Seelsorgeperson in ethischem Kontext als eine konstatiert, die das Gegenüber nicht als „makelhaften Gefangenen“217 sieht und sich selbst als „ethisch handlungsfähige[s] Subjekt“218 , sondern die in einer konkreten Seelsorgesituation wechselseitig aushandelt, „was der Situation, der Person, den Regeln des Weltlaufs und der Bestimmung des Menschen entspricht.“219 Damit konkretisiert sich das, was zu tun ist, als solches erst in den Situationen selbst – der:die Seelsorger:in fungiert nicht als Lehrer:in eines Normenkatalogs, der dem Gegenüber angeeignet werden müsste. Die Seelsorge steht der Problematik entgegen, die sich ergibt, „wenn die Ethik aus der lebensweltlichen Orientierung nicht organisch herauswächst, sondern wenn ethische Reflexion meint, unser Leben und Handeln von anderswoher begründen zu müssen. Damit kommt es aber zu Spannungen zwischen unseren lebensweltlichen Orientierungen und der ethischen Reflexion, die ethische Reflexion nimmt nicht mehr Teil an den lebensweltlichen Orientierungen, sondern stellt sich bewusst außerhalb dieser.“220

Fischer lenkt mit seinen Herleitungen und Beispielen den Blick auf die Frage nach moralisch „gutem“/„richtigem“ Handeln. Im Gefängnis haben Seelsorgende jedoch mit Straftäter:innen zu tun und damit mit Personen und Handlungen, die von der Außenwelt als „böse“ bewertet werden. Wendet man nun Fischers Reflexionen

216 217 218 219 220

Vgl. Fischer, J., Verstehen, 13, 27. Günther, Seelsorge, 327. Günther, Seelsorge, 327. Günther, Seelsorge, 327. Roth, M., Moralapostel, 25.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

menschlichen Handelns statt auf „gutes“ auf „böses“ Handeln an, müsste eine solche Reflexion so lauten: Wenn sich jemand an der Situation orientiert und aus ihr heraus ein Verbrechen begeht, hat er nicht „böse“ gehandelt, um „böse“ zu handeln, sondern weil es aus seiner Perspektive die Situation so geboten hat. Hier spiegelt sich die Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung der entsprechenden Situation wider, wie sie im Erfahrungsbericht Gerhard Dings beschrieben wurde: „Ich bin doch kein böser Mensch, kein Verbrecher, Verbrecher, das sind die anderen“ (s.o.). Denn für den Täter oder die Täterin war es die Situation, die Grund zu entsprechendem Handeln gegeben hat, das sich im Nachhinein und aus anderen Perspektiven heraus als „böse“ bewerten lässt. Wenn nun also eine rationale Begründung von Moral nicht vor „bösen“ Taten schützt, weil eine solche nicht Motiv einer Handlung bildet, dann stellt sich die Frage, auf welche Weise sich Situationen erfassen lassen, sodass sie Handlungsgründe darstellen. Wenn es zuerst die praktische Vernunft wäre, die die Situationen richtig erfassen soll, werden Fragen gestellt wie „,Was ist falsch an Folter, Mord, Sklaverei, Diskriminierung der Frau?‘“221 Auf das Äußerste getrieben müsste man Laien oder sogar den mit Mord, Vergewaltigung, und/oder Diskriminierung Konfrontierten selbst absprechen zu wissen, dass all dies moralisches Übel ist. Wenn wir nun aber mit einem Opfer einer Vergewaltigung sprächen, würde sich uns dann nicht dessen Leid erschließen? Braucht es dazu erst eine:n Ethiker:in, der:die uns durch rein rationale Argumente darstellt, was an einer Vergewaltigung moralisches Übel ist? Ist es tatsächlich die praktische Vernunft, die zunächst gebildet werden muss, um dann an einer Situation erkennen zu können, was Leid und was Freud ist?222 Es lässt sich allerdings einfach feststellen, dass solche Fragen tatsächlich gestellt worden sein müssen, nämlich: „Was ist falsch an Gewalt gegen Kinder als Erziehungsmethode?“. Aus der Frage erfolgten Normen und schließlich Gesetze, die schließlich zu einer kollektiven Änderung solcher Kulturen führten.223 Allerdings muss dem ein Umdenken vorausgegangen sein, und es ist unwahrscheinlich, dass dies auf rein rationaler Ebene geschehen ist, wie sich im Folgenden zeigen wird. Dass Gefühle auch irrtumsanfällig sein können, dem widerspricht Fischer nicht. Aber wir wissen dies „gerade aufgrund der lebensweltlichen Erfahrung und nicht aufgrund von Rationalitätsstandards.“224 In diesem Zusammenhang nennt Fischer selbst die Kindererziehung als Beispiel. Eltern wüssten, dass sie ihr Kind am Vortag

221 222 223 224

Rippe, Ethikkommissionen, 363. Vgl. Fischer, J., Verstehen, 36. Vgl. zu Normgenese Abschnitt 3.1.1. Vgl. Fischer, J., Verstehen, 37; an dieser Stelle sei auf Amman, Emotionen verwiesen, der aus ethischer Perspektive Emotionen als gehaltvolle Wahrnehmung der Realität herausstellt, durch die sich die moralische Bedeutung von Situationen erfassen lässt.

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falsch behandelt haben, wenn sie im Rückblick auf die entsprechende Situation zur Einsicht gelängen. Die Konsequenz daraus könne aber nicht sein, zukünftig der Wahrnehmung von Situationen und Handlungen zu misstrauen und sich seinem Kind gegenüber emotionslos und nur noch an Regeln und Prinzipien orientierend zu verhalten.225 Fischer betont, dass Emotionen nicht mit solchen Gefühlen verwechselt werden dürfen, die keinen verstandesmäßigen Gehalt haben. Eine für die Moral bedeutungsvolle, Orientierung gebende Emotion ist eine, die sowohl einen Gefühls-, als auch einen Verstandes- bzw. Vernunftanteil hat.226 Beides ist nicht voneinander trennbar. Fischer definiert damit „moralische Emotionen“227 . Moralische Emotionen führten zu solchen Erkenntnissen und Urteilen, die als moralisch zu betrachten seien.228 So sei Angst keine moralische Emotion. Denn über sie vermittele sich keine moralische Erkenntnis. Wenn Menschen z. B. eine lebenslange Haftstrafe für bestimmte Straftäter befürworten, und zwar aus Angst vor Kriminalität, dann sei das keine moralische Einsicht. Denn Angst setze hier das moralische Urteilsvermögen außer Kraft, da außer Acht gelassen werde, was eine lebenslange Haftstrafe für einen Menschen bedeute und ob es eine moralische Pflicht gegenüber so einem Menschen gäbe.229 Zum anderen würden moralische Emotionen implizieren, dass sie basal seien. Sekundäre Emotionen, wie z. B. Scham und Empörung hätten ebenfalls keinen moralischen Gehalt.230 Während „Mitgefühl“ das Leid des Opfers und damit die Falschheit einer Handlung erkennen ließe, setze Empörung die moralische Bewertung dieser Handlung schon voraus. Man könne erst empört sein, wenn man bereits erkannt habe, dass jemand etwas moralisch Schlechtes tut bzw. getan hat. Die Erkenntnis einer schlechten Tat könne nicht erst aus dem Gefühl der Empörung resultieren, sondern sei Voraussetzung dieses Gefühls. Genauso verhalte es sich mit der Scham.231 Genau hier bewährt sich Fischers Theorie in der Gefängnisseelsorge, wenn Straftäter:innen nicht danach fragen, was „richtig“ oder „falsch“ ist, sondern danach, wofür sie bestraft werden können oder was ihnen Vorteile verschafft. Es deutet sich an, dass an dieser Stelle moralische Gefühle fehlen, wenn es um gegenwärtige „scheinbar“ moralische Entscheidungen geht: „Verrate ich meinen Mitgefangenen – und werde ggf. von ihm bestraft, oder verrate ich ihn nicht, und verzichte auf

225 226 227 228 229 230 231

Vgl. Fischer, J., Verstehen, 37. Vgl. Fischer, J., Grundlagen, 35; vgl. Fischer, J., Angst, 94. Fischer, J., Verstehen, 51. Vgl. Fischer, J., Angst, 95. Vgl. Fischer, J., Angst, 96. Vgl. Fischer, J., Angst, 99. Vgl. Fischer, J., Angst, 100.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

meinen Vorteil?“ (s.o.). Ein Aufoktroyieren moralischer Urteile bzw. eine ausgesprochene Verurteilung innerhalb der Seelsorge würde dann höchstens Schuldgefühle, Angst, Scham fördern und damit keineswegs moralisch richtigem Handeln oder der Förderung moralischer Emotionen dienen. Durch moralische Emotionen, die einen Gefühls- und einen Verstandesanteil beinhalten, werden also jene Gründe in einer Situation erkannt, die uns zu moralischem Handeln veranlassen. Entgegen der Regelethik sieht Fischer in ihnen ein grundlegendes Moment für moralisches Verhalten. Ihm zufolge träten Emotionen zu einer Handlung hinzu. Dies nennt er „emotionales Verhalten“. Der Unterschied zwischen Handlung und Verhalten äußere sich in den Folgen. In emotionalem Verhalten trete das atmosphärisch nach außen, was es als Verhalten charakterisiert: Fürsorge, Mitgefühl oder Wohlwollen.232 Fischer trennt Verhalten und Handeln aber nicht strikt voneinander insofern, als dass man einerseits handeln und sich andererseits auch noch verhalten würde. Vielmehr würden wir uns verhalten, könnten dies aber durch Verständigung als Handeln konzeptionieren.233 Bei der Verständigung über das Handeln bliebe das Verhalten außen vor. Der Blick sei dann ganz auf das Handeln, den Bereich des Deontischen, gerichtet.234 Verhalten beinhalte Handlungen und das, was sie in Gestalt von Gründen, Motiven und Ursachen erklärten, würden ineinander verschmelzen und nicht voneinander separiert.235 Für das Verhalten sind Emotionen also von hoher Bedeutung, aber nicht insofern sie Grund oder Motiv einer Handlung seien, sondern schon in dem Verhalten manifestiert wären. „Liebe ist […] dieses Verhalten“236 , sie sei „in einer Geste der Zärtlichkeit [zu] sehen, Zorn kann als Brüllen, Schleudern von Gegenständen einen Raum füllen“237 . Es zeige sich in Mimik, Gestik und Körperhaltung und über seine atmosphärische Gestalt baue sich zwischenmenschliches Vertrauen auf, auf das Menschen in ihrem Verhalten zueinander angewiesen seien.238 Man würde Fischer falsch verstehen, würfe man ihm ein Moralverständnis vor, nach dem moralisches Verständnis und Verhalten ausschließlich von (moralischen) Emotionen gesteuert würde.239 Es werde vielmehr von vernünftigen, rationalen Überlegungen beeinflusst oder korrigiert.240 Wie wir etwas moralisch bewerteten,

232 233 234 235 236 237 238 239 240

Vgl. Fischer, J., Verstehen, 118. Vgl. Fischer, J., Theologische, 137. Vgl. Fischer, J., Theologische, 137. Vgl. Fischer, J., Theologische, 392. Fischer, J., Verstehen, 118. Fischer, J., Theologische, 122. Vgl. Fischer, J., Dimension, 393. Vgl. Fischer, J., Grundlagen, 36f. Vgl. Fischer, J., Grundlagen, 36–38.

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hänge davon ab, wie wir etwas wahrnähmen.241 Wichtig sei es, herauszufinden, ob eine Situation, aus der man handelt, tatsächlich so sei, wie sie wahrgenommen werde.242 Wahrnehmung „hat die Struktur ‚X nimmt Y als F (z. B. als leidend) wahr‘“243 . Das führt zu einer moralischen Reaktion, bei der moralische Emotionen eine Rolle spielen, die nicht bloße Empfindungen, sondern affektiv gehaltvolle Wahrnehmungen seien.244 Fischer unterscheidet Wahrnehmung dadurch von Überzeugungen mit der Struktur „‚X ist überzeugt, dass p (z. B. dass Y leidet)‘.“245 Der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Überzeugung bestehe also in dem affektiven Gehalt der Wahrnehmung. Denn überzeugt davon sein, dass jemand leidet, könne auch jemand, dem das Leid des anderen gleichgültig sei.246 Fischer veranschaulicht dies durch ein Beispiel: Er beschreibt ein neurobiologisches Experiment, bei dem die Versuchspersonen Bilder mit moralisch abscheulichen Szenen sahen. Dabei wurde gemessen, welche Gehirnregionen während der Betrachtung der Bilder aktiviert waren. Die Personen reagierten nicht auf das, was auf den Bildern rein optisch zu sehen war, sondern auf das, was sie in der Abbildung wahrgenommen haben. Sie nahmen also etwas als etwas wahr. Ein Mensch, der nicht zu moralischer Wahrnehmung fähig sei, würde die Bilder zwar auch sehen, würde sie aber nicht als moralisch verwerflich wahrnehmen.247 Nun sei zu bedenken, dass wir Situationen oder Bilder als moralisch verwerflich wahrnehmen könnten, auch wenn wir genau diese Situation selbst noch nicht erlebt hätten. Wie können wir uns moralisch orientieren, obwohl wir mit unendlich vielen Situationen konfrontiert werden können, in der keine der anderen gleicht?248 Fischer begreift die Lösung des Problems in der Struktur der Wahrnehmung, die uns in Situationen bestimmte Muster oder Typen von Situationen, wie z. B. „Angewiesen sein auf Hilfe in einer Notlage“, sehen ließen. In entsprechenden Situationen würden wir Muster aufgrund ihrer Ähnlichkeit wiedererkennen. Dadurch konzentriere sich die Wahrnehmung auf das moralisch Wesentliche.249 Fischer rückwärts gelesen, erschließt sich für Gefängnisseelsorgesituationen Folgendes: Fischer versucht sich der Wahrnehmung von Situationen systematisch

241 Vgl. Fischer, J., Grundlagen, 37. Von da aus ist Fischers ethische Position einer deskriptivhermeneutischen Ethik zuzuordnen. In ihr geht es nicht um die Durchsetzung normativer Lösungsansätze, sondern um die Analyse vorhandener Überzeigungen, vgl. Fischer, Bioethik, 80. 242 Vgl. Fischer, J., Grundlagen, 38. 243 Fischer, J., Grundlagen, 23. 244 Vgl. Fischer, J., Grundkurs, 205. 245 Fischer, J., Grundlagen, 23. 246 Vgl. Fischer, J., Grundlagen, 23. 247 Vgl. Fischer, J., Grundlagen, 37; vgl. ders., Verstehen, 51. 248 Vgl. Fischer, J., Grundlagen, 37; vgl. ders., Verstehen, 51. 249 Vgl. Fischer, J., Grundlagen, 37; vgl. ders., Verstehen, 51f.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

anzunähern. Dabei wird deutlich, dass die Systematisierung von Situationen in Handlungen, durchführende Person der Handlung und Handlungsgründe nur in der Kommunikation so deutlich strukturiert ist und so zu einem besseren Verständnis der Komplexität von Taten in Situationen führt. In der Realität jedoch, fallen all jene in der Wahrnehmung zusammen. Was Ethiker:innen in der Bewusstwerdung dessen, also in der bewussten Strukturierung machen, ist entsprechend eine hermeneutische Annäherung. Für Gefängnisseelsorge bedeutet dies konkret, dass sie sich ein Verstehen der Situation, und zwar in der Kommunikation über sie, zum Ziel machen kann. Und zwar retrospektiv, wenn es um die Reflexion der Straftat geht, aber auch, wenn es um aktuelle ethische Fragen geht. Das Verstehen der sozialen, geschichtlichen und emotionalen Situation des Gegenübers, in und aus der heraus die Straftat vollzogen wurde, bettet sie in einen Handlungskontext ein. Durch ihn lässt sich dem:der Gefängnisseelsorger:in die Perspektive des Gegenübers erschließen, was in der Tat zu einem Verstehen führt, das aber nicht mit einer „Identifikation“ zusammenfällt. Vielmehr nähert sich der:die Seelsorger:in der Wahrnehmung der Situation aus Sicht des Gegenübers an. Darin bleibt „Polyvalente Normativität“ stehen, ohne dass sich für eine Seite entschieden wird. Verstehen wird hier vielmehr zu einer seelsorglichen Hermeneutik, die seelsorgliche Kommunikation offenhält. „Polyvalente Normativität“ wird dadurch nicht aufgehoben. Darin unterscheidet sich hermeneutisches Arbeiten von einem psychologischen scheinbaren Verstehen als Identifikation. Scheinbar, weil sie nicht alles überwindet. Es wird immer noch etwas als „böse“ wahrgenommen. Obwohl das pastoralpsychologische Verstehen der Geschichte hinter der Tat darauf abzielt, den Menschen ganzheitlich wahrzunehmen und ihm entsprechend zu begegnen, zeigen sich besonders bei Gefängnisseelsorgenden selbst Ambivalenzen und Fragen: „Wie reagiere ich seelsorgerlich auf ethisches Fehlverhalten? […] Ist die Unterscheidung von Tat und Täter nicht doch nur ‚theoretisch‘? Der wegen Mordes verurteilte ist halt doch der Mörder? […] Wie verhalte ich mich gegenüber einer Normübertretung seelsorgerlich?“250

Die tatsächliche Identifikation mit dem:der Straftäter:in – also ein Verstehen –, wie Stubbe sie etablieren wollte, gelingt genau an dem Punkt nicht, an dem „Polyvalente Normativität“ auftaucht. Nach dem Vorangegangenen muss der Grund dafür ebenfalls in den moralischen Emotionen liegen. Die einen sind fähig; in entsprechenden Situationen Mitgefühl aufzubringen, andere nicht. Auch Fischer erkennt diese Problematik. Die

250 Ding, Rendezvous.

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für moralische Orientierung entscheidenden emotionalen Verhaltenseinstellungen, durch die eine Situation wahrgenommen, gedeutet und auf sie bezogen werde und diese Handlungen, Urteile und Verhalten bestimme, könne nicht durch menschliches Eigenvermögen erlangt werden.251 Er stellt fest, dass Menschen von basalen Emotionen abhängig sind. Dies interpretiert er als „Unfreiheit des menschlichen Willens“252 . Denn das, was sich Menschen letztendlich schulden, sind nicht bloße Handlungen, sondern emotional bestimmtes Verhalten. Die Erkenntnis, dass ein Kind Liebe braucht, erschließt sich nicht daraus, dass Liebe ihm nutzt, sondern offenbart sich in der Vorstellung, was es für das Kind bedeuten würde, würde es nicht geliebt. Liebe kann nicht selbst bewirkt werden. Man kann „zwar so handeln, wie es dem Verhalten der Liebe entspricht, aber [man] würde nicht aus Liebe handeln und bliebe somit das Verhalten der Liebe schuldig.“253 „Der atmosphärischen Ausstrahlung […] kommt fundamentale Bedeutung für den menschlichen Lebensvollzug und das menschliche Zusammenleben zu“254 , sie sind aber „hinsichtlich dieser Dimension ihres Lebensvollzugs abhängig.“255 3.2.3

Zwischenfazit

Insgesamt zeichnete sich für die Gefängnisseelsorge ab, dass sie im Umgang mit „dem Bösen“ ihrem Gegenüber nicht moralisierend, d. h. verurteilend gegenübertreten, indem dem Gegenüber die vorhandenen Differenzen so kommuniziert werden, dass das Gegenüber als „schlechteres“ im Vergleich zu einem selbst oder zu allen anderen bewertet wird, und doch ein Verantwortungsbewusstsein generieren will. Dieses Spannungsverhältnis, das sich auch aus dem Seelsorge-Ethik-Diskurs abzeichnet, ist nahezu exemplarisch für die menschliche Erfahrung, einerseits zwischen „gut“ und „böse“ zu unterscheiden, beides aber andererseits nie konfliktfrei und objektiv fassbar machen zu können. Menschen gehören zwar bis zu einem gewissen Grad einem sozial und individuell bedingten Moralsystem an, das größtenteils einen gesellschaftlichen Konsens findet, es bleibt aber bei diesem „größtenteils“. Ethik wird dadurch nicht überflüssig und es wäre verkehrt, eine Moral der Moral zu indoktrinieren. Es bleibt wichtig, über Wahrnehmungen und Deutungen „des Bösen“ und „des Guten“, „des Richtigen“ und „des Falschen“ zu diskutieren. Die Postulierung einer Amoral, die Werte auflösen und wertfrei sein wollte, wäre genau in dem Moment nicht mehr wertfrei, in dem sie Wertefreiheit zum höchsten Wert deklarieren würde. Damit würden eine Moralkritik und eine 251 252 253 254 255

Fischer, J., Verstehen, 125, 153. Fischer, J., Verstehen, 129. Fischer, J., Verstehen, 130. Fischer, J., Verstehen, 153. Fischer, J., Verstehen, 153.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

kritische Ethik in ihre eigene Falle tappen. Jede Perspektive auf „das Böse“ hat seine Berechtigung und doch gibt es die Bewertungen „böse“ und „gut“, „richtig“ und „falsch“. Es ist wichtig, darüber zu reden und zu diskutieren, was und warum etwas als „gut“ oder „böse“ geltend gemacht wird. Was das Gegenüber selbst als „gut“ und „böse“ versteht und ob und in welchem Zusammenhang dies mit der jeweiligen Straftat steht. Seelsorge tut dies – zumindest in ihrer Praxis – jedoch nicht in einem ethischen Sinne, wenn das bedeutet, dass Ethik als Reflexion „richtigen“ und „falschen“ Handelns handlungsleitende Normen und Werte begründet, die dem Inhaftierten vorgehalten und aufoktroyiert werden. Es wurde dagegen analysiert, dass Seelsorgende in der Praxis der Situation entsprechend handeln und sich situativ und flexibel erschließen, was gerade der Person, der Situation und dem Kontext entsprechend zuträglich ist. Gefängnisseelsorge profitiert nur von einer Ethik, die in einer konkreten Situation kommunikativ aushandelt, was der Situation, der Person und der Allgemeinheit guttut und entspricht. Daraus folgt, dass sie die Kontexte der Straftat wahrnehmen und sich ihnen annähern muss. Seelsorgende müssen geradezu einen Perspektivwechsel vollziehen und versuchen, die Dinge aus Sicht der Straftäter:innen zu betrachten, ohne jedoch darüber ihre eigenen Wahrnehmungen und Bewertungen für ungültig zu erklären, indem sie unter die andere Perspektive subsumiert werden. Ein solches Ethikverständnis zielt auf Wahrnehmungsfähigkeit von Kontexten und von den Menschen in ihnen ab, sodass Ethik an lebensweltlichen Orientierungen teilhat und nicht außerhalb dieser steht. Ein solches Ethikverständnis macht Ethik keineswegs überflüssig, sondern umso relevanter: Es ist wichtig, sich ein eigenes Bild dessen zu machen und zu hinterfragen, warum etwas im Kollektiv als „richtig“ oder „falsch“ gilt. Wäre dem nicht so, würde man „dem Bösen“ in die Hände spielen. Zwischen „gut“ und „böse“ wird also unterschieden, und es wurde deutlich, dass man nicht bis zur letzten Konsequenz erkennen kann, was wahrhaftig „böse“ und was wahrhaftig „gut“ ist und war. Entscheidungen sind fehlbar. Wir können nicht bis zuletzt rationalisieren und moralisieren und so versuchen, „das Böse“ zu überwinden. Darüber hinaus können auch solch moralische Einsichten nicht aufoktroyiert werden, die einen überwiegend gesellschaftlichen Konsens finden. Denn die Befähigung wirklichen Mitgefühls, wirklicher Liebe und dessen, was Fischer unter emotionalem Verhalten aufführt, liegt in letzter Konsequenz außerhalb unserer Macht. Was aber bleibt dann noch? An dieser Stelle gelangen wir zu dem, was die Theologie in der Auseinandersetzung mit „dem Bösen“ beitragen kann.

3.3

„Das Böse“ in theologischer Deutung

Seit je sind das Verhältnis zwischen „gut“ und „böse“ und der Umgang damit in ihren Chiffren Schuld, Sünde und Vergebung zentrale Themen der Theologie.

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Theologie hat biblische Erzählungen zur Grundlage, in denen sich die Beschäftigung mit „dem Bösen“ als existenzielle Frage und Erfahrung herausstellt (0). In der theologischen Reflexion des Glaubens und in seiner Lebensdeutung – gerade angesichts „des Bösen“ – spielen Sünde und Vergebung eine zentrale Rolle. Sie wurden in der Geschichte der Kirche zum „Brennpunkt poimenischer Reflexion und Praxis“256 , schienen „in der evangelischen Predigt […] lange Zeit so unvermeidlich zu sein wie das sprichwörtliche ‚Amen in der Kirche‘“257 und werden heute als „zentrale Themen der Seelsorge insgesamt verstanden“258 . Schuld und Vergebung sind generelle Themen der Seelsorge, bleiben menschliche Existenziale259 und konkretisieren sich gerade in der Gefängnisseelsorge in besonderer Weise. Dort werden Theorie und Theologie in ihrem Verständnis von und im Umgang mit Schuld und Vergebung auf die Probe gestellt. Welche Bedeutung haben Sünde und Vergebung (0) in der Gefängnisseelsorge? Und was tragen sie zum Umgang mit „Polyvalenter Normativität“ bei? 3.3.1

Hinweise auf „das Böse“ in der Urgeschichte in Gen 3–4

Auf die Frage, „woher kommt das Böse?“, vermag die Theologie nicht eine solche Antwort zu geben, wie sie in empirischen Wissenschaften angestrebt wird. In solchen werden Mechanismen erfasst und untersucht, um die Ursachen von Kriminalität zu verstehen, mit dem Ziel, Straftaten zukünftig verhindern zu können. Die Theologie stellt hingegen keine Prognosen auf, unter denen die Prävention „bösen“ Handelns gewährleistet werden könnte. Aus ihren Grundlagen heraus – den Heiligen Schriften – können keine Erklärungen nach Ursächlichkeiten erfolgen. Theologie befindet sich diesbezüglich also auf einer anderen Ebene als empirische Wissenschaften, nämlich nicht auf derjenigen von Erklärungen, sondern auf derjenigen von Erzählungen. Sie versucht, sich dem Phänomen „des Bösen“ hermeneutisch anzunähern.260 Aus Erzählungen lassen sich Perspektiven

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Eschmann, Sünde, 139. Meyer-Blanck, Heilsame, 95. Klessmann, Seelsorge, 235. Ziemer, Seelsorgelehre, 282f sieht dies insbesondere in der Literatur widergespiegelt, in der Schuld etwas sei, „das unbedingt zur Existenz des Menschen dazugehört. Sie bezeichnet seine Realität und sein Verhängnis“. Winkler, Seelsorge, 351 beschreibt Schuld als „ein konstitutives Element menschlichen Daseins […]. Wer keine Schuld empfinden kann, gilt als ‚Unmensch‘.“ 260 Eine hermeneutische Sicht auf die Paradieserzählung zeigt sich beispielsweise bei dem Systematischen Theologen Dietrich Korsch. Er macht sie für seinen Kontext der Systematischen Theologie fruchtbar, indem er sagt, dass solche Erzählungen „nicht als Protokolle ursprünglichen Werdens zu verstehen sind, sondern als religiös geleitete Rückblicke auf den Anfang einer als gegenwärtig erlebten Wirklichkeit. Es liegt daher schon von den Entstehungsbedingungen des Textes her auf der Hand, daß die Paradieserzählung Gen 2f nicht den Beginn der Geschichte des Menschenge-

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„des Bösen“ eruieren, in denen der Mensch ähnlich ambivalent und in seiner Begrenztheit wahrgenommen wird. Sie sind hinweisgebend auf ihren historischen Entstehungs-Kontext, in dem Personen ebenfalls nicht einfach jemanden als „böse“ stigmatisierten. Besonders im Alten Testament lassen sich solche Erzählungen finden, die weit entfernt sind von einem stark dualistischen Weltbild. Es zeigt sich eine alttestamentliche Anthropologie, die davon ausgeht, dass der Mensch nicht nur „gut“ oder nur „böse“ ist. Die Rezipienten werden geradezu mit der Nase darauf gestoßen, Tat und Person zu trennen. Dies zeigt sich beispielsweise im Buch des Psalters: In Ps 8 wird eine sehr hohe Anthropologie gezeichnet, in der der Mensch wenig geringer als Elohim gemacht wurde (V. 6) und über die Schöpfung herrscht (V. 7–9). In Ps 144 wird dagegen eine sehr niedrige Anthropologie gezeichnet. Der Mensch gleicht einem Windhauch (V. 4). Innerhalb des Psalters zeugen die Gebete davon, dass der Mensch als ambivalent wahrgenommen wird. Auch die Gestalt Davids in 2. Sam 11–12 zeugt davon, dass es in den alttestamentlichen Texten nicht darum geht, von makellosen Vorbildern zu erzählen. Während der Ammoniterkriege begeht David Ehebruch; Batseba, die Frau eines Kriegers wird von ihm schwanger. Als der Versuch, das Kind dem Mann Batsebas, Urija, unterzuschieben, scheitert, wird dieser ermordet, indem David ihn im Kampf in die erste Reihe stellen lässt und die Anweisung gibt, dass sich alle anderen hinter ihm zurückziehen sollen, sodass er auf jeden Fall getroffen wird (2. Sam 11, 15–17). Anthropologisch wird dies als „böse“ bewertet, wie in V. 27 deutlich wird: „In den Augen des Herrn aber war die Sache böse, die David getan hatte.“ Und doch wird Davids Sohn der Thronfolger (1. Kön 1,11ff). In religiöser und theologischer Perspektive wird im Nachdenken über „das Böse“ in aller Regel der nichtpriesterliche Schöpfungsbericht Gen 3, 1–6, die sogenannte „Sündenfallerzählung“, herangezogen; sie wird zu den bekanntesten und wirkmächtigsten Texten der Weltliteratur gezählt.261 Obwohl sie als Antwort auf die Frage, wie „das Böse“ bzw. „die Sünde“ in die Welt kam, missverstanden werden könnte, eignet sich die sogenannte „Sündenfallerzählung“ inhaltlich gerade nicht als Antwort auf die Frage.262 Das Wort Sünde (‫ )חתא‬kommt in Gen 2–3 überhaupt nicht

schlechts registriert, sondern gewissermaßen die Bedingungen des Menschseins hinsichtlich seiner Grundbestandteile rekonstruiert. Es handelt sich, so gesehen, um eine existentiale Beschreibung, nicht um eine historische Darstellung“ (Korsch, Antwort, 104). 261 Vgl. Gertz, Das erste Buch, 83. Den folgenden Überlegungen vorausgesetzt ist die Annahme, dass es sich bei Gen 2f um einen durchgängigen Erzählzusammenhang handelt, vgl. dazu auch jüngere Argumentationen dafür bei Schmid, Unteilbarkeit, 24. Dagegen steht die Auffassung, die Erzählung blicke auf eine längere Entstehungsgeschichte zurück, vgl. Schmid, Unteilbarkeit, 24, Anm. 25 mit weiteren Literaturverweisen. 262 Vgl. auch Schüle, Der Prolog, 191.

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vor.263 Erst in Gen 4,7, also der Erzählung von Kain und Abel, tritt die Bezeichnung „Sünde“ zum ersten Mal auf. Der parallele Aufbau von Gen 4 zu Gen 3 sowie terminologische Querbezüge lassen darauf schließen, dass in beiden Erzählungen die gemeinsame Frage behandelt wird, wie die Sünde in die Welt gekommen ist. In Gen 3 ist die Bedingung der Möglichkeit der Sünde geschildert – nämlich die Erkenntnis von „gut“ und „böse“ – während sie schließlich in Gen 4 tatsächlich vollzogen wird.264 Die Erzählung von Gen 2–3 bietet „keine Ätiologie des Bösen in der Welt“265 , sondern hat die Erkenntnis von „gut“ (‫ )טוב‬und „böse“ (‫ )רעע‬zum Inhalt. Gen 2,4–3,24 stellt also keine Protologie dar, eignet sich aber dennoch hervorragend als Hinweis auf das Fragen nach „dem Bösen“: Die Erzählung lässt sich der Gattung der Mythen zuordnen. Mythen sind „traditionelle Erzählungen von einem Ursprungsgeschehen, das gegenwärtige Wirklichkeitserfahrung einschließt“266 . Sie sind nicht als Vorstellung einer Historie zu lesen, sondern als „Ausgestaltung der im gesamten alten Vorderen Orient verbreiteten Grundüberzeugung, wonach alles Gegenwärtige sein Wesen am Anfang erhalten hat.“267 Die Paradieserzählung versucht demnach nicht, die Entstehung des Menschen zu erklären, sondern „durch die Erzählung von den Anfängen eine Antwort auf die existenziellen Fragen und Nöte (nicht nur) ihrer Gegenwart zu geben: […] Warum sind wir zum Guten wie zum Schlechten befähigt? Warum erfahren wir uns gleichermaßen als selbstständige und als unselbstständige Person?“268 Im Mythos der Paradieserzählung wurde die als ambivalent empfundene Lebenswirklichkeit von den Vorstellungen einst gewesener paradiesischer Umstände hergeleitet – also von einem „irrealen ‚Vorher‘ in das erlebte ‚Jetzt‘“269 . Solche Erzählungen lassen sich also als Hinweise auf existenzielles Fragen lesen, insofern Individuen und Gesellschaft damals wie heute die Fähigkeit, zwischen „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden, als Fluch und Segen zugleich wahrgenommen haben. Die biblischen Überlieferungen zeugen von der Existentialität menschlichen Fragens nach dem „Warum?“ und „Woher?“ „des Bösen“ und seiner Ambivalenz. Aus Gen 3,1–6 heraus lässt sich die Fähigkeit, zwischen „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden, als conditio humana verstehen. Sie macht deutlich, „dass die Grundkompetenz,

263 Vgl. Gertz, Das erste Buch, 129. 264 Vgl. Gertz, Das erste Buch, 173f; von da aus wird die Eden-Erzählung zu den weisheitlichen Texten gezählt. 265 Gertz, Das erste Buch, 129. 266 Hartenstein, Und sie erkannten, 280. 267 Gertz, Das erste Buch, 90. 268 Gertz, Das erste Buch, 91. 269 Gertz, Das erste Buch, 91.

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zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, den Menschen zum Menschen macht, ihn also humanisiert.“270 Zwischen „gut“ und „böse“ entscheiden zu können, ist demnach dem Menschen existenziell. Könnte er es nicht, wäre er entmenschlicht. Im nichtpriesterlichen Schöpfungsbericht liegt ein Schwerpunkt auf dem Thema der „Erkenntnis von Gut und Böse“271 , also dem Bewusstsein des Menschen darüber, dass er überhaupt zwischen „Gut“ und „Böse“ unterscheiden kann. Hier ist die Voraussetzung, etwas als „böse“ wahrnehmen zu können Gegenstand der Erzählung. Es ist nämlich nicht so, dass die Frau, aber auch die Schlange nicht wussten, was der Inhalt von Erkenntnis überhaupt ist. „Das logische Paradox, das in Gen 2–3 und insbesondere in 3,2–5 beständig mitschwingt, besteht darin, dass man um Erkenntnis nur wissen kann, wenn man sie besitzt.“272 Die Erzählung kann demnach – unter gewissen Prämissen – als Geburtsstunde der Ethik gelesen werden, denn „[b]ei der Erkenntnis von Gut und Böse handelt es sich um ethische Urteilsfähigkeit.“273 Man sollte hier vorsichtig mit dem Ethikbegriff sein, denn auch ein solcher wird in der Erzählung nicht benannt. Allerdings deutet die Erzählung Inhalte an, die auch in heutigem ethischen Denken und Fragen aktuell sind.274 Das erste Menschenpaar möchte hier wissen, wozu die Dinge gut sind, und das heißt, ob sie dem Menschen nützen oder schaden, sie ihnen heilsam oder schädlich sind.275 Aber es geht in Gen 2–3 nicht um die Entstehung einer Ethik im metaphysischen Sinne, also um die Beabsichtigung, Handlungen nach ihrer Sittlichkeit zu beurteilen.276 Eindrücklich schildert Gen 2–3 die Ambivalenz der menschlichen Fähigkeit, zwischen „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden – sie ist Segen und Fluch zugleich. Einerseits ist sie ein Segen: sie schafft Freiheit. Der Mensch gelangt in der Erzählung zu seiner Autonomie; er kann darüber entscheiden und kann bewerten, was ihm als lebensdienlich erscheint und was nicht. Zuvor hatte Gott für den Menschen die Entscheidung darüber getroffen, was der Mensch zum Leben braucht; der Mensch hat es hingenommen (2,18).277 Der Mensch strebt nun aber danach, zu wissen, was gut ist (3,1ff) und erlangt auch die Erkenntnis dessen (1,7ff) durch den Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis (2,17). In diesem Moment löst 270 Saur, Der Blick, 21. 271 Der Ausdruck war in der Forschung höchst umstritten, zur Forschungsgeschichte vgl. Westermann, Genesis, 330ff. Die sexuelle Deutung wurde inzwischen ausgeschieden, vgl. Stoebe, Gut und Böse, 196; vgl. Westermann, Genesis, 331ff. Ebenso die Deutung als Allwissen, vgl. Steck, Paradieserzählung, 34–36 Anm.43. 272 Schüle, Prolog, 175. 273 Kessler, Der Weg, 106; vgl. ebd., 104–115; Wellhausen, Prolegomena, 301f. 274 Vgl. 3.2. 275 Vgl. Wellhausen, Prolegomena, 301; vgl. Schmid, Die Unteilbarkeit, 28; vgl. Stoebe, Gut, 197ff. 276 Vgl. Wellhausen, Prolegomena, 301. 277 Vgl. Clark, A Legal, 277; vgl. Steck, Paradieserzählung, 35 Anm. 43.

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sich der Mensch von Gott; er wird autonom, indem er selbst bestimmt, was seinem Leben förderlich oder abträglich ist.278 Darin ist er gottähnlich. Und doch ist er nicht gottgleich, denn das, was dem Menschen tatsächlich förderlich ist, hängt nicht davon ab, was er für sich selbst als förderlich bestimmt. Diese Wahrheit bleibt Gott vorbehalten. „Was in seiner Erstmaligkeit als Zwiegespräch von Schlange und Frau geschildert wird (3,1ff), ist geradezu Vorbild solcher selbstbestimmenden und sich darin Jahwe gleichstellenden, faktisch sich von ihm lösenden Erkenntnisvorgänge, wie sie sich fortan im Menschen abspielen“279 . Hier zeigt sich eine Anthropologie, die die menschliche Autonomie und die Unterscheidung zwischen „gut“ und „böse“ miteinander in Verbindung bringt. Kein anderes Wesen scheint derart fähig zu sein, sich selbst und seine Umwelt auf diese Weise zu reflektieren. Andererseits ist die menschliche Fähigkeit, zwischen „gut“ und „böse“ zu unterscheiden, ein Fluch: der Mensch weiß nie in letzter Konsequenz, ob die Entscheidungen und Wahrnehmungen über „gut“ und „böse“ die richtigen waren. Der weitere Verlauf der Erzählung zeugt von der menschlichen Erfahrung dieses Nichtwissens. Die Menschen sehen und bewerten sich selbst nun anders; sie erkennen, dass sie nackt sind und schämen sich (3,7; 3,5). Hier bestimmen sie zum ersten Mal selbst darüber, was ihnen förderlich oder abträglich ist, „aber nicht in dem Sinne, daß Nacktheit etwas objektiv Abträgliches wäre, das die Menschen nun erkennen und abzuwehren suchen“280 . Denn Erkenntnis bedeutet ja eben nicht die neutrale Wahrnehmung von objektiv „bösem“ bzw. „gutem“ Gegebenen. Hier zeigt sich vielmehr, dass die Nacktheit nun als abträglich, als etwas wahrgenommen wird, dessen man sich schämen muss.281 Objektiv betrachtet ist nichts anders als zuvor; die Realität ist dieselbe – Gottes gute Schöpfung hat sich nicht verändert, sie ist nicht schlecht geworden. Zuvor waren die Menschen auch nackt, aber sie schämten sich nicht (2,25). Das Versprechen der Schlange, nach Essen der verbotenen Frucht „Gutes“ und „Böses“ zu wissen und darin wie Gott zu sein, realisiert das Menschenpaar sogleich mit voller Wucht darin, „daß sie selbst Nacktsein als etwas Abträgliches, als eine schämenswerte Lage bestimmen“282 und zeigen darüber hinaus „mit diesem Aufkommen der Scham den objektiv eingetretenen Tatbestand an, daß die Beziehung untereinander (3,7) und zu Gott (3,8–10) gegenüber dem vorautonomen Zustand gestört ist.“283 Hätten sie die Konsequenzen zuvor „richtig“, d. h. wahrhaftig gewusst, hätten sie sich dann dafür entschieden, die Frucht zu

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Vgl. Steck, Paradieserzählung, 117. Steck, Paradieserzählung, 35 Anm. 43. Steck, Paradieserzählung, 35 Anm. 43. Steck, Paradieserzählung, 35 Anm. 43. Steck, Paradieserzählung, 26 Anm. 43. Steck, Paradieserzählung, 26 Anm. 43.

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essen? Die Gemeinschaft untereinander und zu Gott ist gestört, weil die Freiheit der Autonomie gleichzeitig dazu führt, dass der Mensch, anders als vorher, nicht mehr fähig ist, auf Gott zu vertrauen und unhinterfragt das Gegebene unhinterfragt anzunehmen, dass für ihn gesorgt ist. Nun aber muss der Mensch Verantwortung übernehmen; er ist zu Autonomie bestimmt – und verdammt. Er muss sich um sich selbst kümmern und den Ackerboden mühselig bearbeiten.284 Er muss selbst darüber entscheiden, was „gut“ und was „böse“ ist. Es ist für ihn eine unabdingbare und lebensnotwendige Fähigkeit, „auf die jeder erwachsene Mensch tagtäglich angewiesen ist.“285 Oder in Gerhard von Rads Worten: „Kein Mensch würde auch nur einen Tag leben können, ohne empfindlichen Schaden zu nehmen, wenn er sich nicht von einem ausgebreiteten Erfahrungswissen steuern lassen könnte“286 . Damit ist die Erzählung Ausdruck dessen, was passiert, wenn man sich seiner Verantwortung bewusstwird, wenn begriffen wird, dass es „Böses“ und „Gutes“ gibt, dass es uns existenziell ist, so zu unterscheiden und damit „das Böse“ nach unseren Möglichkeiten nie gänzlich überwunden werden kann. Schmids Beschränkung des Angewiesenseins auf die Unterscheidung von „Gut“ und „Böse“ auf erwachsene Menschen benennt eine existenzielle Erfahrung, denn gehört nicht die Erfahrung großer Freude über Selbstbestimmung und Selbstverantwortung einerseits und die Furcht vor falschen Entscheidungen und der schwierige Umgang mit ihnen, sollten sie sich als tatsächlich falsch erweisen andererseits, zum Erwachsenwerden? Und leben nicht gerade Kinder in diesem absoluten Vertrauen auf ihre Eltern, dass für sie gesorgt wird und dass alles gut ist, solange die Eltern da sind? Aber die Trennung von ihren Eltern und der Prozess, erwachsen zu werden, beginnt, sobald Kinder Autonomie lernen (müssen). Das Menschenpaar wird aus dem Paradies vertrieben und darf nicht mehr zurück (3,23.24). Wofür sonst sollte dieses Bild stehen, als dass der Mensch nun von Gott getrennt ist? Die paradiesischen Zeiten sind vorbei, in denen man blind vertraut hat, sich im Grunde um nichts kümmern musste und einfach gelebt hat. Die Autonomie, die Freiheit des Menschen, über „Gut“ und „Böse“ bestimmen zu können – und zu müssen, um zu überleben – fordert einen hohen Preis: Wegbrechen von Vertrauen, von Glauben – ein Wegbrechen von Gott. Um den Bogen zurück zu spannen: Dies ist der existenzielle Hintergrund, vor dem die Paradieserzählung entstanden ist: die Erfahrung, zwischen „Gut“ und „Böse“ unterscheiden zu müssen, ohne je sicher zu sein, ob es die richtige Entscheidung ist. Worauf ist Verlass? Damit einher geht der erfahrene Glaubensgrund: Wir sind nicht mehr ganz bei Gott, unser Glaube und Vertrauen sind unterbrochen; aber gleichzeitig sind wir auf Glauben und Vertrauen angewiesen. Wir sind nicht

284 Vgl. Schüle, Prolog, 192. 285 Schmid, Unteilbarkeit, 28. 286 von Rad, Weisheit, 13.

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mit Gott, aber können auch nicht ohne ihn: Wir sind nur gottähnlich und nicht gottgleich. Bildhaft dafür ist insbesondere auch, dass der Mensch sich in letzter Instanz nicht selbst zu helfen vermag: Nicht er selbst kleidete sich ein, sondern Gott gab ihm die Kleidung (3,21).287 Die Kehrseite der Medaille, also die Fluchseite in der Fähigkeit „Gut“ und „Böse“ zu erkennen, spitzt sich in Gen 4,7 zu. Der „Brudermord [ist] die grausige Konkretion der vom ersterschaffenen Menschen ergriffenen Möglichkeit, zwischen gut und böse wählen zu können.“288 Die Möglichkeit, zwischen Richtigem und Falschem zu wählen, ist eine Freiheit zum Fluch. Es ist die Erkenntnis, dass Menschen gar nicht anders können, als „das Böse“ wahrzunehmen, dass es immer dazu gehört und unrevidierbar ist. „Im Zentrum des Textes steht […] die Einsicht, dass objektiv gegebene oder subjektiv empfundene Ungerechtigkeit zu ‚Sünde‘ führen kann, was wiederum nach einem angemessenen Umgang mit dieser Erfahrung von Ungleichheit fragen lässt (V. 5b.6–7).“289 Die Erzählung lässt sich von da aus insofern als soziologische Perspektive deuten, „dass die Einzelnen noch vor allem eigenen Handeln mit unterschiedlichen Voraussetzungen ausgestattet sind, die ihnen unterschiedliche Chancen im Leben eröffnen.“290 In Gen 4,4b.5a. wird aus unerklärten Gründen Abels Opfergabe beachtet, Kains dagegen nicht. Sie sind ungleich erfolgreich. Die Erzählung verweist auf das Unerklärliche in solcher Ungleichheit. Bei gleicher Arbeit, unter den gleichen Voraussetzungen wird die eine Arbeit gewürdigt, die andere nicht.291 Dass Kain daraufhin neidisch auf Abels Erfolg wird, ist eine berechtigte Reaktion: „er ist der ungerecht Benachteiligte, dem es um Gerechtigkeit geht.“292 Kain wird zornig, weil er Gottes Ablehnung seiner Opfergabe als Kommunikationsabbruch versteht (V. 5b.). Gott hat die Kommunikation allerdings nicht abgebrochen, sondern redet Kain sogar an (V. 6). In V. 7 erklärt er ihm, dass er die „Sünde“ beherrschen könne. Nun bricht Kain allerdings die Kommunikation ab, indem er sich abwendet, sein Gesicht senkt und, anstatt zu antworten, den Mord an seinem Bruder Abel begeht (V. 8). Der Erzähler fokussiert dabei geradezu das innere Erleben Kains, das dann zum Mord an Abel führt.293 „Man sieht förmlich, wie die Zuwendung zum Bruder

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Siehe auch Schüle, Prolog, 175. Janowski, Jenseits, 156. Gertz, das erste Buch, 162. Kessler, Weg, 113. Vgl. Westermann, Genesis, 405; vgl. ders., Am Anfang, 53; so auch Gertz, das erste Buch, 161f. Er verweist auf die vielfache Zustimmung, die Westermanns Lesart diesbezüglich erfahren hat (vgl. Gertz, das erste Buch, Anm. 47). 292 Westermann, Anfang, 53 mit Verweis auf die soziologische Untersuchung von Schoeck, Der Neid. 293 Vgl. Gertz, das erste Buch, 162; vgl. Westermann, Genesis, 405.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

erstirbt und der Haß ihn in Besitz nimmt.“294 Kain „entbrannte es sehr“, ihm wurde also heiß.295 Sein Gesicht senkt sich – „[s]eine Gesichtszüge entgleiten ihm“296 . Mit wenigen, drastischen Worten über den Totschlag an seinem Bruder „will der Erzähler sagen: So ist der Mensch; er kann zum Mörder an seinem Bruder werden.“297 Anstatt die Verantwortung für den Mord zu übernehmen, weist Kain sie ab und wird daraufhin verflucht (V. 9–11). Erst infolgedessen spricht er von seiner Schuld „und nimmt sie damit an“298 und lässt sich wieder auf eine Kommunikation mit Gott ein.299 In V. 13–16 wird Kain mit dem Kainsmal gezeichnet; es erinnert ihn ständig an seine Tat, mit der er nun leben muss. Gen 4 kann als mögliche Erklärung dafür gelesen werden, „woraus ein solches ethisches Fehlverhalten wachsen kann, nämlich aus der Erfahrung von Zurücksetzung und fehlender Anerkennung und dem daraus erwachsenden ,Neid am Glück des Anderen‘.“300 Kain ist nicht „von vornherein der Böse“301 , denn sein verletztes Gefühl über die Benachteiligung „ist berechtigt und menschlich verständlich.“302 Es ist nicht so, dass Kains Tat offenbare, „was für ein böser Mensch er war.“303 In der Figur „Kain“ zeigt sich eine Anthropologie, die die Erfahrung des „Beherrschtsein[s] durch die fremde Macht der Sünde, an die sich der Mensch verliert“304 , beinhaltet. Denn der Mord an Abel geschah nicht einfach aus Eifersucht. Seine Wahrnehmung und seine Deutung, von Gott zurückgewiesen zu sein, vernichtet ihn förmlich und er verliert sich in der Macht der Sünde.305 Genau hier tritt eine Anthropologie zutage, die weit entfernt ist von radikalen Stigmatisierungen. Person und Tat werden getrennt. Zwischen „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden, schafft die Freiheit zu Verantwortung, aber eben auch die Freiheit zu Frevel. Zu wissen, was Leid ist, ermöglicht auch, solches Leid zu bewirken – und überhaupt bewirken zu wollen.306 Die Erkenntnis von „Gut“ und „Böse“ und die damit einhergehende Autonomie „kann […] zur Sünde führen.“307

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Levin, Der Jahwist, 94. Vgl. Westermann, Genesis, 405. Gertz, das erste Buch, 162. Westermann, Genesis, 54. Kessler, Weg, 113. Vgl. Kessler, Weg, 113. Kessler, Weg, 114 mit Rekurs auf Biberstein/Bormann, Sünde, 570. Westermann, Anfang, 57. Westermann, Anfang, 57; vgl. ders., Genesis, 405; Westermann, Genesis, 405. Schüle, Prolog, 187. Vgl. Schüle, Prolog, 187. Vgl. Schüle, Prolog, 194. Gertz, das erste Buch, 174 mit Verweis auf Crüsemann, Autonomie, 69.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

Die Erzählungen von den Anfängen zeugen von den existenziellen Fragen, warum wir zum Guten und zum Schlechten fähig sind, warum wir uns als autonome und freie Person und gleichzeitig als unselbstständig wahrnehmen und schaffen Urbilder in Adam und Eva, der Schlange und später in Kain. Sie sind keine Erfindung der Soziologie oder Psychologie, auch nicht der Theologie, sondern es gibt sie seit Menschengedenken – sie sind existenziell. Die Antwort der Erzählung liegt in der Verantwortung, zwischen „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden, was nie eine objektive Wirklichkeit – nur Gott allein kennt die Wahrheit – abbildet. Hingegen wird stets anders wahrgenommen, was als „böse“ und „gut“, als lebensdienlich und -abträglich zu entscheiden ist. Durch die Erzählungen werden Archetypen geschaffen, die einen Ist-Zustand abbilden: Der Mensch kann gar nicht anders, als zwischen „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden; dies ist seine conditio humana. Darüber hinaus suggerieren die Erzählungen: Solange der Mensch diese Erkenntnis von „Gut“ und „Böse“ hat, wird es „Gut“ und „Böse“ geben. In seiner Selbstverantwortung liegt zugleich immer die Möglichkeit zur Freveltat. Das ist der Preis für seine Autonomie. Bis hierher finden sich Schnittpunkte zu den Hinweisen auf „das Böse“, wie sie sich in Psychologie und Soziologie sowie in ethischer Perspektive finden ließen. Doch die Erzählung geht über jene wissenschaftlichen Analysen hinaus. Sie bezieht als Erzählung eine weitere Ebene ein, nämlich die des Glaubens. Denn zugleich bedeutet Autonomie Trennung von dem, dem man blind vertraut hat. Nun muss man sich selbst kümmern und selbst verantworten. Die Erkenntnis von „Gut“ und „Böse“ ist dabei nicht ultima ratio, denn der Mensch kann sich irren, wie die Erzählungen von Kain und Abel und später die vom Turmbau zu Babel schildern. Dort wie auch in manch gegenwärtigen Ethiktheorien glaubt der Mensch immer wieder, durch Rationalität und Vernunft „das Böse“ und „das Gute“ allgemeingültig zu erklären. Darüber hinaus zeigt sich in der Paradieserzählung die Glaubensebene insbesondere an der Stelle, an der die Menschen aus dem Paradies verbannt werden. Ihre Autonomie geht auf Kosten des Glaubens. Gleichzeitig ist die Erzählung Bild für die Sehnsucht nach einem absoluten Vertrauen und Glauben, sodass der Mensch als einer gezeichnet wird, der auf den Glauben an Gott angewiesen ist. Dies wird auch durch die Anthropologie und das Gottesbild der alttestamentlichen Weisheitsliteratur unterstrichen, die ein Fragen nach dem „Woher“ „des Bösen“ relativiert und auf Gott verweist und so den Glauben bzw. das Vertrauen auf Gott in den Vordergrund stellt, geradezu alternativ zu Fragen und Erkennenwollen. Die Anthropologie einiger weisheitlicher Texte akzentuieren die Begrenztheit des Menschen, die auch in Gott begründet ist.308 Beispielhaft dafür ist die Rahmenhandlung der

308 Vgl. Saur, Blick, 32f.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

Hiobserzählung: „Hinter dem vordergründig Hiob zugewandten Gott tut sich ein Abgrund eines unberechenbaren und dem Menschen entzogenen Gottes auf, der keineswegs dafür Sorge trägt, dass ein Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen besteht.“309 Die Erzählung zeugt von den Erfahrungen der Menschen, dass sie sich zwar richtig verhalten können, sie aber trotzdem vom „Bösen“ heimgesucht werden. Und die Begründung liegt in Gott allein. Hier wird kein Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“ ausgetragen. „Der Satan ist in der Hioberzählung keine selbstständige Figur, er stachelt nur an und führt allein das aus, was ihm von Jhwh erlaubt wird. Bedrohlich ist Jhwh selber, der den Fall seines treuen Knechts Hiob zulässt.“310 Auch hier wird kein Gut-Böse-Dualismus gezeichnet, sondern die „Gleichzeitigkeit von Gut und Böse in Gott selber.“311 Literarisch-strategisch stellt die Erzählung heraus, dass „das Böse“ in Gott selber verankert ist, dass es eben nicht um einen zunächst vermutlichen Dualismus als Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“, zwischen Gott und Satan geht.312 Auch das Buch Kohelet verortet „Gut“ und „Böse“ gleichermaßen in Gott (Koh 7,14 „Am Tag des Guten sei guter Dinge, und am Tag des Bösen, siehe: Auch diesen wie jenen hat Gott gemacht. Denn der Mensch findet nicht heraus, was nach ihm sein wird.“). Kohelet wie auch Hiob „dokumentier[en] eine Haltung, die um Gottes Souveränität weiß und auch hinter dem Bösen das Handeln Gottes erkennt.“313 In Kohelet zeigt sich, dass dies nicht zuerst ein Grund der Verzweiflung sein muss, sondern auch dazu befreit, nicht alles erörtern und lösen zu müssen, eben weil dies nicht geht. „Gutes und Böses müssen angenommen werden, weil der Mensch nicht in der Lage ist herauszufinden, was nach ihm sein wird. Die Zusammenhänge der Wirklichkeit erschließen sich dem Menschen nicht bis ins Letzte; die Welt ist aber auch da, wo sie dem Menschen verschlossen bleibt, ein Teil der Schöpfung Gottes und kann als solche vom Menschen als Lebensraum angenommen werden.“314

Härter zeigt sich dies in der Hiobsdichtung. „Hoffen, wo es nichts zu hoffen gibt, das soll in Hi 16 und 19 hart aufeinanderprallen – vor dem Gott, der über Schuldlosigkeit spottet, der Recht missachtet, der Hoffnung zerstört. Dieser Gott, der dem Menschen nichts Böses erspart[,] er wird den Menschen gleichwohl nicht los, Hiob, den hoffnungslos Hoffenden.“315

309 310 311 312 313 314 315

Saur, Blick, 34. Saur, Blick, 35. Saur, Blick, 35. Vgl. Saur, Blick, 35f. Saur, Blick, 38; vgl. ebd., 36; vgl. Spieckermann, Lebenskunst, 87. Saur, Blick, 39 mit Verweis auf Schellenberg, Erkenntnis, 110f sowie Schellenberg, Kohelet, 113f. Spieckermann, Lebenskunst, 89.

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Über alle Wissenschaften und über jedes Verstehen hinaus stößt die Erzähldimension uns auf die Erfahrung, dass wir nicht bis ins Letzte alles verstehen können. In jeder Ethik zeigt sich, dass der Mensch nicht anders kann als zwischen „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden. Gegenüber allen anderen Wissenschaften wird durch die biblischen Erzählungen eine Glaubensdimension eröffnet, und zwar als Hoffnungsinstanz und gerade nicht als letzte Begründungsinstanz, wenn Wissenschaft auf ihre Grenzen stößt oder als Begründung, nicht immer weiterfragen zu müssen. Hier offenbart sich eine Deutung des Lebens vom Glauben her. Und genau hier gelangen wir zu dem, was Seelsorge in ihrer Tiefe charakterisiert und bestimmt, wenn sie sich besonders im Gefängnis zur Aufgabe macht, dem Leben trotzdem eine Bedeutung zu geben. 3.3.2

Das Phänomen der Sünde als existenzielle Erfahrungswirklichkeit

Seelsorge sieht sich vor die Schwierigkeit eines Verlustes religiöser Sprache gestellt, der besonders die Begrifflichkeit der „Sünde“ betrifft, dann aber auch die der „Schuld“ und „Vergebung“.316 Ziemer zufolge stellt sich aus seelsorglicher Perspektive die Frage, ob überhaupt noch von Sünde und Schuld geredet werden soll, denn „[e]rzeugt das dauernde Reden von Schuld nicht geduckte und gedemütigte Sünder oder eben auch selbstgerechte Moralisten?“317 Gunda Schneider sieht den Grund für den Sprachverlust in den geistesgeschichtlichen Veränderungen, die sich durch Aufklärung und Postmoderne ergeben hätten, durch die die Rede von Gott überhaupt einen Sinnverlust erlitten hätte, wodurch folglich die Selbstverständlichkeit, von Sünde und Vergebung zu sprechen, ebenfalls verloren gegangen sei.318 Michael Sievernich erkennt einen Grund in Verkündigung und Handeln der Kirche selbst, die weder dem biblischen Zeugnis gerecht geworden sei noch auf Fragen der Neuzeit angemessene Antworten gefunden habe.319 Richard Riess erklärt die Sprachlosigkeit von Schuld und Vergebung durch die Verdrängung des Negativen, frei nach dem Lebensgefühl, „sich bloß keine Schwachheit zu leisten und sich bloß nicht bei einem Fehltritt ertappen zu lassen“320 . Schließlich liege 316 317 318 319 320

Vgl. Eschmann, Sünde, 146. Ziemer, Seelsorgelehre, 278. Vgl. Schneider, Sünde, 567. Vgl. Sievernich, Sünde, 17. Riess, Abschied, 7; ähnlich Klessmann, Seelsorge, 235, der den Sprachverlust in Zusammenhang mit der Schwierigkeit, sich Schuld einzugestehen und Verantwortung zu übernehmen, in einen Zusammenhang stellt. Zimmerling, Ein Katholik, 162 diagnostiziert den Menschen ein „labile[s] seelische[s] Gleichgewicht“, das aus dem stärker werdenden Individualismus und Pluralismus bei gleichzeitig abnehmenden traditionellen Werten resultiere. Das führe dazu, sich seinem schuldhaften Verhalten nicht mehr stellen zu können. Normen und Werte würden den Maßstab darstellen, aufgrund dessen Schuld überhaupt erst wahrgenommen werden könne. Zimmerling sieht das

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der Grund eines Sprachverlustes in der Sache der Sünde selbst, die sich dem Zugriff menschlichen Verstehens entziehe und vom Menschen nie erkannt werden könne, wie Hanns-Stephan Haas beobachtet.321 Und zuletzt gibt es auch solche Erklärungen, die ein Konglomerat aus allen Erklärungsversuchen diagnostizieren und folglich eine mehrdimensionale Begründung für den biblischen Sprachverlust von Sünde, Schuld und Vergebung konzipieren.322 Deutlich wird: Es ist längst nicht klar, was gemeint ist, wenn die Rede von „Sünde“, „Schuld“ und „Vergebung“ ist. Besonders am Ort des Gefängnisses ist eine unreflektierte Benutzung dieser Begrifflichkeiten mit Schwierigkeiten verbunden. Während sich mit „Schuld“ und „Vergebung“ Assoziationen zu zwischenmenschlichen Phänomenen ergeben können, ist dies besonders bei „Sünde“ anders, weil die wenigsten Inhaftierten christlich sozialisiert sind und sich einer religiösen Sprache bedienen und sie verstehen. „Sünde“ wird im alltäglichen Sprachgebrauch in Zusammenhang mit Kalorien- und Temposünden verwendet oder mit „sündhaft“ teuren Preisen assoziiert. In der christlichen Tradition wird im Zusammenhang mit der Erfahrung von „Bösem“ von „Sünde“ gesprochen. „Sünde“ ist ein theologischer Begriff, der nicht von einer religiösen Glaubensdimension zu entkoppeln ist. Das berührt direkt die Seelsorge, wenn etwa Ziemer von „Sünde“ aus der Perspektive „christliche[n] Glauben[s]“323 spricht, von einer „theologischen Sicht von Sünde und Schuld“324 , sodass „Sünde“ im Kontext christlich-theologischen Redens ihren Begriff findet.325 Für die Gefängnisseelsorge ist es wichtig, reflektieren zu können, was gemeint ist, wenn die Begriffe von „Sünde“ (3.3.2.1) und „Vergebung“ (3.3.2.2) benutzt

321 322 323 324 325

Bewusstsein für Schuld schwinden, weil er den Maßstab für solches – nämlich Normen und Werte – schwinden sieht. Dagegen ist einzuwenden, dass nicht von einem Werteverlust gesprochen werden kann, sondern eher von einem Wertewandel gesprochen werden muss, vgl. dazu ausführlicher Kapitel 3.2.1. Man könnte demzufolge also höchstens annehmen, dass man sich gegenwärtig für andere Taten schuldig fühlt als in früheren Zeiten. Auch Klessmann, Ich armer, 157 nimmt ein individualistischeres Schuldempfinden wahr, das aus der Pluralisierung von Normen und Werten erfolge: „Man kann kaum noch vorhersagen, was der eine oder die andere als schuldhaft empfindet.“ Dem ist zuzustimmen, doch gleichzeitig stellt sich die Frage, ob in früheren Zeiten tatsächlich besser vorhersagbar war, was der eine oder die andere als schuldhaft empfindet. Auch hier: Grundlegende Normen lösen sich nicht auf, wie Klessmann, Ich armer, 157 diagnostiziert, sondern wandeln sich. Vgl. Haas, Bekannte. Vgl. zum gesamten Absatz Eschmann, Sünde, 146. So beispielsweise Eschmann, Sünde, 146f. Ziemer, Seelsorgelehre, 285. Ziemer, Seelsorgelehre, 284. So übersetzt beispielsweise auch die Gefängnisseelsorgerin Drexler, Gefangenen, 182 die „persönliche Schuld“ und die „eigene Verantwortung und […] unheilvollen Umstände, die zu einer Tat geführt haben“ in der „theologischen Sprache“ mit „Erbsünde“. Sie zieht dadurch gleichzeitig die Glaubensebene in die Rede von Schuld mit ein.

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werden, und nach deren seelsorglichen Gehalt zu fragen. Im Folgenden werden darum die Topoi der „Sünde“ unter Rückgriff auf die systematisch-theologische Hamartiologie einer genaueren Betrachtung unterzogen. Weil diese materialdogmatischen Begriffe anschlussfähig für die Seelsorge werden sollen, ist es wichtig, sie auf anthropologische Erfahrungswirklichkeiten zu beziehen, um zu zeigen, dass sie auf menschliche existenzielle Erfahrungen verweisen und die Begriffe der „Sünde“ und der „Sündenvergebung“ einen Mehrwert – auch für die Praxis – haben können, ohne dass man deshalb die Begriffe selbst in der praktischen Seelsorgesituation verwenden muss. Darüber wird sich aus seelsorglicher Perspektive herausstellen, dass „Sünde“ nicht von dem Schuldbegriff abgetrennt werden kann (3.3.2.3). Schließlich stellt sich die Frage, inwiefern Seelsorger:innen im Gefängnis Vergebung so zum Ausdruck bringen, dass sie vom Gegenüber auch als solche erfahren werden kann (3.3.2.4). 3.3.2.1 Sünde

Als materialdogmatischer Topos ist die „Sünde“ und die Frage nach ihrem Wesen und Begriff nach wie vor Teil der theologischen Grundfragen; woran auch die immer wieder beklagte oder begrüßte Diagnose, dass die „Sünde“ aus der Dogmatik verschwinde, nichts ändert.326 Im Gang durch neuere systematisch-theologische Entwürfe zeigt sich jedoch die Schwierigkeit, „Sünde“ in ihrem Wesen sowie Begriff bestimmen zu wollen. Die Schwierigkeit ist, an die Frage nach dem Verhältnis von „Sünde“ und „dem Bösen“ gekoppelt und eng verbundenen mit der Frage, inwiefern „Sünde“ als anthropologische Grundkategorie in der Theologie und über diese hinaus sinnvoll eingesetzt werden kann. Der im Folgenden kurz unternommene Durchlauf durch ausgewählte und für die Sündenthematik einschlägige systematisch-theologische Entwürfe verweist auf diese Problemstellungen. So unterscheidet Dietz Lange, seinem grundsätzlich kulturhermeneutischen Ansatz entsprechend, in der Absicht, zwischen anthropologischer Beschreibung aus theologischer Perspektive und moralischer Wertung zu differenzieren, streng zwischen „Sünde und dem (moralisch) Bösen“327 . „Das Böse“ ist Lange zufolge die „sichtbare Außenseite“328 der Sünde und nicht ihre „Spiegelung“329 . Der „Begriff des Bösen [betrifft] das Verhalten gegenüber Menschen […], während Sünde die Verfehlung des Gottesverhältnisses ist.“330 Lange ordnet „das Böse“ demzufolge einer moralischen Kategorie menschlichen Verhaltens zu, während „Sünde“ die 326 327 328 329 330

So auch Schmidt, Sünde, hier: 293 mit entsprechenden Verweisen. Lange, D., Glaubenslehre, 414. Lange, D., Glaubenslehre I, 415. Lange, D., Glaubenslehre I, 415. Lange, D., Glaubenslehre I, 433.

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dahinterstehende Ursache ist, die als „bösem“ Verhalten ursprünglich und coram deo gedacht wird: „Sünde ist der gegen Gott gerichtete totale Widerspruch des Menschen zu seiner Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott“331 . Lange versteht „Sünde“ als Existential: „Schöpfung und Sünde sind eines und das gleiche“332 , wie Lange Emanuel Hirsch beistimmend zitiert. Bei Lange wird deutlich, wie „Sünde“ nicht ohne Gottesbezug zu denken ist, während sich „das Böse“ auf ihr Sichtbarwerden in der Welt beschränkt, obgleich beides ineinander verwoben ist: „Ja, er [der Widerspruch des Menschen zu seiner schöpfungsmäßigen Bestimmung, Anm. v. Inderst] verschärft sich hier noch, weil der Widerspruch gegen Gott sich durch die soziale Interaktion zum faktisch unentrinnbaren Verhängnis steigert und weil dementsprechend die Außenseite der Sünde, das menschlich Böse, sich in der Gesellschaft kraft des Eigengewichts sozialer Institutionen zum ‚Strukturellen Bösen‘ potenziert.“333

Zu der Schlussfolgerung, dass der Sündenbegriff in Bezug auf den in ihm vorausgesetzte Gottesbegriff hin durchsichtig gemacht werden muss, gelangt auch Wilfried Härle.334 Härle zufolge zeige sich in den biblischen Reden von „Sünde“, dass von ihr „als Schuld und Verhängnis – im Ton der Klage (statt der Anklage) gesprochen wird.“335 Aus dieser biblischen Bestimmung und in Aufnahme seiner allgemeinen Bestimmung von Gott als Liebe, die sich in allen Lebensvollzügen spiegele, spricht Härle von „Sünde“ als „Verfehlung der Lebensbestimmung“336 , wobei jene Bestimmung „zur Liebe“337 als „von Gott gegebene[…]“338 gedacht wird. Härle konkretisiert von dort aus: „Wenn dies die Bestimmung des menschlichen Lebens ist und wenn Sünde Verfehlung der Bestimmung des menschlichen Lebens ist, dann ist Sünde ihrem Wesen nach stets Verfehlung der Liebe.“339 Während Lange und Härle beide aus unterschiedlichen Positionierungen kommend, die Sünde als grundlegende menschliche Bestimmung in der Gottesbeziehung verorten, legt Ingolf Dalferth, hermeneutisch arbeitend, eine Problemgeschichte der Sünde vor, in der er „Sünde“ in der Menschlichkeit des Menschen verortet und damit als allgemeine Bestimmung für auch diejenigen Menschen als gültig erklärt, die sich nicht als dezidiert religiöse oder christliche verstehen. Das

331 332 333 334 335 336 337 338 339

Lange, D., Glaubenslehre I, 435. Lange, D., Glaubenslehre I, 430; siehe Hirsch, E., Schöpfung, 33. Lange, D., Glaubenslehre, 317. Härle, Dogmatik, 464f. Härle, Dogmatik, 465. Härle, Dogmatik, 465. Härle, Dogmatik, 466. Härle, Dogmatik, 465. Härle, Dogmatik, 466.

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geschieht dennoch über eine Begründung der „Sünde“ aus der Gotteslehre heraus: Dalferth zufolge verdankt sich alles Leben der Zuwendung Gottes und „Sünde“ sei „[z]u leben, aber für diese Zuwendung Gottes blind zu sein“340 . Dalferth geht es darum, dass der Mensch sich als Geschöpf Gottes verstehen soll, dem sein Leben nicht selbst verdankt ist, sondern ihm gegeben ist. Dadurch sei der Mensch durch eine „Tiefenpassivität“341 geprägt, die dazu führe, wenn sie ernst genommen werde, sich mitmenschlich zu verhalten.342 „Wer so lebt, dass er sein Sosein am Gabe-Charakter seines Daseins ausrichtet, der wird andere nicht anders sehen und behandeln als sich selbst und sich selbst nicht für besser halten als andere.“343 Der Blick auf die Anderen als gleichgestellte werde gerade in dem Bewusstsein gebildet, dass alle Menschen Sünder seien. „Dass alle Menschen Sünder sind, heißt, dass Gottes Zuwendung allen Menschen gilt und kein Mensch einem anderen etwas voraushat. Alle sind Sünder, Gläubige nicht weniger als Ungläubige, keiner existiert von sich aus, alle können nicht leben ohne Gott, alle sollten die Möglichkeit haben, sich über ihre existenzielle Situation Klarheit zu verschaffen und ihr Leben an den Fakten der Existenz auszurichten.“344

So betrachtet bringt das Sündenverständnis nach Dalferth etwas absolut existenziales zum Ausdruck. Die aktuellen systematisch-theologischen Sündenverständnisse überblickshaft betrachtend zeigt sich: Was „Sünde“ in ihrem Wesen sein soll und was sie als Begriff zum Ausdruck bringt, hängt von der theologischen Positionierung des jeweiligen Autors ab. Die untersuchten Entwürfe profilieren dennoch, dass „Sünde“, die in der Tradition christlicher Rede steht, negative Seiten des Menschseins umfasst und stets mit einem gebrochenen Gottesverhältnis, d. h. mit der Glaubensdimension zusammenhängt. Der enge Bezug der „Sünde“ auf die Gotteslehre, wie er sich

340 341 342 343

Dalferth, Sünde, 417. Dalferth, Sünde, 414f. Vgl. Dalferth, Sünde, 414f. Dalferth, Sünde, 416. Dalferths Vorstellung halte ich für eine zwar schöne, aber doch sehr ideale Vorstellung, die zu generell gedacht ist. Besonders hinsichtlich des Leitbildes „Normativer Differenz*“, aufgrund der Erfahrung „Polyvalenter Normativität“ ist dies kritisch zu sehen. Dalferth bestimmt die Sünde als etwas, was dem Menschen menschlich ist, aber so richtig menschlich wird, nach Dalferth, der Mensch erst durch seine Mitmenschlichkeit (vgl. Dalferth, Sünde, 408ff). Dagegen zeigt sich im Durchgang dieser Arbeit, dass Menschen eben leider gerade Menschen sind, weil sie zu wirklich „bösem“, systematisch mordenden, geplantem Verhalten und auch und daneben zu liebevollem, mitmenschlichem Verhalten fähig sind, sodass der Mensch eben schon Mensch ist, weil er zu Gräueltaten fähig ist und sie auch durchführt. Darin ist der Mensch geradezu menschlich, siehe dazu und zu einem Vorschlag seelsorglichen Umgangs damit Kapitel 4.3. 344 Dalferth, Sünde, 400f.

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in diesen Entwürfen zeigt, müsste allerdings aus der Perspektive der Seelsorge noch stärker auf die Dimension der Erfahrung fokussiert werden, wenn „Sünde“ in theologisch reflektierter Form sinnvoll als Umgang mit „dem Bösen“ in der Gefängnisseelsorge gedacht werden soll. Um die Erfahrungsdimension „der Sünde“ einzubeziehen, wende ich mich zunächst Luthers Sündenverständnis mit seiner bußtheoretischen Orientierung zu. Martin Luther ist deswegen für die gegenwärtige Seelsorgelehre so anschlussfähig, weil er die Gotteslehre soteriologisch denkt: „Ein Gott ist das, woher du Gutes erwartest und wohin du dich in deinen Nöten rettest.“345 Dass sich die Seelsorgeliteratur weitestgehend auf Luthers Sündenverständnis bezieht,346 geschieht über die enge Verbindung von der Sünde als dogmatisches Thema mit der Auseinandersetzung mit der (monastischen) Praxis der Buße: Die „Buße [wurde] zum Leitfaden für Luthers […] Umdeutung des christlichen Lebens“347 , auf die die evangelische Tradition gestellt ist. Insofern Luther „als Schriftsteller in erster Linie [als] Erbauungsschriftsteller“348 geltend gemacht werden kann, lässt sich seine Auseinandersetzung mit der „Buße“ und dann „der Sünde“ als dezidiert seelsorglich verstehen. Die von ihm als Sermones betitelten Schriften „dienen der Unterscheidung von göttlicher Verheißung und Menschenlehre, der Unterrichtung und der Tröstung der Gewissen. Ihr Ziel finden sie darin, den Lesern religiöse Erkenntnis und den rechten Gebrauch der Sakramente zu vermitteln und dazu beizutragen, daß die Gewissen Frieden in Gott und in seinem Wort finden.“349

Was für den gegenwärtigen, pluralen Kontext selbstverständlich erscheint, nämlich ein individuelles Verständnis von Religion, sah für den Kontext Luthers freilich anders aus. Im hohen Mittelalter wurde das Leben durch Religion und Kirche bestimmt. Das Lebensgefühl war dadurch bestimmt, dass „das Leben vor Gottes Augen geführt wird.“350 Das ganze gesellschaftliche und individuelle Leben wurde ständig vor der beurteilenden Kritik Gottes gedeutet. Dieses kritische Verhältnis zu regeln, war Aufgabe der Kirche als Vermittlungsinstanz zwischen Welt und Gott. Kirche führte damit zum Heil und teilte andererseits Strafe aus, weil sie einerseits den Weg zu Gott eröffnete und andererseits an seiner Stelle richtete.351

345 346 347 348 349 350 351

Slenczka, Sich schämen, 245 mit Bezug auf Luther, M., Der Große Katechismus, 560. Beispielsweise: Ziemer, Seelsorgelehre, 144f; Klessmann, Seelsorge, 196; Nauer, Seelsorge, 204. Korsch, Martin Luther. Schilling, 4. Erbauungsschriften, 295. Schilling, 4. Erbauungsschriften, 299. Korsch, Martin Luther, 25. Vgl. Korsch, Martin Luther, 25.

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Beide Seiten – die religiöse und die ethische – waren in den Sakramenten verknüpft. Im Sakrament der Buße wurde die Verfehlung der Lebensführung vergeben. „Gerade in der Buße verknüpfen sich elementar die Heilsfrage und die Lebensführungsfrage. Die Buße ist das Einfallstor für die religiös-sittliche Erziehung des Menschen durch die Kirche. Wenn dieses Verhältnis nicht stimmt, wenn da noch Unreinheit bleibt, dann, so mußten die Menschen fürchten, geht ewige Seligkeit verloren.“352

Luthers frühe Schriften sind durch seine eigene monastische Praxis und den damit verbundenen (existenziellen) Erfahrungen gekennzeichnet. Er trat in den Mönchsstand ein, weil er vorbereitet sein wollte, wenn er dem Tod gegenübertritt, weil er als Mönch „durch frommes Leben und permanente Buße besonders auf Gottes Willen eingestellt ist“353 . Luthers existenzielle Erfahrungen, nämlich, trotz seiner monastischen, frommen Praxis eine bleibende Ungewissheit über Leben und Tod zu verspüren, verarbeitet er ebenfalls in seinen Sermones. Durch den Ablass verstellte sich der Sinn der Buße und widersprach der Frömmigkeit, derentwegen Luther ins Kloster gegangen war. Dies forderte ihn zu einer wissenschaftlichen Disputation über die Kräfte des Ablasses Ende Oktober 1517 in Wittenberg heraus. Im Hintergrund dessen stand bereits Luthers vertieftes Bußverständnis, das insbesondere in Luthers 1519 verfasstem Sermon von dem Sakrament der Buße auf den Punkt gebracht ist. Seine Reihe von Sermones umfasste für die Öffentlichkeit bestimmte, allgemein verständliche Abhandlungen, die den Gläubigen helfen sollten, sich im Leben der Kirche zu orientieren und recht zu verhalten. Mit ihnen wurde Luther einer breiten Öffentlichkeit bekannt. In genanntem Sermon von dem Sakrament der Buße (hier versteht er Buße noch als Sakrament) konzentriert sich Luther „auf das Geschehen von Sündenbekenntnis und Sündenvergebung […], das im Glauben seine vollständige und ergänzungsunbedürftige Gestalt findet.“354 Dadurch wird auch die Rolle des Priesters neu bestimmt, insofern sie nur noch die Funktion hat, das korrumpierte Verhältnis des Menschen zu Gott als von Gottes Seite ungebrochen geltend auszusprechen.355 „Daß es zu diesem Verhältnis eines reinen, von menschlichen Vermittlungsbedingungen freien Gegenübers zur Anerkennung zwischen Gott und Mensch kommt, die sich durch Vergebung und Glaube aufbaut – das ist der eine und ganze Sinn der Buße. Damit

352 353 354 355

Korsch, Martin Luther, 27. Korsch, Martin Luther, 27. Korsch, Martin Luther, 36. Vgl. Korsch, Martin Luther, 36.

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wird Gottes Gnade aus einem – förderlichen, segensreichen – Bestandteil des eigenen Lebenslaufes zum Anfang eines sich neu verstehenden Lebens.“356

Dadurch wurde das Gottesverhältnis nicht mehr als eines gedeutet, dass immer kritisch über dem eigenen Leben steht und abwägt, ob der Mensch zum Heil oder zum Fegefeuer bestimmt ist, sondern „jeder einzelne Lebensmoment [wird] so aufgefaßt, daß er aufgrund der Anerkennung durch Gott in sich die Fülle des ganzen Lebens trägt.“357 Für die vorliegende Abhandlung ist Luthers Sünden- und Bußverständnis deshalb so relevant, so wurde angezeigt, weil er Theologie als Erfahrungswissenschaft begreift.358 Dadurch ist das lutherische Verständnis von Sünde und Vergebung nicht allein Sache rationalen Begreifens, sondern auch menschlicher Erfahrung. Theologische Erkenntnis als Erfahrung gilt Luther zufolge „als sinnliche Verifikation, sie ist zu spüren […] und zu fühlen“359 . Neben die überlieferte Erfahrung durch die Schrift – also beispielsweise die Rede von der Sünde – muss auch die eigene Erfahrung treten, „weil sich in ihr die Lehre der Schrift vollgültig verifiziert.“360 Damit ist bereits das Anliegen des folgenden Absatzes angedeutet, nämlich Sünde und Vergebung als für die Gegenwart relevant zu denken und aus der Gegenwart heraus zu hinterfragen. Folglich soll im Folgenden kein dogmengeschichtlicher Abriss des Sündenverständnisses seit Luther geleistet werden, weil es in der Gefängnisseelsorge um ein Phänomen geht, das auf eine gegenwärtige Betrachtung angewiesen ist, für die aber Luthers Sündenverständnis auch heute hoch aktuell bleibt. Demgemäß beziehe ich mich im Folgenden auf diejenigen Theologen, die sich aus Systematisch-Theologischer Perspektive mit Luthers Sündenverständnis auseinandersetzen. Mit Michael Roth lässt sich zeigen, wie Sünde entmoralisiert gedacht werden muss. Über Roth hinaus lässt sich mit Notger Slenczka zeigen, dass Sünde nicht nur entmoralisiert, sondern auch als existenzielle Erfahrung verstanden werden kann, sodass sich mit Slenczka theologisch vorbereiten lässt, worin die Erfahrung besteht, die mit „Sünde“ zum Ausdruck gebracht wird. Schließlich wird mit Folkart Wittekind eine relevante Position aufgezeigt, wie Sünde unter (post)modernen Bedingungen dogmatisch gedacht und v.a. als Begriff verwendet oder nicht verwendet werden kann. Im Großen Katechismus wird „Glaube“ mit „Vertrauen“361 gleichgesetzt, ebenso im lateinischen Text der Confessio Augustana, wenn fiducia mit „Glaube“ übersetzt 356 357 358 359 360 361

Korsch, Martin Luther, 36f. Korsch, Martin Luther, 37. Vgl. dazu Beutel, 3. Theologie. Beutel, 3. Theologie, 454. Beutel, 3. Theologie, 455. Der Große Katechismus, 560.

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wird.362 Luther bezeichnet den Glauben als auf Christus gerichtete „Zuversicht des Herzens“363 . Luther versteht diesen Glauben als Lebensvollzug, als etwas, das das ganze Leben einer Person bestimmt: „Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihn vom Herzen trauen und gläuben, wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abgott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch Dein Gott recht, und wiederümb, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott.“364

Luther legt das Erste Gebot im Großen Katechismus so aus: „ICH, ich will dir gnug geben und aus aller Not helfen, laß nur Dein Herz an keinem andern hangen noch rugen“365 . Darin kommt kein Für-Wahr-Halten zum Ausdruck, sondern diese Zusage im Vertrauen für das eigene Leben wirksam werden zu lassen.366 Darauf vertrauen zu können, als gewolltes Teil der Welt angenommen zu sein, verdeutlicht Luther in der Auslegung des Ersten Artikels des Großen Katechismus, in dem zum Ausdruck kommt, dass an die Schöpfung zu glauben bedeutet, die Welt als dem Menschen persönlich zugesagte zu glauben, ohne dass der Mensch sich dies erst verdienen müsste oder könnte.367 Sünde ist demgegenüber die Ich-Bezogenheit des Menschen als homo incurvatus in se ipsum (In-sich-selbst-Verkrümmtsein).368 Nach Luther liegt im Herzen „die Wurzel und die Hauptquell aller Sünde“369 . Das Herz ist falsch ausgerichtet, nämlich mehr auf sich selbst, denn auf Gott: „In allem, was er tut und läßt, sucht er mehr sein Nutz, Willen und Ehre, denn Gott und seinen Nächsten.“370 Und in seinem Römerbriefkommentar bringt Luther

362 Vgl. Roth, M., Willensfreiheit, 155. 363 Der Große Katechismus, 560. 364 Der Große Katechismus, 560. Diese Sicht ist analog zu derjenigen in Abschnitt 3.3.1, in dem gezeigt wurde, wie der nichtpriesterliche Schöpfungsbericht ein Bild von Sünde zeichnet, das in dem „Seinwollen wie Gott“ besteht, indem der Mensch selbst in die Hand nimmt, nach richtig/falsch und gut/schlecht zu unterscheiden und danach zu handeln und mit dem Verlust vollkommenen Vertrauens auf Gott dafür bezahlt – kurz: „die Sünde“ besteht dort in der Trennung von Gott und der daraus folgenden Zerstörung der Gemeinschaft mit dem Menschen. Dieses Sündenverständnis wird im Neuen Testament besonders durch Paulus reflektiert. Der Mensch versucht eigenmächtig in die Zukunft vorzugreifen, um sich abzusichern, und er rühmt nicht Gott, sondern seine eigenen Leistungen und sich selbst. 365 Großer Katechismus, 560. 366 Vgl. Roth, M., Willensfreiheit, 156f. 367 Vgl. Roth, M., Willensfreiheit, 157f. 368 Vgl. Roth, M., Homo incurvatus, 16–18. 369 WA DB 7, 6, 27. 370 WA 6, 244, 10.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

auf den Punkt: „Der Mensch ist so sehr in sich selbst verkrümmt, daß er nicht nur die leiblichen, sondern auch die geistlichen Güter sich selbst zudreht und sich in allem sucht.“371 Die Gründe des In-sich-selbst-Verkrümmtseins des Menschen liegen für Luther in seinem Unglauben und – wie zuvor schon Augustin lehrte – in seiner Selbstliebe.372 Das, was Paulus zuvor als Sich-Verlassen auf die eigene Gerechtigkeit konstituierte, interpretiert Luther als Eigenliebe als Wohlgefallen an sich selbst im Selbstvertrauen.373 Wenn der Mensch nur noch auf sich selbst gerichtet ist, kann er ja gar nicht anders, als Gott und seinen Nächsten zu verachten, darin besteht nach Luther Sünde.374 „Sünde ist der Verlust des Vertrauens in die Welt als den mir zugesagten Lebensraum. Und damit ist sie auch der Verlust der Erfahrung der Annahme und Anerkennung, die in der Zusage des Lebens enthalten ist. […] Für den Sünder wird das, was eigentlich Gabe ist, zur Aufgabe.“375 Michael Roth376 stellt in seiner Lutherdeutung den wichtigen Punkt heraus, die Sünde nicht moralisch zu denken. Daraus lässt sich schließen, dass Luthers Sündenverständnis eine Entmoralisierung des Sündenbegriffs bedingt – es geht mit dem Begriff der „Sünde“ nicht um die Frage, wie man sich richtig verhält, wie man „Gutes“ oder „Richtiges“ tut, sondern um eine Verhältnisbestimmung zu der von Gott gegebenen Wirklichkeit. Dies stellt auch Slenczka in seiner Auseinandersetzung mit Luther heraus. Er zitiert Luthers Beschreibung der Ursache für ein „Zunehmen der Lauen und Bösen“.377 Dies finde statt, „weil die Trägheit […] so regiert, daß Gott überall verehrt wird, aber nur im Buchstaben, ohne innere Beteiligung [sine affectu] und ohne Geist, und sehr wenige glühen. Und das geschieht, weil wir glauben, daß wir etwas darstellen und schon hinreichend tätig sind, und so nichts unternehmen und uns keine Mühe geben und den Weg zum Himmel sehr leicht machen, durch Ablaß, durch leichte Lehren, etwa: daß ein Seufzen ausreiche. Und

371 372 373 374 375 376

Althaus, Theologie, 128f. Vgl. WA 31 I, 148, 1f; vgl. WA DB 7, 212, 4. Vgl. WA 56, 178, 24; 179, 13; vgl. Althaus, Theologie, 131. Vgl. WA 31 I, 438, 10; 434, 30. Roth, M., Willensfreiheit, 158. Professor am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Sozialethik an der Universität Mainz hat u. a. die lutherische Theologie und ihre Relevanz für die Gegenwart zum Forschungsschwerpunkt. In seinen Arbeiten – besonders in den Abhandlungen über die Sünde – wird deutlich, wie Roth stets von Luther aus denkt. In seinen Arbeiten übersetzt er insbesondere den Sündenbegriff für die Gegenwart und wendet ihn u. a. auf ethische Bereiche an – wohlbemerkt, unter einer sehr moralkritischen Perspektive. 377 Luther, M., Dictata in Psalmos, 13–22, zit. nach Slenczka, Cognitio, 221.

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hier hat Gott das, was nicht ist, erwählt, um das, was ist, zu zerstören. Denn wer von Herzen glaubt, daß er nichts sei, der glüht und eilt zur Besserung und zum Guten.“378

Demnach ist der Mensch nicht nur nicht fähig, „Böses“ durch die eigenen Maßstäbe zu überwinden, sondern es zeigt sich auch, dass die notwendige Erfahrung von Sünde, also „von Herzen zu glauben, nichts zu sein“, einer gewissen Passivität ausgesetzt ist und außerhalb menschlichen Ermessens ebenso steht wie die Überwindung derselben. Luther selbst liest die Worte der Schrift als Ausdruck der „Erfahrung […], welche Menschen in der Begegnung Gottes mit ihnen an sich selbst gemacht haben.“379 Ein Verstehen dessen, was Sünde bedeutet, erfolgt demnach nicht allein aus dem historischen Verstehen von biblischen Textstellen, sondern „ist nur möglich, wenn die zugrundeliegende Erfahrung thematisch wird und der Interpret in den gemeinsamen Erfahrungshorizont eintaucht“380 – was natürlich die Erfahrung dessen, was mit dem Begriff „Sünde“ zum Ausdruck gebracht wird, voraussetzt. Denn es geht um eine affektive Beteiligung, um ein Glühen, es geht darum, „innerlich berührt“381 zu werden, wie Notger Slenczka interpretiert. Luther war es, der um die Fühlbarkeit, also die Erfahrung der Sünde wusste, „nicht um das ‚cognoscere – Erkennen‘ des Sündersein, sondern um das ‚sentire – fühlen‘ geht es“382 . So „ist diese Erkenntnis der Sünde nicht irgendeine Betrachtung, oder ein Nachdenken, das der Geist sich einbildet, sondern es ist ein wahres Fühlen, eine wahre Erkenntnis und ein sehr schwerer Kampf des Herzens, wie bezeugt ist, wenn [David] sagt: ‚Ich erkenne meine Missetat‘, das heißt: Ich fühle sie, erfahre sie. […] Dies ist das Wesen des Menschen in der Theologie, […], daß der Mensch seine von den Sünden zerstörte Natur fühlt. Wenn das geschieht, folgt die Verzweiflung, die in die Hölle stößt.“383

Es geht also um eine grundsätzliche, innere, fühlbare Erfahrung, die sich in Begriffen wie „schwerer Kampf des Herzens“‚ „von den Sünden zerstörte Natur fühlen“ und „Verzweiflung, die in die Hölle stößt“ zum Ausdruck bringen lassen. Es zeigt sich, dass Sünde weit über moralisches Fehlverhalten hinausgeht, denn gerade in der Unterscheidung zwischen „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“ offenbart sich Unglaube ein Sich nicht verlassen können im wörtlichen Sinne. So 378 WA 55, 384, 13–22, zit. nach Slenczka, Cognitio, 221. 379 Althaus, Theologie, 129. 380 Roth, M., Homo incurvatus, 17. Siehe dazu Vgl. WA 10 III, 245, 11 und sekundär dazu auch Slenczka, Cognitio, 221f. 381 Slenczka, Cognitio, 221. 382 Slenczka, Anthropologie, 116. 383 WA 40/II, 313–470, zit. nach Slenczka, Anthropologie, 116.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

unterscheidet auch Luther in seinem Sermon von dem Sakrament der Buße (1519) „Sünde“ von den „groben Stücke[n] gegen Gottes Gebot […], wie etwa Ehebruch, Töten, Stehlen, Lügen, Verleumden, Betrügen, Hassen und dergleichen“384 . Luther zufolge ist Sünde nicht etwas, das der Mensch einfach zum Gegenstand seiner Reflexion machen könnte.385 Darin sind Sünde und „das Böse“ analog. Sünde ist etwas, „was immer auch gleich den Vollzug dieser Reflexion bestimmt und folglich den Gegenstand […] verstellt. Das Selbstverständnis des Menschen, gegen das sich Luther mit dieser Disputation richtet – nach dem der Mensch zur ethischen Vortrefflichkeit fähig und diese Freiheit zur ethischen Vortrefflichkeit heilsrelevant sei – ist damit selbst Ausdruck der Sünde des Menschen.“386

Hier zeigt sich, dass sich „das Böse“ im Verständnis Luthers nicht durch ethische Maßnahmen eindämmen lässt – er wendet sich insbesondere gegen die aristotelische Tugendethik –, gerade das macht ja das protestantische Verständnis aus: „Das Tun steht dem Menschen zu Gebote, nicht aber die für das Gutsein der Tat geforderte freudige Einstimmung in den göttlichen Willen. Es ist nach Luther für den Menschen außerhalb des Glaubens an das Evangelium wesentlich unentrinnbar, dass er versucht, sich selbst im Angesicht der göttlichen Rechenschaftsforderung zu konstituieren und zu stabilisieren.“387

Die reformatorische Tradition unterscheidet zwischen der peccatum originale (Ursünde), die in der peccatum actuale (sogenannte Tatsünde) sichtbar wird. Die Erfahrung ist ein Gefühl von Schuld in physischem und psychischem Ausmaß, das nicht so einfach zu erklären ist, das aber von den Mitmenschen trennt und zu einem Glaubensverlust führt und damit als Trennung von Gott gedeutet wird.388 Als peccatum originale, ist „Sünde“ zuerst etwas, das erfahren, etwas, das affektiv wahrgenommen wird und nicht zuerst rational. Was aber genau wird erfahren, wie lässt sich das vorstellen, was mit dem Gefühl der „zerstörten Natur“ zum Ausdruck gebracht wird? Offensichtlich wird ja, dass die Erfahrung der Sünde nicht (nur) in dem Erschrecken über das eigene Fehlverhalten besteht, sondern über sie hinaus reicht. Besonders erschreckend ist, des eigenen „Bösen“, der eigenen Abgründe

384 385 386 387 388

WA 2 713–723/Korsch, Studienausgabe, 96f. Vgl. Slenczka, Anthropologie, 96. Slenczka, Anthropologie, 96. Slenczka, Anthropologie, 104. Vgl. dazu auch Roth, M., Willensfreiheit, 154.

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oder eben der Sünde gewahr zu werden. Und damit befindet man sich nicht mehr auf der Ebene des Fehlverhaltens, der offensichtlichen Taten, sondern auf der Ebene des eigenen Seins, da wo die peccatum originale erfahrbar wird. Das, was wirkliche „Sünde“ ist, so Luther, „das ist dem Menschen nicht möglich zu erkennen.“389 Sünde ist folglich nicht nur zu entmoralisieren, wie sich mit Roth aufzeigen ließ, sondern sie ist als peccatum originale, auf einer existenziellen Ebene zu begreifen. Diese Ebene ist es, die Slenczkas390 Lutherdeutung herausstellt. Solcher Blick auf die Sünde, blickt auf eine Erfahrungswirklichkeit, die das tiefste Sein des Menschen, sein Selbst betrifft und damit als existenziell zu beschreiben ist. Sie kann aus dem Glauben als „Sünde“ gedeutet werden oder eben anders gesehen, denn die existenzielle Erfahrung des eigenen „Bösen“ selbst ist keine, die nur Christinnen und Christen vorbehalten bliebe. Es ist richtig, dass die mit „Sünde“ bezeichnete Erfahrung aus dem Glauben heraus mit dem Begriff „Gott“ in Beziehung gesetzt werden kann und für diejenigen hilfreich ist und sie sich damit identifizieren können, die in dieser Tradition stehen oder eine Verbindung zu ihr haben. Das „Selbstgefühl“391 ist „die Einführungssituation für den Begriff Gott‘“392 . „Wo ich mich als grundlegend bejaht oder umfassend missbilligt erfahre, da mache ich genau die Erfahrung, deren Woher die Tradition mit dem Begriff ‚Gott‘ zusammenfasst.“393 Slenczka zeigt, „dass die Rede des Glaubens über gegenständliche Gehalte eine Gestalt der Rede über sich selbst ist“394 . Das, was mit dem Begriff „Gott“ bezeichnet ist, zeigt sich auf praktischer Ebene, in einem bestimmten Lebensvollzug.395 Slenczka bringt auf den Punkt: „Wer erklären will, was Gott ist, muss diese Situation der Erwartung von Rettung und ihren intentionalen Sinn – d. h.: das darin vollzogene Ausgreifen auf etwas – beschreiben.“396 In dem Begriff „Gott“ spiegelt sich dann Gott als „Inbegriff alles Guten“397 wider, insofern „ein Mensch von ihm her alles Gute erwartet“398 . Wer

389 WA 2 713–723/Korsch, Studienausgabe, 721. 390 Der Berliner Theologe am Lehrstuhl der Systematischen Theologie (Dogmatik) Notger Slenczka verfolgt in seiner Auseinandersetzung mit der Soteriologie einen hermeneutischen Ansatz, in dem er von einer „zeitgenössischen Hörerschaft“, (Slenczka, Nondum, 164) ausgeht. Slenczka geht hier einem homiletischen Anliegen nach, was den Begriff der ‚Hörerschaft‘ erklärt. Sein gegenwartsbezogener Ansatz stellt sich jedoch in seinen Auseinandersetzungen zu der Sündenthematik als grundsätzlicher heraus, sodass sie sich für die vorliegende Fragestellung hinzuziehen lassen. 391 Slenczka, ‚Sich schämen‘, 258. 392 Slenczka, ‚Sich schämen‘, 258. 393 Slenczka, ‚Sich schämen‘, 259. 394 Slenczka, ‚Sich schämen‘, 241. 395 Vgl. Slenczka, ‚Sich schämen‘, 245. 396 Slenczka, ‚Sich schämen‘, 246. 397 Slenczka, ‚Sich schämen‘, 247. 398 Slenczka, ‚Sich schämen‘, 247.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

aber Gutes erwartet und sich nach einem absoluten Guten – was der Begriff der Hoffnung auf „alles Gute“ impliziert – sehnt, macht die Erfahrung von etwas „Bösem“ –, weil es im Zusammenhang mit dem so gedeuteten Gottesbegriff und damit in einem Zusammenhang mit einer Glaubensdimension steht: „Sünde“. Von dort aus konzipiert sich „Sünde“ nach Luther als Gegenteil von „Vertrauen“ (Glaube).399 Slenczka selbst geht nun so weit zu sagen, dass „dieses negative und positive Selbstverhältnis nicht anders zum Ausdruck gebracht werden kann [Hervorhebung v. Inderst] als unter Aufnahme des Begriffes ‚Gott‘“400 . Er begründet dies mit der Unmöglichkeit der Rationalisierbarkeit dieser Selbsterfahrung, weil in jener Erfahrung immer mehr erfahren werde, als in ihr gegeben sei. Deshalb ist es für Slenczka „nicht möglich […], dieses Selbstverhältnis […] phänomengerecht zu beschreiben, ohne […] mit dem Begriff ‚Gott‘ zu operieren.“401 Diese Ansicht ist nun allerdings zu problematisieren, gerade in der Gefängnisseelsorge: denn entweder würde das bedeuten, Gefangenen jene Selbsterfahrung abzusprechen, wenn sie zur Beschreibung ihrer Erfahrung nicht mit dem Gottesbegriff operieren wollen, oder aber es würde bedeuten, dass im Falle einer solchen durch den:die Gefangene:n induzierten Selbsterfahrung – wenn sie denn überhaupt erkannt würde, denn theoretisch könnte man sie ohne den Gottesbegriff nicht kommunizieren – zwangsläufig seitens des:der Seelsorger:in der Gottesbegriff eingespielt werden müsste. Das wird aber in dem Zuge problematisch, in dem Gefangene ihre Erfahrung eben nicht aus dem Glauben deuten (können/wollen). Die Erfahrung wäre dennoch da. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Glaubensdeutung hilfreich wäre, genauso ist sie aber auch nicht zwingend, denn an einem säkularen Ort wie dem Gefängnis ist damit zu rechnen, dass wenig mit religiösen Sprachcodes zu vermitteln ist. Deswegen ist die situativ existenzielle Erfahrung des gebrochenen Selbstverhältnisses zwar eine, die sich aus seelsorglicher Perspektive aus dem Glauben heraus deuten lässt und dann als Erfahrung „der Sünde“ aus dem Glauben heraus benennbar wird – als grundsätzlich bei Menschen vorkommende existentiale Erfahrung402 ist sie aber keine Erfahrung, die ausschließlich Christinnen und Christen zu eigen wäre.403 Dieser existenziellen Dimension von Sündenerfahrung kann man sich über die anthropologische Erfahrung der Scham annähern. Das Erkennen des eigenen „Bösen“ oder, wenn man so will, „der Sünde“ am Grunde des eigenen Seins, lässt sich besonders an dem Phänomen der Scham nach-

399 400 401 402

Vgl. Slenczka, Anthropologie, 93. Slenczka, ‚Sich schämen‘, 259. Slenczka, ‚Sich schämen‘, 259. Zur Unterscheidung von „existenziell“ und „existential“ siehe weiter unten in der Darstellung zu Wittekind. 403 Zur Problematik der Verwendung religiöser Sprache in der Gefängnisseelsorge siehe Kapitel 4.1.

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vollziehen, wie sie besonders durch Scheler404 und Sartre405 beschrieben wurde und das nun Slenczka mit dem Leben aus dem Glauben heraus deuten verbindet.406 Gleichzeitig ist „Scham“ kein dezidiert religiöser Begriff und zeigt auch eine Erfahrungswirklichkeit an, die nicht als „Sünde“ bezeichnet werden muss – in seiner entsprechenden Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Scham verwendet Slenczka selbst den Begriff „Sünde“ selbst denn auch kein einziges Mal. „Scham ist die Erfahrung des die Einheit mit sich selbst durchbrechenden Selbstwiderspruchs, in den die zur Zustimmung nötigende Missbilligung des anderen den Menschen versetzt.“407 Was ist damit gesagt? Zuerst verweist die Erfahrung von Scham auf das eigene Sein und das Missverhältnis zu diesem Sein, in das man gerückt werden kann. Dann aber hat, so Slenczka, offenbar auch der Blick anderer auf das Selbst etwas mit diesem erfahrenen Missverhältnis zu tun. Slenczka illustriert das, indem er zunächst aufruft, was physisch passiert, wenn wir uns schämen: Eine Person erröte sichtbar, an Hals, im oberen Brustbereich und besonders im Gesicht. Scham sei also nicht nur fühlbar für einen selbst, sondern auch für das Gegenüber sichtbar. „Scham hängt mit der Situation des Gesehenwerdens zusammen“408 . Dieses Erröten in einer Schamsituation verstärke sich häufig noch zu einer Schamsituation in doppelter Weise: „ich erröte, und weiß im Moment ohne jede weitere Reflexion, dass dieses Erröten, das ich gleichsam von innen an der Hitze meines Gesichtes spüre, auch von allen Umstehenden wahrgenommen wird – und mein Schamgefühl verstärkt sich.“409 Nun schäme man sich nicht bei jedem, zufälligen fremden Blick, sondern nur bei wertenden Blicken, genauer: einem missbilligenden wertenden Blick. Aber auch hier gelte: nicht jeder missbilligende Blick löst Scham aus. „Das Gefühl der Scham stellt sich vielmehr ein, wenn diese Missbilligung eben nicht auf Seiten des fremden Blickes bleibt. Der fremde Blick bleibt nicht fremd, sondern tritt gleichsam in mich ein und wird mein Blick auf mich selbst. Scham entspringt der Missbilligung, der wir beizutreten genötigt sind.“410 Damit habe Scham mit dem Phänomen zu tun, „dass der Blick des anderen mein eigener Blick auf mich selbst wird.“411

404 Vgl. dazu Scheler, Über Scham. 405 Sartre, Das Sein und das Nichts. 406 Der Gedanke Scham als Ausdruck von Selbstverfehlung zu denken und damit mit Sünde zusammenzubringen hat besonders Schmidt, Sünde hervorgehoben und ist also nicht abwegig. Diesen Zusammenhang zumindest angedacht hat auch Härle, Dogmatik, 486. 407 Slenczka, ‚Sich schämen‘, 252. 408 Slenczka, ‚Sich schämen‘, 250, so schon Sartre, Sein. 409 Slenczka, ‚Sich schämen‘, 250. 410 Slenczka, ‚Sich schämen‘, 251. 411 Slenczka, ‚Sich schämen‘, 251.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

„Scham hat es […] nicht nur mit dem fremden Blick, sondern mit einem Blick-Wechsel zu tun; sie ist die Erfahrung, dass der missbilligende fremde Blick mein Blick auf mich selbst wird und ich – ohne dem etwas entgegensetzen zu können – mich mit fremden Augen sehen und die fremde Missbilligung in mein Selbstverhältnis übernehmen muss.“412

Dadurch werde das eigene Selbstverhältnis erschüttert. Das ursprüngliche Urteil über einen selbst werde konterkariert, und zwar insofern, als dass man zunächst im Einklang mit sich gewesen sei, der nun gebrochen sei.413 Scham besteht dabei in einem Konflikt. „Scham entspringt der Unfähigkeit, ein anderer zu werden, in einem doppelten Sinne: Es ist zum einen die Unfähigkeit, sich als den Gegenstand des missbilligenden Blickes so zu ändern, dass die Missbilligung aufhört und man eins sein kann mit sich selbst; und es ist die Unfähigkeit, ganz eins zu werden mit dem Blick des anderen und so sich von sich selbst zu distanzieren.“414

Und es scheint deshalb nicht zu funktionieren, weil das eigene Selbst betroffen ist. Es geht nicht um einzelne Taten, sondern der Mensch erlebt ein Zurückgeworfensein auf sich selbst. So beobachtet auch Slenczka die eigentümliche Tendenz von Scham zur Verallgemeinerung: „Wer sich schämt, schämt sich nicht einer einzelnen Bemerkung oder eines Fehlers, die der Anlass der Beschämung sind, sondern schämt sich seiner selbst.“415 Das ließe sich auch daran festmachen, dass Schamerfahrungen oft mit Gefühlen der Selbstvernichtung verbunden seien, was etwa in der Wendung: „Ich hätte im Boden versinken können“ zum Ausdruck gebracht wird.416 In der Erfahrung der Scham rücken die Anlässe der Scham oder auch die Situation, in der sie steht, in den Hintergrund und hervor kommt das eigene Selbst. Scham „meint, unangesehen des meist geringfügigen Anlasses, mich ganz.“417 Von dort aus lässt sich diese Erfahrung und das damit verbundene Gefühl a) nicht wegrationalisieren, indem „der Beschämte sich klar macht, dass er nur vor einer begrenzten Menschengruppe steht und für einen begrenzten Fehler Missbilligung erfährt“418 , denn die Umstände und Umfelder verschwimmen mit dem Blick auf sich selbst. Sowenig man das, was im Zuge der Scham erfahren wird wegrationalisieren könnte, kann man b) diese existenzielle Erfahrung, das Zurückgeworfensein 412 413 414 415 416 417 418

Slenczka, ‚Sich schämen‘, 251. Vgl. Slenczka, ‚Sich schämen‘, 252. Slenczka, ‚Sich schämen‘, 254. Slenczka, ‚Sich schämen‘, 254. Vgl. Slenczka, ‚Sich schämen‘, 254. Slenczka, ‚Sich schämen‘, 254. Slenczka, ‚Sich schämen‘, 255.

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auf sich selbst, auch nicht „her rationalisieren“. „Ob jemand mit sich im Einklang ist oder in der beschriebenen Weise mit sich zerfallen ist, ist nicht in seine Hand gelegt.“419 Dass der Mensch hinsichtlich der Selbsterfahrung nicht autonom ist, zeigt sich besonders in der Scham, die passiert, insofern niemand vor Publikum entscheidet, schämend zu erröten.420 Mit Slenczka ist Scham als Beispiel für das Anzeigen „negative[r] Selbstverhältnisse“421 anzusehen. Scham ist ein anschaulicher Indikator dafür, „dass wir immer schon uns unserer selbst nur so bewusst sind, dass wir uns zugleich als ‚für andere‘ wissen und in unsere Bezugnahme auf uns selbst diese Fremdperspektive immer schon integriert haben.“422 Damit meint Slenczka nicht, dass wir unser Verhalten immer darauf hin reflektieren, was andere darüber denken könnten, sondern, „in der unmittelbaren Selbstwahrnehmung ist eigentümlicherweise immer schon der fremde Blick aufgenommen“423 . Das, was also in einer Erfahrung, in einem Geschehen zu einem negativen Selbstverhältnis führt, betrifft scheinbar immer das Selbst und darüber auch die Beziehung zu anderen, durch deren Blick man sich selbst sieht. Aus Perspektive der Seelsorge kann man nun Analogien zwischen negativen Selbstverhältnissen und derjenigen existenziellen Erfahrung, die mit dem Begriff „Sünde“ zum Ausdruck gebracht ist, feststellen. Im Falle der Scham (als negatives Selbstverhältnis) lässt sich das folgendermaßen nachvollziehen: Genau wie bei dem Phänomen der peccatum originale verweist auch Scham auf den ganzen Menschen, der sich nicht wegen einzelner Fehlverhalten oder einer bestimmten Situation wegen schämt. Solche Situationen sind nur Auslöser dafür, sich für sich selbst und generell zu schämen. „Scham“ ist dennoch nicht allein durch sich selbst induziert, sondern ist bezogen auf den Blick durch die Andere oder den Anderen und ist dadurch Beziehungsbegriff. Auch „Sünde“ stellte sich als Beziehungsbegriff heraus, insofern sie als Beziehungsstörung sichtbar wird. Als Gefühl stellt sich Scham als passives Geschehen heraus. Sie ist weder auf rationalem Wege zu überwinden noch lässt sie sich rein rational bewirken. Was bedeutet das für das Sündenverständnis in der seelsorglichen Praxis? Müsste nun ein:e Seelsorger:in im Gefängnis, wenn er:sie mit Erzählungen von Schamerfahrungen (oder eben anderen Erfahrungen negativer Selbstverhältnisse, wie beispielsweise der Schuld) konfrontiert wird, jene mit dem Sündenbegriff übersetzen? Denn als Theologin bzw. Theologe, wäre der:die Seelsorger:in, so könnte man annehmen, auf den dogmatischen Begriff der „Sünde“ angewiesen. Das bedarf 419 420 421 422 423

Slenczka, ‚Sich schämen‘, 257f. Vgl. Slenczka, ‚Sich schämen‘, 258. Slenczka, ‚Sich schämen‘, 255. Slenczka, ‚Sich schämen‘, 256. Slenczka, ‚Sich schämen‘, 256.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

der Ausführung, weshalb ich kurz auf das Sündenverständnis Folkart Wittekinds eingehe. Mit ihm lässt sich argumentieren, dass nicht alle gehörten, schrecklichen Erfahrungen im Kontext der Seelsorge mit dem Begriff „Sünde“ zu übersetzen sind, woraus folgt, dass auch „die Sünde“ – genau wie „das Böse“ – nicht als Existential, sondern höchstens als existenzielle Erfahrung gedacht werden kann. Auffällig ist, dass Wittekind seinen systematischen Grundriss als Theologie religiöser Rede424 aufbaut und er in jenem systematischen Grundriss „Sünde und Versöhnung“425 in seinem „Epilegomena“426 abhandelt, die dadurch als „Anhang“ zum Rest materialdogmatischer Begriffe gedacht sind, jedoch nicht gänzlich ausgegliedert werden. Vielmehr macht Wittekind schon rein formal deutlich, dass er Sünde und Versöhnung nicht dezidiert christlich-religiös begreift. Wie schon der Titel seines systematischen Grundrisses verrät, interessieren Wittekind die dogmatischen Themen (Gott, Christus, Heiliger Geist, Erlösung, Sünde und Versöhnung, Tod und ewiges Leben) als Teil religiöser Rede und damit kommunikationstheoretisch. Wittekind geht davon aus, „dass die Wissenschaftlichkeit der Theologie nicht durch Rückbezug auf religiöse Erfahrungen, Erlebnisse oder Gewissheiten hergestellt werden kann. Denn nur die nachgewiesene Allgemeingültigkeit solcher Erfahrungen könnte die Theologie als Wissenschaft tragen. Doch einerseits müssten dann unreligiöse Selbstdeutungen von Menschen für unmöglich und selbstwidersprüchlich erklärt und bewusst umgedeutet werden. Dieses Vorgehen ist angesichts der fortgeschrittenen Pluralisierung jedoch obsolet. Wird religiöse Erfahrung aber andererseits als nur individuell angesehen, ist es nachfolgend nicht mehr möglich, Theologie als allgemeine, von allen Menschen prinzipiell nachvollziehbare Wissenschaft aufzufassen.“427

Daraus folgt, dass Erfahrungen nicht generell als religiöse zu verstehen sind, weil es denjenigen nicht entsprechen würde, die ihre Erfahrungen nicht als religiös deuten. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist es für Wittekind jedoch genauso schwierig, religiöse Erfahrungen allein als individuelle – also beliebige – zu denken, weil Theologie dann im Grunde nicht mehr wissenschaftlich sein könnte. Deshalb erklärt Wittekind die Frage zur theologischen Aufgabe, wann ein religiöser Begriff religiös ist. Theologie habe ausschließlich zu untersuchen, ob religiöse Rede religiöse Rede ist.428 Wittekind zufolge geht es in der Theologie „um das Verstehen sprachlicher

424 425 426 427 428

Zu folgendem Absatz Wittekind, Theologie. Wittekind, Theologie, 290. Wittekind, Theologie, 265–319. Wittekind, Theologie, 7. Vgl. Wittekind, Theologie, 8.

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Darstellungs- und Kommunikationsweisen des Glaubens“429 , sodass „Theologische Wissenschaft […] also eine christlich-religiöse Sprachwissenschaft [ist].“430 Religiöse Sprache und Symbole „sind nicht nur Ausdrucksformen und Zeichen für eine hinter ihnen liegende Wirklichkeit (Gottes oder Glaubenssubjektes). Vielmehr sind die Symbole oder Zeichen der alleinige Ort, an dem diese ‚Wirklichkeiten‘ gegeben sind.“431 Für Wittekind sind die Begriffe „Sünde“ und „Vergebung“ demnach nicht als material-dogmatische Begriffe zwingend notwendig, um sich christlich verstehen zu können. Um sich als christlich verstehen zu können, braucht es „die Lehre von Christus“432 , weil darauf logischerweise das Christentum aufbaut, sodass Wittekind diesen Teil unter der Kategorie der „Materiale[n] Theologie christlicher Rede“433 abhandelt. Damit stellt Wittekind die Vorstellung eines „religionsphilosophisch als Vermögen des menschlichen Bewusstseins konstruierten Religionsbegriffs“434 auf den Kopf und verzichtet damit „auf einen Allgemeinbegriff von Religion zur Beschreibung des Christentums […]. Das Christentum ist eine eigenständige Weise der Erzählung des Menschen von dem (religiösen) Sinn seines Lebens, die sich erhalten hat neben den sich ausdifferenzierenden anderen Weisen kultureller Weltgestaltung“435 . Wendet man Wittekinds Argumentation nun auf die Seelsorgesituation im Gefängnis an, in der das Gegenüber von – um es hier mit Slenczka zu formulieren – seinem negativen Selbstverhältnis erzählt, dann bedeutet das, dass diese Erfahrung eben nicht generell als Sünde verstanden werden müsste. „Sünde“ wird demnach nur zu einem religiösen Begriff, wenn die Person, die ihn verwendet, einen Religionsbezug selbst mitdenkt. Das bedeutet auch, dass Seelsorger:innen, die die Situationen eben aus ihrem Glaubenskontext heraus deuten, die gehörte Erfahrung durchaus als Sünde deuten können, allerdings nur in ihrem eigenen Sprachkontext. Die gehörte Erfahrung kann demnach als „Sünde“ bezeichnet werden, ohne dass die Erfahrung „die Sünde“ wäre. Von hieraus ist mit Wittekind Sünde eben nicht als Existential zu deuten, sodass Sünde genauso wenig ontisch gedacht werden kann, wie „das Böse“: Menschen sind eben nicht alle „Sünder:innen“, weil eben nicht alle ihre Erfahrungen aus christlichen Kontexten heraus deuten und zum Ausdruck bringen. „Sünde“ wird eigentlich erst zu einer solchen, soweit sie „in der Soteriologie religiös gedeutet wird“436 und

429 430 431 432 433 434 435 436

Wittekind, Theologie, 24. Wittekind, Theologie, 24. Wittekind, Theologie, 73. Wittekind, Theologie, 133. Wittekind, Theologie, 75. Wittekind, Theologie, 29. Wittekind, Theologie, 29. Wittekind, Theologie, 293.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

deshalb „unterscheidet sie sich […] auch von der anthropologischen Bedeutung des Begriffs“437 . „Sünde“ wird also erst zur „Sünde“, wenn eine Erfahrung aus dem christlichen Glaubenskontext heraus als solche gedeutet und bezeichnet wird. Deshalb hat Theologie, nach Wittekind, auch zur Aufgabe zu untersuchen, wann „Sünde“ in der religiösen Rede sinnvoll verwendet wird und nicht etwa, worin die Erfahrung, der Inhalt des Begriffs, genau besteht. „Sünde im religiösen Verständnis behaftet jeden Menschen bei seiner Verantwortung für das Gelingen religiöser Rede, aber innerhalb ihrer. Das Nichtgelingen religiöser Rede ist deshalb im Kontext der Sünde nicht Unglauben und die Abwendung des Menschen von Gott, sondern, es ist das Fehlen bzw. überwiegende Fehlen des Verstehens des Ansprachemoments religiöser Rede.“438

Von da aus definiert Wittekind Sünde „als fehlende Leichtigkeit, die Anrede in der religiösen Kommunikation zu erleben als Herstellung des eigenen religiösen Subjekts.“439 Über Wittekind hinaus ist für die Seelsorge nicht allein interessant, wann religiöse Rede religiöse Rede ist, sondern wann religiöse zu einer solchen wird, dass sie seelsorglich ist. Diese, in Kapitel 4.3 zu behandelnde Frage kann mit Wittekind aus systematisch-theologischer Perspektive vorbereitet werden, ist für die Praxis jedoch ergänzungsbedürftig: Die Stärke von Wittekinds Argumentation für die theologische Praxis der Seelsorge liegt darin, nicht den Anspruch haben zu müssen, gehörte Erfahrungen als „Sünde“ (für das Gegenüber) plausibel machen zu müssen, weil sich mit Wittekind begründen lässt, dass „Sünde“ nicht an sich ist, sondern Erfahrungen als „Sünde“ gedeutet werden müssen. Der:die Seelsorger:in kommt also nicht in die Lage, dem Gegenüber zu erklären, dass das, was es dort erfährt und beschreibt, ja eigentlich „Sünde“ wäre. Gleichwohl kann der:die Seelsorger:in, weil er:sie sich in ihrem theologischen Kontext befindet, das Erzählte und Gehörte für sich – also im Hintergrund – als „Sünde“ deuten. In der Stärke der wittekindschen Argumentation liegt gleichzeitig ihre Schwäche. Denn besonders im Gefängnis zeigt sich, dass Seelsorger:innen mit solchen Situationen konfrontiert werden, die in ihrer Abgründigkeit sich jeglichen Deutungsversuchen entziehen und zunächst instinktiv mit solchen Chiffren wie „Sünde“ (oder „das Böse“) belegt werden. Wenn „Sünde“ rein begrifflich gedacht wird und jede Auseinandersetzung mit Erfahrungen, die eben mit „Sünde“ ausgedrückt werden, für die wissenschaftliche Theologie uninteressant werden soll, dann stellt sich die

437 Wittekind, Theologie, 293. 438 Wittekind, Theologie, 293. 439 Wittekind, Theologie, 293.

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Frage, wie denn in der theologischen Praxis – besonders in der Gefängnisseelsorge – mit solchen Erfahrungen umgegangen werden soll. Für Seelsorger:innen kann es nämlich durchaus von hoher Relevanz werden, das Gehörte für sich – hintergründig – mit „Sünde“ zu deuten und darüber die Erfahrung mit ihrer Glaubensperspektive zu verbinden. In der konkreten Seelsorge geht es um weitaus mehr, als zu überlegen, ob, wann und warum religiös geredet oder eben nicht geredet wird. Wittekinds Ansatz folgend müsste man sagen, Seelsorger:innen würden sich in ihrer Rede und ihrem Deuten nicht von z. B. therapeutischen Deutungen und Reden unterscheiden. Auf rein formaler Ebene, also auf der Ebene der Rede, mag das stimmen. In der seelsorglichen Praxis und Perspektive erweist sich die Deutung von Sünde jedoch nicht so losgelöst von Erfahrungswirklichkeiten, wie Wittekind suggeriert. Hier offenbaren sich Erfahrungen, die in ihrer Drastik weit mehr sind, als eine „fehlende Leichtigkeit, die Anrede in der religiösen Kommunikation zu erleben“ (s.o.). Nur deshalb doch, weil Seelsorger:innen die Erfahrung dessen, was sie selbst als „Sünde“ deuten, eben als solche deuten (ruhig hintergründig), also mit ihrer Glaubensdimension verbinden, wird Seelsorge erst zur Seelsorge, die eben weit über jede Therapie hinausgeht, indem das Gegenüber weiterhin begleitet wird, trotz seines Sünderseins, sodass ein „austherapiert sein“ oder „nicht resozialisierbar“ eben nicht für die Seelsorge gilt. Dennoch lässt sich mit Wittekind an das anknüpfen und bestärken, was in der Abhandlung der Schamthematik aufgezeigt wurde: Das, was gesehen wird, das, wovor man erschrickt, lässt sich religiös gedeutet auf den Begriff „Sünde“ bringen, ohne dass die Erfahrung als Sünde im ontischen Sinne aufgeht. Wichtig, in Bezug auf das Phänomen der Sünde und mit Luther und Slenczka wiederum über Wittekind hinausgehend, scheint die Erfahrung zu sein, sich selbst zu sehen, und zwar auf die Seite zu blicken, die womöglich in dem Moment des Sehens von einem selbst als „böse“ oder „schrecklich“ oder in irgendeiner Weise unzuträglich bewertet wird und dadurch zu ein einem gebrochenen Verhältnis zu sich selbst führt. Diese Erfahrungsdimension der Sünde erweist sich auch in der Praxis der (Gefängnis-) Seelsorge. So reflektiert auch der Gefängnisseelsorger Brandner: „Die Kernerfahrung von Sünde ist eine Entfremdungserfahrung, das Gefühl, unsere Bestimmung, dem, was sein könnte und was wir sein könnten, weit entfernt zu sein. Es ist die Erfahrung von Gebrochenheit, nicht so zu sein, wie wir zu sein hofften und als richtig ansahen. Diese Dimension von Sünde drückt sich aus in der Unfähigkeit zu lieben und Liebe zu empfangen, im Mangel an Selbstliebe und Selbstwertschätzung, im Mangel an Vertrauen und Hoffnung. Die existentielle Dimension der Sünde ist letztlich deren tiefste und grundsätzlichste Form.“440

440 Brandner, Gottesbegegnungen, 252f.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

In der praktischen Seelsorge kommt durchaus vor, dass sich im Gespräch herausstellt, dass die Person mehr glaubt – also hofft und vertraut –, als sie angenommen hat. Den Teil der erfahrenen existenziellen Schuld, der sich jedem menschlich Fassbaren und Kontrollierbarem entzieht, der Verzweiflung schürt und trotzdem auf Vergebung hoffen lässt, der Teil hat dann mit einer Glaubensdimension zu tun und kann mit dem Begriff der „Sünde“ ausgedeutet werden. Wenn dies der Fall sein sollte, dann ist es möglich, dass Seelsorge diese Erfahrung mit religiösen Codes benennt – jedoch nur, wenn sich dies für das Gegenüber gerade als Mehrwert, als hilfreich anzeigt und um die Möglichkeit des Gottesbegriffs darzustellen, der sich beim Gegenüber erst zu entfalten beginnt – und nicht umgekehrt, dass die Verwendung des Gottesbegriffs automatisch eine Glaubenserfahrung bewirkt. Das scheint auch die oben problematisierte Aussage Slenczkas eigentlich zu induzieren. Denn er sagt weiter: „Wenn ich wissen will, was genau der Begriff ‚Gott‘ bezeichnet, kann ich mit der Schreibung dieser Situation der fremdinduzierten Selbstbewertung einsetzen […]. Der traditionelle Begriff ‚Gott‘ erschließt sich als zusammenfassende Formulierung dessen, was wir in dieser Situation erfahren.“441 Von hier aus kann dann auch die Pointe eingetragen werden, die mit dem Sündenbegriff in der Tradition Luthers verbunden ist, nämlich die Rede von der Vergebung. 3.3.2.2 Vergebung

In der Gefängnisseelsorge wird klar, dass simple Vergebungsszenarien wie Karin Scheiber innerhalb ihrer systematisch-theologischen Untersuchung von „Vergebung“ aufzeigt, nicht ohne Weiteres greifen. Wer kann vergeben, wer ist dazu berechtigt? Darf Gott vergeben?442 Mit Dostojewski schildert Karin Scheiber das Szenario, in dem ein General einen achtjährigen Jungen von seinen Hunden zerreißen lässt.443 Was würde die Mutter sagen, wenn sie mitbekäme, dass jemand dem General die Vergebung Gottes zusagen würde? Wäre sie zornig, weil Gott jemandem vergibt, dem sie nicht vergeben kann? Dürfte sie dem Täter vergeben? Ist allein das Opfer – das verstorbene Kind – berechtigt zu vergeben? Ist Vergebung durch Nichtbetroffene nicht unmöglich und anmaßend? Scheiber meint, wenn gälte, dass nur das direkte Opfer einer Tat diese vergeben darf, müsse von einem Gottesbild ausgegangen werden, in dem Gott Vergebung nur gewähre, wenn er selbst von der Verletzung, die der Mensch erfahren hat, mitbetroffen sei. Wenn der Mensch nicht entmündigt verstanden werden will,

441 Slenczka, ‚Sich schämen, 259. 442 Vgl. Scheiber, Vergebung, 25. 443 Vgl. Dostojewski, Die Brüder, 327f.

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dann müsse Gott als zu dem menschlichen Opfer zusätzlich Betroffener gedacht werden, dessen Vergebung neben die des Opfers trete – er ersetze sie nicht.444 Auch im zwischenmenschlichen Bereich gibt es moralische Verletzungen, von denen mehrere Personen betroffen sein können. Die jeweiligen Personen dürften dann diejenigen Verletzungen vergeben, die ihnen selbst widerfahren seien. Die Mutter des von den Hunden getöteten Jungen dürfte ihr Mutterleid vergeben, jedoch nicht die Verletzungen ihres Sohnes. Die Mutter sei deshalb mitbetroffen, weil sie ihren Sohn liebe, weil sie in einer engen Beziehung zu ihm stehe.445 Übertragen auf das Gottesbild bedeute dies, dass von Gottes Liebe zu den Menschen ausgegangen werde. „Gottes Liebe zum Menschen [bildet] den Ausgangspunkt für das Verständnis von Gottes Vergebungszuständigkeit“446 . Weil davon ausgegangen werde, dass Gott jeden Menschen liebt, sei seine Mitbetroffenheit in verstärkter Form zu denken – anders bei der Mutter, die den General wahrscheinlich nicht liebe, ihm aber unter Umständen trotzdem vergeben könne. „Die Tatsache, dass Gott zum Opfer und zum Urheber der Verletzung in einer liebenden Beziehung steht, bewirkt, dass die Verletzung eine umso größere Störung der Beziehung zwischen Gott und dem Urheber der Verletzung hervorruft.“447 Von dort aus gelangt Scheiber zu dem Schluss, dass Gott zwar nicht als Richter vergebe, wohl aber in persönlicher Beziehung.448 Die Frage, ob Gott vergibt, ist Scheiber zufolge unbiblisch, weil Gott es einfach tue.449 Aus seelsorglicher Perspektive ist Scheibers Darstellung der Vergebung Gottes kritisch zu hinterfragen. Die Schwierigkeit zeigt sich zunächst in ganz praktischen Fällen. Was kommt bei einer Mutter an, deren Tochter Opfer von Gewalttaten wurde, wenn ihr mitgeteilt würde, Gott habe dem Täter vergeben, weil er auf eine bestimmte Art auch mitbetroffen sei. Sie würde Gott wohl kaum als den ansehen, der sie tröstet. Näher liegt ihre wütende und nachvollziehbare Frage, auf wessen Seite Gott nun eigentlich steht. Denn es scheint eher so zu sein, wie Lévinas – auf den Scheiber selbst Bezug nimmt – mit Bezug auf das Judentum ausführt: „Die jüdische Weisheit lehrt, daß Der, der das ganze Universum erschaffen hat und trägt, das Verbrechen, das der Mensch am Menschen begeht, nicht tragen, nicht vergeben kann. […] Die Schuld gegenüber Gott untersteht der göttlichen Vergebung, die Schuld aber, die den Menschen beleidigt, untersteht Gott nicht. […] Das Böse ist kein mystisches Prinzip, das sich durch einen Ritus auslöschen läßt, es ist eine Beleidigung, die der Mensch dem

444 445 446 447 448 449

Vgl. Scheiber, Vergebung, 31f, vgl. Gingell, Forgiveness, 182f. Vgl. Scheiber, Vergebung, 32. Scheiber, Vergebung, 33. Lévinas, Religion für Erwachsene, 32f; vgl. Scheiber, Vergebung, 34. Vgl. Scheiber, Vergebung, 34f. Vgl. Scheiber, Vergebung, 35.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

Menschen antut. Niemand, nichteinmal Gott, kann sich an die Stelle des Opfers setzen. Die Welt, in der die Vergebung allmächtig ist, wird unmenschlich.“450

Deswegen ist wiederum schlüssig, mit Scheiber zu sagen, dass solche Aussagen und Fragen danach, ob Gott vergeben darf, „Gott“ nicht als Begriff behandeln, sondern versuchen, generelle Aussagen über den wahren Gott machen wollten, zu dem es aber keinen Zugang gebe. Dagegen seien „Christliche Aussagen über Gott […] nicht zu verstehen als Festschreibungen Gottes, sondern als Aussagen darüber, als wer Gott in der Vergangenheit erfahren wurde und als wer er sich – der Erwartung nach – auch in Zukunft erweisen wird.“451 Scheibers Ansatz bleibt dann aber fragwürdig, weil doch auch ein einfaches „Gott macht das eben so“ (s.o.) – als generelle Aussage über Gott – nicht haltbar ist, vor allem nicht für die verletzte Mutter, der sich das Leid ihres Kindes offenbarte. Denn es scheint doch genau um die Unterscheidung zu gehen, und zwar a) der zwischenmenschlichen Vergebung, die Gott genau nicht stellvertretend vergeben kann, weil dann die Vergebungsgewährung seitens des Opfers fehlen würde. Das Opfer bliebe von der Erfahrung der Vergebungsgewährung und Beziehungserneuerung ausgeschlossen, sodass faktisch keine zwischenmenschliche Beziehungserneuerung und also Vergebung vorliegen würde. Und b) geht es um eine andere Vergebungserfahrung – die sich als „Vergebung Gottes“ zum Ausdruck bringen lässt. Hier lässt sich wiederum Luther zurate ziehen in der Frage, worin die Vergebung Gottes besteht. Entsprechend Luthers Sündenverständnis, ist die Vergebung Gottes ebenfalls auf der Ebene der Erfahrung zu suchen. Was wird erfahren, wenn Vergebung erfahren wird? Luther dazu: „Die Vergebung der Schuld oder der himmlische Ablass legt aber Furcht und Unverstand des Herzens Gott gegenüber ab und macht das Gewissen innerlich leicht und fröhlich, versöhnt den Menschen mit Gott. Und das heißt wesentlich und richtig die Sünde vergeben: dass den Menschen seine Sünden nicht mehr quälen oder unruhig machen, sondern ihn eine fröhliche Zuversicht erfüllt, sie seien von Gott immer und ewig vergeben.“452

Deutlich wird: Vergebung verbleibt nicht auf rationaler Ebene, es ist also nicht so, dass man von Gottes Vergebung hören würde und nun könne man glauben und von da aus fühlen, dass einem die Sünden schon vergeben werden. Eher scheint es umgekehrt zu sein: wenn einen die Sünden nicht mehr quälen und beunruhigen,

450 Lévinas, Religion für Erwachsene, 32f. 451 Scheiber, Vergebung, 41. 452 WA 2, 714/Korsch, Studienausgabe, 81.

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sondern stattdessen Zuversicht erfüllt, dann ist dies aus dem Glauben zu deuten mit der Vergebung Gottes. Damit geht die Vergebungserfahrung, die religiös bezeichnete „Sündenvergebung“, über die Erfahrung der zwischenmenschlichen hinaus. Sie ereignet sich in der Erfahrung, sich selbst ohne Scham als selbst annehmen zu können, in dem Glauben, dass ein Neuanfang trotz der Schuld, trotz des eigenen Seins, das anzublicken einem Blick in die Hölle gleicht, möglich ist, und das Leben nicht von den Taten abhängt, sondern in dem Vertrauen der eigenen Daseinsberechtigung, ja sogar im trotzdem Geliebtwerden – im Gottvertrauen. Dem voraus geht allerdings die Erfahrung der eigenen Sünde, das „innerliche Berührtsein“ (s.o.), die einem passiert, die geschieht, die eben nicht durch Werke erreicht wird. Und genauso passiv ist auch die Erfahrung von der Vergebung der Sünden: „Zu einer solchen Vergebung der Schuld und dazu dem Herzen Ruhe zu verschaffen vor den Sünden, gibt es mancherlei Wege und Weisen. […] Das ist alles umsonst und ein Irrtum. Es wird dadurch viel ärger, denn Gott muss selbst die Sünden vergeben und dem Herzen Frieden geben.“453

Bereits vor Beginn der Reformation prophezeit Luther „die Erfolglosigkeit der Bußpredigt und die Gleichgültigkeit ihr gegenüber.“454 Dennoch ist das „heilige Sakrament der Buße“455 Luther zufolge „der rechte Weg und die richtige Weise, ohne die keine Vergebung zu finden ist“456 . Die Buße bleibt ohne Glauben aber wirkungslos. „Nicht das Sakrament, sondern der Glaube, der das Sakrament glaubt, kehrt die Sünde ab.“457 In der Gefängnisseelsorge könnte der:die Seelsorger:in also zwar formulieren, dass Gott die Schuld vergibt, doch ohne den Glauben als Vertrauen daran – oder noch schärfer: ohne die Erfahrung dessen seitens der Seelsorge suchenden Person – bliebe dieser Zuspruch wirkungslos. Die Erfahrung ist passiv, sie ist ein Geschehnis.458

453 WA 2, 714/Korsch, Studienausgabe, 81. 454 Slenczka, Cognitio, 222. Luther versucht wiederum selbst, den Menschen dahin zu bewegen, dass er zu seiner eigenen Abgründigkeit findet: „klage wenigstens darüber, daß du es nicht beklagen kannst, erniedrige dich, daß du nicht erniedrigt sein kannst, fürchte dich, weil du dich nicht fürchten kannst“ (Luther, M., Dictata, WA 55, 403, 580–586). 455 WA 2, 715/Korsch, Studienausgabe, 81. 456 WA 2, 715/Korsch, Studienausgabe, 81. 457 WA 2, 715/Korsch, Studienausgabe, 83. 458 Für Luther stand der Trost des Gewissens im Vordergrund der Seelsorge, später bei Calvin die christliche Erziehung. Seelsorge wird bei ihm als Anleitung für die Besserung christlichen Lebens verstanden, (vgl. auch Eschmann, Sünde, 142). Die Absolution – so wird hier vermittelt – kann nur von Gott kommen, nicht vom Menschen.

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Mit Slenczka lässt sich dies nochmal verdeutlichen: Ihm zufolge hängt „[d]ie Bewältigung der Sünde […] in der Tat am Glauben, […], so aber, dass dieser Glaube in keiner Weise den Charakter einer zu erbringenden Bedingung hat. Die Sünde ist nicht vergeben unter der Bedingung, dass der Mensch glaubt, sondern die Vergebung ist darin wirksam, dass sie in der Eröffnung eines neuen Selbstverständnisses den Menschen aus der Hölle seines Identitätsbewusstseins befreit.“459

Slenczka schreibt sehr bildhaft von der Erfahrung des Erschreckens vor den eigenen Abgründen, indem er sie in die Metapher der „Hölle“ fasst. Zugleich bezeichnet er sie als Bewusstwerdung der eigenen Identität. Es geht hier nicht um irgendeinen Fehltritt, ein Missgeschick oder eine Tat, es geht um die Identität, um das eigene Sein, um den Preis der eigenen Existenz: Dich gibt es so und eben nicht anders. So formuliert legt es sich, trotz des großen zeitlichen Abstands, der gänzlich anderen wissenschaftstheoretischen Zugangsweise und der unterschiedlichen Programmatik, nahe, an dieser Stelle kurz auf Paul Tillichs Verständnis von „Vergebung“ einzugehen. Tillich zufolge besteht die „göttliche[…] Vergebung“460 in „dem Mut zum Sein“461 , das ist: „der Mut, uns anzunehmen als angenommen trotz unserer Unannehmbarkeit.“462 In der für Tillich geradezu typischen Wortwahl „trotzdem“463 oder an anderer Stelle „dennoch“464 stellt sich die Vergebung als Erfahrung heraus, die uns „trifft […], wenn wir in großer Qual und Unruhe sind“465 . Doch zunächst zu Tillichs Sündenverständnis, das an das bisher Gesagte sehr anschlussfähig ist: Auch Tillich entmoralisiert „Sünde“: „Begreifen wir noch, daß das Wort ‚Sünde‘ niemals einen unmoralischen Akt meint, daß das Wort ‚Sünde‘ niemals im Plural gebraucht werden sollte und daß nicht nur unsere Sünden, sondern vielmehr unsere Sünde das große, alles durchdringende Problem unseres Lebens ist?“466 „Sünde“ „ist in jedem Augenblick der moralischen Erfahrung gegenwärtig und kann zu völliger Selbstverurteilung treiben – zu dem Gefühl des Verdammtseins nicht durch äußere Bestrafung, sondern durch die Verzweiflung darüber, die eigene Bestimmung verloren zu haben.“467 Sünde werde man sich in

459 460 461 462 463 464 465 466 467

Slenczka, In ipsa fide, 174f. Tillich, GW XI, 122. GW XI, 122. GW XI, 123 [Hervorhebung v. Inderst]. GW XI, 125. Tillich, RR I, 144 und ff. RR I, 152. RR I, 145. GW XI, 47.

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der Erfahrung der völligen Verzweiflung gewahr. Verzweiflung ist eine „Grenzsituation“468 , in der Hoffnungslosigkeit erfahren wird. Tillich rekrutiert hier ebenfalls auf eine gefühlte Erfahrung: „das Nichtsein wird als Sieger empfunden“469 , das heißt, man fühlt die Hoffnungslosigkeit. „Der Schmerz der Verzweiflung besteht darin, daß ein Sein seiner selbst bewußt wird als unfähig, sich gegen die Macht des Nichtseins zu bejahen.“470 Damit trifft auch nach Tillich Sünde das tiefste Selbst. Die Erfahrung der „Entfremdung“ von uns selbst beschreibt Tillich mit „dem erschreckenden Gefühl, von einer fremden Macht beherrscht zu sein“471 . Der Mensch nimmt eine tiefe Zweideutigkeit seiner Selbst wahr, „die Verflochtenheit von Gut und Böse, durchdringt alles, was er tut, denn sie durchdringt sein persönliches Sein als solches.“472 Damit ist für Tillich Sünde ein Existential und betrifft den „Menschen als Menschen“473 . Und nun zu Tillichs „Trotzdem“/„Dennoch“: Tillich zufolge ist auch die Gnade ein passives Ereignis, also ein Geschehen. Sie besteht in der Selbstbejahung, die „von allen moralischen, intellektuellen oder religiösen Voraussetzungen unabhängig“474 ist.475 „Gnade ereignet sich, oder sie ereignet sich nicht. Und gewiß ereignet sie sich nicht, wenn wir versuchen, uns zu ihr zu zwingen, wie sie sich auch nicht ereignen wird, solange wir glauben, daß wir sie nicht brauchen.“476 Besser als mit Tillich lässt sich dieses Geschehen kaum ausdrücken: „Gnade trifft uns“477 . Die Erfahrung ist „als ob eine Stimme sagte: ‚Du bist dennoch bejaht!‘“478 Dieses „dennoch“ führt Sünde und Gnade zusammen und bildet die Erfahrungswirklichkeit, trotz beider Seiten, eben in besagter „Verflochtenheit von Gut und Böse am Grunde des Selbst“ da sein zu dürfen – sich bejaht zu erfahren und sich ganz, sein ganzes Selbst, sich Mensch als Mensch annehmen zu können. Die Formulierungen „trotzdem“/„dennoch“ sind deshalb so stark, weil durch sie die Schuld nicht relativiert oder aufgehoben, sondern sehr ernst genommen wird. Die ‚Sünde‘ als „Trennung zwischen den Menschen, […] Trennung von sich selbst“479 ist „Schicksal und Schuld“480 und sie ist nicht aufgehoben, denn 468 469 470 471 472 473 474 475 476 477 478 479 480

GW XI, 48. GW XI, 48. GW XI, 48. RR I, 150. GW XI, 46. GW XI, 48. GW XI, 123. Vgl. RR I, 152. RR I, 151. RR I, 152 [Hervorhebung v. Inderst]. RR I, 152. RR I, 145. RR I, 145.

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das würde verhindern, „Schuld in seine Selbstbejahung hineinzunehmen.“481 Der Erfahrung der Gnade geht zwangsläufig die Erfahrung der Sünde voraus.482 Und die Erfahrung der Sünde ist so essenziell, dass sie nicht einfach zu entschuldigen wäre oder gerechtfertigt oder in irgendwelche Kausalitätszusammenhänge gestellt oder ignoriert werden könnte. Tillich verweist schon hier auf den Zusammenhang, dass ein Schuldgefühl unabdingbar ist für die Erfahrung von Vergebung, sodass Schuld unbedingt ernstgenommen werden muss (weiter ausgeführt im Folgeabschnitt 3.3.2.3). Die Erfahrung, trotzdem leben zu können, trotzdem leben zu dürfen und sich trotzdem als angenommen zu erfahren oder wie Slenczka formuliert: „die Befreiung aus der Hölle dieses Identitätsbewusstseins“ (s.o.) zu realisieren, lässt sich als „Glaube“ deuten. Und wie Slenczka über Luthers Auffassung von Glauben schlüssig hervorhebt, ist Glaube nicht Bedingung dieser Erfahrung, sondern geht in dieser Erfahrung auf, ist Inhalt des Selbstverständnisses des Menschen – und damit, so ist zu schlussfolgern, ist diese Vergebungserfahrung als Eröffnung eines neuen Selbstverständnisses nicht an die Bedingung der Vergebung des Opfers geknüpft, sondern ist eine Erfahrung, die sich als Sündenvergebung Gottes deuten und zum Ausdruck bringen lässt. Daraus lässt sich schließen, dass über die Erfahrung des Phänomens, dass sich unter den Begriff der „Vergebung Gottes“ fassen lässt, Vergebung zu erfahren auch dann möglich wird, wenn das eigentliche Opfer oder die ihm am nächsten stehenden Personen nicht vergeben (können), insofern der Mensch mit Zuversicht erfüllt wird, auch ohne dass ein direkter Austausch zwischen Täter:in und Opfer stattfinden müsste. Gleichwohl: die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Opfer und Täter:in findet dadurch keine Erneuerung – was aber eben auch nicht immer gewünscht ist, besonders dann, wenn zwischen beiden auch vor der Tat keine Beziehung bestanden hat. „‚Sünde‘ und ‚Gnade‘ sind fremde Worte, aber keine fremden Dinge. Wir finden sie, wenn immer wir mit suchenden Augen und verlangenden Herzen in uns blicken.“483 „Die Worte als solche sind nicht wichtig, wichtig allein ist die Antwort aus den tiefsten Schichten unseres Sein.“484 „Sünde“ ist also ein Begriff, der auf eine Glaubensperspektive verweist, die Seelsorger:innen immer in die Seelsorgesituation eintragen. Aus dem christlichen Glauben heraus lässt sich Sündenvergebung aus der uneingeschränkten und bedingungslosen Annahme Gottes heraus verstehen, die darin besteht, trotz der Erfahrungen „der ganzen Abgründigkeit unserer Verwirrungen und Verstrickungen“485 zu leben, 481 482 483 484 485

GW XI, 124. Vgl. RR I, 146. RR I, 153. RR I, 147. Ziemer, Seelsorgelehre, 285.

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ja, sie sind sogar der Preis der Existenz. Auch dies ist eine Erfahrung, die kaum in Worte zu fassen, deshalb aber nicht unwirklich ist. Diese Erfahrung kann aus theologischer und religiöser Perspektive als die Erfahrung der Gnade Gottes und seiner Vergebungswirklichkeit ausgedrückt werden. „Seelsorge, wenn sie gelingt, darf und soll Erfahrung von Gnade sein. […] Wo Gnade waltet, ist Freiheit; in Freiheit wird auch das besprechbar, was sonst schamhaft verschwiegen wird.“486 Ziemer spricht hier explizit von „Erfahrung“, was bedeutet, dass Gnade auch im Kontext des Gefängnisses erfahren werden kann, selbst wenn religiöse Sprache nicht gebraucht wird. Oder mit Michael Sievernich: „Selbst wenn der Gottesglaube schwindet, verschwindet weder der Wunsch nach Vergebung noch die Hoffnung, dass der, an dem [sic!] nicht glaubt, doch hören möge.“487 Aus der Perspektive Seelsorgender, die im Kontext des christlichen Glaubens stehen, sind Vergebung und Sünde mit Gottes Wirklichkeit verbunden. Vergebung und Sünde sind für viele Gefängnisinsassen vielleicht (zunächst) nicht an religiöse Dimensionen gekoppelt, doch die Erfahrungen von Schuld und Vergebung sind für sie genauso erlebbar. Ihr Kern bleibt zunächst derselbe. Mit Ziemer kann also gesagt werden, dass es „keineswegs um einen die Wirklichkeit zudeckenden und die Gnade zur billigen Formel degradierenden Vergebungsverbalismus“488 geht. Gottes Vergebung kann und muss also geglaubt werden, wenn sie als Gottes Vergebung erfahren werden will. Gott kann in der Gefängnisseelsorge als solcher kommuniziert werden, der vergibt. Die Seelsorgeperson – als nicht direkt betroffene – kann jedoch höchstens als Mittlerin fungieren. Nicht die Seelsorgeperson vergibt, sondern Gott. Aus der systematisch-theologischen Annäherung an die materialdogmatischen Begriffe der „Sünde“ und „Vergebung“ geht die Entmoralisierung des theologischen Sündenbegriffs hervor, indem Sünde und Vergebung als existenzielle Erfahrungen verstanden werden. Mit der praktischen Seelsorge – und zwar gerade derjenigen im Gefängnis – ist jedoch davon abzuraten, den Schuldbegriff aus dem Sündenbegriff herauszuhalten oder anders: als culpa oder als peccatum actuale ist die Schuld, auch im moralischen Sinne (!), Teil der Sünde. Was meinen wir aber, wenn wir von „Schuld“ reden? 3.3.2.3 Schuld

Gefangene sitzen im Gefängnis, weil sie schuldig gesprochen wurden. Schuld bildet im Gefängnis „den gemeinsamen Nenner“489 unter Inhaftierten. Sie begegnen dem 486 487 488 489

Ziemer, Seelsorgelehre, 285. Sievernich, Sünde, 298. Ziemer, Seelsorgelehre, 285. Höbel, Was kommt nach dem „Drinnen“, 63.

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Schuldbegriff zunächst in einem juristischen Kontext. Das gerichtliche Verfahren hat die Person für ihre Tat schuldig gesprochen. Der Begriff ist Inhaftierten also nur zu bekannt. Davon abgesehen zeigt sich hier, dass von außen konstituiert wird, ob jemand schuldig ist oder nicht – er wird schuldig gesprochen. Selbiges gilt übrigens für „Verantwortung“, die „ihrem Wesen nach, eine intersubjektive, soziale Konstruktion“490 ist. Im Gerichtsverfahren gilt jemand so lange als unschuldig, bis er freigesprochen oder schuldig gesprochen „und damit für verantwortlich erklärt wird, auch wenn er selbst die Verantwortung leugnen sollte.“491 In den meisten Seelsorgebereichen liegt „[r]elativ selten […] das Schuldthema obenauf “492 , sondern es ist „verpackt unter anderen Alltagsthemen oder Konflikterfahrungen.“493 Dies ist in der Gefängnisseelsorge anders, insofern der Grund, weshalb Seelsorgesuchende sich im Gefängnis befinden, ihre verschuldete Tat ist. Auch wenn solche nicht eingesehen wird und nicht explizit zur Gesprächsgrundlage wird, ist sie doch Thema, weil der Kontext im Gefängnis auf dem Schuldzuspruch beruht. „In Untersuchungshaft betonen viele lange Zeit ihre Unschuld oder spielen ihren Anteil an den Straftaten herunter [sic!] In der Strafhaft, also nach gesprochenem Gerichtsurteil, beginnt dann aber oft eine ernste Auseinandersetzung mit dem, was da geschehen ist.‘“494 Das Schuldthema schwingt im Kontext Gefängnis immer mit. Gerichtlich wird zwischen der prozessualen Schuld (hat der Angeklagte die zur Verhandlung stehende Tat begangen?) und der Strafbegründungsschuld unterschieden (kann der Täter für seine Tat verantwortlich gemacht werden?). „Die Schuldfähigkeit des Angeklagten wird geprüft, indem […] untersucht wird, ob er aufgrund seiner individuellen Lebensverhältnisse und seiner Biografie in der Lage war, einen Gewissenskonflikt psychisch auszutragen, das Unrecht seiner Tat zu erkennen und ihm willentlich auszuweichen.“495 Erst dann wird die Tatschuld festgelegt, so als ob Schuld als „eine objektive, vorgegebene Größe, zu erkennen

490 Körtner, Strafe, 112. 491 Körtner, Strafe, 112. Ob das daraus folgende „Sich-wechselseitig-verantwortlich-Machen[…] und Zur-Rechenschaft-Ziehen“ (Körtner, Strafe, 112) ethisch zu rechtfertigen ist, bejaht Körtner letztlich und begründet dies damit, dass Menschen sich nicht willkürlich einander verantwortlich machen, sondern dies die Konsequenz sei, dass Menschen einander als Personen wahrnähmen und anerkannten und nicht als Objekte. Personalität sei an sprachliche Kommunikation gebunden, ohne völlig darin aufzugehen. Dass der Mensch nur in der Gemeinschaft von sich wechselseitig anerkennenden Menschen Person sein kann, werde in der Strafe als Stellungnahme zu „moralischen Sollensforderungen, die mit unserem relationalen Personsein gegeben sind“ (Körtner, Strafe, 113), bekräftigt. 492 Ziemer, Seelsorgelehre, 279. 493 Ziemer, Seelsorgelehre, 279. 494 Tietze, Kreuz, 75. 495 Merzyn, Lebenslange, 245.

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und zu messen“496 sei. Das deutsche Tatstrafrecht nimmt die Tatschuld als objektive Größe an, gerät dabei aber an Grenzen, die die Rechtsprechung teils auch selbst problematisiert.497 So besteht die Gefahr einer mangelnden Abgrenzung zur Täterschuld, die Charakter und Lebensführung des Täters oder der Täterin berücksichtigt und folglich nicht zwischen Person und Tat trennt. Die derzeitig vorherrschende Meinung geht jedoch von einer Tatbezogenheit aus: „Das StGB knüpft die Strafe an ein bestimmtes Verhalten an, das in den Tatbeständen des Bes. Teils umschrieben und dem Täter zum Vorwurf gemacht wird […]. Nur die Tat als konkretes Geschehen und nicht eine bestimmte Struktur der Täterpersönlichkeit begründet die Strafbarkeit. Insofern ist das geltende Strafrecht Tatstraftrecht und nicht Täterstrafrecht, bei dem der Täter für sein So-Sein oder So-Gewordensein haftbar gemacht wird.“498

Demnach geht das Strafrecht als Tatstrafrecht von einer Tatschuld aus.499 Allerding ist derzeit im Strafrecht umstritten, ob die Schuld primär an der Tat oder am Täter, also seiner Persönlichkeit, gemessen wird.500 Darüber hinaus werden vor Gericht Schuldkriterien auch subjektiv angewendet, weil immer nur das beurteilt werden kann, was von der Schuld nach außen sichtbar bzw. von der:dem Richter:in im Zuge der Verhandlung wahrgenommen wird. Außerdem wird im Strafrecht i.d.R. von einer Willens- und Handlungsfreiheit des Menschen ausgegangen, die sich aber möglicherweise komplexer darstellt, weil der Mensch immer durch soziale und innere Abhängigkeiten konstituiert ist.501 Außerhalb strafrechtlicher Diskurse lässt sich das Schuldverständnis differenzieren. Mit der Tatschuld (culpa) wird diejenige Schuld bezeichnet, die eine moralische Verletzung im Verhältnis zwischen Personen umfasst, d. h. die vorsätzliche oder fahrlässige Übertretung eines moralischen oder gesetzlichen Ge- bzw. Verbots.502 Davon wird die Existentialschuld differenziert.503 Existentialschuld ist diejenige, die ein passives Moment hat, eines, das wir Menschen nicht aus eigener Kraft überwinden können,

496 497 498 499 500 501 502 503

Merzyn, Lebenslange, 345. Vgl. dazu die Ausarbeitungen von Grant, Personzentrierter. Schönke/Schröder, Die Tat, Rn. 3. Vgl. Grant, Personzentrierter, 13. Vgl. Schönke/Schröder, Tat, Rn 4; vgl. Grant, Personzentrierter, 13. Vgl. Grant, Personzentrierter, 21f. Vgl. Scheiber, Vergebung, 225ff; vgl. Klessmann, Ich armer, 157. Beispielsweise bei Klessmann, Ich armer, 157.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

„das, was wir unausweichlich anderen oder uns selbst schuldig bleiben oder antun […]. Nie und nimmer gelingt es uns, das Potential an Möglichkeiten, das sich in jeder Beziehung eröffnet, voll und ganz auszuschöpfen. Immer bleibt ein Zwiespalt zwischen wirklicher und möglicher Welt; wir schaffen es nicht, diese Differenz aufzulösen.“504

Bei den begrifflichen, gängigen Unterscheidungen entsteht der Anschein, dass der Mensch für die Tatschuld frei verantwortlich sei.505 Doch dies ist zu eindimensional gedacht. Als Folge von Verstrickungen ist es schwierig, Menschen einen Vorwurf aus ihren Taten zu machen, sind sie doch eher tragisch als kriminell.506 Statt in einem solchen systematischen, abgetrennten Gefüge zwischen „Gut“ oder „Böse“, „verantwortlich“ oder „schuldig“ zu denken, müsste mehr in dem Gefüge „sowohl – als auch“ gedacht werden. Selbst bei Tatschulden, zu denen der:die Täter:in zur Verantwortung gezogen werden und wofür er:sie unbestritten Rechenschaft ablegen muss, ist von hintergründigen Verstrickungen auszugehen, die aber nicht leicht zu eruieren sind und die darüber hinaus die Tat nicht entschuldigen, aber verstehbarer machen. Die sprachliche Trennung zwischen den beiden Schuldunterschieden, suggerieren einen tatsächlichen Unterschied. Dagegen ist davon auszugehen, dass Tat- und Existentialschuld ineinandergreifen und miteinander vermischt sind. Hierin besteht eine Parallele zu der Einheit zwischen peccatum actuale und peccatum originale als peccatum. Die allgemeine Seelsorgelehre und -praxis beschäftigt sich seit ihren Anfängen mit der Schuldthematik, hat einen Wandel durchlebt und verändert sich diesbezüglich auch weiterhin. Lange Zeit war das Schuldthema zentral in der Seelsorge. Schuld wurde mit dem Ritual der Beichte beantwortet. Ausgehend von der Vergebung wurde Schuld als Bedingung gedacht, nach dem Motto: „Wenn Du Vergebung möchtest, dann bekenne Dich schuldig!“ „Schuld“ stellt sich von hier aus als Sold heraus. Die Bedeutung von Schuld lässt sich von da aus, aus dem Verständnis von Vergebung erschließen, wie sich in der Historie zeigt: Im Zeitalter der Aufklärung wurde die Beichte als Zentrum der Seelsorge durch den Verkündigungscharakter abgelöst. Im Kontext der Dialektischen Theologie, die nach den beiden Weltkriegen vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen und geistigen Zusammenbruchs entstand, stellte Eduard Thurneysen – als reformierter Theologe und Freund Karl Barths – die Verkündigung des Evangeliums in das Zentrum der Seelsorge, als „Ausrichtung des Wortes Gottes an den Einzelnen“507 .

504 505 506 507

Klessmann, Ich armer, 156. Davon geht Klessmann, Ich armer, 157 aus. Vgl. Klessmann, Ich armer, 157. Thurneysen, Lehre, 9.

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Gott selbst, als der ganz Andere, müsse das Wort ergreifen und das richtende und rettende Wort der Gnade sprechen, das auf die Beichte als Absolution hinzulaufe. Thurneysen zufolge entstehe im Laufe des Gesprächs ein „Bruch“ – nicht im Sinne einer Unterbrechung – sondern eines Moments, in dem sich eine Art „,Bruchlinie‘ […] durch das ganze Gespräch hindurchzieht und die Grenzlinie zwischen profanem und göttlichem Wort bezeichnet“508 . Er konzipiert Seelsorge als Beichte, in der die Buße darin bestehe, sich die eigenen Sünden von Gott aufdecken zu lassen, indem „Einer dem Andern seine Sünde bekennt und Einer dem Andern die Vergebung verkündigt und die heilsame Ermahnung zuteilwerden lässt.“509 Diese kerygmatische Seelsorge, als stark dogmatisch ausgerichtete, geriet in den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, im Rahmen der empirischen Wende, in die Kritik. Die folgende Neuorientierung der Seelsorge stand im Kontext der sich rapide verändernden Lebenswelt, in der sich alte Ordnungen und Werte wandelten, sowie der Wahrnehmung von vermehrter Einsamkeit, Existenzangst und Depression.510 Thurneysens Verkündigungsverständnis erfuhr insbesondere durch Joachim Scharfenberg Kritik, der den kerygmatischen Stil als autoritär bewertete, weil durch einen solchen über die menschliche Not des Gegenübers hinweggegangen werde.511 Scharfenberg selbst machte als frisch examinierter Hilfsprediger die Erfahrung, dass der ritualisierte Vergebungszuspruch allein nicht hilfreich ist: „Die Frau bekannte ihre schweren Schuldgefühle für ein Jahrzehnte zurückliegendes geringfügiges Eigentumsdelikt, und es wurde ihr ‚auf den Kopf zu, anstatt und auf Befehl des Herrn Jesu Christi‘ die Vergebung dieser Sünde unter Handauflegung zugesprochen. Am nächsten Tag bat sie aber erneut um ein Gespräch, in dem sie gestand, daß der Beichtakt sie keineswegs von ihren quälenden Schuldgefühlen befreit habe und äußerte Zweifel daran, ob der Seelsorger wegen seiner Jugend und mangelnden Erfahrung seinen Dienst denn schon mit der erhofften Wirkung ausüben könne. Sie berichtete, daß sie allerdings schon vierzehnmal denselben Versuch mit dem gleichen negativen Ergebnis bei verschiedenen Pfarrern unternommen habe.“512

Scharfenberg hat in Folge solcher Erfahrungen und seiner Rezeption der Humanwissenschaften – insbesondere mit der Psychoanalyse Freuds – die herkömmlichen Seelsorgemethoden hinterfragt und brachte therapeutische Einsichten in Seelsor-

508 509 510 511 512

Jochheim, Seelsorge, 127; vgl. Eschmann, Sünde, 143. Thurneysen, Lehre, 251. Vgl. Eschmann, Sünde, 144. Scharfenberg, Seelsorge, 14–19. Scharfenberg, Seelsorge, 22.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

getheorie und -praxis ein, was auch das Verständnis von Schuld und den Umgang mit ihr betraf.513 Ersichtlich wird aus dem kurzen Abriss der Historie zum seelsorglichen Umgang mit Schuld, dass die Schuld der Vergebung entgegengesetzt werden soll, um von Schuld zu befreien. Vergebung läuft gewissermaßen der Schuld entgegen, denn durch Vergebung wird Schuld überwunden. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Vergebungserfahrung in letzter Konsequenz nicht von der Seelsorgeperson garantiert und gewährleistet werden kann. Die Methodik eines Umgangs mit Schuld, der auf Vergebung hinauslaufen soll, besteht in der Beichte, im kerygmatischen oder im therapeutischen Gespräch. In letzter Konsequenz liegen also die Unterschiedlichkeiten und Streitpunkte in der Frage, wie die Erfahrung von Vergebung als erfahrene Erlösung von Schuld herbeigeführt werden kann. Worin bestehen diesbezüglich die gegenwärtigen Methoden? Die gegenwärtigen Rezeptionen zur Deutung von „Schuld“ verweisen auf ein geändertes Schuldverständnis. Im Unterschied zur Historie zeichnet sich durch die gegenwärtige Seelsorgelehre die Wahrnehmung ab, dass das jeweilige eigene Schuldempfinden individueller und gradueller in Erscheinung tritt. Zeigte sich in der Historie ein generelleres, selbstverständliches Bekennen von Schuld, so scheint dies gegenwärtig eher zu fehlen. Und zwar nicht deshalb, weil es weniger Schuld gäbe, sondern, weil das Schuldbewusstsein als tatsächliches Bewusstsein – im Sinne einer Erfahrung – nicht präsent ist. Wie sollte aber ohne Schuldbewusstsein Vergebung erfolgen können? Um es mit Ziemer zu sagen: „Schuld, die nicht als solche bewusst geworden ist und nicht verstanden wurde, kann kaum vergeben werden, das wäre reiner Bußformalismus.“514 Die Einsicht in die eigene Schuld ist hier als notwendige Bedingung der Vergebungserfahrung konzipiert, wobei dies nicht im moralischen Sinne gemeint ist und sich damit von der historischen Praxis unterschieden wissen will. Denn „Vergebung, in der sich die Gnade Gottes zu einem ganz konkreten Menschen erweist, ist nicht an Bedingungen geknüpft.“515 Damit ändert sich die bisherige Richtung: Vergebung läuft nicht auf bereits konstatierte Schuld zu, sondern die Einsicht in die eigene Schuld als Schulderfahrung erweist sich als Voraussetzung dafür, wirkliche Vergebung erfahren zu können – sie ist notwendiges Moment. Wie äußert sich nun jene Schulderfahrung? Zu den Ausdrucksformen von Schuld gehören die Angst vor Liebesverlust oder Strafe, Selbstvorwürfe, Gewissensbisse und Reue sowie das grübelnde Nachdenken über das auslösende Tun oder Lassen.516 Schuld wird also über Gefühle – Schuldgefühle – erfahren. Diese lassen 513 514 515 516

Vgl. Eschmann, Sünde, 145. Ziemer, Seelsorgelehre, 288. Ziemer, Seelsorgelehre, 288. Vgl. Klessmann, Seelsorge, 235; ähnlich Winkler, Seelsorge, 352.

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sich in adäquate (realistische) und inadäquate (neurotische) Schuldgefühle einteilen.517 Unter adäquaten Schuldgefühlen wird die gesunde Reaktion auf reale Schuld gefasst. Sie resultieren aus dem Gewissen, das sich meldet, wenn verinnerlichte Normen, Werte und Verbote überschritten werden.518 Ein inadäquates bzw. irrationales Schuldgefühl liegt vor, wenn das Gewissen grundlos anschlägt oder überreagiert.519 Die systematische Unterscheidung von adäquaten und inadäquaten Schuldgefühlen ist deshalb notwendig, um ein hilfreiches Schuldbewusstsein von einem hinderlichen Schuldgefühl in der Praxis unterscheidbar machen zu können. Zur Verarbeitung von Schuld ist es darüber hinaus für die seelsorgesuchende Person

517 Diese Einteilung geht auf Freud zurück. Einige gebrauchen äquivalent zu diesen Begriffen „Schuldgefühl“ (als inadäquate Schuld) und „Schuldbewusstsein“ (adäquate Schuld), so z. B. Eschmann, Sünde, 149f; Ziemer, Seelsorgelehre, 283 und Winkler, Seelsorge, 353. Allerdings besteht hier die Gefahr einer Verwechslung, weil Schuldgefühle adäquat und inadäquat sein können und adäquate Schuld ebenfalls als Schuld empfunden werden muss, sodass sie ebenfalls dem Gefühlsbereich zuzuordnen ist. Diese Schwierigkeit impliziert auch Ziemer, Seelsorgelehre, 283. Morgenthaler, Seelsorge, 108ff spricht von „angemessenen Schuldgefühlen“ und „neurotischen Schuldgefühlen“. 518 Vgl. Eschmann, Sünde, 149; vgl. Klessmann, Seelsorge, 235; vgl. ders., Ich armer, 156. 519 Vgl. Klessmann, Seelsorge, 236. Der Psychiater Matthias Hirsch unterscheidet das inadäquate Schuldgefühl nochmal in das „Basisschuldgefühl“, „Schuldgefühle aus Vitalität“, „Trennungsschuldgefühl“ und das „Traumatische Schuldgefühl“ (vgl. Hirsch, M., Schuld). Das Basisschuldgefühl äußere sich in Symptomen wie „Mutlosigkeit, Depression, Sich-nichts-Zutrauen, fehlendes Selbstwertgefühl bis hin zur latenten oder offenen Suizidalität“ (Hirsch, M., Schuld, 128). Es erfolge aus der kindlichen Erfahrung, den Eltern nicht zu genügen oder sie zu stören bzw. ihnen dankbar sein müssten, überhaupt auf die Welt gebracht worden zu sein. Das Schuldgefühl aus Vitalität entstehe „aus dem Bestreben, stark zu sein, zu wachsen, zu expandieren, und damit verbunden aus dem Haben-Wollen, Wegnehmen-Wollen“ (Hirsch, M., Schuld, 75). Es erfolge beispielsweise aus der Erfahrung, dass durch die eigene Vitalität und Aktivität ein erkranktes Familienmitglied nicht in seiner Ruhe gestört werden dürfe oder durch ein Überlebensschuldgefühl, das bei Überlebenden von Katastrophen oder durch den Verlust eines engstehenden Familienmitglieds entstehen könne. Das Trennungsschuldgefühl äußere sich beispielsweise in Prüfungsangst und -versagen, denn ein Bestehen könne Trennung bedeuten. Es entstehe aus den Autonomiebestrebungen des Kindes, das von seinem Umfeld verbal oder nonverbal als Unrecht kommuniziert werde. Folge sei eine Einschränkung in der Identitätsentfaltung der Heranwachsenden. Vitalität- und Trennungsschuldgefühl lassen sich mit Eschmanns Kategorie des religiösen Schuldgefühls ergänzen, in dem er ein solches fasst, das aus der Identifikation des elterlichen Willens mit Gott resultiere. Solche Schuldgefühle entständen „im Klima einer gesetzlichen Frömmigkeit und Verkündigung – mit der Lebenserfahrung: ‚Gott sieht alles‘. Jedes Unheil und Unglück werde als Strafe Gottes wahrgenommen, sodass man sich für alles Leid selbst verantwortlich mache und so der Leidensdruck noch größer werde (vgl. Eschmann, Sünde, 151f). Das Traumatische Schuldgefühl erfolge aus „traumatische[n] Einwirkungen von außen auf das Kind (oder auch später auf den Erwachsenen) […], die ein traumatisches Schuldgefühl erzeugen, das auf Implantation von Gewalt beruht, in der ihre Introjektion folgt“ (Hirsch, M., Schuld 75). Das führe beispielsweise dazu, dass Opfer unter schweren Schuldgefühlen litten, während ein solches bei Täter:innen fehle.

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wichtig, die eigene Schuld zu konkretisieren und zu eruieren, wofür sie wirklich verantwortlich war oder ist und wofür nicht.520 In der Gefängnisseelsorge begegnet man nicht nur derjenigen Schuld, die sich auf die jeweilige Straftat bezieht, aufgrund derer Inhaftierte im Strafvollzug sind. „Viele fühlen sich z. B. schuldig, ihre Familie durch die Haftstrafe in eine psychische und soziale Krise gestürzt zu haben; manche fragen sich, warum sie selbst überlebt haben, während ihr Mittäter bei dem Überfall getötet wurde.“521 In der gegenwärtigen Seelsorgelehre wird Schuld unterschiedlich verstanden und beschrieben. Schuld lässt sich in unterschiedliche Erfahrungshorizonte systematisieren, was hinsichtlich eines adäquaten Umgangs mit ihr relevant ist. So werden „[d]ie Ergebnisse und Theorien der Humanwissenschaften selbstverständlicher zurate gezogen, weil sie eine naive oder ungebrochene Rede von Schuld und Sünde [verunmöglichen]“522 und „vielmehr zur Differenzierung, zur interdisziplinären Auseinandersetzung, zur problembewußten Neubearbeitung des Schuldthemas [zwingen].“523 Von der Psychologie her lässt sich fragen, welchen konkreten Wirklichkeitshintergrund die unterschiedlichen Schulderfahrungen haben.524 Peter Zimmerling hat Recht, wenn er davor warnt, Schuld einfach nur noch als zu beseitigende Schuldgefühle wahrzunehmen und die Realschuld nicht zu berücksichtigen.525 Dies belegen auch jüngere psychometrische Studien, die die Notwendigkeit einer gefühlten Realschuld für die Vergebung untersuchen. Nach ihnen sind Realschuld und Schuldgefühl nicht zu trennen. Schuldgefühle lassen sich schnell als eine Art Krankheit missverstehen und ebenfalls als Krankheit behandeln – so wie es die Rezeptionen zu den tiefenpsychologischen Analysen suggerieren. Unter bisher Gesagtem können jedoch höchstens inadäquate Schuldgefühle als „krankhaft“ verstanden werden, weil sie hinderlich sind. Gefühlte Realschuld ist jedoch in der Tat ein menschliches Existential und stellt sich in den gegenwärtigen Studien als immanent wichtig heraus. Als Beziehungswesen ist der Mensch auf funktionierende Beziehungen angewiesen – sie sind überlebensnotwendig. Schuldgefühle sind dazu da (und wahrscheinlich sogar evolutiv so eingerichtet), den Schaden rückgängig machen zu wollen, sich entschuldigen oder das durch die Tat Zerstörte reparieren zu wollen. „Guilt serves a range of relationship-enhancing functions, perhaps most notably fostering reparative behavior in response to interpersonal harm“526 . Das

520 521 522 523 524 525 526

Vgl. dazu Klessmann, Seelsorge, 236f; vgl. Winkler, Seelsorge, 354f. Merzyn, Lebenslange, 344; ähnlich Grant, Personzentrierter, 26f. Sievernich, Sünde, 19. Sievernich, Sünde, 19. Vgl. Ziemer, Seelsorgelehre, 283. Vgl. Zimmerling, Katholik, 162. Tangney/Martinez/Stuewig, Two Faces, 799 mit Bezug auf Studie von Baumeister/Stillwell/ Heatherton, Guilt.

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schmerzhafte Gefühl von Schuld führe zu dem Wunsch, sich anders verhalten zu haben oder die Tat rückgängig machen zu können. „[G]uilt typically motivates reparative action – confessions, apologies, and attempts to undo the harm done.“527 Damit stellt sich ein adäquates Schuldgefühl in Bezug auf eine Realschuld als überlebensnotwendig heraus, weil es überhaupt erst dazu führt, die Beziehung heilen und Vergebung zu wollen. Die genannten psychologischen Studien zeigen, dass Schuldbewusstsein als Gefühl darauf abzielt, Beziehungen wiederherzustellen. Es wird also psychometrisch unterstützt, was die gegenwärtige Seelsorge längst formuliert, nämlich, dass „Schuld und Vergebung ein festes Verbundsystem bilden“528 . Vor diesem Hintergrund lassen sich Schuldgefühle nicht mehr als negative Erfahrungen bewerten, die es zu beseitigen gilt. Sie sind unabdingbar, wenn Vergebung und Versöhnung – als Wiederherstellung der Beziehung – erreicht werden wollen.529 Gleichzeitig kann die Notwendigkeit einer Schuldeinsicht nicht mehr als moralisierende Bedingung verstanden werden, indem Seelsorger:innen in erniedrigender Weise auf ein Eingeständnis pochen, um daraufhin die Vergebung von oben herab zu verkünden. Auf diese Weise wurde Schuld mit Blick auf die Vergangenheit kommuniziert. Nun müsste man aber sagen, dass Schuldgefühle in ihrer Retrospektivität auf die Realschuld ausgerichtet sind, mit dem Ziel der Vergebung und dem Ziel der Versöhnung und Beziehungswiederherstellung auf Zukunft. Schuldgefühle sind darin als notwendig und hilfreich anzusehen, sodass auch in der Gefängnisseelsorge die Forderung aufkommt, im Strafvollzug Rahmen und Angebote zu schaffen, in denen Strafgefangenen die Möglichkeit eröffnet wird, nach ihrem Schuldempfinden zu suchen.530

527 Tangney/Miller/Flicker/Barlow, Are Shame, 1257. 528 Winkler, Seelsorge, 361. 529 So schreibt ein Inhaftierter, der dreizehn Jahre Freiheitsentzug hinter sich und weitere acht vor sich hat über seinen persönlichen Umgang mit Schuld: „Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch – zumindest jeder ohne schwere psychische Schäden – Schuldempfinden verspüren kann, wenn er will. Schuld stellt sich nicht in dem dar, was wir tun, sondern in dem, was wir empfinden, d. h. Schuld muss erst am eigenen Leib erfahren werden, bevor man sie überhaupt empfinden kann. Uns ist das tiefe, natürliche Empfinden-Können abhandengekommen, weil sich das allgemeine Schuldempfinden auf Regeln, Gesetze und ähnliches beschränkt, […] dass es gar nicht mehr natürlich, also aus unserer Natur, aus unserem Innersten heraus, kommen kann. […] Im Empfinden wird Schuld real, und Schuld verlang danach, real zu werden, also empfunden zu werden. […] Ich habe die Angst davor verloren [Schuld zu empfinden, Anm. v. Inderst] und betrachte es jetzt als etwas Notwendiges. […] Daraus ergibt sich mir ein gesundes Empfinden und gleichzeitig die Auseinandersetzung mit Dingen, die ich getan habe oder auch sein ließ. […] Erst dadurch sehe ich mich in der Lage, anders zu handeln“ (zit. nach Grant, Personzentrierter, 28f). 530 So auch Grant, Personzentrierter, 30.

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Genau wie schon das Phänomen der Scham weist die Erfahrung der Schuld Analogien zu der Erfahrung der Sünde auf. Als Schuldgefühl stellt sich auch Schuld als passives Geschehen dar. Sie ist notwendiges Moment, um wiederum von ihr zu erlösen. Es reicht aber nicht aus, sie einfach zu bekennen, sie muss zuvor gefühlt worden sein. „Schuld“ – unterschieden in Tatschuld (culpa) und Existentialschuld steht zur peccatum actuale und peccatum originale begrifflich näher zu Sünde als Scham. Als Existentialschuld verweist auch das Schuldgefühl auf den ganzen Menschen, der schuldig geworden ist, was sogar in juristischen Schuldsprüchen nicht ausgeblendet wird, indem die ganze Person, als schuldig gewordene, zur Debatte steht. Offenkundiger jedoch als Scham, verweist Schuld auf eine Beziehungsstörung: Jemand ist an jemandem schuldig geworden und jemand wird durch jemanden schuldig gesprochen. Obwohl also auch Schuld auf das eigene Selbst verweist, ist sie mehr auf Beziehungen hin ausgerichtet, während Scham immer mit dem Blick – zwar durch andere hindurch – auf sich selbst ausgerichtet ist. Im Unterschied zur Schuld ist in dem Phänomen der Scham angezeigt, dass es um den ganzen Menschen geht. 3.3.2.4 Vergebung praktisch?

Die bisherigen Ausführungen legen nahe, dass die Vergebungserfahrung als gefühlte Lebenswirklichkeit nicht willkürlich bewirkt werden kann. Und doch hoffen Schuldiggewordene oder sich als schuldig Empfindende früher wir heute531 in der Seelsorge auf eben diese Vergebungswirklichkeit, womöglich über eine Vergebungszusage. Wie weit kann und sollte Seelsorge dem nachkommen? Klessmann betont im Vergebungsprozess den Akt des Zur-Sprache-Bringens, weil Worte den Dingen Klarheit und Beständigkeit geben können. „In der Benennung kann die Tat oder Unterlassung als meine Tat, als meine Unterlassung übernommen werden“532 . In diesem Wahrnehmungsprozess entsteht Reue, auf die Vergebung erfolgen und damit zugesprochen werden kann.533 Und selbst dann wird allenfalls auf Vergebung hingearbeitet; es ist nicht gesagt, dass eine solche auch wirklich erfolgt. Es bleibt ein weiterer Rest an Passivität bzw. am anderen Geschehen. Das kommt zum Ausdruck, wenn davon die Rede ist, dass Vergebung und Versöhnung jederzeit von Gott bereitstehen, nach menschlichem Ermessen aber keine Wiedergutmachung zu erhoffen ist.534

531 532 533 534

Vgl. zu einem konkreten Beispiel siehe Kapitel 4.3.3. Klessmann, Seelsorge, 242. Vgl. auch Klessmann, Seelsorge, 242; ähnlich Ziemer, Seelsorgelehre, 287. Drexler, Gefangenen, 182 warnt davor, in der Gefängnisseelsorge die religiöse Rede von Sünde, Vergebung und Gnade zu ignorieren, denn dadurch „beraubt man sich weitgehend der Möglichkeit, von Vergebung, Versöhnung und Gnade zu sprechen, die von Gott her jederzeit bereitsteht, auch

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Es ist also erstmal davon auszugehen, wenn in der Seelsorge „Schuld“, „Scham“ und/oder „Sünde“ und „Vergebung“ zum Thema werden, zunächst das Gespräch über ihre Erfahrungswirklichkeit an den Anfang zu stellen. Es geht dann darum, die Schuld aufzuarbeiten und den Prozess zu begleiten. Dann kann davon gesprochen werden, darin zu unterstützen, dass jemand „schuldfähig“ wird.535 Um dahin zu gelangen, muss zunächst eine Beziehung des Vertrauens zwischen Seelsorger:in und seelsorgesuchender Person aufgebaut werden, um in einem Raum der Wertschätzung die Schuld betrachten zu können.536 „Es geht darum, sich in kleinen Schritten und vorsichtig der Schuld zu nähern. Verurteilen verhindert das Verstehen – gerade das ist aber unbedingt notwendig, um die Zusammenhänge von Schuldverstrickung wahrzunehmen.“537 Darüber hinaus geht es auch darum, Schuld ernst zu nehmen. Das bedeutet, dass Schuld weder durch einen selbst noch von Seelsorgenden heruntergespielt werden darf.538 Wenn in der Gefängnisseelsorge Seelsorgende dazu tendieren, im Täter oder in der Täterin das Opfer zu sehen, muss die Betonung auf dem auch liegen und darf sich nicht dahin entwickeln, nur noch das Opfer in ihm oder ihr zu sehen. Täter:innen haben häufig selbst eine Schwierigkeit damit, so angesehen zu werden, weil sie sich nicht ernstgenommen fühlen. Als Beispiel: Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky berichten von einem Gefängnisseelsorger, der den ausgeführten Mord eines jungen Mannes mit dessen elenden Lebensverhältnissen in einen ursächlichen Zusammenhang stellen wollte,

535 536 537 538

wenn nach menschlichem Ermessen und nach menschlichen Möglichkeiten keine Wiedergutmachung zu erhoffen ist.“ Die Rede von Sünde und Vergebung drücken damit Hoffnung und Vertrauen darauf aus – und bilden in ihrem Ausdruck einen Zugang dazu, dass es zum Guten kommen kann, weil für uns schon gesorgt ist. Drexler, Gefangenen, 183 geht sogar so weit zu sagen, dass „[w]irkliche Vergebung […] letztlich der Gnade Gottes [obliegt] und […] in menschlichindividuellem Verzeihen ansatzweise sichtbar und erlebbar werden [kann].“ Damit ist die Erfahrung von Vergebung für Drexler ein ausschließlich passives Geschehen, das nicht aus sich selbst heraus bewirkt werden könnte. „Es bleibt immer ein Rest von Unverfügbarkeit“ (Drexler, Gefangenen, 183). Für Drexler geht damit eine Strafkritik einher, insofern es illusionär sei, Gewalt könne „durch menschliche Maßnahmen und Institutionen endgültig zum Verschwinden gebracht werden“, sodass Theologie „[i]m Hinblick auf die Frage des Strafvollzugs […], auf die blinden Flecken eines sich als human verstehenden Strafvollzugs […] achten“ (Drexler, Gefangenen, 183) und Alternativen ins Gespräch bringen solle. Ähnlich Klessmann, Ich armer, 165, der Schuldfähigkeit von einem Beschämtwerden unterscheidet. Schuldfähigkeit gehöre zur Selbstreflexion, während Beschämung abschrecke. Vgl. Klessmann, Ich armer, 165. Klessmann, Ich armer, 166. So warnt Ziemer, Seelsorgelehre, 286 davor, Schuld zu überbewerten und ihr dadurch mit einem „moralisierenden Unterton“ zu begegnen, aber genauso vor ihrer Unterbewertung, die er sogar als „naheliegender“ betrachtet. Schuld müsse ernstgenommen werden und dürfe also nicht verharmlost, bagatellisiert oder allzu schnell psychologisch entschuldigt werden (dieses Beispiel wird auch von Ziemer, Seelsorgelehre, 286f angeführt).

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bis der Gefangene aufschrie: „Hör endlich auf mit dem Gequatsche. Ich habe meine Mutter erschlagen! Das kannst Du mir nicht wegreden. Das ist meine Schuld und nicht die der Verhältnisse.“539 Der junge Mann hat verstanden – im Gegensatz zum Gefängnisseelsorger –, dass „Schuld zur menschlichen Würde gehört.“540 Zu einer Verharmlosung der Schuld lässt sich der Mensch immer wieder verleiten, wie schon Nietzsche feststellte und so treffend formulierte: „‚Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“541 Demzufolge ist es schwierig von einem Gottesbild auszugehen, in dem Gott als einer geglaubt wird, der uns betrachtet, „als ob wir ohne Sünde wären“542 in der Hoffnung, dass sich dadurch Chancen für ein straffreies Leben in Zukunft eröffnen würden. Der Gefängnisseelsorger Tobias Brandner etwa erhofft sich, dass Stigmatisierungen als „die Sünder“ aufgehoben werden: „Wenn wir sie als liebenswert anschauen, selbst wenn sie von Hass gegen sich und gegen andere entstellt sein mögen, so können sie erfahren, dass sie anders sind, als was ihnen stetig gesagt wurde, dass sie seien“543 . Bis hierher wäre ohne Probleme mitzugehen, weil daraus folgt, den „Menschen als Menschen“544 wahrzunehmen und ihn, soweit es aus menschlichem Ermessen möglich ist, eine Person mit all ihren (abgründigen) Seiten zu akzeptieren. Für Brandner folgt aber die problematische Maxime: „Lerne Menschen nicht als das wahrzunehmen, was sie sind, sondern als das, was sie auch sein könnten.“545 Würde die Schuld des Menschen auf diese Weise ernst genommen? Abgesehen davon, dass das, was jemand sein könnte oder was jemand ist beides Sache der eigenen Wahrnehmung ist, geht es darum, Menschen darin ernst zu nehmen, als was sie sich darstellen und nicht vom Faktischen ins Spekulative (was könnten sie sein?) weg zu driften. Es scheint eher eine Sache der multiperspektiven Wahrnehmung zu sein, wenn der Mensch in seiner Schuld gesehen wird, daneben aber auch, dass er nicht allein und nur durch seine Schuld definiert ist: er ist Sünder und Gerechter zugleich. Im protestantischen liturgischen Sinn kann Beichte also erst nach dem Gespräch erfolgen, sie erwächst aus einem solchen.546 Sie kann als ritualisiertes Geschehen an Bedeutung gewinnen. „[d]as Ritual [bietet] eine Sprache an, die das Benennen 539 540 541 542 543 544 545

Sölle/Steffensky, Nicht nur Ja und Amen, 25. Sölle/Steffensky, Nicht nur Ja und Amen, 25. Nietzsche, Werke II, 625. Auch bei Klessmann, Seelsorge, 241. Brandner, Gottesbegegnungen, 242. Brandner, Gottesbegegnungen, 242f. So formuliert es insbesondere Engemann, worauf in Kapitel 4.3.2 genauer eingegangen wird. Brandner, Gottesbegegnungen, 243. In seinen darauffolgenden Ausführungen gelingt Brandner wiederum die Betonung der Relevanz, den Menschen als „gut“ und „böse“ zugleich zu sehen, um ihn nicht auf sein Verbrechen zu reduzieren (vgl. Brandner, Gottesbegegnungen, 249ff). 546 Morgenthaler, Seelsorge 108 spricht in dem Zusammenhang mit Scharfenberg, Seelsorge, 35 von „Heilung als ‚befreiendes Sprachgegeschehen‘“.

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der Schuld in einem die vorangegangenen seelsorglichen Gespräche zusammenfassenden Sinn erleichtert.“547 Darüber hinaus wird in der Beichte die religiöse Dimension glaubhaft: „Nicht der freundliche Pfarrer vergibt hier, sondern in seiner Handlung Gott selbst.“548 Täter:innen können dann lernen, mit ihrer Schuld zu leben, sich selbst bejahen zu können – „vor allem da, wo das Opfer nicht vergeben kann oder will.“549 Die Berücksichtigung der Kategorien existenzielle Schuld und Realschuld im theologischen Gebrauch des Begriffs „Sünde“ kann also nicht überbetont werden – gerade im Kontext des Gefängnisses. Um eine Beziehungsfähigkeit zu ermöglichen, zu sich selbst und zum Umfeld – denn das beinhaltet Vergebung –, ist die Bewusstwerdung und Annahme der eigenen Sünde unerlässlich. Und doch sollte die gefühlte Schuld – so schmerzhaft sie ist – weder moralisierend noch als negativ zu bewertende Emotion verstanden werden und auch nicht als Folge von Umständen, für die der:die Verurteilte nichts kann, heruntergespielt, sondern in ihrer Notwendigkeit wahr- und ernstgenommen werden, weil ohne sie jede Chance auf wirk-liche Vergebung und also auf jene Beziehungserneuerung und -fähigkeit verspielt würde. Dessen Ausmaß hinsichtlich jedes Resozialisierungsvorhabens sollte man sich bewusst machen. Wenn im christlich-religiösen sowie theologischen Kontext die Rede von Vergebung ist, wird die enge Verbindung der zwischenmenschlichen und göttlichen Vergebungserfahrung verdeutlicht. „Aus der persönlichen Erfahrung der göttlichen Vergebung kann Kraft zur zwischenmenschlichen Vergebung und zur Befreiung aus schuldbeladenen zwischenmenschlichen Verstrickungen wachsen.“550 3.3.3

Zwischenfazit

Die Gefängnisseelsorge befindet sich aus ihrer ganz praktischen Arbeit immer vor der Problemstellung, theologische Reflexionen „des Bösen“ und/oder „der Sünde“ mit der Erfahrungsdimension zu verbinden. In diesem Kapitel habe ich „das Böse“ anhand von Narrationen und Narrativen der evangelisch-christlichen Tradition sowie an materialdogmatischen Themen gedeutet, wobei ich rein begrifflich über „das Böse“ hinaus gegangen bin, um die (theologisch gedeutete) Erfahrungsdimension hinter dem Begriff „des Bösen“ zu erschließen. Deshalb war es angezeigt, sich mit den Themen der „Sünde“, „Schuld“ und „Vergebung“ zu beschäftigen.

547 Klessmann, Seelsorge, 243. 548 Klessmann, Seelsorge, 243; vgl. dazu auch Ziemer, Seelsorgelehre, 288–290 sowie Morgenthaler, Seelsorge, 110. 549 Klessmann, Ich armer, 166. 550 Morgenthaler, Seelsorge, 110.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

Die Bedeutung der Sünde stellt sich eindrücklich in den Narrativen der biblischen Erzählungen vom ersten Menschenpaar und Kain und Abel dar. Hier wird die Erfahrung verbildlicht, dass Menschen nicht anders können, als zwischen „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden; dies gehört zu ihrer Freiheit. Die Erkenntnis von „Gut“ und „Böse“ beinhaltet, sich jedes Mal entscheiden zu müssen, was wohl „richtig“ oder „falsch“, „gut“ oder „böse“ sein wird. In diesen Erzählungen stellt sich jene Freiheit zugleich als Fluch heraus, weil Menschen in letzter Konsequenz nie wissen können, was wirklich richtig und was wirklich falsch ist – die Wahrheit bleibt hier Gott vorbehalten; und sich nun auf sich selbst verlassen zu müssen, bedeutet, sich nicht mehr ganz und gar auf Gott verlassen zu können. In dem nichtpriesterlichen Schöpfungsbericht tritt der Mensch als Ungläubiger, als NichtVertrauender hervor. Im christlich-religiösen Sprachspiel kann das als „Sünde“ bewertet werden. Das Motiv dieser Erfahrung zieht sich weiter durch die Erzählung von Kain und Abel, wenn Kain nicht Gott vertraut, sondern verzweifelt, angesichts der von ihm empfundenen – durchaus nachvollziehbaren – Ungerechtigkeit, dass Gott Abels Opfer annimmt und seines nicht. Seine Wut führt zum Brudermord – er macht sich schuldig. Die Erzählung ist nicht als moralisierend zu deuten, als Zeigefinger dafür, schlechte Gefühle unterdrücken oder ihnen standhalten zu müssen. Dies tut sie, indem von Abel kaum die Rede ist, Kain als Protagonist eingeführt wird und die Rezipienten kaum anders können, als Kain zu verstehen – wer wäre nicht wütend, wenn er unerklärlicherweise eine Abweisung erführe? Und so kommt es zu den grausamen Verstrickungen, die an Kain haften. Das Kainsmal scheint eine verbildlichte Frage zu sein: „Und wie geht es jetzt weiter? Wie kann ich mit dieser Schuld leben?“ So betrachtet, haben Gefängnisseelsorgende, bildlich gesprochen, täglich mit einem „Kain“ zu tun. Alle Inhaftierten müssen mit Erfahrungen der Schuld, der Scham und dem, was durch „Sünde“ zum Ausdruck gebracht wird, leben und sind von ihnen erkennbar gezeichnet: sie befinden sich im Gefängnis. Viele Inhaftierte verstehen sich aus ihrer Perspektive heraus eigentlich nicht als „die Bösen“. Sie sind sich ihrer Schuld aus strafrechtlicher Perspektive bewusst, haben aber, nach ihrer Wahrnehmung, der Situation entsprechend richtig gehandelt. Hier zeigen sich die menschlichen Verstrickungen, ihre Existentialschuld, aus der ihre Taten erfolgten. Wie – bildlich gesprochen – mit dem „Kainsmal“ umzugehen ist, das verschweigt die Erzählung. Es ist die Frage, wie diese Leerstelle zu füllen ist, und ob das je anders als situativ geht. Die Erzählungen implizieren menschliche Verstrickungen als Existentiale menschlichen Lebens. Diese Problemstellung wird in der Materialdogmatik mit „der Sünde“ verhandelt. Die materialdogmatischen Begriffe der „Sünde“ und „Vergebung“ sind jedoch nicht von ihrer Erfahrungsdimension zu trennen, die Erfahrung der Erkenntnis des eigenen, inneren „Bösen“, incurvatus in se ipsum (Luther) oder das, was Slenczka als negatives Selbstverhältnis bezeichnet, das bis in die Verzweiflung führen kann

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und dann die Erfahrung des trotzdem bejaht Wissens. Als existenzielle Erfahrungen sind diese Phänomene nicht Christinnen und Christen vorbehalten. Aus der Glaubensperspektive Seelsorgender sind jene Erfahrungen als „Sünde“ deutbar und auch religiös zu bezeichnen, allerdings kann „Sünde“, genauso wie „das Böse“, nicht als Existential oder gar ontisch gedacht werden, sodass Seelsorgende in der konkreten Seelsorgesituation nicht in die Bedrängnis geraten, die Erfahrungen des Gegenübers als „Sünde“ deuten zu müssen und ihm genauso zu kommunizieren. Trotz der wichtigen Entmoralisierung des Sündenbegriffs in der dargestellten Sündenlehre zeigt sich, dass der Schuldbegriff, auch in moralischem Sinne, nicht von dem Sündenbegriff abzutrennen ist, was sich besonders im Gefängnis erkennen lässt, in dem Menschen sind, die schuldig gesprochen wurden und unter ganz realen Schuldgefühlen leiden, die zu berücksichtigen sind, um den Menschen als Menschen ernst zu nehmen und um dem Weg zur Vergebungserfahrung nicht entgegen zu stehen, für den das Schuldgefühl unabdingbar ist. Eine Theologie, die sich in der Auseinandersetzung mit Sünde auf das Sprachspiel, in dem sie als Begriff steht, beschränken würde oder die ihre drastische Erfahrungsdimension auf „Sünde“ als Existential herunterbrechen würde, aus dem folgen würde, dass wir in der Erkenntnis, alle seien Sünder:innen plötzlich mitmenschlich handeln würden, würde harte Differenzen – „Polyvalente Normativität“ – ignorieren und unter den Teppich kehren. Solche Unzuträglichkeiten werden gerade in der Gefängnisseelsorge offensichtlich, wenn doch der seelsorgliche Anspruch darin besteht, den Menschen als Menschen ernstzunehmen und sich ihm entsprechend seelsorglich zuzuwenden.

3.4

Fazit

Die dargestellten soziologischen, psychometrischen, neurologischen, ethischen und theologischen Perspektiven auf „das Böse“ differenzieren und erweitern die Wahrnehmung „des Bösen“. Sie alle zeigen, dass es „das Böse“ als ein Etwas für sich nicht gibt. Die Erkenntnisse entziehen jedweder Stigmatisierung von Täterinnen und Tätern die sachliche Basis. Die humanwissenschaftlichen Perspektiven differenzieren „das Böse“ und bieten Erklärungen für das Woher von Delinquenz. In ihnen zeigt sich, dass sich erst entwickelt, was als „richtig“ und „falsch“ gilt und damit als „gut“ und „böse“ bewertet wird, sodass beides – „Böses“ und die Bewertung dessen, was als „böse“ gilt – nicht als selbstverständlich erachtet werden kann. Das, was als richtig oder falsch und – gesetzlich verankert – als Recht oder Unrecht gilt, formiert sich durch Korrelationen zwischen Makro- und Mikrostrukturen. Daneben gibt es neurologische und psychologische Strukturen – als neurologische Persönlichkeitsmerkmale oder Veranlagungen – innerhalb des Menschen, die zu Delinquenz führen können. Sie kommen in jedem Menschen unterschiedlich stark

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

vor und brechen mehr oder weniger wahrscheinlich durch, wobei selbst stark ausgeprägte (neurologische) Strukturen nicht zwangsläufig zu kriminellem Handeln führen müssen, sodass sich Kriminalität nicht voraussagen lässt. Retrospektiv lässt sich Kriminalität mit solchen Strukturen erklären, aber nicht rechtfertigen, weil offensichtlich mehrere Parameter zusammenspielen. Die hinzugezogenen Studien verweisen also auf eine differenzierte Wahrnehmung: Mit den humanwissenschaftlichen Erkenntnissen lässt sich nicht pauschal behaupten, dass der Mensch unter gewissen inneren und äußeren Umständen zu kriminellem/„bösem“ Verhalten determiniert ist. „Das Böse“ lässt sich nicht wegtheoretisieren: Delinquenz kann nicht generell unter dem Deckmantel der Wissenschaft durch kausale Verursachung vom Täter oder von der Täterin gelöst werden. Über solche Erklärungen wird „das Böse“ anderen Wirkfaktoren zugeschrieben, sodass der:die Täter:in zum Opfer wird. In dieser Form des Wegtheoretisierens wird „Polyvalente Normativität“ nicht stehen gelassen, sondern hat zur Folge, dass Seelsorger:innen selbst keine Differenzen mehr aushalten müssen, weil eine Assimilation an das Gegenüber stattfindet. Die kausale Erklärung löst die Tat oft auch vom Einzelfall und generalisiert sie auf allgemeine Mechanismen (Sozialisation, Umstände, Nicht-Zurechnungsfähigkeit). Durch all dies wird der Bösartigkeitscharakter jedoch nur betäubt. Dennoch weisen die soziologischen und humanwissenschaftlichen Perspektiven darauf hin, dass „Böses“ zu tun nicht einfach (!) eine Sache der Entscheidung ist, sondern in komplexen Zusammenhängen steht. Mit den dargestellten humanwissenschaftlichen Perspektiven lässt einer Moralisierung von Tatbeständen entgegentreten. Und dennoch: Der Mensch hat buchstäblich unerklärlich schreckliche Seiten, die nicht schön- oder wegzureden sind, sie sind nicht zu rechtfertigen. Von da aus wurde nach der Lernbarkeit von „richtig“ und „falsch“ gefragt und die ethische Perspektive hinzugezogen. Im Referat Roths und Fischers zeigt sich, dass eine Ethik, verstanden als Theorie der Moral zu problematisieren ist, weil Menschen nicht aufgrund von vernünftig begründeten Urteilen handeln, sondern sich an der Situation orientieren, die ihnen Grund zum Handeln gibt. Diese zeigen sich immer ex post – in der Kommunikation über sie. Darüber hinaus lässt sichim „Rückwärtslesen“ der Ausführungen Fischers zeigen, dass eine ethische, also theoretische Betrachtung von Situationen mit moralischen Handlungen zu ihrer Systematisierung in „Handlungen“, „durchführende Person der Handlung“ und „Handlungsgründe“ führt, sodass sich die Komplexität von Taten in Situationen besser darstellen und verstehen lässt. Fischer leistet hier hilfreich eine hermeneutische Annäherung an Handlungssituationen durch ihre bewusste Strukturierung, also die Situation ex post in Ursachen, Handlungsgründe oder Motive und Handlungen aufzuteilen, aber gerade nicht davon auszugehen – und dieser Struktur folgend – Handlungsmaßstäbe begründen zu beabsichtigen, um ex ante für Handlungsentscheidungen aufzustellen. Vielmehr sind ethische Kategorien hilfreich, um Verhalten verstehbar zu machen und von da aus mit ihm umgehen zu kön-

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

nen. Von da aus lässt sich für die Gefängnisseelsorge feststellen, dass sie sich ein Verstehen der Situation in der Kommunikation über sie zum Ziel machen kann. Und zwar sowohl retrospektiv in der Reflexion der Straftat als auch prospektiv bei aktuellen ethischen Fragen. Das Verstehen der sozialen, geschichtlichen und emotionalen Situation des Gegenübers, aus der heraus die Straftat vollzogen wurde, bettet die Straftat in einen Handlungskontext ein. Durch ihn lässt sich dem:der Gefängnisseelsorger:in die Perspektive des Gegenübers erschließen, was zu einem Verstehen führt, welches nicht mit „Identifikation“ in Stubbes Sinne zusammenfällt. Darin bleibt „Polyvalente Normativität“ bestehen, ohne dass man sich für eine Seite entscheidet. Verstehen wird hier vielmehr zu einer seelsorglichen Hermeneutik, die seelsorgliche Kommunikation offenhält. Auf diese Weise regt Ethik immer wieder dazu an, in Diskussion zu treten. In dem praktischen und theoretischen Spannungsverhältnis zwischen einer verstehenden Anteilnahme und ein Verantwortungsbewusstsein generieren zu wollen, befindet sich auch der SeelsorgeEthik-Diskurs. Ethik wird der Tatsache zuträglich, dass Menschen stets in „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“ unterscheiden. Seelsorge macht – im interdisziplinären Austausch mit Ethik – plausibel, dass zu moralisieren oder die Begründung von objektiven Handlungsmaßstäben kaum alltagstauglich ist. Das zeigt sich besonders am Ort des Gefängnisses, in dem sogenannte „böse“ Menschen leben, die sich – im Vergleich zu ihren Mitgefangenen – selbst aber nicht als „böse“ oder „Verbrecher“ verstehen. Dies liegt aber nicht daran, dass sie keinen Sinn für richtig und falsch hätten, denn sie beurteilen beispielsweise ihr Mitgefangenen ja selbst als „böse“. Sie nehmen jedoch ihre eigene Situation aus ihrer eigenen Perspektive anders wahr und deuten sie anders, als es manch eine Außenperspektive tun würde. Nähme ein:e Seelsorger:in mit einer solchen Außenperspektive, die in der gehörten Straftat etwas „Böses“ wahrnimmt, eine moralisierende Haltung ein und kommuniziere entsprechend, würde der:die Seelsorger:in bei sich und seinem:ihren Standpunkt bleiben und „Polyvalente Normativität“ gerade nicht polyvalent, sondern nur als Abweichung von seiner:ihrer eigenen Moral bestehen, sodass Täter:innen auf ihre Tat reduziert würden. Ethik lässt sich dagegen als hermeneutische Annäherung an „das Böse“ verstehen, die zwar nicht der Illusion verfällt, der Mensch könne alle Werte als gültig erachten – das geht schon deshalb nicht, weil er immer in „richtig“ und „falsch“ unterteilt –, über die sich aber hinter die Strukturen solcher Bewertungen schauen lässt, etwa mit den Begriffen „moralische Emotionen“ und „sich Verhalten“, die hinweisgebend dafür sind, wie Menschen zu ihren Urteilen kommen. „Das Böse“ ist also weder wegtheoretisierend zu entschuldigen – auch wenn die Ursachen bis in weite Teile soziologisch, psychologisch und neurologisch erklärbar sind – noch zu moralisieren. Weder auf dem einen noch auf dem anderen Wege scheint „Böses“ gänzlich überwindbar. Wie ist dem Leben mit „dem Bösen“ eine Be-

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

deutung zu geben? Diese Frage führte zu der Auseinandersetzung mit theologischen Deutungsperspektiven „des Bösen“. Die theologische Perspektive auf „das Böse“ verweist in ihrer Rede vom „Bösen“ mit Begriffen von „Sünde“ oder ihrem Verständnis von „Vergebung“ auf ihre aus dem Glauben heraus gedeutete Wahrnehmung. In der sogenannten Sündenfallerzählung stellte sich die Erkenntnis von „Gut“ und „Böse“ als Segen – in der gewonnenen Freiheit des Menschen – sowie als Fluch heraus – in einem Sich-nichtverlassen-können –, der in die Sünde führen kann (Kain). Diese Narrative verweisen auf eine Erfahrungswirklichkeit, die in den materialdogmatischen Begriffen der „Sünde“ und „Vergebung“ zum Ausdruck gebracht werden und die systematischtheologisch in den Blick genommen wurden, denn gerade am Ort des Gefängnisses erweist es sich als überaus relevant für die Seelsorge zu wissen, was gemeint ist, wenn jene Begriffe auftauchen. Es wurde herausgestellt, dass besonders „Sünde“ und nicht nur, aber auch „Vergebung“ theologische Begriffe sind. Das, was sie bezeichnen, sind aber existenzielle Erfahrungen, die nicht allein Christinnen und Christen vorbehalten sind. Sie verweisen auf die Erfahrung der Erkenntnis des eigenen, inneren „Guten“ und „Bösen“, auf die Erkenntnis, sich selbst mit einem missbilligenden Blick anzusehen und darüber zu verzweifeln. Die „Vergebung“ oder „Gnade“ stellte sich als Erfahrung des trotzdem bejaht Wissens, der Daseinsberechtigung und des Angenommenseins heraus. Trotz der wichtigen Entmoralisierung des Sündenbegriffs durch die referierte Hamartiologie zeigt sich dennoch – gerade in der Gefängnisseelsorge –, dass der Schuldbegriff, auch in moralischem Sinne (!), nicht gänzlich aus dem Sündenbegriff herauszutrennen ist: peccatum ist peccatum originale und peccatum actuale zugleich. Denn im Gefängnis werden Menschen für schuldig gesprochen und leiden unter ganz realen Schuldgefühlen, die zu berücksichtigen sind, um den Menschen als Menschen ernst zu nehmen und um dem Weg zur Vergebungserfahrung nicht entgegen zu stehen, für den das Schuldgefühl unabdingbar ist. Die Erfahrungen von „gut“ und „böse“ von den Phänomenen dessen, was mit „Sünde“ und „Sündenvergebung“ zum Ausdruck gebracht ist, verweisen gleichermaßen auf eine gewisse Ausgesetztheit. Seelsorger:innen können die Erfahrungen von Schuld und Vergebung nicht bewirken, sie können nur in ihnen begleiten. In dem religiösen Begriff der „Sünde“ sowie den theologisch gedeuteten Phänomenen der Schuld, Scham und Vergebung werden insbesondere die Erfahrungen zum Ausdruck gebracht, die nicht ohne weiteres zugänglich sind. Das Geschehen der Vergebung, in seiner Passivität, verweist auf ein Sich-verlassen-dürfen/müssen, denn alles liegt außerhalb menschlicher Handlungskontrolle: die Entscheidung dessen, was richtig und falsch ist und in letzter Konsequenz zu „Gutem“ oder „Bösem“ führt, die Schuldeinsicht und der Wille, Vergebung gewähren und empfangen zu können und schließlich die Erfahrung von Beziehungserneuerung.

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Teil II Wahrnehmen – Ernstnehmen

All diese Perspektiven zusammengenommen beleuchten „das Böse“ von unterschiedlichen Seiten her und ermöglichen dadurch eine differenzierte Sicht auf seine komplexen Strukturen – sie machen gerade die Komplexität bewusst und wehren jeder vorgreifenden Kategorisierung. Die Perspektiven je für sich genommen (soziologische, psychologische, neurologische, ethische, theologische – die Liste wäre zu erweitern) machen „das Böse“ zugänglicher, finden Erklärungen und Muster, durch die sich dem Phänomen „des Bösen“ annähern lässt. Dabei zeigt sich, dass diese Perspektiven jeweils in ein Gesamtbild gehören. Man kann sich mithin der Wirk-lichkeit „des Bösen“ nur multiperspektivisch annähern. Dies hat Konsequenzen sowohl für die Sicht der Gefängnisseelsorge auf die Gefangenen als auch auf die Seelsorgenden und deren Handlungsmöglichkeiten. Für Inhaftierte bietet dies die Möglichkeit, als Personen (an)gesehen zu werden, die mehr sind als die Summe ihrer Taten. Sie haben eine Geschichte, in die sich ihre Straftat einbetten lässt. Ohne „das Böse“ dieser Tat zu rechtfertigen, führt ein Verständnis der Geschichte und führen darüber hinaus wissenschaftliche Zugänge zu einem Verstehen der Tat, die nicht einfach nur aus der „Boshaftigkeit“ des Gegenübers resultiert. „Das Böse“ ist viel komplexer. Für Gefängnisseelsorger:innen bedeutet dies, die Unterscheidung zwischen gut und böse, richtig und falsch als menschliche hinzunehmen. Daraus folgt auch, die eigenen Wahrnehmungen und Beurteilungs-Entscheidungen hinzunehmen. „Polyvalente Normativität“ kann stehen bleiben – oder vielmehr: sie lässt sich nicht verhindern. Eine hermeneutische Perspektive auf sie macht jedoch ihre Reflexion möglich, eine präzise und flexible Wahrnehmung, bei der gegenwärtige, transdisziplinäre Fragestellungen und Erkenntnisse hilfreich sind. Auf diese Weise wird Seelsorger:innen ein Mitaushalten, ein Begleiten und Vermitteln mit der nötigen professionellen Distanz und der unweigerlichen, notwendigen Mitbetroffenheit möglich. In den Situationen, in denen sich ein eigenes Unvermögen herausstellt, befreit der Glaube dazu, nicht Lösbares in „Gottes Hand“ zu legen. Mit Wittekind551 ist nun der folgende Übergang zur Kommunikationspraxis als theologische mit einzuschließen, und zwar über seine grundlegende Frage, wann ein Begriff eigentlich religiös ist, was er zur Aufgabe wissenschaftlicher Theologie erhebt. Seine Frage lässt sich – über ihn hinausgehend – zuspitzen auf die Frage, wann Kommunikation zu einer seelsorglichen wird. Nun schließt sich die Frage an, auf welche Weise in der Seelsorge kommuniziert werden kann, sodass sich das Ernstgenommenwerden auch wirklich vermittelt, und dabei „Polyvalente Normativität“ stehen bleiben kann, ohne dass man sich über sein Gegenüber erhebt und verurteilt. Die Problematik, theologische Begriffe unreflektiert oder gar unbewusst zu verwenden, hat sich bis hierher ausdrücklich gezeigt. Wie funktioniert Seelsorge

551 Siehe dazu Kapitel 3.3.2.1.

„Das Böse“ wahrnehmen – interdisziplinäre Hinweise

im Gefängnis nun ganz praktisch, wenn Menschen, die „Böses“ getan haben, denen auch „Böses“ widerfahren ist, die mit ihrer Schuld zu tun haben, oder eben auch nicht, trotzdem seelsorglich begegnet werden soll?

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Teil III Kommunikation – Sich-Verhalten

4.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

Bis hierher haben sich die Überlegungen dem sogenannten „Bösen“ am Ort des Gefängnisses angenähert, um damit einen theoretischen Rahmen für Seelsorge im Gefängnis zu schaffen, der besonders auf die Wahrnehmungsfähigkeit Seelsorgender rekurriert, mit dem Zweck, sich den Personen und Situationen entsprechend angemessen seelsorglich verhalten zu können, und zwar trotz vorhandener Wertungsunterschiede. Wie können sich nun Gefängnisseelsorger:innen konkret zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten? Wie lässt sich das Verhalten zu dem Wahrgenommenen nun in der Gefängnisseelsorge konkretisieren? Wie in 0 bereits festgestellt, geht Wahrnehmung der seelsorglichen Kommunikation voraus und gleichzeitig geht Kommunikation Wahrnehmung voraus. Wie seelsorgliche Kommunikation aussieht, kann ganz unterschiedlich sein, wichtig ist, dass sie stattfindet, damit eine seelsorgliche Verbindung bestehen kann. Was also als oberstes Ziel von Seelsorge stehen sollte, ist, dass Kommunikation nicht abbrechen darf. Wie werden nun in der konkreten Gefängnisseelsorge die Seelsorgeziele, die Erwartungen an die Seelsorgeperson und das, was als Seelsorge gilt „ausgehandelt“ und wie wird Seelsorge professionell? Es ist davon auszugehen, dass dies meistens nicht so geschieht, indem diese Erwartungen beiderseits explizit zu Beginn eines Gesprächs formuliert und behandelt werden und dass ein Ergebnis fixiert wird. Vielmehr wird kommunikativ implizierter verfahren. Im Folgenden wird der These nachgegangen, dass Kommunikation das Medium ist, durch das sich Rollenanforderungen, Seelsorge und Seelsorgeziele wahrnehmen und aushandeln lassen, sodass Seelsorge auf einen flexiblen, differenzierten Umgang mit der Pluralität „des Bösen“ vorbereitet ist sowie dasjenige, das es vermag, „Polyvalente Normativität“ zu überbrücken, ohne Grenzen zu ignorieren. Durch beides schafft Kommunikation Gemeinschaft im Sinne einer seelsorglichen Verbindung. Der Kommunikation vorausgesetzt ist eine Wahrnehmung des Kontextes der gesamten Seelsorgesituation, sodass überhaupt so kommuniziert werden kann, dass Beziehung geschaffen wird. Kontexte konstituieren Sprache – und umgekehrt. Im Gefängnis zeigt sich dies sehr anschaulich, indem Sprachcodes, Zeichen und Symbole so verschieden verwendet und gedeutet werden, dass innerhalb der Gefängnisseelsorge nicht von einer gemeinsamen Wirklichkeit als Grundlage für Kommunikation ausgegangen werden kann (4.1). Von hier aus sowie aus den Erkenntnissen aus Kapitel 2.4.1, dass stets ausgehandelt werden muss, was Seelsorge und die Anforderungen an sie

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Teil III Kommunikation – Sich-Verhalten

bedeuten, stellt sich die Frage nach dem konkreten Vollzug dieses Aushandelns und nach der Frage, wie und ob kommunikationstheoretische Kenntnisse zu einem professionellen Umgang mit „Polyvalenter Normativität“ gebraucht werden können (4.2). Wie im 3. Kapitel ersichtlich wurde, müssen sich Gefängnisseelsorger:innen nicht nur mit Menschen auseinandersetzen, die als „die Bösen“ stigmatisiert werden, sondern, die in der Tat schreckliches Leid verursacht haben. Die Glaubensperspektive Seelsorgender – die Deutung des Lebens aus dem Glauben heraus, wie auch immer dieser dezidiert aussehen mag – sowie ihr Handeln im Auftrag der Kirche führen dazu, dass sich Seelsorgende trotz „des Bösen“ im Menschen mit Menschen als Menschen auseinandersetzen und Beziehung schaffen. Nun stellt sich die Frage, ob und wie sich diese Perspektive in der konkreten Seelsorgesituation und damit in der Seelsorgekommunikation äußert. Hinweise darauf lassen sich in dem Phänomen finden, dass in der Praktischen Theologie insgesamt unter der Kommunikation des Evangeliums verhandelt wird. Es ist zu vermuten, dass etwas in der Seelsorgekommunikation vermittelt wird, das dazu beiträgt, dass sie zu einer gelingenden Seelsorgekommunikation wird, und es stellt sich weiterhin die Frage, ob und welchen Einfluss dieses Etwas auf die Erfahrung „Polyvalenter Normativität“ hat (4.3).

4.1

Sprache in ihren Kontexten – Kommunikation im Gefängnis

Seelsorge ist ohne Kommunikation undenkbar, sodass Kommunikation unweigerlich Teil von Seelsorgekontexten ist. Obwohl Seelsorge zuerst mit „Gespräch“ assoziiert wird, umfasst Kommunikation weitaus mehr: Nonverbale Kommunikation, Mimik und Gestik, Kleidung, Glockengeläut, Musik, Kirchen- und Gefängnisarchitektur, Gebet, Segen – all jene kommunizieren etwas.1 Kommunikation kann außerdem über face-to-face-Kommunikation hinausgehen. Gefängnisseelsorger:innen berichten, wie sie mit selbst geschriebenen und inszenierten Theaterstücken Glaubensthemen und -fragen kommunizierten.2 Oder von einem Kunstprojekt, 1 Auch Engemann, Personen, 45 benennt die Vielfalt von Kommunikation gerade auch für den kirchlichen Bereich. 2 Davon berichtet Tietze, Rede, 337–345. Die Gefangenen wurden von Tietze ermutigt, selbst Stücke zu schreiben. „[A]lle Vorschläge von Gefangenen für ein neues […] Theaterstück hatten sehr unmittelbar religiöse, theologisch relevante Inhalte. Mit keinem Wort habe ich hier etwas gesteuert“ (Tietze, Rede, 337). Zumindest in Betracht zu ziehen ist an dieser Stelle, dass die Gefangenen religiöse Themen auch deshalb gewählt haben, weil es die Rolle des Seelsorgers so hergibt. Religiöse Themen sind aufgrund des Gruppenleiters aus Perspektive der Gefangenen naheliegend. Dennoch, und daran ändert die womögliche Anpassung an vermutete Erwartungen nichts, haben sich die Gefangenen darauf eingelassen und sich durch die eigens geschriebenen Stücke mit ihrem Gottesbild beschäftigt. Dieses unterscheidet sich im Übrigen von demjenigen in der Draußenwelt: „während ‚drinnen‘

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

das „den Gefangenen nicht selten aus […] seiner notvollen Ichbezogenheit“3 holt. Wenn von der Ichbezogenheit her sich eine Bezogenheit zu anderen aufbaut, dann wird kommuniziert, von sich aus hin zu einer Öffentlichkeit – und sei es durch Kunstprojekte, die, erarbeitet von Gefangenen, das Gefängnis verlassen und von einer Öffentlichkeit wahrgenommen werden und über die die Öffentlichkeit wiederum ins Gespräch kommt.4 Auch im Gottesdienst, mit seiner Musik und seinen Kasualien, findet Kommunikation statt.5 Dort ist auch der Segen eine Kommunikationsform. In dieser religiösen Handlung wird oft mehr vermittelt als in einer verbalen Kommunikation und der Mensch wird angesehen, ohne dass er etwas dafür tun muss.6 Der Segen kann gedeutet und verstanden werden als Gottesgegenwart und -geheimnis.7 Als Stärken von Sprache werden in Gefängnisseelsorge und -lehre Erzählung und das Erzählen selbst genannt. Erzählungen bilden eine wichtige Funktion innerhalb der Gefängnisseelsorge. Sie sind „interaktive Sinnkonstruktionen im Hier und Jetzt.“8 Erzählungen geschehen nicht in den leeren Raum hinein, sofern das Gegenüber aktiv zuhört, d. h. die Erzählung durch Reformulierungen, Hörer:innensignale interaktiv mitgestaltet und -konstituiert.

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die zynische Rede von einem Gott, der nicht nur das Leid zulässt, sondern Menschen eher Mut macht, andere leiden zu lassen, als dass er sie davon abhielte, ihren ‚Sitz im Leben hat‘, wird draußen doch gern von Gott als dem Liebenden und Allmächtigen gesprochen. Rede von ihm, die dies in Frage stellt, wird skeptisch beargwöhnt“ (Tietze, Rede, 344). Hier nimmt Tietze Bezug auf einen inszenierten Monolog, in dem sich schlussendlich Gott als derjenige herausstellt, der die Inszenierung von Naturkatastrophen fördert: Die Sintflut durch Noah, den Tsunami in Südostasien, Hurrikan Katrina (vgl. Tietze, Rede, 344). Bunse, Hoffnung, 280. Auch Windischer, Gefängnis, 201 berichtet von Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld mittels Kunst. Hier zeigt sich, wie gleichsam mit sich selbst kommuniziert wird, aber auch, wie die Kunst Wege öffnet, um darüber zu reden. Zu dem konkreten Projekt „Krippe am Fluss“ vgl. Bunse, Hoffnung. Windischer, Gefängnis, 202 berichtet, wie der Gottesdienst viel(seitig) besucht wurde: „Die Kapelle eines Gefängnisses, der ‚Kirchgang‘, die Feier der Liturgie sind etwas Besonderes. […] Die Leute drängen meist in die vorderen Reihen. Aufgestellte Ikonen werden geküsst, Kerzen angezündet, mancher verneigt sich inbrünstig vor dem Altar, andere vermeiden Kundgebungen, einige wenige haben auch etwas anderes im Kopf. Oft ist es vor dem Beginn der Feier laut und unruhig, dann, erstaunlich oft, ist alles getragen von Stille, Andacht, Ergriffenheit. […] Es kommen Leute verschiedener christlicher Konfessionen. Die orthodoxen Häftlinge lehrten uns, viel Weihrauch zu verwenden, die freikirchlichen Teilnehmer beteiligten sich durch Amen- und Halleluja-Zwischenrufe, katholische Häftlinge wollten sich als Ministranten engagieren. Abwechselnd wurden verschiedene christliche Riten bzw. Traditionen vollzogen.“ Hier wird ganz unterschiedlich kommuniziert: Über Liturgie, Symbole, Stille, Rufe. Vom helfenden Gottesdienst schreibt beispielsweise Nachtwei, Gefängnisseelsorge, 135. Vgl. Tietze, Kreuz, 77; vgl. ders.: Vergib, 320, 322; vgl. auch Klessmann, Ich armer, 166 mit Hinweis auf Wagner-Rau, Blick. Vgl. Tietze, Vergib, 322. Günther, Seelsorge, 286 [original: kursiv].

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Teil III Kommunikation – Sich-Verhalten

„In der Begegnung von einander fremden Diskurswelten verwickelt das Erzählmuster beide Gesprächspartner in Konstitutions- und Verständigungszwänge, die auf ein gemeinsam abgesichertes Verständnis abzielen […]. Die Gesprächspartner erzählen von sich und konstituieren dabei wechselseitig ihre soziale Identität sowie die Bedeutung des Erzählten, ohne Fremdheit und Verschiedenheit aufzulösen.“9

Das Leben wird von Geschichten geordnet und neu bestimmt.10 Sie haben eine heilsame Sicht auf die Vergangenheit, indem die eigene „Biographie neu geschrieben und transzendiert“11 wird. Geschichten können nacherlebt werden und werden auf diese Weise „‚entzifferbar‘“12 . „Dafür können auch biblische Geschichten hilfreich sein als ‚Stories‘, die häufig aus erschreckenden und schockierenden Erfahrungen entstanden sind. Im Mittelpunkt dieser Geschichten steht immer die Erfahrung von Beziehung oder die Hoffnung auf Beziehung, die trotzdem noch möglich sind.“13

Und sogar „Schweigen“14 kommuniziert etwas und ist oft für beide Lebenswelten angemessener als leere Worthülsen oder falsches Verständnis. Schweigen als Kommunikationsform ist nicht zu unterschätzen.15 Schweigen ist Ausdruck von Betroffenheit, Ausdruck, wenn „es nichts zu sagen gibt, weil es keine Lösung gibt und das Versprechen rascher Hilfe töricht wäre. Schweigen ist eine angemessene Reaktion auf empfundenes Leid.“16 Mit Schweigen kann die Seelsorgeperson „einen Raum für das Gegenüber eröffnen, in dem dieses selber aktiv werden und sich auf die Suche nach Verstehenszusammenhängen machen kann.“17 Wenn nötig,

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Günther, Seelsorge, 286. Vgl. Günther, Seelsorge, 287f. Günther, Seelsorge, 287. Pohl-Patalong, S., Freiräume, 196. Pohl-Patalong, S., Freiräume, 196. Karle, Ausweg, 236; Gärtner, Fremdheit, 20 hebt Karles Begriff des Schweigens als Kommunikationselement hervor. 15 Vgl. Stubbe, Jenseits, 10f. 16 Karle, Ausweg, 236. 17 Klessmann, Seelsorge, 142. Schweigen kann vieles bedeuten: Mit Klessmann lassen sich Scham und die Überforderung damit, einen Anfang zu machen und das Anliegen zum Ausdruck zu bringen, nennen. Daneben nennt Klessmann „Widerstand“, weil die:der Seelsorgesuchende fürchten könnte, durch das Anliegen in ein schlechtes Licht zu geraten und die Beziehung zu belasten. Schweigen kann zudem Ausdruck inneren Engagements sein, indem jemand überlegt, abwägt und in sich hineinspürt. Hier benötigt also jemand Zeit. Schweigen kann auch einen besonderen Augenblick würdigen und lässt dem Erlebten Raum, um nachzuklingen. Schweigen ist auch Ausdruck von Solidarität gegenüber dem Unabänderlichen, wenn jemand im Sterben liegt oder trauert (vgl. Klessmann, Seelsorge, 141f).

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

kann „Schweigen […] manchmal durch paradoxe Interventionen oder Metakommunikation durchbrochen werden (‚was würden Sie jetzt gerne sagen …‘; ‚was befürchten Sie, wenn Sie das aussprächen, was Sie im Moment beschäftigt…‘)“18 , sodass Schweigen als Ausgangspunkt für das eigentliche Anliegen dienen kann. Es gibt also verschiedene Möglichkeiten von Kommunikation, die an dieser Stelle soweit benannt, in Hinblick auf die Fragestellung jedoch nicht weiter vertieft und reflektiert werden müssen. Als soziales Wesen befindet sich der Mensch in einem permanenten Austauschprozess, der in Form von Zeichen in Kontakt zu anderen Menschen tritt.19 Kommunikation ist für jede zwischenmenschliche Beziehung konstitutiv. Wie Watzlawick formuliert kann „man nicht nicht kommunizieren“20 . Zurecht stellt Klessmann heraus, dass Kommunikation eine grundlegende Bedeutung für menschliches Leben habe: „Identitätsentwicklung gelingt nur, wenn Kinder und Jugendliche angesprochen, immer wieder in liebevolle Interaktion und Beziehung verwickelt werden. Nur im Gespräch mit anderen finden wir heraus, wer wir sind bzw. sein wollen.“21 Geht man in Klessmanns Diagnose jedoch einen Schritt zurück, so ist Kommunikation zuerst das, was Beziehungen schafft – oder auch trennt. Ohne Interaktion mit anderen bleibt man auf sich selbst bezogen. Die Beobachtung, dass Kommunikation auch zu Missverstehen, zu Trennung und Gewalt führt – also Beziehungen verhindert oder zerstört, lässt wiederum nach gelingender Kommunikation als gelingende Beziehung fragen. So lässt sich auch mit Wilfried Engemann auf die emotionale Dimension – neben der kognitiven – von Kommunikation hinweisen, „die das Lebensgefühl von Menschen beeinflusst und sich als Erfahrung manifestiert“22 . Kommunikation ist nicht einfach Vermittlung von Information. „Sie ist immer auch Ausdruck eines Partizipationsgeschehens und gibt der Beziehung derer Gestalt, die miteinander kommunizieren.“23 Die These lautet also: Gelingt Kommunikation in der Seelsorge, so gelingt eine seelsorgliche Beziehung. Damit Kommunikation gelingt, ist ein gewisses Maß an Verständnis vorausgesetzt. Kommunikation ist ein „wechselseitig stattfindender Prozess der Bedeutungsvermittlung“24 , der darauf angewiesen ist, dass Sender und Empfänger wechselseitig aufeinander einwirken. Die Bedeutungsvermittlung suggeriert Verständigung, und zwar einerseits insofern, dass die Zeichen – also bestimmte Sprachcodes – verstanden werden, sodass der Kommunikationsinhalt kognitiv erfasst wird, und

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Klessmann, Seelsorge, 141. Vgl. Klessmann, Seelsorge, 117. Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche, 50ff. Klessmann, Seelsorge, 117. Engemann, Einführung, 455. Engemann, Einführung, 455. Burkart, Kommunikationswissenschaft, 118.

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Teil III Kommunikation – Sich-Verhalten

andererseits, dass die mitgeteilte Intention bestenfalls befolgt und umgesetzt wird.25 Über das Kommunikationsmedium, wie der Sprache im Gespräch, werden Zeichen vermittelt, denen eine gewisse Bedeutung zugeordnet wird. Für eine Verständigung ist es wichtig, dass alle Kommunikationspartner:innen die zugeschriebene Bedeutung der verwendeten Zeichen größtenteils kennen und miteinander teilen.26 Dass dem so ist, setzt eine ähnliche Kultur voraus, in der gelernt wird, dass beispielsweise das Zeichen /Hund/ mit einem bellenden und schwanzwedelnden Säugetier verbunden wird. Symbolzeichen haben einen größeren Bedeutungsraum: „‚Freiheit‘ wird ersehnt oder gefürchtet“27 (gerade im Gefängnis! Anm. v. Inderst), das tätowierte Kreuz eines Gefangenen ist Glückssymbol, Christuszeichen oder einfach Schmuckstück. Gerade hier spielt die Wahrnehmung von Kontexten eine enorme Rolle. Im Gefängnis zeigt sich, dass die Bedeutung eines Symbols nicht einfach gegeben ist. Hier bewährt sich das, was Meyer-Blanck für das Verständnis von Symbol und Zeichen unter didaktischen Gesichtspunkten herausarbeitet, nämlich, dass Symbole funktional betrachtet werden sollten. Anders als Peter Biehl – von dem Meyer-Blanck in seinen Analysen ausgeht –, der von einer gewissen Realpräsenz in den Symbolen ausgeht, indem Symbole das verkörperten, was sie symbolisierten, also immer eine bestimmte Interpretation des Symbols vorausgesetzt sei, geht Meyer-Blanck von einem deutungsoffeneren Symbolverständnis aus, weil die Deutung immer von der Person abhänge, die das Symbol deutet. Deshalb seien Symbole eigentlich Zeichen.28 Ein Symbol, also beispielsweise das tätowierte Kreuz auf dem Arm eines Gefangenen, hat eine bestimmte Bedeutung für eben jenen und lässt sich ganz unterschiedlich interpretieren. Für den einen ist es Glückssymbol, für den anderen ist es einfach modisch und für die nächste hat es eine dezidiert christliche Bedeutung. Mit Biehl müsste man nun sagen – der Symbole immer als religiös versteht –, dass dieses Kreuz immer auf etwas Dahinterstehendes verweist, also beispielsweise auf die Hoffnung, dass der Tod nicht das Ende ist. Würde man Biehl folgen, wäre die Interpretation des Gefangenen nicht richtig, sodass man das Symbol zum Anlass nehmen müsste, über die eigentlichen dahinterstehenden Dinge zu sprechen. Man kann sich leicht ausdenken, was der Gefangene davon halten würde und es ist davon auszugehen, dass solche Kommunikation nicht beziehungsfördernd ausgehen würde, weil sie im Streit um die Bedeutung eskalieren würde. Dagegen ist mit dem Symbolverständnis Meyer-Blancks die Chance zu sehen, über die Bedeutung des Kreuzes für den Gefangenen zu sprechen, und zwar erstmal

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Vgl. auch Klessmann, Seelsorge, 118. Vgl. Klessmann, Seelsorge, 118. Klessmann, Seelsorge, 118. Vgl. Meyer-Blanck, Symbol, in dem er für eine semiotische Weiterführung der Symboldidaktik plädiert. Zu Biehls Symbolverständnis vgl. Biehl, Symbole; ders., Symbole II.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

unabhängig von der eigenen Bedeutung des Kreuzzeichens und immer mit Blick darauf, dass es stets aushandelbar ist. Sprache ist also immer kontextuell zu verstehen. Günther beschreibt, dass der Lebenskontext zwischen Gefängnisseelsorgenden und Gefangenen derartig different sei, dass sie jeweils eine „andere[…] Sprache“29 sprächen, mit der sie ihre Erfahrungen zum Ausdruck brächten. Die Herausforderung der Seelsorge, und der Gefängnisseelsorge im Besonderen, besteht in der Kommunikation zwischen „Angehörigen aus verschiedenen Diskurswelten“30 , insofern der:die Seelsorger:in aus dem einen und der:die Gesprächspartner:in aus dem anderen Milieu kommen. Im Gefängnis „kommunizieren Menschen aus verschiedenen Diskurswelten, in verschiedenen institutionellen Positionen, aus ganz unterschiedlichen religiösen und biographischen Zusammenhängen, mit sehr unterschiedlichen Plausibilitäten, Selbstverständlichkeiten, Wertund Normenvorstellungen, Interaktionserfahrungen und -mustern.“31

Häufig treffen im Gefängnis ein elaborierter Sprachgebrauch auf Seiten der Seelsorgeperson und ein restringierter Sprachgebrauch auf Seiten des Gegenübers aufeinander, sodass „Zeichenvorrat und Zeichenbedeutung […] u.U. nur geringe Überschneidungen auf[weisen].“32 Gerade im Gefängnis, das ein zumeist sehr säkulares Milieu kennzeichnet, fährt Seelsorge „‚zweigleisig‘, da sie neben einer Erstkodierung eine Zweitkodierung verwendet. Ihr Geschick besteht darin, kunstgerecht die Implikationen [gemeint sind scheinbar Implikaturen, Anm. v. Inderst] der Religion in das Gespräch einzubeziehen […]. Kontingenz und Würdigung von Individualität sind hierbei die zentralen Themen.“33

Die Kontingenzerfahrung der Gefangenen, so ließe sich demnach suggerieren, müsste von dem Seelsorger als solche in seinen religiösen Codes wahrgenommen und nun in den sprachlichen Codes des Gegenübers übertragen werden. Darum bedeute „Pastorale Kommunikation […] häufig Übersetzungsarbeit“34 wie

29 Günther, Seelsorge, 25. Mit „Sprache“ sind Selbstverständlichkeiten, Deutungsvoraussetzungen, Interaktionsnormen, und Gesprächsverhalten gemeint – nicht etwa eine fremde Sprache einer anderen Nationalität. 30 Günther, Seelsorge, 178. 31 Günther, Seelsorge, 262. 32 Klessmann, Seelsorge, 119. 33 Emlein, Eigenheiten, 225, zit. nach Karle, Ausweg, 240. 34 Gärtner, Fremdheit, 24.

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Teil III Kommunikation – Sich-Verhalten

Stefan Gärtner35 beschreibt. Er nennt Seelsorger:innen deshalb auch „Dolmetscherinnen“36 , wenn sie zwischen den „jüdisch-christlichen Traditionen und der je konkreten Lebensgeschichte der Gefangenen“37 vermitteln. Über Gärtner hinaus müsste man sogar noch sagen, dass auch innerhalb der jüdisch-christlichen Traditionen vermittelt werden muss, also in den Blick genommen wird, was unter Hauschildt als Interreligiösität unter Einheimischen bezeichnet wird, weil selbst im christlichen Kontext nicht unbedingt klar ist, was unter den entsprechend religiös codierten Begriffen jeweils verstanden wird.38 Oft gilt es auch, nicht nur Rede, sondern auch religiöse Handlungen zu übersetzen, die ebenfalls Ausdruck von Kommunikation sind. Ein Gefängnispfarrer berichtet von Einzelfällen, „in denen Muslime ihn bitten, mit ihm zu beten. Er finde „‚in der Anrede Gottes Formen, die uns beiden gerecht werden‘ und hat das Gefühl, dass der andere ‚das für sich übersetzt in seine Religion‘“39 . Der „gemeinsame Nenner“ zeigt sich hier bereits in der Nachfrage, gemeinsam zu beten. Trotz unterschiedlicher Glaubenstraditionen wird hier im Gebet eine Gemeinsamkeit entdeckt, die eine gemeinsame Sprachform darstellt, in der etwas gemeinsam getan wird, obwohl jede:r Beteiligte dabei ihr:sein jeweils eigenes Gottesbild hat. Hier steht nicht die Wahrheit, wer oder was Gott ist, sondern die Sache, weshalb gebetet wird, im Vordergrund. Auch hier sind existenzielle Fragen und Erfahrungen implizit zu erkennen. Dahinter können auf Seiten der Gefangenen „unreflektierte Grunderfahrungen und Wahrnehmungen – von Traurigkeit und Freude, von Enttäuschung und Hoffnung, von Entbehrung und Kraft [stehen]. Einfache spirituelle Deutungen […] mögen sich daran anschliessen – etwa der Glaube an die Präsenz böser Kräfte im eigenen Leben oder der Glaube, von blindem Schicksal geschlagen zu sein“40 .

Von da aus ist mit Gärtner und Günther zu sagen, dass „er [der Seelsorger] gewissermaßen auf der Schwelle zwischen verschiedenen Welten [steht]“41 und alle Kommunikationsteilnehmer:innen ihre je „eigenen Vorstellungen, Erwartungen

35 Dr. habil. Stefan Gärtner ist Privatdozent an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Assistant Professor für Praktische Theologie an der Universität Tilburg. 36 Gärtner, Fremdheit, 24. 37 Gärtner, Fremdheit, 24. 38 Deshalb ist der Begriff der „Übersetzungsarbeit“ Seelsorgender oder ihre Rolle als Dolmetscher:innen problematisch, weil anders als in der Übersetzung von einer Sprache in die andere, nicht von vornherein klar ist, von welchem Bedeutungsverständnis auszugehen ist. 39 Becci/Willems, Gefängnisseelsorge, 106. 40 Brandner, Gottesbegegnungen, 230 [original: in Teilen kursiv]. 41 Gärtner, Fremdheit, 25 mit Bezug auf Günther, Seelsorge, 256–298.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

und Sprachformen in die pastorale Kommunikation [einbringen]“42 , die gegenseitig über den Aushandlungsprozess ansatzweise verstanden werden müssen, damit Kommunikation gelingt.43 Im Gefängnis gestaltet sich der Kontext von Sprache anders als an anderen Orten. Hier wird einem die Relevanz, Kontexte wahrnehmen zu können, in der Verschränkung mit einer bewussten Kommunikation besonders vor Augen geführt: Welche Wirkung müssen Sätze, die für Seelsorger:innen alltäglich sind, auf Gefangene haben, wie: „‚Ich habe mich wieder gefangen‘ – ‚Ich schließe Sie in mein Gebet ein‘ – ‚Er war von etwas gefesselt‘ – ‚An Schrift und Bekenntnis gebunden‘“44 ? Diese Aussagen sagen u.U. mehr über Unfreiheit als über Freiheit aus und verleiten Gefangene eher dazu, sich zum Opfer zu machen als solches zu fühlen.45 Christlich konnotierte Sprachbilder sind im Kontext Gefängnis ohnehin schwierig, „durch die häufig kaum vorhandene christliche Sozialisation der Inhaftierten. Begriffe wie ‚Vater‘, ‚Mutter‘ oder ‚Freund‘ sind oftmals negativ konnotiert, Liebe und Solidarität gehören in vielen Fällen nicht zum Erfahrungshorizont.“46 Darüber hinaus verlieren Inhaftierte „[d]urch den mangelnden Kontakt zu ‚normaler‘ Sozialität […] bestimmte kommunikative und kulturelle Fähigkeiten, die [sie] anschlussfähig machen an das ‚normale‘ soziale Leben.“47 Allein diese Beispiele zeigen, wie seelsorgliche Kommunikation auf die Wahrnehmung von Kontexten angewiesen ist. Ohne sie könnte Kommunikation gar weitere Mauern aufbauen, statt verbindend zu wirken. In der Gefängnisseelsorge (und nicht nur dort) kann also keine gemeinsame Wirklichkeit als Ausgangsbasis für Kommunikation angenommen werden, sodass Fremdheit und Differenzen den Ausgangspunkt pastoraler Kommunikation im Gefängnis bilden, wie Gärtner beschreibt.48 Gärtner betont, dass beide Kommunikationsseiten in gewisser Weise füreinander fremd bleiben, trotz der möglichen Überlappungen ihrer Wirklichkeiten beim wechselseitigen Verstehen. „Ihre Lebenssituation [und hier müsste man tatsächlich die Situationen des gesamten Lebens, also die gesamte Kontextualität mitbedenken, und nicht nur die gerade aktuelle, Anm. v. Inderst] ist und bleibt eine ganz andere.“49 Gärtner trägt dem Umstand

42 43 44 45 46 47 48

Gärtner, Fremdheit, 25. Vgl. Gärtner, Fremdheit, 25. Tietze, Neues, 595. Vgl. Tietze, Neues, 595. Merzyn, Lebenslange, 348. Karle, Ausweg, 232. Vgl. Gärtner, Fremdheit, 24. Gärtner bestimmt Differenzen und Fremdheit in der Seelsorge überhaupt zum Normallfall, die in der Gefängnisseelsorge noch offensichtlicher an die Oberfläche träten. 49 Gärtner, Fremdheit, 25.

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Teil III Kommunikation – Sich-Verhalten

von Differenzen Rechnung, insofern sie bestehen bleiben und auch bleiben dürfen. Blieben die verbleibenden Grenzen nicht im Bewusstsein, so Gärtner, würde die eine Seite von der anderen „überrollt und die eigentliche Fremdheit des anderen in die eigene Wirklichkeit integriert […]. Der Gefängnisseelsorger kann zum Beispiel oberflächliche theologische Label auf die Erfahrungen einer Gefangenen kleben, anstatt sich einem echten Verständnis anzunähern“50 , wodurch das Gegenüber jedoch nicht ernstgenommen werden würde und eine seelsorgliche Beziehung sehr einseitig – von dem:der Seelsorger:in zum:zur Gesprächspartner:in – bestimmt bliebe.

4.2

Seelsorge „aushandeln“ und sich zur „Polyvalenten Normativität“ verhalten – linguistische Hinweise in der Seelsorge

Die vorausgegangenen Erkenntnisse sowie diejenigen aus Kapitel 2.4.1.3, dass stets ausgehandelt werden muss, was Seelsorge und die Anforderungen an sie bedeuten, führen zu der Frage nach dem konkreten Vollzug dieses Aushandelns. In der Seelsorgelehre hat sich besonders Eberhard Hauschildt durch seine „sozio-linguistische“51 Analyse von Seelsorgegesprächen, die er als „Alltagsseelorge“ konzipiert mit der sprachlichen Perspektive von Seelsorge auseinandergesetzt. Hauschildt brachte die sozio-linguistische Perspektive auf Seelsorgegespräche neu in den Seelsorgediskurs ein. Seine einschlägige Arbeit dient für das Folgende als theoretische Grundlage in der Frage, wie ausgehandelt wird, was als Seelsorge, ihr Inhalt und die Rollenanforderungen an die Seelsorgeperson gilt (4.2.1). Darüber hinaus bilden seine Analysen Anhaltspunkte für eine gemeinschaftsfördernde Kommunikation, trotz bestehender Konflikte und damit für den dezidiert sprachlichen Umgang mit „Polyvalenter Normativität“, wie an einem konkreten Gesprächsbeispiel aus der Gefängnisseelsorge aufgezeigt werden soll (4.2.2). Diesbezüglich ist auch auf die Arbeit seines Schülers Eike Kohler zu referieren. Während Hauschildt Gespräche von pastoralen Geburtstagsbesuchen deskriptiv analysierte, versucht Kohler, angelehnt an die fünf Schritte der Rhetorik, eine Metasprache für die Seelsorge herauszustellen, mit der es – zwar begrenzt – möglich ist, „sprachliche Äußerungen nicht mehr als bloße[n] Ausdruck subjektiver, situations- und personabhängiger Kreativität“52 zu verstehen, sondern den Situations- und Personbezug durch Rhetorik beschreibbar und damit

50 Gärtner, Fremdheit, 26. 51 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 79f bezeichnet mit dem Begriff „die Kombination von soziologischer und linguistischer Perspektive“, während „[t]raditionell […] zwischen der linguistischen Unterdisziplin ‚Soziolinguistik‘ und der sich für Sprachphänomene interessierenden ‚Soziologie der Sprache‘ streng unterschieden [wird]. 52 Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 141.

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in gewissen Grenzen übertragbar zu machen (4.2.3).53 Dies lässt sich auch für die Seelsorgekommunikation im Gefängnis fruchtbar machen (4.2.4). 4.2.1

Seelsorge, Ziele, Rollen „aushandeln“ – Theoretische Hinweise aus der Soziolinguistik (Eberhard Hauschildt)

In der Seelsorgelehre ist – besonders in Hauschildts Arbeiten – häufig die Rede davon, dass stets auszuhandeln sei, was unter Seelsorge zu verstehen ist. Rollen werden ausgehandelt, wechselseitige Beziehungen, Identitäten und Gesprächsziele.54 Dies legt die Frage nahe, wie ein solches Aushandeln konkret aussieht – wie also lassen sich Verständnis von und Anforderungen an Seelsorge und die Rolle der Seelsorgeperson im Gespräch wahrnehmen? Zunächst gibt der Kontext eine gewisse Rolle vor. Im Gefängnis müssen die Insassinnen und Insassen zunächst einen Antrag auf Seelsorge stellen, sodass der Seelsorger oder die Seelsorgerin explizit als solche aufgesucht wird. Es wird klar sein, dass sie von der kirchlichen Institution herkommen. Die Rollenzuschreibung einer Person der Kirche – wie auch immer diese näher charakterisiert ist – ist den Seelsorgegesprächen förmlich vorausgesetzt und unterscheidet sich dadurch von anderen Gesprächen, beispielsweise zwischen zwei Häftlingen untereinander. Damit ist das Seelsorgegespräch im Gefängnis institutionell.55 Hauschildts sozio-linguistische Analyse von Gesprächen während pastoraler Geburtstagsbesuche zeigt deskriptiv, welche Faktoren während eines Gesprächs wirken. Dabei ist zu betonen, dass Gesprächstheorien keine Kataloge erstellen können, die auswendig zu lernen wären, und dann in einem Gespräch eins zu eins anwendbar. Die Praxis gestaltet sich häufig spontaner, Theorie muss sich an ihr erst bewähren. Daneben wird eine „Methode der Gesprächsanalyse, bei der aus sprachphilosophischen oder grammatikalischen Theorie abgeleitete Klassifizierungen als Hypothese erst nachträglich empirisch erhärtet werden sollen, […] dem Phänomen Gespräch deshalb nicht gerecht, weil ihre Klassifizierung eben die Wirklichkeit in einer Weise strukturieren, wie dies für die am Gespräch beteiligten offensichtlich so nicht relevant ist, denn sonst würden diese sich ja besser an die von den Theorien vorgeschlagenen Klassifizierungen halten.“56

53 Vgl. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 141. 54 Vgl. Hauschildt, Seelsorgebewegung, 272; vgl. ders., Interkulturelle Seelsorge unter Einheimischen, 264; vgl. ders., Auftrag, 7; vgl. Günther, Seelsorge, 221; vgl. Brandner, Freundschaft, 186. 55 Analog dazu stehen die von Hauschildt, Alltagsseelsorge, 215 analysierten kirchliche Geburtstagsbesuche, die sich, trotz überschneidender Merkmale, durch ihre Institutionalität von anderen alltäglichen Gesprächen unterscheiden. 56 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 98.

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Durch Hauschildts Analysen wird folglich keine „Wenn-dann-Logik“ formiert, sondern sie sind als Reflexionsbewusstsein für linguistische Konstitutionen im Gespräch zu lesen, die durch die wissenschaftliche Reflexion durch linguistische Theorien, insbesondere der Konversationsanalyse57 der Ethnologie, jedoch auch nicht völlig beliebig sind. Hauschildt erörtert, dass Gespräche nicht einfach da sind, „etwa als schematischer Vollzug eines Ablaufs, nach dem sich jedes Alltagsgespräch eindeutig klassifizieren ließe. Sie wird stattdessen eigens im Gespräch selbst hergestellt, und zwar gemeinsam von den Akteuren selbst“58 . Dabei wirken sozial erlernte und kontextabhängige Mechanismen, die gleichzeitig kontexterneuernd wirken und soziale Wirklichkeit rekonstruieren. „Die konversationsanalytische Erforschung kann darum in zwei Richtungen gehen. Sie kann (a) in konkreten Daten diese ‚allereinfachsten‘ Mechanismen […] als überhaupt in Gesprächen operierende Organisationswerkzeuge entdecken und ihren Regelcharakter zu erfassen versuchen“59 .

In der Mikroanalyse ist das sogenannte „turn-taking“60 , also die Verteilung des Rederechts relevant, durch die das Gespräch bestimmt wird. „Eine Person, die gerade spricht, hat die Möglichkeit, frühzeitig im turn die als nächstes sprechende Person auszuwählen, etwa indem sie eine Frage formuliert. Daraufhin wird erwartet, daß die so gewählte Person den turn übernimmt. Wendet die gegenwärtige Sprecherin solche Technik nicht an, steht der nächste turn frei zur Selbstwahl des Gegenübers. Wird diese Option nicht angenommen, kann die gegenwärtige Sprecherin sich selbst wählen. […] Das ‚turn-taking‘ läßt sich auch aus der Perspektive der hörenden Person beschreiben: Während das Gegenüber spricht, hat sie entweder die Möglichkeit, dann einen turn zu beginnen, wenn ihr der turn vom Redenden zugeteilt wird. Sie kann außerdem, wenn der Redende seinen turn beendet hat, sich den neuen turn nehmen. Denkbar ist auch, daß sie den Redenden einfach unterbricht. Dann aber wird dieser neue turn eben gerade explizit als auf den alten bezogen eingeführt werden: ‚Tschuldigung, aber…‘ – womit angezeigt wird, daß das Rederecht des anderen verletzt, die bislang geltende Relevanzordnung sistiert wird und dafür eine Begründung geliefert werden muß.“61

57 Zu den von Hauschildt verwendeten Referenzen bezüglich des Grundlagenverständnisses der Konversationsanalyse vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 98. 58 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 99. 59 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 100. 60 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 100. 61 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 100.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

„Und sie kann (b) zeigen, wie unter Verwendung dieser Mechanismen der institutionelle Kontext von Gesprächen ebenfalls lokal ausgehandelt, also rekonstruiert wird.“62 Folglich bewährt sich „[d]er ethnomethodologische Zugriff […] also nicht nur in der Mikroanalyse des Gesprächs. Er kann die Rekonstruktion institutioneller Gesprächssituationen und soziale Gesamtformen des Gesprächs umfassen.“63 Durch seine erarbeiteten Prämissen sind Hauschildts Analysen anschlussfähig an die bisherigen Überlegungen, in denen von einem konstruktivistischen, flexiblen, indeterminierten Verständnis ausgegangen wird. In Hauschildts Transkriptionen zeigen sich sogar Phänomene „Polyvalenter Normativität“.64 Hauschildt beschreibt hier sehr detailliert den Gesprächsverlauf unter sozio-linguistischer Perspektive, benennt aber nicht die offenkundige Differenz zwischen der Seelsorgeperson und der Seelsorge suchenden Person. „Polyvalente Normativität“ ist aber auch hier schon offenkundig. Hauschildts Analysen zeigen, wie sich auf ganz praktischer Ebene Personen mit ihren Kontexten wie Ansprüchen auf kommunikativer Ebene angenähert wird, und zwar seitens der Seelsorger:innen wie der Seelsorge suchenden Person. Denn beide konstituieren innerhalb ihres Gesprächs eine gemeinsame Wirklichkeit. Prämisse der Kommunikation in der Seelsorge ist, dass eine solche überhaupt stattfindet und Gemeinschaft schafft. Wie beginnt also ein Gespräch, in dem überhaupt ein Wechsel der turns stattfinden kann, und zwar mit einer Ausgangsbasis des Vertrauens? Während in Therapiesitzungen beispielsweise die Frage zu Beginn: „Was bedrückt Sie?“ grundsätzlich stehen kann, weil der Rahmen der Therapie für beide Seiten deutlich macht, dass jemand ein therapiebedürftiges Anliegen hat, ist dies in der Seelsorge anders – auch im Gefängnis. Ein:e Antragsteller:in im Gefängnis kann ja auch ein Gespräch suchen, um etwas Abwechslung vom Alltag zu haben oder mit dem Ansinnen, an Zigaretten zu kommen und daneben auch, um über die eigene Schuld oder die Schuld anderer zu sprechen. Auch im Gefängnis geht es häufig um eine einfache Alltagsbewältigung. An dieser Stelle wird relevant, was Eberhard Hauschildt unter den Begriff der „Alltagsseelsorge“ fasst. Sie steht zwischen den hochgesteckten Zielen der „hohe[n] Therapie und hohe[n] Theologie“65 ,

62 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 100. 63 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 104. 64 Insbesondere sei auf ein Gespräch in Hauschildt, Alltagsseelsorge, 198f verwiesen, indem die besuchte Frau gegen „diese Ausländer“ (Hauschildt, Alltagsseelsorge, 198) debattiert, die sie „alle rausfegen“ (Hauschildt, Alltagsseelsorge, 198) würde, wenn sie „mal an die Regierung hinlassen“ (Hauschildt, Alltagsseelsorge, 198) würde. Der Seelsorger kann dem sehr offensichtlich nicht zustimmen und widerspricht ihr dezidiert: „nein“ (Hauschildt, Alltagsseelsorge, 198) und wechselt irgendwann das Thema: „ach, erzähln´S mir von Ihnen Frau […]“ (Hauschildt, Alltagsseelsorge, 199). 65 Hauschildt, Seelsorgebewegung, 272.

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insofern sie etwas anderes leistet, nämlich „die kleinräumig gesprächsweise ausgehandelte Erarbeitung des Jetzigen.“66 Hauschildt geht davon aus, dass die meisten, tatsächlich geführten Seelsorgegespräche ganz anders sind als in den beiden Hauptströmungen der Seelsorgetheorien dargestellt: „Sie sind viel kürzer: ‚zwischen Tür und Angel‘[…]. Sie sind viel unbestimmter: ‚über Gott und die Welt‘, ‚auf einen Schwatz‘. Sie sind viel ungeschützter: an der Bushaltestelle, im Supermarkt, über den Gartenzaun. Ihr Zustandekommen ist viel zufälliger […]. Diese Gespräche entstehen im Zusammenhang des Alltags; sie sind der Alltag der Seelsorge.“67 In dieser Seelsorgeform geschieht eine schlichte Form der Kommunikation, derer sich Seelsorgende nicht schämen müssen, weil sie zur Normalität, zum Alltag gehören.68 „Zufallsbegegnungen, in denen nach dem Ergehen gefragt, Mitgefühl ausgesprochen und eine gewisse Herzlichkeit ausgestrahlt wird, sind ein Aspekt seelsorglicher Arbeit in der Gemeinde, aber auch im Krankenhaus, im Pflegeheim. […] So wird ein Klima des Vertrauens geschaffen.“69 Religiöse Themen spielen eher selten eine explizite Rolle, genau wie sonst im Alltag auch. Dennoch kann sie seitens Seelsorgender wahrgenommen werden, und zwar in Redewendungen, „die als soziologische und psychologische Funktion von Religion angesehen werden können (Sinngebung, Ohnmachtsbewältigung, Kontingenzreduzierung […]).“70 Oder in Aussagen, die darauf hinweisen, dass das Gegenüber von „nicht-empirischen Wirkfaktoren (‚Transzendenzakteure‘)“71 ausgeht. Beispielsweise wenn von Schutzengeln die Rede ist oder von Karma. Sie sind oft auf den Moment bezogen und es stehen nicht immer große Weltanschauung dahinter. Alltagsseelsorge zeigt sich auch dann, wenn sich explizit auf Kirche und Erfahrungen mit ihr und ihren Akteuren bezogen wird. Auch da wird nicht unbedingt über den eigenen Glauben geredet. Solch kleine „episodenhafte[…] religiöse[…] Rationalisierungen“72 lassen sich unter „Alltagstheologie“73 fassen.74

66 Hauschildt, Seelsorgebewegung, 272. Hauschildt war insbesondere daran interessiert darzustellen, wie Seelsorgegespräche wirklich geführt werden. Die Verbatims, die in der Seelsorgeausbildung verschriftlicht werden, können qua ihres Mediums schon nicht den Duktus eines wirklichen Gesprächs abbilden. Aufgrund dessen hat sich Hauschildt zur Aufgabe gemacht, Tonbandaufnahmen von Geburtstagsgesprächen aufzunehmen und zu transkribieren, vgl. dazu Hauschildt, Alltagsseelsorge. 67 Hauschildt, Alltagsseelsorge. Der Alltag, 8. 68 Vgl. Hauschildt, Seelsorgebewegung, 268. Ziemer, Seelsorgelehre, 128 schreibt, man könne „solches Forschungsergebnis erst einmal mit ein wenig Erleichterung aufnehmen.“ 69 Ziemer, Seelsorgelehre, 128. 70 Hauschildt, Alltagsseelsorge. Der Alltag, 13. 71 Hauschildt, Alltagsseelsorge. Der Alltag, 13. 72 Hauschildt, Alltagsseelsorge. Der Alltag, 14. 73 Hauschildt, Alltagsseelsorge. Der Alltag, 14 [original: kursiv]; vgl. ders., Seelsorgebewegung, 269. 74 Vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge. Der Alltag, 13f.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

Hauschildt zeigt, dass es auch bei Nichtanwendung therapeutisch-beratender bzw. theologischer Methoden – oder gar bei untherapeutisch seelsorglichem Verhalten – Seelsorgegespräche trotzdem zu „eine[r] lokale[n] Lösung, für einen Moment, für dieses Gespräch“75 kommen kann. Der Rahmen, in dem Seelsorge im Gefängnis stattfindet, ist nicht auf „Zufallsbegegnungen“ ausgelegt. Gespräche „zwischen Tür und Angel“ sind geradezu undenkbar. Folglich müsste Alltagsseelsorge im Gefängnis sich auf die Kommunikation – das weniger therapeutische, weniger biblische und mehr zufällige Reden konzentrieren. Und darin liegt wiederum die Möglichkeit von Alltagsseelsorge im Gefängnis. Der kontrollierte Ablauf im Gefängnis ist ebenfalls alltäglich, weil der Alltag Gefangener genau so gestaltet wird. Eine Alltagsseelsorge nimmt genau diesen Alltag in den Blick, schaut auf das, was neben den Themen der Schuld oder sogar noch vor den Schuldfragen anliegt. Dadurch wirkt sie mehr als jede andere Seelsorgeform einer Stigmatisierung Gefangener als „die Bösen“ entgegen. Indem Alltagsseelsorge auf einen „seelsorglichen Kontakt mit ganz ,normalen‘ Menschen und deren ganz normalen Lebenszügen“76 abzielt, normalisiert sie den Alltag Gefangener und behandelt sie nicht als Verbrecher, die große Schuld auf sich geladen haben und sich deshalb in diesem Rahmen befinden, sondern als Menschen, die von ihren Alltäglichkeiten herausgefordert sind. Der Umgang mit „dem Bösen“ besteht hier in seiner Relativierung durch den Alltag und der resultierenden Wahrnehmung des ganzen Menschen in seinem komplexen Umfeld, der auch andere Seiten als nur die „bösen“/„schuldhaften“ hat und darüber auch den Blick des Gegenübers auf sich selbst verändert, als Mensch, nicht nur als „schuldiger“/„böser“/ „schlechter“ Gefangener. Wenn Gefängnisseelsorge Raum für Small Talk gibt – und ein eben solcher kann bereits seelsorglich sein – ,schafft sie Raum dafür „normale“ Seiten zu entdecken – fernab von der Stigmatisierung zum „Bösen“. In ihrer Rolle sind Pfarrer:innen innerhalb der Alltagsseelsorge „[n]ichts anderes als irgendwelche Personen, mit denen sich gerade ein Gespräch ergibt.“77 Bei dem:der Gefangenenseelsorger:in funktioniert dies nicht, weil Seelsorgende dezidiert durch eine Antragstellung seitens der Inhaftierten angefragt werden müssen. Die Rolle des:der Seelsorgenden eben als Seelsorger:in oder noch präziser als Gefängnispfarrer:in läuft in stärkerer Weise mit als in den Alltagssituationen außerhalb der Gefängnismauern. Die Rollenzuweisungen im Gefängnis sind expliziter. Das heißt, dass alltagsseelsorgliche Gespräche möglicherweise schneller als in der Draußenwelt in ein therapeutisches oder theologisches Gespräch überlaufen – ohne diesen Anspruch zu haben, weil Alltagsseelsorge nicht einfach nur als Methode, als Sprungbrett für „professionelle“ Seelsorge fungiert. Aber so „können christliche Seelsorgerinnen und Seelsorger in der Tat Meister in Sachen Seele werden – in Sachen der komplexen Zusammenhänge von mentaler Gesundheit und Lebenssinn, von archaisch-mystischem

75 Hauschildt, Seelsorgebewegung, 271. 76 Hauschildt, Alltagsseelsorge 1998, 25; vgl. auch ders., Alltagsseelsorge. Der Alltag, 9. Hauschildt, Der Alltag der Seelsorge. 77 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 25.

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Bedürfnis und moderner Gesprächskultur der Selbstreflexion.“78 Gerade die Alltagsseelsorge erfordert ein hohes Maß an Wahrnehmungsfähigkeit dessen, welche Aufgaben, Ansprüche und Rollenzuweisungen an sie und die Seelsorgepersonen herangetragen werden sowie ein hohes Maß an Flexibilität, um angemessen darauf reagieren zu können. „Alltagsseelsorge macht nicht Professionalität überflüssig, sondern umgekehrt: es gehört zur Professionalität des Seelsorgeberufs […], mit den alltagsseelsorglichen Dynamiken bewusst und kontrolliert umzugehen.“79

Hauschildt beschreibt Small Talk als eine viel verwendete Gesprächsform zu Beginn des Gespräches, um sich „gegenseitig soziale Wertschätzung angedeihen zu lassen. Man versichert einander, daß die Absichten gut sind. Worüber geredet wird, spielt eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist, daß geredet wird und nicht geschwiegen, denn ein Schweigen läßt das Gegenüber über die Absichten im Unklaren“80 .

Signale der Zustimmung treten hier deutlich verstärkt auf, weil Übereinstimmung demonstriert werden soll. Das Gesagte des Gegenübers wird häufiger wiederholt und empathisch betont, beispielsweise durch freundliches Lachen. Positive Emotionen werden auf diese Weise vermittelt, unklare Situationen entlastet. Inhaltlich werden „zum Small talk solche Themen gewählt, die das soziale Band besonders gut knüpfen können. Sie dürfen nicht kontrovers sein und müssen von beiden Seiten thematisiert werden können. Am allerbesten und in nahezu jeder denkbaren Situation erfüllt diese Qualifikation das sicherste und klassische Thema: Wetter.“81

78 Hauschildt, Trümpfe, 184. 79 Hauschildt, Alltagsseelsorge. Der Alltag, 16. 80 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 158 mit Verweis auf Bronislaw Malinowski, Das Problem der Bedeutung in primitiven Sprachen, in: Charles K. Ogden/Ivor A. Richards, Die Bedeutung, 349. Auch hier muss jedoch das Schweigen differenziert werden. Wie in Abschnitt 4.3.3 in einem Gesprächsbeispiel des Gefängnisseelsorgers Windischer illustriert wird sowie in Karles Ausführungen dargestellt wurde, kann Schweigen gerade in der unmittelbaren Erfahrung ‚Polyvalenter Normativität‘ ein (Mit-)Aushalten anzeigen, wenn sich schreckliche Erzählungen und Widerfahrnisse nicht wegreden oder relativieren lassen. Dann zeigt Schweigen an, dass das Gegenüber in dieser Mitbetroffenheit Anteil nimmt, das Problem aber genauso wenig zu lösen vermag. Auf dieselben Funktionen des Small Talks schließt auch Günther, Seelsorge, 50f. 81 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 163.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

Ausgerechnet das Thema „Wetter“ eignet sich allerdings nicht so automatisch für den Small Talk im Gefängnis wie außerhalb der Mauern.82 Denn hier liegt ein Ort vor, in dem das Thema „Wetter“ nicht von beiden Seiten thematisiert werden kann, zumindest dann nicht, wenn es nicht kontrovers sein soll. Das Thema „Wetter“ eignet sich für alle Menschen, die entscheiden können, ob sie hinaus gehen wollen, um die Sonne zu genießen, oder lieber drinnen bleiben, weil es regnet und stürmt. Wenn es dabei Unterschiede geben sollte, zum Beispiel, wenn jemand aufgrund seines Hangs zum Sonnenbrand lieber drinnen bleiben möchte, dann bilden sie keine Streitpunkte, sondern eher Vorlagen zum weiteren Gespräch. Im Gefängnis können Menschen aber nicht frei entscheiden, ob sie nach draußen gehen oder nicht und innerhalb der Gefängniszellen tangiert das Wetter draußen nur peripher. Ein Gespräch über das Wetter im Kontext Gefängnis könnte sogar zum Streit führen, weil es den Gefangenen vor Augen führt, dass sie drinnen sind und nicht draußen – „Wetter“ wird ein Gespräch über Freiheit und Gefangenschaft.83 Wie aber verläuft ein Gespräch nach seinem Beginn? Wie kommt es zum Wechsel der turn, wie zeigt sich an, ob das Gegenüber eine zustimmende oder ablehnende Haltung zum Gesagten einnimmt – wie wird „ausgehandelt“? Besondere Hinweise liefern Hauschildts deskriptive Analysen der Interaktionsformen sogenannter darstellender Gespräche, die also nicht dezidierten gesprächstherapeutischen Methoden unterliegen, sondern ganz alltäglich sind. In ihnen lassen sich „einzelne sprachliche Verhaltenskonstellationen ausmachen, beschreiben und unterscheiden“84 – auch hier geht es nicht darum, „stabile Gesprächstypen“85 zu vergleichen, weil sie flüchtig sein können. Darstellende Gespräche verändern sich thematisch ständig. In ihnen wird informiert, es werden Emotionen bewirkt und abreagiert oder Zeit vertrieben. Gespräche werden dadurch flexibel und vielfältig.86 Dabei entstehen Verhaltenskonstellationen, die Hauschildt als „Interaktionsformen“87 benennt und unter die Handlungen „Bericht“, „Diskussion“ und „Austausch“ fasst.88 Er verbindet sie mit den Interaktionsformen der Darstellungsgewährung, der Darstellungskonkurrenz und dem Darstellungsaushandeln.89 Durch die Gesprächsanalyse stellt Hauschildt heraus, dass im Gespräch beide Seiten, nämlich die sprechende wie auch die hörende Person agieren. Hörer:in

82 Diese Einsicht verdanke ich einem Gespräch mit dem Gefängnisseelsorger Hans-Christian Heine. 83 Daneben ist das Thema „Wetter“ besonders gegenwärtig ein heikles Thema geworden, verleitet es doch zu Diskussionen und Streitgesprächen über den sichtbar gewordenen Klimawandel. 84 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 179. 85 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 179. 86 Vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 179. 87 Hauschildt, Alltagsseelsorge, 179. 88 Vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 180. 89 Vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 180–208.

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und Sprecher:in sind im Gespräch ausgehandelte, soziale Rollen, die aufeinander angewiesen sind, wobei nicht eine:r nur spricht und eine:r nur zuhört. Ihr gemeinsames Agieren während des Gesprächs führt zur „Darstellung“.90 Auch die hörende Person gestaltet die Darstellung also aktiv mit. In der Darstellungsgewährung signalisiert sie Einverständnis über „Hörerrückmeldungen“91 . Sie äußern sich in nonverbalen und verbalen Zeichen wie Kopfnicken und Mimik, verbalen Signalen wie: „m“, „h-m“ oder „ja“. Sie können bedeuten: „Ich höre dich“, „ich höre deine Worte“, „ich verstehe, was du sagst“, „ich sehe ein, was du sagst“, „ich stimme zu“.92 Diese Zeichen signalisieren der sprechenden Person keineswegs, den turn abzugeben, sondern im Gegenteil, weshalb die Darstellungsgewährung dem Bericht nahekommt. Die hörende Person kommentiert das Gehörte gegebenenfalls auch, durch Laute wie „ach“, „ach so“, „oaahh“, „toll“ und sogar ein gedehntes „nein!“ kann als Zustimmung verstanden und kommuniziert sein, obwohl es semantisches Gegenteil des Gehörten ist.93 Der Darstellungsgewährung der hörenden Person entsprechen Signale der Darstellungsgewährung seitens der redenden Person. Als „Gewährungsinduzierer“94 hängt die sprechende Person Partikel wie „gell“, „oder“, „ne“, „oder?“, „ja?“ sowie die Überbetonung mancher Worte an, wodurch formell angezeigt wird, dass der turn gewechselt werden könnte.95 Dadurch soll der turn aber nicht tatsächlich abgegeben werden, sondern von der hörenden Person die Erlaubnis eingeholt (induziert) werden, mit dem turn fortfahren zu dürfen. Hier liegt ein „turnharmonisches Verhalten“96 vor, in denen darstellungsstörende Handlungen vermieden werden. Nicht immer verläuft eine Darstellung so harmonisch und beruht auf gegenseitigem (Ein)Verständnis. Wenn die redende Person Verständnis induziert, heißt dies nicht zwangsläufig, dass ihr dieses auch gewährt wird, denn gleichzeitig signalisiert sie, dass sie bereit ist, bei fehlendem Einverständnis den turn abzugeben. Wenn die Darstellung der hörenden Seite nicht mehr unterstützt wird, führt dies zur „Darstellungskonkurrenz“97 . Die von Hauschildt beobachtete Darstellungskonkurrenz in Seelsorgegesprächen ist deshalb so relevant, weil in ihnen deutlich wird, dass nicht nur in alltäglichen Gesprächen Differenzen vorkommen, sondern auch speziell in solchen zwischen

90 91 92 93 94 95 96 97

Vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 181. Haubl, Gesprächsverfahrensanalyse, 81 zit. nach Hauschildt, Alltagsseelsorge, 181. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 182. Vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 185. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 186. Vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 186. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 189. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 190.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

Seelsorger:in und der Seelsorge suchenden Person. Daraus folgt erstens, dass Seelsorger:innen sich auch im konkreten Gespräch, also im kommunizierenden Handeln nicht mit dem Gegenüber identifizieren können und müssen, was hinsichtlich „Polyvalenter Normativität“ aufschlussreich ist. Zweitens geben sie Hinweise darauf, wie Kommunikation in der Seelsorge dennoch stattfindet, und zwar so, dass sie Beziehung schafft, statt Entzweiung durch Kommunikationsabbruch. In der Darstellungskonkurrenz, die Hauschildt mit der Darstellungsform der Diskussion in Verbindung bringt, findet die Darstellung der redenden Person keine Zustimmung bei der hörenden Person, die wiederum ihre eigene Darstellung dem Gehörten entgegensetzen will. Implizite und explizite Signale seitens der zuhörenden Person zeigen die ablehnende Haltung in Bezug auf den Inhalt des Gehörten an. Analog zu einem „ja“ in der Darstellungsgewährung kann ein „nein“ bedeuten: „‚Ich kann dir nicht zustimmen‘ […] ‚Ich kann deine Darstellung nicht teilen‘ […] ‚Es ist nicht so‘ […] ‚Ich kann nicht akzeptieren, daß du darüber eine Aussage machst‘ […] ‚Ich kann nicht akzeptieren, daß du redest‘.“98 Während die drei Grade der Ablehnung diskussionsentfachend sind, signalisieren die letzten beiden eine grundsätzliche Ablehnung, die einen Kommunikationsabbruch androhen. „Darum ist bei der Durchführung von Darstellungskonkurrenz wichtig, dem Gegenüber zu bedeuten, daß solche grundsätzliche Ablehnung nicht gemeint ist. Auch die Darstellungskonkurrenz, wenn sie denn eine Interaktionsform darstellenden Gesprächs und nicht dessen Scheiterns darstellt, darf die Maxime der Höflichkeit (als sprachlich verwirklichtes Kooperationsprinzip) nicht verletzen“99 .

Gegensatzanzeiger, die eine Differenz formulieren, aber konfliktmindernd sind, werden beispielsweise durch „Vokabeln der indirekten Ablehnung“100 formuliert: „‚ja, aber‘ […], ‚ja, schon, aber auch‘ […], ‚ja, und wenn’S‘ […] ‚aja gut aber vielleicht‘“101 . Die vorangestellte Zustimmungsvokabel zeigt an, dass der Sachverhalt der turn-inhabenden Person nur teilweise bestritten wird, sodass die Ablehnung begrenzt wird und keine grundsätzliche bedeutet. Weitere Signale dieser Art sind, wenn die Ablehnung inhaltlich dargestellt wird: „‚is doch vielleicht n kleen bissl Neid‘“102 . Oder wenn die Ablehnung als Frage formuliert ist.103 Die Darstellungskonkurrenz drückt sich außerdem auch in dem Bestreben aus, die turns an sich zu nehmen, wobei auch dies begrenzt vollzogen wird, wenn kein 98 99 100 101 102 103

Hauschildt, Alltagsseelsorge, 190f. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 191. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 191. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 191. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 192. Vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 192 mit weiteren beobachteten Beispielen.

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Kommunikationsabbruch folgen soll. Pausen in der Darstellung bilden Möglichkeiten des Gegenübers, den turn an sich zu nehmen. Lautstärke, gedehnte Wörter, Vokabeln, die anzeigen, dass noch etwas folgt, und ein gesteigertes Redetempo erschweren die Turnübernahme der gegenüberstehenden Seite.104 Gegensatzanzeiger und die Konkurrenz um das Rederecht bilden ein Argumentationsverhalten, in der sich die Diskussion entspannen soll. „Man steht vor dem gemeinsamen Problem, den aufgebrochenen Gegensatz zu bearbeiten […], wie denn nun das Gespräch weitergehen kann. Das Prinzip der Begrenzung des Gegensatzes wird auch hier befolgt. Der Gegensatz läßt sich einerseits aktiv verkleinern, in dem durch Klarstellungen der angesprochene Sachverhalt entsprechend revidiert wird. Damit wird der Einwand in den Rang einer Verbesserung des Dargestellten erhoben. Andererseits kann der Gegensatz auch so revidiert werden, daß er sich durch thematisches Fortschreiten verflüchtigt.“105

Die Darstellungskonkurrenz „sichert Raum zur Einbringung der Abweichungen vom Gegenüber. Sie stellt einen interaktiven Mechanismus dar, der ein für nötig erachtetes Maß an Abweichungen sichtbar zu machen, daß eine Gefährdung des Gesprächs möglichst gering gehalten wird.“106 Zwischen diesen beiden Extremen der Darstellungsgewährung und -ablehnung beschreibt Hauschildt noch eine Zwischenform, das Darstellungsaushandeln, bei der nicht einfach Zustimmung, aber auch nicht Ablehnung signalisiert wird. „Hier bringt sich die Hörerseite in einer Weise ein, die im Mittelbereich zwischen Zustimmung und Ablehnung liegt. Ein eigener Beitrag wird vorgestellt, der sich nun aber weder allein auf die Markierung der eigenen Sicht beschränkt noch allein das Dargestellte unterstützt. Als was sich dieser eigene Beitrag erweist, ist viel mehr offen; er ist in noch größerem Maße als Darstellungsunterstützung und Darstellungskonkurrenz auf Fortführung durch das Gegenüber angelegt. So treten die jeweiligen Beiträge der am Gespräch Beteiligten auseinander und werden als individuelle erkennbar, und zugleich sind sie in sich besonders unabgeschlossen: Beiträge zum Austausch.“107

Der turn wird dabei entweder reaktiv gewechselt, indem die zuhörende Person den turn übernimmt, um die eigene Perspektive darzustellen, oder die sprechende Person gibt den turn initiativ ab, indem sie ihr Interesse an der Perspektive des

104 105 106 107

Vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 193f. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 195. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 200. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 200.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

Gegenübers bekundet oder eine der beiden Seiten versucht, beide Perspektiven miteinander zu kombinieren. „Dieser Austausch […] läßt […] sich unterschiedlich entschlüsseln: […]: ‚Mein Bericht und/ oder dein Bericht bleibt noch zu hören‘ […] ‚Meine Meinung und/ oder deine Meinung bleibt noch zu hören‘ […] ‚Meine Meinung und/ oder deine Meinung bleibt noch zu klären‘“108 . Ob ein reaktiver Einwurf – beispielsweise in der kommentierenden Unterstützung – zur Aushandlung wird, lässt sich erst im weiteren Verlauf des Gesprächs festmachen. Er wird nicht durch seinen Beginn initiiert, sodass es beispielsweise bei einer Darstellungsunterstützung bleiben kann, ohne dass eine Aushandlung folgen muss, obgleich die Möglichkeit besteht.109 Als initiatives Mittel dient die Frage, entweder in Form der Alternativfrage oder Ergänzungsfrage, die sich knapp beantworten lassen, oder die offene Frage. Je offener formuliert und je mehr sie Emotionen und Wertungen initiiert, desto ausführlicher können die Antworten ausfallen.110 Bei vergleichenden Einleitungen wird das Aushandeln schon zu Beginn des geäußerten Beitrags initiiert, beispielsweise, wenn auf das Gegenüber verwiesen wird: „gell, ja, bei die Pfarrer is anders gell“111 oder beide Subjekte werden genannt: „da geht’s Ihnen doch genauso wie mir“112 . Hinsichtlich des turn-Verhaltens kommen im Darstellungsaushandeln sowohl turnharmonisches als auch turnkämpferisches Verhalten vor. Er befindet sich im „Hin-und Hergehen zwischen Engagiertheit für den eigenen turn und Interessiertheit am turn des Gegenübers. Wie das Turnverhalten im Darstellungsaushandeln sich vollzieht, ist also selbst Gegenstand des Aushandelns.“113 Die Aushandlungsdefinition stellt sich im beobachteten Gespräch als zeitlich und definitorisch sehr flüchtig heraus, weil sich die einzelnen Ausführungen immer auch zunächst als Darstellungsunterstützung bzw. -konkurrenz lesen lassen.114 „Darstellungsunterstützung, Darstellungskonkurrenz, Darstellungsaushandeln – mit diesen drei Interaktionsformen und den für sie typischen Mitteln arbeitet das darstellende Gespräch. Sie bilden dasjenige ‚Handwerkszeug‘, das nötig ist, um Eigenes für das Gegenüber zur Geltung zu bringen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede je im Fortgang des Gesprächs einbringen und so bearbeiten zu können, daß sie das Gespräch erhalten. Der Wechsel von der einen zur anderen Interaktionsform kann schleichend oder

108 109 110 111 112 113 114

Hauschildt, Alltagsseelsorge, 201. Vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 202. Vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 202. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 203. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 203. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 203. Vgl. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 203–207.

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plötzlich sein. Es dominiert in der Regel das Bemühen, einander in der Darstellung zu unterstützen. Je nach Menge der Passagen mit einer der Interaktionsformen und/ oder nach subjektiv erlebter Wichtigkeit bestimmter Passagen dürfte sich bei den am Gespräch Teilnehmenden ein Bild vom Charakter des Gesprächs als Ganzem bilden.“115

Nun stellt Hauschildt über diese Elemente alltäglicher Gespräche hinaus heraus, dass sich Seelsorgegespräche im Rollenverhalten Seelsorgender von anderen alltäglichen Gesprächen darin unterscheiden, dass Seelsorger:innen durch „rollentypische Interaktionspräferenzen“116 ihrem Gegenüber einen größeren Darstellungsraum eröffnen, als sich selbst. Sie verwenden dazu Darstellungsinduzierer, Darstellungsreduzierer und Darstellungsqualifizierer. Unter Darstellungsinduzierern werden beispielsweise Fragen gefasst, Darstellungsreduzierer reduzieren die eigene Darstellung durch kurze und allgemeine Antworten und Darstellungsqualifizierer nehmen das Gesagte inhaltlich auf und führen es weiter.117 Dieses Rollenverhalten lässt sich mit der Haltung „Du bist mir wichtig; in diesem Gespräch soll es primär um dich und deine Vorstellungen gehen“118 ausdrücken. In der Darstellungsqualifizierung geht es um gemeinsame Inhalte. Ihre „Reflexion verlangt kulturelle, intellektuelle und kommunikative Kompetenzen. Die generalisierende Qualifikation muß erst einen gemeinsamen kulturellen Werte- und Deutehorizont reproduzieren. Solange klar ist, was ‚man‘ tut und was sich gehört und was ‚man‘ glaubt, klappt hier die Kommunikation von selbst. Ist das aber nicht der Fall […], dann wird es zur kommunikativen Aufgabe, im Gespräch selbst Gemeinsamkeiten zu finden oder zu erarbeiten.“119

In der Gefängnisseelsorge treten diese Differenzen häufig auf, gerade weil hier kulturelle, intellektuelle, kommunikative und auch Wertedifferenzen programmatisch sind. Darstellungsqualifizierer als Generalisierung sind also riskant, denn wenn sie nicht in den kulturellen, intellektuellen, kommunikativen und Wertekontext des Gegenübers treffen, kann das Gegenüber „darüber verstummen, oder es ignoriert die Qualifizierer mehr oder minder“120 , sodass die Kommunikation abbricht. Im alltäglichen Gespräch werden Generalisierungen wie „man“ oder „immer“ wie selbstverständlich verwendet. Wenn der Kontext des Gegenübers verstanden wird, vor dessen Hintergrund diese Generalisierungen als solche formuliert werden, 115 116 117 118 119 120

Hauschildt, Alltagsseelsorge, 207. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 216. Vgl. Alltagsseelsorge, 216–229. So interpretiert es Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 235. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 226f. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 227.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

ist es möglich, solche als subjektive zu verstehen. Es kommen aber auch solche Generalisierungen vor, die subjektive Erfahrungen als allgemeine, objektive generalisieren wollen, sodass eine richtige Wirklichkeit gegenüber einer falschen geschaffen wird. Hier entstehen leicht Kontraste, wenn die:der Gesprächspartner:in indiziert, eine bestimmte Wirklichkeit als richtige zu bestätigen, während die andere Wirklichkeit disqualifiziert wird.121 In diesem Falle beobachtet Hauschildt, wie Seelsorger:innen das Gespräch beispielsweise auf ein anderes Thema lenken, ambivalente Zustände offengehalten werden oder neutrale Zustimmung signalisiert wird, wenn sie die Wirklichkeit des Gegenübers nicht explizit bestätigen können. Auch die Aussage „interessant“ kommuniziert weder Zustimmung noch Ablehnung, regt aber zur Reflexion und möglichen Überdenken des Gesagten an. Hier finden also „kleinräumige ethische Reflexionen[en]“122 statt und keine „ausgearbeiteten ethischen Diskurse oder ein länger andauerndes Nachdenken über Wertebildung“123 . 4.2.2

Seelsorge, Ziele, Rollen „aushandeln“ – ein praktisches Beispiel aus der Gefängnisseelsorge

Hauschildts sozio-linguistische Beobachtungen lassen sich anwenden, um die Kommunikationspraxis der Gefängsnisseelsorge zu erschließen. Ralf Günthers Transkriptionen und Analysen zeigen auf, wie sich Beziehungen in Seelsorgegesprächen am Ort des Gefängnisses konstituieren. Dazu werden im Folgenden Auszüge aus dem „Gespräch F1“124 betrachtet. Zunächst soll am Gesprächsbeginn (Sequenz 1–17)125 gezeigt werden, wie das, was Seelsorge bedeutet, ausgehandelt wird: die Gesprächsziele und Themen sowie die Rollen.

121 122 123 124

Vgl. auch Hauschildt, Alltagsseelsorge, 281f. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 285. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 285. Das Gespräch „F1“ ist mit allen weiteren von Günther transkribierten Gesprächen sowie einer Legende seiner Transkriptionszeichen (vgl. Günther, Seelsorge. Transkriptionen, 6) in seinem Buch (Günther, Seelsorge) als „Anhang Transkriptionen“ auf einer CD als PDF-Datei beigefügt. F1 umfasst die Seiten 96–132 der PDF-Datei. Das Gespräch fand in einem Besucherraum statt, zu dem der Gefangene von einem Bediensteten zugeführt wurde. Weil an diesem Tag kein Besuchertag war, war es in dem Raum völlig ruhig. Der Seelsorger kennt den Gefangenen seit vielen Jahren und hat unzählige Gespräche mit ihm geführt (vgl. Günther, Seelsorge. Transkriptionen, 96). Das Gespräch dauerte insgesamt 47:08 Minuten und ist auf insgesamt 36 Seiten transkribiert. Im Folgenden wird nur auf besonders exemplarische Stellen eingegangen und mit „Günther, Seelsorge. Transkriptionen“ auf sie verwiesen. 125 Siehe Günther, Seelsorge. Transkriptionen, 96f. Die Zeilenangaben beziehen sich auf das Transkript der PDF-Datei.

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Es wird immer wieder, aber gerade auch zu Gesprächsbeginn „eine gemeinsame, wechselseitig anerkannte Beziehung“126 ausgehandelt. Auch im Gespräch F1 wird zunächst eine Vertrauensbasis geschaffen. Der Seelsorger beginnt initiativ mit einer offenen Frage „un wie GEHT’s die hitze macht uns sehr zu SCHAFfen>“ (Z. 2). Der Gefängnisseelsorger bietet dem Gefangenen die Darstellungsgewährung, indem er sie immer wieder signalhaft bestätigt „mhm“ bzw. reformuliert. Über einen Small Talk wird die Vertrauensbasis zwischen den Gesprächsbeteiligten geschaffen. Interessant ist das Thema, nämlich das Wetter, das durch den Gefangenen ins Gespräch gebracht wird. Dass das Thema im Gefängnis ein schwieriges Thema sei, welches sich nicht zum Small Talk eigne, ist also auch keine Grundsätzlichkeit, wie sich in dieser Small Talk-Sequenz zeigt. Also selbst für den Small Talk ist es wichtig, Kontexte wahrnehmen zu können, wobei sich diese auf das beschränken, was bereits bekannt ist bzw. unmittelbar erkennbar, wie der Ort des Gefängnisses und das Wissen darum, dass und möglicherweise wie lange der:die Gefangene bereits dort lebt. Im vorliegenden Fall kann sich der Seelsorger jedoch sicher sein, dass das Thema ein geeignetes ist, weil der Gefangene selbst die Initiative zu diesem Thema ergreift. „Bereits am Anfang entscheidet sich, ob in diesem Gespräch der Gefangene ‚sein Herz ausschütten‘, ein Problem klären oder antworten kann bzw. soll und umgekehrt, ob der Seelsorger ein Zuhörer, Ratgeber, Helfer, oder Fragen-Steller sein kann bzw. soll.“130 Es geht also um die Rollenanforderung an den Seelsorger. Nachdem der Seelsorger mit einer offenen Frage den turn an den Gefangenen initiiert und dessen Darstellung signalhaft gewährt hat – ganz wie Hauschildt bei professionellen Seelsorger:innen beobachtet hat, die sich mit eigenen Darstellungen zurückhalten – ändert sich plötzlich das Rollenverhalten nach einer längeren Pause (Z. 11f).131 Der Gefangene stellt nun seinerseits eine offene Frage an den Seelsorger: „wie sind sie heute hergekommen mit m´ AUto•• sie SELBST– haben sich NICHT hängen lassen sie ham immer wieder– geforscht und gesucht und irgendWIE– trotz trotzdem der enge geWACHsen“ (Z. 207–209). Der Gefangene bestätigt dies zwar, es folgt aber unmittelbar ein „nur“ (Z. 210) und „A:ber“ (Z. 213). Dieser Wechsel zwischen Aufbauen des Gefangenen seitens des Seelsorgers und der drauf folgenden kurzen Bestätigung und der längeren Relativierung wiederholt sich nun einige Male (vgl. Z. 217–245). Der Gefangene sucht in all dem ein „AUFbaumittel“ (Z. 246) und beschreibt darin die Rolle des Seelsorgers und die Gespräche mit ihm: „sie wissen doch wie WIR– mitnander all die {monate/jahre} äh sag ich mal geSPROchen haben und wie– wie HILfesuchend– ich dann komme und sag {anrede S.´NAme} wie sehn sie das“ (Z. 246–248). Der Gefangene habe daraufhin „saLOPP“ gesagt „ne´ABreibung“ (Z. 113) bekommen. Hier wird der Seelsorger vom Gefangenen in seiner Rolle als […] Ratgeber dargestellt, der in Notsituationen sagt, wo es lang geht.“137 Der Gefangene fragt sich dann „meine güte wie konntest du dich nur so verrennen in deinem DENken“ (Z. 255f). „Der Seelsorger bestätigt entgegen seines bisherigen Verhaltens diese Rollenzuschreibung nicht, sondern schließt sich inhaltlich an die letzte Äußerung an und reformuliert seine schon vielfach gemachte Deutung mit denselben Schlüsselwörtern. Es ist nämlich die gefahr bzw. ein proBLEM, wenn man alLEIN denkt. Es ist darum ja gerade wichtig dass von anderer SEIte…iDEEN…oder FRAgen kommen, die mein eigenes denken in FRAge stellen“138 (vgl. Z. 256–261). Der Gefangene bestätigt dies kurz (vgl. Z. 261) und kommt dann, nach längerer Erzählung, wieder auf seinen negativen Ausgangspunkt zurück, in der er von der „ZELlentür“ (Z. 264) daran gehindert wird, Gedanken

134 135 136 137 138

Günther, Seelsorge. Transkriptionen, 109–114. Günther, Seelsorge, 149. Günther, Seelsorge, 147. Günther, Seelsorge, 149. Günther, Seelsorge, 148.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

oder Wünsche sofort in die Tat umzusetzen (vgl. Z. 264).139 Hier zeigt sich, wie die eigene Identität und Rolle sowie des Gegenübers miteinander ausgehandelt werden und trotzdem eine Differenz zwischen der Zuschreibung des anderen und der Selbstzuschreibung bestehen bleibt.140

Durch die Frage des Seelsorgers: „hat der Besuch schon (?STATTgefunden)< •“ (Z. 15f) wird das Gespräch kontextualisiert. „Mit der ausführlichen Bearbeitung der Bitte um ein noch ausstehendes Gespräch mit einem Mitgefangenen wird implizit der Bezug zu einem vorhergehenden Gespräch hergestellt und damit das aktuelle Gespräch in den dafür nötigen Punkten im gemeinsamen Interaktionsprozess verankert.“141

Hier wird also „ein bestimmtes Maß an gemeinsamem Wissen über den Kontext und die Situation hergestellt und abgesichert.“142 Dazu gehört, die aktuelle Gesprächssituation zu erörtern, Wahrnehmungen festzuhalten und, wenn vorhanden, gegensätzliche Situationsdefinitionen abzugleichen, mit dem Ziel eines Konsenses.143 So kann man die Rückfrage des Gefangenen „WAS für´n besuch“ (Z. 16f) auch als zur vom Seelsorger initiierten Situation gegensätzlich wahrnehmen, also als Darstellungskonkurrenz. Dennoch wird hier eine Grundlage geschaffen, auf der sich wechselseitige Intentionen des Gesprächs aufbauen können.144 Zugleich findet hier auch ein Aushandeln des Themas statt. Das Thema wird durch die Frage des Seelsorgers (Z. 16f) initiiert. Die als Gegenfrage formulierte Antwort des Gefangenen lässt sich auch als Darstellungskonkurrenz verstehen, sie führt jedoch nicht zu einem Gesprächsabbruch. Der Seelsorger beantwortet die Frage, die sich auf ein vorheriges Gespräch bezieht „&na wo sie möchten zusammen kommen für ma SPREchen“ (Z. 17), woraufhin der Gefangene den turn und die Darstellung wieder übernimmt, die der Seelsorger durch Signale gewähren lässt. An diesem Gesprächsausschnitt aus der Gefängnisseelsorge lässt sich nachvollziehen, wie sich Seelsorgeverständnis-Rollenverständnis und Gesprächsthemen aushandeln lassen. Eine vertrauensvolle Beziehungsebene wird zu Beginn des Gesprächs über Small Talk geschaffen. Obwohl der Gefangene die turns auch gerne mal über eine Darstellungskonkurrenz übernimmt, akzeptiert er den Seelsorger als Fragensteller und nimmt ihn ansonsten als Zuhörer in Anspruch. In dieser Sequenz 139 140 141 142 143 144

Vgl. Günther, Seelsorge, 147–149. Vgl. Günther, Seelsorge, 149. Günther, Seelsorge, 43. Günther, Seelsorge, 42 [original: teilweise kursiv]. Vgl. Günther, Seelsorge, 42. Vgl. Günther, Seelsorge, 42.

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zeigt sich kein Wunsch an eine beratende Funktion. Der Seelsorger erweist sich als Darstellungsinduzierer und -gewährer, wodurch seine Profession bemerkbar wird. Über alltägliche Gesprächsführung, auf die die von Hauschildt beobachteten Gesprächselemente zutreffen und die sich auch im vorliegenden Seelsorgegespräch im Gefängnis finden lassen, hinaus, lässt sich für das Kommunikationsverhalten von Seelsorger:innen etwas beobachten, das ihrer spezifischen Rolle entspricht. Es geht mit deren erkennbarer Haltung einher, dass die Darstellungen des Gegenübers in dem Seelsorgegespräch wichtiger sind als die eigenen. Um dieser Haltung seelsorglich zu entsprechen, lernen Seelsorger:innen beispielsweise in der Klinischen Seelsorgeausbildung (KSA) Gesprächsmethoden. Gesprächsführung ist also nicht immer rein intuitiv und sie ist in bestimmte Richtungen hin professionalisierbar, auch wenn mit Hauschildt hervorzuheben ist, dass die faktische Praxis mit den Regeln kreativer umgeht, als es Gesprächsführungsmanuale vorsehen. Wenn es aber also eine professionelle Kommunikationsweise gibt, sollte diese auch für ein solches Gespräch in gewissen Grenzen erlernbar sein, bei dem es darum geht, mit „Polyvalenter Normativität“ umzugehen. Gerade im Gefängnis ist davon auszugehen, dass ein schneller Themenwechsel oder ein „interessant“ nicht ausreichen, wenn es um die Themen geht, in denen „Böses“ zur Sprache kommt. Mit der Möglichkeit, sich einen seelsorglichen Kommunikationsstil in Grenzen anzueignen und ihn anwendbar zu machen, und zwar auch in dem Bewusstsein alltäglicher Sprache, hat sich der Hauschildtschüler Eike Kohler auseinandergesetzt. 4.2.3

Mit Absicht rhetorisch (Eike Kohler) – „Polyvalente Normativität“ bewusst überwinden

Die exemplarische Analyse aus dem vorangegangenen Kapitel hat gezeigt, dass auch im Gefängnis Gespräche natürlich ablaufen. Es geht nicht sofort um die großen Schuldthemen oder um „das Böse“, sondern darum, Beziehungen und Themen auszuhandeln. Die schwierigen Themen kommen aber dennoch vor und gerade hier ist eine professionelle, erlernbare Kommunikationsweise wünschenswert, die es ermöglicht, „Polyvalente Normativität“ bestehen lassen zu können und dennoch eine seelsorgliche Verbindung herzustellen. Eike Kohler entwickelte in seiner Dissertation ein Konzept, durch das sich Seelsorgegespräche mit dem theoretischen Gerüst der rhetorischen Rede hermeneutisch erschließen lassen. Kohler selbst intendiert mit seiner Arbeit nicht, eine neue Bezugswissenschaft zu etablieren, die andere, insbesondere Psychologie und Psychotherapien ausschließt. Stattdessen relativiert er „lediglich ihre Stellung als primärer Gesprächspartner […]. Sie finden ihren Ort nun an verschiedenen Bezugspunk-

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

ten im rhetorischen Theoriegebäude“145 . Dadurch berücksichtigt Kohlers Studie eine multidimensional verstandene, multiperspektiv praktizierende Seelsorge in besonderer Weise und ist für die vorliegende Arbeit auch an dieser Stelle besonders anschlussfähig. Kohlers seelsorgliches Kommunikationsverständnis eignet sich deshalb als Bezug auf den Umgang mit „Polyvalenter Normativität“, weil es davon ausgeht, dass „Kommunikation auch in der Kirche heute nicht primär als wertneutrale Weitergabe von Informationen zu beschreiben ist, sondern als Information, als gestaltende Einwirkung auf eine andere Person mit sprachlichen Mitteln“146 verstanden wird. Sein Ansatz lässt sich neben – nicht gegen! – die gängigen, unverzichtbaren, reflektierten psychotherapeutischen Gesprächsmethodiken in der Seelsorgepraxis stellen, indem die Aufgabe der Seelsorge „nicht mehr an erster Stelle [beinhaltet], die psychischen Konflikte eines Individuums zu bearbeiten […], sondern es wird der Versuch unternommen, die in der Gemeinschaft der Kirche geltenden Werte im Blick auf konkrete Situationen auszuhandeln und damit die diesen Werten zugrunde liegenden Traditionen durch Variantenbildung fortzuschreiben und weiterzuentwickeln.“147

Aufgrund der bisherigen Darstellungen ist jenes Bestreben Kohlers, „die in der Gemeinschaft der Kirche geltenden Werte fortzuschreiben“, kritisch zu lesen, weil gerade nicht klar ist, was die Werte sind. Es ist stets damit zu rechnen, dass es viele verschiedene Werte gibt, weshalb sie stets der Situation entsprechend ausgehandelt werden. Werte der Kirche, und konkret die Werte der Seelsorgeperson müssen sich erst in der Praxis bewähren und werden in der konkreten Seelsorgesituation durch die Geschichte und den Kontext des Gegenübers hinterfragt. Kohlers Rhetorikverständnis ist nicht als sprachliche Manipulation zu verstehen. Anders als Günther begrenzt er Gesprächsrhetorik nicht auf „‚nur ,aggressivere‘, interaktive Verfahren zur einseitigen Festlegung bzw. Funktionalisierung des interaktiven Gesprächsgeschehens (Forcieren) sowie zur Überzeugung bzw. Überredung eines Gesprächspartners zu einer bestimmten Meinung oder Handlung (Argumentieren)‘“148 . Dagegen bringt Kohler in seiner Seelsorgetheorie einerseits eine gemeinschaftsorientierte und andererseits an dem Konzept der Rhetorik149

145 146 147 148 149

Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 81, Anm. 1. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 297. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 299. Günther, Seelsorge, 21 zit. nach Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 21. Kohler übernimmt den Rhetorikbegriff der Tübinger Schule und den damit verbundenen Anschlüssen, vgl. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 81 mit Verweis auf die zusammenfassende Darstellung bei Ueding/Steinbrink, Grundriß sowie Knape, 500 Jahre.

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Teil III Kommunikation – Sich-Verhalten

orientierte Kommunikationstheorie zusammen. Für die vorliegende Fragestellung ist besonders der Hauptteil von Kohlers Arbeit aufschlussreich, in dem er seine rhetorische Theorie für die Seelsorge an den fünf Produktionsschritten (inventio, dispositio, elocutio, memoria, actio) der Erarbeitung einer Rede orientiert. Hier lassen sich Hinweise darauf finden, wie Grenzen gezielt über Kommunikation wahrgenommen und mit ihnen umgegangen werden kann, ohne dass das Gespräch und damit die Gemeinschaft abgebrochen werden muss und auch ohne dass die Erwartung aufgestellt werden müsste, der gleichen Auffassung eines Sachverhaltes zu sein wie das Gegenüber – kurz: „Polyvalente Normativität“ bleibt bestehen und die konträren Normativitäten über den Weg der Kommunikation werden überbrückt, wobei sie polyvalent nebeneinander ihre Gültigkeit haben. Kohler macht die grundsätzliche Funktion, Gemeinschaft aufrechtzuerhalten oder (wieder-) herzustellen zur Prämisse der Seelsorge und zur Grundlage seiner Arbeit.150 Rhetorik sei Kohler zufolge zwar eine Produktionstheorie, könne aber auch zur Reflexion der Rede herangezogen werden. Dies erlaube, einzelne Redebeiträge innerhalb eines Gesprächs auf rhetorische Elemente oder Techniken hin zu befragen.151 Kohlers Studie kann sicher nicht als Schablone gelingender Kommunikation in der Seelsorge gelesen werden, insofern sie ein generell zu erlernendes Repertoire darstellen könnte, das in entsprechenden Seelsorgesituationen umzusetzen wäre. Denn: „Die traditionellen rhetorischen Anweisungen zum Erstellen einer Rede […] gehen davon aus, dass zur Vorbereitung der Rede ein deutlich größerer Zeitraum zur Verfügung steht als für den Vortrag selbst. Dies trifft für das Seelsorgegespräch nicht zu; hier müssen rhetorische Entscheidungen immer wieder neu und teilweise im Bruchteil von Sekunden getroffen werden, damit das Gespräch nicht unnatürliche Unterbrechungen erfährt.“152

Die voranstehenden Kapitel haben entsprechend verdeutlicht: Seelsorgegespräche, die in einem Dialog stattfinden, sind nicht planbar. Und doch lässt sich durch die Mittel der Rhetorik auf die Intention der Gesprächspartner:innen schließen, natürlich in dem Bewusstsein, dass sich diese im Laufe des Gesprächs durchaus ändern mag. Dadurch besteht die „Möglichkeit einer diachronen Analyse auf die Frage hin, welche Intentionen und Mittel sich im gesamten Gespräch durchhalten (lassen) und wo durch welche Redebeiträge Veränderungen in welche Richtung hin induziert

150 Vgl. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 155. 151 Vgl. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 139. 152 Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 140.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

wurden.“153 Kohler macht durch das Theoriegerüst der Rhetorik deutlich, besonders durch die Hervorhebung der memoria, dass Redende in spontanen Gesprächen auf bekannte Muster zurückgreifen. Dies lässt sich für die Seelsorgekommunikation gezielt nutzen. Die „sprachliche Ausgestaltung, die wesentlich zum Verständnis und zur Akzeptanz des Gesagten beiträgt, [wird] nun nicht mehr ausschließlich dem Zufall und der Tagesform überlassen“154 . Als Produktionstheorie steht mit Rhetorik eine „Metasprache bereit[…], mit der sprachliche Äußerungen nicht mehr als bloßer Ausdruck subjektiver, situations- und personabhängiger Kreativität verstanden werden können, sondern der Situations- und Personbezug beschreibbar und damit in gewissen Grenzen übertragbar wird.“155 Kohler wendet die rhetorische Stufe der Inventio auf das Seelsorgegespräch an, in der zunächst erörtert werden müsse, um was es geht, was die Aufgabe des Gesprächs ist. Anders als in der planbaren Rede spielen im Seelsorgegespräch die Kontexte der Gesprächspartner:innen dabei eine Rolle. Sowohl die Seelsorgeperson als auch die Seelsorge suchende Person bringen ihre jeweils eigenen Möglichkeiten, Einstellungen und ihr Wissen zum Gegenstand des Gesprächs ein. Um der gemeinsamen Gesprächsbasis – dem Gegenstand des Gesprächs und dem Anspruch an das Gespräch – näher zu kommen, sind die Fragen der intellectio hilfreich: „status finitionis – ‚Um was geht es genau?‘, […] status coniecturae – ‚Wie plausibel erscheint mir der dargestellte Sachverhalt?‘, […] ,status qualitatis – wie bewerte ich den Sachverhalt?‘ und […] status translationis – ‚Bin ich die richtige Person, um darüber zu sprechen?‘“156 An dieser Stelle lässt sich, über die Arbeit Kohlers, die Relevanz einer Wahrnehmungsfähigkeit bezüglich der aktuellen Gesprächskontexte sowie der Kontexte des Gegenübers in Gegenwart und Vergangenheit mit der Kommunikationsfähigkeit konkret zusammenbringen. Dadurch sind die Fragen nach der Definition des zum Gespräch stehenden Sachverhalts, seiner Plausibilität, emotionalen Bewertung und der Nützlichkeit des Gesprächs, bezogen auf den Sachverhalt mit den Anforderungen an die Rolle als Seelsorger:in abgedeckt. Die Eruierung dessen, um was es in dem Gespräch geht und welche Funktion es haben soll, muss, anders als bei einer Rede, wechselseitig ausgehandelt werden, indem der:die Seelsorger:in die eigenen Vorstellungen von der Art des geführten Gesprächs mit denjenigen der Seelsorge suchenden Person abgleicht, wie im vorangegangenen Abschnitt ausführlich aufgezeigt wurde.157 Dabei ist immer auch die jeweilige Identität angefragt. So lässt sich mit Kohler unter Rekurs auf Watzlawick darauf hinweisen, dass Kommunikation auch immer 153 154 155 156 157

Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 140. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 141. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 141. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 154. Vgl. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 154.

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eine Beziehungsseite hat, sodass die eigenen Werte und Vorstellungen darüber, was ein gutes Leben ist – und gerade im Kontext Gefängnisseelsorge müsste man zuspitzen: was überhaupt „gut“ oder „böse“ ist – immer eine Rolle im Gespräch spielen, weil sie vor dem Hintergrund dieser Identitäten geführt werden. Die ständige Reflexion der eigenen Identität ist also von hoher Priorität, damit ein Seelsorgegespräch gelingen kann. Und nicht nur die eigene Identität wird in das Gespräch eingebracht, sondern auch beide Gesprächspartner:innen sind daran beteiligt, das Gegenüber mit Identitäten zu versehen, wie auch Günthers Verweis auf das soziologische Konzept der „interaktiven Herstellung von sozialer Identität“158 betont. Danach wird Identität durch Kategorisierungen dargestellt: „In einem Gespräch werden bestimmte Personen(-gruppen) ganz bestimmte Kennzeichen und Handlungen (sogenannte ‚category-bound activities‘) zugeschrieben. Sie werden gewissermaßen ‚in Schubladen gesteckt‘.“159 Auch Kohler berücksichtigt die unterschiedlichen Kontexte mit ihren jeweiligen Gesprächspartner:innen und deren Sprache. In Bezug seiner Anwendung der rhetorischen Topik auf das Seelsorgegespräch meint auch er, dass Seelsorge nicht zum Ziel haben könne, durch rhetorische Argumentation zur Übereinstimmung in der Wirklichkeitswahrnehmung zu gelangen. Vielmehr ginge es um eine „ästhetische ‚Stimmigkeit‘“160 , durch die Überlegung, ob sich die Argumente des Gegenübers in das eigene Weltbild einordnen ließen. Dadurch kommt es nicht zu einer völligen Überdeckung der jeweiligen Horizonte, sondern zu ihrer Angleichung, die in einer gewissen Stimmigkeit wahrnehmbar ist.161 Kohler möchte die im Gespräch verwendeten Topoi in einen schlüssigen Gesprächsverlauf eingebunden wissen, sodass die einzelnen Aussagen eines Topos unterstützt und interpretiert werden können, was sich an den rhetorischen Schritt der dispositio anlehnen lässt.162 Hilfreich sind besonders Kohlers Ausführungen zu seiner Verbindung der rhetorischen elocutio (Sprachgestaltung) mit der Seelsorge, in denen er „Bilder und Formen als Wegzeichen“163 benennt. Seelsorge hat hier zur Aufgabe, verschiedene sprachliche Stilmittel auf die Wirkung in der Seelsorgesituation hin zu reflektieren. Hier können die zumeist unbewussten und spontanen, durch Gewohnheit eingeübten Sprachstile der Seelsorger:innen bewusst gemacht und reflektiert werden und

158 159 160 161 162 163

Günther, Seelsorge, 169 [original: kursiv]. Günther, Seelsorge, 169. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 171. Vgl. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 171f. Vgl. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 173–211. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 220.

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ggf. durch Einübung verändert werden, wenn sie die entsprechende Wirkung beeinträchtigen – „z. B. die häufige Verwendung biblischer Metaphern bei Gesprächen mit Menschen, die nur eine rudimentäre biblische Sozialisation erfahren haben.“164 Kohler macht deutlich, dass sich das Kleid der Sprache, also die Art und Weise Sachverhalte zu vermitteln, an dem Kontext und der Situation des Gegenübers orientieren muss, wenn eine Vermittlung und Verbindung stattfinden sollen. „Dazu gehört eine aufgrund ihrer weitgehenden Übereinstimmung mit den jeweiligen Hörgewohnheiten einladende sprachliche Gestaltung, die aufgrund einer angemessenen Mischung von Vertrautem und Neuem (nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Formulierung!) leicht zu erfassen und nachzuvollziehen ist, ohne dabei durch zu geringen Neuheitswert zu langweilen oder durch zu großen Abstand zum Vertrauten zu überfordern.“165

Sprachliche Mittel als Bilder und Zeichen unterstützen dadurch die inhaltliche Aussage und stoßen bestimmte Emotionen, Rollenmuster und Haltungen an.166 Beziehungsverbindend oder beziehungshinderlich kann in der Kommunikation insbesondere auch die nonverbale Kommunikation – actio – sein. Dabei geht es besonders um „die Kohärenz von verbaler und nonverbaler Kommunikation“167 , weil durch einen Widerspruch zwischen beiden, Missverständnisse, Irritationen oder ein Kommunikationsabbruch erfolgen können.168 Kohler betont, dass die nonverbale Kommunikation „grundlegend eine Kommunikation von Persönlichkeit und Haltung darstellt“169 und dadurch die nonverbale Kommunikation auch immer das Ethos und die Persönlichkeit der Seelsorgeperson widerspiegelt. Eine unpassende nonverbale Kommunikation zu der verbalen Kommunikation verrät die persönliche Ambivalenz zu dem Aussageinhalt. „Der Aspekt der Actio richtet sich also auf die Haltung gegenüber einer bestimmten Sache/ Situation und einer zu dieser Sache/ Situation in Beziehung stehenden Person, die Seelsorgerinnen und Seelsorger in einer bestimmten Situation zum Ausdruck bringen.“170 Weil Seelsorger:innen ihrem Gegenüber nichts vorspielen sollen – wofür gerade einige Inhaftierte höchst sensibel sind, weil sie ihrem Umfeld ohnehin eher misstrauisch gegenüberstehen –, muss die eigene Haltung mit der zum Ausdruck gebrachten

164 165 166 167 168 169 170

Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 221. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 221f. Vgl. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 221f. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 229. Vgl. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 229. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 229. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 229.

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Teil III Kommunikation – Sich-Verhalten

Haltung übereinstimmen. Genau an dieser Stelle wird es relevant, sich seiner eigenen Haltung bewusst zu werden, sie zu reflektieren und sich damit auch die eigenen Begrenzungen vor Augen zu führen.171 Hilfreich sind dabei Kohlers ausformulierte Fragen: „Welche Haltung gegenüber der in Frage stehenden Sache/ Situation möchte ich meinem Gegenüber empfehlen und daher im Gespräch selbst einnehmen? […] Welche Haltung möchte ich im Umgang mit der in Frage stehenden Sache/ Situation gegenüber meinem Gesprächspartner/ meiner Gesprächspartnerin einnehmen? […] Welche Einschränkungen für die beiden angestrebten Haltungen ergeben sich aus den Kenntnissen und Erwartungen meiner Gesprächspartnerin/ meines Gesprächspartners in Bezug auf meine Person? […] Welche Einschränkungen für die beiden angestrebten Haltungen ergeben sich aus den Kenntnissen und Erwartungen meiner Gesprächspartnerin/ meines Gesprächspartners in Bezug auf die in Frage stehende Sache und/ oder Situation? […] Welche Beschränkungen für die beiden angestrebten Haltungen ergeben sich aus meinem eigenen Selbstbild, meinen Emotionen und Vorstellungen?“172

Mit Kohlers Ausführungen lässt sich also aus rhetorischer Perspektive noch einmal hervorheben, wie die seelsorgliche Kommunikation von der Wahrnehmung und Reflexion der eigenen Kontexte und denen des Gegenübers abhängt sowie den eigenen Haltungen und denen des Gegenübers hinsichtlich der Rollen- und Seelsorgeverständnisse. Kohler bietet darüber hinaus durch das Theoriegerüst der Rhetorik eine Orientierungsmöglichkeit für die Sprachfähigkeit in der Seelsorgepraxis, in der die bewusste Reflexion des eigenen Gesprächsverhalten, der jeweiligen Erzählsituation wie erzählten Situation vorausgeht und daraus ein bewusstes Einsetzen der eigenen Sprache erfolgt. Wie könnte eine solche rhetorische Gesprächsführung in der Gefängnisseelsorge anwendbar gemacht werden, wenn es um den seelsorglichen Umgang mit „Polyvalenter Normativität“ geht? 4.2.4

Mit „Polyvalenter Normativität“ umgehen – ein praktisches Beispiel aus der Gefängnisseelsorge

Im Folgenden wird erneut ein Gesprächsabschnitt aus dem schon bekannten Gespräch F1 analysiert, in zweifacherweise. 1. auf deskriptiver Ebene, wie es auch Günther tut, der diesen Abschnitt seinerseits unter dem Aspekt der Rhetorik un-

171 Vgl. Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 230. 172 Kohler, Mit Absicht rhetorisch, 230.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

tersucht.173 Günthers Analysen werden mit den Erkenntnissen aus der Lektüre Hauschildts und Kohlers ergänzt. Darauf folgt 2. ein Gedankenspiel desselben Gesprächs, wie es auch hätte verlaufen können. Dabei ist zu betonen, dass diese Analyse kein Korrektiv des tatsächlichen Gesprächs darstellt, sondern sie soll exemplifizieren, wie ein solches Gespräch unter anderen Vorverständnissen, also anderen Wahrnehmungen des Kontextes (inventio) und unter Anwendung des von Kohler dargestellten Modells der Rhetorik in der Seelsorge hätte verlaufen können. In beiden Fällen wird auf unterschiedliche Weise mit „Polyvalenter Normativität“ umgegangen. Auf deskriptiver Ebene lässt sich das Gespräch soziolinguistisch deuten, wie es auch Günther tut. Die Sequenz (F1 471–510)174 beginnt mit einer Klage seitens des Gefangenen über die fehlenden Resozialisierungsmaßnahmen: „sie werden EINgesperrt – die die die werden verURteilt–+ un dann klemmem die hier DRINnen“ (Z. 473f) Von da aus kommt der Gefangene zu einem neuen inhaltlichen Abschnitt, über den nun nicht „großartig“ (Z. 480) gesprochen werden müsse, was er aber dennoch tut. Er beruft sich auf ein gemeinsam vorausgesetztes Wissen: „es ist ja nun ma“ (Z. 480) eine spezifische Art Gefängnis. Hier sitzen Menschen, die in einer bestimmten Situation plötzlich nicht mehr „zu rande kamen“ (Z. 481). Jene „killen ja nicht rund um die UHR“ (Z. 483), sondern sind mit ihrem „GEIstigen potential und […] mit ihrem leistungsvermögen nicht mehr zu RANde gekommen“175 (Vgl. Z. 483f), weshalb „sowas schlimmes“ (Z. 485f) geschieht, was die „bevölkerung da draußen sieht un sagt meine güte das sind ja BEstien das sind ja bestien.“ (Z. 486f). Der Seelsorger unterstützt diese Darstellung durch mehrfache Bestätigungssignale „mhm“ (Vgl. Z. 482, 483, 484). Günther zufolge verstärkt der Gefangene mit „dieser wörtlichen Reformulierung einer Metapher […] seine Darstellungszusammenfassung“176 . Aber die Taten kann der Gefangene auch nicht „gut heißen Überhaupt nicht“ (Z. 488). „Damit der Seelsorger ihn nicht missversteht, wird vor weiteren Argumenten ein grundlegendes Einverständnis über die Beurteilung einer solchen Straftat (wieder mit Reformulierung) abgesichert: das HÖCHste gut auf erden is das menschliche leben> und das is UNwiederbringlich– da gibt’s überhaupt keine

173 Wichtig ist an dieser Stelle nochmal darauf aufmerksam zu machen, dass sich Günthers Rhetorikbegriff von demjenigen Kohlers und dem hier angewendeten unterscheidet. Günther begreift ihn als „einseitige Festlegung bzw. Funktionalisierung des interaktiven Gesprächsgeschehens“ (Günther, Seelsorge, 21), während Kohler den Gemeinschaftsaspekt in einem rhetorisch geführten Gespräch bestärkt. 174 Günther, Seelsorge. Transkriptionen, 125–128. 175 Günther, Seelsorge, 101 [original: kursiv]. 176 Günther, Seelsorge, 101.

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FRAge darüber–“177 (vgl. Z. 488–490), was der Seelsorger signalhaft „mhm“ (488), „das stimmt“ (490) und durch Reformulierung „das Leben ja“ (489) bestätigt.178 An dieser Stelle ist „nun der Sachverhalt dargestellt sowie eine gemeinsame Basis an Wissen und moralischer Bewertung ratifiziert“179 . Jetzt kommt das „a:ber“ (490), das durch einen Abbruch hervorgehoben wird und worauf – Günther zufolge – eine rhetorische Redeeinleitung mit direkter Anrede des Seelsorgers (491), einem argumentativen Einleitungssignal folge: „wenn ich so drüber nachdenke“ (490f) und einer Qualifizierung des im Folgenden verwendeten Wortes „geBRAUchen wir doch mal das wort was eigentlich mit gefängnis zusammenhängt–“ (492) erfolgt.180 Der Gefangene versuche mit der inklusiven Personenreferenz „wir“ eine Gemeinsamkeit herzustellen.181 Mit Günthers Rhetorikverständnis müsste man annehmen, dass er dies sehr bewusst, weil geplant forcierend und manipulierend tut. Mit Kohlers Ansatz ist hingegen anzunehmen, dass er zwar einen Gesprächszweck verfolgt – wie es jede:r in jedem Gespräch tut – dies aber ungeplanter geschieht und an dieser Stelle retrospektiv darauf geschlossen werden kann, dass der Gefangene sich nicht von seinem Gegenüber abgrenzen wollte, sondern einer Gemeinschaft angehören – gerade angesichts seines Tonus in dieser Sequenz, dass er sich ausgegrenzt und „stigmatisiert“182 fühlt. Im Anschluss folgt nun die Sachverhaltsdarstellung mit dem zuvor qualifizierten Wort: „richtige MÖRder sind dem Gefangenen im Gefängnis noch nicht begegnet“183 , was er ebenfalls reformuliert (Z. 493, 494). Er hat „ne´ gebrochene BIographie vorgefunden“ (Z. 494) und „ein ein ein zerissenes LEbenswerk“ (Z. 494f). Hier stellt der Gefangene wieder eine Gemeinsamkeit zum Seelsorger her: „ich setze einfach voraus daß es ihnen in ihrer seelsorgerischen tätigkeit AUCH so– • geht un über n´WEG läuft>.“ (Z. 496f) 184 Anschließend formuliert der Gefangene besonders betonend seine Schlussfolgerung: „eigentlich sind´s • [leise und erhöhte Stimmlage] ganz sensible WEsen […] irgendwie ham´sie ihren weg nicht nich geSCHAFFT […] und i/ich denke das vielleicht auch das allerschlimmste bei bei JEdem Fall der hier drinn ist – • ist • es GAB keine alternative • es gab einfach keine alter/“ (Z. 501–503) würde sich eine „Polyvalente Normativität“ zeigen, insofern der erste, stille Impuls des Seelsorgers wäre: „Doch, es hätte eine Alternative gegeben! Es sind nicht nur Deine Jugend oder Dein Umfeld Schuld, Du hast diese Tat begangen.“ Damit ständen die Wahrnehmung und ihre Deutung des Täters und des Seelsorgers konträr zueinander. Diese „Polyvalente Normativität“ müsste und würde der Seelsorger zunächst wahrnehmen und zugleich die Haltung haben, trotzdem Gemeinschaft schaffen zu wollen. Hier befindet er sich auf der rhetorischen Stufe der intellectio mit der Erörterung der Fragen, um was es genau geht, wie plausibel ihm der dargestellte Sachverhalt erscheint, wie er ihn bewertet und ob er der richtige Ansprechpartner ist. Sowohl auf theologischer als auch psychologischer Ebene und vor dem Hintergrund des Resozialisierungsaspektes wäre es für den Seelsorger wichtig, dass das Gegenüber zu einer Schuldeinsicht mit entsprechendem Schuldgefühl gelangt. Den Seelsorger würde es mitbetroffen machen, dass der Gefangene die Schuld ausschließlich in

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der Draußenwelt sieht. Andererseits würde er verstehen, dass der Gefangene aus seiner Perspektive denkt, dass er kein richtiger Mörder sei und es solche in seinem näheren Umfeld ohnehin nicht gebe und dass er aus seiner Perspektive nur so hat handeln können, wie er gehandelt hat. Er würde nun überlegen müssen, wie es zu einer ästhetischen Stimmigkeit kommen kann, in der sich eigene Argumente in das Weltbild des Gegenübers einordnen lassen (dispositio). Er käme zu dem Entschluss, dass es wenig hilfreich und sehr risikoreich wäre, jetzt moralisierend zu sprechen, weil dies weder ein wichtiges, richtiges Schuldgefühl mit einer entsprechenden Schuldeinsicht bewirken würde noch der weiteren Kommunikation dienlich wäre, weil die Gefahr eines Abbruchs durch die implizite Aussage „es ist falsch, was Du sagst“ enorm wäre, ebenso dass er die eigene Person über die des Gefangenen stellen würde. Er würde sich an die Kritik des Gefangenen der Resozialisierung erinnern, die nicht als solche empfunden wird, und würde daraus den Wunsch des Gegenübers ableiten, lebensfähiger hinsichtlich der Welt draußen zu werden, was auch zu einem der Ziele des Seelsorgers passt, nämlich Resozialisierung zu fördern. Damit würde an dieser Stelle das geschehen, was Günther mit dem Ausfüllen von Informationslücken, unter Benutzung des Kontextes und der Vorstellung des Gegenübers, beschreibt, indem der Seelsorger nun Vermutungen über den Gefangenen anstellt.192 Um das Nachdenken des Gefangenen dahin zu lenken, ohne ihn zu bevormunden, würde er zunächst die Aussagen des Gefangenen reformulieren, die er verstanden hätte – er würde in dieser eingeleiteten Darstellungskonkurrenz also keine grundsätzliche Ablehnung anzeigen – und seinen Denkanstoß in eine Frage (elocutio), nach seinem „aber“ verpacken: „ja, ich verstehe das. Sie hatten keine leichte Jugend. Aber was müsste sich denn ändern, wenn Sie später wieder draußen sind? Bringt es was, wenn Sie im nächsten Streit wieder ausrasten? Meinen Sie, es gibt Wege, dass Sie der Wut anders Luft machen können?“ Dabei wäre der Seelsorger dem Gefangenen zugewandt, spräche eher leise und vorsichtig, um keinen Vorwurf innerhalb der Frage zu formulieren (actio). Ob die Kommunikation danach weitergehen und der Gefangene ernsthaft darüber nachdenken würde, ist nicht garantiert, aber die Möglichkeit würde bestehen. Es zeigen sich in dem tatsächlich wie fiktiv geführten Seelsorgegespräch „Polyvalente Normativitäten“. Im ersten Fall solidarisiert sich der Seelsorger mit dem Gegenüber. Die „Polyvalente Normativität“ besteht nur noch zwischen ihnen beiden auf der einen Seite und der anderen Seite als „der Welt da draußen“. Der Seelsorger kann sich mit den Ansichten des Gegenübers identifizieren. Im zweiten Fall wurde eine Möglichkeit durchgespielt, in dem zwischen Seelsorger und Gefangenem eine „Polyvalente Normativität“ aufkommt. Der Seelsorger nimmt die Geschichte und den Kontext des Gegenübers sowie seine eigenen wahr. Er erkennt die „Polyvalente

192 Vgl. Günther, Seelsorge, 19.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

Normativität“ als solche und zudem, aus seiner Seelsorgeprofession heraus, Auftrag und Notwendigkeit trotzdem Gemeinschaft zu schaffen. Im Beleuchten dieses Gesprächs im Spiegel der Arbeit Kohlers zeigt sich, wie relevant eine möglichst genaue und differenzierte Wahrnehmung der Kontexte des Gegenübers sowie der eigenen ist, um dann entsprechend Sprache finden zu können, um beide Welten in ästhetischer Stimmigkeit zusammenbringen. Das Gelingen der Kommunikation und eine treffsichere Sprachwahl sind dabei trotzdem nicht garantiert, weil nie völlig klar sein kann, dass das Wahrgenommene auch der Erfahrungswirklichkeit des Gegenübers entspricht, und auch nicht, ob das Kommunizierte bei dem:der Gesprächspartner:in auch wirklich so verstanden wird, wie es intendiert wurde. 4.2.5

Zwischenfazit

Die beispielhafte Auseinandersetzung mit den referierten (sozio)linguistischen Analysen in der Seelsorge exemplifizieren, wie Seelsorge sprachlich ausgehandelt wird. Es lassen sich unterschiedliche linguistische Muster beschreiben, die Darstellungsgewährung, -konkurrenz und -qualifizierung anzeigen. Es lässt sich beschreiben, wie in einem steten Wechsel von turns solche Aushandlungen geschehen. Dabei zeigt sich, dass sich Gespräche im Gefängnis sprachlich nicht von solchen außerhalb unterscheiden müssen. Es wird eine Vertrauensbasis geschaffen, die Grundlage eines Gesprächs ist, in dem Beziehungen und Rollen ausgehandelt werden, Identitäten eruiert und Gesprächsthemen und -ziele festgemacht werden. Das Seelsorgegespräch wird auf sprachlicher Ebene durch die Rolle des Seelsorgers:der Seelsorgerin zu einem solchen, indem er:sie der Haltung folgt, dass die Darstellung des Gegenübers der eigenen vorrangig ist. Es zeigt sich darüber hinaus, dass Gesprächspartner:innen i.d.R. Gesprächsintentionen und -ziele haben – wie auch immer sie genauer bestimmt sind. Die einzelnen Stufen der Rhetorik bilden ein hilfreiches Muster, solches zu erkennen und zu reflektieren, sodass Seelsorger:innen ihre Gesprächsmuster bewusster anwenden und ggf. einübend verändern und der Situation entsprechend anpassen können. Von höchster Relevanz dabei ist die bewusste und reflektierte Wahrnehmung der Kontexte des Gegenübers und der eigenen sowie die Wahrnehmung und Reflexion der erzählten Situation und Erzählsituation. Die bewusste Verwendung und Reflexion von Kommunikation werden damit zu einer Möglichkeit sich zu „Polyvalenter Normativität“ zu verhalten, wobei die unterschiedlichen Verständnisse dessen, was als „böse“ wahrgenommen wird polyvalent nebeneinander stehen bleiben kann und trotzdem eine seelsorgliche Verbindung geschaffen wird. Trotz der Möglichkeit, Kommunikation bewusst einzusetzen, ist auch hier ihre begrenzte Kontrollierbarkeit im Blick zu behalten. Wie ein gesprochenes Wort, wie Gestik und Mimik wirklich aufgefasst werden, das liegt nicht in der Hand der Induzierenden. Auch für die Kommunikation gilt, dass die Situationen und

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Teil III Kommunikation – Sich-Verhalten

Kontexte, innerhalb derer sie vollzogen wird, äußerst komplex sind. Im Übrigen sollte Kommunikation auch deshalb flexibel gestaltet werden. In der dezidiert seelsorglichen Kommunikation tritt nun hinzu, was auf ihren spezifischen Kontext überhaupt zutrifft und sie von allen anderen Hilfsangeboten unterscheidet: die Deutung des Lebens aus dem Glauben heraus. Wie konkretisiert sich diese Perspektive innerhalb der Seelsorgekommunikation?

4.3

Das Evangelium (im Gefängnis) kommunizieren

In Kapitel 3.3 wurde deutlich, dass Seelsorge „das Böse“ aus ihrer Perspektive wahrnimmt, d. h. aus dem Glauben heraus deutet. Nun stellt sich die Frage, ob und wie sich diese Perspektive in der konkreten Seelsorgesituation und damit in der Seelsorgekommunikation äußert. Anders als eine Therapie, die einen konkreten Heilungsauftrag hat, besteht Seelsorge in etwas anderem, sie ist ergebnisoffener. Wie ausgehandelt wird und wie Kommunikation zumindest begrenzt gesteuert werden kann, sodass Kommunikation nicht abbricht, das wurde bis hierher gezeigt. Es ist darüber hinaus zu vermuten, aufgrund der Glaubensperspektive193 Seelsorgender, dass etwas in der Seelsorgekommunikation vermittelt wird, das dazu beiträgt, dass sie zu einer gelingenden Seelsorgekommunikation wird, und es stellt sich weiter die Frage, ob und wie dieses „Etwas“ das Phänomen der „Polyvalenten Normativität“ beeinflusst. Über den Blick auf das speziell Seelsorgliche der Seelsorge in den gängigen Seelsorgetheorien sowie Stimmen zur Gefängnisseelsorge im Speziellen (4.3.1) wird in diesem Abschnitt eine Klärung der Frage gesucht, was in der Praktischen Theologie unter der Kommunikation des Evangeliums gefasst wird; daraufhin wird erörtert, wie sich der Auftrag der Kirche, Evangelium „zur Welt zu bringen“194 , in einem so säkularen Ort wie dem Gefängnis konkretisieren lässt (4.3.2) und an einem Beispiel aus der Gefängnisseelsorge exemplifiziert (4.3.3).

193 An dieser Stelle sei betont, dass es nicht die eine Glaubensperspektive geben kann. Der Schnittpunkt aller Glaubensperspektiven in der evangelischen Seelsorge besteht in ihrer christlichen Tradition. Wie und was aber wirklich geglaubt wird, ist auch unter Seelsorger:innen sehr individuell und steht innerhalb ihres jeweiligen Lebenskontextes. Ich wähle bewusst den Begriff der Glaubensperspektive, die auch impliziert, zweifeln zu können und zu dürfen. Es ist davon auszugehen, dass auch Seelsorger:innen Glaubenszweifel haben, möglicherweise gerade, wenn sie auf Kontexte wie dem Gefängnis treffen. Ihr kirchliches Amt lässt sie dann dennoch ihren Seelsorgeberuf fortführen und sie tun dies aufgrund ihrer erlernten Profession und der beruflichen Unterstützung (beispielsweise durch Supervision). 194 Evangelische Kirche in Deutschland, Das Evangelium unter die Leute bringen.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

4.3.1

Kommunikation als Seelsorgekommunikation

Ziemer zufolge müsse „benennbar sein, was denn das ‚Seelsorgliche‘ an einem Seelsorgegespräch sein soll“195 , wofür er drei Kriterien anführt: Den Aspekt des „kirchlichen Kontext[es]“196 , „die existenzielle Ebene“197 sowie „das Glaubensthema“198 .Weil der erste Punkt geradezu selbstverständlich für die Seelsorge ist – Seelsorge gehört zu der kirchlichen Amtsausführung –, scheinen gerade die letzten Punkte Kriterien für die „wirklich gelungene“ Seelsorge aufzuzeigen. So führt Ziemer zur existenziellen Ebene weiter aus: „Die Existenzialität des Gesprächs ist in der Seelsorge stets intendiert. Sie ist aber nicht ‚Gesetz‘, sondern Chance der Seelsorge. Auch wenn die Pfarrerin sich bei einem Geburtstagsbesuch auf small talk einlässt, so bleibt sie doch – das ist ihr seelsorglicher Beruf – aufmerksam, ob sich der Wunsch abzeichnet, eine persönlichere Ebene zu erreichen.“199

Abgesehen davon, dass es in der Seelsorge grundsätzlich angebracht ist, aufmerksam zu sein, um wahrnehmen zu können, welches Anliegen an die Seelsorgeperson herangetragen wird und welcher Anspruch an die Seelsorge gestellt wird, sodass eben auch wahrgenommen werden kann, wenn von der Gesprächspartnerin oder dem Gesprächspartner eine persönlichere Ebene zu erreichen gewünscht wird, wird durch Ziemer suggeriert, dass Seelsorgende das Kommunizierte geradezu auf Existenzialität hin absuchen sollten, um doch noch das Gespräch in ein besseres Seelsorgegespräch hineinzuführen, um die Chance auf die eigentliche Seelsorge nicht zu verpassen. Ähnliches, aber in verschärfter Form, zeigt sich bei Gärtner: „Seelsorger [haben] selbst einen eigenen Fokus [Hervorhebung v. Inderst]. Sie richten sich speziell auf das Geistliche, wobei dies mehr umfasst als das Religiöse, die Lebensanschauung, Transzendenzerfahrung, Esoterik oder Spiritualität.“200 Auch hier wird angenommen, dass Seelsorgende immer das Geistliche – auf das sie sich fokussieren – in dem Gespräch suchen würden. So nimmt Gärtner in der Erfahrung der juristischen Ebene von Schuld (Sanktionierung) oder ihrer somatischen Ebene (Gefangenschaft und Reglementierung) auch eine geistliche Ebene wahr, „etwa in Form der Sinnfrage oder in der Suche nach Vergebung.“201 Auf die Wahrnehmung

195 196 197 198 199 200 201

Ziemer, Seelsorgelehre, 187. Ziemer, Seelsorgelehre, 187 [original: kursiv]. Ziemer, Seelsorgelehre, 187 [original: kursiv]. Ziemer, Seelsorgelehre, 187 [original: kursiv]. Ziemer, Seelsorgelehre, 187. Gärtner, Fremdheit, 26. Gärtner, Fremdheit, 28.

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Teil III Kommunikation – Sich-Verhalten

der geistlichen Dimension – die durchaus auch im Gefängnis von manchen Gefangenen explizit über religiöse/spirituelle Bilder, Symbole, Rituale, Geschichten und Sprachen expliziter in Erscheinung treten können202 – folgt für Gärtner die „Aufgabe und Kompetenz der Gefängnisseelsorger, diese Aspekte zusammen mit dem Gefangenen als solche zu erschließen und zu benennen.“203 Und weiter: „Der Gefängnisseelsorger kann dazu von sich aus Texte, Gesten, Fragen, Bilder, Rituale, Geschichten und Worte anbieten, die den Insassen zum Ausdruck der geistlichen Ebene ihrer Erfahrungswirklichkeit verhelfen.“204 Er versucht „schließlich auch, ein spezielles Deutungsangebot für das Geistliche im Gefängnis zu machen. Er selbst will Elemente aus den jüdisch-christlichen Traditionen so verflüssigen, dass sie für die Gefangenen bedeutsam werden können. […] Der Verstehenshorizont des Gefängnisseelsorgers oder der Gefängnisseelsorgerin ist schließlich christlich geprägt.“205 Durch Ziemer und besonders Gärtner könnte der Eindruck entstehen, als ob Seelsorgende als Expert:innen dafür eingesetzt werden, das sogenannte „Geistliche“ eines jeden Gespräches zu eruieren und dem Gegenüber als solches vor Augen zu führen und jenes dadurch dem Gegenüber bedeutsam werden zu lassen. Dadurch scheint es, als wäre es das Gegenüber, dass das Geistliche in die Kommunikationssituation miteinbringt, sodass Seelsorge dann zu Seelsorge wird, wenn jenes Geistliche letztendlich auch vom Gegenüber als solches erkannt wird. Seelsorger:innen hätten dann zur Aufgabe, das Geistliche als Geistliches zurückzuspiegeln. Was aber, wenn das Gegenüber keine existenziellen Anfragen kommuniziert, weder implizit noch explizit? Und ist Seelsorge wirklich nur dadurch eine gelungene, wenn die kommunizierten Inhalte des Gegenübers existenziell gedeutet und schließlich auch als solche benannt werden? Schon von hier aus lässt sich doch eher vermuten, dass nicht das Gegenüber existenzielle Anfragen kommuniziert und in die Situation mitbringt, sondern die Seelsorgeperson. Wiederum mit Ziemer lässt sich dann sagen, dass „Seelsorge im Ansatz [Hervorhebung v. Inderst] immer auch als ein geistliches Geschehen zu begreifen ist, selbst wenn dies rein formal oder inhaltsanalytisch nicht immer gleich erkennbar wird.“206 Während Gärtner den Fokus der Seelsorge auf das Geistliche legt, lässt sich nun betonen, dass Seelsorge in ihrem Ansatz ein geistliches Geschehen ist. Ihr Grund, ihre Perspektive trägt bereits etwas Geistliches in sich. Die Richtung verschiebt sich. Das Geistliche ist das, was Seelsorge grundsätzlich schon mitbringt und damit auch in die Seelsorgekommunikation einträgt, ohne das Geistliche des Gegenübers als solches ausfindig machen 202 203 204 205 206

Vgl. Gärtner, Fremdheit, 28. Gärtner, Fremdheit, 29. Gärtner, Fremdheit, 29. Gärtner, Fremdheit, 29. Ziemer, Seelsorgelehre, 207.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

zu müssen – und zu können –, denn an einem säkularen Ort wird das, was das Geistliche beinhalten soll, in den seltensten Fällen als „Geistliches“ benannt. Eigentlich, so lässt sich herleiten, geht es doch um die Perspektive der Seelsorgeperson, mit der sie auf die Dinge blickt.207 So lässt sich ein Seelsorgegespräch an sich schon als geistliches deuten, ohne dass sich in dem Gespräch darauf hin fokussiert, also ausgerichtet und gesucht werden müsste, dass das Gegenüber irgendetwas sagt, was auf etwas geistliches hinweist. Nicht das Gegenüber, sondern die Seelsorgeperson mit ihrer Glaubensperspektive – das Leben aus dem Glauben zu deuten – trägt die geistliche Dimension in das Gespräch ein, sodass eine Art „implizite[…] Religiosiät“208 – so wiederum auch Ziemer – durch die Seelsorgeperson, von vornherein in das Gespräch eingetragen ist, ohne dass sie explizit gemacht werden müsste. Demgemäß kann das, was sich in dem Gespräch ereignet als „mitschwingendes geistliches Geschehen“209 gedeutet werden.210 In dem Fall, in dem Seelsorgegespräche also keine erkennbare geistliche Dimension aufzeigen – es ist nicht gesagt, dass sie es gar nicht tun, denn Seelsorger:innen werden durchaus auch auf geistliche oder existenzielle Themen angesprochen –, weil das Gegenüber eine solche nicht explizit oder implizit kommuniziert, lässt sich aus der Perspektive der Seelsorgeperson das Gespräch dennoch als geistliches und 207 Dabei bleibt sie natürlich multiperspektiv, hat aber, anders als andere Angebote, eben auch eine Glaubensperspektive. 208 Ziemer, Seelsorgelehre, 208 [original: kursiv]. 209 Ziemer, Seelsorgelehre, 208 formuliert: „Es schwingt in diesen Gesprächen etwas mit, das es von anderen Gesprächssituationen unterscheidet, selbst wenn dies explizit mit keinem Wort erwähnt wird.“ 210 An dieser Stelle sei auf Drechsel, Gemeindeseelsorge verwiesen, der ebenfalls dafür plädiert, Seelsorge von ihren jeweiligen Kontexten her zu betrachten, um von dort aus zu fragen, was darin das Seelsorgliche ist (vgl. Drechsel, Gemeindeseelsorge, 24). Auch Drechsel zufolge sei nicht die Lösung eines Problems oder der therapeutische Fortschritt Maßstab der Seelsorge, sondern Zuwendung, die die Rechtfertigung Gottes zum Ausgangspunkt habe (vgl. Drechsel, Gemeindeseelsorge, 47–56). Drechsel scheint jedoch in die andere Richtung zu „kippen“, sodass Seelsorge keiner therapeutischen Perspektive mehr bedürfe (vgl. dazu Hauschildt, Durchbruch, der ebd., 253 kritisch anmerkt: „[E]s geht […] eben sehr wohl darum, Methoden anzuwenden und zielorientierte Seelsorge zu betreiben – eben weil in einem solchen Kontext [gemeint sind Konfliktsituationen, Anm. v. Inderst] eine christliche Zuwendung auch bedeutet, das Mögliche auch, so gut es eben geht und so gut man es kann, wirklich werden zu lassen“). Dies ist auch hier unbedingt zu berücksichtigen, sodass an dieser Stelle dem Missverständnis gewehrt werden soll, Ziemers und Gärtners Punkte seien zu revidieren. Es geht eher darum, die Anliegen, die eben auch Drechsel hervorbringt, neben diejenigen Ziemers und Gärtners zu stellen und nicht nur durch eine der beiden Varianten Seelsorgegespräche als solche konstituiert zu verstehen. Ungeachtet dessen, worauf Seelsorge hinausläuft und ob gesprächstherapeutische Gesprächsführung angewendet wird oder nicht (immer der Situation entsprechend!), liegt das, was das Seelsorgegespräch zu einem solchen macht, in der Glaubensperspektive der Seelsorgeperson begründet.

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als seelsorgliches deuten. So lässt sich hier wiederholen, was sich im Referat von Hauschildt herausgestellt hat, nämlich, dass auch alltägliche Gespräche, die sich im Übrigen nicht allein auf Small Talk beschränken und dennoch alltäglicher Natur bleiben, durchaus seelsorglich sind und nicht bloß als Aufhänger für die tiefgehenden, eigentlichen Gespräche fungieren. Denn sie haben eine gemeinschaftsstiftende Wirkung und kommunizieren dadurch Gemeinschaft und „Gemeinschaft“ lässt sich als hoch christlich deuten, ohne dass ein Gespräch „in die Tiefe“ gehen müsste. Wenn die Pfarrerin nun also einen Geburtstagsbesuch macht, tut sie dies im Kontext ihres kirchlichen Amtes und wird den Besuch als Seelsorgerin/Pfarrerin machen, sodass sie den Small Talk als wirkliche, gemeinschaftsstiftende Seelsorge deuten kann, ohne dass sich explizit der Wunsch nach einer persönlichen Ebene im Gegenüber anzeigen muss, denn die Gemeinschaft während des Small Talk hat – aus ihrer religiösen Perspektive – bereits eine persönliche Ebene. Die Relevanz, scheinbar oberflächliche Strukturen als schon tiefe wahrzunehmen, zeigte sich ganz besonders im Gefängnis! Bis hierher zeichnet sich ab, dass es nicht die besonders tiefgehenden, existenziellen, als geistlich gedeuteten Themen sind, die Seelsorgekommunikation zu Seelsorgekommunikation machen, sondern dass es die je eigene Glaubensperspektive einer Seelsorgeperson ist, die Seelsorgekommunikation zu einer solchen macht. Nun stellt sich die Frage, was genau eine solche Glaubensperspektive eigentlich beinhaltet und wie sie sich in der Seelsorgekommunikation konkretisiert. Was genau haben tiefgehende Gespräche oder eben sehr alltäglich gehaltene Gespräche gemein, was wird in ihnen kommuniziert, so dass sie alle als Seelsorgegespräche verstanden werden? 4.3.2

Das Evangelium kommunizieren (Wilfried Engemann)

Es hat sich die Vermutung angezeigt, dass das – aus christlicher Perspektive – sogenannte „Geistliche“ durch die Glaubensperspektive Seelsorgender in die Seelsorgekommunikation eingetragen wird. Was genau wird dabei kommuniziert und wie äußert sich dies? Seelsorger:innen erfüllen sowohl von Amts wegen als auch aus ihrer Glaubensperspektive heraus einen Auftrag. Als Seelsorger:innen wirken sie auch an dem Auftrag der evangelischen Kirche mit: „Der vornehmste und wichtigste Auftrag der Kirche ist es, das Evangelium zur Welt zu bringen, zu den Menschen in der Nähe und in der Ferne, und das auf eine einladende Weise. Das Wort ‚Kirche‘ weist von seinem Wortbestand her in diese Richtung: Sie gehört

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

zum Herrn Jesus Christus (griechisch: ‚kyriake‘ = die zum Herrn gehörige), und damit folgt sie auch seinem Auftrag.“211

Wenn der vornehmste Auftrag der Kirche darin besteht, „das Evangelium zur Welt zu bringen“, dann stellt sich die Frage, wie dies im Rahmen der Seelsorge, als Teil der Kirche, geschieht. Wie wird hier das Evangelium vermittelt? Dann ist zunächst nach dem Inhalt des Evangeliums zu fragen. Die EKD versteht Evangelium als „die gute Botschaft davon, dass Gott in Jesus Christus zu den Menschen gekommen ist. Das Wort ‚Evangelium‘ heißt ‚Gute Nachricht‘ und kommt vom griechischen Wort euangelion. Die Botschaft von Jesus war: Gottes Reich ist angebrochen, er wird sein Werk zu Ende bringen und die Welt heil machen. Wie Jesus Christus gehandelt hat, was er getan und gesagt hat, darin zeigt sich, wie Gott ist. Wie Jesus sich den Menschen zugewandt hat, darin wird deutlich, wie Gott sich den Menschen zuwendet: ohne Unterschiede zu machen zwischen Männern und Frauen, Volkszugehörigkeiten und beim gesellschaftlichen Status“212 .

Es geht also um die Vermittlung einer guten Botschaft, die sich an der Tradition der biblischen Überlieferungen vom Leben Jesu und seinem Gottesbild her orientiert. Damit wird als Auftrag der Kirche das angedeutet, was derzeit in der Praktischen Theologie unter „Kommunikation des Evangeliums“213 debattiert wird, wie sich zeigen lässt. Die folgende These ist, dass damit auch Seelsorge durch Kommunikation des Evangeliums als Seelsorge charakterisiert ist, und es stellt sich die Frage, wie sich Kommunikation des Evangeliums gerade an und für so einen säkularen Ort wie dem Gefängnis als bedeutsam zeigen lässt? Kommunikation des Evangeliums lässt sich nicht einfach als „Genitivobjekt“214 verstehen, so als ob nun das, was auch immer inhaltlich darunter verstanden wird, in der Seelsorge oder im Rahmen jeder anderen religiösen Kommunikation eins zu eins wiedergegeben würde.215 Weil Sprache kontextuell ist (s.o. 4.1), würde sich über die so ausgesprochene Botschaft, „dass Gott in Jesus Christus zu den Menschen

211 Evangelische Kirche in Deutschland, Das Evangelium unter die Leute bringen. 212 Evangelische Kirche in Deutschland, Evangelium. 213 Zu dem in der Praktischen Theologie aktuell geführten Diskurs zur Kommunikation des Evangeliums vgl. insbesondere den Sammelband dazu von Domsgen/Schröder, Kommunikation. Die Autor:innen beziehen sich ebd. auf die Formulierung Kommunikation des Evangeliums wie sie von Lange in der Bilanz 65 (1981) geprägt und durch Grethlein, Praktische Theologie, besonders hervorgehoben wurde. Vgl. auch meine einleitenden Ausführungen dazu in Hinblick auf den dieser Arbeit zugrunde gelegten wissenschaftstheoretischen Prämissen in Kapitel 1.5.1. 214 Engemann, Kommunikation, 15. 215 Vgl auch Engemann, Personen, 42f.

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gekommen ist“ insbesondere an einem säkularen Ort wie dem Gefängnis höchstwahrscheinlich nicht viel übermitteln, schon gar keine intendierte Gute Nachricht und somit eben nicht Evangelium. So meint auch Wilfried Engemann im Rahmen des Diskurses zur Kommunikation des Evangeliums, dass dieses nicht verstanden wird als eine Kommunikation von religiösen Codes, die dann automatisch zu einer Wirkung des Evangeliums führen würden: „Diese Formel bezeichnet keinen Einbahnverkehr von Datenströmen mit Heilsnachrichten. ‚Kommunikation des Evangeliums‘ ist also kein Genitivobjekt, das sich aus ganz bestimmten Wörtern und Sätzen speiste, von denen man ein paar zirkulieren lassen könnte, um sie als Evangelium wirken zu lassen.“216

Engemann beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmäßig mit der Analyse, Kritik und Gestaltung religiöser Kommunikationsprozesse, arbeitet dabei interdisziplinär und verbindet kommunikationstheoretische Erkenntnisse mit theologischen.217 Er beschäftigt sich in seinen Arbeiten immer wieder dezidiert mit Kommunikation des Evangeliums. Seine semiotischen Argumentationen sind im Ansatz denen Meyer-Blancks ähnlich, insofern Hörer:innen das Gehörte in ihre eigene Sprache übersetzen, weiterdenken und interpretieren (s.o. 4.1). „Symbole sind vieldeutig […]. Sie lassen sich nicht auf eine Deutung reduzieren. Symbole – im Kontext von Erfahrungen gebildet – vermögen diese Erfahrungen immer wieder aufzurufen, wenn sie erscheinen bzw. beim Betrachter, Leser oder Hörer Symbolisierungsprozesse auslösen.“218 Engemann geht weiter mit Scharfenberg von einem „Verweisungszusammenhang“219 der Symbole aus, der jedoch offenbleibt: Das Symbol „reizt dazu, über seine tiefere Bedeutung nachzudenken und darüber mit anderen einen Verständigungsprozess herbeizuführen“220 . Die Kommunikation des Evangeliums hält Engemann auch deshalb für unabdingbar, „weil es im Evangelium letztlich um Beziehungen geht, die anders als durch Kommunikation nicht hergestellt werden können.“221 Auch aufgrund dieser Prämissen hinsichtlich der 216 Engemann, Kommunikation, 15f, vgl. auch Kirchmeier, Drei Kommunikationsmodi, 39. Kirchmeier konkretisiert die Wirkung der Kommunikation des Evangeliums über Engemann hinaus, indem er meint, dass hier „Menschen nicht bloß irgendwie neu ausgerichtet […], sondern konkret als Subjekte neu aufgerichtet“ (Engemann, Kommunikation, 48) werden. 217 Engemann hat sich über seinen kommunikationstheoretischen Ansatz profiliert, vgl. seine Habilitationsschrift [1993] Engemann, Semiotische Homiletik. 218 Engemann, Einführung, 206f. 219 Engemann, Einführung, 207. 220 Scharfenberg, Gib mir ein Symbol, 251 zit. nach Engemann, Einführung, 207. Zu Scharfenbergs Symbolverständnis vgl. Scharfenberg/Kämpfer, Mit Symbolen leben; ders., Symbole. Vgl. auch ferner: Engemann, Personen, 180–183. 221 Engemann, Personen, 43, [teilweise kursiv].

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

Kommunikation als Beziehung und der implizierten Aufgabe von Evangelium, sind Engemanns Arbeiten an dieser Stelle zurate zu ziehen. Insbesondere untersucht Engemann die Kommunikation des Evangeliums im Rahmen der Homiletik.222 Dennoch beschränkt sich Kommunikation des Evangeliums nicht auf die Predigt, „sondern es geht um alle Ebenen des Reiches Gottes“223 . Hervorzuheben ist Engemanns sehr anthropologisches Verständnis von Religion, was, gekoppelt an seine Auseinandersetzung mit Kommunikation und Evangelium, einer Seelsorgekommunikation im zumeist säkularen Ort Gefängnis sehr zuträglich wird. All dies macht es erforderlich, Engemanns Studien im Hinblick auf die Seelsorgekommunikation am besonderen Ort des Gefängnisses hin zu reflektieren. Die Formulierung Kommunikation des Evangeliums kann, so Engemann, in „Abgrenzung zu solchen Missverständnissen [u. a. Evangelium als Genitivobjekt zu denken, Anm. v. Inderst] […] auch ganz unmissverständlich eine spezifisch evangelische Art und Weise des Umgangs mit Menschen zusammenfassen.“224 Was ist nun ein „spezifisch evangelischer Umgang“225 mit Menschen? Die spezifische Art des Umgangs beruhe auf dem Evangelium, als geglaubte und tradierte Gute Nachricht. Hier geht es also zunächst wieder um eine bestimmte Perspektive, nämlich evangelische Perspektive: Es lässt sich eine bestimmte Tradition, nämlich die christliche, festmachen, in der das Evangelium steht. Sie lässt sich als bestimmter Rahmen denken, der jedoch nicht ohne Spielraum ist, weil von vielen Facetten christlicher Tradition ausgegangen werden kann. Demgemäß geht es nicht darum, biblische Überlieferungen unreflektiert oder unbedacht nach außen zu tragen, sondern eher um Innenperspektiven, die sich weitergetragen haben. So ist der „biblische Überlieferungsprozess selbst als Kommunikation des Evangeliums“226 zu verstehen, in dem „nicht nur Gerüchte und Geschichten zu Texten, Texte zu einem Buch, zu Predigten oder Liedern geworden“227 , sondern im „Prozess der Überlieferung – und der Interpretation der Überlieferung – hat sich eine vielgestaltige Glaubenskultur entwickelt, mit der Menschen gleichsam definieren, was unter Christentum zu verstehen ist.“228 In gegenwärtigen Begegnungen setze sich diese Glaubenskultur

222 223 224 225

Vgl. dazu Engemann, Einführung, 455–486. Engemann, Personen, 42. Engemann, Kommunikation, 16. Dies kann in einem doppelten Sinne verstanden werden: a) dem Evangelium gemäß und b) in der Perspektive der Theologie des (konfessionell) evangelischen Verständnisses. Engemann meint an dieser Stelle „Evangelium“ im Sinne von a). 226 Engemann, Kommunikation, 23. 227 Engemann, Kommunikation, 23. 228 Engemann, Kommunikation, 23.

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fort, sodass man an dieser Stelle von „Glaubenskommunikation“229 sprechen könne. In gewisser Weise wird also jene Glaubenskultur nach wie vor immer wieder ausgehandelt. Sie hat jedoch immer einen Rückbezug. Deshalb geben die „Anliegen, [die] Absicht und [die] Pointe der Lebenskunde Jesu [Orientierung]“230 , von wo aus die Kommunikation des Evangeliums wirke. Oder, um es nochmal in den Worten der EKD zu sagen: „Wie Jesus sich den Menschen zugewandt hat, darin wird deutlich, wie Gott sich den Menschen zuwendet: ohne Unterschiede zu machen zwischen Männern und Frauen, Volkszugehörigkeiten und beim gesellschaftlichen Status [Hervorhebung v. Inderst]“231 . Von hier aus lässt sich nun mit Engemann sagen, dass im Hintergrund von Kommunikation des Evangeliums „das Auftreten, Reden und Handeln Jesu als einen befreienden, lebensdienlichen, Zukunft eröffnenden Umgang mit Menschen“232 steht sowie „die Herausbildung einer christlichen, frühkirchlichen Praxis, die den Umgang Jesu mit Menschen in einer charakteristischen Erzähl-, Tisch- und Dienstgemeinschaft kultiviert“233 . Das ist das, was im Hintergrund der Glaubensperspektive Seelsorgender steht. Ein bestimmtes Menschen- und Gottesbild, der Versuch Menschen so wahrzunehmen und ihnen so zu begegnen, wie Jesus ihnen aus seinem Glauben heraus begegnet ist. Im Hintergrund – in der Glaubensperspektive – steht also die tradierte Glaubenskultur eines Gottes, der keinen Unterschied macht.234 So lässt sich auch für die Seelsorge sagen, was Engemann für die Predigt feststellt: „In der Predigt geht es nicht um die ‚Weitergabe‘ des Evangeliums im Sinne nackter Informationen, sondern um die Suche nach einem adäquaten Ausdruck der Beziehung Gottes zu uns“235 und damit geht es „um das gesamte Ensemble menschlicher Beziehungen, bezogen auf die Beziehung des Menschen zu Gott und die Menschenbeziehung Gottes […], und um die Tragweite dieser Beziehung für die Beziehung zu anderen.“236 In Bezug auf die Glaubensperspektive einer Seelsorgeperson im Gefängnis könnte dies beispielsweise folgendes bedeuten: Seelsorgliche Kommunikation beinhaltet ein gewisses Menschenbild. Die Wahrnehmung ist: Der Mensch ist als Mensch fähig, gutes und unglaublich schreckliches – „böses“ – zu tun. Und im Bewusstsein

229 230 231 232 233 234

Engemann, Kommunikation, 23. Engemann, Kommunikation, 16. EKD, Evangelium. Engemann, Kommunikation, 22. Engemann, Kommunikation, 22. Die so von Engemann hervorgehoben wird und womit er sich gegen die gegenteilige Glaubenstradition und -kultur stellt, die eben schon einen Unterschied zu machen scheint, zwischen Christen (als bessere Menschen) und Mensch (s.u.). 235 Engemann, Einführung, 456. 236 Engemann, Einführung, 456.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

Seelsorgender ist, dass sie unter gewissen Umständen und Veranlagungen genau solches auch tun könnten. Das macht das Gegenüber, den Straftäter oder die Straftäterin, jedoch nicht zum Opfer. Sie oder er hat die schreckliche Tat begangen und das wird ernst genommen. Dennoch begegnen Seelsorger:innen Strafgefangenen, sie machen keine Unterschiede: auch Straftäter:innen werden besucht, auch ihnen kommt Menschenwürde zu. Seelsorgende stehen hier nicht „für ein anderes Menschenbild“237 , sondern für einen anderen Umgang trotz des Menschen, wie er sich ganz real abbildet. Worin besteht nun dieser Umgang? Es zeigt sich, dass er in der Kommunikation des Evangeliums liegt. Bei Engemann liest sich heraus, dass das Evangelium sehr bewusst und aktiv kommuniziert werden kann und dass sich darin etwas vermittelt, nämlich ein gewisser „Geist“238 , womit ich an dieser Stelle zum Ausgangspunkt der Frage nach dem Geistlichen innerhalb der Seelsorgekommunikation zurückkomme. Ausgehend von der Predigt meint Engemann, dass man „hören und beurteilen“239 könne, ob sie den gewissen Geist hat oder nicht. „Und man kann sich exegetisch, hermeneutisch, sprachlich usw. darum bemühen“240 . Engemann wehrt so dem Fehler, man könne durch Kommunikation nichts bewirken und es sei alles Sache des Heiligen Geistes. Dennoch unterscheidet sich das kommunizierte Geistliche hier von dem, wie es durch Ziemer und Gärtner suggeriert wurde. Es ist zunächst weiterhin von der Perspektive Seelsorgender auszugehen und nicht auf etwas Geistliches im Gespräch, das durch die Perspektive des Gegenübers eingetragen würde zu fokussieren. Engemann ist darin zuzustimmen, dass man sich um die Kommunikation von etwas Geistlichem bemühen kann, denn man kann sehr wohl bewusst und reflektiert kommunizieren (s.o. 4.2), wohl auch in dem Bewusstsein – und das sagt Engemann selbst –, dass „Kommunikationsprozesse immer ‚unverfügbar‘“241 sind. Intentionen werden missverstanden, bleiben überhört oder werden eben gehört. Manchmal wird auch schon verstanden, ohne, dass das Gegenüber zu Ende gesprochen hat. Es kommt auch vor, dass die Tragweite des Ausgesprochenen besser verstanden wird, als der Sprecher oder die Sprecherin es selbst versteht. Das alles hat, laut Engemann, jedoch nichts mit dem Wirken des Geistes zu tun.242

237 Zu einem solchen appelliert aber Tietze, Opfer, 68, indem er erneut suggeriert, Täter seien eigentlich Opfer. 238 Engemann, Einführung, 461. 239 Engemann, Einführung, 461. 240 Engemann, Einführung, 461. 241 Engemann, Einführung, 463. 242 Vgl. Engemann, Einführung, 463.

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Teil III Kommunikation – Sich-Verhalten

„Wenn man sich auf den Heiligen Geist beruft, um den Prediger als Subjekt aus dem Vermittlungsgeschehen des Predigtprozesses kurzerhand heraustrennen bzw. übergehen zu können, wenn man den Prediger zum bloßen ‚Sprachrohr‘ degradiert und von ihm fordert, er solle hinter sein Zeugnis zurücktreten, gibt man die christologische Basis der Predigt auf “243 .

Man sollte also nicht „den Heiligen Geist buchstäblich als Lückenfüller bemühen“244 , um die „‚Unverfügbarkeit über das Wort Gottes‘“245 zu erklären. Hinsichtlich der Predigt – und das ist anwendbar auf Seelsorgekommunikation – könne man dann „nur bitten und hoffen, dass die Vorbereitung der Predigt nicht umsonst war, und dass der Geist aus dem Gerede von Mensch zu Mensch etwas macht, was über Menschenmögliches hinausgeht“246 , wie Engemann nicht ohne eine gewisse Polemik formuliert. Dagegen geht es laut Engemann jedoch darum, in einem bestimmten Geist zu predigen, d. h. in Hinblick auf die Frage: „Was können wir zum einen glauben und gelten lassen, worauf können wir uns verlassen, was kann uns gelassen machen im Blick auf den Anspruch, in demselben Geist zu predigen, in dem Jesus das Evangelium unter die Leute brachte?“247 Mit Engemann ist für die Predigt hervorzuheben: „Die konkrete Person, die gleichermaßen individuelle wie subjektive Note der Predigt, gibt der Kommunikation des Evangeliums einen spezifischen Charakter: einen personalen. Diese personale Basis stellt kein Handikap der Predigt dar, sondern die ihr angemessene Art und Weise, von der Freiheit und Liebe Zeugnis abzulegen, die das Evangelium bestimmen.“248

Das gilt allemal auch und unbedingt für die Seelsorge. Wenn sich etwas in einem Geist kommunizieren soll, dann ist die Glaubensperspektive – das Leben aus dem Glauben deuten – der Seelsorgeperson, also des Seelsorgers oder der Seelsorgerin mit ihrer Profession und als Person, unabkömmlich. Wenn also die Kommunikation beispielsweise in einem Geist der Liebe geschehen soll, so heißt dies eben nicht, dass „Liebe“ zum expliziten Thema werden muss, sie aber dennoch im Seelsorgegespräch erfahrbar werden kann. Das Evangelium kann nach Engemann nur durch personale Kommunikation zur Sprache kommen, auch Jesus selbst sei zum „Chris-

243 244 245 246 247 248

Engemann, Einführung, 464. Engemann, Einführung, 464. Engemann, Einführung, 459. Engemann, Einführung, 459. Engemann, Einführung, 460. Engemann, Einführung, 459.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

tus“ geworden, „indem er in Person zum Menschen in Beziehung trat“249 . Dies ist Dreh- und Angelpunkt der Gefängnisseelsorge, gerade hinsichtlich „Polyvalenter Normativität“. Die Seelsorgeperson kann und soll nicht so tun, als würde sie über „das Böse“ der Straftaten hinwegsehen, sie wäre nicht mehr Person. Aber sie kann vor dem Hintergrund ihrer Glaubensperspektive trotzdem Kommunikation und Beziehung herstellen. Es gibt die semiotischen und linguistischen Werkzeuge dazu, wie aufgezeigt wurde. Und ihr Glaube ist auch das, weshalb sie ins Gefängnis geht und sich mit denjenigen an einen Tisch setzt, die von der Draußenwelt stigmatisiert werden, die einen, allzu menschlichen, Unterschied macht – „die Guten“ und „die Bösen“. Der Glaube der Seelsorgenden geht jedoch nicht in der Kommunikation selbst auf, „Glaubenserfahrungen […] lassen sich nicht auf Kommunikationsmuster reduzieren.“250 Man muss demnach nicht über den Glauben kommunizieren, damit es zu einer Glaubenserfahrung kommt, sondern, und das wurde deutlich, es geschieht in der Kommunikation, in einem gewissen Geist. Darin besteht also der Umgang, die Kommunikation des Evangeliums, dass sie in einem gewissen Geist entsteht, dass sie dadurch, dass sie kommuniziert, Beziehung schafft und so zu gelingender Seelsorgekommunikation führen kann. Für das Seelsorgegespräch kann erstmal offenbleiben, ob es ein tiefgehendes Beratungsgespräch oder ein scheinbar oberflächliches Gespräch bei Kaffee und Kuchen ist. Im Vorangegangenen deutet sich nun an, dass Engemann dennoch einen „Zweck“251 der Kommunikation des Evangeliums und des Glaubens intendiert. Zunächst geht Engemann zwar von einer vielfältigen Wirkung von Kommunikation des Evangeliums aus, die sich nicht auf eine Art von Wirkung beschränken und als „‚das Evangelium‘ […] deklarieren“252 ließe. Dann aber stellt er die Frage, woraufhin nun Evangelium kommuniziert werden soll, in der Debatte um die Kommunikation des Evangeliums besonders heraus.253 Er verleitet dazu, die Glaubensperspektive der Seelsorgeperson nicht bei ihrer Perspektive zu belassen, sondern ihr zum Auftrag zu machen, das Gegenüber dahin zu führen, auch eine Glaubensperspektive einzunehmen – beides bildete sich zuvor schon bei Ziemer und Gärtner ab. Engemann begreift „den Fluchtpunkt der ‚Kommunikation des Evangeliums‘ in 249 250 251 252 253

Engemann, Einführung, 459. Engemann, Kommunikation, 31. Engemann, Lebensgefühl, 222. Engemann, Kommunikation, 27. Mit der Frage nach dem Zweck der Kommunikation des Evangeliums geht Engemann über Grethlein hinaus, der keine bestimmten Zwecke oder Absichten der Kommunikation des Evangeliums bestimmt (vgl. Grethlein, Praktische Theologie, 493–571; vgl. auch Engemann, Kommunikation, 27). Grethlein zufolge ist „‚Evangelium‘, als Inhalt von Kommunikation keine feststehende Größe unabhängig von der konkreten Kommunikation“ (Grethlein, Praktische Theologie, 156f), es erschließe sich erst in ihr. „Evangelium“ ist „grundsätzlich ergebnisoffen bis hin zur Erschließung neuer Wirklichkeit“ (Grethlein, Praktische Theologie, 157).

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einem ‚Leben aus Glauben‘.“254 Glaube ist bei Engemann ambiguitär zu lesen. Er sei eine „Kategorie menschlicher Existenz“255 und keine abstrakte Größe, über die man sich „dogmatisch zu verständigen hätte“256 . Die Stärke in Engemanns Glaubensbegriff liegt in seiner anthropologischen Beachtung. „Glaube gibt es nur als jemandes ‚Glauben‘, nur als Haltung, in der sich jemand als Glaubender erfährt.“257 Mit Engemann ist Glaube in seiner „Relevanz“258 für das Leben des Menschen zu begreifen und von da aus zu erörtern, „d. h. für dessen Umgang mit sich selbst und anderen, als Faktor seines Lebensgefühls, als Ausdruck einer Lebenshaltung“259 . Es geht „um das Ganze des menschlichen Lebens, auch um das Wollen und Handeln eines Menschen, um sein Lebens- bzw. Daseinsgefühl, für das die Erfahrungen von Freiheit sowie das Empfangen- und Gewähren-Können von Zuwendung von elementarer Bedeutung sind.“260 Engemann zufolge drücke sich Glaube in Gefühlen aus, die diesen Glauben konstituierten, sodass er auch immer „eine Kategorie der Leidenschaft“261 sei, was nachvollziehbar ist, denn was hätte Glaube für eine Bedeutung im Leben eines Menschen, wenn er auf rein rationaler Ebene verbliebe? Im Glauben fühle man gleichsam die „Stimmigkeit unseres Lebens“262 . Der Mensch komme als Mensch zum Vorschein, „mit der ihm eigenen Würde, mit seinem göttlichen Faible für Freiheit und Liebe, mit seiner Leidenschaft, zu leben.“263 An diesem Punkt findet nun m.E. eine Verengung der von Engemann selbst eingebrachten Subjektivität des Glaubens (Glaube als Glaube für jemanden) statt, wenn er Glaube zur „Ressource der Freiheit und der Liebe“264 bestimmt und den Zugang zu den Erfahrungen von „Freiheit und Liebe“265 zum „Grundanliegen der Kommunikation des Evangeliums“266 erklärt. Er erklärt damit einen Glauben zum Zweck, und zwar zum Zweck, Freiheit und Liebe zu erfahren. Er macht „Freiheit und Liebe“267 zu den „Zentralbegriffen“268 der „Religion, zu

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Engemann, Kommunikation, 28. Engemann, Kommunikation, 28. Engemann, Kommunikation, 28. Engemann, Lebensgefühl, 233. Engemann, Kommunikation, 28 [Hervorhebung v. Inderst] Engemann, Kommunikation, 28. Engemann, Kommunikation, 16, vgl. auch ders., Einführung, 460f. Engemann, Lebensgefühl, 233. Engemann, Lebensgefühl, 234 [original: kursiv]. Engemann, Als Mensch, 23. Engemann, Mensch, 26. Engemann, Einführung, 460. Engemann, Einführung, 460. Engemann, Lebensgefühl, 221. Engemann, Lebensgefühl, 221.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

deren Theologie es […] gehört, Menschen in ihr Leben hinein zu begleiten“269 . Engemann zufolge sind die „Erfahrungen im Kontext von Freiheit und Liebe […] das ‚Wirkungsfeld‘ des Heiligen Geistes schlechthin“270 , entsprechend den biblischen Überlieferungen. Für ihn ist es „[f]ür ein positives Lebensgefühl […] von großer Bedeutung, ob Freiheit und Liebe als etwas erfahren werden, wodurch das Leben an Weite und Tiefe gewinnt. Ohne Freiheit erleben wir unser Leben als eng und bedrückend, ohne Liebe als flach und banal.“271 Und weiter: „Das Leben und die Existenz des Menschen in den Fluchtpunkt der Religion zu stellen – und zwar nicht inquisitorisch, nicht um ihn in die Pflicht zu nehmen –, bedeutet hier, ihn als Ebenbild Gottes zum Vorschein kommen zu lassen, mit der Fähigkeit ausgestattet, ein Leben in Freiheit und Liebe zu führen“272 . Es ist auch für die Seelsorge nicht ausgeschlossen, was Engemann für die Predigt konstituiert: „Eine Predigt, die das Risiko eingeht, Erfahrungen der Unfreiheit ernst zu nehmen, in der um Freiheit gerungen wird, eine Predigt, die die verlorene, verweigerte, vergessene Erfahrung von Zuwendung, Liebe und Wertschätzung aufnimmt, die Glauben als Erneuerung und Bewahrung von Menschen in ihren (Gottes)beziehungen anzusprechen vermag usw. – solche Predigt ist Predigt ‚im Geist Christi‘.“273

Darin, in der Formulierung „im Geist“, liege also die Funktion von Predigt.274 Die Zweckbestimmung der Kommunikation des Evangeliums zu einem Glauben, der bedeutet, Freiheit und Liebe zu erfahren, zeigt sich besonders im Blick auf das Leben im Gefängnis als zu eng gefasst, sodass diese Auffassung in ihrer Grundsätzlichkeit nicht aufrechterhalten werden kann. In der Kommunikation des Evangeliums kann sich Kommunikation im Geist der Liebe, im Geist der Freiheit vermitteln, aber nicht generell auf Liebe und Freiheit hin. Auch „Freiheit“ und „Liebe“ sind sehr deutungsoffen und aushandelbar, je nach Erfahrung oder Nichterfahrung. Es würde zu weit gehen, die Erfahrung der Freiheit und Liebe selbst als existenziell immer als gegeben zu behaupten und davon auszugehen, dass „Freiheit und Liebe […] keine Kategorien [sind], die dem Menschen fremd oder unzugänglich wären, sondern elementare Kategorien seiner Existenzerfahrung und -bestimmung“275 . Es ist damit zu rechnen, dass Menschen tatsächlich unter bestimmten Umständen die Erfahrung von Freiheit oder Liebe unzugänglich ist, wenn sie in entsprechendem

269 270 271 272 273 274 275

Engemann, Lebensgefühl, 221. Engemann, Einführung, 460. Engemann, Lebensgefühl, 233. Engemann, Lebensgefühl, 226. Engemann, Einführung, 460f; vgl. auch ders., emotionale Dimension. Vgl. Engemann, Einführung, 461. Engemann, Einführung, 461.

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Umfeld aufgewachsen sind, wie auch Merzyn276 berichtete: Liebe gehört oftmals gerade nicht zum starken Erfahrungshorizont Gefangener.277 Von einer Erfahrung von „Freiheit“ im Gefängnis zu reden, diese Schwierigkeit liegt schon in der Natur der Sache, dass am Ort des Gefängnisses eben die Entfaltung von eigener Freiheit bis auf ein Minimum begrenzt wird. Die Sehnsucht nach Liebe und Freiheit mag in Menschen als Menschen verankert sein – auch das ist allerdings nicht sicher gesagt, weil sich gerade im Gefängnis auch eine Angst vor der Freiheit zeigen kann278 – die Erfahrung der Freiheit kann jedoch durchaus eine fremde sein. Es ist darüber hinaus nicht auszuschließen, dass es neben „Freiheit und Liebe [als] […] primäre Beweggründe des Menschen“279 , daneben noch weitere primäre Beweggründe gibt, wie sie beispielsweise unter der Dunklen Triade280 gefasst werden. Solche können auch deshalb neben Freiheit und Liebe stehen, weil sie – obwohl teilweise noch negativ konnotiert – eben nicht so ohne Weiteres als negative Beweggründe281 deklariert werden können, weil sie durchaus hilfreich sein und doch auch zu kriminellem Handeln führen können. Daneben steht eine nächste Schwierigkeit, nämlich Glauben als einen Zweck zu behandeln. Zum Ziel pastoraler Kommunikation würde dann gehören, Menschen zum Glauben zu bringen. So sagt auch Engemann: Kommunikation des Evangeliums habe nun Leben aus Glauben, d. h. einen gewissen „Lebensglauben“282 zum Zweck, worunter er insbesondere versteht, „dass Menschen als Menschen zum Vorschein kommen, das heißt, dass sie ihrer Würde gewahr werden, dass sie einen Schritt in die Freiheit tun können, dass sie Zuwendung erfahren und gewähren, dass sie sich auch durch ihren Glauben ein positives Lebensgefühl aneignen, dem Hingabe und Gelassenheit zugänglich sind.“283

276 Siehe auch Kapitel 4.1. 277 Vgl. Merzyn, Lebenslange, 348. 278 Davon berichtete mir der Gefängnisseelsorger Knut Dahl-Ruddies während eines Telefonats mit mir. Er habe die Erfahrung gemacht, dass Gefangene ihm kommunizierten, sie wollten nicht aus dem Gefängnis entlassen werden, weil sie den geregelten Ablauf im Offenen Vollzug schätzten. „Freiheit“ bedeute für sie, allein zurechtkommen zu müssen, und außerhalb des Gefängnisalltags fehlten oft die Strukturen, die sie bräuchten, um zurechtzukommen. 279 Engemann, Mensch, 40. 280 Siehe dazu Kapitel 3.1.2. 281 Auch Engemann stellt sich gegen die Auffassung „stringent zwischen positiven und negativen Gefühlen unterscheiden zu können, […] denn auch Aggressionen können ‚positiv‘ und unentbehrlich für das Ringen gerade um solche Beziehungen sein, von denen Zuwendung und Liebe zu erwarten sind“ (Engemann, Mensch, 33). 282 Engemann, Mensch, 28 [original: kursiv]. 283 Engemann, Kommunikation, 28. Kirchmeier, Kommunikationsmodi, 43f formuliert: „Aus dem Gesagten resultiert die Einsicht, dass derjenige Ort, wo sich der Sinn von Kommunikation des

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

Engemann meint: „Die Wirkung der ‚Kommunikation des Evangeliums‘ besteht […] keineswegs in einer ‚tiefen Religiosität‘ als Wert an sich, nicht darin, dass Menschen endlich einem Repertoire von Anforderungen entsprächen, was sie als besondere Menschen auszeichnete, nicht darin, dass Menschen auf eine ‚unmenschliche‘ Weise ‚religiös‘ würden, bereit, alles zu tun und zu lassen, um Gott zufriedenzustellen, sondern darin, dass Menschen als Menschen zum Vorschein kommen.“284

Im anthropologischen Sinne ist das auch für die Gefängnisseelsorge denkbar, nämlich dann, wenn Gefangene sich ihrer Würde gewahr werden, Zuwendung erfahren und ein positives Lebensgefühl erleben. Aber dann ist dies auch nur aus der Seelsorgeperspektive als „Glaube“ zu bezeichnen. Wenn die Wirkung der Kommunikation des Evangeliums nun darin besteht, den Menschen als Menschen zum Vorschein kommen zu lassen, dann stellt sich die Frage, was Engemann eigentlich unter dem Menschen als Menschen versteht. Für Engemann ist die Formulierung „den Menschen als Menschen zum Vorschein kommen lassen“ geradezu programmatisch. Er meint damit, dass Menschen mit allem, was sie sind, „[n]icht als Gutmensch, nicht als Allesversteher“285 mit seinen „[e]rfüllbare[n] und unerfüllbare[n] Wünsche[n], die mit Egoismus nichts zu tun haben“286 als solche ernstgenommen werden. Nun zeigt sich gerade im Gefängnis – aber eben nicht nur da –, dass Menschsein sehr oft auch mit egoistischen Wünschen zu tun hat. Die Intention Engemanns ist klar: Er wehrt einer beobachteten Praxis innerhalb der Glaubenskultur und den Menschen eben dort vor Augen zu führen, „dass Menschen schlechterdings so nicht sein können und wollen, wie es ihnen nahegelegt wird: Gutmenschen und Allesversteher sind frustrierende Optionen für Menschen, die einer Predigt in der Erwartung folgen, in Richtung Menschsein erbaut zu werden.“287 Er wehrt einem Menschenbild der zu überwindenden Unvollkommenheit, um ein guter Mensch zu werden, einer, der geschaffen ist zu Gottes

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Evangeliums erschließt, d. h. das so bezeichnete Geschehen seinen Zweck erfüllen kann, zunächst dort liegt, wo Menschen sich nicht oder kaum mehr als Subjekte erfahren; wenn an derartigen Orten ‚plötzlich‘ die Erfahrung gemacht wird, wieder Subjekt des eigenen Lebens (und Glaubens) zu sein, so kann mit Fug und Recht der Satz ausgesagt werden, dort habe sich Kommunikation des Evangeliums ‚ereignet‘.“ Diese Aussage ist geradezu ein Abbild von sich ereignender Kommunikation des Evangeliums im Gefängnis, als ein Ort, an dem sich Menschen wortwörtlich nicht mehr als Subjekte fühlen und wo es an das Höchste der Gefühle grenzt, sollten sie sich im Rahmen der Seelsorge eben doch als solche erfahren. Engemann, Kommunikation, 16f. Engemann, Lebensgefühl, 219. Engemann, Lebensgefühl, 219. Engemann, Mensch, 31.

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Ebenbild: „Wenn der Mensch nicht so handelt, wie es Gottes Willen entspricht – und, so der Duktus, das sei das Dauerproblem des Menschen – ist er nicht mehr Ebenbild, sondern Fratze, die sich als Folge von ‚Fehlern‘, ‚Schwächen‘ und ‚Unzulänglichkeiten‘ einstellt“288 . Durch solch eine Glaubenskultur stehen Menschen in Gefahr, „in eine bizarre Zwickmühle [zu] geraten. Sie werden in endlosen Rechtfertigungsschleifen faktisch vor die Alternative gestellt, entweder gerne Mensch oder christlich zu sein.“289 Dagegen postuliert Engemann, dass „es bei der Kommunikation des Evangeliums nicht einfach um religiöse Agitation des Menschen zum Tun des Guten oder um bloße Appelle zu Umkehr und Veränderung [geht]: Für die Gottesdienstreform Martin Luthers […] war es von zentraler Bedeutung, Menschen vor Gott da sein zu lassen, ohne ihnen für ihr Menschsein ein schlechtes Gewissen zu machen.“290

Dieses Anliegen Engemanns ist unbedingt ernst zu nehmen und kann nicht genug betont werden, denn Religion wurde und wird noch immer selbst zum Gefängnis, wenn Menschen für die Religion da sein sollen und nicht umgekehrt.291 Engemann zeigt ein Menschenbild auf, das sich im Zeugnis der biblischen Überlieferung als ganzheitlich wahrgenommenes und gewürdigtes lesen lässt. Ein ganzheitliches Menschenbild umfasse auch, dass Menschen Erfahrungen von „Brüche[n], Misslingen, Richtungsänderungen, Irrtümer[n], das Verwerfen von Plänen, das Verlieren der Geduld, die Entscheidung für das geringere Übel“292 machen. Diese Erfahrungen würden zum Menschsein unbedingt dazugehören und eine Religion, die diese Erfahrungen und das eigene Fragen und den eigenen Willen nicht gestatte, „dulde[t] ihn nicht als Ebenbild. Sie unterwandert seine Autonomie.“293 Die religiöse Praxis aber habe die Funktion, so Engemann, „dass ein Mensch als Mensch zum Vorschein kommt, mit allem, was zu seinem Menschsein gehört“294 . Engemann holt hier zu einem Befreiungsschlag für diejenigen aus, die sich religiös begründeten, zumeist moralischen Regeln unterwerfen (sollen) und die sich nicht erlauben dürfen, einen eigenen Willen, also eigene Wünsche und Ziele zu haben. Orientierung gebe auch hier das Zeugnis der biblischen Überlieferung.

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Engemann, Mensch, 38. Engemann, Mensch, 31. Engemann, Mensch, 34 [Hervorhebung im Original]. Vgl. Engemann, Lebensgefühl, 223, obwohl es seit je andersherum kultiviert wurde und dem Menschen umgekehrt immer wieder Schuldgefühle gemacht wurden und werden (vgl. Engemann, Lebensgefühl, 223–227). 292 Engemann, Mensch, 22. 293 Engemann, Lebensgefühl, 235. 294 Engemann, Lebensgefühl, 219.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

„Wenn das Neue Testament erzählt, wie Menschen in die Kommunikation des Evangeliums verwickelt werden, wird anhand von Begebenheiten, in Gleichnissen und mit Bildern vor Augen geführt, wie jemand als Mensch zum Vorschein kommt […]. Es sind immer Szenen, in denen sich Menschen auf eine neue Weise zu verstehen gegeben werden und sich als nicht nur zumutbar, sondern wertgeschätzt erfahren, Szenen, in denen Menschen endlich in ihre Gegenwart durchbrechen und zu einem eigenen Leben ermächtigt werden.“295

Mit Engemann ist dieses ganzheitliche Menschenbild unbedingt herauszuheben. Doch Menschen würden nicht als Mensch zum Vorschein kommen, wenn es nicht bis aufs äußerte zugespitzt würde: Gerade im Gefängnis stellt sich das Menschenbild als um einiges radikaler heraus, als Engemann es darstellt. Gerade das Gelingen von Plänen, die Entscheidung für ein Übel und Berechnung führen durchaus auch ins „böse“ Handeln. Im Gefängnis sind die Gefangenen, die bereits gehandelt haben und durch die sich das Menschsein in seiner vollen Wucht zeigt, hier zeigen sich Menschen, wie sie als Menschen hervorkommen: Zum Menschsein gehören auch „böse“, sehr grausame Seiten: Betrug, Diebstahl, Mord, Kindesmisshandlung, Folter, systematisches Töten. Da zeigt sich kein Menschenbild, in dem der Mensch eigentlich von Liebe und Freiheitsdenken durchzogen ist. Wenn man diese anerkennt, geht es damit also doch zurück zu religiösem Reglement und dem erhobenen Zeigefinger in der Kommunikation? Natürlich nicht. Denn auch hier stellt sich, um in der Argumentationsstruktur Engemanns zu bleiben, in den biblischen Überlieferungen Jesus als einer dar, der sagt: „Ich war ein Gefangener und ihr seid zu mir gekommen“ (Mt 25, 36). In den biblischen Erzählungen lässt sich die Gestalt Jesu auch als eine wahrnehmen, die diese wirklich „böse“ Seite des Menschseins ganz genau vor Augen hatte und sich diesen Menschen trotzdem zugewandt hat, weil er an einen Gott glaubte, der genau dies tut. Aber genau dieses trotzdem kritisiert Engemann nun, wenn es sich in Glaubenskulturen niederschlägt: „Die Liebe Gottes zum Menschen steht ganz im Zeichen eines dick aufgetragenen ‚Trotzdem‘. Die liturgischen Dialoge geben unmissverständlich zu verstehen, dass der Mensch nur ‚trotzdem‘ von Gott geliebt wird, d. h. obwohl er ein Mensch und damit Sünder ist. – Stellen Sie sich vor, jemand, zu dem sie eine innige Beziehung haben sollten, würde Ihnen täglich zu verstehen geben, er liebe Sie nur ‚trotzdem‘ […], obwohl Sie so seien, wie Sie seien.“296

In einem gottesdienstlichen, liturgischen Kontext, in dem man auf Menschen trifft, die ihr Sündersein darin sehen, zu wenig zu spenden, zu wenig achtsam zu sein

295 Engemann, Mensch, 27; vgl. dazu auch ders., Lebenswissen. 296 Engemann, Lebensgefühl, 226 [Hervorhebung im Original].

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oder zu viel gewollt zu haben und damit nicht gottgefällig zu sein, ist ein solch Grenzen öffnender Ansatz unbedingt sinnvoll und hilfreich – wobei, wer weiß schon, wie viele in der Kirchenbank nicht auch mit ihrer eigenen „Fratze“ und dem Erschrecken darüber zu tun haben –, aber ist dieses Trotzdem im Gefängnis nicht unabkömmlich? Was sollte anstelle dessen stehen – am Ende ein Weil? Würde der Mensch dann als Mensch ernst genommen? Befänden wir uns dann nicht wieder im Teufelskreis der Kausalitäten, die eine Schuld nicht ernst nehmen und aushalten kann? Wenn Glaube bedeuten soll, dass der Mensch als Mensch zu einem für sich stimmigen Leben gelangen soll, dann ist mitzubedenken, welch realistischen Menschenbildern sich Menschen zu stellen haben. Als was der Mensch zum Vorschein kommt: als einer, der Liebe und Freiheit erfahren und vermitteln kann, aber durchaus auch als einer, der beides zerstört oder gar nicht erst kennt. Die Erfahrung der eigenen Würde, der Möglichkeit sein Leben wieder als lebenswert zu empfinden scheint dann nicht anders als in einem trotzdem denkbar zu sein. Trotz der Gefängnismauern, trotz der schrecklichen Taten und Seiten, trotz der vergangenen Umstände und trotz der inneren Veranlagungen und trotz der Fratze. Der Mensch kommt darin als Mensch zum Vorschein: der Mensch ist nur so zu haben, das ist der Preis seiner Existenz. Mir scheint es von da aus für den Kontext „Gefängnisseelsorge“ angemessener zu sein, bei der Funktion der Kommunikation zu bleiben, Beziehung herzustellen, deren Zweck und Ziel und Wirkung allerdings ergebnisoffen bleiben, aus der sich durchaus auch Erfahrungen der Freiheit und Liebe herausbilden können. Es bleibt damit aber bei der Glaubensperspektive der Seelsorgeperson, durch die Seelsorgekommunikation zu einer solchen durch Kommunikation des Evangeliums wird, indem sich etwas in einem gewissen Geist kommuniziert, ohne dies dezidiert zum Ziel zu haben oder gar benennen zu müssen. Daraus lässt sich für die Seelsorgekommunikation schlussfolgern, dass das Evangelium während des Umgangs mit dem Menschen, also in der Seelsorgesituation selbst kommuniziert wird. Für die Seelsorgekommunikation folgt daraus, dass sich in ihr eine Beziehungserfahrung anzeigt, die aus der Perspektive Seelsorgender in die Seelsorgesituation eingetragen und professionalisiert wird, insofern Seelsorgende Kommunikation reflektieren und bis zu einem gewissen Grad bewusst einsetzen (vgl. 4.2). Die Seelsorgeperson transportiert, also kommuniziert das Evangelium nun, indem und weil sie hilft. Weil sie sich mit dem oder der Gefangenen zusammensetzt, Begegnung und Zeit schafft. Wie genau sie sich gestaltet, ist stets auszuhandeln und für die Kommunikation des Evangeliums zunächst irrelevant. Die Methoden folgen erst aus der Wahrnehmung dessen, was an sie herangetragen wird und in der Reflexion dessen, was sie leisten können. Ob es um die großen Themen der Schuld, der Sünde und Vergebung geht, ob es ein Mitaushalten der weinenden Person ist, ob die Seelsorgeperson um Rat gefragt wird oder einfach einen Kaffee mit dem Gegenüber trinkt und Kuchen isst, das ist alles ergebnisoffen. Wichtig ist,

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

dass Seelsorger:innen kommunizieren und sie tun dies aufgrund ihrer Glaubensperspektive. Sie haben sich also nicht nur einem gewissen, durchaus realistischen (!) Menschenbild zu stellen, sondern bringen auch ein Gottesbild mit, das sich ihnen durch die biblischen Erzählungen über Jesus von Nazareth vermittelt. Es zeigt sich, wie Jesus Gott gesehen hat, als einer, der sich den Menschen zuwendet, der eben nicht die Unterschiede macht, die Menschen machen, indem sie ausgrenzen, zerstören und verletzen. In dieser Nachfolge Jesu gehen Menschen ins Gefängnis – aus dem Grund „Ich war ein Gefangener und Du bist zu mir gekommen.“ Als Glaubensaussage lässt sich dann sagen: Gott sieht die Würde des Menschen, die einfach da ist, die dem Menschen einfach gegeben ist. Und dem Menschen deutlich zu machen, dass er diese Würde hat – und dies ist wieder ganz im Sinne Engemanns –, das lässt den Menschen als Menschen zum Vorschein kommen. 4.3.3

Kommunikation des Evangeliums im Gefängnis – ein Beispiel aus der Praxis

Es sei nun wieder an einem Gesprächsbeispiel aus der Gefängnisseelsorge exemplifiziert, wie sich gelungene Seelsorge zeigt, und zwar aufgrund dessen, dass Beziehung geschaffen wird, dass also Kommunikation des Evangeliums geschieht. Als Grundlage dient ein Gespräch, das der Gefängnisseelsorger Jussuf Windischer297 geführt hat: „Eine Gefangene eröffnete in mir ganz besonders ein Herangehen an die Frage nach Vergebung. Sie hatte ihr Baby mit vielen Messerstichen getötet bzw. ermordet. Beim ersten Gespräch saßen wir uns nur etwa zehn Minuten gegenüber. Versteinert saß sie da, nach ein paar Minuten weinte sie. Ich reichte ihr Papiertaschentücher, wir saßen fast nur schweigend da. Abschließend fragte ich sie, ob ich sie wieder besuchen kommen solle. Sie nickte. Der zweite und dritte Versuch verliefen ähnlich, wir tauschten nur wenige Worte aus, die meisten erstickten im Schluchzen. Beim vierten Besuch schilderte die Frau das Verbrechen und fragte, ob ich mir vorstellen könne, dass dieses Verbrechen verzeihbar wäre. Das Kind kann es nicht verzeihen: es ist tot. Der Vater des Kindes? Das könne ich nicht beantworten. Nach einer langen Pause fragte die Frau, ob ich mir vorstellen könnte, dass Gott es verzeihen könne. Ich versuchte nach langem Schweigen, auch auf diese Frage nur eine Gegenfrage zu stellen: „Glauben Sie an einen Gott, der verzeiht?“

297 Das Gespräch ist keine Transkription eines Gesprächs, sondern stammt aus einem Erfahrungsbericht des Gefängnisseelsorgers Windischer, Gefängnis. Der Bericht seines Seelsorgegesprächs eignet sich insofern, weil sich in ihm in eindrücklicher Weise gelingende Seelsorge darstellt, und zwar im Zusammenhang mit religiöser Kommunikation. Die einzelnen Aspekte des Darstellungsaushandelns spielen in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle, weshalb eine Transkription an dieser Stelle nicht relevant ist.

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Wir vereinbarten, darüber bei einem weiteren Gespräch nachzudenken. Bei diesem Gespräch meinte die Frau, dass sie an den Gott glaube, der ihr verzeihe. Daraufhin konnte ich ihr sagen, dass auch ich an diesen Gott und seine unermessliche Barmherzigkeit glaube: ‚An den Gott, an den Sie glauben, glaube ich auch – ganz fest.‘ Sie nahm am Sonntagsgottesdienst teil, sie saß ganz hinten, sie versuchte mitzufeiern.“298

Dass Seelsorge sich hier als gelungene herausstellt, zeigt sich spätestens in der Konsequenz für die Gefangene, die am Gottesdienst teilnimmt und versucht mitzufeiern. Sie partizipiert wieder am Leben, das im Gefängnis zwar sehr begrenzt ist, doch sie nähert sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten wieder einem gemeinschaftlichen Leben an, während sie zum Beginn des Gesprächs der verbalen Kommunikation nicht mächtig zu sein scheint, weil sie in ihren Tränen erstickt und sich über diese die pure Verzweiflung mitteilen. Das Gespräch scheint ihr also eine gewisse Relevanz vor Augen geführt zu haben. Sie scheint – sofern man das im Gefängnis überhaupt sagen kann – eine Erfahrung von Freiheit gemacht zu haben, die sie nun nutzt und sich dazu frei entscheidet, am Gottesdienst teilzunehmen. Was ist dazwischen geschehen? Eindrücklich beschreibt der Seelsorger, wie er zunächst – über Sitzungen hinweg – die Emotionen der Gefangenen mitaushält. Auf diese Weise nimmt er die Schuldgefühle der Frau ernst und hält sie mit aus, er reicht ihr Taschentücher und schweigt an einigen Stellen. In unserem Beispiel durchbricht der Seelsorger das Schweigen nicht. Er hält mit aus. Über sein Schweigen kommuniziert Windischer Solidarität mit der verzweifelten Seelsorgesuchenden. Neben all dem überbrückt Schweigen in diesem Fall auch „Polyvalente Normativität“. Es wird zwar nicht ersichtlich, wie stark den Seelsorger die Straftat der Frau, ihr Kind mit mehreren Messerstichen erstochen zu haben, betroffen macht. Er stellt die Tat jedoch nicht in Kausalitäten ein, kommuniziert nicht, dass sie Folge äußerer Umstände wären, identifiziert sich nicht mit der Tat und verurteilt sie auch nicht, sondern zeigt sich durch sein Schweigen solidarisch mit der Frau und ihren Gefühlen, lässt aber auch zugleich ihre Schuld stehen. Der Seelsorger verharmlost die Schuld der Frau nicht, verurteilt sie aber auch nicht. Er gerät weder in einen Konflikt mit der Frau noch mit sich selbst. Das Schweigen bricht in diesem Beispiel die Kommunikation nicht ab, sondern schafft Zeit und ist ihr also förderlich. Die Frau spricht nun irgendwann, im Zusammenhang mit der Schilderung ihrer Tat, selbstständig das Thema „Verzeihen“ an. An sich und auch an dieser Stelle ist dieses Thema noch in keiner Weise religiös angesprochen. Es geht um die Frage nach dem Verzeihen seitens des Kindes, das tot ist, sodass dieses eben nicht mehr verzeihen kann. Interessant ist an dieser Stelle, dass sie tatsächlich zuerst nach der Verzeihung durch das eigentliche und direkt betroffene Opfer fragt und damit

298 Windischer, Gefängnis, 201.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

– bewusst oder unbewusst – impliziert, dass nur dieses wirklich verzeihen könnte. Nun geht sie weiter zu der danach am nächsten zu dem Opfer stehenden Person: dem Kindsvater. Der Seelsorger zeigt an, dass er nicht für den Vater sprechen könne: „Das könne ich nicht beantworten.“ Auch hier ist das Gespräch noch nicht dezidiert religiös. Nun fragt die Frau – offensichtlich nach langem Überlegen – ob Gott ihr vergeben könne. Vergebung wird ganz im Sinne ihrer juristischen Codierung verwendet. Die Frau führt nun die Glaubensebene selbst ein – nicht der Seelsorger –, zeigt sich aber gleichzeitig distanziert von ihr, weil sie fragt, ob sich der Seelsorger vorstellen könne, dass Gott ihr verzeihen kann. Der Seelsorger wird in seinem Kontext als Geistlicher angesprochen, als Experte. „Die Gefangenen selbst wissen […] ganz genau, wen sie vor sich haben: Einen Geistlichen, der auf existentielle und religiöse Fragen, vielleicht auch auf die Frage nach Schuld und Vergebung ansprechbar ist.“299 Dass nach der Verzeihung Gottes erst als drittes gefragt wird, und nicht etwa direkt zu Beginn, zeigt, dass Gott als letzte Instanz, als letzte Möglichkeit in den Raum gestellt wird. Irgendetwas muss es doch geben, wodurch sie Vergebung erfahren kann. Dass die Frau „Gott“ benennt, deutet auf ihre kulturelle Sozialisierung hin, sie hätte genauso gut von „Karma“ sprechen können, wichtig scheint hier, dass sie eine letzte Möglichkeit sucht. Hier zeigt sich die Erfahrung der Gefangenen als Kontingenzerfahrung. Interessant ist, dass nicht der Seelsorger das Gespräch zu Gott lenkt. Er verwendet keine dezidiert religiöse Codierung. Damit wird er dem Umstand der Kommunikation als „wechselseitig stattfindender Prozess der Bedeutungsvermittlung“300 gerecht, die darauf angewiesen ist, dass Sender und Empfänger wechselseitig aufeinander einwirken. Der Seelsorger geht nicht von einer gemeinsamen Wirklichkeit aus, in der klar wäre, was unter Vergebung Gottes gefasst wird. Allerdings beginnt der Seelsorger nun auch kein Gespräch darüber, was Gottes Vergebung nun bedeuten könnte – für die Gefangene und für ihn selbst. Und das ist in diesem Falle genau richtig. Denn um das Verständnis von Vergebung geht es hier auch gar nicht. Es geht um die reine Kontingenzerfahrung der Frau, die verzweifelt um Erlösung sucht und diese Verzweiflung nimmt der Gefängnisseelsorger auf. Es kam zwar zu einer Art Sinnfrage „Können Sie sich vorstellen, dass Gott es verzeihen kann?“, die der Seelsorger wahrgenommen hat – ob er sich aber darauf fokussiert hat, lässt sich nicht sagen. Inwiefern benennt der Seelsorger die geistliche Dimension der Frau? Im Grunde gar nicht. Er benennt vor der Seelsorgesuchenden ihre Kontingenzerfahrung nicht explizit, er legt sie nicht aus, er erklärt nicht, er führt auch keine religiösen Bilder, Rituale und Geschichten an. Er fragt lediglich nach ihrem Glauben. Er fragt nach ihrer Benennung. Wenn man so will, fokussiert er sich

299 Karle, Ausweg, 240. 300 Burkart, Kommunikationswissenschaft, 33 zit. nach Klessmann, Seelsorge, 118.

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ganz allein auf die Frau, ob sie eine geistliche Dimension explizit oder implizit formuliert, scheint erstmal dahin gestellt zu sein. Dies lässt übrigens stark auf eine therapeutische Gesprächsführung vermuten, die der Seelsorger hier anwendet! Im Alltagsgespräch würde man beispielsweise auch selbst über die eigenen Erfahrungen mit dem eigenen Glauben erzählen, während der Seelsorger hier eben nicht von sich erzählt. Er pauschalisiert nicht, fragt zurück und nimmt die Frau ernst. Dies sind beispielsweise gesprächstechnische Elemente der Rogers’schen Gesprächstherapie.301 Die so gehaltene Kommunikation des Seelsorgers führt letztendlich wirklich zu einem Ausdruck der geistlichen Erfahrungswirklichkeit. Er macht ihr das beste Deutungsangebot, das er ihr machen kann, nämlich ihrem eigenen, persönlichen Glauben nachzugehen – und dies ist völlig losgelöst von expliziten oder „verflüssigten jüdisch-christlichen“ oder anders religiös orientierten Traditionen. Im vorliegenden Gespräch zeigen sich die Deutungsangebote und die religiösen Implikaturen viel spontaner, viel natürlicher und insbesondere viel zielloser, mit offenem Ende, als teilweise durch Ziemer und Gärtner suggeriert wird. Aufschlussreich ist nun die tatsächliche Reaktion des Seelsorgers und sein Umgang mit der Vergebungsthematik. Er ist sich, so lässt sich zumindest annehmen, darüber bewusst, dass ihm eine solche Vergebung nicht zusteht, er antwortet nicht mit „Ich vergebe Dir“ oder abgeschwächt, aber möglicherweise seitens der Rezipientin gleichbedeutend verstehbar: „es sei Dir vergeben“. Seine theologische Reflexion erlaubt dies nicht und diese theologische Reflexion erweist sich als richtig, und zwar nicht nur, weil sie theologisch begründet ist,302 sondern auch, weil sie in der Kommunikation voraussichtlich nicht jene Wirkung gehabt hätte, wie das, was der Gefängnisseelsorger tatsächlich tut. Hätte er mit „ich vergebe Dir“ geantwortet, wäre die Frau wahrscheinlich – ähnlich wie in dem bereits geschilderten Gespräch Scharfenbergs – einige Tage später wieder mit derselben Verzweiflung an den Seelsorger herangetreten. Denn die Reihenfolge ihrer Frage nach der Verzeihung verweist geradezu darauf, dass sie eine Vergebung des Seelsorgers nicht hätte annehmen können. Sie ist sich sehr bewusst darüber, wer ihr verzeihen könnte. Weil Gott als letztmögliche Instanz angefragt wird, weiß sie jedoch selbst noch nicht, ob Gott überhaupt eine Option ist; sie weiß noch nicht, ob sie selbst an einen solchen Gott glaubt. Der Seelsorger spricht jedoch auch nicht die Vergebungsformel „Gott vergibt Dir“. Möglicherweise hätte die Frau durch diese Formel Vergebung erfahren können. Dies scheint aber vor dem Hintergrund unwahrscheinlich, dass sie nach dem Glauben des Seelsorgers fragt. Der Glaube des Seelsorgers würde ihr allerdings

301 Vgl. z. B. Rogers, Gesprächspsychotherapie. 302 Siehe Kapitel 3.3.2.2 und 3.3.2.4.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

nichts bringen, wenn sie es nicht selbst glauben kann; sein Glaube bliebe im luftlehren Raum stehen. Es ist nicht wichtig, was er glaubt, sondern was sie glaubt. Deshalb ist es so hilfreich für die Frau, dass der Seelsorger die Frage an sie zurückgibt: „Glauben Sie an einen Gott, der verzeiht?“ Und sie braucht Zeit für die Beantwortung der Frage, die ihr der Seelsorger zugesteht. Bei einem nächsten Gespräch beantwortet die Frau nun die Frage, dass sie an einen Gott glaube, der ihr verzeihe. Erst jetzt bestätigt der Seelsorger nachdrücklich: „An den Gott, an den Sie glauben, glaube ich auch – ganz fest.“ Hier nimmt sich der Seelsorger gar in seiner Rolle als „Experte“, wie sie zuvor an ihn herangetragen wurde, „Glauben Sie, […]“, zurück, indem er formuliert, er glaube an den Gott, an den auch die Seelsorgesuchende glaubt. In der Rolle als Experte hätte er allgemeiner formulieren können: „ja, Gott vergibt allen Menschen, die nach Vergebung suchen“ oder ähnliches. Doch er formuliert auf einer sehr persönlichen Ebene, in einer Art Rollentausch, insofern er an denselben Gott wie die Seelsorgesuchende glaubt. Hier geschieht Begegnung – oder religiös gesprochen: hier zeigt sich Kommunikation im Geist. Und diese ist der eigentliche Moment, in dem sich die Kommunikation des Evangeliums ereignet, woraufhin die Frau sogar versucht, den Sonntagsgottesdienst mitzufeiern. Anders als in Therapiegesprächen oder Beratungsgesprächen erscheint dieses Seelsorgegespräch viel zielloser. Es ist zu Beginn des Gesprächs – bzw. der Gespräche – nicht von vorneherein klar, worauf es hinauslaufen wird. Es hätte auch bei einem Aushalten der Verzweiflung bleiben können. Oder man hätte irgendwann über dies und jenes gesprochen. Wäre dies eine weniger gute Seelsorge geworden? Das Seelsorgegespräch stellt sich nicht erst als ein gelungenes heraus, als es, in diesem Falle eine gewisse Tiefendimension aufweist, insofern die Seelsorgesuchende Sehnsucht und Hoffnung nach Vergebung äußern kann und schließlich sogar zu einer Vergebungserfahrung gelangt. Der Seelsorger hätte zu Beginn des Gesprächs auch auf so eine Tiefe hin bohren können, insofern er die Gefühle verbalisiert hätte: „Warum weinen Sie? Warum sind Sie traurig? Was bedrückt Sie?“ – stattdessen hielt er mit aus, ungewiss und in gewisser Weise unbestimmt, was daraus werden würde. Es stellt sich auch nicht erst als gelungenes Gespräch heraus, weil es tatsächlich zu einer Glaubensdimension kommt durch religiöse Semantik, denn die hätte auch ganz anders auftreten können, wie oben beschrieben. Auch nicht erst, als der Seelsorger therapeutische Gesprächstechniken anwendet. Als Seelsorgekommunikation stellt sich die Kommunikation hier schon deshalb heraus, weil sie sich als Beziehungsgeschehen, aus Perspektive der Seelsorge als gemeinschaftsstiftend und damit als Kommunikation des Evangeliums erweist. Hier geschieht Begegnung. Der Seelsorger verhält sich im Rahmen seiner professionellen

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Rolle als einer, der die Beziehungsgestaltung nicht dem Zufall überlässt.303 In der Seelsorge ist die Herstellung von Beziehung insofern eine professionelle, als dass die Seelsorgeperson sich zur Aufgabe macht, Beziehung aktiv herzustellen und eben nicht abbrechen zu lassen, sodass eine gelungene, als beziehungsstiftende Kommunikation relevant wird. Religiöse Rede und die Tiefendimension sind dabei nicht zweitrangig, aber zufälliger – sie stehen nicht von Beginn an fest, sondern ergeben sich im Gespräch. Der Seelsorger nimmt die Rollenstruktur der Beziehung wahr, versucht bestimmte Verhaltensmerkmale in der Beziehung zu realisieren und gibt dem Gespräch eine Struktur. Der religiöse Kontext des Seelsorgers wird dadurch nicht zweitrangig, sondern läuft, wie selbstverständlich mit und er ist darauf vorbereitet, wenn Hoffnungen und Fragen nach einer letzten Instanz in das Gespräch eingetragen werden. 4.3.4

Zwischenfazit

In der Frage nach dem, was in der Seelsorge kommuniziert wird, sodass Seelsorgekommunikation zu einer dezidiert seelsorglichen wird, erschien es nicht plausibel, dass Seelsorge erst dann zu einer solchen wird, wenn man sich auf „das Geistliche“ in einem Gespräch fokussiert. Die Anliegen Ziemers und insbesondere Gärtners, dass Seelsorge es besonders mit den tiefgehenden, existenziellen Themen zu tun habe, sind durchaus richtig, können aber missverständlich sein, wenn sie so verstanden werden, dass es in erster Linie und eigentlich immer darum geht, tiefgehende Gespräche zu induzieren oder „das Geistliche“ herauszuarbeiten. Auch in der Gefängnisseelsorge zeigt sich: Es werden auch an dem Ort, an dem es zwar öfter um die Thematiken rund um Schuld und Vergebung geht als in anderen Seelsorgesituationen, nicht immer existenzielle Anliegen hervorgebracht. Oft geht es Gefangenen einfach darum, einen Funken Abwechslung von ihrem reglementierten Alltag zu erhalten und gerade auch nur über dies und jenes zu sprechen. Das macht eine Seelsorgekommunikation nicht weniger seelsorglich, sondern besonders auch scheinbar unscheinbare Kommunikation wird aus Perspektive Seelsorgender durch ihre Glaubensperspektive hindurch betrachtet und gedeutet, sodass die Perspektivität Seelsorgender „das Geistliche“ mit in die Seelsorge einbringt. Hierin ist Gärtner recht zu geben, dass Seelsorgende über ihren Verstehenshorizont die christliche Dimension in die Seelsorgesituation einbringen, weil der Verstehenshorizont schließlich christlich geprägt ist. Es geht aber zu weit, daraus schlussfolgern zu wollen, dass christliche Motive, Bilder und Sprache 303 Klessmann, Seelsorge, 122 begreift Seelsorge als Beziehungsgeschehen, dessen Gestaltung über den Weg der interpersonalen Kommunikation läuft und sieht die Profession Seelsorgender genau darin, eine solche Kommunikation bewusst zu gestalten. Dies ist anschlussfähig an die Beobachtungen aus Abschnitt 4.2.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

möglichst in das Gespräch mit eingebracht werden sollen, damit auch wirkliche Seelsorge stattfindet. Das heißt: der Fokus liegt nicht auf dem, was als „geistlich“ interpretiert werden könnte, sondern durch die Glaubensperspektive Seelsorgender, die die entsprechende Situation aus ihrem Glauben deuten, wird „Geistliches“ immer schon (implizit) in die Situation eingebracht. Dann lässt sich ein Gespräch, das auf der Ebene des Small Talks bleibt, durchaus als seelsorglich begreifen, weil es gemeinschaftsstiftend ist und Gemeinschaft sich als christlich deuten lässt, weil die christliche Tradition „Gemeinschaft“ als sinnstiftend begreift. Von da aus wurde gefragt, was eigentlich genau in einer Seelsorgekommunikation vermittelt wird, wenn sie denn nicht in religiösen Codes und auch nicht über tiefgehende Themen stattfindet. Mit Engemann und seiner Interpretation der Kommunikation des Evangeliums ließ sich zeigen, dass Kommunikation nicht dadurch definiert wird, dass über Bestimmtes (Religiöses) geredet wird, sondern dass sie in einem bestimmten Geist stattfindet, wobei der Begriff „Geist“ im christlichen Kontext schon darauf hinweist, dass dies eben auch wieder zuerst aus der Perspektive Seelsorgender so ist, die sich in diesen christlichen Kontexten bewegen. Engemann beschrieb die Glaubensperspektive als eine, die auf einer Glaubenskultur beruht, die in den biblisch überlieferten und tradierten Erzählungen liegt und von ihnen aus in ein bestimmtes Menschen- und Gottesbild mündet. Kommunikation des Evangeliums zeigt sich deshalb in einer evangelischen Art und Weise im Umgang mit Menschen, der sich mit Engemann als den Menschen als Menschen zum Vorschein kommen lassen zusammenfassen lässt. Das heißt, dass der Mensch in seiner Gänze, mit all seinen Wünschen, Irrungen und Verstrickungen seine Würde hat und ihm dementsprechend begegnet wird. Das durchaus realistische Menschenbild Engemanns – dass Menschen sich irren, dass sie Wünsche haben, dass sie Fehler machen – wurde zugespitzt auf ein Menschenbild, dass sich als noch radikaler – nicht nur, aber besonders auch im Gefängnis – herausstellt: Menschen morden systematisch, missbrauchen, misshandeln, sind egoistisch. Von dort aus wurde die Würde des Menschen als eine trotz dieser Seiten des Menschen aufgezeigt, während Engemann sich gegen ein trotzdem stellt, weil es suggeriert, nur die angenehmen Seiten des Menschen seien – religiös gesprochen – Gott ebenbildlich und damit richtig. Dagegen soll das trotzdem, wie es hier verwendet wird, die durchaus abgründigen Seiten des Menschen als solche auch ernstnehmen und bestehen lassen. Nicht weg- und nicht schönreden, sondern als menschliche akzeptieren, und genau darin dem Menschen seine Würde lassen. Dann wird eine Erfahrungswirklichkeit von Vergebung geschaffen, in der die Schuld nicht entschuldigt und relativiert bleibt, ernstgenommen wird, aber nicht dazu führt, dass der Mensch verdammt

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wird.304 Dann ist es trotzdem möglich im, Geist der Zuwendung (zugewandt), im Geist der Freundschaft (freundlich), im Geist der Liebe (liebevoll) zu kommunizieren und so etwas von der Lebenswirklichkeit zu vermitteln, wie sie sich aus der Glaubensperspektive Seelsorgender darstellt. Es würde jedoch zu weit gehen, dahinter einen bestimmten Zweck zu sehen, nämlich, so suggerierte Engemann: „Leben aus dem Glauben“ (s.o.). Wenn dies bedeutet, sich selbst ebenfalls als würdig, trotz und mit den eigenen „Fratzen“ (s.o.) zu begreifen und dadurch lebensfähig zu werden, dann ist dem nichts zu entgegnen, doch sollte Vorsicht darin zu walten sein, diese Haltung als nur dann gegeben anzusehen, wenn sie grundsätzlich und von allen Beteiligten als Glauben gedacht und benannt werden kann. Vorsicht ist auch walten zu lassen, wenn Glaube noch weiter konkretisiert wird, wenn er also zum Beispiel bedeuten soll, dass der Mensch aus seinem existenziellen Bedürfnis nach Liebe und Freiheit heraus leben kann. Denn was bedeutet „Liebe“ und was bedeutet „Freiheit“? Wenn „Liebe“ bedeutet, menschliche Nähe zuzulassen, ist dies für manche eben kein existenzielles Bedürfnis. „Freiheit“ ist für viele angstbesetzt, gerade im Gefängnis gibt es auch Insassinnen und Insassen, die die Freiheit fürchten, weil sie von ihr überfordert sind. Obwohl Liebe und Freiheit in ihren Grundzügen einer christlich tradierten Perspektive nicht widersprechen, sondern sogar überwiegend als ihr kohärent anzusehen sind, sind sie nicht zu pauschalisieren, sondern ist auch stets auszuhandeln, worin sie bestehen und angenommen und gebraucht werden können. Egal ob Seelsorger:innen aufgrund des Wunsches nach Abwechslung vom reglementierten Alltag oder nach tiefgehenden Gesprächen angefragt werden: sie werden in dem Bewusstsein angefragt, dass sie Seelsorger:innen sind. Dass sie also eine gewisse Profession besitzen und dass sie sich zu religiösen Themen und den Anliegen entsprechend äußern können. Dies ließ sich auch in dem aufgeführten Praxisbeispiel beobachten. Aus der Perspektive Seelsorgesuchender ist die Offenheit dessen, um was es in Seelsorge geht, relevant: ich muss nicht, aber ich kann über religiöse Themen sprechen. Darin liegt der große Unterschied zu anderen Formen der helfenden Kommunikation. Die Ansprechbarkeit auf Religion wurde in dem in Abschnitt 4.3.3 angeführten Gesprächsbeispiel gezeigt, in der sich die enorme Relevanz, in der Rolle des Seelsorgers zu bleiben, herausstellte. Seine Profession führte dazu, dass er keine Vergebung aussprach, seine – vermutlich erlernten und vertieften Kenntnisse von therapeutischer Gesprächsführung – führten zu eigenen Antworten auf die Fragen und Anliegen seitens der Gesprächspartnerin. Dazu führte eben auch die theologisch fachliche Kompetenz des Seelsorgers, der den christlichen Gott als einen glaubt und kommuniziert, der sich gerade nicht instrumentalisieren lässt. Dagegen scheint in „Gott“ als Gottesbegriff hindurch (vgl.

304 Zu dem vorliegenden Verständnis von Vergebung siehe Kapitel 3.3.2.2.

Kommunikation als Umgang mit „dem Bösen“ – Sich zu „Polyvalenter Normativität“ verhalten

Kapitel 3.3.2.1), dass in ihm die jeweilige Hoffnung auf „das Gute“ im Kontrast zu dem gerade aktuell erlebten „Bösen“ gefasst wird – der Gefängnisseelsorger formulierte die Frage: „An was glauben Sie?“. Seelsorger:innen kommunizieren also so, dass die Kommunikation religiös offenbleibt, dass sie auch für existenzielle Themen offenbleibt und sie können auch religiöse Symbolik anbieten, sollten sie wahrnehmen, dass eine solche für das Gegenüber hilfreich sein könnte. Doch nichts davon muss in Seelsorge erzielt werden, Seelsorgekommunikation wird zu einer solchen durch die Glaubensperspektive Seelsorgender, sichtbar in der von Profession und Person geprägten Kommunikation.

4.4

Fazit

Das Gefängnis ist geradezu beispielhaft dafür, wie feinfühlig Seelsorger:innen mit ihrem Gegenüber kommunizieren können sollten. Sprache, so wurde gezeigt, ist immer kontextuell und dies schlägt sich in verschiedenen sprachlichen Codes, Zeichen und Symbolen nieder. Seelsorger:innen können nicht von einer gemeinsamen Wirklichkeit ausgehen. Sie sind vor die Herausforderung gestellt, die verwendeten sprachlichen Codes des Gegenübers zu lernen, und umgekehrt müssen sie davon ausgehen, dass sich auch dem:der Gesprächspartner:in nicht unbedingt das Intendierte vermittelt, wenn dezidiert religiöse Sprachcodes, Bilder und Narrationen verwendet werden. Dies sowie das, was an Seelsorge als Auftrag und Ziel herangetragen wird, muss jeweils ausgehandelt werden und ist zunächst offen. Es lassen sich unterschiedliche, linguistische Muster beschreiben, die Darstellungsgewährung, -konkurrenz und -qualifizierung anzeigen, welche im Wechsel von turns ein Gespräch konstituieren. Über unterschiedliche, intuitive Gesprächsregeln entwickelt sich ein Gespräch auf Vertrauensbasis, wenn der:die Seelsorger:in Sprache bewusst und reflektiert einsetzt. Von da aus werden Beziehungen und Rollen ausgehandelt, Identitäten eruiert und Gesprächsthemen und -ziele festgemacht. Die einzelnen Stufen der Rhetorik bilden ein hilfreiches Muster, Gesprächsintentionen und -ziele aufzudecken und bewusst auf die jeweils spezifischen Seelsorgeanforderungen einzugehen. Von höchster Relevanz dabei ist die bewusste und reflektierte Wahrnehmung der Kontexte des Gegenübers und der eigenen sowie die Wahrnehmung und Reflexion der erzählten Situation und Erzählsituation. Dann besteht die Möglichkeit, über bewusste Kommunikation sich zu „Polyvalenter Normativität“ so zu verhalten, dass seelsorgliche Verbindung ermöglicht wird, indem gemeinschaftsstiftend kommuniziert wird, ohne Differenzen verklären oder übergehen zu müssen. Auf kommunikationstheoretischer Ebene wird das Seelsorgegespräch durch die Rolle des Seelsorgers:der Seelsorgerin zu einem solchen, indem er:sie der Haltung folgt, dass die Darstellung des Gegenübers der eigenen vorrangig ist. Darüber hin-

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aus vermittelt die Seelsorgeperson etwas über ihre Glaubensperspektive, wodurch die Seelsorgekommunikation zu Seelsorgekommunikation wird. Diese wird nicht erst charakterisiert durch die großen, tiefgehenden Themen, die sich mit der Kontingenzerfahrung der Seelsorge suchenden Person auseinandersetzen – auch wenn sie das immer wieder tun. Seelsorgekommunikation wird auch nicht erst dadurch charakterisiert, dass Anliegen des Gegenübers als früher oder später religiös benannt und vertieft würden – obwohl dies auch möglich ist, wenn der:die Seelsorger:in dezidiert als Expertin oder Experte für biblische Narrationen oder Verständnisfragen oder religiösen Themen angesprochen wird. Seelsorgekommunikation wird schon dadurch zu einer solchen, indem Kommunikation in einem gewissen „Geist“ geschieht, durch die Glaubensperspektive der Seelsorgeperson, die in der christlichen Tradition steht, in der Gott sich als einer glauben lässt, der keinen Unterschied macht, der den Menschen als Menschen – den freiheitsliebenden, den, der sich danach sehnt, angenommen zu sein, aber auch der zu unbestreitbar schrecklichen Grausamkeiten fähig ist und durchaus seine „Fratze“ zeigt – ernstnimmt und sich ihm zuwendet. Von dort aus haben Seelsorger:innen Amts wegen die Aufgabe, sich auch den Menschen im Gefängnis zuzuwenden und Begegnungen zu schaffen, dies lässt sich als Kommunikation des Evangeliums fassen. Seelsorgekommunikation lässt dabei stets offen, worauf sie hinausläuft und welchen Anforderungen sie entsprechen soll und kann. Auch dies lässt die Glaubensperspektive Seelsorgender zu, in dem Vertrauen, dass nicht alles in dem Ermessen der Seelsorgeperson liegt. Gerade hier liegt eine besondere Stärke der Gefängnisseelsorge, weil sie, so gedacht, gerade auch für Menschen da ist, die woanders als austherapiert oder nicht resozialisierbar gelten.305 Auf diese Weise wird das Gegenüber ernst genommen und eine Beziehung auf Kommunikationsbasis geschaffen, trotz der wahrgenommenen „Polyvalenten Normativität“.

305 Vgl. auch Kapitel 2.4.1.1.

Teil IV Ergebnisse und Konsequenzen

5.

Das Leitbild „Normative Differenz*“ für die Gefängnisseelsorge des 21. Jahrhunderts

Die Ergebnisse und Konsequenzen meiner Arbeit sollen erneut mit einem Praxisbeispiel eingeleitet werden, das die Relevanz meiner Forschung sowie ihren Ertrag vor Augen führen kann. Der Gefängnisseelsorger Alexander Glinka kommuniziert über seine Wahrnehmungen aus seiner Glaubensperspektive in folgender Weise: „Ich hab‘ den Menschen als Menschen gesehen, ich hab nicht nur die Facette gesehen, sondern den ganzen Menschen drum rum. Und ein Mensch ist vielmehr als nur eine Tat. […] Für mich sind das keine Verbrecher, sondern für mich sind das einfach Menschen. […] Erster Tag, erstes Gespräch, nehm‘ ich mir einen ins Seelsorgebüro und er fängt so an zu erzählen: ‚ich bin Wiederholungstäter, bei mir wurde Kinderpornographie am PC gefunden. Ich saß schonmal, weil ich mich an der Tochter meiner Lebensgefährtin vergangen hab.‘, Da musste ich schlucken. Aber: komischerweise habe ich keine Abneigung gehabt – ‚hau bloß ab! […]‘ oder sowas hab‘ ich mir nicht gedacht. Ich tauche hier nicht im Namen der Justiz auf, sondern im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.“ 1 Wie schon in dem Beispiel, das in der Einleitung zitiert wurde, geht es auch in diesem Fall um Kindesmisshandlung, und damit um eine Straftat, die wohl zu den unstrittig erschütterndsten Straftaten gehören. Man kann also davon ausgehen, dass der von Glinka geschilderte Täter intuitiv von einigen Menschen als „böse“ wahrgenommen wird. Die Rede von „dem Bösen“ wird nach wie vor gesellschaftlich verwendet, wenn auf schrecklichste Taten hingewiesen wird und hat somit eine hermeneutische Funktion, nämlich dann, wenn eine Erfahrung ob ihres Schreckens kein anderes Wort mehr zur Verfügung stellt als die Generalisierung: „das Böse“. Aber auf der anderen Seite: Im Durchgang durch die Arbeit, lässt sich nun sagen, dass das, was „das Böse“ ist, deutlich komplexer ist als jede Intuition. Das wäre genau jene Erfahrung, die ich unter den Begriff der „Polyvalenten Normativität“ gefasst habe, als Differenzen in Bezug darauf, wie etwas normativ beurteilt werden soll, die einmal auf zwischenmenschlicher Ebene, aber auch als nebeneinanderstehende Ambivalenzen in der je eigenen Situationswahrnehmung festgestellt werden können. Und genau aus diesem Grund habe ich „das Böse“ am konkreten Ort der Gefängnisseelsorge als Thema der vorliegenden Arbeit gewählt: Dort, wo uns ganz

1 So erzählt der Gefängnisseelsorger der JVA Werl in einem Videobeitrag von „You Pax – das junge Glaubensportal im Erzbistum Paderborn“, siehe Steegmaier, Perspektive Theologe Alexander Glinka.

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real und praktisch, oftmals unstrittiges, offensichtlich „Böses“ vor Augen geführt wird, stellt sich „das Böse“ als gleichzeitig hoch komplex heraus. Es sind Menschen, die zu so schwerwiegenden Taten fähig sind, dass sie sich für andere als für-sie-böse bewerten lassen. Es geht um den Menschen als Menschen, wie Glinka selbst sagt. „Das Böse“ ist, so wurde mit einem kurzen forschungsgeschichtlichen Abriss (Kapitel 1.2.1) exemplifiziert, nicht als etwas Ontisches zu verstehen, mit dem eine ganze Personengruppe, wie z. B. die Gefängnisinsassinnen und -insassen als das personifizierte „Böse“ bezeichnet werden könnte. Der Begriff „das Böse“ ist dort jenseits seiner heuristischen Funktion problematisch, weil mit ihm Personen stigmatisiert werden und es zu dem kommt, was mit dem Begriff othering ausgedrückt wird: das Ausgrenzen einer Person oder einer Gruppe als der:die andere. Dennoch wurde der Begriff „das Böse“ aus den folgenden Gründen nicht ersetzt oder indeterminiert: 1. Wenn von etwas „Bösem“ die Rede ist, dann wird ein Widerfahrnis als „böse“ bewertet. Der Begriff „das Böse“ ist nicht wertfrei, sondern fußt auf dem Vorkommen von Negativerfahrungen von sinnlos Schrecklichem. Insofern der Mensch fähig ist, das Sein vor dem Hintergrund eines Sollens wahrzunehmen, kann er „das Böse“ als negative Erfahrung als solche bewerten. Mit dem Bewusstsein, dass die Deutungen des Seins und des Sollens ebenfalls kontextuell sind, ist also auch die Erfahrung „des Bösen“ stets kontextuell, sodass der Begriff eine sinnvolle und situationsangemessen Chiffre ist. 2. Gegenstand der Seelsorge ist nicht „das Böse“, sondern es sind die jeweiligen Erfahrungen, in denen etwas als „böse“ wahrgenommen und bewertet wird. Mit dem Begriff können schreckliche, unfassbar grausame Erfahrungen zum Ausdruck gebracht werden, auf die kaum ein anderer Begriff zu passen scheint als „böse“. Dass es solche Erfahrungen gibt, die als „böse“ empfunden werden, davon zeugt die philosophische und theologische wie auch humanwissenschaftliche Auseinandersetzung mit „dem Bösen“. Weil die menschlichen Erfahrungen jedoch so vielfältig sind wie die Menschen selbst und damit auch die Deutung von Erfahrungen als „böse“, ist „das Böse“ stets plural zu verstehen. Es ist als „böse“ für jemanden zu begreifen, sodass „Böses“ eben nicht ontisch, sondern plural und subjektiv-perspektivisch verstanden werden muss. 3. Damit stellte sich heraus, dass auch im Zusammenhang mit den Menschen im Gefängnis nicht auf den Begriff „böse“ verzichtet werden muss und kann. Denn das, was Straftäter:innen getan haben, lässt sich als „böse“ deuten und wird vielfältig als Deutung von außen an sie herangetragen: von manchen Medien, von manchen Opfern, von Menschen, die durch wen auch immer von dieser Tat hören. Das ist auch für die Gefängnisseelsorge von Bedeutung, weil sie diese Wahrnehmungen und Bewertungen ernstnehmen können muss, wenn sie sich als Seelsorge versteht, die ihr Gegenüber und ihr Umfeld ernstnimmt. Gerade im Gefängnis wird der Umgang mit dem sogenannten „Bösen“ exemplarisch.

Das Leitbild „Normative Differenz*“ für die Gefängnisseelsorge des 21. Jahrhunderts

4. Das heißt jedoch auch, dass „das Böse“ aus Seelsorgeperspektive nicht nur plural, sondern auch als polyvalent verstanden werden muss. Denn, was von der einen als „böse“ bewertet wird, wird von dem anderen womöglich nicht so gesehen. Gerade in der Seelsorge zeigt sich die Schwierigkeit eines Umgangs mit „Bösem“, weil Seelsorge, wie ich in der Arbeit aufgezeigt habe, eben nicht einfach „abhauen“ kann, weil sie, so verschieden und plural ihre Aufgaben, Zielsetzungen und Methoden auch sein mögen, immer den professionalen Anspruch hat, seelsorgliche Verbindung herzustellen. Wie kann ein angemessener Umgang mit „Polyvalenter Normativität“ aussehen? Das wurde in dieser Arbeit als das Leitbild „Normative Differenz*“ entwickelt. In diesem Leitbild geht es um die Möglichkeit, in der Seelsorge mit dem Gegenüber in Verbindung zu stehen. Mit diesem Ziel lässt sich die Haltung des Ernstnehmens des Gegenübers profilieren. Das Gegenüber kann sich nur dann ernstgenommen fühlen, wenn ihm vermittelt wird, dass es möglichst genau wahrgenommen wird und d. h., es vor Hintergrund seiner Kontexte und seiner Geschichte wahrzunehmen und sich ihm gegenüber so zu verhalten und darin dementsprechend so zu kommunizieren, dass das Gegenüber wiederum die Möglichkeit hat wahrzunehmen, dass es von seinem (seelsorglichen) Gegenüber ernstgenommen werden will. Bevor genauer auf das Leitbild „Normative Differenz*“ eingegangen wird, soll an dieser Stelle nochmal zusammengefasst und präzisiert werden, wie Wahrnehmung und Ernstnehmen sowie Kommunikation und Sich-Verhalten untrennbar miteinander verschränkt sind, wenn das (seelsorgliche) Ziel darin besteht, eine Verbindung zu schaffen. Ein Verständnis dessen bildet zugleich das Fundament des Leitbildes „Normative Diffenrenz*“.

5.1

Die Verschränkung von Wahrnehmung und Kommunikation als Ernstnehmen und Sich-Verhalten

In Teil II wurden die Schritte durchgegangen, die im Rahmen der Gefängnisseelsorge zu einer ernstnehmenden Wahrnehmungsbildung führen. Auf Seelsorgeseite bestätigte sich in der Praxis, was in der Poimenik, besonders durch Uta Pohl-Patalong und Doris Nauer, theoretisch aufgearbeitet wurde: Seelsorge ist multidimensional und multiperspektiv bestimmt. Und in der Praxis: Seelsorgende setzen keine generellen, sondern unterschiedliche Schwerpunkte in ihrer Seelsorgearbeit, um dementsprechend auf die pluralen Anforderungen der unterschiedlichen Personen mit ihren unterschiedlichen Kontexten und auch dem je eigenen Rollenverständnis entsprechend reagieren zu können. Demzufolge sind Seelsorger:innen stets dazu angehalten, ihren je eigenen Anspruch an die Situation, an sich selbst sowie ihren Kontext, genau zu reflektieren, um Differenzen zum Gegenüber – bei dem es ja ganz anders sein kann – wahrnehmen und stehen lassen zu können. Wichtig fest-

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zuhalten ist also, dass Gefängnisseelsorgende sich in ihrer Profession zuerst an der Situation orientieren und nicht zuerst nach Vorgaben und Maßstäben seitens der Institutionen, innerhalb derer sie sich bewegen. Daneben müssen Seelsorger:innen sich auch mit den Geschichten, Hintergründen und Kontexten des Gegenübers auseinandersetzen können. Weil hier die Schnittstelle zu Polyvalenter Normativität liegt, also bis zu diesem Punkt noch die intuitive Bewertung als „böse“ vorliegen kann, ist es besonders wichtig, interdisziplinär und mit aktuellen Ergebnissen zu arbeiten: Woher kommt „das Böse“ oder humanwissenschaftlicher formuliert: Wie entsteht Delinquenz? Mit aktuellen Studien aus Soziologie, Psychologie und Neurologie habe ich der Generalisierung widersprechen können, die in der praktischen Gefängnisseelsorgearbeit jedoch häufig gemacht wird: „Täter sind eigentlich auch nur Opfer“ – ihrer äußeren und inneren Umstände. Aus neurologischer Perspektive – um nochmal ein Beispiel zu nennen – kann die Willensfreiheit jedoch gerade nicht generell dementiert werden, weil auch pathologisch bestätigte psychopathische Gehirnstrukturen nicht zu entsprechend kriminellem Handeln determinieren, sondern solches nur fördern. Aus humanwissenschaftlicher Perspektive bin ich so zu dem Ergebnis gekommen, dass ihre Bedeutung für den Blick auf Delinquenzentstehung für die Seelsorge nicht darin liegen kann, Täter:innen zu entschuldigen oder zu Opfern zu machen. Entgegen einer Entschuldigung von Straftaten führen sie mehr zu einer Entmoralisierung von Tatbeständen: Besonders Soziologie und Psychologie zeigen die komplexen Strukturen von Delinquenzentstehung auf, sodass sie einer moralisierenden Haltung, die eine selbstverständliche und pauschale Negativwertung gegenüber delinquent Gewordenen vornimmt, kritisch entgegengesetzt werden können. Dies habe ich auch in einer kritischen Auseinandersetzung mit ethischen Ansätzen unterstützen können, insofern insbesondere an dem Ethik-Seelsorge-Diskurs in den 1990ern sowie Johannes Fischers Überlegungen gezeigt wurde, dass Menschen nicht aufgrund generierter Prinzipien und Normen Entscheidungen treffen und handeln, sondern aufgrund der Situation, in der sie stehen. Den Personen hinter der Tat sind dabei prinzipiell die Beurteilungen „gut“ und „böse“ durchaus bewusst, sie bewerten ihre eigenen Handlungen aber retrospektiv meist differenzierter und subjektiver als ihr Umfeld – besonders dann, wenn es um scheinbar „böse“ Handlungen geht. Meine Konsequenz daraus ist, Ethik als hermeneutische Ethik für die Seelsorge fruchtbar zu machen, indem sie Möglichkeiten aufzeigt, Situationen in ihrer eigentlichen Komplexität aufzubrechen und verstehbar zu machen. Aus der humanwissenschaftlichen und ethischen Auseinandersetzung zum „Bösen“ lässt sich deswegen konstatieren, dass sich „das Böse“ weder wegtheoretisieren noch wegmoralisieren lässt. Mit dem Begriff des Wegtheoretisierens lässt sich anzeigen, dass der „Bösartigkeitscharakter“ höchstens betäubt wird, wenn wissenschaftliche, psychologische und soziologische Kausalitäten dazu dienen sollen, die Zuschreibung „des Bösen“ oder die Tat von ihrer kausalen Verursachung vom

Das Leitbild „Normative Differenz*“ für die Gefängnisseelsorge des 21. Jahrhunderts

Täter oder von der Täterin zu lösen. Schuld, als Teilverantwortlichkeit, und der Mensch als Mensch, der eben doch auch – für die:den Geschädigte:n – zu (eindeutig) „bösen“ Taten fähig ist, wird in solchen Fällen auch in der Seelsorgesituation nicht ernst genommen. Ähnlich verhält es sich bei einer Moralisierung von Taten: In einer moralisierenden Haltung bleibt der:die Seelsorger:in bei sich und lässt die „Polyvalente Normativität“ gerade nicht polyvalent, sondern nur als negativ bewertete Abweichung von seiner:ihrer eigenen Moral bestehen. Daraus folgte aber die bittere Konsequenz, den Menschen als solchen anzuerkennen, der durchaus zu unerklärlich schrecklichen Taten fähig ist – zu „Bösem“. An dieser Stelle findet die theologische Auseinandersetzung mit „dem Bösen“ ihren Anknüpfungspunkt, und zwar nicht, damit Gott als letzte Begründungsinstanz fungiert, wenn Wissenschaft auf ihre Grenzen stößt, sondern als eine Hoffnungsinstanz, die es ermöglicht, trotz allem nicht „abzuhauen“2 . Die Theologie arbeitet an der Theoriesprachlichkeit in Bezug auf Narrationen – wie beispielsweise diejenigen aus Gen 3–4 –, in denen „das Böse“ im Menschen als existentielle Erfahrung zum Ausdruck gebracht wird, ohne es zu dementieren, aber eben auch mit einer gewissen Hoffnung darauf, dass dem Leben trotzdem eine Bedeutung zukommt. Dadurch bringt Theologie eine neue bzw. andere Perspektive auf die Sicht der Dinge in den Diskurs ein. Über die Materialdogmatik, genauer: das Sündenverständnis von Luther, zu Slenczka und darüber hinaus Wittekind wurde der Sündenbegriff sowie die Erfahrung von Vergebung als Deutungsmöglichkeiten von jenen existentiellen Erfahrungen herausgestellt, die in den eigenen Abgrund des Selbst führen und die eng mit dem Erleben von Schuld zusammenhängen. In diesen Ansätzen wurde auch deutlich, dass der Sündenbegriff kein Synonym zum Schuldbegriff darstellt und dass Sünde entmoralisiert zu konzeptionalisieren ist. Indem ich diese systematisch-theologischen Ansätze mit praktisch-theologischen Ansätzen ins Gespräch gebracht habe, konnte jedoch auch die Relevanz davon aufgezeigt werden, den Sündenbegriff nicht gänzlich von einem moralischen Schuldbegriff abzutrennen. Dies würde nämlich bedeuten, die realen Schuldgefühle eines Menschen, wie sie besonders in der Gefängnisseelsorge begegnen, nicht mehr ernst zu nehmen und dem Weg zur Vergebungserfahrung entgegenzustehen, für die das Schuldgefühl jedoch unabdingbar ist. Dies steht nicht im Widerspruch zu meiner Kritik des Wegmoralisierens, sondern zeigt vielmehr die komplexen Strukturen auf: Es ist weder möglich, „Böses“ angemessen zu deuten, ohne humanwissenschaftliche Forschung nach Delinquenzentstehung zu befragen, noch wäre es der tatsächlichen Praxis zuträglich, davon auszugehen, dass Schuldgefühle eigentlich falsch seien oder seitens des Seelsorgers:der Seelsorgerin empfundene Zuschreibungen als „böse“/„schrecklich“/„schuldig“ nicht gedacht werden dürften.

2 S.o. die Formulierung Glinkas: „‚hau bloß ab! […]‘ oder sowas hab‘ ich mir nicht gedacht.“

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Teil IV Ergebnisse und Konsequenzen

Die Deutung des Lebens vom Glauben her, wie sie sich in Bezug auf „das Böse“ in dem theologischen Teil darstellen ließ, lässt sich als Charakteristik für die Seelsorge weiterführen. Die Glaubensperspektive von Seelsorger:innen stellt sich als der Parameter heraus, der es ermöglicht, sich besonders im Gefängnis zur Aufgabe zu machen, dem Leben – mit Tillich gesprochen – trotzdem, trotz „des Bösen“ eine Bedeutung zu geben. Als existentielle Erfahrungen sind diese Phänomene nicht nur Christinnen und Christen vorbehalten. Allerdings kann Sünde nicht als Existential oder gar ontisch gedacht werden, wie sich insbesondere am säkularen Ort des Gefängnisses aufzeigen ließ. Daraus folgt für die Seelsorgenden, dass sie es in der konkreten Seelsorgesituation nicht als höchstes Seelsorgeerfordernis sehen müssen, die Erfahrungen des Gegenübers diesem als „Sünde“ zu verstehen aufzuerlegen und zur Bedingung einer weiteren helfenden Kommunikation zu machen. Diese Ergebnisse wurden zum Anlass genommen, sich in Teil III mit der Frage auseinander zu setzen, wann Kommunikation nicht nur religiös, sondern seelsorglich ist und das heißt, auf welche Weise in der Seelsorge kommuniziert werden kann, sodass sich das Ernstgenommenwerden auch wirklich vermittelt, und dabei „Polyvalente Normativität“ stehen bleiben kann, ohne dass man sich über sein Gegenüber erhebt, es verurteilt oder entschuldigt. Die Ergebnisse dieses Teils bestehen darin, dass Seelsorger:innen bis zu einem gewissen Grad3 bewusst und den wahrgenommenen Kontexten entsprechend kommunizieren können, insofern sie Sprache und Sprachcodes sowie der erzählten Situation und Erzählsituation des Gegenübers wahrnehmen und sich ihnen entsprechend anpassen können. Es gibt, mit Blick auf die referierten Studien und Konzeptionen Hauschildts und Kohlers, Kommunikationsstrategien, die eine seelsorgliche Kommunikation ermöglichen, die „polyvalenter Normativität“ zuträglich wird, indem sie stehen gelassen wird. Daran ließ sich die Frage nach der konkreten Seelsorgekommunikation anschließen, und damit die Frage nach der Kommunikation des Evangeliums. Es zeigte sich, dass Seelsorgekommunikation schon dadurch zu einer solchen wird, dass sie in einem gewissen „Geist“ geschieht, durch die Glaubensperspektive der Seelsorgeperson, die in der christlichen Tradition steht, in der Gott sich als einer glauben lässt, der keinen Unterschied macht, der „den Menschen als Menschen [sieht]“4 – den freiheitsliebenden, den, der sich danach sehnt, angenommen zu sein, aber auch der zu unbestreitbar schrecklichen Grausamkeiten fähig ist. Von dort aus haben Seelsorger:innen von Amts wegen die Aufgabe, sich auch den Menschen im Gefängnis zuzuwenden und Begegnungen zu schaffen, ohne aber ein bestimmtes

3 Kommunikation und ihre Wirkung beim Gegenüber sind nie ganz vorhersehbar und bleiben damit auch unberechenbar. 4 Steegmaier, Perspektive Theologe Alexander Glinka.

Das Leitbild „Normative Differenz*“ für die Gefängnisseelsorge des 21. Jahrhunderts

Ziel zu haben, wie die Resozialisierung oder Heilung. Gerade hier liegt eine besondere Stärke der Gefängnisseelsorge, weil sie, so gedacht, gerade auch für Menschen da ist, die woanders als „austherapiert“ oder „nicht resozialisierbar“ gelten. Für Seelsorge scheint es grundlegend zu sein, dass eine Verbindung geschaffen wird, dazu gehört eine möglichst präzise Wahrnehmung der Seelsorgesituation und eine sich danach richtende Kommunikation. Der eingangs zitierte Seelsorger nimmt sein Gegenüber offenbar nicht als „böse“ wahr und kommuniziert gerade kein „hau bloß ab!“5 , weder innerlich, und erst recht nicht nach außen. Mit einer innerlichen „polyvalenten Normativität“ scheint er sich in diesem Fall nicht auseinandersetzen zu müssen, obwohl er dies selbst komisch findet.6 Daraus folgt auch, dass es auch aus Seelsorgeperspektive nicht unüblich oder verwerflich ist, eine Abneigung gegen einen solchen Straftäter zu empfinden – die Frage ist immer die des richtigen Umgangs damit, wofür „Normative Differenz*“ als Leitbild eine entsprechende Hilfestellung bieten kann.

5.2

Vom Umgang mit „Polyvalenter Normativität“ zum Leitbild „Normative Differenz*“

Die Ergebnisse dieser Arbeit verweisen auf eine bestimmte Haltung, Seelsorge zu betreiben, in der Seelsorgende ihr Gegenüber ernst nehmen und sich ihm gegenüber so verhalten, dass Verbindung geschaffen wird. Darin korrelieren Wahrnehmung und Kommunikation untrennbar, was im Rahmen dieser Arbeit betont wurde. Sich dementsprechend seelsorglich zu verhalten, heißt genauer: den Kontext, in dem Seelsorge stattfindet, sowie die eigene Rolle darin wahrzunehmen, wahrzunehmen, welche Deutungsmuster es für Delinquenz(entstehung) gibt und zu reflektieren und abzurufen, mit welchen Kommunikationsstrategien in der Seelsorgesituation gearbeitet werden kann, sodass Verbindung geschaffen wird und nicht abbricht. Dabei ist es wichtig, sich der Komplexität von Situationen, Strukturen und Deutungsmustern bewusst zu sein. Häufig wird in der Gefängnisseelsorge, wie noch auf der Schwelle ins 21. Jahrhundert, auf ein Deutungsmuster zurückgegriffen. Doch funktioniert beispielsweise die Identifizierung mit dem Gegenüber, wie sie Stubbe allgemein konstatierte, nicht generell. Gerade auch die dargestellte Praxis Gefängnisseelsorgender zeigte auf, dass diese sich nicht strikt an einem Ziel, an eine Methode halten, sondern sich der konkreten Situation angemessen und flexibel verhalten. Die Erfahrung „Polyvalenter Normativität“ verweist auf das Problem, dass es nicht die eine Lösung gibt, denn beide (oder viele) Wahrnehmungen und

5 Ebd. 6 Er formuliert ebd.: „Aber: komischerweise habe ich keine Abneigung gehabt“.

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beide (oder viele) Deutungswirklichkeiten haben ihre Berechtigung, sie sind aus ihrer jeweiligen Perspektive nachvollziehbar. Diese Polyvalenz wird im- und explizit bereits in der Seelsorgelehre reflektiert: Beispielsweise in dem Postulat einer multidimensionalen, multiperspektivischen Seelsorge oder in der Auseinandersetzung mit der Nähe- Distanzproblematik, aber auch in der Wahrnehmung der Komplexität von Seelsorge angesichts von Säkularisierung, Globalisierung und Pluralisierung. Über all diese Ansätze hinausgehend, stelle ich den Anspruch, „Polyvalente Normativität“ nicht nur wahrzunehmen, sondern sie normativ zu setzen. Ganz schlicht heißt das für die Seelsorge: Es gibt nicht die richtigere Lösung. Wenn Seelsorge den Anspruch hat, in eine ernstnehmende und sich verhaltende Kommunikation treten zu wollen, dann muss sie sich auf Komplexität einlassen. Für den Umgang mit dieser Komplexität, in der Differenzen nicht wegtheoretisiert werden, schlage ich das Leitbild „Normative Differenz*“ vor, das dort greift, wo „Polyvalente Normativität“ erfahren wird und sich diese programmatisch aneignet. Das Leitbild „Normative Differenz*“ ist nicht als „Theorie über“, als weitere „große Erzählung“ zu verstehen. Der Begriff ließe sich zunächst so missverstehen, als ob Differenzen an sich normativ gesetzt werden sollten, sodass er suggerieren würde, es müsse immer Differenzen geben, auf die man sich in der Seelsorge fokussieren sollte, sodass diese gar künstlich hergestellt werden müssten. Dies ist nicht gemeint. Das Bewusstsein dieser Problematik und die Abgrenzung von solchem Missverständnis wird durch den Asterisk /*/ markiert. Er indiziert das hier vertretene Verständnis: Was normativ gesetzt wird, ist, dass Differenzen, wenn sie denn auftreten, als solche wahrgenommen und eben nicht voreilig wegtheoretisiert werden sollen und dass diese Abgrenzungen vorgenommen werden, um den Menschen, die Seelsorgesituation und die Seelsorge ernst zu nehmen. Differenzen können da auch als harte Differenzen stehen bleiben, auch und gerade wenn der Anspruch besteht, Verbindung zu schaffen. Voraussetzung ist eine wahrnehmende, reflektierende Haltung, die es ermöglicht, Wege und Strategien der Kommunikation zu finden, über die Verbindung geschaffen wird. Dadurch werden Differenzen nicht gleichgültig, insofern sie egalisiert würden. Sondern sie werden gleich gültig, insofern sie in ihrer Polyvalenz nebeneinander bestehen bleiben. Als Leitbild kann „Normative Differenz*“ auch keine Theorie über allen anderen Theorien darstellen, denn in ihm sind die Vielfalt an Seelsorgekonzepten und Theorien bereits mitgedacht und ohne jene Vielfalt bewusst mitzuberücksichtigen, wäre die Umsetzung des Leitbildes „Normative Differenz*“ nicht möglich. Das Leitbild „Normative Differenz*“ wurde in der Auseinandersetzung mit der Heuristik „des Bösen“ und mit der Gefängnisseelsorge entwickelt. Gültig ist es jedoch für jede Art von Seelsorge. In jeder Seelsorge wird es – vielleicht zunächst nicht so offensichtlich – Situationen und Erfahrungen geben, die so ernst sind, dass sie sich nicht wegtheoretisieren lassen, wenn der Anspruch besteht, sie ernst zu

Das Leitbild „Normative Differenz*“ für die Gefängnisseelsorge des 21. Jahrhunderts

nehmen. Im Trauergespräch ist es manchmal besser, etwas ruhen zu lassen, statt weiter zu fragen. In der Krankenhausseelsorge z. B. können Differenzen auftreten, die ebenfalls stehen gelassen werden können sollten, um sich dem Gegenüber entsprechend seelsorglich zu verhalten. Und auch in der Gemeindeseelsorge wird es Situationen geben, in denen der Drang entsteht, aufzuklären, zu relativieren oder zu überzeugen; auch da stellt sich die Frage, ob dadurch die Situation des Gegenübers ernstgenommen wird und sich dem Gegenüber selbst ein Ernstgenommenwerden vermittelt. Das bedeutet: a) Die Wahrnehmungsfähigkeit bleibt für Seelsorger:innen unabdingbar, nicht nur, um herausfinden zu können, welche Anforderung vom Gegenüber an den:die Seelsorger:in gestellt wird, sondern auch, um die Differenzen in „Polyvalenter Normativität“ überhaupt wahrzunehmen und zu reflektieren. Dazu gehört auch die bewusste Wahrnehmung und Reflexion der eigenen Person während der Seelsorgesituation, von der aus schließlich auch die Situation des Gegenübers wahrgenommen und gedeutet wird. b) Wenn Differenzen wahrgenommen werden, ist es für Seelsorger:innen unabdingbar, diese in Anlehnung an die in der Arbeit unternommen Schritte zu reflektieren: In welchem Kontext steht das Gegenüber, in welchem Kontext steht die Seelsorgeperson, warum gibt es hier Differenzen und worin bestehen sie? Diese Reflexion soll in der Seelsorge im Hintergrund mitlaufen, ohne dass sie tatsächlich als Thema kommuniziert werden müsste – aber sie könnte kommuniziert werden, beispielsweise wenn sich das Gespräch über die Differenzen festgefahren hat, sodass sie explizit angesprochen werden sollten. c) Um sich dem:der Gesprächspartner:in entsprechend angemessen seelsorglich zu verhalten – indem er:sie ernstgenommen wird, damit die Kommunikation und also die Verbindung nicht abbricht –, ist es in der Gefängnisseelsorge und darüber hinaus wichtig, eine Tat, durch die sich etwas „Böses“ zeigte, vor dem Hintergrund der Geschichte und des Kontextes des Gegenübers wahrzunehmen, um sich ihr verstehend anzunähern. Es ist dabei wichtig, zunächst von vielen Deutungsmustern auszugehen, um das Gegenüber nicht in die ein oder andere Richtung zu stigmatisieren – zum „Bösen“ oder zum „Opfer“. Das ermöglicht es, den Menschen ernst zu nehmen – als jemand, der wirklich für jemanden „böse“ gehandelt hat, der in seinen Schuldgefühlen, sofern sie denn aufkommen, ernstgenommen wird, und als jemand, der trotzdem seine Würde hat, die ihm nicht genommen werden darf. d) Diese Wahrnehmung im Hintergrund von Seelsorgesituationen ist unabdingbar für die Seelsorgekommunikation selbst, also das seelsorgliche Verhalten, das in der Situation sichtbar wird. In der Kommunikation soll sich ein Ernstgenommenwerden vermitteln, trotz Differenzen und in den Differenzen. Es soll Verbindung geschaffen werden. Das bedeutet, dass Seelsorger:innen sich über ihre Vielfalt an Kommunikationsstrategien bewusst sein sollten sowie über Seelsorgemethoden, damit sie differenziert, der Vielfalt entsprechend, angewendet werden können.

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Teil IV Ergebnisse und Konsequenzen

In der Haltung des Ernstnehmens, um eine das Menschsein des Gegenübers würdigende Verbindung zu ermöglichen, sollen Differenzen in ihren Relationen wahrgenommen werden, sodass sich die Seelsorgenden dazu differenziert verhalten können – und es ihrem Gegenüber auch erleichtern, entsprechendes zu tun. Dann ist es möglich, trotz des Impulses Verbindung abzubrechen – angesichts der als „böse“ wahrgenommenen Schilderung –, Kommunikation zu schaffen, die über die Differenzen und trotz der Differenzen hinweg läuft, indem die Wahrnehmung des Gegenübers, die Selbstwahrnehmung, die Wahrnehmung des Kontextes bewusst im Hintergrund der Seelsorgesituation stehen. Das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Kommunikation, dem eigenen Glauben, der eigenen Identität und Seelsorgerolle, auch und gerade in der Erfahrung „Polyvalenter Normativität“, wurde in dieser Arbeit analysiert und wurde weitergeführt zum Leitbild „Normative Differenz*“. Die reflektierten und normativ gesetzten Inhalte und Aufgaben angesichts „Polyvalenter Normativität“ konnten teilweise in der Praxis der Gefängnisseelsorge identifiziert werden. Ihre Reflexion im Zusammenspiel von Theorie und Praxis lässt sich nun als formuliertes Leitbild wiederum für Theorie und Praxis fruchtbar machen.

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Register

A Aichhorn, August 40, 42 Althaus, Paul 205, 206 Arendt, Hannah 23–25, 27, 40 Augustin 20, 21, 205 B Bandura, Albert 159, 160 Barth, Karl 16, 227 Baumeister, Roy F. 162, 163, 231 Beccaria, Cesare 70, 149 Becci, Irene 254 Becker, Howard S. 149 Beutel, Albrecht 203 Biehl, Peter 252 Birnbacher, Dieter 170, 172 Brandner, Tobias 34, 38, 75, 95, 96, 104, 107, 118, 124, 127, 142, 216, 235, 254, 257 Brandt, Peter 37–39, 46–54, 139 Buckels, Erin E. 161, 163 Bunse, Hermann 17, 249 Burkart, Roland 251, 309 Bushman, Brad J. 158, 162, 164 C Campbell, W. Keith 157, 162, 163 Chabrol, Henri 161 Cimsit, Mustafa 117 Clark, Malcom W. 189 Cohen, Albert K. 148 Coleman, James S. 143, 144 Cressey, Donald R. 147 Crüsemann, Frank 193

D Dalferth, Ingolf U. 27–30, 57, 173, 199, 200 DeWall, Nathan C. 164 Ding, Gerhard 175, 179, 183 Djambasoff, Klaus-Peter 139 Dollard, John S. 159 Domenig, Claudio 94 Domsgen, Michael 57, 293 Dostojewski, Fjodor 217 Drechsel, Wolfgang 291 Drexler, Christine 15, 83, 91, 104, 106, 123, 124, 138, 139, 160, 197, 233, 234 Dubiski, Katja 140, 141 E Eichmann, Adolf 23, 24, 27 Ellis, Albert 140 Elsdörfer, Ulrike 117 Emlein, Günther 108, 253 Engemann, Wilfried 58, 235, 248, 251, 293–305, 307, 313, 314 Eschmann, Holger 61, 186, 196, 197, 220, 228–230 F Fischer, Johannes 170, 176–185, 239, 322 Fischer, Thomas 69 Foucault, Michel 67 Freud, Sigmund 39–41, 43, 142, 158–160, 179, 230 Funsch, Alexander 38, 68, 69, 73–75, 91, 92, 97

350

Register

G Gärtner, Stefan 250, 253–256, 289–291, 297, 299, 310, 312 Gehlen, Arnold 145 Geist, Matthias 96 Gertz, Jan Christian 187, 188, 192, 193 Girtler, Roland 82, 88–90 Goffman, Erving 32, 83, 92 Gottfredson, Michael R. 143, 148 Gräb, Wilhelm 57 Grant, Marion 226, 231, 232 Green, Laura R. 164 Green, Marta 35, 158 Grethlein, Christian 57, 293, 299 Günther, Ralf 38, 83, 104, 124, 168, 178, 249, 250, 253, 254, 257, 262, 269–273, 275, 278, 280–284, 286 H Haas, Hanns-Stephan 197 Haferkamp, Hans 145 Hagenmaier, Martin 17, 38, 78, 83, 88, 93, 94, 104, 107, 112, 124, 137–139, 174 Hanson, Karl R. 157 Harbordt, Steffen 89 Hare, Robert D. 161 Härle, Wilfried 199, 210 Hartenstein, Friedhelm 188 Haubl, Rolf 264 Hauschildt, Eberhard 18, 56–59, 101, 102, 106, 117–122, 124–128, 254, 256–270, 274, 281, 291, 292, 324 Hermann, Dieter 143, 148, 151–153, 155, 156, 166 Hermelink, Jan 58 Herms, Eilert 169, 170 Hess, Henner 94, 143–151, 153, 155–157, 166 Himmel, Hildegard 99, 100 Hirsch, Emanuel 199 Hirsch, Matthias 230

Hirschi, Travis 143, 148 Höbel, Markus 34, 75, 89, 142, 224 Huber, Wolfgang 15, 102, 103 Hull, Clarke L. 159 Hygen, Johan B. 20 I Inderst, Inja

169, 174

J Jahn, Sarah J. 117 Janowski, Bernd 192 Jochheim, Martin 228 Joecks, Wolfgang 68 Jonason, Peter K. 161 Jones, Daniel N. 162–164 Jung, Carl Gustav 160 K Kant, Immanuel 22, 23, 25, 30, 68 Karle, Isolde 92, 94–98, 104, 105, 107, 108, 119, 130, 250, 253, 255, 262, 309 Kessler, Rainer 189, 192, 193 Kirchmeier, Bernhard 294, 302 Kläden, Tobias 57 Klessmann, Michael 32–34, 36, 37, 55, 92, 101, 107, 123, 160, 169, 170, 186, 196, 197, 201, 226, 227, 229–231, 233–236, 249–253, 309, 312 Kohler, Eike 117, 256, 257, 268, 274–282, 287, 324 Könemann, Judith 57 Korsch, Dietrich 30, 186, 187, 201–203, 207, 208, 219, 220 Körtner, Ulrich H. J. 68–70, 73, 169, 170, 177, 225 Kunz, Ralph 169 L Lange, Dietz 169, 198, 199 Lange, Ernst 57, 58 Laubenthal, Klaus 69, 70, 78–82

Register

Le Blanc, Marc 148 Leibniz, Gottfried Wilhelm 21 Lemert, Edwin M. 149 Levin, Christoph 193 Lévinas, Emmanuel 218, 219 Liszt, Franz von 68, 69 Lohse, Timm H. 271 Lorenz, Konrad 158, 159 Luther, Henning 125 Luther, Martin 125, 201–209, 216, 219, 220, 237, 323 Lyotard, Jean-François 25 M McKay, Henry D. 148 Meijer, Ewout 162 Merckelbach, Harald 162 Merton, Robert K. 147 Merzyn, Konrad 34, 84, 92, 93, 97, 105, 107, 130, 136, 137, 142, 160, 168, 225, 226, 231, 255, 302 Meyer-Blanck, Michael 55–58, 186, 252, 294 Miebach, Klaus 68 Miller, Neal E. 159 Miller, Walter 148 Moos, Thorsten 174 Morgenthaler, Christoph 230, 235, 236 Muchlinsky, Frank 109 Müller, Hans Martin 169, 170 Muris, Peter 162 N Nachtwei, Gerhard 135, 249 Naegeli, Eduard 40, 341 Naegli, Eduard 41 Nafzger, Willi 34, 75, 104, 106, 107, 129–131, 139 Nauer, Doris 101, 109, 112–116, 118, 122, 169, 201, 321 Neiman, Susan 20, 22, 25, 26

Neugebauer, Matthias 169 Nida-Rümelin, Julian 171, 172 Nietzsche, Friedrich 235 Nipkow, Ernst 19 O Ostermeyer, Helmut 40–42 Otgaar, Henry 162 P Paolucci, Elizabeth Oddone 157 Parsons, Talcott 151 Paulhus, Delroy 161–164 Poeppl, Timm B. 161 Pohl-Patalong, Stephan 34, 91, 104–106, 130, 142, 167, 168, 250 Pohl-Patalong, Uta 57–59, 109–112, 114, 115, 121, 122, 321 Preul, Reiner 57 R Rad, Gerhard von 191 Rassow, Peter 38, 84 Rauchfleisch, Udo 160 Rehm, Johannes 16, 37, 83–86, 88 Reininger, Simon 38 Reiss, Wolfram 17 Richardson, Deborah R. 157, 158, 164 Richter, Cornelia 25, 26, 30 Riess, Richard 196 Rippe, Klaus Peter 179 Rogers, Carl 310 Roser, Traugott 169 Rössler, Dietrich 56 Roth, Elisabeth 38 Roth, Michael 169, 170, 172–174, 177, 178, 203–208, 239 Rousseau, Jean-Jacques 22, 27, 70 S Sartre, Jean Paul 210 Saur, Markus 189, 194, 195

351

352

Register

Schäfer, Karl Heinrich 99 Scharfenberg, Joachim 54, 228, 235, 294, 310, 337 Scheerer, Sebastian 94, 143–151, 153, 155–157, 166 Scheiber, Karin 217–219, 226 Scheler, Max 210 Schellenberg, Annette 195 Schieder, Rolf 109 Schilling, Johannes 201 Schleiermacher, Friedrich D. E. 55, 56, 70, 119 Schmid, Konrad 187, 189, 191 Schmidt, Jochen 198, 210 Schneider-Harpprecht, Christoph 102, 106, 169, 174 Schönke, Adolf 68, 69, 226 Schopenhauer, Arthur 20 Schröder, Bernd 57, 293 Schröder, Horst 68, 69, 226 Schüle, Andreas 187, 189, 191–193 Schulz, Claudia 56, 117 Shaw, Clifford R. 148 Shaw, Julia 156, 160–163, 165 Sievernich, Michael 196, 224, 231 Skinner, Burrhus F. 159 Slenczka, Notger 201, 203, 205–212, 214, 216, 217, 220, 221, 223, 237, 323 Sölle, Dorothee 234, 235 Spieckermann, Hermann 195 Spivak, Gayatari Chakravorty 27 Stangneth, Bettina 24 Stavemann, Harlich H. 140, 141 Steck, Odil Hannes 189, 190 Steffensky, Fulbert 234, 235 Stoebe, Hans Joachim 189 Stollberg, Dietrich 59 Stoltmann, Dagmar 57 Stratenwerth, Günter 69 Stubbe, Ellen 37, 39–46, 48, 50, 52–54, 111, 136, 142, 160, 178, 183, 240, 250, 284, 325

Sturm, Wilfried 174 Sutherland, Edwin H. 147 T Tangney, June P. 231, 232 Tannenbaum, Frank 149 Thomas von Aquin 20 Thurneysen, Eduard 227, 228 Tietze, Ulrich 13, 14, 34, 67, 79, 80, 88, 90–93, 97, 105, 107, 135–137, 156, 160, 165, 225, 248, 249, 255, 297 Tillich, Paul 221–223, 324 Tittle, Charles R. 143 Trasher, Frederic M. 148 Trillhaas, Wolfgang 47, 48 Tugendhat, Ernst 171, 173 V Violato, Claudio

157

W Wagnitz, Heinrich B. 48–50 Watzlawick, Paul 58, 251, 277 Webster, Gregory D. 161 Wellhausen, Julius 189 Westermann, Claus 189, 192, 193 Wever, Dieter 139 Weyel, Birgit 55–58 Whitaker, Daniel J. 157 Wichern, Johann H. 48–50 Willems, Joachim 254 Windischer, Jussuf 35, 85, 100, 249, 262, 307, 308 Winkler, Klaus 169, 170, 186, 229–232 Wintzer, Friedrich 169, 170, 174 Z Zehr, Howard 94 Ziemer, Jürgen 32, 33, 54, 55, 105, 123, 169, 170, 186, 196, 197, 201, 223–225, 229–231, 233, 234, 236, 260, 289–291, 297, 299, 310, 312 Zimmerling, Peter 196, 231