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German Pages [348] Year 1998
V&R
Arbeiten zur Pastoraltheologie
Herausgegeben von Peter Cornehl und Friedrich Wintzer
Band 32
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Seelsorge im Übergang zur „modernen Welt" Heinrich Adolf Köstlin und Otto Baumgarten im Kontext der Praktischen Theologie um 1900
Von Thomas Stahlberg
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufrahme Stahlberg, Thomas: Seelsorge im Ubergang zur „modernen Welt" : Heinrich Adolf Köstlin und Otto Baumgarten im Kontext der praktischen Theologie um 1900 / von Thomas Stahlberg. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1998 (Arbeiten zur Pastoraltheologie ; Bd. 32) ISBN 3-525-62352-6
© 1998 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fiir Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg als Dissertation angenommen und für die Drucklegung überarbeitet. Danken möchte ich insbesondere dem Erstgutachter Herrn Prof. Wulf-Volker Lindner für seine ermutigende Begleitung und Förderung dieses Projektes, welche sich nicht nur auf fachliche Fragen im engeren Sinn beschränkte. Darüber hinaus gebührt Herrn Prof. Dr. Matthias Kroeger Dank für seine kritischen Hinweise sowie für die Übernahme des Zweitgutachtens. Herrn Prof. Dr. Peter Cornehl und Herrn Prof. Dr. Friedrich Wintzer möchte ich meinen aufrichtigen Dank für ihre vielfältigen fachlichen Hinweise sowie für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe aussprechen. Danken möchte ich außerdem Herrn Prof. Dr. Traugott Koch sowie Herrn Matthias Wolffes für ihre Gesprächsbereitschaft und Hilfestellung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nordelbischen Kirchenbibliothek in Hamburg haben eine Vielzahl schwer zugänglicher Texte besorgt. Bei der Erstellung des Manuskriptes hatten Frau Andrea Pirri (Hamburg) sowie insbesondere Frau Angela Hennig (Dollbergen) entscheidenden Anteil - ihnen sei auch auf diesem Wege nochmals herzlich für ihre Arbeit gedankt! Für die großzügige Gewährung von Druckkostenzuschüssen danke ich der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, der VELKD sowie insbesondere der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnisstiftung in Hamburg und der S.T.O.A. (Societas Theologicum Ordinem Adiuvantium/ Förderverein Theologische Fakultät e. V.) in Kiel. Hamburg, den 10. April 1998
Thomas Stahlberg
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Inhalt Vorwort
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1. Seelsorge unter den Bedingungen von Modernität 1.1. Modernisierung als Beschleunigung 1.2. Religion und gesellschaftliche Differenzierung 1.3. Lebendige Gemeinden? 1.4. Pfarramt und moderne Lebenswelt 1.5. Exkurs: Zwei praktisch-theologische Fachzeitschriften 1.6. Praktische Theologie zwischen Wissenschaft und Praxis 1.7. Zur Lehre von der Seelsorge
9 14 22 35 56 82 99 125
2. H. A. Köstlin: Seelsorge als Zudienung des Heilswortes an den Einzelnen 2.1. Heinrich Adolf Köstlin (1847-1907) 2.2. Pastoraltheologie oder Seelsorgelehre? 2.3. Das „Wesen der Seelsorge" 2.4. Amt und Gemeinde 2.5. Das Wort Gottes als Heilswort 2.6. Die Einheit der Seelsorge und ihre methodische Differenzierung 2.7. Individualisierung und seelsorgerliche Diagnose
146 146 163 170 175 181 185 191
3. Protestantische Seelsorge bei O. Baumgarten 3.1. Otto Baumgarten (1858-1934) 3.2. „Herders Bruch mit Goethe" 3.3. Im Streit um die Wirklichkeit 3.4. Die „moderne Theologie" und die kirchliche Praxis 3.5. Seelsorge unter den Bedingungen von Volkskirche 3.5.1. Christliche Frömmigkeit 3.5.2. Der soziale Charakter der Seelsorge 3.5.3. Psychologische Seelsorge
206 206 226 234 247 261 267 271 276
4. Epilog
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5. Literatur und Abkürzungen
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5.1. 5.2. 5.3. 5.4.
Verzeichnis verwendeter Abkürzungen Veröffentlichungen Heinrich Adolf Köstlins Veröffentlichungen Otto Baumgartens Literaturverzeichnis
6. Namen- und Autorenregister
297 297 304 306 342 7
1. Seelsorge unter den Bedingungen von Modernität „Es lässt sich nicht verkennen, dass die specielle Seelsorge in der Gegenwart gegen frühere Zeit erheblich schwerere Arbeit geworden ist. Die festen Formen, in denen sie sich ehedem vollzog, sind zerbrochen, die Receptivität der Gemeinde ist geringer geworden. Dennoch fehlt es gerade dem Seelsorger, der den Einzelnen nachgeht, nicht an offenen Thüren, und das Verlangen der Gemeinden danach dürfte schwerlich geringer sein als der Eifer, mit welchem diesem Verlangen entsprochen wird. Thun wir, was wir können! Der Segen wird nicht fehlen."1!) Mit diesen beherzten Worten schließt August Wilhelm Hardeland (1855— 1929)2 seine große Geschichte der specielkn Seelsorge - die greifbare Umbruchssituation in der pastoralen Praxis seiner Zeit scheint in ihnen ebenso auf wie die Hoffnung auf den prinzipiellen Fortbestand christlicher Seelsorge. Die überkommenen Formen der parochialen Verankerung von Seelsorge — etwa in der Beichte — mögen inzwischen zerbrochen sein, doch die Seelsorge als solche ist auch unter den modernen kirchlichen Bedingungen nicht abgetan - dieses Resümee führt Hardeland nach seinem breit angelegten Durchgang durch die Geschichte der Seelsorge wieder in die Gegenwart zurück, wobei er das weitere Gelingen von pastoraler Seelsorge dem individuellen „Eifer" der Seelsorger anheimgestellt sieht und die Frage nach einer praktisch-theologischen Neubestimmung von Seelsorge an dieser Stelle noch gar nicht in den Blick nimmt.3 Gleichwohl sollte das Werk Hardelands, das in dem renommierten Verlag Reuther & Reichard in Berlin erschien, mit seinem ausgiebigen Studium kirchengeschichtlicher Quellen für lange Zeit die einzige deutschsprachige Monographie über diesen Gegenstand bleiben - seiner Anlage nach will es „die Arbeit der Kirche auf dem Gebiet der speciellen Seelsorge von der Apostel Zeiten bis auf die Gegenwart zur Darstellung" A. Hardeland, Geschichte der speciellen Seelsorge, Berlin 1897/98, S. 527. Nach seinem Studium wurde A. W. Hardeland zunächst Hilfsgeistlicher (P. coli.) in Fallersleben, von 1882-1889 war er auf der 2. Pfarrstelle in Northeim, von 1889-1896 Stiftsprediger in Loccum. Von 1896-1926 hatte er die 1. Pfarrstelle und damit die Superintendentur in Uslar inne. 3 Vgl. dazu A. Hardeland, Das Vorbild der Seelsorge in Christo Jesu; in: HWDH 21 (1898), S. 309-322; ders., Pastoraltheologe. Gedanken und Erwägungen aus dem Amt für das Amt, Leipzig 1907, welche jedoch blass und summarisch wirkt. 1
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bringen.4 Dabei wird zunächst die „vorreformatorische Kirche" von der „Kirche der Reformation" geschieden: Erstere, in welcher sich ein wahrhaft christlich-evangelisches Seelsorgeverständnis gleichsam naturgemäß nur in einzelnen Ansätzen ausbilden konnte, beschreibt Hardeland bis hin zu Bernhard von Clairvaux und bietet daneben auch erste thematische Querschnitte durch die Seelsorgegeschichte, welche sich insbesondere der Herausbildung von Parochialstrukturen, der Bedeutung der Laienseelsorge sowie der Ausdifferenzierung einer „speciellen Seelsorge" an Angefochtenen, Kranken und Dämonischen sowie an Kindern, Sterbenden und Toten widmen. Im zweiten Teil entfaltet Hardeland sodann die prinzipielle Neubestimmung von Seelsorge in Luthertum und Calvinismus - hauptsächlich auf der Basis ihrer Kodifizierung in den einschlägigen Kirchenordnungen - sowie deren frömmigkeitsgeschichtliche Fortbildungen, insbesondere im Gefolge des Pietismus. Mit diesem Aufriß gelingt es ihm, die Spur der „speciellen Seelsorge" - und darunter versteht er die „Einwirkung auf Einzelne" im Gespräch, wie sie in der Geschichte der Kirche vor allem in der Beichte vorgezeichnet ist, aber mit der modernen „Vermehrung der Amtspflichten" ihre pfarramtspraktische Ausdifferenzierung und Erweiterung erfahren hat5 - in einer Vielzahl von Einzelbildern durch die gesamte Christentumsgeschichte hindurch zu dokumentieren und in ihren jeweils charakteristischen Vollzügen historisch nachzuzeichnen. Wenn ihm hierbei auch vielfach die fehlende Rekonstruktion einer wirklich geschichtlichen Entwicklung vorgeworfen wurde,6 so markiert doch Hardeland mit seiner Seelsorge-Geschichtsschreibung zugleich so etwas wie den Endpunkt einer Epoche der Seelsorgegeschichte, und es ist zweifelhaft, inwiefern ein vergleichbares Werk bis in die Gegenwart hinein fortgeschrieben werden kann: Das dreibändige, fast einhundert Jahre nach Hardeland von Christian Möller herausgegebene Projekt einer Geschichte der Seelsorge in Ein^elporträts macht mit seinem bewußten Zurückgehen hinter das 19. Jahrhundert sowie mit seiner Auswahl der „großen Seelsorger" unseres Jahrhunderts indirekt diesen problematischen Sachverhalt nur noch einmal besonders deutlich.7 Denn wenn es auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland noch bedeutsame Seelsorgergestalten gab, die regional bzw. A. Hardeland, Geschichte der speäellen Seelsorge, S. 3f. Vgl. a. a. O., S. 3f., 63. 6 Vgl. die Rez. durch E. Chr. Achelis; in: ThLZ 23 (1898), Sp. 376-379, 642645, der zudem einige Ungenauigkeiten in der Quellenbearbeitung bemängelt; außerdem P. Kleinert; in: DLZ 19 (1898), Sp. 1828-1831; E. Simons, Schriften über Geschichte und Fragen der Seelsorge; in HWDH 22 (1899), bes. S. 431-434. 7 Vgl. Chr. Möller (ed.), Geschichte der Seelsorge in Ein%etporträts, 3 Bde., Göttingen/Zürich 1994-96. 4
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exemplarisch das Bild der Seelsorge prägen konnten - zu erinnern ist an Johann Christoph Blumhardt (1805-1880) und seinen Sohn Christoph Blumhardt (1842-1919) in Bad Boll, an Wilhelm Löhe (1808-1872) in Neuendettelsau oder Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910) in Bielefeld („Bethel"), außerdem etwa an Johannes Müller (1864-1949), zuletzt auf Schloß Elmau, oder an die Seelsorge von Erweckungspredigern wie Elias Schrenk (1831-1913) - so ist gleichwohl seit dem 19. Jahrhundert und mit der wissenschaftlichen Konstitution der Praktischen Theologie insbesondere durch Schleiermacher und Nitzsch die „Lehre von der Seelsorge" hinsichtlich der theologischen Begründungszusammenhänge funktional an die Stelle einer normierenden kirchlichen Praxis, sei es in Gestalt kodifizierter Ordnungen oder charismatischer Einzelner, getreten. „Seelsorge findet sich in der Kirche vor als Ausrichtung des Wortes Gottes an den Einzelnen"8 — die Lehre von der Seelsorge reflektiert dieses Phänomen der „vorfindlichen Seelsorge" und versucht, es theologisch zu begründen sowie über Ausübung und Proprium von Seelsorge zu orientieren bzw. zu ihrer fachgerechten Ausbildung anzuleiten: „So gesichert die Seelsorge als Tatsache innerhalb der Kirche gegeben erscheint, so ungesichert erscheint doch immer wieder ihre Begründung, damit aber auch ihr Bestand als solcher, ihre Rechtmäßigkeit und ihre praktische Gestaltung."9 Unstrittig ist dabei das sicherlich die Wechselseitigkeit dieses Begründungszusammenhanges, doch ist die Bezugsgröße für die gesamte, auf Schleiermacher zurückgehende praktisch-theologische Tradition jeweils ein wie auch immer gearteter Entwurf einer SeelsorgeA^orä, der im Sinne der „unhintergehbaren Prämisse einer Theorieabhängigkeit methodologisch ausweisbarer Wirklichkeitsorientierung"10 — sich der Prüfung seiner Plausibilität und Konsistenz im theologischen Diskurs, gleichsam „im Streit um die Seelsorge", erst zu stellen hat. Für die historiographische Perspektive bedeutet das: Mit der wissenschaftlichen Konstitution der Praktischen Theologie ist aus der Geschichte der Seelsorge die Geschichte der Seelsorgelehre geworden. Neben diesem strukturellen Ubergang von der „Seelsorge" zur „Seelsorgelehre", in dessen Gefolge sich das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis in der Seelsorge überhaupt erst in qualitativ neuer, „moderner" Weise stellt, läßt sich an Hand von Hardelands Darstellung jedoch noch ein weiteres dynamisches Moment freilegen, das zwar nur in jenen eingangs zitierten Schlußsätzen seiner umfangreichen Darstellung explizit auftaucht, für seine Zeit aber wie kein anderes bestimmend gewesen ist und insofern auf den impliziten Hintergrund seiner Geschichte der speciellen E. Thurneysen, Die hehre von der Seelsorge, Zollikon-Zürich 1946, S. 9. Ebd. 10 V. Drehsen, Zeitgeistanalyse und Weltanschauungsdiagnostik in kulturpraktischer Absicht; in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft VIII, Augsburg 1994, S. 30. 8 9
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Seeborge verweist: Es ist die grundlegende Erfahrung von Umbruch und Diskontinuität im kirchlichen Leben und in der pastoralen Praxis des ausgehenden 19. Jahrhunderts gewesen, welche eine Selbstvergewisserung der Seelsorge im Durchgang durch ihre Geschichte erforderlich und plausibel werden ließ. Diesen inneren Zusammenhang zwischen geschichtlichem Rekurs und apologetischer Vergewisserung hatte Gotthold Merten (1866-1946), Pfarrer im thüringischen Sonneberg und später Altphilologe am Realgymnasium in Lippstadt, vor Augen, wenn er angesichts der zeitgenössischen Wandlungsprozesse auf den Wert einer historischen Durchbildung für die Poimenik abhob: „Die Betrachtung der Geschichte der Seelsorge ist für uns unstreitig von großem Nutzen und unzertrennlich von der Gegenwart und den Ergebnissen der eigenen Erfahrungen: wir können die gegenwärtigen Zustände und die uns augenblicklich gestellten Aufgaben des seelsorgerischen Berufes gerade durch die Vergangenheit verstehen und eben im Zusammenhange mit der Vorgeschichte richtig auffassen und behandeln."11 Die Brucherfahrungen der zeitgenössischen Gegenwart fanden gewissermaßen ihre strukturierendes und stabilisierendes Gegengewicht in der Aufarbeitung des Traditionsbestandes sowie in der genetischen Rekonstruktion der historischen Wandlungsprozesse. In diesem Sinn ist der Historismus auch zu verstehen als eine liberale „Antwort auf Modernität", wie insbesondere T. Rendtorff hervorgehoben hat: „Die liberale Theologie suchte auf die religiöse und individuelle Erfahrung einer Welt zu antworten, die an Vertrautheit abnahm und in der bis dahin geltende Überlieferungen in Frage gestellt wurden. Der Historismus, die historische Betrachtung der eigenen Welt, fand insofern auch nicht von außen Eingang in das theologische Denken. Der Historismus kann vielmehr als eine Denkweise beschrieben werden, in der sich ein neues, historisch waches Bewußtsein für die eigene Zeit widerspiegelt, das sich bemüht, mit dem Relativismus fertig zu werden, der sich aus der Erfahrung des Wandels herleitete."12 Hardelands Werk verdankt sich insofern einer Epoche der historistischen Rückversicherung, in der nicht zuletzt auch die Praktische Theologie und ihre Teildisziplinen im Rückgang durch ihre Geschichte sich fachlich neu zu konstituieren suchten. Der geistesgeschichdiche Hintergrund dieses wissenschafdichen Konstitutionsprozesses lag dabei im Paradigmenwechsel vom philosophischen System zur historisch-genetischen Rekonstruktion, wie der Berliner Praktische Theologe Leonhard Fendt (1881— G. Merten, Zur Geschichte der christlichen Seelsorge; in: Die Seelsorge 1 (1896), S. 52 (im Original mit Hervorhebungen). 12 T. Rendtorff, Der Wandel der Moderne im Bewußtsein der Theologie; in: ders., Theologie in der Moderne (Troeltsch-Studien Bd. 5), Gütersloh 1991, S. 232. Dazu H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschbnd 1831-1933, Frankfurt/M. 5 1994, S. 49ff.; M. Murrmann-Kahl, Die entzauberte Hülsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880-1920, Gütersloh 1992. 11
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1957) - erst 1918 zum Protestantismus übergetreten - zutreffend analysiert: „In der Zeit, in welcher man die Wissenschaft' aus dem Begriffe des Absoluten ableitete, konnte man auf jenem Wege auch der Pr. [aktischen] Th.[eologie] den Dienst beim Absoluten nachweisen. Freilich brach dieser Standpunkt, auf welchem die Wissenschaft' Begriffswissenschaft gewesen war, im Laufe des 19. Jahrhunderts gründlich zusammen; an die Stelle der Begriffswissenschaft setzte sich die Wissenschaft von der Natur und der Geschichte, also vom Gegebenen."13 Doch war dieser „Zusammenbruch" normativ-spekulativer Begriffswelten ebenso wie das damit freigesetzte „Gegebene" alles andere als unproblematisch; mit dem 'Sieg der historischen über die dogmatische Methode der Theologie' (E. Troeltsch) war der Praktischen Theologie zugleich aufgegeben, in einer umfangreichen Bestandsaufnahme das vielfältige historische Material der eigenen Disziplin aufzuarbeiten — zumal angesichts der Irritationen einer zunehmenden positionellen Pluralisierung sowie der gleichzeitigen sozialen Destabilisierung überkommener kirchlicher Plausibilitätsstrukturen. Hardelands Werk zur Geschichte der Seelsorge sowie andere große praktisch-theologische Publikationen mit vorrangig historischem Forschungsansatz sind folglich vor diesem sozialpsychologischen Hintergrund einer strukturellen Nötigung zur Selbstvergewisserung zu verstehen - daß hier nämlich, gleichsam aus der Defensive heraus, die vielfältigen gesellschaftlichen (und damit zugleich: kirchlichen) Erosionen und Mobilisierungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren indirekten Niederschlag auch in der praktisch-theologischen Theoriebildung gefunden haben und schließlich zu einer fortschreitenden Konsolidierung des eigenen Fachgebietes führten. Damit wird zugleich die disziplingeschichtlich dieser Epoche der Historisierung folgende Wendung zu einer erfahrungs- und gegenwartsorientierten Praktischen Theologie neu verständlich: Einerseits als Reaktion auf einen praktisch-theologischen Wissenschaftsbetrieb, dessen Verdienste fast ausschließlich in Quellenstudium und historischer Tiefenschärfe zu liegen schienen, andererseits als neue, nunmehr offensive Reaktion auf dieselbe Erfahrung, die implizit auch schon die Tendenz zu historistischer Selbstvergewisserung motiviert hatte: „Die Welt ist anders geworden"14 - in dieser Formulierung liegt gleichsam die umgreifende Klammer, in welcher Theologen unterschiedlichster Provenienz ihrer subjektiven Erfahrung des Übergangs in die moderne Welt Ausdruck verliehen haben. Der Verweisungszusammenhang dieser scheinbar so schlich13
29.
L. Fendt, Grundriß der Praktischen Theologie. Ente Abteilung, Tübingen 1938, S.
14 Ich entnehme diese Formulierung E. Müller, Die Welt ist anders geworden. Vom Weg der Kirche im zwanzigsten Jahrhundert, Hamburg 1953; vgl. ders./H. Stroh (eds.), Seelsorge in der modernen Gesellschaft, Hamburg 1961, bes. S. 12-36.
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ten Formulierung ist jedoch breit und vielschichtig, entsprechend komplex sind die darin enthaltenen sozial- und theologiegeschichtlichen Implikationen - gerade deshalb sollen sie hier, zur Fundamentierung und Kontextualisierung seelsorgegeschichtlicher Fragestellungen im engeren Sinn, zumindest im Überblick rekonstruiert werden, um sodann ihre Brechung in praktisch-theologischer Theoriebildung aufzeigen zu können. 1.1. Modernisierung als Beschleunigung Bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert waren in Europa in einem fortlaufend sich intensivierenden - und gegen Ende des 19. Jahrhunderts sich akzelerierenden - gesellschaftlichen Wandlungsprozeß die Anzeichen fiir eine im emphatischen Sinn „neue Zeit" immer deutlicher hervorgetreten. Mit dem Einsetzen dieser Entwicklung wendete sich der Blick von der Vergangenheit als einer integrierenden Deutungswelt hin zur Zukunft und ihren legitimationskritischen Aufbruchspotentialen. Die Bewegung in Richtung auf das unabgegoltene Potential zukünftiger Entwicklungschancen wurde nunmehr zur leitenden Orientierung für die Gegenwart, so daß das Verhältnis von Zeit und Geschichte eine grundsätzlich neue Qualität erhielt: „Die Zeit bleibt nicht nur die Form, in der sich alle Geschichten abspielen, sie gewinnt selber eine geschichtliche Qualität. Nicht mehr in der Zeit, sondern durch die Zeit vollzieht sich dann die Geschichte. Die Zeit wird dynamisiert zu einer Kraft der Geschichte selber."15 Der dabei zugrundeliegende gesellschaftliche Veränderungsprozeß sollte langfristig eine durchgreifende sozialkulturelle Dynamik freisetzen: Die nunmehr dominante Erfahrung von Innovation und Diskontinuität mit ihrer schleichenden Auflösung traditionaler Lebensformen, die fast ubiquitäre Beschleunigung des alltäglichen Lebens sowie der optimistische, fortschrittsorientierte Ausgriff auf die Zukunft verwandelten die Gegenwart zu einem Fluchtpunkt bloßer Mobilität, zu einer Manifestation reiner, dynamischer Potentialität. Mit diesem strukturell ungebremsten Dynamisierungsschub konnten Zeit und Gegenwart als ein „nach vorne offener Raum der Handlungsplanung" begriffen werden, dessen unaus15 R. Koselleck, 'Neuzeit'. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe; in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979, S. 321. Vgl. ders., Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte; in: a. a. O., S. 38-66. Zum ideengeschichtlichen Hintergrund siehe H. R. Jauß, Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität; in: H. Steffen (ed), Aspekte der Modernität, Göttingen 1965, S. 168: „im offenen Horizont einer wachsenden Perfektion des Zukünftigen, nicht mehr im Idealbild einer vollendeten Vergangenheit, liegt von nun an das Richtmaß, an dem die Geschichte der Gegenwart, ihr Anspruch auf Modernität zu bemessen ist."
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geschöpften Gestaltungspotentiale nach zukünftiger Realisation - im Sinne einer Vergeschichtlichung ehedem eschatologischer Zukunftsvorstellungen - verlangten.16 Solch qualitativer Erwartungshorizont implizierte zugleich eine latente Legitimationskritik alles Überkommenen, weshalb sie in konservativer Perspektive zur willkürlichen Zersetzungslust einer erneuerungssüchtigen Bewegungsideologie degenerieren mußte: „Alles ist beweglich geworden, oder wird beweglich gemacht, und in der Absicht oder unter dem Vorwand, Alles zu vervollkommnen, wird Alles in Frage gezogen, bezweifelt, und geht einer allgemeinen Umwandlung entgegen. Die Liebe zur Bewegung an sich, auch ohne Zweck und ohne ein bestimmtes Ziel, hat sich aus den Bewegungen der Zeit ergeben und entwickelt. In ihr, und in ihr allein, setzt und sucht man das wahre Leben."17 Der sich beschleunigende 'Zug der Zeit' ließ nur noch einen gleichsam Verkürzten Aufenthalt in der Gegenwart' zu: Alle Zeit war prinzipiell zur Übergangszeit geworden, sie war als solche nur noch in Bewegungsbegriffen angemessen zu erfassen.18 Der sie antreibende „Imperativ des Wandels" war „die Konsequenz eines Bewußtseins der Gegenwart als vorübergehendem, auf die Zukunft gerichtetem Durchgangspunkt"19 und stand als solcher der Traditionsorientierung des überkommenen Zivilisationstyps diametral entgegen: „Es scheint, als ob die Beschleunigung des sozialen Wandels den Prozessen der Sedimentierung und Traditionsbildung als konstitutiven Momenten sozialer Lebenswelten nicht mehr genug Zeit ließe."20 Dabei führte die Eigendynamik sozialer Wandlung und lebensweldicher Sektorisierung zugleich zu immer kürzeren Zeitfristen, die Raum für „eine gerade noch homogene Erfahrung" zuließen, sowie schließlich zu der darin geronnenen Einsicht, „daß keine Gegenwart mehr als einheitliche Epoche erlebt oder entworfen werden konnte".21 16 Vgl. H. U. Gumbrecht, Art. „Modern, Modernität, Moderne"; in: Geschichtäche Grundbegriffe Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 120; L. Hölscher, Weltgericht oder 'Revolution. Protestantische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich (Industrielle Welt Bd. 46), Stuttgart 1989, bes. S. 27ff. 1' So bereits F. Ancillon, Über die Perfectibilität der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Bedingungen und Triebfedern; in: ders., Zur Vermittlung der Extreme in den Meinungen, Teil 1, Berlin 1828, S. 192 - zitiert nach R. Koselleck, 'Neuzeit', S. 328. Kritisch W. Benjamin, Das T>assagen-Werk (GS V, 1), Frankfurt/M. 1982, S. 575: „Die Überwindung des Begriffs des 'Fortschritts' und des Begriffs der 'Verfallszeit' sind nur zwei Seiten ein und derselben Sache." 18 Vgl. R. Koselleck, 'Neuzeit', S. 328; H. Lübbe, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin u. a. 1992. Dazu K. Lamprecht, Moderne Geschichtsmssenschrft, Freiburg i. B. 1905, bes. S. 51 ff. 19 H. U. Gumbrecht, Art. „Modern, Modernität, Moderne", S. 126. 20 F.-X. Kaufmann, Religion und Modernität; in: J. Berger (ed.), Die Moderne Kontinuitäten und Zäsuren, Göttingen 1986, S. 291 (im Original hervorgehoben). 21 R. Koselleck, 'Neuzeit', S. 329; H. U. Gumbrecht, Art. „Modern, Modernität, Moderne", S. 125.
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Der „Ausnahmezustand" war unter den Bedingungen von Modernität gleichsam zur „Regel" geworden,22 so daß historische Relativität und gesellschaftliche Dissoziation — im Sinne einer Pluralisierung von Wahrheitsperspektiven sowie eines Verlustes an traditionaler Selbstverständlichkeit - von nun an für das mentale Klima bestimmend wurden: „Wodurch die Neuzeit am nachhaltigsten verändert worden ist, das ist die Tatsache, daß die Moderne die Gleichzeitigkeit von Denkformen und Grundhaltungen ermöglicht hat, die durchaus verschiedenen historischen Wurzeln entstammen und divergierende Weltansichten umfassen." 23 Aktivismus, Rationalismus, Individualismus und Universalismus lassen sich von hier aus als die allgemeinen Kennzeichen des „kulturellen Codes" der Moderne herausarbeiten, welche die Prozesse der Enttraditionalisierung und Verwissenschaftlichung im Sinne einer modernen „Reflexionskultur" sowie die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme sozialstrukturell organisierten.24 Jenseits ihrer fortschrittsoptimistischen Begrüßung oder kulturpessimistischen Mißbilligung war eine qualitativ neue Zeit heraufgezogen, die im Wien der Jahre 1886/87 unter dem für die literarische Ästhetik geprägten Begriff der „Moderne" ihre terminologische Bündelung erhalten hat.25 Die Herausbildung des modernen Staatswesens und einer erfolgreichen kapitalistischen Ökonomie, die Verankerung rationalen Rechts sowie die Innovationsleistungen in Technik und Naturwissenschaft haben dabei eine Lebenswelt geschaffen, die trotz ihrer semantischen Einheitlichkeit, wie sie im Begriff der Moderne suggeriert wird, als ein Produkt sehr unterschiedlicher ideen- und sozialgeschichtlicher Bedingungen anzusehen ist.26 Ihre gegen Ende des 19. Jahrhunderts im protestantischen Europa 2 2 M. Makropoulos, Modernität als ontologischer Ausnahmezustand? Walter Benjamins Theorie der Moderne, München 1989, S. 81; vgl. W. Benjamin, GS I, S. 697. 23 T. Rendtorff, Der Wandel der Moderne im Bewußtsein der Theologie; in: ders., Theologie in der Moderne, S. 245; vgl. ders., Die Religion in der Moderne — die Moderne in der Religion; in: a. a. O., S. 273-290. 24 Vgl. R. Münch, Die Kultur der Moderne, 2 Bde., Frankfurt/M. 1986. Dazu E. Troeltsch, Das Wesen des modernen Geistes [1907]; in: ders., GS Bd. IV, S. 313. 25 F. Martini, Art. „Modern, Die Moderne"; in: RDL 2 Bd. II, Berlin 1965, S. 409. Vgl. R. Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart, Leipzig 3 1904, S. 273ff.; R. Piepmeier, Art. „Modern, die Moderne"; in: HWP Bd. 6, Basel/Stuttgart 1986, Sp. 54-62; J. Viering, Art. „Moderne"; in: EKlJ Bd. III, Göttingen 1992, Sp. 499-507. 26 Zur Übersicht vgl. K. E. Born, Der soziale und wirtschaftliche Strukturwandel Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts; in: H.-U. Wehler (ed.), Moderne deutsche Sosjalgeschichte, Köln 5 1976, S. 271-284; W. Conze, Sozialgeschichte 18501918; in: H. Aubin/W. Zorn (eds.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und So^algeschichte Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 602-684; M. Greschat, Das Zeitalter der industriellen Revolution, Stuttgart u. a. 1980, bes. S. 148ff.; T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 18661918, 2 Bde., München 1990/92; T. Kuchenbuch, Die Welt um 1900: Unterhaltungsund Technikkultur, Stuttgart/Weimar 1992.
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sich verdichtende Entwicklungslogik ist von Max Weber (1864—1920) in den ursächlichen Zusammenhang einer umfassenden Intellektualisierung und Rationalisierung der Lebenswelt gestellt worden, wonach die reformatorischen und neuzeitlichen Säkularisierungsschübe - als fortschreitende Entzauberung der Welt21 - eine funktionale Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Systeme im Sinne der „Institutionalisierung eines zweckrationalen Wirtschafts- und Verwaltungshandelns"28 überhaupt erst ermöglicht haben. Die innere Logik der Moderne bliebe somit unterbestimmt, wenn man sie nur unter dem Aspekt ihrer zersetzenden und auflösenden Tendenzen beschreiben wollte - vielmehr war sie zugleich auch hinsichdich ihrer strukturbildenden Potentiale wahrzunehmen, da an die Stelle des traditionellen sozialen Gefuges neue Gruppenbildungen mit neuen Wertsetzungen und organisierenden Sinnstrukturen zu treten begannen: „Nicht Pietät, Gefühl und Glaube, sondern Berechnung, Disziplin und Zukunftssicherung regulieren diese neuen Bindungen; aber sie sind darum nicht minder fest."29 Die sozialstrukturelle Dynamik der Moderne zielte somit auf eine „fortgesetzte Infragestellung und Wiedergewinnung von Ordnung"30: Die einzelnen sozialen Einheiten sowie die Gesellschaft insgesamt „funktionieren" nunmehr nach neuen Regeln, wobei nur noch „einzelne Inseln des älteren Wesens" übrig bleiben.31 Dabei stellte sich das moderne Selbstbewußtsein den Erblasten der Tradition sowie den ambivalenten Bedingungen einer fortschrittsgläubigen Zivilisation gleichermaßen kritisch gegenüber: „Modern - das hieß eine Zeit der Gärung, Entwicklung, Arbeit, der Sehnsucht und Freiheit, der Lebensperspektiven der Naturwissenschaft und der Vergeistigung ihres Positivismus in eine Idealität des Fortschritts."32 Modernität konstituiert sich in dieser Perspektive, die die Krisenerfahrung von Fortschritt und 27 Vgl. M. Weber, Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung; in: ders., Gesammelte Aufsätze Religionssosiologte Bd. I, Tübingen 1920, S. 536-573; ders., Wirtschaft und Gesellschaft, 2 Bde., Tübingen 5 1976. Dazu W. Schluchter, Die 'Entwicklung des okydentalen Nationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979. 28 J. Habermas, Das Zeitbewußtsein der Moderne und ihr Bedürfnis nach Selbstvergewisserung; in: ders., Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985, S. 9; vgl. G. Simmel, Über sociale Differenzierung (1890); in: GSG Bd. 2, Frankfurt/M. 1989, S. 109-295. 29 E. Troeltsch, Art. „Neunzehntes Jahrhundert"; in: RE3 Bd. 24, Leipzig 1913, S. 253. 30 W. Schulze, Ende der Moderne? Zur Korrektur unseres Begriffs der Moderne aus historischer Sicht; in: H. Meier (ed.), Zur Diagnose der Moderne, München/ Zürich 1990, S. 72. Vgl. hierzu auch N. Luhmann, Das Moderne der modernen Gesellschaft; in: ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 11—49. 31 E. Troeltsch, Art. „Neunzehntes Jahrhundert", S. 253. 32 F. Martini, Art. „Modern, Die Moderne", S. 409.
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Industrialisierung bereits in sich aufzunehmen beginnt, im Konflikt zweier Grundtendenzen: Auf der einen Seite steht „die notwendige Anerkennung von Individualisierung und Rationalisierung" als den „treibenden und unverzichtbaren Kräften der gesellschaftlichen Entwicklung" auf der anderen Seite „die fortgesetzte Suche nach neuen Normen- und Ordnungssystemen, die in der Lage sind, die gesellschaftlichen Folgen von Individualisierung und Rationalisierung erträglich zu gestalten [,..]."33 Befreiung und Disziplinierung, Individualisierung und Vermassung bzw. Organisierung bilden somit die charakteristischen Strukturprinzipien der einzelnen ökonomischen und politischen Modernisierungsoffensiven, in deren Folge die eigene innere Widersprüchlichkeit zum wesentlichen Merkmal der sich konstituierenden modernen Welt wird: „Die Ambivalenz der Moderne besteht darin, daß sie ein Verständnis geschichtlicher Freiheit als jeweiliger lebensweltlicher Synthese der Einheit des Wirklichen prinzipiell eröffnet und eben dadurch zugleich radikal in Frage stellt."34 Dieser gleicherweise Freiheit-schaffenden wie Freiheit-vernichtenden Potenz der Moderne korrespondiert eine charakteristische Gleichzeitigkeit des Ungleichseitigen, welcher historisch das anwachsende „Mißverhältnis zwischen ökonomischer und soziopolitischer Modernisierung" zugrundelag:35 „noch nie stand das Selbstgefühl der Kulturmenschheit in einem so paradoxen Gegensatz zu der tatsächlichen Unselbständigkeit hypnotisierter Massen [...]." 36 Gesellschaftsstrukturell sollte sich die Herauslösung des Individuums aus den Plausibilitätskonstruktionen des traditionellen Ordnungsgefüges als besonders folgenschwer erweisen. Mit der Aufsprengung der gewachsenen Verankerungen und dem semantischen Ausgriff auf eine pluralistisch ausgelegte „freiheitl. [iche] Individualitätskultur"37 ergab sich ein ungeW. Schulze, Ende der Moderne?, S. 96. G. Pfleiderer, Theologie als Wirküchkeitsnissenschaft, Tübingen 1992, S. 46; vgl. P. Wagner, Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin, Frankfurt/New York 1995. 35 H. Rosenberg, Große Depression und Bismark^eit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und 'Politik in Mitteleuropa (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd. 4), Berlin 1967, S. 59. Vgl. W. Hardtwig, Deutschlands Weg in die Moderne. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Grundproblem der deutschen Geschichte 1789-1871; in: ders./H.-H. Brandt (eds.), Deutschlands Weg in die Moderne, München 1993, S. 9-31; T. Nipperdey, Probleme der Modernisierung in Deutschland; in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986, S. 44-59. 36 K. Dunkmann, Religion und Seelsorge; in: Konservative Monatsschrift 68/11 (1911), S. 661 - eine kritische Rez. des eigenwilligen Werkes von E. Reich, Reägion und Seelsorge als Yaktoren der innern Kultur und allgemeinen Wohlfahrt, 2 Bde., Wittenberg 1910. 37 K. Tanner, Art. „Neuzeit. B. Fundamentaltheologisch"; in: WBC, S. 881; F. Wagner, Religion und die Zweideutigkeit der modernen Individualitätskultur; in: U. Barth/W. Grab (eds.), Gott im Selbstbewußtsein der Moderne, Gütersloh 1993, S. 140151. 33
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ahntes Maß an potentiellem Freiheitsgewinn und wahlweiser Disposition, welches schon in zeitgenössischer Perspektive vordem bekannte Konflikte um die soziale Ordnung und ihre Verbindlichkeit qualitativ zu übersteigen begann: „Denn es ist etwas anderes, wenn eine für heilig gehaltene Sitte mit ihrer Verletzung kämpft, als wenn das Recht dieser Sitte bezweifelt wird, erst neu und tiefer begründet werden muß." 38 Auch wenn solcher Legitimationsverlust in kulturkritischer Wahrnehmung nur als hybride „Willkür" oder als bedrohlicher „Zerfall" erscheinen konnte, implizierte er in soziologischer Hinsicht jedoch alles andere als tatsächliche „Beliebigkeit" der Sozialformen - die Erosion traditioneller sozialer Bindungen war nicht gleichbedeutend mit der Auflösung aller Vergesellschaftungsformen überhaupt, sondern vielmehr das Ergebnis durchgreifender sozialstruktureller Wandlung^rozesse: „Was vom Individuum aus gesehen zuerst als Erweiterung des Handlungsspielraums erscheinen mag, erweist sich aus der Perspektive der Gesellschaft als Voraussetzung (oder als funktional) für das moderne Niveau an Arbeitsteilung und sozialer Komplexität."39 Im Gefolge der modernen Wandlungsprozesse wird das Individuum semantisch aufgewertet und - angesichts der fortschreitenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung - zu neuen Integrationsleistungen herausgefordert: Individualität definiert sich nicht mehr durch soziale Zugehörigkeit, sondern zunehmend aus einer „Position der Exklusion" heraus, die auf Seiten des Subjekts entsprechend differenzierte Konstitutions- und Vergewisserungsprozesse erfordert.40 Insbesondere die Lebensgeschichte sowie die normierende Chronologie des Lebenslaufs erhalten damit ihre spezifisch moderne Bedeutung - sie werden zu materialen Schnittpunkten der ausdifferenzierten gesellschaftlichen Wirklichkeit, in welchen sich die Bedingungen der sozialkulturellen Fragmentierung in individueller Verdichtung reflektieren: „Die fortschreitende strukturelle Differenzierung und sinnhafte Entleerung der institutionellen
T. Häring, Zeitgemäße Predigt, Göttingen 1902, S. 11. M. Krüggeler/P. Voll, Strukturelle Individualisierung - ein Leitfaden durchs Labyrinth der Empirie; in: A. Dubach/R. J. Campiche (eds.), ]ede(r) ein Sonderfall?, Zürich/Basel 1993, S. 24. 40 Vgl. N. Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus; in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik (Studien %ur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd 3), Frankfurt a. M. 1989, hier S. 229. Außerdem J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 2, Frankfurt/M. 1981, S. 147-163; dazu H. Luther, Ich ist ein Anderer; in: D. Zilleßen u. a. (eds.), Praktisch-theologische Hermeneutik, Rheinbach-Merzbach 1991, S. 233-254; ders., Art. „Individuum/Individualismus II. Praktisch-theologisch"; in: TRE Bd. 16, Berlin/New York 1987, S. 124-127; M. Frank, Die Unhintergehbarkeit von Inäviduaütät, Frankfurt/M. 1986. 38 39
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Kontexte des Handelns macht das Individuum selbst zur Institution, das sich in Form der Biographisierung dauerhaften Sinn verleiht."41 Terminologisch ist insofern festzuhalten: „Individualisierung" bedeutet einerseits die Zuschreibung von Entscheidungen bzw. die Zurechnung von Handlungen im gesellschaftlichen Prozeß auf das Individuum, das damit jedoch nicht schon zugleich faktisch in einem Raum individueller Freiheit, womöglich jenseits aller gesellschaftlichen Bedingungen, existieren würde.42 Andererseits verweist der Terminus „Individualisierung" auf einen Prozeß der fortschreitenden Pluralisierung, in welchem überkommene Orientierungen zunehmend an Selbstverständlichkeit verlieren und insofern einen erhöhten Zwang zu expliziter Selbstthematisierung freisetzen. Dabei fallen religiöse oder moralische Inhalte zunehmend einem Prozeß der Subjektivierung und Privatisierung anheim: Traditionelle Symbolgehalte werden semantisch in Richtung auf das Subjekt verschoben und in ihrer Bedeutung transformiert, gewissermaßen „säkularisiert" bzw. „unsichtbar" gemacht, dem auf der individuellen Ebene die Tendenz zur „Sakralisierung des Ich" korrespondiert.43 Mit dem Siegeszug der modernen Individualisierungs- und Rationalisierungsprozesse weit über ihre geschichtliche, „okzidentale" Ursprungskonstellation hinaus sollten sich soziale Mobilisierung, instrumentellökonomische Vernunftorientierung sowie das darin angelegte reflexive Traditionsverhältnis — einschließlich aller der damit implizierten Risikofaktoren - zu universellen, geopolitische und sozialgeschichtliche Besonderheiten übergreifenden Strukturmerkmalen entwickeln. Modernisierung, verstanden nunmehr als eine deskriptive sozialwissenschaftliche Kategorie, konnte so zur allgemeinen Charakterisierung vergleichbarer Wandlungsprozesse herangezogen werden - als Terminus für ein umfassendes theoretisches Modell löst sie „die Moderne von ihren neuzeitlicheuropäischen Ursprüngen ab und stilisiert sie zu einem raumzeitlich neutralisierten Muster für soziale Entwicklungsprozesse überhaupt"44. In gleichwohl deutlicher Affinität zu den geseUschaftlichen Bedingungen 41 H. Knoblauch, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse; in: T. Luckmann, Die unsichtbare Reägion, dt. Frankfurt/M. 1991, S. 33. Dazu vgl. M. Kohli, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs; in: KZSS 37 (1985), S. 1-29; ders., Gesellschaftszeit und Lebenszeit. Der Lebenslauf im Strukturwandel der Moderne; in: J. Berger (ed.), Die Moderne - Kontinuitäten und Zäsuren, S. 183-208. ® Dazu vgl. bündig M. Wohlrab-Sahr, Institutionalisierung oder Individualisierung des Lebenslaufs?; in: BIOS 5 (1992), S. 1-19. 43 Vgl. H. Knoblauch, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse, S. 31; N. Luhmann, Funktion der Religion (1977), Frankfurt/M. 1982, bes. S. 225ff. 44 J. Habermas, Das Zeitbewußtsein der Moderne und ihr Bedürfnis nach Selbstvergewisserung, S. 10; zur 'Apologie' der Moderne als einer normativen Größe vgl. ders., Die Moderne - ein unvollendetes Projekt; in: ders., Kleine poätische Schriften I-IV, Frankfurt/M: 1981, S. 444-464.
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spezifisch europäischer Moderne sind es dabei vor allem vier theoretische Perspektiven gewesen, welche für eine prinzipielle Beschreibung von Modernisierungsprozessen in Anschlag gebracht worden sind und die in ihrer integrierten Zusammenschau gewissermaßen als das „methodologische Basissyndrom" von Modernisierungstheorien bezeichnet werden können:45 1. Zunächst zu nennen ist die Dichotomie-Kon^eption, welche auf einer exklusiven Gegenüberstellung von „Traditionalität" und „Modernität" basiert. Ihrzufolge sind Modernisierungsprozesse zu beschreiben als Übergang von traditionalen Gesellschaftsformationen hin zu modernen Formationen, wobei zur inhaltlichen Kontrastierung dichotomische Kategorien wie Einheit und Differenz oder Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung herangezogen werden. 2. Die Perspektive der modernen Systemtheorie hebt die - gleichsam organologische - „innere Zielhaftigkeit" der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungsprozesse hervor. Gesellschaftliche Wandlung wird dabei als Steigerung der Selbststeuerungsfähigkeit und Autonomie des Gesamtsystems dechiffrierbar, sofern hinter den lebensweltlichen Brüchen und Dissoziationen die sozialkybernetische Kontinuität stabilisierender Anpassungsleistungen freigelegt zu werden vermag. 3. Auf einer abstrakteren Ebene will der Struktur-Funktionalismus den Wirkungszusammenhang zwischen einzelnen strukturellen Elementen und dem jeweiligen sozialen System, dem sie zugeordnet sind, analysieren.46 Funktionalität bzw. Dysfunktionalität eines Strukturelementes bestimmen sich demnach durch einen übergeordneten materialen Bezugspunkt, der als kontinuierliches „Ziel" den Entwicklungsprozessen zugrundegelegt wird - was dazu fuhrt, daß die einzelnen funktionalen Erklärungslinien gemeinhin vom „Endzustand" der Gegenwartsperspektive aus in die Vergangenheit zurück gezogen werden.47 4. Allen genannten Analyseebenen ist schließlich ein konzeptioneller Evolutionismus inhärent: In modifizierter Weise werden damit klassische Evolutionsvorstellungen erneut in Geltung gesetzt, um die sozialen Wandlungsprozesse als Leistungen der Differenzierung, Anpassung und Integration beschreiben zu können.48 Widerständig müssen in dieser Per45 Vgl. H. Resasade, Zur Kritik der Modernisierungstheorien, Opladen 1984, S. 14ff.; dazu H.-U. Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichtswissenschaft, Göttingen 1975; M. R. Lepsius, Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der „Moderne" und die „Modernisierung"; in: R. Koselleck (ed.), Studien %um beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 10-29; H. van der Loo/W. van der Reijen, Modernisierung. Projekt und Paradox, dt. München 1992. 46 Vgl. H. Resasade, Zur Kritik der Modernisierungstheorien, S. 15. 47 Vgl. a. a. O., S. 16. 48 Vgl. a. a. O., S. 16f.
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spektive Tendenzen der gesellschaftlichen Regression und Devolution bleiben; sie verweisen auf die unabdingliche Aufgabe einer „historischkritischen Analyse" soziologischer Theoriebildung. 1.2. Retigion und gesellschaftliche Differenzierung Wie die Annahmen des Modernisierungstheorems selber ihre implizite zeitgeschichtliche Verankerung haben, so sind auch die konkreten historischen und sozialen Zusammenhänge noch einmal eigens in Betracht zu nehmen, wenn es darum geht, sich den lebensweltlichen und gesellschaftlichen Reflexionsdruck praktisch-theologischer Theoriebildung der Jahrhundertwende vor Augen zu fuhren. Denn die einsetzende Dynamisierung und Differenzierung der Lebenswelt hatte vielleicht nirgend sonst zu solch durchgreifenden Umwälzungen gefuhrt wie in Gestalt und Organisation von öffentlicher Religion, die als überkommene Abbildung eines integralen Wirklichkeits- und Sinnhorizonts zwar weiterhin von staatspolitischer bzw. zivilreligiöser Bedeutung blieb, hinsichtlich ihres institutionellen und dogmatischen Traditionsbestandes jedoch - angesichts des dynamischen Potentials wissenschaftlicher und ökonomischer Innovationsleistungen einerseits sowie sozialer und politischer Mobilisierungen andererseits — vor dem drohenden „Bankerott" zu stehen schien:49 „Die Werthe der Religion steigen, während die Werthe der Dogmatik fallen. Das ist das Geheimniß der kirchlichen Oekonomie in unserem Jahrhundert" — so lautete bereits 1873 die kritische Analyse des einflußreichen liberalprotestantischen Theologen Heinrich Julius Holtzmann (18321910).50 In diesem Sinn raisonnierte der von Hegel und Schopenhauer beeinflußte Philosoph Eduard von Hartmann (1842-1906) spöttisch: „Unsere Väter waren gerade conservativ genug, um den Kirchenbesuch in der Ordnung zu finden, und gerade aufgeklärt genug, um über den Gedanken zu lächeln, dass jemals noch religiöse Fragen das Herz des Volkes zu wilder Leidenschaft sollten ent49 Zu dieser Metapher vgl. z. B. K. Schmerl, Die speäelle Seelsorge in der lutherischen Kirche unter der Orthodoxie und dem Pietismus, Nürnberg 1893, S. 7; W. Bornemann, Historische und praktische Theologie, Basel 1898, S. 15; H. Holtzmann, Die Zukunftsaufgaben der Religion und der Religionswissenschaft; in: P. Hinneberg (ed.), Systematische Christliche Reügion (Die Kultur der Gegenwart Teil I Abteilung IV, 2), Berlin/Leipzig 2 1909, S. 256-279, bes. S. 259. 50 H. Holtzmann, Die Kirche des XIX. Jahrhunderts; in: E. Zittel u. a., Bilder aus der Geschichte des Christenthums, Karlsruhe 1873, S. 222f. Zu Holtzmann vgl. R. Ehlers, Zum 17. Mai 1902; in: MKP 2 (1902), S. 184-192; E. v. Dobschütz; in: RE3 Bd. 23, Leipzig 1913, S. 655-660; W. Bauer, Heinrich Juäus Holtmann (Aus der Welt der Religion V/9), Gießen 1932; O. Merk; in: TRE Bd. 15, Berlin/New York 1986, S. 519-522.
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flammen können [...]. Es scheint daher wichtig, unser Capitalconto an christlich-religiösem Besitz genauer zu betrachten und uns klar zu machen, wie sich unser gegenwärtiger Besitzstand einerseits zu dem Reichthum, dessen traurige Reste er bildet, und andrerseits als Deckung zu unseren religiösen Lebensbedürfnissen verhält."51 Wenn auch nicht zufällig hierbei offen bleiben mußte, zu welchem Zeitpunkt der 'religiöse Kontostand' wirklich befriedigend bzw. ausgeglichen gewesen war, so stand gleichwohl fest, daß auf die politischen und theologischen Aufbruchsbestrebungen der ersten Jahrhunderthälfte bald eine „Phase des kühlen kirchenpolitischen Calculs" folgen sollte, in welcher sich die bedrohten kirchlichen Hegemonialansprüche mit den Kräften des politischen Konservatismus verbanden und die Glaubensfragen wieder deudich als „Machtfragen" erkennbar wurden: „Die Baisse-Speculanten auf dem Gebiete des politischen Fortschritts und des allgemeinen Culturlebens sind die Hausse-Speculanten auf dem Gebiete der rückläufigen Theologie und des protestantischen Hochkirchenthums." 52 Strukturell in ihrer Bedeutung für den Fortgang der Wandlungsprozesse marginalisiert, schien vielfach - und zwar durchaus nicht bloß aus kirchenobrigkeidicher Perspektive - eine wertkonservative Ablehnung aller kritischen bzw. progressiven Tendenzen in Wirtschaft und Politik die naheliegendste Position zu sein, wodurch sich umgekehrt die eigene Abständigkeit jedoch nur noch weiter verfestigte und zu einer antimodernen kulturkritischen Bastion stilisiert werden konnte. Die selbstgefällige konfessionelle Restaurationspolemik apostrophierte Holtzmann deshalb rückblickend als Ausgeburt einer zu Bestandssicherung und Erstarrung tendierenden Zeit, in der „jeder theologische Dilettant uns vordemonstrirte, daß die Kirche eben eine Gesellschaft sei, wie ein Museum, daher auch ihre Statuten habe, wie ein Museum; zu diesen Statuten gehören die vor dreihundert Jahren gemachten Bekenntnisse; also wer sie nicht glauben und verdauen mag, der soll austreten." 53 Nichtsdestotrotz sollte die engagierte konfessionell-lutherische Modernitätskritik selber durchaus einen beachtlichen Anteil an der Durchsetzung spezifisch moderner Kommunikationsstrukturen haben, insofern sie bei der Verfolgung ihrer Ziele
51 E. v. Hartmann, Die Selbst^erset^ung des Christentums und die Religion der Zukunft, Berlin 1874, S. 1, 6. Dazu außerdem A. Schweizer, Die Zukunft der Religion; in: ZWTH 20 (1877), S. 433-486. 52 H. Holtzmann, Die Kirche des XIX. Jahrhunderts, S. 214f., 220. 53 A. a. O., S. 214; vgl. ders., Ueber den gegenwärtigen Stand der Theologie und ihr Verhältniß zum wissenschaftlichen Bewußtsein der Zeit; in: Allgemeine kirchliche Zeitschrift! (1866), bes. S. 43f., ders., Kirchliche Theologie und kirchliches Leben; in: a. a. O., S. 246-255, sowie ders., Über Fortschritte und Rückschritte der Theologie unseres Jahrhunderts und über ihre Stellung %ur Gesammtheit der Wissenschaften, Strassburg 1878.
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zunehmend auf vereinsmäßige Interessenorganisation und kirchenpolitische Öffentlichkeitsbildung zu setzen begann.54 Historisch waren die gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse gezeichnet von einer Vielzahl kulturpolitischer und milieuspezifischer Interessenkämpfe, die paradoxerweise gerade eine deutliche Schwächung des politischen und kirchlichen Liberalismus zum Ergebnis hatten und in deren Konsequenz sich die gesellschaftliche „Versäulung" in binnenorientierte und gegeneinander abgeschottete Lager zusehends verfestigte.55 Polemisch resümierte deshalb der Hamburger Pfarrer Ludwig Heitmann (1880-1953): „Der religiöse Liberalismus, der von der völligen Befreiung des Einzelnen aus geistiger Bevormundung einen ungeahnten Aufschwung des religiösen Lebens erhoffte, hat die merkwürdige Uberraschung erlebt, daß als das Endergebnis der geistigen Befreiung die völlige religiöse Gleichgültigkeit heraussprang."56 Dissens und Dissoziation, Partikularität von Perspektiven und Pluralität von Interessen sowie nicht zuletzt religiöse Gleichgültigkeit und abnehmende kirchliche Verbindlichkeit beschreiben somit diejenigen Bedingungen, die nunmehr für die Kirche in ihrer institutionellen Sozialgestalt bestimmend wurden, auch wenn sie theologiepolitisch vielfach schwer zu akzeptieren waren. Die begrifflich junge, vor allem von Kant und Schleiermacher her geprägte Option für die Verflochtenheit von Religion und Kultur war dagegen niemals eine theologische Selbstverständlichkeit geworden, sondern blieb gerade angesichts der Frage nach der „Christlichkeit" der modernen Kultur ein strategischer Punkt der positionellen Binnendifferenzierung.57 So kritisierte der Tübinger Praktische Theologe und Religionspädagoge Christian Palmer (1811-1875)58 in seiner Auseinandersetzimg mit den polemischen Thesen Hermann Tegows, die sich gegen die auf dem ersten deutschen Prote54 Vgl. exemplarisch F. W. Graf, Die Spaltung des Protestantismus; in: W. Schieder (ed.), Reägion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 157-190. 55 Vgl. G. Hübinger, Hochindustrialisierung und die Kulturwerte des deutschen Lieberalismus; in: D. Langewiesche (ed.), Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 193—208; ders., Kulturprotestantismus, Bürgerkirche und liberaler Revisionismus im wilhelminischen Deutschland; in: W. Schieder (ed.), Reägion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 272-299; ders., Kulturprotestantismus und Poätik. Zum Verhältnis von Liberalismus und "Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994; D. Langewiesche, Art. „Liberalismus I. Historisch"; in: TRE Bd. 21, Berlin/New York 1991, S. 73-77. 56 L. Heitmann, Großstadt und Reägion 1. Teil, Hamburg 1913, S. 63. 57 Hierzu F. W. Graf/K. Tanner, Art. „Kultur II. Theologiegeschichtlich"; in: TRE Bd. 23, Berlin/New York 1990, S. 187-209; dies., Das religiöse Fundament der Kultur; in: R. Ziegert (ed.), Protestantismus als Kultur, Bielefeld 1991, bes. S. 21-39. 58 Zu Palmer vgl. C. Weizsäcker; in: JDTh 20 (1875), S. 353-370; J. Knapp; in: RE2 Bd. 11, Leipzig 1883, S. 708-720; H. Kremers; in: TRE Bd. 25, Berlin/New York 1995, S. 604-606.
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stantentag in Eisenach (1865) gehaltene Rede Richard Rothes richteten, daß sich die christliche Predigt viel zu oft - eben im Sinne einer „gemeinsamen Uncultur" - auf einen Boden mit der jeweilig vorhandenen „Gesammtbildung" begeben habe, und forderte demgegenüber eine kritische Differenzierung innerhalb des humanistischen Bildungsbegriffs: „Was das moderne Antichristenthum Bildung nennt, das ist nicht diejenige Summe von Wahrheitserkenntniß, von Macht über die Naturkräfte und von künstlerischer Production, die sich [...] mit demjenigen einigt und gegenseitig sich beleuchtet, was am Christenthum wesentlich unvergänglich, ewig ist. [...] die ächte Humanität ist uns auch das wahre Christenthum und umgekehrt. Das leugnet jene modernste Aufklärung."59 In Kontinuität solcher Auseinandersetzungen sollte das allseitig gewachsene Bewußtsein des Leidens am Verlust höherer Werte um die Jahrhundertwende einerseits zu einer gesellschaftskritischen Neuakzentuierung des Gegensatzes von Religion und Kultur im Sinne der Abständigkeit des Reiches Gottes, andererseits zu Versuchen einer bildungspraktischen Neubegründung der wechselseitigen religiös-kulturellen Verwiesenheit führen — letzteres vielfach unter Rückgriff auf die gemeinsame Verpflichtung gegenüber dem neuhumanistischen Erbe „idealer Güter", wie es beispielhaft der reformierte Dogmatiker Auguste Sabatier (1839-1901) in seinem kulturtheologischen Vermittlungsprogramm gefordert hat.60 Dabei wurde dem aus dem frühen 19. Jahrhundert überkommenen Kulturbegriff semantisch ein weitreichendes Integrationspotential zugeschrieben, in dessen Gefolge die christlich-religiöse Kultur zu einem theologischen „Leitbegriff zur Stiftung und Durchsetzung neuer Einheit"61 gemünzt werden konnte. Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang das von Rudolf Eucken (1846-1926) über Jahrzehnte fortgeschriebene philosophische Projekt einer begriffsgeschichtlichen, kritisch-analytischen Gegenwartsrekonstruktion, mit welchem das idealistische Erbe gegen seine positionelle Funktionalisierung bzw. dogmatische Fixierung wieder produktiv in Geltung gesetzt werden sollte. Dabei kam es Eucken darauf an, das Unabgegoltene idealistischer Wertorientierungen sowie deren zivilisationskritische Valenz nicht lediglich apologetisch zu behaupten, sondern 59 Chr. Palmer, Ueber die gegenseitigen Beziehungen zwischen der christlichen Predigt und der allgemeinen Cultur; in: MGEG 6 (1867), S. 9, 5. Vgl. H. Tegow, Die moderne Bildung und die christäche Kirche. Ein Sendschreiben an den Geheimen Kirchenrath Dr. Rothe in Heidelberg, Hamburg 1865; R. Rothe, Durch welche Mittel können die der Kirche entfremdeten Glieder ihr wieder gewonnen werden? [1865]; in: ders., Gesammelte Vorträge und Abhandlungen, Elberfeld 1886, S. 129-147. 60 Vgl. A. Sabatier, Die~R£Ügionund die moderne Kultur, Freiburg i. B./Leipzig/Tübingen 1898. 61 F. W. Graf, „Christliche Kultur"? Über die konfessionellen Kulturen in Europa des 19. Jahrhunderts; in: U. Barth/W. Grab (eds.), Gott im Selbstbewußtsein der Moderne, S. 186; außerdem ders., Konservatives Kulturluthertum; in: ZThK 85 (1988), S. 31-76; R. v. Bruch, Kulturstaat - Sinndeutung von oben?; in: ders./F. W. Graf/G. Hübinger (eds.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, S. 63—101.
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auch konkret in die weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Gegenwart hinein zu entfalten, wofür ihm insbesondere eine präzise Analyse der begrifflich-verdichteten Wirklichkeitsstrukturen die wesentliche Voraussetzung schien. Denn: „Die Sozialwissenschaft hat überzeugend gelehrt, daß wir moralisch an den Stand der gesellschaftlichen Umgebung gebunden sind; daß wir es auch intellektuell sind, zeigt nicht minder anschaulich die Begriffsforschung."62 Ihre Dringlichkeit verdankte solche Begriffsarbeit den nachhaltigen Veränderungen und Umbruchsbewegungen in der zeitgenössischen gesellschaftlichen Wirklichkeit, welche zunehmend vom Sog einer sich beschleunigenden Modernisierung bestimmt wurde: „Eine unermeßliche Fülle neuer Erfahrungen hat mit den alten Formen auch die alten Begriffe zersprengt."63 Zur Herausbildung einer wirklich „geistigen Moderne", zur Uberwindung des Verlustes an innerer Kraft und Substanz im geistigen Leben der Gegenwart bedurfte es folglich „eines energischen Kampfes einerseits gegen das Flachmoderne der bloßen Stimmung und des Augenblicks, andererseits gegen die Festlegung des Lebens an einen Punkt der Vergangenheit."64 Die Freiheit der Gegenwartsentwicklung sowie die Nötigung zu geistiger Erneuerung und Vertiefung sollten so gleicherweise in Geltung gesetzt werden. Doch war die faktische Leistung solcher Integrations- und Erneuerungsbestrebungen gleichwohl immer gerade nur so groß, wie die veränderten gesellschafdichen Bedingungen es noch zuließen - sie behielten vielfach einen lediglich programmatischen Charakter, wenn es darum ging, die ausdifferenzierten „Partialweltbilder" zu einer neuen Einheit hin aufzuheben.65 Denn mit dem Verlust einer übergeordneten, organisierenden Zentralperspektive war eine Mehrzahl normativer Begründungszusammenhänge freigesetzt worden, welche durchaus in wechselseitiger Abhängigkeit nebeneinander bestehen konnten.66 Die Beobachtung und Beschreibung der Gesellschaft als einer „sozialen Welt" brach sich nunmehr an gesellschaftsinternen Systemgrenzen, so daß der gesamte semantische Apparat von Einheit auf Differenz umzustellen war. „Damit entstehen innerhalb des Gesellschaftssystems Grenzen, an denen die Gesellschaft
62 R. Eucken, Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart, Leipzig 1878; Die Grundbegriffe der Gegenwart. Historisch und kritisch entwickelt, Leipzig 2 1893; Geistige Strömungen der Gegenwart, Leipzig 3 1904; 4 1909; 5 1916. Hier 2 1893, S. 4. 63 A. a. O., 2. Auflage, S. 12. 64 A. a. O., 3. Auflage, S. 280. 65 A. a. O., S. 5. Vgl. dazu F. W. Graf, Die Positivität des Geistigen; in: G. Hübinger/R. v. Bruch/F. W. Graf (eds.), Idealismus und Positivismus (Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 Bd. II), Stuttgart 1997, S. 53-85. 66 F.-X. Kaufmann, Kirche und Religion unter den Bedingungen von Modernität; in: H. May/K. Lorenz (eds.), Moderne und Religion. Loccumer Protokolle 26/1986, bes. S. 6, 20.
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sich selbst reflektieren kann."67 Auch weltanschauliche Integrations- oder Erneuerungsansprüche waren folglich von nur noch partikularer Reichweite - sie fanden ihre Grenze an der „Eigengesetzlichkeit" der ausdifferenzierten Subsysteme. Zugleich verlangten die „Auflösung des Gemeinschaftlichen ins Gesellschaftliche"68 sowie dessen zunehmende soziale und funktionale Ausdifferenzierung nach neuen Formen der institutionalisierten Konfliktregulierung: Die Konkurrenz sozialer Interessenlagen überlagerte zusehends den Diskurs idealer Uberzeugungen. Gesellschaftliche Fragmentierung, Formierung des politischen Parteiwesens und „sozialmoralische Milieubildung"69 sind von hier aus auch in theologischer Perspektive als legitimer Ausdruck der mit der De^entralität freigesetzten Konkurrenzsituation zu bestimmen, in der die unterschiedlichen Partikularinteressen nicht zuletzt durch ihre eigene Selbstverabsolutierung jene höhere Einheit verhinderten, die sie programmatisch noch anzustreben bemüht waren. Trotz einzelner restaurativer Tendenzen, die Kirche und christliche Tradition zur Stärkung und Neufimdierung konservativer sozialer Werte funktionalisieren wollten, war die schleichende Zunahme religiöser Indifferenz insgesamt kaum mehr zu übersehen, so daß der Leipziger Kirchengeschichtler Theodor Brieger (1842—1915) resigniert feststellen mußte: „Zur Signatur der Gegenwart gehört die fortschreitende Entfremdung von der Kirche."70 Doch auch wenn sich die Haltung der Kirche angesichts der religiösen Transformationsprozesse sowie der Herausbildung „moderner Ersatzreligionen" weitgehend in einer bestandsorientierten Defensivstrategie erschöpfte und sie mit ihren theologischen Deutungskategorien gemeinhin an den differenzierten Bedürfnis- und Plausibilitätsstrukturen der großen Mehrheit ihrer Mitglieder vorbeiging, so ist gleichwohl ihre religiöse Orientierungskraft zunächst nur wenig geschmälert worden: „Gewisse, ehedem durch die Religion befriedigte Bedürfnisse werden zwar längst auf prosaischere Weise viel besser befrie67 N. Luhmann, Die Ausdifferenzierung der Religion; in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik (Studien %ur Wissenssoqologie der modernen Welt Bd. 3), S. 262; dazu ders., Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition; in: a. a. O., Bd. 1, FrankRirt/M. 1980, bes. S. 25ff. 68 Vgl. F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887), Berlin 3 1920. 69 Vgl. M. R. Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft; in: G. A. Ritter (ed.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80. 70 T. Brieger, Die fortschreitende Entfremdung von der Kirche im Lichte der Gegenwart, Leipzig 2 1894, S. 7. Dazu L. Hölscher, Säkularisierungsprozesse im deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts. Ein Vergleich zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft; in: H.-J. Puhle (ed.), Bürger in der Gesellschaß der Neuheit (Bürgertum Bd. 1), Göttingen 1991, S. 238-258.
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digt; trotzdem haben Tausende von Menschen das bestimmte Gefühl [...], daß etwas fehlt, wenn der Kirchturm und das Kirchgebäude einstürzt, mag immerhin eine Universität oder ein Krankenhaus an die Stelle gebaut werden." 7 1 Denn im Prozeß gesellschaftlicher Differenzierung und religiöser Pluralisierung wird die Kirche zugleich als spezifisch religiöse Institution in neuer Weise erkennbar, weshalb es durchaus plausibel ist, hinsichtlich der Entwicklung unter modernen Bedingungen mit F.-X. Kaufmann von einem „Verkirchlichungsprozeß" zu sprechen: 72 „der sinkende gesellschaftliche Einfluß auf die ausdifferenzierten Teilsphären geht einher mit der Anerkennung der kirchlichen Organisation der Religion in Gestalt der Amtskirchen, deren Zuständigkeit aber auf religiöse Fragen beschränkt wird." 7 3 Ein besonderes Konfliktpotential bedeuteten die politischen und sozialen Modernisierungsoffensiven dabei für die katholische Kirche, die auf eine prinzipielle Modernitätsresistenz im Sinne einer kurial betriebenen Politik der „Weltverschlossenheit" setzte; trotz solcher kirchenoffiziell forcierten Tendenz zur mentalen Abschottung bzw. subkulturellen Ghettobildung hat die Moderne auch hier zu nachhaltigen Erschütterungen geführt, wie etwa die lehramtlichen Auseinandersetzungen um Reformkatholizismus und Modernismus zu zeigen vermögen. 74 Parallel haben die Bestrebungen zur Rekonfessionalisierung mit ihrer reaktiven Verstärkung 'katholisierender Tendenzen' 75 sowie die innerkirchliche Milieubildung des Verbands- und Vereinsprotestantismus in den evangelischen Kirchen ebenfalls faktisch zur weiteren Erosion der Integrationsansprüche traditioneller Kirchlichkeit geführt - in der Folge zudem flankiert durch die Pluralisierung freier religiös-kultureller Bewegungen einer äußerst produktiven weltanschaulichen Gegenwartskultur. „Insgesamt zeigt diese Entwicklung ein paradoxes Ergebnis. Es gibt zwar einen Säkularisierungsprozeß, der die abnehmende soziale Mächtigkeit der Religion, also ihres gesellschaftlichen Bezuges, sachgerecht bezeichnet. Aber parallel dazu findet die Institu71 B. Molden, Das religiöse Bedürfnis und der moderne Mensch; in: PrJ Bd. 141 (1910), S. 200; vgl. H. Mulert, Art. „Ersatzreligionen, moderne"; in: RGG1 Bd. II, Tübingen 1910, Sp. 493-497. 72 Vgl. F.-X. Kaufmann, Kirche begreifen, Freiburg u. a. 1979, S. lOOff. 73 H. Homann, 'Kulturprotestantismus' — Zum Problem moderner Religion; in: J. Bergmann/A. Hahn/T. Luckmann (eds.), Religion und Kultur, Opladen 1993, S. 175. 74 Vgl. E.-W. Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche und moderner Welt;
in: R. Koselleck (ed.), Stuäen %um Beginn der modernen Welt, bes. S. 171f.; B. Reardou, Art. „Modernismus"; in: TRE Bd. 23, Berlin/New York 1994, S. 129-138; O. Blaschke/F.-M. Kuhlemann (eds.), Religion im Kaiserreich (Religiöse Kulturen der Moderne Bd. 2), Gütersloh 1996, S. 57ff. u. a. m. 75 Dazu A. Harnack, Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus [1896]; in: ders., Reden und Aufsätze Bd. 2, Giessen 2 1906, S. 129-157; H. Holtzmann, Zur Lage des Protestantismus an der Jahrhundertwende; in: PrM 5 (1901), S. 41-56; F. W. Graf, Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreichs; in: ders., Profile
des neuzeitlichen Protestantismus 2/1, Gütersloh 1992, bes. S. 72-77. 28
tionalisierung der Religion statt, wie dies ähnlich für andere gesellschaftliche Funktionen in anderen Bereichen geschieht. Religion ist also gesellschaftlich als Legitimationsinstanz entmachtet, zugleich aber als religiöse Instanz anerkannt und auf diese Funktion festgelegt."76 Ein bedeutsamer Reflex dieser differenzierten „religiösen Lage" im ausgehenden 19. Jahrhundert war die Herausbildung einer modernen Religionssoziologie, die nicht mehr primär von einer quasireligiösen Entlarvungsideologie oder einem religionskritischen Aufklärungsethos bestimmt war, sondern deren Interesse in einer eigenständigen, empirischanalytischen Transformation ehedem ausschließlich religionswissenschaftlicher Fragestellungen lag — insbesondere in Richtung auf eine Analyse der sozialen Verankerung und gesellschaftlichen Funktion von Religion.77 Vorrangig ging es diesen Forschungsansätzen deshalb nicht um die Untersuchung von Kirchlichkeit oder Religiosität im engeren Sinn, sondern um die kritische Einholung weit grundsätzlicherer Perspektiven: Die Möglichkeitsbedingungen von ökonomischer Rationalität (Max Weber), die funktionale Stiftung von gesellschaftlicher Einheit und Integration (Emile Dürkheim) oder die analytische Rekonstruktion „religoider" Phänomene (Georg Simmel) waren die zentralen Reflexionsebenen solcher modernen soziologischen Theoriebildungen. Leitend war dabei die Einsicht in den konstitutiven Zusammenhang von sozialer und religiöser Praxis: „Es sind dieselben Beziehungswerte, die von ihrem sozialen Interesseninhalt gelöst und in die transzendente Dimension erhoben, Religion im engeren, selbständigen Sinne bedeuten."78 Religion wird hierbei begrifflich ablösbar vom Spektrum ihrer positiven Erscheinungsformen und kann in doppelter Hinsicht als analytische Kategorie entfaltet werden: Einerseits wird sie dechiffrierbar als Abbildung sozialer Wirklichkeit, so daß Religion „gewissermaßen in der Substantialisirung dessen bestände, was als Form und Funktion das Gruppenleben regulirt."79 Andererseits eröffnet solch ein funktionaler Religionsbegriff gleichsam den Blick zurück in die soziale Welt und die ihr impliziten protoreligiösen Dimensionen - dorthin also, „wo innerhalb der Wechselbeziehungen zwischen Menschen Fragmente des religiösen Wesens — sozusagen: der Religion, 76
H. Homann, 'Kulturprotestantismus' - Zum Problem moderner Religion,
S. 176. 77 Dazu H. Tyrell, Von der „Soziologie statt Religion" zur Religionssoziologie; in: V. Krech/H. Tyrell (eds.), Reägionssoqologie um 1900, Würzburg 1995, S. 79-127; V. Krech/H. Tyreil, Reiigionssoziologie um die Jahrhundertwende; in: a. a. O., S. 11-78. Außerdem O. Lempp, Das Eindringen der Soziologie in die Religionswissenschaft; in: Die Geisteswissenschaften 1 (1914), S. 436-439. 78 G. Simmel, Die Reägion p i e Gesellschaft; Bd. 2), Frankfurt a. M. 1906, S. 25. 79 G. Simmel, Zur Soziologie der Religion [1898]; in: GSG Bd. 5, Frankfurt/M. 1992, S. 280.
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bevor sie Religion ist - entstehen [...]."8° Stellt man sich von hier aus dem theologischen Fundamentalproblem, „wie denn dem unverloschenen Bedürfnis nach religiösen Werten ein Sinn und eine Erfüllung zukommen könne, wenn kein einziger der Inhalte, die es bisher befriedigten, diesen Dienst länger zu leisten vermag - so dämmert die Möglichkeit auf, daß die Religion sich aus ihrer Substanzialität, aus ihrer Bindung an transzendente Inhalte zu einer Funktion, zu einer inneren Form des Lebens selbst und aller seiner Inhalte zurück- oder emporbilde."81 Trotz der zunehmenden Bedeutsamkeit individueller, gleichsam privatisierter religiöser „Symbole"82 ist gleichwohl die Rede vom „Christentum außerhalb der Kirche"83 niemals in der Weise bewahrheitet worden, daß sich dauerhafte neue Sozialformen des christlichen Glaubens herausgebildet hätten, wie es beispielhaft noch der einflußreiche Praktische Theologe Martin Schian (1869-1944)84 als zukünftige Entwicklung erwartet hatte: „Das Verständnis für Religion, auch für christliche Religion, scheint heut im Wachsen zu sein; dasjenige für die Kirche ist sicher im Abnehmen. Man kann den Eindruck gewinnen, als werde die christliche Religion sich behaupten, aber nur, wenn sie ihre kirchliche Einkleidung preisgibt."85 Essentielle Inhalte des Christentums diffundierten zwar in neue gesellschaftliche Praxiszusammenhänge, doch Christlichkeit, wie individualisiert oder distanziert auch immer, blieb weiterhin an die Kirche, zumindest eben an die Kitchznmitgliedschaft, gebunden. Mit der Schaffung der rechtlichen Grundlagen für den Kirchenaustritt ins „religiöse Nichts" - in Sachsen 1870, in Preußen 1873, reichsweit 1874 - war diese Verbindung zwar keine Staadich verordnete mehr, doch blieb die Zahl der faktischen Austritte bis etwa 1905 auf einem sehr niedrigen Niveau und stand insofern äußerlich im Kontrast zu der hochschlagenden Debatte über die Zukunft der Kirche. Im Gefälle der bis dahin ungekannten Säkularisierungstendenzen extrapoliert denn auch Otto Baumgarten aus seinen Beobachtungen zur kirchlich-christlichen Lage der Gegenwart, „daß das Christentum] in der Zukunft eine ganz A. a. O., S. 268. Vgl. dazu T. Luckmann, Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, Freiburg/Br. 1963; ders., Religion in der modernen Gesellschaft; in: J. Wössner (ed.), Religion im Umbruch, Stuttgart 1972, S. 3-15. 81 G. Simmel, Das Problem der religiösen Lage; in: W. Dilthey u. a., Weltanschauung, Berlin 1911, S. 337. 82 B. Molden, Das religiöse Bedürfnis und der moderne Mensch, S. 218ff. 83 Vgl. T. Rendtorff, Christentum außerhalb der Kirche, Hamburg 1969. 84 Vgl. J. Steinbeck, In memoriam Martin Schian; in: ThLZ 69 (1944), Sp. 192; unrichtig K.-G. Wesseling, Art. „Schian, Martin"; in: BBKL Bd. 9, Herzberg 1995, Sp. 185. 85 M. Schian, Wird „Kirchenlose Religion" das Schlagwort der Zukunft sein?; in: PrKZ 6 (1910), Sp. 105. 80
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andere Stellung einnehmen wird als in der Vergangenheit: aus einer allgemeinen, selbstverständlichen, der Mehrzahl aber nur von oben oder unten aufgenötigten Institution wird es zu einer frei angebotenen, frei, ob auch unter Suggestionen angenommenen, der Mehrzahl ihrer Bekenner innerlicher nahe tretenden Geistesmacht werden. Mit der Illusion, als ob alle Menschen religiös veranlagt seien, wird gebrochen werden; aber die Einsicht in den Minoritätscharakter christlicher Innerlichkeit wird zusammenstimmen mit der Lebenserfahrungjesu." 86 Dabeiwaren jedoch auch in Baumgartens Perspektive für eine reflektierte Beurteilung der Entwicklung „Verfall" und „Veränderung" kategorisch zu unterscheiden, um nicht einer pessimistischen oder sozialkonservativen Restaurationsideologie zu verfallen. Denn: „Es ist in der That eine faktische Geschichtsfälschung, nicht blos eine chimärische Hoffnung, wenn man das Christentum für unser Volksleben ^wmvfcerobern will, da man damit etwas wieder haben will, was gar nie gewesen ist." 87 Für eine differenzierte Analyse der Lage des Christentums in der Gegenwart sei vielmehr „gegenüber einer romantischen Idealisierung der Vergangenheit" zunächst herauszustreichen, daß zeitgenössisch zwar die Kirchenentfremdung oftmals enorme Ausmaße angenommen hat, zugleich jedoch auch „die Intensität der christlichen Innenkultur steigt und die Maßstäbe der Selbst- und Weltbeurteilung sich verfeinern." 88 D o c h bereits die ersten „Austrittswellen" 89 in der Zeit von 1906 bis 1914 machten deutlich, welche gesellschaftspolitische Sprengkraft mit der Frage des Kirchenaustritts verbunden war: Der prinzipielle Streitpunkt lag dabei in einer vermeintlich unzureichenden Trennung von Staat und Kirche, weshalb gerade das preußische Schulunterhaltungsgesetz von 1906 zu einer erheblichen Ausweitung der Austrittspropaganda fuhren sollte. Diese erhielt ihrerseits ihre massenwirksame, alltagspraktische Plausibilität durch die neuerlichen finanziellen Belastungen, die mit der Einführung der Kirchensteuer bzw. der Offenlegung der Lohnlisten ver-
86 O. Baumgarten, Art. „Christentum. Seine Lage in der Gegenwart"; in: RGG1 Bd. I, Tübingen 1909, Sp. 1690. 87 O. Baumgarten, D. Sulze's Evangelische Gemeinde; in: ZprTh 14 (1892), S. 263. Dazu H. Mulert/O. Baumgarten, Art. „Kirchlichkeit"; in: RGG1 Bd. III, Tübingen 1912, Sp. 1482-1494. 88 O. Baumgarten, Art. „Christentum. Seine Lage in der Gegenwart", Sp. 1682. 89 Vgl. W. Schneemelcher, Austritte aus der Landeskirche; in: EvSo% 18 (1909), S. 395-397, 19 (1910), S. 25-29, 57-64, 156-164; E. Bittlinger, Vom Kirchenaustritt in Berlin; in: a. a. O. 22 (1913), S. 290-303, 325-333; H. D. Ermel, Die Kirchenaustrittsbewegung im Deutschen Reich 1906-1914, Diss. Köln 1971; A. Feige, Art. „Kirchenentfremdung/ Kirchenaustritte"; in: I R E Bd. 18, Berlin/New York 1989, S. 5 3 0 535; K.-W. Dahm, Art. „Kirchenmitgliedschaft"; in: a. a. O., S. 643-649. Eine qualitativ neue Situation hat sich demgegenüber erst mit den sprunghaft angestiegenen Austrittszahlen nach 1918 eingestellt.
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bunden waren.90 Kirchliche Entfremdung, politischer Protest sowie ökonomischer Druck ergänzten sich so wechselseitig zu einem Motivbündel, das allenfalls sekundär von weltanschaulicher Kirchenkritik verstärkt und parteipolitisch instrumentalisiert wurde. Nicht nur in der weltanschaulichen Programmatik der Sozialdemokratie, sondern auch auf der Ebene der lebensweltlichen Anschlußfähigkeit schienen Religiosität und Kirchlichkeit folglich zu einer bloßen „Privatsache"91 zu werden und einer latenten alltagspraktischen Vergleichgültigung anheimzufallen: „unbewusstes Christentum, ein letztes Abendrot eines christlichen Sonnentages, ist die Grundstimmung. Was vorwärts strebt und seines Strebens sich bewusst ist oben wie unten, ist der Kirche, der Hüterin des Bleibenden, der Tradition, entfremdet, begnügt sich höchstens mit religiösen Stimmungen."92 Wenngleich das Phänomen der religiösen Indifferenz, der Zunahme von Unkirchlichkeit und Gleichgültigkeit im Sinne eines bestenfalls wohlmeinenden Desinteresses, kirchlicherseits mit besonderer, durchaus auch selbstkritischer Sensibilität wahrgenommen wurde, so konnte es dennoch nicht damit getan sein, Bruchstücke einer populär-zeitgeistanalytischen Gegenwartskritik zu einer simplifizierenden „Selbstbiographie der religiösen Gleichgültigkeit"93 zusammenzufügen und diese polemisch gegen die volkskirchliche Wirklichkeit zu wenden. Entgegen der verbreiteten Tendenz, die „Schuld" für die Entkirchlichung nur bei den gleichgültig gewordenen modernen Zeitgenossen zu suchen, spricht vieles dafür, die Entfremdungsprozesse zwischen Kirche und Kirchenmitgliedern als ein wechselseitiges Geschehen zu interpretieren: Wie die Kirchenmitglieder unter den Bedingungen von Modernität aus ihren traditionalen sozialen Verankerungen herausgelöst wurden und in ein „distanziertes" Verhältnis zu Kirche und Tradition ge90 Hierzu J.-C. Kaiser, Sozialdemokratie und „praktische" Religionskritik; in: ASo^G 22 (1982), bes. S. 277ff. 91 Zur theologischen Diskussion dieser sozialdemokratischen Formel aus dem Erfurter Parteiprogramm von 1891 (zuerst Gotha 1875) vgl. P. Graue, Ist Religion Privatsache?; in: PKZ 38 (1891), Sp. 1037-1043, 1053-1061; H. Duntze, Religion ist Privatsache; in: BGl 36 (1900), S. 3-32; P. Göhre, Die Kirche im 19. Jahrhundert, Berlin 1902; ders., Die neueste Kirchenaustrittsbewegung aus den Landeskirchen in Deutschland, Jena 1909; außerdem J.-C. Kaiser, Organisierte Religionskritik im 19. und 20. Jahrhundert; in: ZRGG 37 (1985), S. 203-215. 92 O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 5 (1905), S. 46. Anders dagegen J. Wendland, Die Wandlung religiöser Stimmung im Laufe des 19. Jahrhunderts; in: PrJ 121 (1905), S. 446: „Das germanische offene weltfreudige Christentum, das in der Entfaltung der edelsten menschlichen Kräfte die Offenbarung des Göttlichen sieht, hat noch eine große Zukunft. Dies Christentum ist kein Fremdkörper im Kulturleben der Gegenwart; es ist geeignet, unserem gesamten geistigen Leben Halt und Weihe, Richtung und Vertiefung zu geben." 93 F. Hashagen, Der gegenwärtige Kampf der speäellen Seelsorge mit der religiösen Gleichgiiltigkdt, Eisenach 1897, S. 11.
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rieten, so hatte umgekehrt die gesellschaftliche Differenzierung ihrerseits zu einer Partikularisierung der Kirche geführt, in deren Gefolge diese sich zusehends von ihren eigenen Mitgliedern entfernte.94 Angesichts der Dekomposition und Transformation des christlichen Traditionsbestandes lautete deshalb die bündige Feststellung des langjährigen Heidelberger Systematikers Ernst Troeltsch (1865-1923) zur kirchlich-religiösen Tektonik der Jahrhundertwende: „Die moderne Welt ist eine schwere Religionskrisis [...]."95 Es bleiben zwar „überall große, einflußreiche christliche Volksmassen; aber ihre Christlichkeit ist eine sehr vielspältige, und das Christentum kann nicht mehr als die Uberzeugung der Gesamtbevölkerung angesehen werden [,..]."96 Zudem hatte der neuzeitliche Prozeß der „Verinnerlichung und Individualisierung" bzw. „Subjektivierung und Entkirchlichung"97 von Religion die liebgewonnenen dogmatischen Denkmuster der Vergangenheit desavouiert und verlangte nunmehr nach neuen theologischen Interpretationsleistungen, welche die „Selbständigkeit der Religion" auch unter den Bedingungen eines wissenschaftlich-empirischen Wahrheitsbewußtseins aufzuzeigen vermochten. Aufklärung und geschichtliche Relativität hatten deshalb den theologischen Ausgangspunkt zu bilden, wenn es darum ging, unter spezifisch neuzeitlichen Reflexionsbedingungen die Anschlußfähigkeit des christlichen Glaubens gegenüber den theoretischen und praktischen Anforderungen der Gegenwart wieder herzustellen: „Es ist daher die Aufgabe der Theologie, die von diesen grossen Umwälzungen unseres Weltbildes ausgehenden charakteristischen religiösen Stimmungen in den christlichen Gottesglauben einzuschmelzen, den engen und kleinlichen Anthropocentrismus zu überwinden und die heilige göttliche Liebe auch in diesem so unendlich vergrösserten Weltall zur Empfindung zu bringen. [...] Die Religion ist nie todt und fertig, sondern hat auf immer neue Probleme Antwort zu geben, auf immer neue Zustände oder Erkenntnisse zu reagiren, und sie wird das um so energischer und lebendiger thun, je tiefer und umfassender sie das ganze innere Leben ergriffen hat. Was daher im praktischen Le94 Vgl. z. B. R. Todt, Die Ursachen der Unkirchüchkeit und ihn Abhilfe (ZCVL VIII/6), Heilbronn 1883; A. W. Hunzinger, Wesen und Entstehung der modernen Unkirchüchkeit; in: Konservative Monatsschrift 71/1 (1913/14), S. 195-211. Dazu J. Matthes, Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, Hamburg 1964; V. Drehsen, Erosion - Auswanderung - Selbstparalysierung. Vermutungen über Schwund und Distanz protestantischer Kirchenbindung; in: F. W. Graf/K. Tanner (eds.), Protestantische Identität heute, Gütersloh 1992, S. 205-222, 293-297. 95 E. Troeltsch, Das Wesen des modernen Geistes [1907]; in: ders., GS Bd. IV, Tübingen 1925, S. 329; vgl. ders., Art. „Protestantismus: II. Protestantismus] im Verhältnis zur Kultur"; in: RGG1 Bd. IV, Tübingen 1913, Sp. 1912-1920. 96 E. Troeltsch, Art. „Neunzehntes Jahrhundert", S. 259. 97 E. Troeltsch, Theologie und Religionswissenschaft des 19. Jahrhunderts; in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1902, S. 97.
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ben beständig aus dem Stegreif oder unter der Nötigung persönlicher Erfahrungen geschieht, die Einschmelzung der vom modernen Weltbild sich ablösenden religiösen Stimmungen in die uns überkommene Frömmigkeit, das muss die Theologie prinzipiell unternehmen."98 Konsequenterweise scheute sich Troeltsch auch nicht, um dieser Praxisund Gegenwartsorientierung willen der Dogmatik jeden (vermeintlichen) Absolutheitscharakter abzusprechen und ihr statt dessen lediglich den Stellenwert eines „Vorschlages zu geordnetem religiösen Denken" zuzuerkennen, welcher Anleitung für Predigt und Unterricht geben soll: „So ist die Dogmatik ein Stück der praktischen Theologie und keine eigentliche Wissenschaft."99 In seiner „Analyse der konkreten gegebenen Verhältnisse und der in ihnen liegenden Möglichkeiten und Interessen" hat Troeltsch sodann einer „elastisch gemachten Volkskirche" die größten Integrationschancen eingeräumt, doch war er sich der begrenzten Reichweite traditioneller öffentlicher Religion durchaus bewußt: „Die große moderne religiöse Bewegung, das wiedererwachte Religionsbedürfnis, bewegt sich außerhalb der Kirchen und zumeist auch außerhalb der Theologie." 1 ^ Einige wenige Stimmen nur - wie etwa der langjährige Direktor des Wittenberger Predigerseminars Emil Quandt (1835-1911) oder der Frankfurter Pfarrer und Mitherausgeber der Zeitschriftfür praktische Theologie Karl Teichmann (1837—1906) — mahnten denn auch zu einer gewissen Gelassenheit gegenüber den kirchlichen Dissoziationserscheinungen, die für eine wirkliche Reflexion der genannten Phänomene gerade vonnöten wäre: „Ein Volk verliert doch seine religiöse Eigenart nicht in fünfzig oder hundert Jahren. Das deutsche Volk mit seinem tiefen Gemüt und E. Troeltsch, Die wissenschaftliche Lage und ihre Anforderungen an die Theologie, Tübingen 1900, S. 55. Dazu vgl. ders., Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft [1908]; in: ders., GS Bd. II, Tübingen 1913, S. 193-226; H. J. Birkner, Glaubenslehre und Modernitätserfahrung. Ernst Troeltsch als Dogmatiker; in: F. W. Graf/H. Renz (eds.), Umstrittene Moderne, S. 325-337; V. Drehsen, Art. „Neuprotestantismus"; in: TRE Bd. 24, Berlin/New York 1994, S. 363-383. 99 Vgl. E. Troeltsch, Die Dogmatik der religionsgeschichtlichen Schule [1913]; in: ders., GS Bd. II, S. 515; dazu W. Grab, Dogmatik als Stück der Praktischen Theologie; in: ZThK 85 (1988), bes. S. 484ff.; ders., Liberale Theologie als Theorie volkskirchlichen Handelns; in: H. Renz/F. W. Graf (eds.), Liberale Theologie. Eine Ortsbestimmung (Troeltsch-Studien Bd. 7), Gütersloh 1993, S. 127-148. 1 0 0 E. Troeltsch, Die Kirche im Leben der Gegenwart [1911]; in: ders., GS Bd. II, S. 108,105; ders., Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart [1903]; in: a. a. O., S. 21. Dazu vgl. den „Kommentar" von V. Drehsen, Zeitgeistanalyse und Weltanschauungsdiagnostik in kulturpraktischer Absicht; in: Mitteilungen der ErnstTroeltsch-Gesellschaft VIII, S. 3-31, sowie ders., Das Gespenst der Beliebigkeit; in: ders., Wie reBgionsfähig ist die Volkskirche?, Gütersloh 1994, S. 250-285; K. Fechtner, Volkskirche im neuzeitlichen Christentum (Troeltsch-Studien Bd. 8), Gütersloh 1995. 34
dem idealen Bedürfiniss kann nicht über Nacht ein irreligiöses Volk werden." 101 Doch sicherlich waren nunmehr die Bedingungen für zukünftige Entwicklungen geschaffen, die die bisher angelegten Tendenzen der Kirchenentfremdung noch verschärfen konnten. Insofern verlangten die lebensweltlichen und gesellschaftsstrukturellen Wandlungsprozesse konzeptionell nach einer entsprechenden Modifikation des kirchlichen Handelns in Richtung auf eine bewußt volkskirchliche Handlungsorientierung, welche sich als praktisch-theologischer Reflex auf den neuzeitlichen „Massenabfall" zu verstehen hätte: „Massenabfall nicht vom bewussten, 'eigentlichen' Christentum, sondern vom Gang- und Gäbe-Christentum, Massenabfall in Unglauben und praktischen Materialismus, in selbstzufriedenen Idealismus und nie zufriedenen Sensualismus."102 Solche von Baumgarten anvisierte „volkskirchliche Wirkungsweise" fand ihren legitimen Grund in der veränderten Lebenswelt sowie in der modernen weltanschaulichen Pluralisierung, unter deren Bedingungen die christliche Verkündigung nunmehr ihre zeitgenössische Gestalt gewinnen sollte. Weder Untergangsstimmung noch Beschwichtigung oder Beschönigung waren deshalb gefragt, sondern eine kritische Analyse der kirchlichen Wirklichkeit sowie die Bereitschaft zu Neuorientierung und praktischer Innovation. 1.3. Lebendige Gemeinden ? Mit den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen in Deutschland waren neue soziale Lebensräume entstanden, deren Strukturen sich weitgehend außerhalb der traditionalen Ordnungsmuster formierten: Geschichtliche und soziale Bindungen verloren ihre Prägekraft, ohne daß zugleich neue integrierende Instanzen an ihre Stelle getreten wären. Armut, Kriminalität und soziale Dekomposition schienen deshalb in zeitgenössischer Perspektive die wesentlichen Merkmale dieser „modernen" Lebenswelt zu sein, die sich vor allem in den neuen industriellen Zentren 101 K. Teichmann, Wandlungen in der sozialen Beurteilung der Gegenwart; in: ZprTh 17 (1895), S. 224; vgl. E. Quandt, Die Predigt des alten Evangeliums für das Geschlecht der neuen Zeit; in: HWDH 13 (1890), S. 29-41. Dazu G. Traub, Religion und Kirche; in: K. Seil u. a., Religion im Leben der Gegenwart, Leipzig 1910, bes. S. 88: „Millionen verlernen Bedürfnisse, die bisher gepflegt worden sind, doch nicht im Handumdrehen." 102 O. Baumgarten, Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens" in der praktischen Theologie; in: ZprTh 14 (1892), S. 58. Denn: „Das ist doch unleugbar, dass Zusammenballung des sporadischen Abfalls in Massenentfremdung, dass der massenhafte Uebergang vom unbewussten, latenten, indifferenten Christentum zu bewusstem, dezidiertem, offenkundigem Nichtchristentum eine Erscheinung der Neuzeit ist." (ebd.)
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sowie im Umfeld der größeren Städte herauszubilden begann. Für die Kirche bedeutete diese Entwicklung einerseits einen sichtbaren Verlust an gesellschaftlicher Reichweite und Legitimationskraft, welcher auf eine kontinuierliche - und deshalb bedrohliche - Fortschreibung neuzeitlicher Säkularisierungsprozesse zu verweisen schien. Andererseits konnten kirchlich gesonnene Kräfte unter den aufgesprengten Gegenwartsbedingungen auch traditionelle Aufgabengebiete der christlichen Liebestätigkeit und Armenpflege in neuer Weise sich wieder zu eigen machen — gerade wenn es darum ging, die hohen sozialen Kosten des gesellschaftlichen Fortschritts humanitär und karitativ abzufedern. Denn die parochialen Strukturen der verfaßten Kirchen waren angesichts der anstehenden gesellschaftlichen Aufgaben offensichtlich überfordert, so daß das aufblühende freie christliche Vereinswesen ein beachtliches Potential an innovativer Kraft und diakonischem Engagement binden konnte. Von besonderer Bedeutung war hierbei die Arbeit der ursprünglich von Johann Hinrich Wichern (1808-1881) begründeten Inneren Mission, die der wachsenden sozialen Not im Geiste eines praktischen Christentums begegnen wollte und die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem ausdifferenzierten organisatorischen Netzwerk mit einer Vielzahl eigenständiger Fachverbände entwickelt hatte.103 Die breit gestreuten Zweckbestimmungen solcher Vereine gruppierten sich im wesentlichen um ein Motiv: die christliche Verantwortung gegenüber den gleichsam verlorenen Söhnen und Töchtern der Volkskirche sollte dafür Sorge tragen, daß die „Christlichkeit" des Volkes nicht zu einer hohlen, unverbindlichen Phrase würde. Zuspruch und Anspruch der Taufgnade sollten vielmehr ernstgenommen und in ihrem Verpflichtungscharakter für die Gemeinschaft sowie für den Einzelnen lebenspraktisch entfaltet werden: „Innere Mission ist der Weg von der empirischen Volkskirche zur Herausgestaltung und Durchführung der ideellen Volkskirche", welche als Bekenner- und Liebesgemeinschaft in das Gesamtleben des Volkes hineinwirken und alle schädigenden oder „vergiftenden" Einflüsse zurückdrängen sollte.104 103 Vgl. T. Schäfer (ed.), Die innere Mission in Deutschland, 5 Bde., Hamburg 1878— 1881; P. Wurster/M. Hennig, Was jedermann heute von der inneren Mission wissen muß, Stuttgart 1902; E. Beyreuther, Geschichte derDiakonie und Inneren Mission in der Neuheit, Berlin 3 1983; J. Albert, Art. „Innere Mission"; in: TUE Bd. 16, Berlin/New York 1987, S. 166-175; F. Green, Kirche in der werdenden Großstadt, Herzberg 1994; T. Strohm/J. Thierfelder (eds.), Diakonie im Deutschen Kaiserreich (1871-1918) (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschafdichen Instituts an der Universität Heidelberg Bd. 7), Heidelberg 1995. 1 0 4 F. Mahling, Die Entwicklung der Inneren Mission von ihren Anfangen bis zur Gegenwart; in: G. Füllkrug (ed.), Das Christentum der Tat, Berlin-Dahlem 2 1925, S. 5; vgl. ders., Die Kirche und ihre Friedensaufgabe im Volksleben; in: F. Thimme (ed.), Vom inneren Frieden des deutschen Volkes, Leipzig 1916, S. 218-226.
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Echte diakonische Hilfe konnte sich folglich nicht in fürsorglicher Unterstützung erschöpfen, sondern mußte den Ruf zu geistlicher Erneuerung und sittlicher Umkehr notwendig miteinschließen - eine Aufgabe, der sich neben den Vereinen der Inneren Mission insbesondere die neu aufkommenden Erweckungsbewegungen widmeten, indem sie - wie etwa der 1884 begründete Deutsche EvangeHsationsverein - unter Zuhilfenahme moderner Agitationsformen die biblische Botschaft den breiten entkirchlichten Massen wieder zugänglich machen wollten. Gegen solche „moderne geistliche Periergie und Polypragmosyne (Uber- und Vielgeschäftigkeit)"105 hatte der Tübinger Beck-Schüler Robert Kübel (18381894) seine sorgenvollen, 1888 zunächst anonym erschienenen Christlichen Bedenken vorgetragen und darin insbesondere vor der Gefahr einer neuen unchristlichen Weltförmigkeit gewarnt: „Die Nervosität unserer Zeit ist eine ihrer trosdosesten Krankheiten. Aber die chrisdiche Nervosität ist die schlimmste Spezies der Nervenkrankheiten, und sie herrscht vielfach im modernen Christentum. Psychisch und ästhetisch, ja oft sinnlich wird gewirkt, manchmal könnte man sogar an Fascinieren und geistliches Hypnotisieren denken."106 Auch Wilhelm Hönig (1840-1910), Stadtpfarrer in Heidelberg und langjähriger Herausgeber der Protestantischen Flugblätter, konnte nicht umhin, sich polemisch gegenüber diesen neuen Tendenzen moderner „Reich-Gottes-Arbeit" zu äußern, da er die mühsame, über Jahre betriebene eigene kirchenpolitische Arbeit im Protestantenverein nunmehr durch die Schnellebigkeit und Aggressivität der Zeitläufte unbilligerweise im Namen „moderner Seelsorge" überholt und entwertet sah: „Die Predigt ist im Preise gesunken, die 'Seelsorge', gestiegen, aber nicht mehr die gewöhnliche Seelsorge, die jeder ordentliche Seelsorger bis jetzt auch geübt hat, sondern eine energische, eingreifende, durchdringende Seelsorge: laufen von Haus zu Haus, Schriften verteilen, Sonntagsschule halten, Vereine aller Art gründen, alles in die geistliche Hand nehmen " 10 ? 105 Christücbe bedenken über modern christliches Wesen. Von einem Sorgenvollen, Gütersloh 2 1889, S. 94. 1 0 6 A. a. O., S. 17; vgl. H. Stuhrmann, Evangelisation - oder Seelsorge?; in: „Dienet einander!" 10 (1902), S. 105, für den die Evangelisation ein Produkt der „Modekrankheit der Nervosität" ist, die nunmehr „mit dem Zuge unheimlichen Hastens und Jagens auch das kirchliche Leben durchzittert". Differenzierend J. Müller, Die Evangeäsation unter den Entkirchlichten, Leipzig 1895; M. Schian, Die moderne deutsche Erweckungspredigt; in: ZThK 17 (1907), S. 235-269; ders., Art. „Evangelisation"; in: RGG1 Bd. II, Sp. 720-727; H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 113f. Außerdem C. Burk, Art. „Kübel, Robert"; in: RE3 Bd. 11, Leipzig 1902, S. 157-161; S. Eck, Art. „Kübel, 1. Robert Benjamin"; in: RGG1 Bd. III, Sp. 1790f.; K.-G. Wesseling; in: BBKL Bd. 4, Herzberg 1992, Sp. 737-740. 1 0 ? W. Hönig, Aus der Mode; in: PKZ 38 (1891), Sp. 35. Zu Hönig vgl. G. Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik, S. 65f.
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Deutlich weniger polemisch analysiert dagegen Otto Baumgarten das Aufkommen dieser neuen fundamentalistischen Evangelisationsbewegungen: „Überall, wo ein Zusammenbruch der Geschichte stattfindet, ein Zusammenbruch der individuellen Lebensgeschichte oder ein Bruch mit der Tradition des Volkes, des Standes, der Familie, überall, wo jemand durch die Rotation der großen Maschine der Gesellschaft als Atom zur Seite geschleudert ist, wo die Atomisierung der Gesellschaft vollendet ist, da ist solche evangelistische Rede wirksam wie ein starker Magnet auf zerstreute Eisenatome — eine amerikanische Methode, die aber überall da wirksam ist, wo die amerikanischen Voraussetzungen zutreffen: die Geschichtslosigkeit des einzelnen wie des sozialen Lebens, die Ablösung des Einzelnen als verwehendes Blatt vom Stamm des Volkes und des einzelnen Standes und Volkes vom Stamm der Kulturmenschheit. Und wer leugnet, daß es ungezählte Existenzen und Kreise gibt, die keine Geschichte haben?"108 Individualität und Sozialität schienen gleichermaßen korrumpiert und verlangten nach neuer, gemeinschaftlicher Fundierung — die nivellierende Vermassung und Atomisierung eines „rationalistischen und quantitativen Individualismus" sollte deshalb umgeformt werden in einen differenzierten „qualitativen Individualismus", der sich als solcher seiner solidarischen „Gesamtverantwortung" stets bewußt wäre. 109 In der Praktischen Theologie hat sich die sozialkritische Tendenz solcher Reformperspektiven in einer besonderen Konjunktur des Gemeindehc^iiis niedergeschlagen, der als Chiffre chrisdicher Erneuerung und theologischer Konzentration programmatisch entfaltet wurde und sich gleicherweise gegen das florierende Vereinswesen wie gegen den zunehmenden Verfall der überkommenen parochialen Ordnung richtete. Denn die Mobilisierung und Dynamisierung der Lebenswelt, wie sie mit den Modernisierungsschüben des 19. Jahrhunderts freigesetzt wurde, hatte vielerorts die Elastizitätsgrenzen der traditionellen Parochialstruktur gesprengt und damit der Forderung nach geisdicher Neubelebung und organisatorischer Neugründung von Gemeinden eine besondere Dringlichkeit verliehen: „Hier helfen alle Thesen und Hirtenbriefe nichts. Die Axt muß den Bäumen an die Wurzel gelegt werden." 110
1 0 8 O. Baumgarten, Predigt-Probleme, Tübingen/Leipzig 1904, S. 15. Und weiter: „Freilich evangelisch ist solche Methode kaum-, evangelisch heißt eben aristokratisch, vornehm." (ebd.) 1 0 9 E. Troeltsch, Art. „Neunzehntes Jahrhundert", S. 257. 1 1 0 C. Lülmann, Zur Frage der speciellen Seelsorge zumal in den Großstädten; in: PKZ 39 (1892), Sp. 364 (im Original gesperrt). Vgl. H. Schmidt, Die Pastoration der großen Städte; in: HWDH 1 (1878), S. 241-252; E. Zittel, Die EvangeL[¡sehen] Kirchengemeinden der größeren Städte, die freie Seelsorge und die Stadtmission, Karlsruhe 1890; H. v. Soden, „Und was thut die evangelische Kirche?" Erwogen angesichts der Rächstagsivahlen zumal in unseren Großstädten, Berlin 1890.
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Vor allem die Arbeit des gemeindepädagogischen Reformers und Publizisten Emil Sülze (1832-1914), seit 1876 Pfarrer in der Dresdener Neustadt, galt dem anspruchsvollen Ziel, der angeschlagenen Gemeindewirklichkeit wieder ein tragfähiges Gemeindeideal entgegenzusetzen und dieses für die konkrete gemeindliche Praxis zum Maßstab zu nehmen.111 Als Ort der religiösen Vertiefung und sozialen Erneuerung sollte die Gemeinde wieder zu einer wahrhaften „Gemeinschaft der Glaubenden" werden, individuelles Ethos und soziale Verbindlichkeit stärken und so qualitativ in die Gesellschaft ausstrahlen - zumal angesichts des wachsenden politischen Erfolgs der weltanschaulich konkurrierenden Sozialdemokratie. In diesem Sinne stellte Sülze programmatisch fest: „Wir bedürfen eines mächtigen Gegengewichts gegen die Verweltlichung der übrigen Lebensgebiete, die wir wahrlich nicht wieder hierarchisch knechten wollen, die wir aber durch den Eindruck des in seinen Gemeinden gegenwärtigen Christus zu ihrer ewigen Lebensaufgabe zurückrufen müssen."112 Soziale Atomisierung und Unverbindlichkeit sowie gemeindliche Passivität und volkskirchliche Versorgungsmentalität sollten gleicherweise durch echte, christlich gegründete Gemeinschaftsbildung im Sinne einer tatkräftigen Neubelebung der reformatorischen Rede vom „Priestertum aller Gläubigen" aufgehoben werden. Schafft lebendige Gemeinden! - so lautete folglich die Maxime Emil Sulzes, unter welcher christliche Verantwortung, brüderliche Nächstenliebe sowie die wechselseitige Pflege des persönlichen Glaubenslebens zu einer sozialintegrativen „Seelsorge Aller an Allen" 113 zusammengeführt werden sollte. Mit einer Reihe von Aufsätzen in der Protestantischen Kirchen^eitung und der Christlichen Welt sowie mit seinem weithin rezipierten Hauptwerk Die evangelische Gemeinde aus dem Jahre 1891 - das noch 1912 in einer überarbeiteten zweiten Auflage erschien - hat Sülze weit über seine gemeindliche Tätigkeit in Dresden hinaus die kritische Auseinandersetzung um Gemeindeaufbau und Gemeindearbeit unter modernen gesellschaftlichen 1 1 1 Zu Sülze vgl. W. Hoffmann; in: RGG1 Bd. V, Tübingen 1913, Sp. 1014f.; H. Matthes, Zur Feier des achtzigsten Geburtstags Emil Sulzes; in: MPTh 8 (1911/12), S. 210-214; ders., Lebendige Gemeinden; in: a. a. O., S. 303-308; W. Lorenz, Kirchenreform als Gemeindenform, Diss. Berlin 1981. Ein Rückblick Sulzes auf seine Lebensarbeit findet sich in den Verbandlungen der ersten und %weiten Konferen^fur evangelische Gemeindearbeit, Leipzig 1911, S. 95-97. 1 1 2 E. Sülze, Die Stellung der Kirchgemeinden zu den übrigen Lebensgebieten; in: PKZ 38 (1891), Sp. 8; vgl. H. v. Soden, Die Kirchengemeinde in ihrer sozialen Bedeutung; in: VESK 1 (1890), S. 15-35; K. Teichmann, Zur prinzipiellen Würdigung der gegenwärtigen Bestrebungen für soziale Organisation kleiner Gemeinden; in: ZprTh 14 (1892), S. 127-143. Kritisch G. Wächter, Und was tut die Kirche?; in: Der alte Glaube 5 (1903/04), Sp. 3-8. 1 1 3 So z. B. J. Kaftan in seinem Diskussionsbeitrag zu dem genannten Vortrag Hermann von Sodens; in: VESK 1 (1890), S. 38.
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Bedingungen beeinflußt; zu Recht ist er somit schon frühzeitig in den Rang eines „Pionirs der evangelischen Gemeindeorganisation" erhoben worden. 114 Dabei hatte vor allem das Anwachsen großstädtischer bzw. industriell dominierter Parochien zu amorphen Riesengemeinden Sulzes Dresdener Konzept überschaubarer und sozial verbindlicher „localer Gemeinden" innerhalb relativ kurzer Zeit zum Inbegriff der dringlich anstehenden Gemeindereform werden lassen: Seiner Forderung nach Einteilung der Massenparochien in fest abgesteckte Seelsorgebezirke, die organisatorisch durch die Ablösung der traditionellen Pfarrstellenstrukturen zugunsten geographisch abgegrenzter und zahlenmäßig auf höchstens 5000 Glieder beschränkter Gemeindebereiche mit jeweils einem Pfarrer geschehen sollte, kam ein unbestritten hohes Maß an Plausibilität zu. Hierbei wurden - in Gemeinden mit mehreren Geistlichen - auf dem Stadtplan spezielle Zuständigkeitsbezirke für die parochialen Amtsgeschäfte eingeteilt, um einerseits die eklatante Unterversorgung weiter Teile der Gemeinde einzudämmen sowie andererseits das Anwachsen modischer Personalgemeinden und die damit verbundenen finanziellen Ungleichgewichtigkeiten in der Pfarrerschaft zu unterbinden. Denn als „Kundenpastor" seines gemeindlichen Freundeskreises glich der Pfarrer in mancher Hinsicht einem „Gewerbetreibenden, der seine geistige Ware auf dem Markt der Konkurrenz feilbietet" 115 - aus ökonomischen Gründen kam es bei dem Verteilungssystem der pastoralen Amtsgeschäfte vor allem auf die „gute Beute" möglichst einträglicher Amtshandlungen an. 116 Umgekehrt gestattete die personelle und bauliche Situation in den Massenparochien vielfach nicht einmal mehr die Aufrechterhaltung traditioneller Volkskirchlichkeit: Trauungen mußten oftmals mit mehreren Paaren zugleich durchgeführt werden, Abendmahlsbesuche etwa am Karfreitag konnten mit stundenlangen Wartezeiten verbunden sein. Der kirchenreformerische Handlungsbedarf insbesondere in der Hauptstadt 114 T. Arndt, Sulze's Buch von der evangelischen Gemeinde; in: PKZ 38 (1891), Sp. 1132; vgl. P. Drews, Das kirchliche Leben der Evangetisch-Lutherischen Landeskirche des Königreichs Sachsen, S. 2 2 - 2 8 , 174—178; P. Grünberg, Art. „Gemeindearbeit und Gemeindeorganisation"; in: RE3 Bd. 23, S. 5 0 2 - 5 2 8 (Lit.!); Chr. Möller, Art. „Gemeinde I"; in: TRE Bd. 12, Berlin/New York 1984, bes. S. 324; ders., Lehre vom Gemeindeaußau Bd. 1, Göttingen 1987, S. 138ff.; G. Hübinger, Kulturprotestantimus und Politik, S. 219ff. 115 O. Baumgarten, Der Seelsorger unsrer Tage (Evangelisch-soziale Zeitfragen 1/3), Leipzig 1891, S. 12f.; zur Diskussion vgl. N. v. Ruckteschell, Personalgemeinde oder Lokalgemeinde, Hamburg o. J. [1897], der sich trotz der Kritik an den ökonomischen Mißverhältnissen gegen jeden „unevangelischen Parochialzwang" wendet. 116 Vgl E . Sülze, Die Erneuerung unseres kirchlichen Gemeindelebens; in: PKZ 36 (1889), Sp. 1199; ders., Feinde kirchlicher Gemeindebildung; in: PKZ 32 (1885), Sp. 753; ders., Die Verhältnisse der evangelischen Geistlichen; in: PKZ 35 (1888), Sp. 639-651.
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Berlin, aber auch in vielen anderen expandierenden Städten und Ballungsräumen des Deutschen Reiches war unübersehbar geworden und nötigte zu rascher administrativer Befassung mit der Neuorganisation der Gemeindestruktur.117 Die Leistung dieses - wesentlich durch E. Sülze inaugurierten - Innovationsprozesses für die funktionale Stabilisierung der Parochialverhältnisse faßt rückblickend der Frankfurter Pfarrer Willy Veit (1872-1940) zusammen, wenn er die zuverlässige seelsorgerliche Begleitung als die eigentliche berufliche Aufgabe des evangelischen Pfarrers herausstreicht: „Man hat ein Netz von Bezirken über die ganze Stadt gelegt; man hat damit jedem Einzelnen wieder seinen festen Platz gegeben; man hat ihn einem der vorhandenen Pfarrer zugewiesen und gesagt: siehst du, zu dem Mann gehörst du, zu dem gehst du in die Kirche, von dem läßt du deine Kinder taufen, an den wendest du dich, wenn dir Fragen und Zweifel kommen." 118 Doch die Aufteilung der Massenparochien bzw. Personalgemeinden in räumlich und zahlenmäßig begrenzte Seelsorgebezirke und ihre schließliche Umwandlung in neue Ortsgemeinden waren in Sulzes Konzept nur erste Schritte auf dem Weg hin zu einer alle Gemeindeglieder umgreifenden chrisdichen Lebensgemeinschaft. Zwar sollte die äußere Struktur der Kirche, insbesondere das landesherrliche Kirchenregiment, beibehalten werden, ihre innere Struktur hingegen sollte - einerseits durch Taufaufschub, andererseits durch Absonderung der Abendmahlsgemeinde - eine ernsthafte geistliche Erneuerung erfahren, damit verhindert würde, daß die überkommene Volkskirche unter den modernen Bedingungen zu ei-
117 Yg]. M. Rade, Die Berliner Kirchennot vor den Vereinigten Kreissynoden; in: ChW 3 (1889), Sp. 554—560; Anonym, Aus der Seelsorge in einer Großstadtgemeinde; in: AELKZ 25 (1892), Sp. 3-5, 28-30; T. Arndt, Gemeindeorganisation in Berlin; in: PKZ 37 (1890), Sp. 481^89, 497-511; ders., Die Einteilung der Parochien Berlins in Seelsorgebezirke; in: PKZ 39 (1892), Sp. 397-406, sowie die „Mittheilung des Konsistoriums zu Berlin vom 26. April 1893, betr. den Generalbescheid auf die Verhandlungen der Kreissynoden in Berlin von 1892, betr. die Errichtung von Seelsorgebezirken"; in: AKED 42 (1893), S. 443^47. Außerdem G. v. Loebell, Zur Geschichte der evangelischen Kirchengeminden Berlins während der Jahre 1875-1908, Berlin 1909; W. Ribbe, Zur Entwicklung und Funktion der Pfarrgemeinden in der evangelischen Kirche Berlins bis zum Ende der Monarchie; in: K. Elm/H.-D. Loock (eds.), Seelsom undDiakonie in Berän, S. 233-263. 1 1 ° W. Veit, Was soll der evangelische Gemeindepfarrer sein: Priester, Evangelist oder Seelsorger?, Gießen 1910, S. 55. Dazu Anonym, Aus Frankfurt am Main; in: PKZ 39 (1892), Sp. 602-606; K. Teichmann, Die Neugestaltung des evangelischen Kirchenwesens in Frankfurt a. M.; in: ZprTh 21 (1899), S. 289-330; ders., Das erste Jahr der Frankfurter evangelischen Gemeinden unter der neuen kirchlichen Verfassung; in: MKP 1 (1901), S. 242-249, sowie H. C. Stoodt, Formen kirchlicher Arbeit an der Schwelle von der Industrie- zur Risikogesellschaft; in: PTh 80 (1991), bes. S. 118-121.
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ner bloßen „Scheinkirche" würde.119 Die kleinen, nunmehr gleichsam durchsichtigen Gemeinden sollten zu einem festen Sozialverband zusammenwachsen, dessen „monarchische Spitze" der Pastor wäre. 120 Solche durch einen Pfarrer geführte Seelsorgegemeinden hätten sich unter der Obhut von Presbytern in seelsorgerliche Abteilungen zu gliedern, die als „Hausväterverbände" aufgrund der familialen und nachbarschaftlichen Bindungen die Aufgabe einer geordneten Seelsorge, d. h. einer wechselseitigen, in den Lebensalltag eingebundenen christlichen und sittlichen Erziehung, wahrnehmen würden - entsprechend der von Sülze verfassten Definition: ,,S.[eelsorgegemeinden] sind Kirchgemeinden, deren Mitglieder sich die Aufgabe gestellt haben, unter der Leitung ihres Pastors in aller inneren und äußeren Not einander beizustehen und sich gegenseitig für das Reich Gottes zu erziehen."121 Leitbild für die Sozialgestalt von Seelsorge war demnach nicht der Verein, sondern die Familie oder besser: ein vereinsmässiger Zusammenschluß, der sich in familialer Verbundenheit und wechselseitiger Verpflichtung zu einer festen Lebensgemeinschaft herausbildet. Denn nur in brüderlich-familialer Gemeinschaft kann die nötige Erziehungsarbeit geleistet werden, die für eine wirksame religiös-sittliche Persönlichkeitspflege erforderlich ist: „Jede christliche Familie ist die Verwirklichung des christlichen Gemeindeprincips im kleinen."122 Innerstes Ziel der Seelsorge ist die Ausbildung einer wahrhaft christlichen Persönlichkeit - gerade deshalb kann sie den Einzelnen nicht sich selbst überlassen, sondern muß ihn in eine verpflichtende und stützende Gemeinschaft stellen, an der sich sein eigenes Glaubensleben immer wieder neu entzünden kann: „Christentum ist Seelsorge. Seelsorge kann nur Sache der Gemeinde sein."123 Nicht ein Mehr an „Agitation"124, sondern nur eine qualitative Neuordnung der parochialen Organisation schien Vgl. E. Sülze, Die Berechtigung der Landeskirchen; in: ChW 7 (1893), Sp. 56. 120 Ygi e Sülze, Ermattung und Belebung der evangelischen Kirche; in: PKZ 33 (1886), Sp. 540; ders., Die evangeüsche Gemeinde, S. 85. Kritisch zur Einengung der Aufgaben eines „geistlichen Amts" auf die Tätigkeit von hauptamtlichen Pfarrern vgl. E. Chr. Achelis, Studien über das „geistliche Amt"; in: TbStKr 62 (1889), S. 7-79. 1 2 1 E. Sülze, Art. „Seelsorgegemeinden"; in: RGG1 Bd. V, Sp. 558; vgl. ders., Ein neues Problem und neue Bedenken; in: PKZ 39 (1892), Sp. 789, sowie ders., Die Reform der evangelischen Landeskirchen nach den Grundsätzen des neueren Protestantismus, Berlin 1906. Das Statut des Dresdener „Hausväterverbandes" findet sich in E. Sülze, Wie ist dem Mangel einer geordneten Seelsorge in der evangelischen Kirche abzuhelfen?; in: PKZ 35 (1888), Sp. 832f. 1 2 2 E. Sülze, Vereine oder Gemeinden?; in: PKZ 34 (1887), Sp. 380. Differenzierend E. Simons, Freikirche, Volkskirche, Landeskirche, Freiburg i. B./Leipzig 1895. 1 2 3 E. Sülze, Das Gemeindeprincip und das „unbewußte Christentum"; in: PKZ 119
y &i. i^. ^uwze, Ermattung und Belebung der evangelischen Kirche, Sp. 545. 42
deshalb in der Lage, die anstehende seelsorgerliche Rettungsarbeit in der Gemeinde wirkungsvoll voranzubringen. Als „religiöse Gesamtpersönlichkeit" sollte die Gemeinde wieder „chrisdiches Gemeindeehrgefuhl" sowie die Bereitschaft zu einer wechselseitigen und verbindlichen „Predigt Aller an Alle" entwickeln, wobei jedoch gerade von Sülze keinesfalls beabsichtigt war, mit diesem Schlagwort einer Uberbewertung der Predigt das Wort zu reden.125 Zutreffend faßt W. Hönig in seiner Kritik der Reformbestrebungen zusammen: „Nicht die Predigt ist die Hauptsache, sondern die Seelsorge, die Arbeit der Einzelnen an den Einzelnen, das hülfreiche Eingreifen der Kirche in aller Not des Lebens; aber diese Seelsorge darf nicht ein Missionar besorgen, sie kann auch der Pfarrer nicht allein besorgen, das ist Sache der ganzen Gemeinde."126 Die Intentionen des von Hönig vertretenen liberalen Protestantenvereins werden insofern aufgenommen und doch zugleich qualitativ weitergeführt: „Das Gemeindeprincip ist das Princip der Persönlichkeit."127 Die Vision, „lebendige, tathkräftige Gemeinden"128 im Stile patriarchalisch geführter christlicher Genossenschaften zu errichten, will das protestantische „Gemeindeprinzip" aus seiner verfassungsmäßigen Engführung bloß rechtlicher Selbstverwaltung herauslösen und endlich auch im geistlichen Leben der Kirche realisieren, indem es auf die seelsorgerliche Selbstverwaltung christlichen Gemeinschaftslebens und religiös-sitdicher Persönlichkeitsbildung ausgedehnt wird. Die oberste seelsorgerliche Aufgabe der Gemeinde besteht in ihrer Verantwortung für eine unablässige religiös-sittliche Erziehung aller Gemeindeglieder zu chrisdicher Vollkommenheit - doch unter den veränderten sozialen Bedingungen reicht dazu die Kraft der sonntäglichen Predigt bei weitem nicht mehr aus: „Die Anziehungskraft des einzelnen Predigers ist an die Stelle der festen Sitte getreten; aber sie kann nur eine Personalgemeinde, ein Publicum bilden. [...] Zum christlichen Leben muß der Mensch erzogen werden. Dazu gehört eine stetige, geordnete Einwirkung. Die aber ist an einen ab- und zuströmenden Publicum nicht zu üben." 129 Die moderne Zersplitterung des theoretischen und praktischen Lebens, wie sie im wissenschaftlichen „Cultus der Specialität" so-
1 2 5 E. Sülze, Die Fortbildung des kirchlichen Gemeindelebens; in: ChW 4 (1890), Sp. 441; ders., Die Erneuerung unseres kirchlichen Gemeindelebens, Sp. 1195f.; ders., Das Gemeindeprinzip und die Predigt; in: ChW 6 (1892), Sp. 6-10, 32-34, 4 3 47. 1 2 6 W. Hönig, Die Kirche des 19. Jahrhunderts; in: Protestantische Flugblätter 28 (1893), S. 81. 1 2 7 E. Sülze, Das Gemeindeprincip und das „unbewußte Christentum", Sp. 603; vgl. T. Arndt, Sulze's Buch von der evangelischen Gemeinde, Sp. 1129. 1 2 8 E. Sülze, Die evangelische Gemeinde, Gotha 1891, S. 3. 1 2 9 E. Sülze, Feinde kirchlicher Gemeindebildung, Sp. 743.
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wie in der „üppig wuchernden Schlingpflanze" humanitärer Wohltätigkeitsvereine sichtbar geworden sei, verlange vielmehr nach neuer geistiger „Centralisation" - nach Befriedung in einem sozialintegrativen Einheitspunkt, der Glauben, Wissen und fürsorgliches Handeln in ihrer Gleichursprünglichkeit zusammenzufuhren vermochte. 130 Dieser Punkt konnte nur in der Kraft persönlichkeitsbildender Gemeinschaften liegen — wenn der Seelsorge wieder eine wirklich eingreifende Qualität im Sinne gemeindlicher Erneuerung, sozialer Verbindlichkeit und wechselseitiger Erziehung zukommen sollte, dann hatte sie über bloße Wortverkündigung ebenso hinauszugehen wie über die vereinsmäßige Zuteilung von Unterstützungsleistungen im Sinne letztlich äußerlicher Reparaturanstrengungen. Denn: „Der Unterstützte bleibt bloßes Object der Vereinsbetätigung. Erziehung ist aber nur möglich durch Eingliederung in Gemeinschaften, sitdich-religiöse Erziehung durch Eingliederung also in sittlichreligiöse Gemeinschaften." 131 Der ungesunden „Begehrlichkeit" passiver Hilfeempfänger sollte durch sittliche Forderung und religiöse Vertiefung eine natürliche Grenze gesetzt werden, deren erzieherischer Wert bereits zur besonderen Qualität christlicher Gemeindeseelsorge gehörte. 132 Indem auf diese Weise die Vielgeschäftigkeit des florierenden Vereinswesens wieder „vergemeindlicht"133 würde, könnte zugleich der geistliche Substanzverlust der volkskirchlichen „Cultusgemeinde" zugunsten ihrer biblisch-reformatorischen Neufundierung überwunden werden — gerade das diakonische Engagement in der „Gemeindearmenpflege" könnte so dazu beitragen, daß die Gemeinden ihren GemeinschaftscYi-ztvktftr sowie ihr spezifisch christliches Profil zurückgewönnen und zu einem glaubwürdigen Ort der Evangeliumsverkündigung würden. Es gilt deshalb, „mit allen Kräften dahin zu arbeiten, daß die Gemeinden wirkliche Gemeinden werden, nicht bloße Parochieen, auch nicht bloße Cultusgemeinden, deren Gemeinschaftsleben sich auf den gemeinschaftlichen Sonntagsgottesdienst beschränkt, sondern Gemeinschaften von christlichen Brüdern und Schwestern, die für einander leben, mit einander arbeiten, einander dienen und helfen." 134 Gottesdiensdiche Feier und seelsorgerliche Verantwortung würden hier nicht länger in zwei von einander getrennte
1 3 0 Vgl. P. Graue, Die Erneuerung unseres kirchlichen Gemeindelebens nach den organisatorischen Reformvorschlägen des Pfarrer D. Sülze in Dresden; in: PKZ 37 (1890), Sp. 291 f. 1 3 1 A. a. O., Sp. 295. 1 3 2 Vgl. E. Sülze, Die Kirchgemeinden und die Wohltätigkeitsvereine; in: CbW A i, Sp. 550. T. Arndt, Zur Förderung des evangelischen Gemeindelebens; in: PKZ 32 (1885), Sp. 218. 1 3 4 G. Uhlhorn, Die kirchtiche Armenpflege in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, Göttingen 1892, S. 55.
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Handlungsebenen zerfallen, sondern erhielten ihre ursprüngliche Einheit zurück: „Zu einem vollständigen Gemeindeleben gehört, daß Cultus und Seelsorge in Wechselwirkung mit einander stehen wie Religion und Sittlichkeit."135 Die Aktivierung der gemeindlichen Kräfte sollte dabei neben einer Verlebendigung und Intensivierung der Gemeindearbeit zugleich eine Entlastung des Pfarrers herbeifuhren - insbesondere hinsichtlich der unvermeidlichen „Risiken" einer Seelsorgepraxis, die nicht auf wirklich persönlicher Vetrautheit gewachsen ist. Denn: „Der zu irgend einer Zeit vorhandene innere Zustand einer Seele ist das Resultat eines mannigfaltigen Entwicklungsganges. Ein einziges Wort, das gesprochen wird, eine einzige That [,] die hervorbricht, hat oft eine lange und zum grossen Teile unbekannte Geschichte. [...] Wie soll ich nun in die vielverschlungenen Gefühle, Gedanken und EntSchliessungen eines anderen erfolgreich eingreifen? Wer will sich getrauen, da, wo er Unordnung und Verwirrung in einer Seele wahrnim[m]t oder wahrzunehmen glaubt, mit Sicherheit Ordnung und Klarheit zu schaffen ohne psychologische Kenntnisse?"136 Unter besonderer Betonung dieser kommunikativen Verantwortung würdigt der sächsische Pfarrer Ernst Katzer (1839-1921) folglich auch vom „psychologischen Standpunkt" aus Sulzes Bestrebungen zur Ingeltungsetzung des protestantischen Gemeindeprinzips: Zwar dürfe die Gemeindeorganisation nicht gegen die Prinzipien der Wahlfreiheit oder gegen die Neigungen der „natürlichen" Gemeinschaftsbildung stehen, doch sei gerade deshalb daran festzuhalten, daß die gemeindliche Seelsorge nicht primär vom Pfarrer, sondern eben von in freier Freundschaft gewachsenen „Ständeversammlungen" am einfachsten und wirksamsten geleistet werden könne.137 Der Pfarrer hätte sich diesen gegenüber als eine lediglich begleitende und integrierende Instanz zu verstehen, welche aus dem gemeindlichen Hintergrund heraus zur unterstützenden Einflußnahme bereit wäre: „Das geisdiche Amt vertritt das religiöse Gedächtnis, die religiöse Apperception und Phantasie der Gemeindeseele."138 Doch mit den Erwartungen an eine religiös vertiefte, auf wechselseitige und persönliche Kenntnis sich gründende „Seelsorgegemeinschaft" werden zugleich die praktischen Grenzen des von Sülze propagierten Seelsorgemodells deutlich - paradoxerweise gerade angesichts seiner Intention, 1 3 5 E. Sülze, Zur Rechtfertigung meines Gemeinde-Ideals; in: PKZ 37 (1890), Sp. 172. Dazu vgl. ders., Die evangelische Gemeinde, S. 29—45, sowie das visionäre 'Bild der Gemeinde der Zukunft' bei P. Drews, Die evangelische Gemeinde; in: ChW 6 (1892), Sp. 784-787. 1 3 6 E. Katzer, Gemeindeprinzip und geistliches Amt; in: ZprTh 14 (1892), S. 227f. 1 3 7 Vgl. a. a. O., S. 222, 239. 1 3 8 A. a. O., S. 245.
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durch Aktivierung der Gemeindeglieder eine Umschichtung der traditionellen Gemeindestruktur zu erreichen: „Die Forderung einer intensiven Seelenpflege aller an allen als Auslegung des reformatorischen Gestaltungsprinzips des Priestertums aller Gläubigen entlastete den Pfarrer nicht, sondern mutete ihm eine um vieles größere Verantwortung zu. Der Einsatz für eine Erziehung aller - oder wenigstens der Hausväter — zur Befähigung zu intensiver Seelsorge, gedacht als persönliche Einwirkung auf einzelne andere, noch dazu unter Berücksichtigung der sozialdiakonischen Aspekte im Vorfeld der geistlichen Seelsorge, mußte als Uberforderung empfunden werden, zumal in einer Welt, die solche Forderungen ja gerade deshalb aufdrängte, weil sie so unüberschaubar und in den Abläufen der gesellschaftlichen Prozesse undurchsichtig geworden war."139 Seiner inhaltlichen Tendenz nach ist Sulzes Reformprogramm insofern konservativ-revolutionär. Seine Vorschläge implizieren zugleich die Aufhebung der überkommenen Bekenntnisverpflichtung und Katechismuspredigten als prinzipiellen Regelfall; sie wollen einerseits die Pfarrerwahl durch die Gemeinde einfuhren sowie die Arbeit der gewählten Kirchenvorstände und Presbyterien ausweiten und aufwerten, andererseits aber ausgerechnet den weiblichen Gemeindegliedem allenfalls als „helfende Hand" eine Rolle in der Organisationsstruktur dieser „lebendigen Gemeinden" einräumen - leitende Kompetenzen können ihnen gleichsam naturgemäß nicht zukommen.140 Die seelsorgerliche Arbeit soll einerseits - etwa mit Hilfe von Personalbögen und Gemeindeverzeichnissen - moderner und effektiver gestaltet werden, andererseits geht Sülze in seinem Gemeindekonzept davon aus, daß die soziale Not auch unter den Bedingungen der industriellen Moderne in sittlicher Verfehlung und persönlicher Schuld ihren wesendichen Ursprung hat. So ist es insgesamt nicht verwunderlich, daß Sulzes engagiertes Reformprogramm in Theologenkreisen keinesfalls nur ungeteilte Zustimmung erfuhr. Zwar hatten seine gemeindepädagogischen Leitgedanken ihren Ausgang bei fraglosen parochialen Mißständen genommen, wenn sie den Akzent auf funktionsuntüchtige Massengemeinden, pfarrherrliches Besitzstandsdenken oder die unzureichende Integrationskraft von Gottesdienst und Predigt legten — gravierende Unzulänglichkeiten der durch Modernisierung herausgeforderten kirchlichen Strukturen waren damit präzise benannt. Dagegen wurden seine konkreten Vorschläge zur Gemeindeerneuerung weitgehend kontrovers aufgenommen: „Sülze fordert freie Wahl der Pfarrer durch die Seelsorgegemeinde, daneben aber 139
R. Schmidt-Rost, Seelsorge ^wischen Amt und Beruf (APTh 22), Göttingen 1988,
S. 70f. 1 4 0 E. Sülze, Die evangelische Gemeinde, S. 37, 41; vgl. dazu E. Chr. Achelis, Rez. „E. Sülze, Die evangelische Gemeinde"; in: ThStKr 65 (1892), bes. S. 797.
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die 'blauen Briefe' der Kirchenbehörden, um die unbrauchbaren Pfarrer zur Disposition zu stellen, daneben auch das Lehramtsexamen der jungen Theologen vor ihrer Anstellung, damit sie infolge eines blauen Briefes ins Lehrfach übergehen könnten - , lauter undurchführbare Vorschläge, der eine noch unpraktischer als der andere."141 Als eine auf eklatante Mißstände reagierende „Zeiterscheinung"142 mochten Sulze's Reformgedanken deshalb ihre relative Berechtigung haben, doch konnten sie nicht immer der Gefahr der falschen Einseitigkeit oder praktischen Undurchführbarkeit entgehen. Insbesondere der von Sülze so in den Vordergrund gestellte „sitdiche Erziehungsgedanke" schien dem Prinzip der evangelischen Freiheit sowie dem Anspruch selbstverantworteter Glaubensmündigkeit fundamental entgegenzustehen. So hatte bereits Paul Kleinert (1839-1920), seit 1877 Ordinarius für Altes Testament und Praktische Theologie in Berlin und ab 1889 Mitherausgeber der pastoraltheologischen Zeitschrift „Ha/te was du hast", die in Sulzes Konzept immanente Tendenz zur Vereinnahmung des glaubenden Individuums einer nachhaltigen Kritik unterzogen: „Es ist 'sozial', es entspricht dem Zuge der Zeit, das Individuum in der Masse untergehn zu lassen und Idealen allgemeiner Beglückung nachzuhängen, wenn der einzelne nicht bloß, wie recht und billig, für die Bethätigung seines Glaubens in die Gemeinde gestellt, sondern auch für die Beseligung durch seinen Glauben von der Gemeinde abhängig gemacht wird; wenn planmäßige Zwecksetzung und ein als Gesetz gewertetes 'Lebensideal' an die Stelle gesetzt wird, wo wir die freie Dankbarkeit der Erlösten zu suchen gewohnt waren [...]."143 Denn insofern die Rede vom Priestertum aller Gläubigen auch dahingehend zu verstehen war, daß jeder einzelne in unmittelbarer Verantwortung zu seinem Gott stand und folglich „sein eigener Seelsorger" zu sein hatte, konnte wahrhaft evangelische Seelsorge durchaus gerade ein eher „zuwartendes" und lediglich subsidiäres Handeln bedeuten: „Der evangelische Pastor ist also nur in dem Sinne der Seelsorger seines mündigen Gemeindegenossen, dass er demselben mit Rath und That zur Seite stehen und auf dessen Wunsch in der eigenen Seelsorge nach Kräften un-
E. Chr. Achelis, Rez. „E. Sülze, Die evangelische Gemeinde", S. 792. J. Schmeidler, Zu Sulze's Rechtfertigung seines Gemeinde-Ideals; in: PKZ 37 i, Sp. 261. P. Kleinert, Die neue Theologie und die pastorale Praxis; in: HWDH 14 (1891), S. 2. Dazu vgl. K.-G. Wesseling, Art. „Kleinert, Paul"; in: BBKL Bd. 3, Herzberg 1992, Sp. 1595-1597; P. C. Bloth, Paul Kleinert und Friedrich Mahling; in: G. 141
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Besier/Chr. Gestrich (eds.), 450 Jahre Evangelische Theokgie in Berlin, Göttingen 1989, S. 349-361. 47
terstützen und so dienen soll."144 Dagegen drohten im Reformkonzept E. Sulzes die Herrschaftsmuster der traditionellen katholischen „Priesterhierarchie" in eine nicht minder autoritäre „Gemeindehierarchie" transformiert zu werden - jedenfalls sofern die anspruchsvolle Gemeindeseelsorge sich unter der Hand in „Gemeindechauvinismus" oder „Gemeindethyrannei" verwandeln sollte.145 Gegenüber solchen liberalprotestantischen Befürchtungen einer „latenten Katholisierung"146 haben Sülze und seine engagierten Mitstreiter immer nur ihr Unverständnis und Befremden zum Ausdruck bringen können: In ihrer Perspektive hatte vielmehr gerade die Aufsprengung und Zerstörung der gewachsenen Ordnungen zu neuer, sozialer und sittlicher „Knechtschaft" geführt, deren harter Realität sich die bürgerliche Kulturseligkeit schönfärberisch zugunsten einer wohlgefälligen Rede von der modernen „Autonomie der Lebensgebiete" verschlösse.147 Demgegenüber galt es Sülze, das christliche Gemeindeleben aus der allgemeinen „Sonnenuntergangsstimmung" bloß konventioneller religiöser Relikte und unbewußter Sedimente herauszureißen und in seiner persönlichkeitsbildenden Kraft sowie in seiner ethisch-sozialen Bedeutung neu zu entdecken. Insofern war seine Absicht, gemeindliche Kraftlosigkeit und religiöse Indifferenz an ihrem Ursprung zu fassen, gleicherweise gegen proletarische Verelendung wie gegen bürgerliche Privatisierung gerichtet: Angesichts der Erfahrungen von sozialer Dissoziation und Dekomposition sollte das ursprüngliche Gemeinschaftschristentum neu zum Leben erweckt werden, indem die Gemeinden sich auf die Prägekraft traditionaler Vergemeinschaftungsformen zurückbesinnen und diese erneut mit dem religiös-sittlichen Ernst eines wahrhaft christlichen Persönlichkeitslebens füllen. So rekapituliert Martin Schian zwanzig Jahre nach Sulze's evangelischer Gemeinde noch einmal nachdrücklich: „Wirkliche Gemeinden! Das also ist das Ideal, das uns vor Augen steht. Nicht Häusermassen, die einem Pfarrer zugeteilt sind. Nicht geordnete Zustände, in denen jeder weiß, von wem er seine Kinder taufen zu lassen hat. Nicht Arbeitsbezirke, in denen ein Pfarrer dem anderen nicht ins Gehege kommt. Nicht bloß Gemeinden, in denen ein paar Gemeindeglieder, halb willig, halb unwillig, sich dem Pfarrer für Krankenbesuche zur Verfügung halten. [...] Ge-
O. Riemann, Evangelische Gedanken über evangelische Seelsorge; in: ZprTh 12 (1890), S. 232 (im Original hervorgehoben). Vgl. J- Schmeidler, Berlin und das Gemeindeprincip von D. Sülze; in: PKZ 37 (1890), bes. Sp. 123-126; dagegen E. Sülze, Zur Rechtfertigung meines GemeindeIdeals, Sp. 176-180. 1 4 6 Vgl. K. Bonhoff, Kirchentum und Seelsorge; in: PrM 13 (1909), S. 435. 1 4 7 Vgl. E. Sülze, Die evangelische Gemeinde, S. 2f., 47. 144
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meinden wollen wir haben: das sind religiös-sittliche Gesinnungsgemeinschaften, in denen einer mit dem Andern sich verbunden weiß."148 „Selbsttätigkeit macht lebendig"149 - unter dieser Maxime bündelt M. Schian die Grundgedanken der Reformvorschläge Sulzes, durch welche das Potential einer wahrhaft protestantischen Gemeinde endlich zu sich selber kommen sollte und deren schließliche Umsetzung in die kirchliche Praxis Schian selber sich von der 1910 unter seiner Beteiligung ins Leben gerufenen Konferen^jur evangelische Gemeindearbeit erhoffte.150 Andere Stimmen haben mit gleicher Intention beispielsweise die Einrichtung „evangelischer Gemeindemuseen" gefordert, mittels welcher die Anschaulichkeit und Lebensnähe der kirchlichen Gemeindearbeit zeitgemäß unterstützt werden sollte.151 Dabei war die Prädominanz der Gemeindeorganisation jeweils nur äußerlich — durch die Verankerung des einzelnen Gemeindegliedes in einem parochialen Netzwerk sollte vor allem eine Stärkung des chrisdichen Verbundenheits- und Gemeinschaftsgefühls erreicht werden, ohne welche selbst die traditionelle „Kirchlichkeit" langfristig zu einem Minderheitenphänomen zu werden drohte: „In den Großstädten und ihren Vororten jedenfalls liegen heute schon für manche Stadtteile die Dinge so, daß der einzelne, wenn er nicht ein ungewöhnlich starker Charakter ist, ohne Rückhalt an einer wirklichen Gemeinschaft als Christ sich nicht behaupten kann." 152 Erforderlich war deshalb der Aufbau einer tragfähigen Plausibilitätsstruktur, die das eigentliche Ziel, die Erweckung und Erneuerung eines wahrhaft evangelischen Gemeindelebens sowie die Pflege eines mündigen, chrisdichen Persönlichkeitslebens, sozial abstützen sollte: „Die Gemeinden sollen nach unserm Ideal den Herd persönlicher religiöser Kräfte bilden, weil man ja doch seinen Glauben niemals aus sich und für sich allein hat. [...] Glaube erhält immer, solange er im Wachsen ist, seine Nahrung und seinen Halt
M. Schian, Gemeindereform - die Voraussetzung aller Kirchenreform; in: Verhandlungen der ersten und zweiten Konferensjur evangelische Gemeindearbeit, S. 25f. 1 4 9 Vgl. M. Schian, Die evangelische Kirchgemeinde, Gießen 1907, S. 4. 1 5 0 Das Grundlegende Programm dieser Konferenz findet sich in den Verhandlungen der ersten und $weiten Konferenz für evangelische Gemeindearbeit, S. 5f., eine Mitgliederliste des engeren sowie des weiteren Ausschusses der Konferenz in: a. a. O., S. 100. Dazu vgl. die Leitsätze zur Organisation der aktiven Gemeinde von N. v. Ruckteschell; in: a. a. O., S. 27f.; außerdem E. Simons, Die Bedeutung einer wahrhaft evangelischen Seelsorge für die Gemeinde der Gegenwart; in: PrM 15 (1911), S. 85-98. 1 5 1 Hierzu C. Moszeik, Das evangelisch-kirchliche Gemeindemuseum eine Forderung der Gegenwart, Groß-Lichterfelde/Berlin 1910. 1 5 2 E. Simons, Art. „Gemeinde (Einzelgemeinde), kirchliche"; in: RGG 1 Bd. II, Sp. 1252f. 148
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von Gemeinschaften, von Sitten und Gewohnheiten her. Er lebt vom 'man', von der Umgebung."153 Doch ist Sulzes sozialkritisches Innovationsmodell gleicherweise durch die unstrittige Wahrnehmung von Mängeln in der überkommenen Gemeindepraxis sowie durch theologische, schon in ihrer Semantik vormoderne Interpretationsmuster bestimmt: Einerseits fungiert die gleichsam aktualisierte Version einer reformatorischen „Urgemeinde" als prinzipielles theologisches Leitbild für die Gegenwart, andererseits werden die faktischen Defizite des Gemeindelebens unter den traditionssprengenden Bedingungen einer sich entwickelnden Industriegesellschaft zur argumentativen Unterfiiitterung verwendet, um im kurzschlüssigen Wechselbezug programmatisch eine rückwärtsgewandte Strategie der Erneuerung wahrhaft evangelischer Gemeindebildung und Gemeinschaftsgesinnung zu entwerfen.154 An die Stelle einer Reflexion der die Modernisierungsprozesse freisetzenden sozialen und ökonomischen Faktoren tritt gleichsam sozialromantisch das Leitbild eines neutestamentlich-reformatorischen Gemeindeideals des allgemeinen Priestertums, angereichert mit seinen eigentümlichen Analogien zu einem „lebendigen Organismus": ein patriarchal-restauratives Modell von Hausväterverbänden mit einem letztlich doch traditionellen bzw. vormodernem sozialen Integrationsanspruch. Zur Überwindung der dabei zwangsläufig sich einstellenden Antinomien zwischen Anspruch und Wirklichkeit „lebendiger Gemeinden" wurde vielfach - so etwa bei H. A. Köstlin oder F. Mahling - die qualitative Differenz von ideeller und empirischer Gemeinde argumentativ in Anschlag gebracht: Nur für die ideelle Gemeinde sollten demnach die Attribute einer wahrhaft christlichen Glaubens- und Lebensgemeinschaft gelten — die empirische Gemeinde in all ihrer Zweideutigkeit kann dagegen immer nur gleich einem „konzentrischen Kreis" um diesen idealen Kern herum sich bilden.155 Doch auch wenn auf diese Weise das Ziel der Sulze'schen Reformanstrengungen lediglich theologisch unterlaufen wurde, so mußten doch Sülze und andere, auf „soziale Wirksamkeit" der Kirchengemeinden ausgehende Reformkräfte sich fragen lassen, ob ihre 1 5 3 F. Niebergall, Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Gemeindearbeit; in: Verhandlungen der ersten und späten Konferenz für evangelische Gemeindearbeit, S. 84; vgl. ders., Praktische Theologie Bd. 1, Tübingen 1918, S. 29f. 1 5 4 Kritisch dazu E. Klein, Das Urchristentum und unsere jetzigen Gemeinden. Ein ernster Vergleich, Stuttgart 1907, S. 3: „Politische Träumer verlegen ihre Utopien gern in die Zukunft. [...] Christliche Schwärmer blicken lieber in die Vergangenheit. In der Urgemeinde der ersten Gläubigen sei alles so phantasievoll schön gewesen, wie seitdem niemals mehr." 155 Yg[ p Mahling, Die soziale Bedeutung der christlichen Gemeinde und die daraus sich ergebenden Folgerungen für ihre Arbeit (Hefte der Freien kirchlich-sozialen Konferenz Nr. 44), Berlin 1910; kritisch dazu M. Schian, Ideelle Gemeinde und empirische Gemeinde; in: C. Clemen u. a., Lebendige Gemeinden, S. 141—154.
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Bestrebungen - trotz anderslautender Intentionen - nicht unter der Hand die reformatorische Bestimmung des Propriums von Kirche wieder aufzuheben drohten. Denn die schrittweise gesellschaftliche Emanzipation von der Kirche in den neuzeitlichen Säkularisierungs- und Differenzierungsprozessen schien doch gleichzeitig zu verdeutlichen, daß die eigendiche und bleibende Existenzberechtigung der Kirche nur in der bekenntnisgemäßen Verwaltung von Wort und Sakrament, nicht aber in den wechselnden politischen, sozialen oder diakonischen Aufgaben liegen könne, die ihr im Verlauf der Kirchengeschichte passager zugefallen sind.156 In diesem Sinne wäre die Herausbildung eines ausdifferenzierten sozialdiakonischen Vereinswesens gerade nicht als notgedrungene Folge defizitärer kirchlicher Strukturen anzusehen, sondern sie wäre vielmehr zu begreifen als eine adäquate Antwort auf spezifisch moderne Problemstellungen, durch welche die Kirche von ihr fremden, nur stellvertretend und vorübergehend übernommenen Aufgaben wieder entlastet werde. Damit würde zugleich einer unnötigen oder gar schädlichen Bevormundung autochtoner sozialer Strukturen durch die Kirche gewehrt. Denn: „Was die Kirchengemeinde an menschlicher Arbeit für sich in Anspruch nimmt, das entheiligt alle andere menschliche Arbeit."157 Die programmatische Aufwertung des Gemeindeprinzips bei E. Sülze blieb insofern am Ende auch theologisch wenig überzeugend, da die mit dem Zerbrechen der vormodernen Gemeinschaftsformationen implizierten Dekompositionserscheinungen in ihrer inneren Dynamik kaum erkannt wurden und folglich in die theologische Reflexion dessen, was Gemeinde in der „modernen Welt" sein solle, keinen Eingang fanden. Die Bedingungen von Modernität, die den Einzelnen den traditional geformten Lebenszusammenhängen enthoben und der „Vermassung" in großräumigen Sozialstrukturen aussetzten, sollten bei Sülze vielmehr in antimoderner Kulturkritik durch normative theologische Vorgaben überwunden, die gesellschaftlichen Trans formationsprozesse durch neue gemeinschaftliche Orthopraxis aufgehoben werden. Mit Gespür für den entscheidenden Kritikpunkt des von E. Sülze entwickelten Gemeindeideals räumt denn auch F. Niebergall ein: „Es bleibt für alles erziehliche Wirken, sowohl am einzelnen wie an der großen Gemeinschaft, nur die Möglichkeit, aber auch die Aufgabe, vorhandene Anla156 Yg[ ß Dörries, Die Erziehungspflicht der Kirchengemeinden gegenüber sozialen Mißständen; in: VESK 13 (1901), S. 10-36, hier S. 16, 20. 1 5 7 A. a. O., S. 23; vgl. W. Kulemann, Kirche und praktisches Christentum; in: Der Lotse II/2 (1901), S. 826-832. Zur Übersicht G. Hoepel, Die kirchliche Vereinsarbeit (Praktisch-theologische Handbibliothek Bd. IV), Göttingen 1906; O. Baumgarten/M. Schian, Art. „Vereinswesen: II. Evangelisches"; in: RGG 1 Bd. V, Sp. 1629-1637. 51
gen zu entfalten. Wo solche offenbar fehlen, da ist nichts zu machen. [...] Das würden wir für unsere Aufgabe so auszudrücken haben: wo kein Bedürfnis nach einer Gemeinschaft ist, wie sie uns vorschwebt, weder in denen, die dabei tätig mitwirken, noch bei denen, die ihre Wohltaten empfangen sollen, da ist die Stunde noch nicht gekommen; da hilft alles Rennen und Laufen nichts."158 So mußte sich insgesamt die Reichweite der Reformkonzeption Sulzes immer an ihrer praktischen Plausibilität und Durchsetzungsfahigkeit messen lassen, worauf schon O. Baumgarten in seinem differenziertem Urteil verwiesen hatte: „Dass die Behörden nun fast allgemein die Sulzesche Forderung der Parochialbezirke aufgenommen, dagegen der offiziellen Einrichtung von Presbyterien, von Laienseelsorgerkollegien sich versagen, resp. diese Einrichtung den Kirchenvorständen als interne Angelegenheit überlassen, scheint uns sehr richtig, und wir bedauern, dass Sülze von solcher teilweisen Verwirklichung seiner Ideen so hart urteilt [,..]."159 Im Gefälle dieser kritischen Einwendungen wird man also die Leistungen Sulzes auf dem Gebiet der Gemeindeerneuerung entsprechend eingeschränkt zu würdigen haben: Die Vorschläge zur Neustrukturierung der evangelischen Gemeinden setzten sich gerade insoweit durch, als sie in der Lage waren, die faktischen Defizite in der Gemeindeorganisation auch tatsächlich zeitgemäß zu beheben, wie man etwa anhand der raschen Umsetzung von Sulzes Vorschlägen zur Reduktion der Gemeindegröße sowie zur Einteilung von festen Seelsorgebezirken unschwer zeigen kann. 160 Sofern für eine effiziente Gemeindearbeit die entsprechenden baulichen, personellen oder parochialen Voraussetzungen gefehlt hatten, konnten neue gemeindliche Organisationsstrukturen sowie die Errichtung von Gemeindehäusern oder das Abhalten von geselligen „chrisdichen Familienabenden" für interessierte Gemeindeglieder sicherlich eine wirksame Abhilfe schaffen — die eigentliche Problematik des Konzepts der Seelsorgegemeinden im Sinne Sulzes lag jedoch wesentlich tiefer, nämlich einerseits in der Frage nach der theologischen Qualifikation von Volkskirche, andererseits im sozialstrukturellen Bindungsgefüge der modernen Welt selber. Denn auch wenn man sich nicht wie Baumgarten gegen die Intention einer durchgreifenden „Demokratisierung des F. Niebergall, Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Gemeindearbeit, S. 89. O. Baumgarten, D. Sulze's Evangelische Gemeinde, S. 268; vgl. ders., Meine Lebensgeschichte, Tübingen 1929, S. 169f. 160 Vgl p, Grünberg, Die Parochialverhältnisse in großen Städten; in: MPTh 4 (1907/08), S. 367-385, 415-431, sowie - basierend auf einer von P. Drews veranstalteten Umfrage - M. Schian, Der gegenwärtige Stand der Gemeindeorganisation in den größeren Orten Deutschlands (Hefte der Konferenz für evangelische Gemeindearbeit Nr. 3/4), Leipzig 1913; dazu W. Lorenz, Kirchenreform als Gemeindereform, S. 154ff. Außerdem F. Siegmund-Schultze, Seelsorgebezirke; in: C. Clemen u. a., Lebendige Gemeinden, S. 167— 186; K. Wagenmann, Seelsotgebesjrke (Hefte der Konferenz für evangelische Gemeindearbeit Nr. 5), Leipzig 1913. 158 159
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Heils" wendete, welche seiner Auffassung nach den Durchschnitt des Kirchenvolkes mit allzu weitreichenden Ansprüchen religiös-sittlich überfordere und folglich als „unrealistisch" einzuschätzen sei, so mußte sich doch die grundsätzliche Frage stellen, in welcher Weise die von Sülze postulierte Neufundierung christlichen Gemeinschaftslebens eine plausible Antwort auf die Herausforderungen der modernen Welt sein konnte. Nicht lediglich der Streit um die normativen, an den Typus „calvinistischer Disziplinierung"161 gemahnenden gemeindepädagogischen Optionen, sondern eben die untergründige Frage nach der Kompatibilität mit der Eigendynamik der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und also ihre sozialstrukturelle Anschlußfähigkeit entschieden über Erfolg und Reichweite der „evangelischen Gemeinde" im Sinne Sulzes. Insofern kann man sagen, daß sich die visionäre Schau „lebendiger Gemeinden" vielleicht gerade aufgrund ihrer sozial- und kulturkritischen Intentionen als untauglich erwies, was ihre Umsetzung unter den faktischen gesellschaftlichen Dissoziationserscheinungen anbelangte. Denn die brüchige Gemeindewirklichkeit war nur die sichtbare Folge der modernen Differenzierungsprozesse, welche schließlich den „Verzicht auf den Gewinn einheitlicher Lebensstimmung und bindender Weltanschauung" zum Charakteristikum des sogenannten „modernen Menschen" hatten werden lassen.162 Sofern jedoch das anvisierte Gemeindeideal nicht wirklich dynamisch auf die innere Problematik dieser gesellschaftlichen Prozesse bezogen war, mußte es restaurativ und kraftlos bleiben. Kritisch analysierte deshalb schon M. Schian: „Es ist ganz außer Zweifel, daß nicht bloß die moderne Schätzung der Individualität die gegenwärtigen Zustände heraufgefuhrt hat, sondern daß der Zusammenbruch vieler Lebensformen, welche die Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen zur Geltung brachten, die Individualisierung wie des Kultur-, so des kirchlichen Lebens zur Folge gehabt hat." 163 Im Reflex auf Enttraditionalisierung und individuelle Freisetzung konnte deshalb - gleich dem religiös überhöhten Gemeinschaftsideal - in der Folge auch die zivilisationskritische Kultivierung selbstbehaupteter Individualität ihre religiöse Aufladung finden. Seine inhaldiche Zuspit161 Vgl j. Schmeidler, Berlin und das Gemeindeprincip von D. Sülze, Sp. 123. Dazu E. Chr. Achelis, Zur Vorgeschichte der Seelsorgegemeinden; in: ChW 6 (1892), Sp. 373-377, 42CM26, 437-441, 464-468; E. Simons, Eine altkölnische Seelsorgegemeinde als Vorbild für die Gegenwart; in: HWDH 17 (1894), S. 155-165, sowie insgesamt F. Niebergall, Die lebendige Gemeinde (RV IV/24), Tübingen 1917. 1 6 2 E. Foerster, Die Möglichkeit des Christentums in der modernen Welt, Freiburg i. B./Leipzig/Tübingen 1898, S. 30. 1 6 3 M. Schian, Der moderne Inäviduaäsmus und die kirchäche Praxis (Vorträge der theologischen Konferenz zu Gießen, 31. Folge), Gießen 1911, S. 21. dazu H. Mulert, Art. „Individualismus: II."; in: RGG1 Bd. III, Sp. 501-505.
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zung erhielt das Recht des Einzelnen auf Nonkonformität und Selbstentfaltung wohl nicht zufällig gerade unter dem doppelten Eindruck von moderner Dissoziationserfahrung und modisch-programmatischer Gemeinschaftsrhetorik. In diesem Sinne strich der angesichts des herrschenden Intellektualismus um eine geistige „Germanisierung des Christentums" bemühte Theologe Arthur Bonus (1864-1941) heraus: „Ist also heute das Gemeinschaftsideal des Christentums im Sozialismus Kulturideal geworden, so kann man erwarten, daß es als solches noch starke Umwandlungen bringen wird — aber religiös ist es tot. [...] Wenn in einer mit sozialen Ideen ganz gesättigten Zeit eine neue religiöse Wendung erwartet werden kann, so ist tausend gegen eins zu wetten, daß die Elektrizitäten sich eher am entgegengesetzten Pol auslösen werden. Die Sorge des einzelnen gegen den Strom, der ihn verschlingen will, wird eher religiöse Kraft erlangen als eine Nächstenliebe, die nicht mehr bloß Moral, sondern sogar schon Versorgungsgesetz geworden ist."164 Allenfalls im Umkreis charismatischer Identifikationsfiguren könnten seiner Auffassung nach noch freie „Einzelgemeinschaften" eine gewisse religiöse Bindekraft entfalten — im übrigen aber schien der Kirche insgesamt ebenso wie den einzelnen Kirchengemeinden als Gemeinschaftsinstan%en keine nennenswerte Bedeutung mehr zuzukommen. Auch August Stock (1863-1924), einer der Mitinitiatoren der genannten Konferenz für evangelische Gemeindearbeit, war sich der tiefgreifenden Schwierigkeiten bei der Umsetzung des propagierten Gemeindeideals durchaus bewußt: Trotz seines ungebrochenen persönlichen Engagements schien ihm das programmatische Eintreten für Gemeindeaufbau insgesamt eher „wie das Anstoßen einer Uhr, die nicht mehr gehen will." 165 Der Gemeindegedanke hatte inzwischen jene „werbende Kraft" verloren, mit der er um 1890 noch wie ein Lauffeuer rascheste Verbreitung gefunden hatte, und war zu einem der vielen konkurrierenden „Mittelchen" zur Hebung des kirchlichen Allgemeinbefindens - neben Kirchenmusik, modemer Predigt oder apologetischen Vorträgen herabgesunken: „Gemeindemüdigkeit" wurde zur Signatur der Zeit nach der Jahrhundertwende.166 Zudem
1 6 4 A. Bonus, Die Kirche (Die Gesellschaft; Bd. 26), Frankfurt a. M. 1909, S. 84f. Zu Bonus vgl. M. Kroeger, Friedrich Gogarten. heben und Werk in zeitgeschichtlicher Perspektive Bd. 1, Stuttgart u. a. 1997, bes. S. 77ff. 1 6 5 A. Stock, Der evangelische Gemeindegedanke in den beiden letzten Jahrzehnten und seine Bedeutung für die Zukunft; in: ChWZb (1909), Sp. 1067. 1 6 6 Ebd.; vgl. E. Simons, Sulzes evangelische Gemeinde in zweiter Auflage; in: PrM 16 (1912), S. 424, sowie M. v. Nathusius, Geschichtliche Wandlungen des Gemeinschafts- und Gemeindebegriffes; in: HWDH 25 (1902), S. 135: „Entweder wird der Ton auf das Ideal gelegt und dann versucht man dasselbe in Ungeduld, gewaltsam, als einen Raub anzueignen und herzustellen. Oder es wird der Ton gelegt auf
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hatten die wenigen Versuche einer konkreten Einrichtung von Seelsorgegemeinden im Sinne Sulzes auch die augenscheinlichen Grenzen dieses Gemeindemodells aufgezeigt, das in seiner praktischen Realisierung eben oftmals nur auf eine bessere Organisation von sozialdiakonischer Gemeindepflege hinauslief. Wenngleich der Gemeindegedanke mit der Einrichtung der Konferen^Jür evangelische Gemeindearbeit - ab 1916 Gemeindetag - eine feste institutionelle Verankerung erfahren sollte, so standen doch die modernen Dissoziationstendenzen sowie die gewachsenen volkskirchlichen Strukturen den engagierten Reformimpulsen allzu sperrig gegenüber, weshalb A. Stock schon in der Ankündigung des Konferenzvorhabens resigniert bekannte: „Mögen Andere an die durch die Geschichte geheilte Notwendigkeit des Staatskirchentums glauben und ihm mit kleinen Mitteln aus einem Tag in den andern helfen - an eine Reform können wir nicht mehr glauben."167 Nicht im offiziellen Kirchentum, sondern allenfalls in neu zu bildenden Freiwilligkeitsgemeinden schien sich zukünftig das christliche Gemeinschaftsideal noch realisieren zu lassen - unter volkskirchlichen Bedingungen hingegen würde die Idee gemeindlicher Selbsttätigkeit scheinbar zwangsläufig umgewandelt in eine bloße Reform der pfarramtlichen Arbeits- und Organisationsstrukturen: „Gemeindeorganisation haben wir in den letzten Jahrzehnten in Städten schaffen müssen; aber das schöne Schlagwort hat oft keinen anderen Inhalt als den angemessener Verteilving der Amtsarbeiten unter mehrere Pfarrer. Nach wie vor herrscht in der kirchlichen Wirklichkeit die Vorstellung, als vollziehe sich im letzten Grund alle kirchliche Arbeit zwischen der Person des Pfarrers und der Person des einzelnen Gemeindemitglieds."168 Gefragt waren deshalb nicht „große Visionen" christlicher Gemeinschaftsbildung, sondern Phantasie und Sorgfalt auf einem Weg der kleinen Schritte, welcher die vorhandenen organisatorischen und rechtlichen Möglichkeiten des Gemeindelebens zukünftig besser zu nutzen hätte.169 Wenn auch sicherlich die Reform der überkommenen Parochialstruktur - für sich genommen ein längst überfälliges Desiderat der Gemeindepraxis dargestellt hatte, so war doch das mit ihr gesteckte visionäre Ziel keinesfalls erreicht worden: die Notwendigkeit der immer zurückbleibenden Mängel, und daraus entsteht das tote Kirchentum." 1 6 7 A. Stock, Der evangelische Gemeindegedanke in den beiden letzten Jahrzehnten, Sp. 1069. 1 6 8 M. Schian, Der moderne Inävidualismus und die kirchliche Praxis, S. 20; dazu ders., Der Pfarrer und die Gemeindeorganisation (Hefte der Konferenz für evangelische Gemeindearbeit Nr. 2), Leipzig 1913; H. Matthes, Ist eine Neubelebung unserer evangelischen Kirche mögäch?/Warum ist gerade jet^t „Gemeindearbeit" notwendig;? (Hefte der Konferenz für evangelische Gemeindearbeit Nr. 6), Leipzig 1914. 169 Ygi \ Uckeley, Kirchliche Gemeindeideale der Gegenwart; in: Die Reformation 10 (1911), bes. S. 396. 55
Soziale Dissoziation auf der einen, volkskirchliche Passivität und Pfarrerzentriertheit auf der anderen Seite konnten trotz der gemeindepädagogischen Reformanstrengungen nicht überwunden werden. So ist es durchaus zutreffend, wenn Adolf Harnack (1851-1930) schließlich zum Stand der gemeindlichen Beteiligungs- und Mobilisierungsbereitschaft der Kirchenmitglieder mit einer gewissen wohlwollenden Ironie resümiert: „Wir deutsche Lutheraner und Unierte sind eine Pastoren- und Theologenkirche, d. h. eine Kirche, in welcher die Laien alle Aktion kirchlicher Art schließlich doch nur von den Pastoren und Theologen erwarten und ihre kirchlichevangelische Freiheit eben darin erkennen, daß sie mit der Kirche nichts zu tun zu haben brauchen. Der der Kirche wohlwollende deutsch-evangelische Laie nur von dem wohlwollenden rede ich - bewährt in der Hochschätzung der Taufe, des Religionsunterrichts seiner Kinder, der Konfirmation, der Trauung, des kirchlichen Begräbnisses und im Besuche von ein bis drei Sonntagsgottesdiensten im Jahr seine Kirchlichkeit. Davon abgesehen, empfindet er sich als freier Christ, der seinen Weg und seine Erbauung selbst suchen muß und sich von der kirchlichen Überlieferung so viel oder so wenig aneignet, als ihm zusagt."170 Der Normalprotestant will im wesentlichen doch nur „seine Ruhe haben" und die Kirche weithin in ihrer lebenszyklischen Hintergrundfunktion belassen 171 - im übrigen dividiert sich die Bindungsbereitschaft der Gemeindeglieder durch die unter modernen Bedingungen vielfältig gewachsenen Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, was nicht zuletzt einer allzu festen Integration in ein verbindliches Gemeindeleben ebenso wie in ein allzu eng gefaßtes dogmatisches Glaubenssystem — offensichtlich dauerhaft entgegenzustehen scheint. 1.4. Pfarramt und moderne Lebenswelt Gesellschaftliche Differenzierung und soziale Mobilisierung sowie die mit ihnen freigesetzte Erosion des kirchlichen Traditionsbestandes haben die überkommenen Parochialstrukturen nachhaltig verändert und die Einpassung des Pfarramts in die moderne Gesellschaft schließlich zu ei-
1 7 0 A. Harnack, Soll in Deutschland ein Weltkongreß für freies Christentum abgehalten werden? [1907]; in: ders., Aus Wissenschaft und heben Bd. II, Gießen 1911, S. 146f. 171 Ygj j Kübel, Der Normalprotestant, wie er ist und wie er sein soll; in: MKP 6 (1906), S. 202-211. Dazu M. Kroeger, Profile und Vollzüge religiösen Verhaltens unter den Bedingungen von Modernität; in: H. May/K. Lorenz (eds.), Moderne und Religion, S. 31-57. Kritisch W. Huber, Der Protestantismus und die Ambivalenz der Moderne; in: J. Möllmann (ed.), 'Religion der Freiheit, München 1990, bes. S. 63.
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ner beruflichen „Existenzfrage" werden lassen.172 Denn wenn auch die evangelische Pfarrerschaft - trotz ihrer enormen kulturellen Bedeutung innerhalb der Geschichte des Protestantismus - den Kräften des „sozialen Bewegens" gemeinhin eher entgegenstand,173 so schien ihr Amt nunmehr durch die Spitzen der Modemisierungsprozesse weit grundsätzlicherer Hinsicht infrage gestellt zu werden. Die Einführung der zivilen Personenstandsgesetzgebung 1875 und die damit verbundenen juristischen Neuordnungen waren ein sichtbarer Ausdruck dieser neuen Lage sie bedeuteten einen einschneidenden Schub an sozialem Machtverlust und pastoraler Funktionsveränderung. Im Reflex auf diese gesellschaftlichen Veränderungen resümiert Gottlieb Wilhelm Schinkel (1805-1884), Pfarrer im märkischen Barsikow: „Alles Ansehen geht bei uns vom Staate und vom Staatsdiener aus. So lange nun Staat und Kirche ungeschieden waren, bestrahlte dieser Glanz auch die Diener der Kirche. Wir waren königlich preußische Pastoren, und alles Königliche galt und gilt bei uns. [...] Diese staatlichen Pfauenfedern hat uns die neue Zeit geraubt [,..]."174 Vor diesem Hintergrund legte es sich nahe, zur Sicherung zumindest der staatlichen Anerkennung auf die Wechselseitigkeit des nun entstehenden Legitimationsbedarfes hinzuweisen und fiiir eine gleichsam zivilreligiöse Koalition von Staat und Kirche zu werben. Denn: „Das Gesetz, welches im tiefsten Grunde die Völker zähmt und zügelt, ist nicht das menschliche Zwangsgesetz mit seinen Zuchthäusern und Henkerbeilen. Es ist das Gottesgesetz im Herzen. Wo das fehlt, hat jede Obrigkeit ihren Halt verloren."175 Im wohlverstandenen Eigeninteresse des „Culturstaates" an der „Culturentwicklung unseres Volkes" könnten die Pfarrer noch immer „das innere in der Gesinnung und im Gemüthsleben des Volkes vorgehende geheimnissvolle und doch so überaus wichtige
1 7 2 J. Schulz, Der Geistliche und die moderne Gesellschaft; in: HWDH 24 (1901), S. 1. Insgesamt vgl. U. Stutz, Art. „Pfarre, Pfarrer"; in: RE3 Bd. 15, Leipzig 1904, S. 239-252; E. Winkler, Art. „Pfarrer II. Evangelisch"; in: TRE Bd. 26, Berlin/New York 1996, S. 360-374. 173 w . Wiener, Das evangelische Pfarrhaus in seiner sozialen Bedeutung, Gotha 1881, S. 5. Dazu P. Drews, Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit, Jena 1905; ders., Was lehrt uns die Geschichte des evangelischen Pfarrstandes?; in: MKP 5 (1905), S. 21-31; ders./M. Schian, Art. „Pfarrer"; in: RGG1 Bd. IV, Sp. 1424-1437. 1 7 4 G. W. Schinkel, Stellung und Ansehen des geistlichen Standes in unserer Zeit; in: DEBl 3 (1878), S. 117. Dazu siehe O. Janz, Bürger besonderer Art: Evangelische Pfarrer in Preußen 1850-1914, Berlin/New York 1994; ders., Zwischen Amt und Profession: Die evangelische Pfarrerschaft im 19. Jahrhundert; in: H. Siegrist (ed.), Bürgeräche Berufe, Göttingen 1988, S. 174—199; Chr. Homrichshausen, Evangelische Pfarrer in Deutschland; in: W. Conze/J. Kocka (eds.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert Teil I, Stuttgart 1985, S. 248-278. 1 7 5 G. W. Schinkel, Stellung und Ansehen des geistlichen Standes in unserer Zeit; S. 120.
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Leben segensreich beeinflussen, durch die Einwirkung des Evangeliums gewissermaßen controlieren, oder in geordnete, dem Bedürfniss der menschlichen Gemeinschaft entsprechende Bahnen lenken [...]."176 Die in dieser Weise öffentliche Funktionen erfüllende Geistlichkeit sollte deshalb vom Staat auch rechtlich anerkannt und kulturpolitisch gewürdigt werden. Auf der anderen Seite war der faktische Verlust an sozialer Kontrolle nicht nur als rechtliche Beschneidung, sondern vielmehr zugleich auch als Steigerung der geistlichen Autonomie interpretierbar: Mit dem Prozeß gesellschaftlicher Ausdifferenzierung wurden die Pfarrer politisch und administrativ entlastet und stärker auf ihre kirchlich-religiösen Funktionsbereiche im engeren Sinn verwiesen. Die ehemals festgefugte soziale Stellung der Geistlichen geriet insofern in einen neuartigen „Schwebezustand" zwischen gesellschaftlicher „Depossedierung" und institutioneller Spezialisierung.177 Zwar galt noch immer die alte pastoraltheologische Grundregel: „Die kirchlichen Amtshandlungen bahnen dem Geistlichen den Weg in die Häuser" 178 - doch angesichts des „verspürbaren socialen Umschwungs" im gesellschaftlichen Leben mußte sich die pastorale Praxis nunmehr weitaus stärker als zuvor auf die persönliche Integrität der Amtsträger gründen. 179 Der württembergische Pfarrer Friedrich Müller (1848-1932) betonte deshalb in seinem Referat über die erforderliche pastorale Vorbildung vor allem die Vorbildfunktion des Pfarrers als eines „exemplarischen Christen": „Nur von seiner persönlichen Tüchtigkeit, von seiner sittlichen Makellosigkeit wie von seinem christlichen Vorbild in allem Guten ist eine ernstlichere Einwirkung in der Seelsorge zu erwarten." 180 Gleichwohl verlor solche schlichte Anknüpfung an traditionelle pastoral-theologische Topik zunehmend an Plausibilität - insbesondere, wenn es um eine prinzipielle Neubestimmung der Rolle des Pfarrers in der „modernen Gesellschaft" ging. Neben einer stärkeren Öffnung der Studieninhalte für die andrängenden Praxisprobleme kam es hierbei vielmehr auf religiös-sitdiche Persönlichkeitsbildung und Echtheit, auf 176
W. Ackermann, Die soziale Stellung des evangelischen Pfarrers; in: ZprTh 6 (1884), S. 32; vgl. S. 28, 31. 17/ Vgl. E. Katzer, Der Geistliche und die moderne Gesellschaft; in: ChW 1 (1887), S. 268; K. Mayer, Die sociale Stellung und Aufgabe des evangelischen Geistlichen in der Gegenwart; in: ZprTh 12 (1890), S. 1; außerdem W. Wiener, Berechtigtes und Unberechtigtes in den modernen Forderungen an das geistliche Amt; in: HWDH 10 (1887), S. 193-204. 178 P. M. Thieme, Das geistliche Amt und die der Kirche Entfremdeten, Leipzig 1895, S. 11; vgl. G. Wächter, Die sociale Bedeutung der evangelischen Kirche, Bd. 1, Leipzig 1888, S. 93-101. 179 Vgl f . Müller, Die Vorbildung der Diener des göttlichen Wortes bis zum Eintritt in das Amt; in: HWDH 5 (1882), S. 241. 180 A. a. O., S. 289 (im Original hervorgehoben). 58
Lebendigkeit u n d Unvoreingenommenheit des christlichen Glaubens sowie auf eine weltanschauliche u n d theologische Horizonterweiterung an. So forderte etwa T h e o b a l d Ziegler (1846-1918), langjähriger Philosophieprofessor in Straßburg, in seinem Vortrag auf d e m 21. D e u t s c h e n Protestantentag in Kaiserslautern, daß der Pfarrer ein „ganzer M a n n " , jed o c h kein „fertiger M a n n " sein solle: I n all den „Plötzlichkeiten u n d Sprüngen unseres heutigen L e b e n s " soll er stellvertretend die integrierende D i m e n s i o n der Einheit verkörpern, so daß er „als ein Ganzer, nicht als ein Halber oder gar als ein vielfach Geteilter v o r seine G e m e i n d e hintrete u n d aus diesem G a n z e n heraus auf sie wirke u n d sie dieses seines Geistes einen H a u c h verspüren lasse." 1 8 1 Hat der Pfarrer in der modernen Kulturwelt noch eine selbständige Bedeutung? Eine solche Frage zu stellen, hieß gleichwohl noch nicht, sie zu verneinen: Die 37 Antworten, die Theodor Kappstein (1870-1960), langjähriger Dozent für Religionswissenschaft an der Charlottenburger „Humboldt-Akademie", auf sein Rundschreiben mit dieser Frage erhielt — und die er noch um 14 Äußerungen aus bereits publizierten Texten vermehrt hat — zeigen, wieviel Wertschätzung dem Pfarrerstand trotz aller aufgeregten Kritik noch immer entgegengebracht wurde. 1 8 2 Sie zeigen aber auch, wieviel Gewicht dabei in den Augen der „Laien" dem einzelnen Pfarrer und seiner persönlichen Glaubwürdigkeit sowie seiner geistigen Aufgeschlossenheit zukommen sollte - und wie problematisch gerade der traditionelle Verweisungszusammenhang zur „Institution Kirche" geworden war. In diesem Sinne strich die mit dem 1903 dienstenthobenen Pfarrer Erdmann Christaller (1857-1922) verheiratete Schriftstellerin Helene Christaller, geb. Heyer (1872-1953) in ihrer Zusammenstellung der spezifisch modernen Anforderungen an die Pfarrer - neben einer kritischen Bildung sowie einem lebendigen christlichen Glauben - insbesondere die Erwartung einer gleichsam „versöhnten" Menschlichkeit heraus: „Der moderne Laie verlangt in erster Linie Natürlichkeit, in und ausser dem Amt; das schliesst Wahrhaftigkeit ein und bewahrt uns vor dem mit Recht verabscheuten Kanzelton. Dann muss der Pfarrer des Modernen Sinn haben für andere Persönlichkeiten, so wie sie sind, ohne den Hintergedanken der Bekehrung; er muss Freude daran haben, Eingehen darauf, was man so 'Liebe' nennen könnte." 1 8 3 Auch Heinrich Geffcken (1865-1913), Professor für Öffentliches Recht an der Kölner HandelsVerwaltungshochschule und Vorsitzender des Verbandes der Freunde evangelischer
181 T. Ziegler, Welche Anforderungen stellt das moderne Leben an die Ausrüstung des Geistlichen? (Flugschrift des Deutschen Protestantenvereins), Heidelberg 21901, S. 12f. 182 Yg] f Kappstein, Bedürfen wir des Pfarrers noch?, Berlin/Leipzig 1906. Dazu v. Herzenberg, Die Bedeutung des Pfarrers in der modernen Kulturwelt; in: Positive Union 3 (1906), S. 173-177; Anonym, Bedürfen wir des Pfarrers noch?, in: Protestantenblatt 39 (1906), Sp. 272f. 183 H. Christaller, Was verlangt der moderne Mensch von seinem Pfarrer?; in: EvFr 1 (1907), S. 28; vgl. dies., Gottfried Erdmann und seine Frau, Basel 1908 u. ö.
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Freiheitfür Rheinland und Westfalen, betonte in seinem Konferenzvortrag über die modernen gemeindlichen Erwartungen an „ihren" Pfarrer vor allem die Aufgabe, die für den Bereich des Protestantismus so charakteristische „individuelle Differenzierung" des Glaubens theologisch zu bejahen und mit der pastoralen Arbeit nach Möglichkeit eine entsprechend „differenzierte Religion zu schaffen und zu fördern".184 Eine prinzipielle Bejahung der zeitgenössischen sozialkulturellen Wirklichkeit sowie eine anschlußfahige religiöse Hermeneutik sind - so Geffcken — dafür die wesentlichen Voraussetzungen. „Der evangelische Pfarrer aber hat als modern-religiöse Persönlichkeit die ursprüngliche Sittlichkeit menschlichen Kulturlebens anzuerkennen, ja, er muß als solche Persönlichkeit sogar mitten in der Kultur der Gegenwart stehen, weil er sonst seine Zeit gar nicht zu verstehen imstande ist." 185 Ebenso wie Geffcken durchaus von einer kulturoptimistischen Perspektive geleitet, antwortete darauf der Breslauer Pfarrer Richard Spaeth in seinem Vortrag über die pastoralen Erwartungen an „seine" Gemeinde: „Wir haben gelernt, den inneren Gang des Weltgeschehens in einer vernunftvoll angelegten lückenlosen Kette von Ursachen und Wirkungen, in einer planvoll aufsteigenden Entwickelung anzuschauen und halten dafür, daß Gottes Offenbarung nicht bloß in den Hirten und Königen, Propheten und Aposteln der Bibel, sondern auch in den anderen Geisteshelden der Menschenwelt, ja auch in den geistigen Erschütterungen und Revolutionen des Menschengeschlechts, wie in den Feuergluten und Dampfgewalten der modernen Maschinen zum Worte kommt."186 In der Perspektive der „Laien" erhielten gerade die „menschlichen Seiten" des Pfarrers einen enormen Bedeutungszuwachs: Die Bürde des geisdichen Amtes sowie die Fragen und Ängste der modernen Seele sollten die Pastoren gleichsam stellvertretend für ihre Gemeinde in ein persönliches, lebendiges Entsprechungsverhältnis zueinander setzen, so daß sie als moderne Menschen und christliche Zeitgenossen wirklich erkennbar würden. 187 Allzu durchschaubar erschien ihr Bemühen, sich auf Kosten der persönlichen Glaubwürdigkeit hinter der Fassade einer scheinbar unangefochtenen „Geisdichkeit" verstecken zu wollen: „Das Gefühl ist weit verbreitet, daß der Pfarrer noch etwas hat, für sich behält, Stärken und Schwächen, woran er nicht teilnehmen läßt. Stärken des Erkennens, für die er die Andern nicht für reif hält. Und auch Schwächen, vor allem religiös-sittlicher Art, - daß auch sein Glaube oft klein und schwach ist, 1 8 4 H. Geffcken, Was fordert die moderne Gemeinde von ihrem Pfarrer?; in: Protestantenblatt 40 (1907), Sp. 1182. 1 8 5 A.a. 0 . , S p . 1186. 1 8 6 R. Spaeth, Was darf der evangelische Geistliche in unserer Zeit von seiner Gemeinde erwarten?, in: Protestantenblatt 41 (1908), Sp. 826f. 1 8 7 Vgl. F. Niebergall, Amt und Seele; in: MKP 6 (1906), S. 188. Dazu karikierend J. Werner, Modern; in: Die Deformation 6 (1907), S. 709: „So wurde unlängst der Pfarrer Grandinger in Nordalben ein moderner Pfarrer genannt, weil er ein Automobil besitzt."
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da viel Zweifel, Furcht und Kleinmütigkeit mit unterläuft - die er nicht heraus läßt." 188 Dabei könnten soziales Engagement, außertheologische Bildung sowie die private Pflege eines 'eigenen Lebens' - im Sinne „persönlicher Seelenhygiene" - schließlich doch auch den Pfarrern selber helfen, den zunehmenden Plausibilitätsverlust des christlichen Traditionsbestandes unter den Bedingungen der modernen Lebenswirklichkeit individuell auszuhalten oder gar zu überwinden. Denn: „Auch der Pfarrer ist kein ausgeklügelt Buch, sondern ein Mensch mit seinem Widerspruch, ist keine Statue, sondern ein Wesen mit Fleisch und Blut, mit Stille und Sturm, mit Ruhe und Leidenschaft. Er entschlage sich des Drucks, unter dem so Mancher mehr oder weniger bewußt leidet, als ob sein Amt und die Institution, der er angehört, eine andere Art sich zu geben von ihm verlangen könnten, als sein Gott und seine Naturanlage sie verlangen." 189 Um die einzelnen Gemeindeglieder in ihrer aufgesprengten seelischen und sozialen Wirklichkeit zu erreichen, sollten die Pfarrer sich vielmehr auf eine „feste männliche Haltung" im Verbund mit einer weitkreisigen Einfuhlungsfähigkeit und Menschenkenntnis besinnen: „Wenn der Geisdiche nicht mit gewohnten Formeln sich begnügen, sondern auf die mannigfachen, individuell verschiedenen Seelenzustände wirklich eingehen will, so muß er seine Seele gleichsam erweitern, damit sie fähig werde, sich in jede Lebenslage zu versetzen."190 Unter der Maxime der Authentizität sollte deshalb die Menschlichkeit des Pfarrers fruchtbar gemacht werden für seelsorgerliche Hilfsbereitschaft und verständnisvolle Offenheit gegenüber den alltäglichen Lebensproblemen seiner Gemeindeglieder: „Eine zuverlässige Beratungsstelle soll er sein für alle Fälle des menschlichen Innern, eine Vertrauensperson für Jedermann". 191 Wie der jahreszeitliche Festkalender sowie die zivilreligiösen Bedürfnisse der Kirche weiterhin ihren gesellschaftlichen Ort sicherten, so bildeten umgekehrt die konkreten Erfahrungen mit dem Gemeindepfarrer noch am ehesten das persönliche Verhältnis des Einzelnen zu Christentum und Kirche ab: Die modernen Forderungen an das geistliche Amt legten ihren Hauptakzent folglich auf Eigenschaften wie Echtheit, ethische Integrität, geistige Beweglichkeit und persönliche Überzeugungskraft, womit jedoch die spezifisch religiöse Qualifikation der Pfarrer sowie die lebensweltliche Erschließungskraft des kirchlich-tradierten Glau188
975.
O. Wilhelm, Der evangelische Pfarrer der Gegenwart; in: ChW 24 (1910), Sp.
1 8 9 A. a. O., Sp. 988; vgl. Sp. 991. Zur Aufnahme des Verses vom „ausgeklügelt Buch" (C. F. Meyer) bei O. Baumgarten und M. Weber siehe F. W. Graf, Lex Christi und Eigengesetzlichkeit; in: W. Steck (ed.), Otto Baumgarten, Neumünster 1986, S. 252, 281. 1 9 0 R. Löber, Die an den Geistüchen übende Seelsorge, Leipzig 1902, S. 79. 1 9 1 O. Wilhelm, Der evangelische Pfarrer der Gegenwart, Sp. 992; vgl. Sp. 991.
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bens nur um so nachhaltiger auch inhaltlich zur Debatte standen.192 Denn insbesondere im neuen proletarischen Milieu schien das berufliche Ansehen der Pfarrer zunehmend zur Disposition zu stehen - die intellektuellen Zumutungen eines unkritischen Fürwahrhaltens der biblischen Schöpfungsgeschichte sowie eines kindlichen Glaubens an einen allmächtigen „Willkürgott" belasteten allzusehr die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Amtsträger, so daß die Aura des traditionellen Amtsbegriffs, zumal angesichts anonymer Massengemeinden, zu verblassen begann und vielfach auch politisch diskreditiert wurde.193 Wenngleich in Räumen mit gewachsenen sozialen Strukturen die Auflösungsprozesse nicht in solcher Eindeutigkeit und Geschwindigkeit vor sich gingen wie in industriellen Siedlungsgebieten und sich vielerorts ein angestammter Vertrauensvorschuß gegenüber den Geisdichen durchaus erhielt, so ruhte doch das Gewicht der öffentlichen Akzeptanz nun nicht mehr so unangefochten in der Würde des Amts, sondern hing zunehmend von der Kompetenz der es ausfüllenden Person ab. Gegenläufig zu dieser eher personalisierenden Tendenz wurde das Pfarramt jedoch auch immer unmittelbarer von den Bedingungen sozioökonomischer Modernisierung und funktionaler Ausdifferenzierung betroffen, was langfristig zu einer stärkeren Betonung der aufgabenorientierten Leistungsfähigkeit führen sollte: „Der Pfarrer wird mehr und mehr reiner religiöser Funktionär. Gleichzeitig werden diese kirchlich-religiösen Dienste immer durchgreifender und umfassender in einem bureaukratischen Rahmen gespannt: Erlasse, Statistiken, kirchliche Verwaltungsarbeit, und an der großen Schreibmaschinerie des Vaterlandes wird auch der Pfarrer als Rädchen eingefugt."194 Die „bloße Übernahme tradierter Amtsfunktionen" war durch die Ausbildung eines praktisch-theologisch verantworteten „Amtsbewußtseins" einschließlich eines „verhaltensorientierenden Selbstkonzepts" zu ersetzen.195 Voraussetzung einer solchen professionellen theologischen Identität war der Ausbau der wissenschaftlichen Aus- und Wei-
1 9 2 Polemisch K. Eger, Das Wesen der deutsch-evangelischen Kirche der Gegenwart, Gießen 1906, S. 40: „Das Volk lernt seine Kirche nicht am Konsistorium, sondern am Pfarrer, in der Gemeinde, kennen, und ich kann nicht zugeben, daß irgend ein preußisches oder sonstiges Kirchenregiment imstande ist, seine Pfarrer an sozial fruchtbarer Wirksamkeit zu hindern." 1 9 3 Hierzu M. Rade, Die religiös-sittliche Gedankenwelt unsrer Industriearbeiter; in: VESK 9 (1898), S. 66-130; P. Drews, Die Kirche und der Arbeiterstand; in: VESK 20 (1909), S. 106-129. Außerdem O. Janz, Bürger besonderer Art, S. 43ff., S. 61 ff., S. 228ff. 194 o . Wilhelm, Der evangelische Pfarrer der Gegenwart, Sp. 991. 1 9 5 W. Grab, Der Pfarrer als Musterprotestant. Zum Wandel einer kirchlichen Funktionselite; in: F. W. Graf/K. Tanner (eds.), Protestantische Identität heute, S. 247; vgl. W. Steck, Die Privatisierung der Religion und die Professionalisierung des Pfarrerberufs; in: PTh 80 (1991), S. 306-322.
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terbildung - sie allein vermochte sicherzustellen, daß auch unter den „schwierigen Zeitverhältnissen" einer sich entwickelnden modernen Industriegesellschaft der einzelne Pfarrer für seine spezifisch volkskirchliche Berufstätigkeit qualifiziert werde: „Er muß in den Stand gesetzt werden, die Äußerungen religiösen Lebens in seiner Gemeinde selbständig zu beobachten und zu beurteilen, außerdem die Beziehungen zwischen evangelischem Christentum und allgemeinem Kultur- und Geistesleben mit eigener Einsicht zu verstehen."196 Besonders nachhaltig ausgewirkt haben sich die modernen Bedingungen der pfarramtspraktischen Berufswirklichkeit im Umfeld der größeren Städte und industriellen Ballungsgebiete, in welchen die sozialen und ökonomischen Dynamisierungsprozesse kumulierten.197 Freizügigkeit seit dem 8. Januar 1873 im Reichsgesetz verankert — und Bevölkerungswachstum hatten eine gleichsam moderne Völkerwanderung ausgelöst und im Deutschen Reich zur Herausbildung bisher ungekannter großstädtischer Siedlungsräume geführt, welche dem Einzelnen zumindest theoretisch eine Potenzierung seiner beruflichen und sozialen Möglichkeiten eröffneten. Diese schnell anwachsenden Großstädte standen den überkommenen Sozialstrukturen in den ländlichen Gebieten bald wie die sichtbare Manifestation eines neuen Weltalters gegenüber: industrielle Entwicklung gegen agrarische Subsistenz; Beschleunigung, Mobilisierung und Autonomiestreben gegen sozialmoralische Stabilität und politischen Konservatismus; soziale Individualisierung und moderner Pluralismus gegen traditionale Gemeinschaftsorientierung und die Homogenität einer geschlossenen Lebenswelt - „Erd- und Mondbewohner" mochten einander nicht fremder gegenüberstehen als die ansässige Landbevölkerung den Bewohnern der neuen wirtschaftlichen Ballungsräume.198 Die Großstadt mit ihrer paradoxen Gleichzeitigkeit von Vereinzelung und Vermassung war eben wie nichts anderes ein Symbol der neuen Zeit, in welchem sich das Außerordentliche der Moderne in seiner ganzen Ambivalenz Ausdruck verschafft hatte: faszinierende Neuschöpfung und zugleich unaufhaltsame Destruktion des Überkommenen, Potenzierung der Lebensmöglichkeiten und zugleich ihre Verkümmerung.199 1 9 0 K. Eger, Die Vorbildung %um Pfarramt der Volkskirche (Studien zur praktischen Theologie 1/2), Gießen 1907, S. 53; vgl. S. 61. 1 9 7 Vgl. T. Petermann (ed.), Die Großstadt (Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden), Dresden 1903; R. Wuttke (ed.), Die deutschen Städte. Geschildert nach den Ergebnissen der ersten deutschen Städteausstellung Dresden 1903, 2 Bde., Leipzig 1904: Bd. 1 bietet Beiträge zur städtebaulichen und sozialpolitischen Entwicklung, Bd. 2 enthält neben Fotodokumenten auch aufschlußreiche statistische Schaubilder. 1 9 8 Vgl. R. H. Grützmacher, Stadt und Land; in: Die Reformation 4 (1905), S. 369373. 1 9 9 Vgl. W. Wolff, Die Großstadt und die Kirche; in: Die Evangeäsche Gemeinde 3 (1911/12), S. 104-108; H.-J. Teuteberg, Moderne Verstädterung und kirchliches Le-
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Die alltagspraktische Dynamik dieser neuen großstädtischen Lebenswelt hat beispielhaft Erich Foerster (1865-1945) bei seinem Versuch beschrieben, Christentum und „moderne Stimmung" in theologischer Perspektive gegeneinander zu vermitteln.200 Da die Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts mit ihren vielfältigen sozialen, politischen und technischen Innovationen in der Großstadt zusammenliefen, sollte dieses neuartige Phänomen zunächst in seiner prägenden Kraft und Plausibilität als Ort der modernen Wirklichkeitserfahrung nachgezeichnet werden: „Der Bewohner des Landes oder der kleinen Stadt hat eine Heimat und ist gebunden an die heimatliche Sitte, kontrolliert durch das stets wache Auge der Nachbarn und Gevattern. Wer aber im Zeichen des Verkehrs lebt, der wird nicht nur der Heimat, sondern auch der erzieherischen Autorität gewöhnlich früh entzogen, noch innerlich unreif auf sich selbst angewiesen, ehe er sich eine feste Lebensrichtung gewonnen hat, tausend Winden preisgegeben. Viel schneller lernt er 'die Welt' kennen. Sie verliert für ihn das Geheimnißvolle, Große, Ueberlegene. Er kann von allen Tischen kosten. Niemand hindert ihn, nach seiner Neigung zu leben. Die Zelte sind ebenso schnell aufgeschlagen wie abgebrochen. Die Vergangenheit läßt sich unschwer abschütteln. Folgen früherer Handlungsweise lassen sich vermeiden. Will man sich wundern, daß einem solchen Großstadtmenschen schließlich das Auf und Ab der Stimmungen, das Gegeneinanderwirken der Willensanstöße als das Normale und Natürliche erscheint?"201 Die Dynamisierung der Lebenswelt läßt sich hier in alltagspraktischen Details allenthalben ablesen; insbesondere die Schwächung sozialer Kontrollmechanismen sowie die Beschleunigung und Erweiterung der Mobilität werden im Gefälle der Großstadtmetaphorik für die Realitätskonstitution und das starke Lebensgefiihl der modernen Welt schlechthin prägend - ihnen hat sich der nunmehr vielfach eingeklagte neue Wirklich-
ben in Berlin; in: K. Elm/H.-D. Loock (eds.), Seelsorge und Diakonie in Berün, S. 161— 200; H. Matzerath, Wachstum und Mobilität der Berliner Bevölkerung im 19. und frühen 20. Jahrhundert; in: a. a. O., S. 201-222; L. Müller, Die Großstadt als Ort der Moderne; in: K. R. Scherpe (ed.), Die UnwirkMchkeit der Städte, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 14-36. 200 Ygi Foerster, Das Evangelium in der Großstadt (Moderne Predigt-Bibliothek; 7. Reihe, H. 1), Göttingen 1909. Zu Foerster, der sich auch Fragen der landeskirchlichen Verfassung gewidmet hat, vgl. die von seinem Enkel E. Schulz-Du Bois publizierten Lebenserinnerungen, Preetz in Holstein 1996. Außerdem K. G. Steck, Art. „Foerster, Erich"; in: NDB 5, Berlin 1961, S. 277f.; D. Stoodt, Erich Foerster. Der erste evangelische Theologieprofessor an der Frankfurter Universität; in: M. Benad (ed.), Gott in Frankfurt?, Frankfort/M. 1987, S. 117-120. 201 E. Foerster, Die Möglichkeit des Christentums in der modernen Welt, S. 25. Zu gleichgerichteten Interpretationen der Großstadt bei W. Benjamin und G. Simmel vgl. M. Makropoulos, Modernität als ontohgischer Ausnahmezustand?, S. 77-84.
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keitssinn der Theologie offensiv zu stellen.202 Das allgemeine Lebensgefiihl sowie seine unausgesprochenen Grundüberzeugungen waren aus ihrer gewachsenen Beheimatung im traditionellen Christentum herausgefallen - die intellektuelle Stimmung des Menschen war modern geworden: „Ueberschäumendes Verlangen nach Originalität, Kraftentfaltung und Freiheit. Anspruch auf ein großes, reiches, ausfüllendes Glück. Ekel am Alltagsleben und an der landläufigen Kultur. Sentimentaler Jammer über die mechanische Bedingtheit des geistigen Lebens. Sensitive Empfindlichkeit gegen jeden äußeren Druck. Zersetzende Selbstbeobachtung. Verlorengehen der Gegenwart. Phantastische Erwartung eines werdenden Neuen. Passives Hin- und Hergeworfenwerden zwischen wechselnden Motiven. Vor allem: eine trotzige Angst, sich durch Anerkennung irgendwelcher Weltanschauung, sittlicher Maxime, Pflicht, binden und beschränken lassen."203 Als Brennpunkt einer radikal veränderten Wirklichkeit wurde die Großstadt zu einer besonderen praktisch-theologischen Herausforderung, welche nach eingehender kritischer Auseinandersetzung verlangte - und zwar sowohl hinsichtlich ihrer religiös-weltanschaulichen Aufbruchspotentiale als auch hinsichtlich einer konstruktiven Aufarbeitung der durchgreifend veränderten Praxissituation.204 Die pastoralen Arbeitsbedingungen im proletarischen Milieu der neuen siedlungsstarken Vorstädte haben Pfarrer wie Heinrich Bechtolsheimer (1868—1950) in Mombach bei Mainz oder Bruno Markgraf (1869—1952) - unter dem Pseudonym Traugott Kühn - in Leipzig-Reudnitz eingehend beschrieben; ihre Absicht war es einerseits, stereotype bürgerliche und kirchenchristliche Vorurteile gegenüber dem „vierten Stand" durch konkretes Anschauungs- und Er2 0 2 In Auseinandersetzung mit T. Kaftan vgl. dazu E. Foerster, Der christliche Glaube im geistigen Leben der Gegenwart; in: CbW 12 (1898), Sp. 917-919, 943948; wiederabgedruckt in T. Kaftan, Der christüche Glaube im gästigen Leben der Gegenwart, Schleswig 3 1904, S. 115-128 - dort auch die „Apologetik" Kaftans, a. a. O., S. 129-162. 2 0 3 E. Foerster, Die Möglichkeit des Christentums in der modernen Welt, S. 21 f. - dazu die Kritik von F. Rohde, Der moderne Mensch; in: Protestantische Flugblätter 33 (1898), S. 6: „Aber sind diese modernen Menschen nicht das ungesunde Produkt einer Uebergangszeit, das Erzeugnis der entnervenden Großstadtluft?! Kann das Urteil, welches die Moderne über das Christentum fällt uns maßgebend sein? Die Großstadt ist Gott sei Dank noch lange nicht die christliche Welt!" 204 Vgl. H. Freytag, Moderne Strömungen auf dem Gebiet der Praktischen Theologie; in: Die Studierstube 6 (1908), bes. S. 21 lf.; Agathokles (Pseudonym), Das Stadtpfarrertum und seine Gefahren, Schwerin 1909; P. Grünberg, Die evangeüsche Kirche, ihre Organisation und ihre Arbeit in der Großstadt, Göttingen 1910; O. Dibelius, Unsere Großstadtgemeinden, ihre Not und deren Überwindung, Gießen 1910; R. Seeberg, Zur Psychologie der Großstadt; in: E. Bunke (ed.), Arbeitfür Großstadt und Land, Berlin 1911, S. 22-63; Chr. Geyer, Die Pflege der Religion in der Großstadt; in: VESK 24, Göttingen 1913, S. 14-30.
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fahrungsmaterial gleichsam wieder zu verflüssigen, andererseits eine kritisch-deskriptive Analyse der Alltagswirklichkeit in den industriellen Ballungsgebieten zu erarbeiten, welche im Sinne volkskundlicher Gegenwartsstudien empirisches Material zur pfarramtspraktischen Orientierung bieten sollte.205 Im demographisch enorm anwachsenden proletarischen Milieu war dies unvermeidlich mit einer Stellungnahme zum sozialdemokratischen Kampf gegen Ausbeutung und Entfremdung verbunden: Die weithin sehr harten Arbeitsbedingungen sowie eine häufig katastrophale Wohnsituation verlangten unmittelbar nach Abhilfe; daneben waren die Stärkung politischer Rechte sowie der Ausbau sozialer Absicherung wesentliche Ziele der Sozialdemokratie. Doch selbst in wohlmeinenden theologischen Kreisen wurde die „soziale Frage"206 fast durchgängig in Kategorien einer bürgerächen Perspektive diskutiert — in der christlich-fundierten, sozialkonservativen Gesellschaftskritik des Greifswalder Praktischen Theologen Martin von Nathusius (1843-1906) 207 ebenso wie in den engagierten sozialpolitischen Bestrebungen im Umfeld des Evangelisch-sozialen Kongresses. Insofern nimmt es nicht wunder, daß es nur in wirklichen Einzelfällen zu einer offenen parteipolitischen Unterstützung der Arbeiterbewegung kam - bekanntestes Beispiel dafür ist Paul Göhre (1864—1928), der von 1891—1894 Generalsekretär des ESK war und bereits 1899 in die SPD eintrat.208 Die weltanschauliche Semantik der Sozialdemokratie sowie ihre antibürgerliche Ausrichtung schienen eine politisch-rationale Mitarbeit in dieser Partei theologisch auszuschließen; als sozialistische „Glaubensgemeinschaft" befand sie sich zudem in scheinbar direkter Konkurrenz zu Kirche und Christentum und konnte von daher für einen 205 Vgl T. Kühn, Ski^ptn aus dem kirchlichen und sittlichen heben einer Vorstadt, Göttingen 1902/1904; B. Markgraf, Tugend und Ideal des vierten Standes; in: EvFr 7 (1907), S. 199-212; H. Bechtolsheimer, Aufgaben und Methoden der Pastoration in modernen Industriegemeinden; in: MPTh 1 (1905), S. 214—230; ders., Die Seelsorge in der Industriegemeinde (Praktisch-theologische Handbibliothek Bd. V), Göttingen 1907. Zur Problematik der Arbeitslosigkeit vgl. Anonym, Bilder aus der Seelsorge einer Großstadtgemeinde; in: AELKZ 39 (1906), Sp. 856-858, 902-905, 924-927, 953956, 970-976. 206 VGL F. Tönnies, Die Entwicklung der sozialen Frage, Leipzig 1907. Dazu G. Brakelmann, Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 975; K. E. Pollmann, Landesherrüches Kirchenregiment und soziale Frage, Berlin/New York 1973; E. I. Kouri, Der deutsche Protestantismus und äe soziale Frage 1870-1919, Berlin/New York 1984. 207 Vgl. M. v. Nathusius, Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage, 2 Bde., Leipzig 1893/94; F. W. Graf, Art. „Nathusius, Martin Friedrich Engelhard von"; in: BBKL Bd. 6, Herzberg 1993, Sp. 483-494. 208 Vgl. P. Göhre, Die evangelisch-soziale Bewegung, ihre Geschichte und ihre Ziele, Leipzig 1896; ders., Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde, Berlin 1900; dazu O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 1 (1901), S. 70f.; F. Israel, Art. „Göhre, Paul"; in: RGG1 Bd. II, Sp. 1491f. 66
Christen keinen legitimen Ort des politischen Engagements darstellen. Vor solchem Hintergrund ist der kritische Einspruch der sogenannten Schweizer Religiösen Sozialisten - wie Hermann Kutter (1869-1931) oder Leonhard Ragaz (1868-1945) - gegen den im bürgerlichen Milieu herrschenden Bewußtseinsstand besonders zu würdigen: Demnach redet das Bürgertum zwar von Gott, aber es tut nicht seinen Willen; die Sozialdemokraten dagegen verleugnen Gott, doch sie sind gehorsame Täter des Wortes und müssen deshalb ihren Weg gehen. 209 In ähnlicher Perspektive proklamierte Walter F. Classen (1874—1954), Mitbegründer des „Hamburger Volksheims" und späterer Religionspädagoge und Studienrat: „Nicht auf dem Philosophenweg irgend einer malerischen deutschen Kleinstadt, nicht in der babylonischen Abteilung eines Museums, nicht im Salon einer geistreichen frommen Dame, sondern wo die Schlote rauchen und die Dampfpfeifen heulen, wo der Arbeiterstrom im Werktagskleid sich drängt, wo die Warenballen gewälzt und die Werte getauscht werden — da sollen wir die höchste Gottesgewißheit erleben." 210 Herauszustreichen ist in diesem Zusammenhang die Enquete Die deutschen Landarbeiter des ESK, die 1892/93 mit Hilfe von Fragebögen, die an die evangelische Pfarrerschaft versandt wurden, von Paul Göhre und Max Weber durchgeführt wurde. Dieses Projekt verstand sich als Ergänzung zu der methodisch zum Teil umstrittenen Untersuchung über Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, die 1891/92 - ebenfalls unter maßgeblicher Beteiligung Max Webers - im Auftrag des Vereins ßir Socialpolitik durchgeführt worden war. 211 Doch trotz solcher bahnbrechenden Einzeluntersuchungen flankierten theologische und weltanschauliche Vorbehalte vielfach die ökonomische Analyse und standen somit einer dezidiert politischen Interpretation der Sozialdemokratie immer wieder entgegen, wie man selbst im Urteil etwa Otto Baumgartens nachweisen kann: „Auch wir meinen, ein bewusster Christ und ein bewusster Sozialdemokrat schliessen sich aus, das Programm der Sozialdemokratie und das Programm des Christentums sind unvereinbar, sofern man nämlich das Christentum nicht in blossen ethischen Altruismus, die Sozialdemokratie nicht in blossen wirtschaftlichen Radicalismus verflüchtigt. [...] es fehlt in der absolut
209
1904. 210
211
Vgl. H. Kutter, Sie müssen. Ein offenes Wort an die christüche Gesellschaft, Zürich W. F. Classen, Grvßstadtheimat, Hamburg 1906, S. 224.
Vgl. M. Weber, Die Lage der Landarbeiter im ostelhischen Deutschland [1892]
QA.WG 1/3), Tübingen 1984, sowie die Berichte zur ESK-Enquete „Die deutschen Landarbeiter"; in: VESK 5 (1894), S. 43-61 (P. Göhre) und S. 61-82 (M. Weber; wiederabgedruckt in: MWG 1/4, Tübingen 1993, S. 313-341). Dazu M. Riesebrodt, Vom Patriarchalismus zum Kapitalismus. Max Webers Analyse der Transformation der ostelbischen Agrarverhältnisse im Kontext zeitgenössischer Theorien; in: KZSS 37 (1985), S. 546-567. 67
diesseitig-wirtschaftlichen Glückseligkeitstheorie der Sozialdemokratie jeder Raum für die transcendenten Motive der christlichen Lebensarbeit."212 Wie die Arbeiterfrage ein Produkt industriellen Härten der Modernisierungsprozesse war, so hatte auch die bürgerliche Subjektkonstitution nicht von der Dynamik gesellschaftlicher Beschleunigung und Mobilisierung unberührt bleiben können: 213 In Verpflichtung gegenüber den zivilisatorischen Errungenschaften der „modernen Kultur" und ihrer fortschreitenden Verfeinerung hat deshalb der Historiker und Kulturwissenschaftler Eduard Heyck (1862-1941) die Lebenswelt der bürgerlichen „Persönlichkeit" auf ihrer neuen Höhe beispielhaft zusammengestellt und ihre Ausdifferenzierung in einem Kompendium der sittlichen, ästhetischen und politischen „Lebensbildung" systematisiert.214 Zugleich jedoch riefen die Defiziterfahrungen im „stählernen Gehäuse" (Max Weber) der modernen Welt, die sozialen und psychischen Kosten des Fortschritts sowie die Perspektivlosigkeit einer gleichsam leerlaufenden Zukunftsoffenheit noch vor der Jahrhundertwende neue Lebens- und Erlösungssehnsüchte im Sinne einer religiös-fundierten Aufbruchsstimmung hervor: „Das Übermaß der Intellektualisierung alles Lebens verbunden mit der Unübersichtlichkeit und Zersplitterung der spezialisierten Wissenschaft, die relativistische Gebrochenheit eines alles historisierenden und psychologisierenden und damit die eigene Produktionskraft lähmenden Triebes der Selbsterklärung, vor allem die ungeheure Mechanisierung des Lebens durch den Kapitalismus und den modernen Riesenstaat" 215 all das setzte die Fragen nach dem Erhalt der inneren sozialen Ordnung sowie dem Wert des individuellen Lebens, nach dem Raum von Phantasie und Emotionalität, nach Nonkonformität und Sinnerfahrung nur um so drängender gegen die herrschende Rationalisierung in Geltung und
212 O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 1 (1901), S. 253f.; vgl. ders., Kirchliche Chronik; in: MKP 6 (1906), S. 35-47, 80-93, 211-221. 213 Ygi k . Kupisch, Bürgerliche Frömmigkeit im Wilhelminischen Zeitalter; in: ZdZ 17 (1963), S. 13-20; K. Nowak, Bürgerliche Bildungsreligion? Zur Stellung Adolf von Harnacks in der protestantischen Frömmigkeitsgeschichte der Moderne; in: ZKG 99 (1988), S. 326-353 (Lit.); L. Hölscher, Die Religion des Bürgers; in: HZ 250 (1990), S. 595-630; ders., Die religiöse Entzweiung; in: JGNKG 93 (1995), S. 9 25; P. Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform: die liberale Moderne und äe massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991. 214 E . Heyck (ed.), Moderne Kultur. Ein Handbuch der Lebensbildung und des guten Geschmacks, 2 Bde., Stuttgart/Leipzig [1907]. 215 E. Troeltsch, Art. „Neunzehntes Jahrhundert", S. 256. Für den Zusammenhang von „Geldwirtschaft" und „Verstandesherrschaft" vgl. G. Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben; in: T. Petermann (ed.), Die Großstadt, S. 185-206.
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führte zu einer kulturkritischen Suche nach neuer Lebensfundierung.216 Der Erfolg so unterschiedlicher Autoren wie Ernst Haeckel (1834—1919), Heinrich Lhotzky (1859-1930) oder Johannes Müller sowie publizistische Programme wie das des Eugen-Diedrichs-Verlags217 in Leipzig bzw. Jena machten nur zu deutlich, wie nach der Epoche einer „rationalistischen 'ersten' Modernität" nunmehr der Prozeß ihrer selbstreflexiven, antirationalistisch ausgerichteten Wendung einsetzte und eine „'zweite' Modernität des Menschen"218 anhob - eine Phase gleichsam vertiefter Modernität, welche bereits ihre selbstkritische Brechung in sich aufnehmen konnte, ohne lediglich antimodern oder restaurativ zu werden. Diese Wendung innerhalb der Moderne selber richtete sich einerseits weiterhin „gegen die verflossene Periode einer romantisch-spekulativen Geistesrichtung", indem sie dem historisch-kritischen Bewußtsein sowie dem naturwissenschaftlich-technischen Realismus ihr weltanschauliches Recht beließ - doch zugleich leitete sie bereits eine gleichsam neuromantische „Reaktion der seelischen Tiefe gegen die Oberflächenkultur, ein Verlangen nach dem Reich des Gemütes und der Phantasie."219 Im Sinne der reflexiven Verdichtung von Modernitätserfahrung wenden sich hier Wahrheitsbewußtsein und kritische Tatsachenorientierung gegen die Bedingungen der modernen Welt selber: Das menschliche Subjekt beginnt, an dem „stolzen aber kalten Gebäude" zu rütteln, das Rationalismus und Realismus zur „kerkerartigen Heimat für die Menschheit" erbaut haben, und will seiner Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, Vitalität und Tiefe Ausdruck verleihen.220 Entsprechend fordert Rudolf Eucken in seiner Analyse des „inneren Menschen am Ausgang des 19. Jahrhunderts" eine radikale Neuorientierung an den Kategorien des Einzelnen und der Gegenwart. „Statt der Abschleifung und Einengung des Individuums durch die Gesellschaft eine Anspornung zu kräftiger Entfaltung und muthiger Aussprache aller individuellen Eigenthümlichkeit, ein erbitterter Kampf gegen die Gesellschaft, dieses abstracte Wesen, welches das Individuum zum bloßen Exemplar einer Gattung herabdrückt und ihm zugleich alles eigne Leben aussaugt. Statt der Verehrung der Geschichte und der Ein216 Vgl K. Lamprecht, Zur jüngeren deutschen Vergangenheit (Deutsche Geschichte; Erster Ergänzungsband), Freiburg i. B. 1905, bes. S. 379ff. Dazu G. Hübinger, Protestantische Kultur im wilhelminischen Deutschland; in: IASL 16 (1991), S. 174—199. 217 Yg] G. Hübinger, Kulturkritik und Kulturpolitik des Eugen-Diederichs-Verlags im Wilhelminismus. Auswege aus der Krise der Moderne?; in: H. Renz/ F. W. Graf (eds.), Umstrittene Moderne, S. 92-114. Dazu A. Bonus, Einige Anmerkungen zur religiösen Krisis; in: ChW 21 (1907), Sp. 513-519, 1103-1109; ders., Religion und Kultur; in: W. Dilthey u. a., Weltanschauung, S. 391^13. 2 1 8 T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918 Bd. 1, S. 690; vgl. ders., Religion und Gesellschaft: Deutschland um 1900; in: HZ 246 (1988), S. 605. 2 1 9 F. Niebergall, Die moderne Predigt; in: ZThK 15 (1905), S. 207. 2 2 0 Vgl. H. Stephan, Christlich oder modern?; in: ChW 12 (1898), Sp. 9.
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reihung der Gegenwart als eines unselbständigen Punktes in die unendliche Kette der Zeiten eine volle Selbständigkeit der lebendigen Gegenwart, ein Eintreten für das souveräne Recht des Augenblicks als das Unterpfand einer unverwelklichen Jugend der Menschheit."221 „Wir Suchende von heute sind aller Ideen, Theorien, Ideale und anderer Abstraktionen müde, weil wir nicht mehr daran glauben und ihre Unfähigkeit, das Problem des Menschen zu lösen, erkannt haben. Wir suchen die Wahrheit nicht mehr in der Welt der Begriffe, sondern im Leben, und zwar auf empirischen Wege. Wer uns mit Theoremen kommt, versteht uns nicht. Darüber sollte sich die Kirche endlich klar werden. [...] Mit Ideen läßt sich die heutige Sehnsucht der Seele nicht befriedigen, sondern nur durch neues Werden: Und wie es keine Herrschaft der Dogmen wieder geben wird, so auch keine Herrschaft der Ideen. Auch 'Persönlichkeit' ist uns ja keine Idee, sondern ein Geheimnis, das wir durch persönliches Werden zu entschleiern suchen. Wie an die Stelle der Dogmen die Tatsachen und Gesetze des Lebens getreten sind, so an die Stelle der Ideen die unserm Wesen immanente Bestimmung und die ihr entsprechenden Ziele."222 Weltanschaulich und alltagspraktisch hatten der naturwissenschaftliche Realismus sowie das historische Verstehen alles Gewordenen die traditionellen metaphysischen Denkmuster weithin diskreditiert und die Bindung an das gegenwärtig Vorfindliche nachdrücklich in Geltung gesetzt: „Während einst die Menschheit so leicht in die transzendenten Höhen sich hineindenken konnte, ist für uns Moderne alles, was die Augen nicht sehen und was der Verstand nicht nachrechnen kann, unendlich schwer faßlich geworden."223 Doch im Horizont der vielfach antirationalen Lebens- und Erlösungssehnsüchte sollten auch Mythos und Religion wieder in ihrer kulturkritischen Potenz entdeckt werden; gerade ihre Abständigkeit vom herrschenden Gesellschafts- und Kulturbetrieb verlieh ihnen die Aura des Unverbrauchten und Verheißungsvollen und machte sie er2 2 1 R. Eucken, Der innere Mensch am Ausgang des 19. Jahrhunderts; in: Deutsche Rundschau 92 (1897), S. 35. Kritisch vgl. E. v. Hartmann, Der Individualismus der Gegenwart; in: PrJ 96 (1899), S. 30-56. * 2 2 So - in Auseinandersetzung mit einem Vortrag von Georg Koch - J. Müller, Einige Bemerkungen zu dem Aufsatz über moderne Persönlichkeitskultur; in: ChW 22 (1908), Sp. 659. Anzumerken ist, daß bei Müller die 'Empirie' wesentlich auf die Wirkmächtigkeit des biblischen Schöpfer- und Erlösergottes bezogen ist und insofern eine 'höhere Realität' gerade einschließt. 2 2 3 M. Schian, Der moderne Mensch; in: A. Bonus/A. Perino/M. Schian, Der moderne Mensch und das Christentum (HCW Nr. 34/35), Leipzig 1898, S. 37. Vgl. M. Rade, Die Religion im modernen Geistesleben, Freiburg i. B./Leipzig/Tübingen 1898; F. Curtius, Ueber den modernen Menschen; in: ChW 12 (1898), Sp. 98-102; Phöbe, Beitrag zur Charakteristik des modernen Menschen; in: a. a. O., Sp. 145-147; E. Foerster, Das Christentum der Zeitgenossen; in: ZThK 9 (1899), S. 1-96.
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neut zu bedeutsamen Symbolisierungen des kulturellen Unbehagens: „Ja der moderne Mensch erblickt in der Religion stets noch die Macht, welche das Chaos der Ideen und Strebungen unserer Zeit zu einem geistigen Kosmos erheben und ihre auseinanderfallenden Strebungen vereinheitlichen könnte." „Instinktiv setzt sich seine Psyche zur Wehr gegen die Maschinenkultur mit ihrer seelentötenden Technik und den Sozialismus mit seiner Einebnung individuellen Lebens." 224 Dabei hatte sich die „Religion der Jetztzeit" irdischer, menschennäher als die dogmatischen Gehäuse früherer Zeiten zu verstehen - Aufbruch und Erwartung sollten nunmehr ihre Grundtendenz charakterisieren: „Der moderne Mensch fühlt die Notwendigkeit eines neuen Gott-Symbols, des menschlichen allgegenwärtigen Gottes." 225 Mit den sozialen und seelischen Wandlungsprozessen hatte sich auch der christliche Glaube neu auszulegen und zu behaupten, damit das Evangelium Jesu nicht zwischen den Fronten von „modernem Antichristentum" und „antimodernem Christentum" (Oskar Pfister) verlorengehen würde - die religiöse Tradition sollte gleichsam modernisiert und neu für die Gegenwart aufbereitet werden: „Denn modern nennen sich diejenigen, welche die lebensunfähige Vergangenheit abschütteln wollen und Raum machen zur Entdeckung neuer Daseinsmöglichkeiten. Modern sein heisst, alles Veraltete bekriegen, das Zukunft-hältige suchen und vertheidigen. [...] Da wir an eine Entwicklung der Menschheit glauben, so ist immer die letzte Zeit, das Heute die modernste Zeit und wird nur von der noch nicht seienden Zukunft an Modernität übertroffen."226 — So formuliert mit noch ungebrochenem Fortschrittsoptimismus und dem Gestaltungswillen des „Übermenschen" Max Messer (1875—1930) in seinem zeitgenössischen und weitverbreiteten Werk Die moderne Seele, das den geistigen Idealen der neuen Menschheit Ausdruck verleihen will. Zutreffend, jedoch nicht zustimmend resümiert H. Temper dazu in einer Rezension: „Unsere al224 G. Lasch, Die moderne Bildungsreligion; in: Archiv der Strassburger PastoralConfenni 13 (1910-14), S. 291.
* 2 5 N. Fornelli, Der neue religiöse Individualismus; in: Jahrbuch moderner Menschen Bd. 3 (1908), S. 123 (im Original hervorgehoben); vgl C. Schieler, Die Religion der Jetztzeit; in: Der Volksergeher 4 (1900), S. 313f. Dazu H. Stephan, Religion und Gott im modernen Geistesleben (SgV 78), Tübingen 1914, der in diesen beiden Vorträgen (1. Das religiöse Suchen unserer Zeit; 2. Gott im modernen Geistesleben) sich gerade mit solchen Tendenzen befaßt, die sich außerhalb der engeren Grenzen des Christentums bewegen. 2 2 6 M. Messer, Die moderne Seele, Leipzig 1899, S. 6f. Und weiter: „Noch fehlt der Einzige, der Heiland der modernen Zeit, in dessen Person sich der unendliche Komplex des Künftigen zum Führer der Menschheit vereinfache. Aber Tausende fühlen, dass er kommen werde, harren seiner in demütiger Sehnsucht und bereiten seine Ankunft durch ihr Sein und durch ihr Schaffen vor." (a. a. O., S. 8) - Zuletzt soll sich die Komplexität der modernen Welt eben doch in der entlastenden Einheitsgestalt des „Führers" auflösen ... 71
ten Formen müssen, weil sich in ihnen dieser Menschentypus nicht entwickeln kann, zerbrochen werden, vor allem die 'Käfige' unseres heutigen Staates und der Familie, der Erziehung zu Normalberufen und zur Ehe. Die alten Bildungsmittel, wie Shakespeare, Goethe, Mozart, Tizian, Rubens, müssen verdrängt werden von Richard Wagner , Nietzsche, Ibsen, Tolstoi, den Klassikern der 'modernen Seele'. Die alte Begeisterung für die Landschaftsromantik der weiten Reisen nach Gletschern, Hochgebirgen, Fjords und Wüsten ist für die 'moderne Seele' abgetan. Sie findet die Berührung mit der Natur auch in der unromantischen Ebene mit ihrem aufgeackerten Boden, ihren rauchenden Essen und ihren schnurgeraden Bahndämmen."227 Vitalromatische Wertdimensionen wie Wille, Gefühl und individuelle Impression sollten gegen Nivellierung und Entfremdung neu in Geltung gesetzt werden, um der aufgesprengten Wirklichkeit des gelebten Lebens selber die Qualität authentischer Sinnerfahrung abzuringen: „Was der Großstädter nach seiner ganzen inneren Situation sucht, ist nicht eine klar formulierte Wahrheit, sondern eine religiöse Alpenwelt, die groß und ewig zu ihm herniederschaut und doch gütig und freundlich ihn in ihren Schoß aufnimmt, damit er in ihr die verlorenen Willenskräfte wiedergewinnen und die zerrissene Lebensharmonie wiederherstellen könne."228 Das alte Schlagwort Goethes von der Persönlichkeit, verstanden als ein sittlich-ästhetischer Bildungsprozeß der Beweglichkeit und Entwicklungsfähigkeit gegenüber den normierenden Vorgaben eines traditionalen Ordnungsgefüges, erhielt neue, unmittelbare Plausibilität: Es zielte nunmehr auf individuelle Autonomie und Gestaltungsfreiheit angesichts der Übermacht einer drohenden nivellierenden Massengesellschaft - und zwar unter der Maxime, „selber zu leben, selbst das Leben nach den dem Einzelwesen innewohnenden Möglichkeiten und Fähigkeiten zu gestalten, nicht sich leben zu lassen, sondern der souveräne Gestalter des eigenen Lebens zu sein, aber nicht nach der Willkür eines von außen her aufgezwungenen Ideals"229. Unprotestantisch war nun der Untergang in der Masse: unkritische Fremdbestimmung, mechanische Außengeleitetheit oder dumpfe Gewohnheitsorientierung. Die Durchsetzung sozialökonomischen Aufstiegsinteresses oder die Kultivierung eines persönlichen Genußlebens konnte sich ebenso hier anschließen wie die zivilisationskritische Lust am Kranken und Ausgestoßenen oder die Faszination durch neue Ideale der Ehelosigkeit, Berufslosigkeit oder Heimadosigkeit - für die „Übergangsmenschen" der Jahrhundertwende waren das angeschlaH. Temper; in: Der alte Glaube/Literarische Beilage 4 (1902/03), Sp. 177f. L. Heitmann, Großstadt und Religion 1. Teil, Hamburg 1913, S. 157. 2 2 9 R. Lembert, Das Problem von Persönlichkeit und Masse in der Kirche; in: H. Pöhlmann (ed.), NORIS. Jahrbuch für protestantische Kultur, Nürnberg 1909, S. 33. Differenzierend G. Misch, Von den Gestaltungen der Persönlichkeit; in: W. Dilthey u. a., Weltanschauung S. 81—126; F. Niebergall, Person und Persönächkeit, Leipzig 1911. 227 228
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gene Kulturideal sowie das Leitbild der Persönlichkeit nicht mehr ohne weiteres deckungsgleich, sondern konnten durchaus inhaltlich auseinanderfallen.23« Ihre prägnante Verdichtung fand die bürgerliche Kultivierung des Persönlichkeitslebens im zeitgenössischen Heldenkult Carlyle'scher Prägung - ein deutlicher Reflex der realgeschichdichen Bedrohung der klassischen Bildungseliten.231 Als kompensatorischer bürgerlicher Wertbegriff vermittelt die Rede von der religiös-sitdichen Persönlichkeit die Ansprüche des bedrohten Subjekts mit den Bedingungen der modernen gesellschaftlichen Wirklichkeit und wird zur neuhumanistischen Chiffre für den Transzendenzbezug des Menschen; die „Rettung der Persönlichkeit"232 angesichts von Entwurzelung und Vermassung wird in diesem Sinne zu einer andrängenden kulturkritischen Themenstellung im ausgehenden 19. Jahrhundert, in welcher der moderne Protestantismus seine bevorzugte, wenngleich keineswegs einfach zu bewältigende „Kulturaufgabe" erkannte. Besonders eindrücklich spiegelt sich dieser thematische Komplex in der Analyse wider, mit der der Berliner Praktische Theologe Friedrich Mahling (1865-1933) die prinzipielle Ambivalenz der modernen gesellschaftlichen Bedingungen hinsichdich der Konstitution von Individualität und Sozialität beschrieben hat: „Die Spannung der Kultur treibt zur Persönlichkeitsvergötterung und zugleich zur Vernichtung der Persönlichkeit, die dem wirtschaftlichen Kampf und geistigen Ringen nicht gewachsen ist; sie treibt zum Zusammenschluß der Gemeinschaft und bewirkt durch die Unterschiedlichkeit der Interessenvertretungen gerade bei dem Zustandekommen solcher einzelnen Zusammenschließungen eine ZerM. Dessoir, Dekadent und Leistungsmensch; in: Der Lotse II/l (1901/02), S. 682; vgl. W. Hellpach, Das Pathologische in der modernen Kunst, Heidelberg 1910; W. Eiert, Die sogenannte Persönlichkeitskultur; in: Der alte Glaube 13 (1911/12), Sp. 531-540; J. Hermand, Schwundformen des Liberalismus: Zur ästhetischen Fronde im Zweiten Kaiserreich; in: M. Pfister (ed.), Die Modernisierung des Ich, Passau 1989, S. 111-121. Dazu M. Doerry, Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, 2 Bde., Weinheim/München 1986 - eine exemplarisch auf sieben Lebensläufe rekurrierende Untersuchung zu den Mentalitätsformationen der Krisenjahre des Kaiserreichs, die anhand der zuweilen etwas schematischen Konstanten „Autoritätsfixierung, Assimilation, Harmonieorientierung und Aggressivität" (S. 291 systematisiert werden. Vgl. M. Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte, S. 484; H. Kahlert, Der Held und seine Gemeinde, Frankfurt/M. u. a. 1984, S. 137ff. Dazu F. K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, dt. Stuttgart 1983; R. v. Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890-1914), Husum 1980. 2 3 2 Vgl. F. W. Graf, Rettung der Persönlichkeit; in: R. v. Bruch/F. W. Graf/ G. Hübinger (eds.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, S. 103-131; K. Tanner, Von der liberalprotestantischen Persönlichkeit zur postmodernen Patchwork-Identität?; in: F. W. Graf/K. Tanner (eds.), Protestantische Identität heute, S. 96-104, 269f. 230
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splitterung, welche die Menschen ohne inneres Einheitsband nach den verschiedensten Seiten hin auseinanderreißt." 233 In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung des großen, seit 1869 von dem Germanisten und Musikhistoriker Rochus von Liliencron (1820—1912) erarbeiteten Projektes einer Allgemeinen Deutseben Biographie herauszustreichen, mit dem erstmalig eine übergreifende Zusammenstellung namhafter Gestalten und Persönlichkeiten der deutschen Geschichte vorgelegt werden sollte. Dieses umfangreiche lexikographische Werk, dessen erster Band 1875 erschien und das erst 1912 mit Bd. 56, dem Registerband, seinen Abschluß fand, wurde durch die Historische Commission bei der Königüchen Akademie der Wissenschaften zu München herausgegeben und verdankte sich in seiner Anlage durchaus dem erstarkenden deutschen Nationalgeist. Liliencron, von 1876 an Propst des Johannisstifts vor Schleswig, hat mit diesem von ihm über Jahrzehnte geleiteten und organisierten Projekt eine wissenschaftliche Pionierleistung vollbracht, die der weiteren biographischen Forschung Maßstäbe setzen sollte. Die letzten beiden Nachtragsbände der ADB wurden im übrigen von Anton Bettelheim (1851— 1930), einem Wiener Juristen und Schriftsteller jüdischer Abstammung, redigiert; dieser hatte bereits 1895 die Biographische[n] Blätter. Jahrbuch für lebensgeschichtliche Kunst und Forschung begründet, aus denen zwei Jahre später das bekannte - von Bettelheim bis 1918 geleitete - Nachschlagewerk Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog hervorgegangen ist. Die lebensgeschichtliche Leistung des Einzelnen sowie die Würdigung seiner Person sollten mit Hilfe dieser Blätter vor dem Vergessen und dem Untergang in der allgemeinen modernen „Vielgeschäftigkeit" bewahrt werden. Daß sich solches Interesse an der Lebensgeschichte nicht nur auf die Vita „führender Geister" - so der Titel eines früheren, bereits 1890 begonnenen Projekts A. Bettelheims - beschränken müsse, sondern vielmehr alle Menschen das Recht auf eine Biographie haben, hat dabei besonders der Lemberger Literaturwissenschaftler Richard Maria Werner (1854-1913) herausgestellt, indem er sich in diesen Biographischen Blättern programmatisch dem Projekt einer „Biographie der Namenlosen" widmete:234 die Rekonstruktion typischer Lebensläufe sowie ihre spezifische Verschiebung unter den gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen wurde auf diese Weise frühzeitig als anstehende Forschungsaufgabe erkannt. In medizinischer Hinsicht haben die Erfahrungen der gesellschaftlichen Pluralisierung und Desintegration sowie die alltagspraktischen Potentiale des kulturellen Unbehagens zu einer besonderen Konjunktur neurasthenischer Krankheitsbilder gefuhrt: Die nervöse „Reizsamkeit" sowie das Leiden an der modernen „Reizflut" verliehen der neuen Epoche ihre
F. Mahling, Die soziale Bedeutung der christüchen Gemeinde, S. 47. R. M. Werner, Biographie der Namenlosen; in: Biographische Blätter 1 (1895), S. 114-119; dazu BIOS [1] 1988, S. 67. 233 234
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psychologische Signatur.235 „Kompliziert ist das öffentliche Leben und das geistige Leben; kompliziert auch das Innenleben des Einzelnen": jeder lebt verstört und isoliert in seinem individuellen „Seelenlabyrinth" so charakterisierte der junge Horst Stephan (1873-1954) in seiner preisgekrönten Arbeit, das Lebensgefühl des „modernen Menschen".236 Das Gemüt, der „Kern des Menschen", vermochte „die Fülle der Beziehungen zur Außenwelt nicht mehr zu beherrschen; statt aus ihnen Nahrung zu saugen, büßt es durch sie seine Ruhe und Festigkeit ein. [...] Nervosität ist die Hauptkrankheit des privaten wie des öffentlichen Lebens".237 In der vielbeklagten Unrast und Reizflut der modernen Zeiten schien kein Raum mehr für innere Sammlung und echtes Persönlichkeitsleben zu bleiben: „Trotz einer immer verständiger werdenden Körperpflege und aller Diätetik des Geistes stumpft die Überfülle der in der Konkurrenz immer schärfer werdenden Reize den Menschen ab und zerreibt Nerven, Geist und Seele."238 Aushöhlung der Beziehungen und Verlust einer heimatlichen „Mitte"239 waren die Folge, „gemischte Gefühle" und „moderne Gefühlsabstumpfung"240 schienen unvermeidlich. In der Folge haben die Verbreitung von Nervosität und „reizbarer Schwäche" sowie die allgemeine Sensibilisierung für Nervenleiden aller Art auch die soziale Anerkennung solcher bürgerlichen Modekrankheiten gefördert und ihrer medizinischen Behandlung einen eigenen, durchaus lukrativen Markt verschaffen: Die kirchliche Seelsorge bekam gewissermaßen eine 235 Ygi w . Erb, Ueber die wachsende Nervosität unserer Zeit, Heidelberg 1893; K. Lamprecht, Moderne Geschichtswissenschaft, Freiburg i. B. 1905, S. 55ff.; W. Hellpach (unter dem Pseudonym Ernst Gystrow), Liebe und Liebesleben im 19. Jahrhundert, Berlin 1902; ders., Soziale Ursachen und Wirkungen der Nervosität; in: Politisch-Anthropologische Revue 1 (1902/03), S. 43-53, 126-134; ders., Nervenkben und Weltanschauung. Ihre Wechselbeziehungen im deutschen Leben von heute (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens Heft 41), Wiesbaden 1906, etwa S. 14 zur „Rentenhysterie" als „proletarischer Berufspsychose" und S. 45ff. zum „nervösen Collaps" im „neuen bürgerlichen Nervenleben". Außerdem C. Hilty, Kranke Seelen. Psychopathische Betrachtungen, Leipzig 1907; S. Freud, Die 'kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität [1908]; in: ders., GW Bd. 7, London 1941, S. 143-167; W. Eckart, „Die wachsende Nervosität unserer Zeit"; in: G. Hübinger/R. v. Bruch/F. W. Graf (eds.), Ideatismus und Positivismus, S. 207-226. H. Stephan, Christlich oder modern?; Sp. 11; der Wortlaut des Preisausschreibens findet sich ChW 11 (1897), Sp. 667f. u. ö., das Ergebnis der Jury a. a. O., Sp. 1226f. 2 3 7 H. Stephan, Christlich oder modern?, Sp. 11. 2 3 8 F. Niebergall, Die moderne Predigt; in: ZThK 15 (1905), S. 213. 2 3 9 Vgl. H. Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit (1948), Salzburg 10 1983. Vgl. R. Baerwald, Psychologische Faktoren des modernen Zeitgeistes; in: Schriften der Gesellschaftfür psychologische Forschung Heft 15, Leipzig 1905, S. 1-85, bes. S. 33ff., 81 f. 236
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professionelle säkulare Konkurrenz, die sich auf die Behandlung von Folgeerscheinungen des modernen Lebens spezialisierte. Exemplarisch für diese Tendenz mag eine Notiz aus der Berliner Zeitung stehen, die ein „Warenhaus für seelischen B e d a r f annoncierte: In dieser Anstalt sollte die seelische Behandlung und Heilung von „Gewissens-Weltschmerz, geistiger Unklarheit, Neigung zu Gewalttaten und Verbrechen" oder „Seelenqual" ermöglicht werden. 2 4 1 Vor diesem sozialpsychologischen Hintergrund ist auch die Arbeit der in Deutschland 1892 etablierten Gesellschaft für ethische Kultur zu verstehen, die sich angesichts der sinkenden gesellschaftlichen Integrationskraft der Kirchen um eine wissenschaftlich-rationale bzw. areligiöse Begründung von „Sittlichkeit" bemühte. 242 Da die moderne Welt selber offensichtlich nicht für den Erhalt ihrer eigenen idealen Grundlagen, wie sie durch sittliche Durchbildung und Erziehung zu moralischem Handeln gelegt werden, zu sorgen im Stande war, bedurfte es neuartiger Anstrengungen zur Fundierung ethischer Verbindlichkeit und seelischer „Innen-Kultur". Neben der Forderung nach einer Trennung von Staat und Kirche - insbesondere zur Durchsetzung konfessionsfreier Schulen - und der Unterstützung gesellschaftskritischer Kräfte wie der Frauenbewegung, der Abstinenzbewegung oder der internationalen Friedensbewegung sollten diesem weltanschaulichen Reformziel vor allem die ausgedehnte praktisch-humanitäre Volksbildungsarbeit der ethischen Gesellschaft dienen, welche der allgemeinen Tendenz zu kultureller Verflachung und moralischer Desorientierung breitenwirksam entgegenzutreten beabsichtigte: 243 „Ichkultus" und „Weltknechtschaft" als die unvermeidlichen Folgen der „modernen Auslebetheorie" sollten durch Rekurs auf ideale Werte und gemeinschaftsfähige Persönlichkeitsbildung überwunden werden. 244 Wenngleich die angestrebte ethische Neufiindierung individueller Lebensführung vor allem durch die Stärkung der sogenannten menschlichen „Selbsterlösungskräfte" erreicht werden sollte und somit weder auf die Kirche noch auf die Hilfe eines Seelsorgers zurückgreifen wollte, 245 so wurde doch im Zuge dieser sozialkritischen Bemühungen um eine innengeleitete Lebensorientierung auch der Wert einer 241
Abgedruckt in: ZRPsfHJ 4 (1910/11), S. 312.
242 Ygj h. Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs (1965),
Freiburg/ München 2 1975, S. 41ff.; dazu ders., Politische Philosophie in Deutschbnd, Basel/Stuttgart 1963, bes. S. 127ff. 2 4 3 Vgl. H. Mulert, Art. „Ethische Kultur"; in: RGG1 Bd. II, Sp. 674-679; C. Clemen, Die ethische Bewegung; in: ChWl (1893), Sp. 174-177, 199-203; W. Bor-
nemann, Christentum und ethische Kultur, Magdeburg 1897; W. Börner, Zeitgemässe
Lebensfragen, Frankfurt/M. 1909; ders., Die ethische Bewegung (Kultur und Fortschritt No. 411), Gautzsch bei Leipzig 1912. 2 4 4 Kritisch dazu O. Eberhard, Die moderne Auslebetheorie im Licht der Psychotherapie; in: Die Formation 7 (1908), S. 23-26, bes. S. 24f. Außerdem vgl. F. W.
Foerster, Lebensführung. Ein Buch für junge Menschen, Berlin 1909. 245 Vgl B. Carneri, Der moderne Mensch. Versuche über Lebensführung (1890), Bonn 71902; R. Penzig, Ohne Kirche. Eine Lebensführung auf eigenem Wege, Jena 1907. 76
nunmehr „weltlichen Seelsorge" wiederentdeckt: Gegen die als halbseiden und sensationslüstern apostrophierte „Zirkuskultur" des modernen öffentlichen Lebens mußten besondere heilsame Momente der Einfühlung und des Gesprächs, der persönlichen Sammlung sowie der ethischen Durchbildung als Gegengewicht gesetzt werden, damit innere Harmonie und moralische Spannkraft sich auch unter den antagonistischen bzw. dissoziierenden Bedingungen der modernen Welt würden ausbilden können: „Unendlich viele Menschen führen heute, geistig genommen, ein Leben von der Hand in den Mund. Ihre Seelenstärke reicht von heute auf morgen, reicht sozusagen nur für den täglichen Hausgebrauch. Kommt aber ein unvorhergesehener Schicksals schlag, dann brechen sie zusammen [...]. Um Schicksalsschlägen gewachsen zu sein, um dem Schwinden so vieler kostbarer Güter und dem Zusammensturz ganzer Reiche im Seelenleben standhalten zu können, dazu bedarf es mehr als einiger gelegentlicher Reminiszenzen an Katechismus und Gebetbuch, auch mehr als antireligiöser Schlagworte und freiheitlicher Phrasen: es bedarf einer inneren Welt, die der Welt von Grausamkeiten und Widersinnigkeiten [...] entgegengesetzt werden kann."246 Doch auch medizinische Psychologie begann sich unter den modernen Bedingungen neu zu konstituieren: Freuds Forschungen Zur Psychopathologie des Alltagslebens etwa, die, im Gegensatz zu vielen anderen seiner Schriften, auch zeitgenössisch eine überwiegend positive Aufnahme fanden und wohl seine populärste Publikation wurden,247 fugten sich mit ihrer Beschreibung und Analyse kommunikativer „Fehlleistungen" wohl noch am bruchlosesten in das neurasthenisch-sensibilisierte Klima seiner Zeit, welches auch in Seelsorgepublikationen einen breiten Niederschlag gefunden hat.248 Dabei brachte es die Art der modernen Seelenkrank246 w Börner, Weltliche Seelsorge, Leipzig 1912, S. 51; vgl. S. 53. Zum Programm einer „weltlichen Seelsorge" vgl. auch das Diktum von S. Freud „Ich möchte sie (die Psychoanalyse, d. Vf.) einem Stand übergeben, der noch nicht existiert, einem Stand von »«/¿liehen Seelsorgern, die Ärzte nicht zu sein brauchen und Priester nicht sein dürfen." (abgedruckt in: S. Freud/O. Pfister: Briefe 1909-1939, Frankfurt a. M. 1963, S. 136). Außerdem W. Bernet, Wetliche Seeborge. Elemente einer Theorie des Einzelnen, Zürich 1988. 2 4 7 S. Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1904); in: ders., GW Bd. 4, London 1941; vgl. E. Jones, Sigmund Freud, heben und Werk, Bd. 2, dt. München 1984, S. 393-395. Die anfängliche Verbreitung psychoanalytischer Schriften steht z. T. im umgekehrten Verhältnis zu ihrer späteren Bekanntheit: Von Freuds berühmter, 1899 abgeschlossenen Traumdeutung (Wien/Leipzig 1900) wurden beispielsweise in den ersten acht Jahren gerade 600 Stück verkauft - erst 1909 wurde eine zweite Auflage nötig. 2 4 8 Dazu siehe z. B. die 'Besinnungen' F. Niebergalls, in: ChW 17 (1903), Sp. 97 („Zwangsvorstellungen"); Sp. 121 („Scheinfreiheit"); Sp. 721f. („Das Auge Gottes"); EvFr 1 (1907), S. 278 („Der Gegner") u. a. m. Außerdem S. Weber, Zwangsgedanken und Zwangs^ustände in pastoral-psychiatrischer Beurteilung (Seelsorger-Praxis V), Paderborn 1903 — eine Schrift, die sich am Rande auch kritisch auf die Hypothesen des „Dr. 77
heiten mit sich, daß Heilung nicht allein als medizinisch-operationales Geschehen verstanden werden konnte, sondern zugleich nach neuer existentieller Fundierung im Sinne einer ganzheitlichen Lebensvergewisserung verlangte. Diesen Aspekt betonte besonders der Mediziner Jaroslaw Marcinowski (1868-1935) - 1910 ein Gründungsmitglied der Berliner Gruppe der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung — in seinen Schriften, der damit frühzeitig auf die Bedeutung weltanschaulicher Orientierungen im psychotherapeutischen Behandlungsprozeß hinwies: Lebenseröffnende und lebensverstellende Elemente jeder Weltanschauung müßten individuell einer kritischen Überprüfung unterzogen werden, um die eigenen Wege zur inneren Stärkung und psychischen Gesundung zu erschließen.249 Nur vereinzelt lassen sich dabei Stimmen finden, die die moderne Reizsamkeit und Nervosität nicht primär als krankhafte bzw. defizitäre Zustände interpretierten, sondern in ihnen durchaus einen höheren Zustand der „gesteigerten Reizempfindlichkeit" zu sehen bereit waren, welcher positiv auf eine „Differenzierung im eigentlichen Seelenleben" verwies. 250 Im Vordergrund stand vielmehr weithin eine fortschritts- und modernitätskritische Polemik, die die schleichende Zersetzung des überkommenen Lebens- und Ordnungsgefüges vor allem als psychisch und sozial destabilisierenden Faktor interpretierte: „Wirklich gesundes geistiges Leben und eine wirklich gute Unterhaltung ist eine Waffe gegen die Nervosität; die Verwahrlosung des modernen Familienlebens dagegen und die Unordnung moderner Vergnügungssucht und Geselligkeit rufen Nervosität hervor."251 Zudem wurde die kritische Analyse des kulturellen Unbehagens theologischerseits vielfach überlagert durch ein apologetisches Interesse an der Desavouierung der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse: Die Verarmung und Zerrüttung des Individuums, die Depravation des Familienlebens sowie die Zerstörung der menschlichen Gemeinschaft seien demzufolge nur die unausbleiblichen Konsequenzen
Freund in Wien" (!) bezieht (S. 102). Vgl. S. Freud, Zwangshandlungen und Religionsübungen [1907]; in: ders., GW Bd. 7, London 1941, S. 129-139. 2 4 9 Vgl. J. Marcinowski, Im Kampf um gesunde Nerven! Ein Wegweiser %um Verständnis und %ur Heilung nervöser Zustände, Berlin 1904; ders., Nervosität und Weltanschauung. Studien %ur seelischen Behandlung Nervöser, Berlin 1905; ders., Der Mut sich selbst, Berlin 1912. Zur Diskussion um die therapeutische Valenz von „Weltanschauungen" in ärztlicher und seelsorgerlicher Perspektive vgl. J. Naumann, Weltanschauung als Heilfaktor; in: ChW 22 (1908), Sp. 2-6; J. Marcinowski, Ueber Weltanschauung als Heilfaktor; in: a. a. O., Sp. 434-438. 2 5 0 Vgl. H. Weichelt, Der moderne Mensch und das Christentum (HCW Nr. 49), Tübingen/Leipzig 1901, S. 27. 2 5 1 W. Bornemann, Die Heilung der Nervosität; in: ChW 12 (1898), Sp. 916; vgl. H. Lüdemann, Individualität und Persönlichkeit, Bern 1900. 78
des modernen Bruches mit Religion und Christentum.252 Besonders deutlich wird diese apologetische Tendenz in den plakativ-propagandistischen Gegenwartsbildern, mit denen Theodor Schott (1835-1899), Mitbegründer des Vereins für Reformationsgeschichte und seit 1876 Schriftleiter des Allgemeinen Kirchenblattes fiir das evangelische Deutschland, die dramatischen Folgen der Abkehr von Kirche und Christentum eindrücklich zu belegen suchte: „Die immer zahlreicher die Anstalten füllenden Gemüthskranken und die immer massenhafter, reihenweise aufmarschirenden Selbstmörder aus allen Ständen und Altersstufen sind sozusagen die Märtyrer, die mit ihren Lebenstrümmern erschütternd die Thatsache beleuchten, daß unsere Zeit dem Gemüth nicht gibt, wovon es leben kann." 253 Doch jenseits solcher Tendenz zu polemischer Verzeichnung herrschte bald weitgehendes Einvernehmen darüber, daß das Zerbrechen der traditionalen Ordnungen in praktisch-theologischer Perspektive nicht lediglich mit der Verstärkung traditioneller Verkündigungsformen wie Gottesdienst und Beichte beantwortet werden könnte. Die neuen sozialen Zustände sowie die massiven Veränderungen auf allen Lebensgebieten mußten jeden Pfarrer vielmehr bei seiner seelsorgerlichen Tätigkeit aus den „gewohnten schmalspurigen Sekundärbahnen hinaustreiben, damit, unbeirrt durch einen toten Strang oder eine Entgleisung, er neue Wege suche, um die neuen Aufgaben zu lösen" 254 — gerade die freie Form der Seelsorge erschien noch am ehesten gestaltungsoffen für eine wirksame Integration der modernen Dissoziationserfahrungen. Darüber hinaus sollten auch in Predigt und Religionsunterricht gegenüber einseitiger Traditionsorientierung nunmehr „neue Bahnen" eingeschlagen werden, welche die Potentiale moderner Lebenserfahrung für eine wirklich zeitgemäße Auslegung des chrisdichen Glaubens in Geltung zu setzen hätten. Die „Predigt im Zeitalter der Maschine"255 mußte tatkräftiger und aggressiver werden - psychologischer und sozialer „Realismus" sollten ihre charakteristischen Kennzeichen bilden. Als Leitsatz und Verheißung einer solchen „konkreten Predigt" formulierte der von 1893 an in Breslau lehrende Neutestamentler William Wrede (1859-1906): „Selig sind, die keine Phrasen machen,
252 Ygj j-j Guth, Die moderne Weltanschauung und ihre Consequen^en (ZCVL HI/1), Frankflirt a. M. 1878, S. 14ff. 2 5 3 T. Schott, Unsere Zeit im Lichte des Gemüthslebens betrachtet (ZCVL XI/1), Heilbronn 1885, S. 28; differenzierend L. Meyer, Die Zunahme der Geisteskrankheiten; in: Deutsche Rundschau Bd. 45 (1885), S. 78-94. Außerdem W. Domansky, Nerventrost. Ein Kapitel über die Krankheit unserer Zeit (ZCVL XXXIV/2), Stuttgart 1909 - ein „anspruchsloses Schriftchen" (S. 53). 2 5 4 R. Löber, Die an den Geistlichen übende Seelsorge, S. 90. 2 5 5 T. Häring, Zeitgemäße Predigt, Göttingen 1902, S. 9. 79
denn sie werden verstanden werden." 2 5 6 Wahrhaft populäre, d. h. interessante und verständliche Predigt muß sich auf das Stoffliche und Greifbare des gelebten Lebens selber einlassen, denn „nicht die bloße Idee, sondern das Wirkliche, nicht das Allgemeine, sondern das Individuelle und Einzelne, nicht das Abstrakte, sondern das Anschauliche ist es, was Eindruck macht und Interesse weckt." 2 5 7 Die Forderung nach einer offensiven und realistischen Gegenwartspredigt hat sodann der Heidelberger Praktische Theologe Friedrich Niebergall (1866-1932) unter der Frage „Wie predigen wir dem modernen Menschen? " 2 5 8 auf den Begriff gebracht: Moderne Predigt will eingreifende, wirksame Predigt sein - „sie will nicht Schrift auslegen, sondern sie will Leben gestalten". 259 Text und Leben sollten „dem wirklichen Sinne und Bedürfen unserer Zeit entsprechend" aufeinander bezogen und für die religiös-sittliche Vertiefung des gegenwärtigen Persönlichkeitslebens fruchtbar gemacht werden. 2 6 0 Zur Untermauerung dieser Forderung nach Eindrücklichkeit und griffigem Lebensbezug strich F. Niebergall heraus: „Man ist eilig und man ist stumpf; darum nur scharf umrissene Gestalten, wenige grelle Farben, schnell ein paar starke Eindrücke, ein paar Lichter auf die Dinge gesetzt, nur nicht schildern und langweilig beschreiben; denn man hat so viel aufzunehmen und hat zu ruhiger Rezeption keine Zeit." 2 6 1 Mit bloß rhetorischer Modernisierung im Stile einer gehäuften Verwendung von Worten wie „Arbeitslosigkeit, Automobil, Elektrizität" war es gleichwohl nicht getan: Wenn wirklich „modern verstandenes Evangelium und moderner Mensch" die für die Predigt konstitutiven Faktoren sein sollten, 262 dann konnten die Sätze des überlieferten Glaubensbekenntnisses selber vom Geschehen ihrer Verkündigung nicht unberührt bleiben — ebenso wie umgekehrt moderne christliche Rede nicht lediglich affirmativ oder unverbindlich gegenüber den problematischen Seiten der zeitgenössischen Wirklichkeitserfahrung bleiben durfte. D e n n obgleich das traditionskritische Potential der modernen Erfahrungs- und Persönlichkeitsorientierung 256 Vgl. W. Wrede, Der Prediger und sein Zuhörer [1892]; in: ders., Vorträge und Studien, Tübingen 1907, S. 25. 257 A. a. O., S. 7 (im Original hervorgehoben). Dazu auch A. Behrendt, Individuelle und konkrete Predigt; in: Die Deformation 5 (1906), S. 757-759. 258 F. Niebergall, Wie predigen wir dem modernen Menschen? I. Eine Untersuchung über Motive und Quietive, Tübingen/Leipzig 1902; II. Eine Untersuchung über den Weg %um Willen, Tübingen 1906. Dazu vgl. W. Steck, Das homiletische Verfahren. Zur modernen Predigttheorie (APTh 13), Göttingen 1974, bes. S. 70ff.; F. Wintzer, Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der 'äalektischen Theobgie' in Grund^ügen (APTh 6), Göttingen 1969, bes. S. 119ff.; ders., Art. „Niebergall, Friedrich"; in: TRE Bd. 24, Berlin/New York 1994, S. 464-468; K.-G. Wesseling; in: BBKL Bd. 6, Sp. 708-717. 259 F. Niebergall, Die moderne Predigt; in: ZThK 15 (1905), S. 239f. 260 A. a. O., S. 237, 204-206. Vgl. dazu A. Bonus, Die Textgemässheit; in: MKP 4 (1904), S. 423-427; J. Gottschick, Die Textgemässheit und verwandte homiletische Fragen; in: MKP 5 (1905), S. 67-72, 208-219, sowie die kleine Kontroverse zwischen R. Wielandt und H. Bassermann; in: a. a. O., S. 261-263, 444-448; MKP 6 (1906) S. 293-297. 261 F. Niebergall, Die moderne Predigt, S. 213. 262 A. a. O., S. 223, 237. 80
nicht zu übersehen war, konnte der Rückzug auf das individuelle religiöse Erleben auch vorschnell von der Auseinandersetzung mit der christlichen Überlieferung dispensieren: „Mit der Erschütterung des Glaubens in der überlieferten Form des Bekenntnisses, mit der beginnenden religiösen Krisis zieht man sich auf die religiöse Erfahrung zurück, hie und da auf sie allein, auf sie ausschließlich. Sie soll das Bekenntnis ersetzen und von seiner Verbindlichkeit erlösen."263 Kritisch in Hinsicht auf seine eigene „moderne" Predigt von Sünde und Sündenvergebung schrieb deshalb M. Schian ahnungsvoll und mit sichtlichem Gespür für das Unverrechenbare christlicher Wirklichkeitsinterpretation im Anschluß an einen von ihm selber gehaltenen Gottesdienst: „Alle diese modernen Menschen mit moderner Indolenz hatte ich noch beschwichtigt! [...] Ich habs bereut. Aber nächstens werde ich modern predigen! Dann soll mein Text und Thema sein: Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!"264 Als Teil der gesellschaftlichen „Deutungskultur"265 konnten Religion und Christentum ihre relative Berechtigung behalten; sie übernahmen eine wichtige Funktion für den Ausdruck der Defizite und kulturkritischen Visionen in einer „modern" gewordenen Welt. Doch diese wiederentdeckte Attraktivität kam nicht zugleich auch der Kirche zugute, sondern blieb primär eine Funktion der modernen Entfaltung des „Persönlichkeitslebens". In diesem Prozeß der Subjektivierung und Privatisierung verliert die religiöse Tradition zwar an Eindeutigkeit und sozialer Verbindlichkeit, gleichzeitig aber wird sie zur individuellen, produktiven Aneignung freigegeben und damit gleichsam wieder verflüssigt: „Diese Welt der religiösen Persönlichkeit hat unsre ganze Stellung und Auffassung umgestaltet; sie hat uns frei gemacht von der bald knechtisch bald zornig getragenen Herrschaft der alten Gedanken und Vorstellungen. Wir ereifern uns nicht mehr so wie früher für oder gegen die 'Dogmen1, sondern wir verstehen sie von innen, fast möchte man sagen von unten heraus, als zeidich notwendige Lebensäußerungen eben der christlichen Frömmigkeit. Entsprechend dem Schlagwort 'die Kunst als Ausdruck' könnte
2 6 3 So - in Auseinandersetzung mit William James - W. Schmidt, Die verschiedenen Typen religiöser Erfahrung und äe Psychologie, Gütersloh 1908, S. 2; vgl. ders., Religiöse Erfahrung und Psychologie; in: ThStKr 85 (1912), S. 67-92. 2 6 4 M. Schian, Moderne Predigt; in: ChW 12 (1898), Sp. 302. Vgl. J. Gottschick, Die Predigt von der Sündenvergebung in der Gegenwart; in: a. a. O., Sp. 554-560; dazu M. Schian; in: a. a. O., Sp. 704-706; H. Gallwitz; in: a. a. O., Sp. 778-782. Außerdem T. Steinmann, Die Predigt von Schuld und Sünde im Zusammenhang modernen Denkens und Wertens (Praktisch-theologische Handbibliothek Bd. XV), Göttingen 1913. 2 6 5 T. Nipperdey, Religion und Gesellschaft: Deutschland um 1900, S. 591; vgl. W. Grab, Kirche als Ort religiöser Deutungskultur; in: U. Barth/W. Grab (eds.), Gott im Selbstbewußtsein der Moderne, S. 222-239.
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man sagen die Theologie als Ausdruck'."266 Die schleichende alltagspraktische Dekomposition des Traditionsbestandes sowie die modernen Suchbewegungen nach tragfähiger Sinnerfahrung und Lebensvergewisserung koinzidieren somit in einer neuen Freiheit gegenüber der überkommenen dogmatischen Glaubensnorm: „von unten her" vermögen die alten Formeln mit neuem Leben gefüllt zu werden, so daß sie für die religiösen Fragen der Gegenwart anschlußfähig und in neuer Weise aussagekräftig werden. Damit erhalten die praktisch-theologischen Interpretationsleistungen ihren spezifisch modernen Akzent - nicht nur in fortschrittlichen, sondern auch in eher „positiv" gesonnenen Kreisen setzte sich zunehmend die hermeneutische Einsicht durch, „daß die Dogmenwahrheit in psychologischer Vermittlung als Erlebnis %um Erleben dargeboten werden muß."267 Mit den klassischen dogmatischen Topoi konnte man folglich etwa auf der Kanzel - nur noch gleichsam vorsichtig „hantieren": Die Dogmatik „darf gewiß nicht fehlen, aber sie muß ins Leben, in die individuelle Anschaulichkeit des Lebens umgesetzt werden."268 Das argumentative Gewicht verschiebt sich hierbei zwangsläufig weg vom normativen Gehalt der Glaubenstradition hin zum subjektiven Horizont der Aneignung und lebensgeschichtlichen Identifikation. 1.5. Exkurs: Zweipraktisch-theologische
Fachzeitschriften
Exemplarisch verdeutlichen lassen sich die mit den sozialkulturellen Modernisierungsprozessen aufgegebenen Praxisprobleme an den beiden großen praktisch-theologischen Zeitschriftengründungen gegen Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Den Anfang machte dabei Victor Friedrich Oehler (1826-1897), ein jüngerer Halbbruder des bibeltheologisch geprägten Tübinger Alttestamentlers Gustav Friedrich Oehler (1812-1872):269 Nachdem er 1867 zunächst durch seine Neuherausgabe der Sammlungen %ur Pastoral-Theologie Philipp David Burks (1714—1779) literarisch hervorgetreten war, hatte er 1877 das Projekt Evangelische Casualreden herausgegeben, das sich als programmatischer „Beitrag zur Predigt der Gegenwart" verstand. Unter dem Eindruck einer wachsenden Destabilisierung der parochialen Pfarramtspraxis, wo eben oft einzig der 266 p Niebergall, Die moderne Predigt, S. 209; vgl. S. 246: „Unsre historisch-kritische Erkenntnis setzt uns in den Stand, gleichsam regressiv den Weg von der Erzählung der Begebenheit zu den Eindrücken und Tendenzen zurückzugehen, den die Dichtung von den Ideen zu den konkreten Gestalten vorwärts gegangen ist." 2 6 7 K. Beth, Die Moderne und die Prinzipien der Theologie, Berlin 1907, S. 189. 26® E. Schaeder, Der moderne Mensch und die Kirche (BFChTh XI/6), Gütersloh 1907, S. 54. 2 6 9 Vgl. J. Knapp, Gustav Friedrich Oehler. Ein Lebensbild, Tübingen 1876; ders., Art. „Oehler, Gustav Friedrich"; in: RE2 Bd. 10, Leipzig 1882, S. 696-708. 82
Kasualgottesdienst noch Berührungspunkte mit den vielen der Kirche Entfremdeten bot, sollte anhand dieser ausgewählten Predigtbeispiele die in der Bibel fundierte persönliche Glaubensgewißheit für die veränderte Gegenwart neu ausgelegt werden. Angesichts „der Entfremdung so vieler Zeitgenossen von der Sonntagspredigt" steigerten sich die praktischen „Aufgaben der Kirche und des Amtes [...] intensiv und extensiv gewaltiger denn je"; nicht nur Kasualpredigten bei Amtshandlungen, sondern auch - in der Folge des nationalen politischen Aufschwungs sowie der Ausbreitung der inneren und äußeren Mission - gleichsam zivilreligiöse Anlässe sowie die Ereignisse der kirchlichen Zeitgeschichte müßten deshalb als Kasus theologisch neu gewürdigt werden, damit „deutlich werde, wie das Evangelium vor aller Kultur besteht und über aller Kultur steht."270 Dabei grenzt Oehler in seinem einleitenden Vorwort die Intention der Evangelischen Casualreden ausdrücklich gegen Bestrebungen aus dem Umkreis etwa des Protestantenvereins ab: „Die Vermittlung ^wischen dem Worte Gottes und den verschiedenen Zeitrichtungen und Zeitbestrebungen darf jedoch nicht auf Kosten des ersten geschehen durch Abthun oder Zuthun wie dort, wo man die Versöhnung des Evangeliums mit der Kultur in der Art verlangt, daß man das Evangelium an die Kultur anpaßt oder gar die Kultur als den Regulator benützen will [,..]."271 Der Sammlung und Stärkung gleichgerichteter Interessen sowie der kontinuierlichen Weiterarbeit an den von Oehler gesteckten Zielen in einem öffendichen Forum sollte sodann sein Projekt „Halte was du hast." Zeitschrift für Pastoral-Theologie. Unter Mitwirkung vieler in Wissenschaft und Praxis bewährter evangelischer Theologen dienen, dessen erstes Heft im Dezember 1877 erschien. Auch diese von Oehler neugegründete pastoraltheologische Zeitschrift war als Antwort auf die veränderten gesellschafdichen Bedingungen konzipiert: „Die politischen und sozialen Stützen der Kirche und des kirchlichen Amtes sind zerbrochen oder ist ihr Zusammenbruch nur eine Frage der Zeit. [...] Es besteht zwischen der christlichen Uberzeugung und der weltlichen Kultur heutzutage [...] ein tiefgreifender Conflikt, da der widerchrisdiche Geist alle Lebensgebiete mehr und mehr in Besitz nimmt." 272 Unter der Losung „Halte was du hast" 273 sollten die Diener der Kirche deshalb neu zu ihrem Amt ermu-
2 7 0 V. F. Oehler (ed.), Evangelische Casualreden, Stuttgart 1877, S. Ulf. (im Original mit Hervorhebungen). Vgl. hierzu auch Oehlers Sammlung von Traureden Ich und man Haus wollen dem Herrn dienen, Heilbronn 1880. 2 7 1 V. F. Oehler (ed.), Evangelische Casualreden, S. IV. 2 7 2 V. F. Oehler, Was wir wollen; in: HWDH 1 (1878), S. lf. 2 7 3 In Aufnahme von Offb. 3,11 „Halte, was du hast, daß niemand deine Krone nehme"; dazu die Meditation von Scheffer; in: HWDH 1 (1878), S. 14-17. Unter gleichem Titel erschien in Brünn bereits von 1868-1871 ein von Gustav Trautenber-
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tigt und darin gestärkt werden, „Menschenseelen für das Reich Gottes zu gewinnen"274. Die Rückbesinnung auf das evangelische Glaubensgut sollte wappnen gegenüber den „mit erneuten List- und Gewaltmitteln in Scene gesetzten Anläufen des jesuitischen Ultramontanismus" - der fehlgeschlagene Kulturkampf Bismarcks, der faktisch mit einem Erstarken des Katholizismus endete, steht hier noch deutlich im Hintergrund. Darüber hinaus war der Titel Halte was Du hast - ganz im Sinne Johann Tobias Beck's - als mahnende Losung gemeint gegenüber „pseudoliberalen Zeitmächten", „pseudochristlichem Geschäftemachen", „abstoßendem Confessionalismus" sowie allgemein gegenüber allem „pseudoevangelischen Treiben", das im Gefolge eines unkirchlichen Massenprinzips das Feld des geistlichen Amtes zu einem „Tummelplatz ungeistlicher Agitationen" zu werden lassen drohte.275 Von Anfang an verband sich hier eine fromme und bibeltheologische Grundtendenz mit der Anerkennung eines neuen pfarramtspraktischen Handlungs- und Reflexionsbedarfes: Absicht der neugegründeten Zeitschrift war es, „vom sicheren Boden des Wortes Gottes und der Erfahrungen der evangelischen Kirche und ihres Amtes aus [...] das vielfach empfundene und vielfach geäußerte Bedürfnis nach einem entschiedenen Organe für die gesammte pastorale Praxis zu befriedigen, indem das gesammte pastorale Leben sowohl im Lichte der Idee, als auch in seiner ganzen empirischen Wirklichkeit" zum Gegenstand erhoben wird. 276 Neben wissenschaftlichen Abhandlungen und praktisch-theologischen Arbeitsproben sollten dazu vor allem die „Pastoralen Mittheilungen" dienen: „Erlebnisse aus dem mühevollen, unscheinbaren Gebiete der Seelsorge. Erfahrungen über alles, was der Geistliche treibt und wirkt, denkt und fühlt, duldet und trägt, kämpft und siegt, hofft und glaubt, liebt und haßt." 277 Bei dieser engagierten Ausrichtung auf den Zusammenhalt von Glaube und Wirklichkeit - in der Welt, doch nicht von der Welt zu sein mußte zugleich ein besonderes theologisches Interesse auf der Begrenzung des Rechts empirischer Perspektiven gegenüber der freien Wirkmächtigkeit Gottes und seines Wortes liegen. Denn die praktisch-theologische Reflexion der veränderten gemeindlichen Wirklichkeit sollte die geistliche Wirkung der christlichen Verkündigung nicht methodisch verfügbar machen, wohl aber zu einer gegenwartsgerechten kirchlichen Arbeit anleiten: „je nach den wechselnden Zeiterscheinungen und Zeitbestrebungen, nach dem Auftreten neuer Formen der Kultur.; in welche einzuger redigiertes IUustrirtes evangeäsches Volksblatt %ur hehr' und Erbauung aus Oesterreich, das über diese vier Jahrgänge jedoch nicht hinauskam. 274 y p Oehler, Was wir wollen, S. 3 (im Original hervorgehoben). 2 7 5 Vgl. a. a. O., S. 3f. 2 7 6 A. a. O., S. 4f. (im Original mit Hervorhebungen). 2 7 7 A. a. O., S. 5. 84
gehen des Geistlichen heilige Pflicht ist, müssen neue Mittel und Wege, neue Gelegenheiten eröffnet werden", um die ewige Gotteswahrheit und den göttlichen Willen in Wort und Tat zu bezeugen.278 Ein mit dem „Zeitgeiste buhlendes Kulturpriesterthum" war dabei ebensowenig als wahrhaft evangelische Haltung denkbar wie eine unaufrichtige, nur dem äußeren Druck gehorchende Vermittlungsbereitschaft durch „Nachgeben wider bessere Ueberzeugung, durch Abschwächung der Glaubenswahrheit, durch Anbequemung an die von Gott abgefallene Wissenschaft." Denn: „Solche Versöhnung wäre ein Verrath am Christenthum." Die Überwindung der Spannung zwischen biblisch-fundierter Glaubensüberzeugung und faktischer Gemeindewirklichkeit hatte vielmehr der einzelne Amtsträger persönlich zu leisten: Gerade angesichts einer zunehmenden funktionalen Differenzierung des Berufsfeldes wollte diese neue Zeitschrift für Pastoral-Theologie zur individuellen Bewältigung der aufbrechenden Konflikte anleiten und die Pfarrer einerseits zur kritischen Selbstprüfung anhalten, andererseits ihnen „Stärkung" und Hilfe für eine erfolgreiche Amtstätigkeit zukommen lassen.279 Dieser Intention entsprach das durchaus breite thematische Spektrum der in dieser Zeitschrift publizierten Abhandlungen: Gleich zur Eröffnung handelte der in Utrecht lehrende Theologe Johannes Jakob van Oosterzee (1817-1882) programmatisch über „Die Predigt und die Persönlichkeit des Predigers"280; in den weiteren Jahrgängen folgten — neben Artikeln aus dem Gebiet der traditionellen Pastoraltheologie - eine Reihe von Beiträgen zum Problem der wachsenden Unkirchlichkeit, zur volkskirchlichen Bedeutung der Kasualhandlungen sowie zu Theorie und Praxis der zeitgenössischen Predigt, für welche hier stellvertretend auf die Arbeiten des langjährigen Wormser Pfarrers Wilhelm Wiener (1833— 1910) hingewiesen sei.281 Neben diesen Abhandlungen nahm die Rubrik „Predigten, Meditationen und Studien" einen wichtigen Platz in der neuen Zeitschrift ein — ihrem auf die Breite der pastoralen Handlungsfelder ausgerichtetem Programm entsprechend sollte hier praktisches Material geboten werden, das nicht nur die Sonntagspredigten, sondern insbeA. a. O., S. 2. Dort auch die nächsten Belege. Vgl. a. a. O., S. 5, sowie S. 1, 3. 2 8 0 J. J. van Oosterzee, Die Predigt und die Persönlichkeit des Predigers; in: HWDH 1 (1878), S. 6-14. 281 ygi w Wiener, Die Entschuldigung der Unkirchlichkeit mit ungenügender Leistung des Predigers; in: HWDH 1 (1878), S. 193-197; ders., Die Casualrede innerhalb und außerhalb des Kirchengebäudes; in: HWDH 3 (1880), S. 3 9 7 ^ 0 2 ; ders., Die Taufhandlung in praktisch-theologischer Hinsicht mit Beziehung auf die socialen Gestaltungen der Gegenwart; in: HWDH 6 (1883), S. 145-154; ders., Die gegenwärtige Form der kirchlichen Beerdigung und ihre etwaige Aenderung; in: HWDH 8 (1885), S. 202-210; ders., Die Bedeutung der Psychologie für die theologische Wissenschaft und Praxis; in: HWDH 11 (1888), S. 241-254. 278 279
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sondere die in ihrer volkskirchlichen Bedeutung erkannten Kasualhandlungen - einschließlich der Konfirmation - wirkungsvoll zu unterstützen vermochte. Eine dritte Rubrik widmete sich sodann der ausfuhrlichen Wiedergabe „pastoraler Amtserfahrungen": Es war die Absicht V. F. (Dehlers, mit diesen Schilderungen exemplarische Situationen aus der Praxis zur Diskussion zu stellen - um ihrer pastoraltheologischen Bedeutung willen sollten diese Berichte vom dritten Jahrgang an gegenüber den Predigtmeditationen sogar noch an Umfang und Gewicht zunehmen. 282 Zu erwähnen sind schließlich noch die überwiegend von Oehler selber vorgenommene „Bücherschau", welche in kurzen Anzeigen eine durchaus breite Übersicht über den pastoraltheologisch interessierenden Literaturmarkt bot, sowie ein der praktischen Nutzung dienendes „Verzeichnis der behandelten Bibelstellen", das von nun an allen Jahrgängen beigegeben werden sollte. Mit dem Wechsel der Herausgeberschaft, die ab dem 12. Jahrgang (1888/89) unter Mitwirkung von Friedrich Braun, Paul Kleinert und Heinrich Adolf Kösdin von Eugen Sachsse (1839-1917), dem damaligen Direktor des theologischen Seminars in Herborn, übernommen wurde, begann sich das inhaldiche Profil dieser Zeitschrift allmählich zu verändern: Die „positive Tendenz" mit ihrer biblisch-evangelischen, betont antikatholischen Grundstimmung - durchaus auf der Linie des 1886 gegründeten Evangelischen Bundes - wurde ausdrücklich beibehalten, ebenso das Ziel einer Vertiefung der evangelischen Frömmigkeit durch Stärkung der persönlichen Amtswirksamkeit der Pfarrer. Von den drei „Wirkungskreisen des Wortes Gottes" - der Familie, der Parochie sowie der Gesamtkirche — sollte vor allem die mittlere Ebene der gemeindlichen Arbeit eine besondere Aufmerksamkeit erfahren, weil hier die größten Einflußmöglichkeiten des Pfarrers lägen.283 Zur besseren Erreichung ihrer pastoraltheologischen Ziele sollte die Zeitschrift jedoch zugleich behutsam den modernen Erfordernissen angepaßt werden — insbesondere die wissenschaftliche Reflexion sollte in den Verö ffentlichungen eine größere Rolle spielen als bisher. Programmatisch formulierte E. Sachsse als neuer Herausgeber: „Wenn die praktische Theologie die Wissenschaft ist von der Thätigkeit der christlichen Kirche zur Förderung des göttlichen Lebens auf Erden, oder zum Ausbau des Reiches Gottes, so wird sie also unsre Führerin sein müssen."284 Angesichts der veränderten Berufswirklichkeit war „eine größere Beweglichkeit und Geschäftstüchtigkeit des Pfarrers nötig als früher" - weder operative Vielgeschäftigkeit noch ein defensiver, theologisch verbrämter Rückzug auf den V. F. Oehler, Zum Schluß des II. Jahrgangs; in: HWDH 2 (1879), S. 529. 283 Vgl E. Sachsse, Wie hat die evangelische Kirche Deutschlands ihre gegenwärtigen Aufgaben zu lösen?; in: HWDH 12 (1889), S. 8. 2 8 4 Ebd. 282
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Kreis der Kerngemeinde konnten die richtige Antwort auf die neuen Verhältnisse sein.285 Vielmehr sollten die vier hauptsächlichen Tätigkeitsfelder des Pfarramts - gottesdienstliche Gemeindeleitung, Jugendunterricht, Einzelseelsorge sowie Verwaltungsarbeit - durch die in der Zeitschrift publizierten Beiträge wirklich praktisch-theologisch bearbeitet werden, weshalb die offensichdich allzu unreflektiert anmutenden „Pastoralen Mittheilungen" von nun an entfielen. Wissenschaftliche Abhandlungen, Meditationen über Predigttexte bzw. Beispiele von Kasualreden sowie eingehende literarische Information sollten demgegenüber unter der Leitung von E. Sachsse die drei Schwerpunkte im Profil der Zeitschrift bilden. Dieser Tendenz zur Verwissenschaftlichung, die sich schon in der Zusammensetzung des neuen Herausgeberkreises spiegelte, sollte auch eine zeitweilig beigebundene „Theologische Bibliographie" dienen, welche zunächst von Johannes Müller (1850—1919) — zu jener Zeit Kustos an der Königlichen Bibliothek zu Berlin, von 1906-1913 Direktor der Reichstagsbibliothek - zusammengestellt wurde und die eine systematische Übersicht über die aktuellen Zeitschriften- und Buch Veröffentlichungen aus dem Gesamtgebiet der Theologie intendierte. Seit 1885 hatte Müller bereits an dem Projekt einer jährlichen Übersicht über die aktuelle theologische Literaturproduktion gearbeitet, darüber hinaus von 1883-1887 bereits ein umfangreiches Werk über die publizistische Tätigkeit der wissenschaftlichen Vereine und Gesellschaften in Deutschland veröffentlicht286 - offenbar auf Vermittlung von Kleinert fand diese verdienstvolle bibliographische Arbeit Müllers nun in dem erneuerten Konzept von „Halte was du hast" einen festen Ort, an dem sie bis 1892 von Theodor Gleiniger, Müllers Nachfolger als Kustos in Berlin, fortgesetzt wurde. Trotz ihrer Tendenz zu inhaltlicher Straffung und Verwissenschaftlichung sollte die praktische Abzweckung der Zeitschrift jedoch keinesfalls aufgegeben werden. Der Verlagsprospekt betont deshalb — gerade auch nach dem Fortfall der „Pastoralen Mittheilungen" - die bleibende Bedeutung wirklicher Praxisreflexion, die niemals durch akademische Theoriebildung allein geleistet werden könne: „Nur durch das Zusammenwirken aller beteiligten Kreise und speziell derjenigen des praktischen Pfarrstandes wird es möglich sein, die Zeitschrift das werden zu lassen, was wir erstreben: Ein brauchbarer Wegweiserfür alle Lagen des pfarramtlichen Berufs." 2 8 5 A. a. O., S. 11. Dazu vgl. ders., Christentum und moderne Weltanschauung, Gütersloh 1906; ders., Einführung in die Praktische Theologie. Eine ^eitmäßge Erörterung neuer Probleme und brennender Fragen, Bonn 1914. 286 Vgl. J. Müller, Die Wissenschaftüchen Vereine und Gesellschaften in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert. Bibüographie ihrer Veröffentlichungen seit ihrer Begründung bis auf die Gegenwart Bd. 1, Berlin 1883-87; Bd. 2 (für die Zeit bis 1914), Berlin 1917.
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In Fortsetzung der praktisch-theologischen Konzeption dieser Zeitschrift hat ihr Verlag, Reuther & Reichard in Berlin, ab 1894 begonnen, eine „Sammlung von Lehrbüchern der praktischen Theologie in gedrängter Darstellung" herauszugeben; in dem Verlagsprospekt, der teilweise im Anhang der Lehrbücher abgedruckt ist, heißt es dazu: „Es wird erstrebt, die Technik des kirchlichen Handelns zwar gedrängt, aber doch eingehend und mit instruktiver Klarheit zu entwickeln, die Regeln der Methode unter Bezugnahme auf die Praxis der Gegenwart zu beleben, sie durch Hinweise auf Verfahrungsweisen der Vergangenheit mit der Geschichte auseinanderzusetzen und endlich über das bleibend Wertvolle aus einer Überfülle der Litteratur so zu orientieren, dass angeregten jungen Theologen der Weg zu weiteren, tiefer eingehenden Studien geebnet werde." Insgesamt umfaßte die Sammlung sieben Bände: Neben der Lehre von der Predigt von Hermann Hering (Bd. I; vollständig 1905) und dem hehrbuch der Liturgik von Georg Rietschel (Bd. II/III; 1900/1909) erschienen E. Sachsse, Die Lehre von der Erziehung nach evangelischen Grundsätzen (Bd. IV; 1897); H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge (Bd. V; 1895); Paul Wurster, Die Lehre von der inneren Mission (Bd. VI; 1895) sowie das von dem Mainzer Oberkonsistorialrat Karl Köhler (1832-1895) verfaßte Lehrbuch des deutsch-evangelischen Kirchenrechts (Bd. VII; 1895). Von Köstlin war schon die seit 1880 bei Mohr in Freiburg verlegte Geschichte der Musik in das Verlagsprogramm von Reuther & Reichard übernommen und in dritter Auflage 1888 neu herausgebracht worden; hinzu trat außerdem der 1894 erschienene Grundriss der Pädagogik und ihrer Geschichte seit dem Zeitalter des Humanismus. Vom evangelischen Standpunkte dargestellt von Karl Knoke. Dieses neuartige Konzept einer Lehrbuchsammlung verband erfolgreich akademisches Unterrichtsinteresse und praktische Gebrauchsorientierung. In gleicher Tendenz begann sich auch das Profil der Zeitschrift „Halte was Du ¿¿wi" inhaltlich nochmals zu erweitern: Nach dem Wegfall der um vollständige Auflistung bemühten „Theologischen Bibliographie" traten an ihre Stelle kompetente thematische Ubersichten zu einzelnen praktisch-theologischen Arbeitsgebieten - wie etwa von Ernst Christian Achelis (1838-1912) zur Homiletik, von Eduard Simons (1855-1922) zur Seelsorge oder von Paul Wurster (1860-1923) zur Inneren Mission und zur Sozialen Frage. Darüber hinaus war eine eigene Rubrik „Kasualreden" eingerichtet worden, welche sich zusehends ausdifferenzierte und späterhin auch Katechesen umfaßte. Parallel dazu wurden die Rezensionsübersichten mehr und mehr auf die übrigen Gebiete der theologischen Literatur sowie auf die Bereiche Pädagogik und Psychologie ausgedehnt; hinzu traten weiterhin eine praktisch-theologische Zeitschriftenschau sowie eine „Kirchliche Chronik" mit aktuellen Berichten aus dem kirchlichen und kirchenpolitischen Leben der Gegenwart. Auch der Stab der regelmäßigen Mitarbeiter begann sich allmählich zu verändern: Insbesondere Alfred Eckert (1864—1928), langjähriger Herausgeber der pastoraltheologischen Zeitschrift „Dienet einander! ", aber auch - weniger ausge88
dehnt - August Wächtler oder Georg Wobbermin fanden jetzt in dieser Zeitschrift neben bereits bekannteren Namen wie E. Sachsse, G. Kawerau oder K. Knoke einen ersten publizistischen Kristallisationspunkt. Im Alter von 65 Jahren gab Eugen Sachsse die Herausgeberschaft der Zeitschrift ab; es geschah dies zugleich im Todesjahr des langjährigen Mitherausgebers Friedrich Braun (1850-1904). Heinrich Adolf Köstlin wurde nunmehr, gemeinsam mit Paul Wurster, der seit 1903 in Friedberg lehrte und 1907 eine Professur in Tübingen übernahm, neuer Herausgeber der Zeitschrift, deren Titel geändert wurde in Monatsschrift für Pastoraltheologie ^ur Vertiefung des gesamten pfarramtlichen Wirkens unter Mitwirkung von namhaften Männern der Wissenschaft und der Praxis. Mit diesem Titelwechsel wurde zugleich die äußere Gestalt der Zeitschrift nochmals modernisiert und insbesondere die polemische antikatholische und bibeltheologische Frontstellung eines „wahrhaft evangelischen Christentums" allmählich in den Hintergrund gerückt. Die pastoraltheologische Perspektive mit ihrer Ausrichtung auf die das Pfarramt tragende Persönlichkeit sollte dagegen - nicht zuletzt auch aus Gründen der finanziellen Wettbewerbsfähigkeit — noch deutlicher als bisher in den Vordergrund gerückt werden, was für A. Eckert durchaus eine Revision der gängigen praktisch-theologischen Konzepte bedeutete: „Wir standen seit mehr als zwei Jahrzehnten auf dem Satze, daß eine Pastoraltheologie heute kein wissenschaftliches Recht mehr habe." 287 Nunmehr eröffnete das erste Heft des neuen Jahrgangs mit der apologetisch getönten Frage nach dem „Idealismus" im gegenwärtigen Theologengeschlecht: Gegenüber pastoraler Resignation und Abstumpfung auf der einen und gesellschaftlichen Ressentiments auf der anderen Seite ging es dem Autor darum, die berufliche Reichgottesarbeit wieder als christlichen „Idealdienst" in Geltung zu setzen und für seine freudige Erfüllung zu werben. 288 Deshalb sollte die ursprüngliche Hauptaufgabe der Monatsschrift, die „Vertiefung und Stärkung der pastoralen Wirksamkeit durch Vertiefung und Stärkung der dahinter stehenden Persönlichkeit" 289 , noch offensiver verfolgt werden: Diesem Ziel dienten die — zumeist von Köstlin verfaßten — „Pastoraltheologischen Betrachtungen" zu Bibeltexten ebenso wie die jetzt griffiger und zeitgenössischer ange2 8 7 A. Eckert, Das Problem der Pastoraltheologie und seine Lösung; in: MPTh 3 (1906/07), S. 276; dazu vgl. W. Steck, Die Wiederkehr der Pastoraltheologie; in: PTh 70 (1981), bes. S. 15-19. 288 Yg[ Q H. Pahncke, Etwas über „Idealismus" im heutigen Theologengeschlecht; in: MPTh 1 (1904/05), S. 3-23, hier S. 11. 2 8 9 H. A. Köstlin, Zur Pflege des persönlichen Lebens; in: MPTh 1 (1904/05), S. 388.
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legten „wissenschaftlichen Studien" und die stärker am aktuellen Praxisinteresse ausgerichteten Literaturbesprechungen. Daneben traten kleine Berichte zu Einzelfragen des kirchlichen bzw. öffentlichen Interesses wie etwa die empirisch ausgerichteten „Übersichten über den Fortgang der kirchlichen Arbeit und des kirchlichen Lebens", außerdem pastoraltheologische Praxisproben und Aphorismen. Theologisch leitend war dabei für Köstlin die Intention, angesichts der intrikaten Gegenwartsaufgaben alle positioneilen Engfiiihrungen zu überwinden und in ein produktives „Jenseits der Richtungen" zu gelangen: „Es ist ja in der Tat kaum mehr zu ertragen, wie sehr die Freiheit und die Freudigkeit ebenso des theologischen Schaffens wie des kirchlichen Wirkens allmählich unter dem Banne der Schlagwörter leidet. Was man auch unternehmen oder ins Werk setzen mag, immer wird zuerst nach der Etikette gefragt, die es trägt, oder es wird ihm eine solche aufgeheftet."290 Die inzwischen so sehr in den Vordergrund gerückten kirchenund theologiepolitischen Gegensätze sollten dagegen besser — so Köstlin — als „die verschiedenen Wege zu einem Ziel"291 verstanden und zugunsten einer gemeinsamen Bewältigung der andrängenden Praxisanforderungen relativiert werden. Doch haben die Bemühungen um Harmonisierung und Integration der Gegensätze, mit denen Köstlin das Profil der Zeitschrift zu prägen suchte, in den unterschiedlichen theologischen Lagern keinesfalls nur Zustimmung erfahren. Kritisch urteilte etwa F. Niebergall in seiner vergleichenden Analyse dieser pastoraltheologischen Zeitschrift: „So fördersam der Versuch auch erscheinen mag, auf dem Boden der Praxis zu einen, was auf dem der Theorie auseinander gehen will [...] - aber eine Zeitschrift bezahlt diesen Versuch doch mit einem Verlust an Charakter und Kraft [.,.]."292 Niebergall selbst setzte demgegenüber bewußt auf die Betonung der „starken Unterschiede", wie er am Begriff des „Modernen" verdeutlicht: „Daß sich der Stolz der einen und der Haß der andern in diesem Worte zusammenfindet, kann kein Grund gegen seine Verwendung sein, wenn es darauf ankommt, auf wenigen Seiten möglichst klar die Gegensätze der Theorie und der Praxis herauszustellen, während das Leben der Schattierungen und Uebergänge genug bietet."293 Aber auch auf altgläubiger Seite wurde die in Köstlins weitherziger Frömmigkeit angelegte Harmonisierungstendenz eher skeptisch gesehen. So strich Ernst Bunke (1866-1944), langjähriger Herausgeber der von Adolf Stoecker und Reinhold Seeberg inaugurierten Zeitschrift Die Reformation, zu Recht kritisch heraus, daß die programmatische VerH. A. Köstlin, Jenseits der Richtungen!; in: MPTh 3 (1906/07), S. 1. A.a.O,S.5. 2 9 2 F. Niebergall, Die Monatsschrift für Pastoraltheologie und die Monatsschrift für die kirchliche Praxis; in: MKP 5 (1905), S. 434. 2 9 3 F. Niebergall, Die moderne Predigt, S. 204. 290 291
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werfung der theologischen und kirchenpolitischen Parteibildungen Kösdin letztlich nur zu einem „mittelparteilichen Kirchenpolitiker" mache, der um der Achtung der „Religion" willen die Abweichungen vom biblischen Evangelium allzu leichtfertig hinnehme.294 Ungeachtet solcher kritischen Stimmen erweiterte sich unter der Herausgeberschaft von H. A. Köstlin und P. Wurster der Mitarbeiterkreis der Zeitschrift sowie das inhaltliche Spektrum ihrer Artikel gleichwohl spürbar, wobei insbesondere Themen aus dem näheren und weiteren Umfeld der Inneren Mission eine wesentlich breitere Berücksichtigung fanden. Exemplarisch für die neuerliche Öffnung der Zeitschrift gegenüber den Anforderungen der „modernen Welt" mögen hier zwei Aufsätze stehen, die im ersten Jahrgang der nunmehr umbenannten Monatsschrift für Pastorattheologie veröffentlicht wurden: Heinrich Bechtolsheimers kritische Reflexion über „Aufgaben und Methoden der Pastoration in modernen Industriegemeinden" sowie Martin Schians Abhandlung über „Neuzeitliche Predigtideale" — engagierte und kritische Beiträge, die auf eine inzwischen weitgehend veränderte pastoraltheologische Landschaft verwiesen und die sich tatsächlich nicht mehr in den gängigen positionellen Mustern verrechnen ließen. Einen in ihrer fachlichen und positioneilen Ausrichtung von Anbeginn gänzlich anderen Weg hatte dagegen die nur ein Jahr nach „Halte ms du hast" von Heinrich Bassermann (1849-1909)295, Professor für Praktische Theologie in Heidelberg, und Rudolf Ehlers (1834-1908)296 begründete Zeitschrift für praktische Theologie gegenüber den zeitgenössischen Destabilisierungen kirchlicher Praxis beschritten: Die Linien einer historisch-kritischen Wissenschafdichkeit sollten, so formuliert Bassermann in den grundsätzlichen Überlegungen zum Profil der neuen Zeitschrift, endlich bis in die akademisch vielfach noch als randständig angesehene Praktische Theologie hinein ausgezogen werden, um dieser Disziplin endgültig ihren festen Stand im Kanon der universitären theologischen Fächer zu verleihen.297 Doch sollte die wissenschaftliche Konsolidierung der Praktischen Theologie gleichwohl nicht in reiner akademischer Selbstzwecklichkeit geschehen — sie zielte vielmehr auf eine konstruktive Reflexion der zeitgenössischen kirchlichen Praxis, die durch eine solche historisch2 9 4 Vgl. E. Bunke, Rez. „H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage"; in: Die Reformation 6 (1907), S. 84. 2 9 5 Vgl. R. Wielandt, Heinrich Bassermann f ; in: Protestantenblatt 42 (1909), Sp. 955-964; H. Holtzmann, Heinrich Bassermann. Ein Nachruf; in: PrM 13 (1909), S. 377-383; H. John, Heinrich Bassermann als akademischer Lehrer; in: PrM 14 (1910), S. 12-23. 2 9 6 Vgl. E. Foerster, D. Rudolph Ehlers f ; in: EvFr 8 (1908), S. 419-430. 2 9 7 Vgl. H. Bassermann, Die Bedeutung der praktischen Theologie in der Gegenwart; in: ZprTh 1 (1879), S. 1-22.
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systematische Neubegründung der praktisch-theologischen Forschung überhaupt erst ermöglicht würde: Die Herausbildung einer akademischen „Praktischen Theologie" sollte dazu beitragen, die Theologie und ihre Gegenwartsbedeutung im Kanon der Wissenschaften zu legitimieren, wobei jedoch nur die Axiome einer historisch-kritischen Wissenschaftlichkeit der neuen Praktischen Theologie ihren festen akademischen Stand verleihen konnten. Die etablierte akademische Theologie mit ihrer historisch-kritischen Arbeitsweise auf der einen, und die wissenschaftlich noch unterentwickelte Praktische Theologie mit ihrer Aufgabe einer kritischen Gegenwarts- und Praxisreflexion auf der anderen Seite waren - Bassermann zufolge - also wechselseitig aufeinander verwiesen: Wie die dringend gebotene Aufarbeitung der veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit ein konstitutives Interesse des Faches Evangelische Theologie insgesamt war, so verlangte solche, insbesondere durch die Praktische Theologie zu leistende kritische Gegenwartsanalyse angesichts der faktischen Krisenhaftigkeit und Destabilisierung des kirchlichen Lebens methodisch gerade nach historisch-kritischer Aufarbeitung und systematischer Reflexion. „Die Gegenwart ist anderwärts schon häufig als eine Zeit des Uebergangs, der Krisis, des Kampfes bezeichnet worden und mit vollem Rechte. Auf allen Gebieten fluthet in breitem Strom eine neue Anschauung der Dinge daher mit der Tendenz, das Alte, Bestehende mit sich fort zu reissen, mit dem Anspruch, eine neue Gestaltung der Verhältnisse heraufzuführen."298 Für die Bewältigung der anstehenden Praxisprobleme schienen nur gründliche historische Durchbildung und systematische Verwissenschaftlichung verläßliche Orientierungshilfen zu bieten - dieser Aufgabe sollte sich die neubegründete praktisch-theologische Zeitschrift konsequent annehmen. Otto Baumgarten charakterisiert im Rückblick — in seiner anläßlich des Todes von Heinrich Bassermann verfaßten Würdigung - dessen Intentionen zutreffend: „Ihm handelte es sich darum, der kirchlichen Praxis den Charakter eines notwendigen, aus klaren Prinzipien erfließenden, einheitlichen Handelns zu sichern, an Stelle einer traditionellen Routine, das Salto mortale aus weit- und lebensferner Theorie in prinzip- und ideenlose Praxis, ein wissenschaftlich begründetes, charaktervolles Handeln zu setzen und so der kirchlichen Praxis das gute Gewissen der theologischen Erkenntnis zu wahren."299 Die in den folgenden Jahrzehnten publizierten Leistungen auf dem Gebiet der Praktischen Theologie waren ohne Zweifel von bis dahin beispielloser Qualität und haben insofern nicht wenig zur allgemeinen Reputation und universitären Etablierung dieser noch jungen Wissenschaft beigetragen. Gleichwohl konnte die reine akademische Prägung der Zeit298 299
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A. a. O., S. 18. O. Baumgarten, Heinrich Bassermann f; in: EvFr9
(1909), S. 365.
schrift - die übrigens gerade den „Bruch zwischen wissenschaftlicher Forschung und kirchlichem Leben" 300 überwinden wollte und vom ersten Jahrgang an neben „Abhandlungen" und „Recensionen" auch „Praktische Arbeiten" umfaßte - in dieser Form nicht durchgehalten werden. Der von Baumgarten als „vornehm" apostrophierte Versuch, in streng systematischer und historisch-kritischer Wissenschaftlichkeit Praktische Theologie zu betreiben, fand immer deutlicher seine Grenze an den Dynamisierungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit sowie am konkreten pfarramtspraktischen Beratungsbedarf. Ohne sich von der Mitarbeit an der Zeitschrift zurückzuziehen, gaben 1892 Heinrich Bassermann, 1893 Rudolf Ehlers ihre Herausgeberschaft auf; an ihre Stelle traten zunächst Otto Baumgarten und Karl Teichmann, ab 1893 auch der Berliner Pfarrer Paul Kirmss (1850-1940). Doch nicht zuletzt angesichts nicht mehr lukrativer Verkaufszahlen wurden weitergehende Veränderungen zur Lösung der angespannten finanziellen Situation nötig: Nach 22 Jahrgängen wechselte die Zeitschrift mit Ablauf des Jahres 1900 vom Verlag Moritz Diesterweg (Frankfurt a. M./New York) zu J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen und nannte sich nunmehr Monatsschrift für die kirchliche Praxis. Der Zeitschrift für praktische Theologie Neue Folge. Ihr neuer Hauptherausgeber wurde - in Gemeinschaft mit P. Drews, F. Niebergall und K. Teichmann - Otto Baumgarten, der nunmehr seine lang gehegte Absicht der „Umwandlung des gar zu theoretisch-doktrinär gehaltenen Organs der liberalen Theologie" in eine praxis- und gegenwartsorientierte Zeitschrift umsetzen konnte.301 Im Prospekt der Neukonzeption fuhrt er aus: „Dazu soll vorzüglich die descriptiv-inductive Methode angewandt, eine wirkliche Kenntnis des gegenwärtigen religiösen Lebens innerhalb und ausserhalb der Landeskirchen vermittelt und eine kritische Beurteilung der neuesten Ereignisse und Erscheinungen des kirchlichen Lebens gegeben werden." 302 Mit der Durchfuhrung dieses Programms wurden offensichtlich durchaus die „aktuellen Bedürfnisse" der Leserschaft getroffen - immerhin gelang es Baumgarten, innerhalb eines Jahres die Zahl der Abonnenten von 280 auf 942 zu erhöhen; 1907 waren es schließlich 1300.303 Das inhaltliche Konzept der Zeitschrift umfaßte weiterhin Praxisbeispiele und sogenannte „Abhandlungen zur Praktischen Theologie", die nunmehr jedoch durch eine deutlicher problemorientierte Ausrichtung gekennzeichnet waren. Darüber hinaus bot die neue Monatsschrift für die kirchliche 300
H. Bassermann, Die Bedeutung der praktischen Theologie in der Gegenwart,
S. 12. Vgl. O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 97. O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 1 (1901), S. 35. 3 0 3 Vgl. O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 2 (1902), S. 120; H. v. Bassi, Otto Baumgarten, Frankfurt/M. u. a. 1988, S. 79. 301
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Praxis eine Vielzahl von engagierten Beiträgen zu aktuellen „kirchlichen Zeit- und Streitfragen" sowie zu zeitgenössischen Problemstellungen aus den verschiedenen pfarramtlichen Praxisfeldern - insbesondere zur religiösen Volkskunde sowie zum Religions- und Konfirmationsunterricht. An die Stelle gediegener Rezensionen traten nunmehr kurze, instruktive und bewußt subjektiv eingefärbte „Notizen", die auch außertheologische Publikationen mit in den Blick nahmen — daneben erhielten die exemplarischen „Vorarbeiten für die Praxis des Geistlichen" einen breiten Raum. 304 Charakteristisch für das Profil der Zeitschrift wurde zudem die - fast ausschließlich von Baumgarten selbst verfaßte - monatliche „Kirchliche Chronik", welche insgesamt - zuletzt noch in der Christlichen Welt - bis 1922 fortgeschrieben wurde und die in dieser Kontinuität ein wohl einmaliges persönliches und zeitgeschichtliches Dokument darstellt. Während es solcherart „Chroniken" bereits in einer Vielzahl kleinerer und größerer Periodika gab - worunter jene von Willibald Beyschlag in den Deutsch-evangelischen Blättern für Baumgarten sicherlich die größte Bedeutung gehabt haben mochte - , so war es doch vor allem Baumgartens persönliche, unkonventionelle und oft provozierende Urteilsbildung, welche diesem publizistischen Unternehmen seinen besonderen positioneilen Wert verlieh. Zudem griff Baumgarten in seiner Kirchlichen Chronik vielfach über den engeren kirchlichen Rahmen hinaus und bezog aktuelle sozial- bzw. gesellschaftspolitische Diskussionspunkte mit ein — als Quellen wurden gemeinhin von ihm die Tägliche Rundschau sowie die von Friedrich Michael Schiele (1867-1913) geführte Chronik der Christlichen Welt herangezogen. Rückblickend schreibt Baumgarten: „Es ist mir oft gesagt worden, daß man diese Chronik sehr zu schätzen wußte eben um der Durchbrechung des eng kirchlichen Rahmens willen. Hier dürfte mein starkes Miterleben des Ganges der allgemeinen Politik und meine Herkunft aus nicht kirchlichen Zusammenhängen mir zugute gekommen sein. Freilich steckt in diesen stets aktuellen Zeitbetrachtungen mehr prinzipielle und geschichtliche Arbeit, als man der anscheinend bloß aus der Gegenwärtigkeit geborenen Aktualität ansieht."305 Mit dem Ablauf des Jahres 1904 traten Johannes Jüngst (1871-1931) und Gottfried Traub (1869-1956) an die Stelle von Teichmann und Drews, wobei letzterer insbesondere für die Baumgarten'schen „Chroniken" nicht mehr mitverantwortlich zeichnen wollte - ab 1906 wurde zu-
3 0 4 Insgesamt vgl. V. Drehsen, Fachzeitschriftentheologie. Programm und Profil eines Gattungstyps moderner Praktischer Theologie, am Beispiel der „Monatsschrift für die kirchliche Praxis" (1901-1920); in: F. W. Graf/H. M. Müller (eds.), Der deutsche Protestantismus um 1900, Gütersloh 1996, S. 67-100. 3 0 5 O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 109.
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dem auch F. M. Schiele Mitherausgeber.306 Diese personellen Veränderungen komplettierten den Generationswechsel im Herausgeberkreis, dessen fünf Namen nunmehr das neue - und erfolgreiche - Profil der Zeitschrift markierten. Sie kam zu stehen in einer Reihe theologischer Publikationsorgane, deren verbindendes praktisches Bildungsinteresse in der Entfaltung kulturprotestantischer Perspektiven bzw. religionsgeschichtlicher Fragestellungen lag; zu diesem literarischen „Netzwerk" gehörten unter anderem F. Niebergalls Praktisch-theologische Handbibliothek sowie E. Rolffs' Moderne Predigtbibliothek, die Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und der Religionsgeschichte, die Religionsgeschichtlichen Volksbücher F. M. Schieies oder die von Heinrich Weinel herausgegebene Reihe Lebensfragen, außerdem die erste Auflage des Lexikons Die Religion in Geschichte und Gegenwart, deren verantwortlicher Redakteur ebenfalls F. M. Schiele wurde - darüber hinaus sind auch die Christliche Welt, die Chronik der Christlichen Welt sowie die Hefte %ur „Christlichen Welt"hierzu zu rechnen.307 Mit ihrer empirisch-methodischen Ausrichtung und ihrer bewußt modern-theologischen Grundhaltung stellte Baumgartens Monatsschrift eine wissenschaftliche Innovation dar, die mehr oder weniger nachhaltig auch auf andere praktisch-theologische Zeitschriften Einfluß ausübte - wie etwa am geschilderten Wandel des Periodikums „Halte was du hast" zur Monatsschrift für Pastoraltheologie oder an der Gründung der kirchlichtheologischen Monatsschrift Die Studierstube deutlich wird. Letztere, 1903 von dem eher konservativen Pfarrer und Praktischen Theologen Julius Boehmer (1866—1944) als Organ für „theologische Berufsarbeiter" ins Leben gerufen, verstand sich bewußt als überpositionell und wollte den anstehenden Herausforderungen in den pastoralen Handlungsfeldern ohne jede parteiliche Uberformung begegnen308 - gerade darin zeigte sich ihre indirekte Kritik am emphatisch „modernen" Ton der MKP. Insofern hat Baumgartens vorbehaltlose Praxis- und Berufsorientierung durchaus auch auf konservativer Seite Anerkennung gefunden 309 - weniger dagegen natürlich seine kritische und modern-theologische Perspek3 0 6 Vgl. O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: EvFr8 (1908), S. 211; 13 (1913), bes. S. 355f. Außerdem K.-G. Wesseling, Art. „Schiele, Friedrich Michael"; in: BBKL Bd. 9, Sp. 199-201. 3 0 7 Vgl. H. Mulert, Art. „Verleger, theologische"; in: RGG1 Bd. V, Sp. 1641 f.; F. M. Schiele, Art. „Volksbücher, religionsgeschichtliche"; in: a. a. O., Sp. 1721-1725; G. Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik, S. 190ff. 308 Vgl. j. Boehmer, An die Leser; in: Die Stuäerstube 1 (1903), S. 1-7; ders., Rückblick und Ausblick; in: a. a. O. 2 (1904), S. 1^1. Dazu ders., Praktische Theologie, 2 Bde., Leipzig 1913/19. 3 0 9 Zur kritischen Würdigung der MKP aus konfessionell-konservativer Perspektive vgl. Anonym, Ein modernes Vademecum für das geistliche Amt; in: AELKZ 35 (1902), Sp. 578-581, 602-605.
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tive, die sich vor allem in seiner Kirchlichen Chronik äußerte und welcher sich schließlich auch der nochmalige Titelwechsel Evangelische Freiheit. Monatsschrift für die kirchliche Praxis in der gegenwärtigen Kultur im Jahr 1907 verdankt.310 Letzterer sollte jedoch keinesfalls überinterpretiert werden und ist jedenfalls nicht als eine programmatische Neuakzentuierung des Profils der Zeitschrift, sondern allenfalls als eine griffige Verdeutlichung ihrer inhaltlichen Linie zu verstehen. In diesem Sinne stellte Baumgarten in einer vom 28. Februar 1907 datierten Erklärung eigens heraus: „Zur Beruhigung erkläre ich gegenüber mehrfachen Anfragen, dass mit dem neuen Titel 'Evangelische Freiheit' keinerlei prinzipielle Aenderung im Programm dieser Monatsschrift, auch nicht in der Tendenz dieser Artikel beabsichtigt ist." 311 Wenngleich also der neue Name der Zeitschrift gerade für ihre inhaltliche Kontinuität einstehen sollte, so konnte dennoch solch ein Titelwechsel nicht jenseits der zeitgenössischen kirchen- und theologiepolitischen Frontstellungen geschehen: Die Wendung „Evangelische Freiheit" kam im Gefälle einer profilierten, genuin protestantischen Freiheitstradition zu stehen, die nunmehr gegen konfessionelles Besitzstandsdenken, modemitätskritische Restaurationstendenzen und antiliberale Gesinnungskontrolle geltend gemacht wurde. In diesem Sinne hatte schon der württembergische Pfarrer Julius Gmelin (1859-1919) die programmatische Forderung „Evangelische Freiheit!" als Koinzidenzpunkt zwischen reformatorischer Glaubensüberzeugung und neuzeitlich-modernem Autonomiestreben herausgestrichen und für den einzelnen Christen, die Gemeinden, die Geistlichen sowie für die Kirche insgesamt konkret zu entfalten versucht - es überrascht denn auch nicht, wenn Gmelin im Anschluß an eine Osterpredigt 1903 selber zu einem „Fall" in seiner heimatlichen Landeskirche wurde.312 Darüber hinaus berührte sich Baumgartens Titeländerung im Jahre 1907 mit den Zielen der Freunde evangelischer Freiheit für Rheinland und Westfalen um die - 1911 bzw. 1912 schießlich dienstenthobenen - Pfarrer Carl Jatho (1851-1913) in Köln und Gottfried Traub in Dortmund, wobei letzterer ja ohnehin zum Herausgeberkreis der MKP gehörte. Gegen die Anwürfe aus den Reihen der Rheinisch-westßlischen Vereinigung der Freunde des kirchlichen Bekenntnisses hatte sich dieser Verband der Freunde evangelischer Freiheit am 2. Februar 1906 - nach dem Vorbild 310 Vgl G. Krause, Zur Standortbestimmung einer Zeitschrift für praktische Theologie; in: ThPr 1 (1966), bes. S. 4—7; W. Steck, Die Wiederkehr der Pastoraltheologie, bes. S. 15—19, sowie mit Recht kritisch zu den dabei vorgenommenen Periodisierungen H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 423f. (A. 40). O. Baumgarten, Zur Beruhigung; in: EvFr 1 (1907), S. 129. J. Gmelin, Evangelische Freiheit! Auch ein Beitrag ^ur Lösung der sozialen Frage, Tübingen 1892; vgl. O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 3 (1903), S. 122ff.; H. Mulert, Art. „Gmelin, Julius"; in: RGG 1 Bd. II, Sp. 1464. 311
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der Freunde der Christlichen Welt - in Köln konstituiert, um liberaler gesonnenen Kreisen eine offizielle kirchenpolitische Plattform zu verschaffen, nachdem bereits am 18. Dezember 1905 in Köln ein regionaler Vereinßr evangelische Freiheit begründet worden war. 313 Zur prononcierten Kennzeichnung seiner inhaltlichen Tendenz wurde zudem das seit 1905 von Traub - als Nachfolger von Eugen Strauss in Bonn - redigierte Evangelische Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen vom 1. Oktober 1908 an in Christliche Freiheit unbenannt und der bisherige Haupttitel nunmehr nur noch als Untertitel gefuhrt. Der programmatische Anspruch dieses Organs, der weit über den der vielen neugegründeten „Gemeindeblätter" hinausging, sollte so besser zur Geltung gebracht werden, wie überhaupt diesem lokalen Verband der Freunde evangelischer Freiheit bald eine Reihe ähnlicher regionaler Zusammenschlüsse folgen sollten — so etwa, unter maßgeblicher Beteiligung Otto Baumgartens, 1909 in Schleswig-Holstein.314 Auf der anderen Seite berührte sich der Titelwechsel von der Monatsschrift für die kirchliche Praxis zur Evangelischen Freiheit mit der ebenfalls den protestantischen Freiheitsbegriff reklamierenden, vor allem auf Bekämpfung des Dogmenzwanges sowie auf Aufhebung der disziplinarrechtlichen Lehrzuchtverfahren ausgerichteten Arbeit des liberalen Deutschen Protestantenvereins, der ab 1907 seine Berichte vom „Deutschen Protestantentag" unter dem Titel Protestantische Freiheit veröffentlichte.315 Wie schon § 1 des Vereinsstatuts von 1865 als Programm die „Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesamten Kulturentwicklung unserer Zeit" formuliert hatte, so betonten die Vereinsveröffentlichungen immer wieder die Bedeutung wahrhaft evangelischer Mündigkeit und Freiheit gegenüber allen Tendenzen einer latenten 'Katholisierung': „als Christen das Leben des Geistes Christi in den Gliedern der Gemeinde zu wecken und zu fördern, als Protestanten aber für evangelische Freiheit einzutreten" - so bestimmte Julius Websky (1850-1922), langjähriger Herausgeber der Protestantischen Kirchen^eitung bzw. der Protestantischen Monatshefte, noch 1907 die eigentliche Hauptaufgabe seines Vereins.316 3 1 3 Vgl. den „Aufruf an die Freunde des Evang.[elischen] Gemeindeblattes für Rheinland und Westfalen"; in: CCW 16 (1906), Sp. 33f.; F. M. Schiele, Die Rheinprovinz im Jahre 1905; in: a. a. O., Sp. 81-87. Außerdem Protestantenblatt 39 (1906) [Beilage], S. llf., 46f., 163f., 334; O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: EvFr (1907), S. 165ff.; H. Geffcken (ed.), Praktische Fragen des modernen Christentums, Leipzig 1907; F. Wiegand (ed.), Kirch&che Bewegungen der Gegenwart I, Leipzig 1908, S. 1—23. 3 1 4 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 86. 315 Vgl Protestantische Freiheit. Der XXIII. Deutsche Protestantentag in Wiesbaden vom 21. bis 24. Mai 1907, Berlin 1907. 3 1 6 J. Websky, Der Protestantismus als das Christentum der Innerlichkeit und der Freiheit; in: Protestantische Flugblätter 42 (1907), S. 41; vgl. a. a. O. 23 (1888), S. 66.
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Der Ruf nach „Evangelischer Freiheit" erwies sich somit als gemeinsamer Kristallisationspunkt der älteren liberalen kirchenpolitischen Kräfte ebenso wie der jüngeren, modem und religionsgeschichtlich ausgerichteten Theologengeneration.317 Doch insofern Baumgarten und die junge „moderne Theologie" den Protestantismus nicht auf die Bereiche der 'Innerlichkeit und Freiheit' eingeschränkt wissen wollten, sondern ihn stärker für die sozialen und ökonomischen Bedingungen christlicher Existenz zu öffnen versuchten, blieb wohl nicht zufällig der liberalprotestantisch geprägte Heinrich Bassermann als einer der „geistigen Väter" 318 dieser Zeitschrift ihrer weiteren Entwicklung gegenüber eher skeptisch eingestellt: Wissenschaftlich engagiert im „Kampf gegen die individuelle Willkür einer empiristischen Praxis"319, blieb er ihr zwar als Mitarbeiter bis zu seinem Tod verbunden, hat es dabei jedoch hinnehmen müssen, „daß die Nachfolgerin seiner Zeitschrift, schon allein, um den stark verminderten Leserkreis zu erweitern, sich von der wissenschaftlichen, in gediegenen Abhandlungen und prinzipiellen Erörterungen sich erschöpfenden, vornehmen Art zu einer mehr deskriptiven, direkter praktischer Anfassung der Tagesfragen und elementaren Nöte des geistlichen Amts wandte." 320 Bassermanns eigene wissenschaftliche Leitbegriffe fanden immer weniger diejenige Beachtung, die er ihnen gerne zugedacht wissen wollte; gegenüber der gesamten Tendenz der Zeitschrift, die sich gewissermaßen als engagierte Speerspitze moderner theologischer Praxisreflexion verstand, fühlte er sich zusehends fremd, isoliert und unverstanden. Seine Kritik an den von Baumgarten 1904 publizierten Predigt-Problemen, die er „anregend, aber nicht befriedigend"321 fand, läßt sich insofern auch auf seine Vorbehalte gegenüber Baumgartens neuer Monatsschrift übertragen: „Von Theorie weiß er nichts und will er, wie es scheint, nichts wissen. Auch das hat sein Gutes; daher stammt die Frische und das ungemein Anregende des Buches; aber die Kehrseite ist hier, daß Manches offen bleibt, die Begründung des Einzelnen oft zu vermissen ist und mitunter die Bedenken gegen die gegebenen Winke und Ratschläge fast ebenso groß sind, als gegen die bekämpften Zustände."322
3 1 7 Hierzu vgl. auch H. Tribukait, Was ist evangelische Freiheit? Eine Beleuchtung unserer gegenwärtigen kirchlichen Lage, Tübingen 1912. Zur „Besetzung" dieser Parole in altgläubiger Perspektive siehe W. Lütgert, Evangelische Freiheit; in: Die 'Reformation 10 (1911), S. 473-481; L. Weber, Kirchenideale der Gegenwart, Leipzig 1912, bes. S. 3ff. 318 Vg] o . Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 97. 3 1 9 H. Faber, Art. „Bassermann"; in: RGG2 Bd. I, Tübingen 1927, Sp. 793. 3 2 0 O. Baumgarten, Heinrich Bassermann f, S. 365. 3 2 1 H. Bassermann, Rez. „O. Baumgarten, Predigt-Probleme"; in: ThLZ 29 (1904V Sp. 372. 3 2 i A. a. O., Sp. 371.
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Bassermanns Lebensarbeit hatte der historischen Kritik sowie der prinzipiellen methodischen Reflexion gegolten - jetzt aber „schritt der Empirismus, der seiner ursprünglichen Denkungsart fremd war, in Baumgarten und Niebergall über ihn hinweg; es ist daher verständlich, daß B.[assermann], der sich davon abgestoßen fiühlte und sich zu den Altgewordenen, den Unmodernen zu zählen begann, seine letzten Aufsätze in einer andern Zeitschrift, der Monatsschrift für Pastoraltheologie, veröffendichte [,..]."323 Persönlich mag diese Entwicklung eine gewisse „Tragik"324 bedeutet haben, doch weist die sozial- und disziplingeschichtliche Tragweite des dabei zugrundeliegenden Paradigmenwechsels in der Praktischen Theologie weit über solche subjektiven Dimensionen hinaus: Nicht mehr der Erweis ihrer enzyklopädischen und akademischen Legitimität war nunmehr die Hauptaufgabe praktisch-theologischer Arbeit, sondern die engagierte Auseinandersetzung mit den dynamischen Prozessen einer entstehenden modernen Industriegesellschaft.325 Dabei zeigte sich die „Modernität" der MKP nicht allein in ihrer Ausrichtung auf kritische Empiriereflexion oder in ihrer offensiven Reaktion auf die anstehenden Professionalisierungsprobleme, welche durchaus auch in anderen positionell-theologischen Lagern wahrgenommen wurden; vielmehr scheint es gerade die Orientierung an den gesellschaftlichen Konfliktpotentialen sowie ihr emphatisches modern-theologisches Differenzbewußtsein gewesen zu sein, welche die von Baumgarten geführte MKP gegenüber anderen, stärker auf Integration und sozialtechnische Harmonisierung ausgerichtete Fachzeitschriften als publizistische Innovation ausgezeichnet hat. 1.6. Praktische Theologie \wischen Wissenschaft und Praxis
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Die akademische Konstitution der Praktischen Theologie hat Anteil an den spezifisch neuzeidichen Reflexionsbedingungen — sie verdankt sich denselben gesellschaftlichen Trans formationsprozessen wie die Soziologie oder die moderne Psychologie.327 Wie die philosophischen PlausibiW. Göbel, Art. „Bassermann, Heinrich"; in: RE3 Bd. 23, S. 165. Ebd. 325 Vgl W. Steck, Die Wiederkehr der Pastoraltheologie, S. 17; V. Drehsen, Fachzeitschriftentheologie, S. 75. 3 2 6 Zur Formulierung vgl. E. Jüngel/K. Rahner/M. Seitz, Die Praktische Theologie ¡^wischen Wissenschaft und Praxis (Studien zur Praktischen Theologie Nr. 5), München 1968. 3 2 7 Vgl. V. Drehsen, Protestantische Religion und praktische Rationalität; in: W. Steck (ed.), Otto Baumgarten, S. 197-235; ders., Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie 2 Bde., Gütersloh 1988; dazu D. Stoodt; in: PTh 78 (1989), S. 152-156. 323 324
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litäten aus dem Umkreis des Deutschen Idealismus unter dem Druck der mächtig „wuchtenden Realitäten"328 allmählich ihr stabiles Gefiige verloren hatten, so begann sich mit den Modernisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts auch die Frage nach der gesellschaftlichen Praxis des Christentums neu zu stellen: Die Entwicklung der akademischen Praktischen Theologie als einer „Krisenwissenschaft" ist demnach unter dem Vorzeichen einer zunehmend problematisch gewordenen Wirklichkeitsbewältigung zu verstehen.329 Dabei muß man sich zugleich jedoch gegenwärtig halten, daß die Kritik am universitären Betrieb praktisch-theologischer Fächer wie Homiletik oder Katechetik gewissermaßen so alt ist wie diese Disziplinen selber: Schon der Göttinger Kirchengeschichtler Gottlieb Jakob Planck (1751-1833), der mit seiner zweibändigen Einleitung in die Theologische[n] Wissenschaften das akademische Studium der evangelischen Theologie neu fundieren wollte, handelte die Fächer der „angewandten Theologie" lediglich in einem Anhang ab — und dies unter Verweis auf ihren allenfalls akzidentellen, eben berufspraktischen Stellenwert: „Für den Theologen mögen sie unentbährlich seyn — wiewohl nicht einmahl für jeden — aber zu der Theologie selbst können sie es nicht seyn!"330 Denn wer „das Studium der Theologie selbst, mit den dazu nöthigen Vorbereitungs- und Hülfskenntnissen versehen, mit weiser Ordnung und stetem Fleiß getrieben" - und dazu will Plancks neugeschaffenes Lehrbuch als „theologischer Cursus" ja anleiten - , der werde schon dadurch in den Stand gesetzt, die erworbene religiöse Uberzeugung auch berufsmäßig zu kommunizieren und „anderen mitzuteilen". Wenn der Kandidat darüber hinaus „gesunde Logik und Psychologie, wenn er gereinigten Geschmack und richtigen Beobachtungsgeist, wenn er jenen durch das Studium der Alten gebildet, und diesen durch Menschenkenntniß geschärft hat," so werde seine Amtspraxis auch ohne weiteres Studium der „angewandten Theologie" von einem guten Erfolg gekrönt sein.331 Eine eigentliche „Praktische Theologie" mit Auspruch auf Wissenschaftlichkeit könne es Plancks Auffassung zufolge - neben den anerkannten akademischen Fächern der Theologie gar nicht geben. Die „praktischen Übungen" der angewandten Theologie wären jedoch um ihrer pädagogischen Zweckdien-
3 2 8 P. Kleinert, Zur praktischen Theologie. Erster Artikel; in: ThStKr 53 (1880), S. 276. 329 Ygj a Exeler/N. Mette, Das Theorie-Praxis-Problem in der Praktischen Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts; in: F. Klostermann/R. Zerfaß (eds.), Praktische Theologie Heute, München/Mainz 1974, S. 65-80, bes. S. 67. 3 3 0 G. J. Planck, Einleitung in die Theologische[n] Wissenschaften Bd. II, Leipzig 1795, S. 598. 3 3 1 A. a. O., S. 601f. Vgl. G. Otto, Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1986, S. 37ff.
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lichkeit willen einstweilen beizubehalten, wie auch Planck selber später nicht umhin kam, den zukünftigen Amtsträgern zu ihrer berufspraktischen Unterweisung immerhin eine eigene „Pastoraltheologie in der Form einer Geschichte" mit auf den Weg zu geben.332 Doch mit dem Prozeß der zunehmenden Ausdifferenzierung und Verwissenschaftlichung der theologischen Diziplinen begann ihre selbstverständliche Integration durch einen einheitlichen kirchlichen Praxisbezug zusehends brüchig zu werden: „Aus der Nichtübereinstimmung der Befunde der philosophischen Theologie einerseits, der historischen Theologie andererseits entsteht die Lösungsbedürftigkeit einer praktischen Aufgabe der Theologie."333 Diese Aufgabe wurde nunmehr gesondert formuliert und im enzyklopädischen System der neukonstituierten Praktischen Theologie zugewiesen. In den frühen Entwürfen bei Friedrich Schleiermacher (1768-1834) oder Philipp Marheineke (1780-1846) finden sich denn auch ausgesprochen „systematische" Durchführungen zur Konstruktion der Praktischen Theologie: Während bei Schleiermacher die theoretische Entfaltung praktischer „Kunstregeln" im Vordergrund stand, konzipierte Marheineke seinen Entwurf derpractischen Theologie unter dem Leitgedanken, Idee und Geschichte der chrisdichen Kirche spekulativ zusammenzuschauen, um aus ihnen die grundlegenden „Principien" kirchlichen Handelns ableiten zu können.334 Zwar wurden letztere mit großer innerer Geschlossenheit in den Hegeischen Kategorien des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen hergeleitet, doch blieben sie gerade aufgrund dieser abstrakten, vielfach gezwungenen Systematik eher einem kategorialen „Schnarrwerk" vergleichbar, als daß sie geschichdiche oder handlungsleitende Orientierung eröffnet hätten.335 Hatte gegenüber dem Programm einer „reinen" Wissenschaftlichkeit der Theologie, die ihren Praxisbezug unmittelbar aus sich selber heraus setzte, insbesondere Schleiermacher die enzyklopädische Legitimität der Praktischen Theologie erweisen wollen, so stellte sich jedoch damit das 332 Vgl G. J. Planck, Das erste Amtsjahr des Pfarrers von S. in Auszügen aus seinem Tagebuch, Göttingen 1823; dazu Chr. Bizer, Der wohl-unterrichtete Student um 1800; in: B. Moeller (ed.), Theologe in Göttingen, Göttingen 1987, S. 111-135, bes. S. 128ff. 3 3 3 V. Drehsen, Praktische Theologie als Kunsdehre im Zeitalter bürgerlicher Kultur, in: K. E. Nipkow/D. Rössler/F. Schweitzer (eds.), Praktische Theologie und Kultur der Gegenwart, Gütersloh 1991, S. 111; vgl. A. Grözinger, Der Streit um die Moderne und der Ort der Praktischen Theologie; in: ThPr 22 (1987), S. 5-20. 3 3 4 P. Marheineke, Entwurf der practischen Theologie, Berlin 1837, S. 13f., 29f. Zu Marheineke vgl. V. Drehsen; in: TRE Bd. 22, Berlin/New York 1992, S. 109-115; F. W. Graf; in: BBKLBd. 5, Herzberg 1993, Sp. 805-812. 3 3 5 Chr. Palmer, Zur praktischen Theologie; in: JDTh 1 (1856), S. 321; W. Birnbaum, Theologische Wandlungen von Schleiermacher bis Karl Barth, S. 43-46. Kritisch vgl. F. W. Graf, Der Untergang des Individuums; in: ders./F. Wagner (eds.), Die Flucht in den B e g r i f f , Stuttgart 1982, S. 274-307. 101
Problem der Praxisrelevan£ überhaupt erst in begrifflich scharfer, „moderner" Weise: Als „Krone des theologischen Studiums" setzte die Praktische Theologie die historische und systematische Theologie voraus und sollte auf die kirchenleitende „unmittelbare Ausübung" des Christentums vorbereiten - doch: „Der Ausdruck praktisch ist allerdings genau nicht ganz richtig, denn praktische Theologie ist nicht die Praxis, sondern die Theorie der Praxis." 336 War somit kirchenleitendes Handeln als der spezifische Gegenstand der Praktischen Theologie bestimmt, so sollte ihr als „Theorie der kirchlichen Ausübung des Christentums" bald auch die Kirche — und nicht das religiös begabte Individuum im Sinne Schleiermachers - als „actuoses Subjekt" zugrundegelegt werden, wodurch zugleich die wissenschaftliche Praxisreflexion als konstitutive Größe im kirchlichen „Selbstbewußtsein" ihre begriffliche Verankerung fand. 337 Einer solchen Grundlegung im „Wesen der Kirche" folgten die großen Systeme der Praktischen Theologie, wenn etwa Carl Immanuel Nitzsch (1787-1868) im ersten Buch seiner Praktischen Theologe („Das kirchliche Leben") nach dessen urbildlichen Beg r i f f einen ausfuhrlichen Abschnitt über „Das evangelische kirchliche Leben, und der jetzige Zeitpunkt" anfügt 338 oder Carl Bernhard Moll (1806-1878) annähernd die Hälfte seines Entwurfs einer systematischen Erfassung der zeitgenössischen „Physiologie der Kirche" widmet. 339 Gleichwohl erschien die Praktische Theologie mit ihrem zweipoligen, handlungsorientierten Selbstverständnis vor allem in ^{?LtT2^nt%praktischer Perspektive als ein von Anbeginn zwiespältiges Unterfangen, das mit seinem Anspruch auf „Wissenschaftlichkeit" gegenüber den Anforderungen der Berufswirklichkeit immer abständig und überflüssig bleiben mußte. 3 3 6 F. Schleiermacher, Praktische Theologie, Berlin 1850, S. 26; S. 12. Dazu M. v. Nathusius, Der Ausbau der praktischen Theologie %ur systematischen Wissenschaft, Leipzig 1899, S. 6; W. Steck, Friedrich Schleiermacher am Reißbrett: „Die Praktische Theologie ist nicht die Praxis, sondern die Theorie"; in: PThl 12 (1992), H. 1, S. 223-249. 3 3 7 C. I. Nitzsch, Praktische Theologie Bd. I, Bonn 1847, S. 111 (21859, S. 106), vgl. S. 1,15. Dazu W. Otto, Zum Bau der evangelischen Praktischen Theologie; in: ders. (ed.), Denkschrift des Herzoglich Nassauischen evangelisch-theologischen Seminars Herborn für die Jahre 1861 und 1862, Herborn 1862, S. 3-48; G. v. Zezschwitz, Der Entwicklungsgang der Theologie als Wissenschaft, insbesondere der praktischen, Leipzig 1867, S. 21ff. 3 3 8 C. I. Nitzsch, Vraktische Theologie Bd. I, S. 352-506; dazu V. Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie Bd. 1, S. 134-221; ders., Kirchentheologische Vermittlung; in: F. W. Graf (ed.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus Bd. 1, Gütersloh 1990, S. 287-318 (Lit.!); F. Wintzer, C. I. Nitzschs Konzeption der Praktischen Theologie in ihren geschichtlichen Zusammenhängen; in: EvTh 29 (1969), S. 93-109; F. Schweitzer, Kirche als Thema der Praktischen Theologie; in: ZThK90 (1993), S. 71-86; H. Theurich, Art. „Nitzsch, Carl Immanuel"; in: TRE Bd. 24, Berlin/New York 1994, S. 576-581. 3 3 9 C. B. Moll, Das System der praktischen Theologie im Grundrisse dargestellt, Halle 1853, S. 45-198.
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Die universitäre Praktische Theologie galt weithin als akademischer Selbstzweck, der zwar keinen Schaden anrichten, aber auch keinen wirklichen Nutzen bringen konnte. Nicht allein die Wissenschaftsfähigkeit der Praktischen Theologie als solcher, sondern zugleich die Frage nach der Systematisierungsfähigkeit und Reichweite des für sie konstitutiven Praxisbezuges sollte deshalb zum leitenden Thema in den Selbstverständigungsdebatten dieser noch jungen theologischen Disziplin werden. In diesem Sinne wollte Claus Harms (1778-1855) verstanden sein, wenn er über den herrschenden praktisch-theologischen Wissenschaftsbetrieb spottete: „mit seinen gymnastischen Uebungen darf niemand aufhören."340 Denn die Wissenschaftlichkeit der Praktischen Theologie sollte eingeholt werden durch die Verortung des Stoffes in einem einheitlichen, begrifflich-deduktiven System; die dieser Anlage korrespondierende Begründung praktisch-theologischer Handlungsorientierungen sollte sodann im Gefälle einer normativen Deduktion geschehen, so daß die hieraus erwachsenen „Systeme der Praktischen Theologie" letztlich „nach Art, Inhalt und Methode nur den Namen einer 'Dogmatik des kirchlichen Lebens' verdienen"341. Neben solcher prinzipiellen Kritik hatte jedoch auch die Ausdifferenzierung traditionell fürsorglicher Aufgaben der Kirche etwa im Bereich der sogenannten Armenpflege oder der „Rettungsarbeit" - sowie deren zunehmende Verlagerung auf neue Trägergruppen wie die „Innere Mission" - im ausgehenden 19. Jahrhundert nach einer Neustrukturierung der universitären Praktischen Theologie verlangt: Auch wo die „Diakonik" (Theodor Schäfer) nicht zu einer eigenständigen praktisch-theologischen Disziplin erhoben werden sollte, war doch die Notwendigkeit kaum noch von der Hand zu weisen, den weitverzweigten sozialdiakonischen Arbeitsfeldern innerhalb der Praktischen Theologie einen angemessenen Ort zukommen zu lassen.342 Dabei hatte die systematische Herleitung der einzelnen Tätigkeitsfelder des kirchlichen Lebens aus dem 3 4 0 C. Harms, Der Pastor, wie ihn die Pastoraltheologie seyn und thun lehret, hinsichtüch der besondern Seelsorge, des Schulwesens, des Armenwesens und der mehrern persönlichen Verhältnisse (Pastoraltheologe, Drittes Buch), Kiel 1834, S. 10 (= ders. Pastoraltheologe. In Reden an Theologiestudierende, Kiel 3 1878, S. 271). Diese Polemik wurde schon bei A. Schweizer, Ueber die wissenschaftliche Constructionsweise der Pastoraltheologie oder Theorie der Seelsorge; in: ThStKr 11 (1838), S. 37, als kritische Stimme zitiert. 3 4 1 D. Rössler, Prolegomena zur Praktischen Theologie; in: ZThK 64 (1967), S. 365. 3 4 2 Vgl. P. Wurster, Der wissenschaftliche Begriff der Inneren Mission; in: ZprTh 11 (1889), S. 232-251; H. Holtzmann, Die innere und die äußere Mission auf der Universität; in: PKZ 38 (1891), Sp. 941-956; E. Simons, Das System der praktischen Theologie und die innere Mission; in: ZprTh 16 (1894), S. 112-124; A. Kind, Hat die Innere Mission Anspruch, eine besondere Disziplin innerhalb der praktischen Theologie zu bilden?; in: a. a. O. 21 (1899), S. 215-229.
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„Wesen der Kirche" der Praktischen Theologie zwar ihre Anschlußfähigkeit an die übrigen akademischen Fächer gesichert - sie barg aber in sich zugleich die Gefahr, zu einem „starken Panzer" gegenüber den konkreten pastoralen Praxisanforderungen zu werden: „die practische Theologie im Gewände des Systems erinnert an David in der Rüstung Sauls; d. h. die wissenschaftliche Form droht den eigentlichen Inhalt zu e r drücken." 343 Theorie und Praxis, System und Wirklichkeit schienen unversöhnlich einander gegenüberzustehen, solange es nicht gelang, ihren prinzipiellen Antagonismus zugunsten einer gleichsam weicheren Theoriekonstruktion zu überwinden. „Doch, da alles Systematische der Theorie entnommen, vermittels abstracten Denkens gewonnen wird, so werden durch jene Systematisirung der practischen Theologie Theorie und Praxis in eine so enge Verbindung mit einander gebracht, daß beide Teile Gefahr laufen, durch dieselbe geschädigt zu werden; entweder wird das reich sich entfaltende Leben der Wirklichkeit durch die streng gezogenen Linien der Theorie allzusehr eingeschränkt, so daß es trotz aller Systematisirung doch nicht zu seiner vollen Darstellung kommt; oder andererseits quillt das Leben der Wirklichkeit über die von der Theorie gezogenen Scheidungslinien hinaus, und zerstört die reinlichen und zierlichen Kreise des Systems."344 In Fortführung solcher Kritik an abstrakter und wirklichkeitsfremder Systematisierung ist auch die bekannte Debatte zwischen Martin Schian und Paul Drews um die adäquate Verortung des 'subjektiven Faktors' in den Disziplinen der theologischen Wissenschaft zu verstehen, welche zeigt, wie die Praktische Theologie sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus der Dominanz dogmatischer Bestimmungen zu lösen beginnt und sich um eine eigenständige Einholung des Wirklichkeits- und Erfahrungsbezuges des chrisdichen Glaubens bemüht: 345 „Das Bild, das Dogmatik und Ethik vom Christentum gezeichnet haben, findet sich in Wirklichkeit so nicht wieder. Dieser Thatsache kann sich der Pfarrer, der offenen Blick besitzt, nicht entziehen. Er steht einer ihm fremden Welt gegenüber. Er gerät in die Gefahr, entweder die entdeckten Verhältnisse nach seiner Dogmatik zu beurteilen und beeinflussen zu wollen, oder jener Dogmatik überhaupt den Wert streitig zu machen." 346 Gegen die befürchtete Auflösung der Systematischen Theologie in einen vielstimmiP. Kirmß, Zur practischen Theologie; in: PKZ 29 (1882), Sp. 150. Ebd.; vgl. dazu R. Hofmann, Zum System der praktischen Theohgie, Leipzig 1874. 345 Ygi m. Schian, Der Einfluß der Individualität auf Glaubensgewinnung und Glaubensgestaltung; in: ZThK 1 (1897), S. 513-543; P. Drews, Dogmatik oder religiöse Psychologie?; in: ZThK 8 (1898), S. 134-151; M. Schian, Glaube und Individualität; in: a. a. O., S. 170-194. 3 4 6 P. Drews, Dogmatik oder religiöse Psychologie?, S. 144. 343
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gen Chor subjektiver Erfahrungen und Überzeugungen will Drews deshalb die Dogmatik auf das prinzipiell Erfahrbare des christlichen Glaubens eingegrenzt wissen, die dringend erforderliche Wendung zur Praxis- und Lebensweltorientierung demgegenüber ausschließlich den - im übrigen erweiterungsbedürftigten - Disziplinen der Praktischen Theologie zuweisen. Im Sinne einer „Theorie für die Praxis" kommt ihr die Aufgabe der Vermittlung zwischen der theologischen Wissenschaft und dem „konkreten Leben" in seiner kirchlich-gesellschaftlichen Vieldeutigkeit zu: „Erst wenn die praktische Theologie in dieser Weise dem künftigen Prediger und Seelsorger das dunkle Gebiet des empirischen religiösen und sittlichen Lebens aufgehellt hat, erst wenn ihm durch eine solche Darstellung das Auge für die wirklichen Lebenserscheinungen geöffnet ist, hat sie ihn, soweit sie es vermag, für seinen Beruf auf der Kanzel und in der Seelsorge wirklich vorbereitet."347 Denn als „Theorie des kirchlichen Handelns"348 war die Praktische Theologie im Kanon der theologischen Fächer gleichsam stellvertretend auf diejenige gesellschaftliche und kirchliche Lebenswelt verwiesen, welche den impliziten Rahmen aller theologischen Reflexionsarbeit bildete: „Selbst wo die Spannung zwischen der gegebenen Wirklichkeit der Erscheinung und zwischen der Idee der Kirche sich bis zum diametralen Widerspruch zu steigern schiene, würde die praktische Theologie sich nicht auf den Standpunkt zu stellen haben, von vorn ab aus der Idee eine neue Kirche zu construiren, sondern im Gegebenen einsetzend, müßte sie die Spannung aufzuheben trachten und lehren."349 Dabei hatte der einsetzende Plausibilitätsverlust idealistischer Systeme zugleich eine Emanzipation der Wirklichkeit von der Idee bedeutet, wie L. Fendt im geschichtlichen Rückblick zutreffend zusammenfaßt: „Um so eifriger wurde die Pr. [aktische] Th.jeologie] nach dem Zusammenbruch des begriffswissenschaftlichen Ideals Wissenschaft vom Gegebenen', nämlich von dem in der Kirche zu verlangenden Handeln; und diese Pr. [aktische] Th.feologie] betrieb mit Hingabe historische Forschung, um dem 'kirchlichen Handeln' der Vergangenheit auf die Spur zu kommen, allmählich auch volkskundliche und psychologische Forschung "35° 347 348
652.
A. a. O., S. 146; vgl. S. 144. W. Caspari, Art. „Theologie, praktische"; in: RE3 Bd. 19, Leipzig 1907, S.
P. Kleinen, Zur praktischen Theologie. Erster Artikel, S. 288. L. Fendt, Grundriß der Praktischen Theologie. Ente Abteilung, S. 29. Ähnlich bereits F. Niebergall, Die neue Forschung zur Praktischen Theologie und ihrer Reform; in: Die Geisteswissenschaften 1 (1914), S. 406: „Aus einer mehr oder weniger zusammenhängenden Summe von pastoralen Klugheitsregeln von Schleiermacher zu einem wissenschaftlichen Rang erhoben, hat die Praktische Theologie alle Wandlungen des wissenschaftlichen Geschmackes im vorigen Jahrhundert mitgemacht. Galt systematisch als wissenschaftlich, so arbeitete sie systematisch, galt historisch als solches, so arbeitete sie historisch." 349
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Die Durchsetzung von historischer Analyse und Kritik, wie sie hier im komprimierten Überblick schließlich auf einer Linie mit der Empirisierung der Praktischen Theologie um die Jahrhundertwende zu stehen kommt, war forschungspraktisch und disziplingeschichtlich gleichwohl ein durchaus spannungsvoller Prozeß: Die praktisch-theologischen Entwürfe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren noch weitgehend unbelastet geblieben vom Interesse der historischen Rückversicherung. So hatte etwa der Jenaer Theologe und Herder-Schüler Johann Traugott Leberecht Danz (1769-1851) in § 287 seiner Vorlesungskonzeption erschöpfend darlegen können: „Die Geschichte der Seelsorge zerfällt in drei Abschnitte, je nachdem die Geistlichen ihre Superiorität entweder in ihrem Lehrer- und Hirten-Beruf; oder in ihrer priesterlichen und kirchlichen Würde; oder in ihrer gelehrten Bildung, rednerischen Geschicklichkeit und symbolischen Rechtgläubigkeit gefunden haben, oder noch finden." 351 Demgegenüber begann die nach der Jahrhundertmitte einsetzende Intensivierung der historischen Erforschung praktisch-theologischer Arbeitsfelder deutlich den Eigenwert der geschichtächen Entwicklung gegenüber den idealen Wesensbestimmungen einer begrifflich-deduktiven Konstruktion hervorzuheben: Der historische Durchblick vermochte eine prinzipielle Orientierung über Genese und Kontext der gegenwärtigen, vielfach brüchig werdenden kirchlichen Wirklichkeit zu verschaffen, und versetzte somit in die Lage, der ängstlichen Festschreibung traditioneller pastoraler Handlungsperspektiven als kritisches Korrektiv gegenübertreten zu können. In Ausgriff auf ein solches kritisch-kirchenkundliches Praxisinteresse hatte der Göttinger Praktische Theologe Friedrich August Ehrenfeuchter (1814—1878) bereits 1860 programmatisch formuliert: „Was nun die Dogmengeschichte für die Dogmatik ist, das ist die Geschichte des kirchlichen Lebens für die practische Theologie."352 An Ehrenfeuchter und seiner Wahrnehmung der sich abzeichnenden gesellschaftlichen „Uebergangsperiode"353 kann exemplarisch auch der Wandel praktisch-theologischer Theoriebildung in Reaktion auf die zeitgenössischen Modernitätserfahrungen aufgezeigt werden: Hatte 1840 - angesichts der „in3 5 1 J. T. L. Danz, Die Wissenschiften des geistlichen Berufs im Grundriß, Jena 1824, S. 238; nicht minder knapp auch L. Hüffell, Ueher das Wesen und den Beruf des evangeüschchristüchen Geistlichen. Ein Handbuch der praktischen Theologe in ihrem ganzen Umfang, Bd. 2, Gießen 3 1835, S. 208f. 3 5 2 F. Ehrenfeuchter, Ueber den Begriff einer Geschichte des kirchlichen Lebens; in: JDTh 5 (1860), S. 638; vgl. J. Wagenmann, Art. „Ehrenfeuchter"; in: RE 2 Bd. 4, Leipzig 1879, S. 106-109. Zu Ehrenfeuchters Einordnung in prä-religionssoziologische Forschungsperspektiven vgl. V. Drehsen, Die „Normativität" neuzeitlicher Frömmigkeitsgeschichte; in: H. Renz/F.W. Graf (eds.), Protestantismus und Neuheit, bes. S. 264-266. 3 5 3 F. Ehrenfeuchter, Theorie des christlichen Cultus, Hamburg/Gotha 1840, S. XV.
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nern Barberei" der Zeitverhältnisse - Ehrenfeuchter noch unbeirrt auf die wissenschaftliche Pflicht gesetzt, gleichsam prophetisch „die ideale Welt im irdischen Ausdrucke nachzubilden"354, legte er in der „Ersten Abtheilung" seines Lehrbuchs Die Praktische Theologie aus dem Jahre 1859 den Akzent darauf, nicht mehr lediglich überzeitliche „abstracte Principien" aufstellen zu wollen, sondern vielmehr in seinem Werk das Leben lebendig zu schildern - jedoch „ohne die mehr zufalligen Züge, welche der vorübergehende Augenblick hervorbringt, in sich aufzunehmen."355 Eine fortsetzende „Zweite Abtheilung" dieses Lehrbuchs, welche auch die Seelsorge behandeln würde, ist allerdings nie erschienen. Zur „Ueberbrückung jener großen Kluft [...], welche die christliche Anschauung von der öffentlichen Tagesmeinung trennt", sah Ehrenfeuchter sich vielmehr zunächst zur Arbeit an einem anderen Projekt genötigt, das schließlich sein letztes großes Werk werden sollte: Unter dem Eindruck des nationalen „Wendepunktes" und der sich immer deutlicher ausprägenden „Ueberzeugung, daß ein Uebergang von einer Form des Daseins in eine andere sich vollziehe, daß ein Neues hervorbrechen wolle", war es Ehrenfeuchters Intention, im kulturgeschichtlichen Rekurs aufzuweisen, wie sich „Cultur" und „Kirche" im Begriff des Reiches Gottes neu versöhnen lassen können.356 Angesichts des Verlustes überkommener Gewißheiten schien die Geschichte gleichsam zu einer zweiten Natur zu werden: aus ihr waren nunmehr reflexiv diejenigen „Ergebnisse zu schöpfen, denen man eine Sicherheit zuspricht, wie sie etwa die exacte Forschung der Natur gewährt."357 Etwas Verstehen heißt verstehen, wie es geworden ist - Vinter dieser Maxime sollten Geschichte und Gegenwart des kirchlichen Lebens in die praktisch-theologische Handlungsreflexion eingeholt werden. 358 Wenn auch die Praktische Theologie im Zuge des Aufschwungs historischer Forschung den Anschluß an die zeitgenössischen wissenschaftlichen Standards erreichen sollte und zu einem etablierten akademischen Fach wurde, so begann sich umgekehrt jedoch mit der allgemeinen Sogkraft des Historismus die Frage nach dem Gegenwarts- und Praxisbezug der Praktischen Theologie immanent noch einmal zu verschärfen. Für die 354
355
S. X. 356
Ebd.
F. Ehrenfeuchter, Die Praktische Theologie. Erste Abtheilung, Göttingen 1859, F. Ehrenfeuchter, Christentum und moderne Weltanschauung, Göttingen 1876,
S. 5; vgl. S. 416. 357
A. a. O., S. 7. Zu den Grenzen von Ehrenfeuchters Praktischer Theologie, ins-
besondere hinsichtlich ihrer „Wirklichkeitsnähe", vgl. D. Rössler, Über Friedrich Ehrenfeuchter; in: NZSjTh 5 (1963), S. 183-191. 3 5 8 Dazu H. Schnädelbach, „Etwas Verstehen heißt Verstehen, wie es geworden ist" - Variationen über eine hermeneutische Maxime; in: W. L. Federlin/E. Weber (eds.), Unterwegs für die Volkskirche, Frankfurt/M. u. a. 1987, S. 465-484; zur Geschichte als „Leitwissenschaft" vgl. F. W. Graf, Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreichs; in: ders., (ed.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus 2/1, S. 20 u. ö. 107
anstehende Reformdiskussion in der Praktischen Theologie erlangte dabei die frühe, 1886 von dem Mitbegründer der Christlichen Welt und späteren Frankfurter Pfarrer und Professor Wilhelm Bornemann (18581946)359 zunächst anonym publizierte Analyse der Unzulänglichkeit des theologischen Studiums der Gegenwart eine besondere Bedeutung, da in ihr vor allem die Gefahr der Dissoziation zwischen historisch-kritischem Wissenschaftsbetrieb und den modernen pfarramtlichen Praxisanforderungen herausgestrichen wurde. Beide Bereiche sollten vielmehr im Studium eine produktive Vermittlung finden, wobei insbesondere die Praktische Theologie neue thematische Akzentsetzungen vorzunehmen hätte.360 In diesem Zusammenhang hatte Bornemann die Signatur seiner zeitgenössischen Gegenwart in einer besonders eindringlichen Weise skizziert und die modernitätsspezifischen Bedingungen kirchlicher Praxisfelder bündig zusammengestellt; diese Perspektive soll hier einmal ungekürzt in ihrer Sprachmächtigkeit und in ihrem andrängenden, auffordenden Charakter zu Wort kommen: „Die umfassendsten Veränderungen vollzogen sich in Sturmeseile. Unsre Zeit lebt fieberhaft und rasch. Sie wartet nicht erst, bis wir erwacht sind und uns besinnen. Die Erweiterung des Horizontes, die Erneuerung der gesamten Lebensbedingungen vollzieht sich unablässig. Die Verhältnisse wurden im höchsten Grade kompliziert, und das geistliche Amt war auf solchen Umschwung nicht vorbereitet. Die bisherige Auffassung und praktische Ausübung des Pfarramts war dem gärenden Werdeprozeß und den neuen Erscheinungen nicht gewachsen. Nicht in seinem Kern und Wesen, wohl aber in seiner Thätigkeit und seinen Formen muß es sich verjüngen. Eine Welle nach der anderen kam. Die Vergangenheit sank Stück für Stück dahin. Die neuere Gesetzgebung, der moderne Staatsbegriff mit seinen Konsequenzen, die Einführung der konstitutionellen Verfassung, die Gleichberechtigung der Konfessionen, die Trennung und die eigentümliche Verbindung von politischer, religiöser und Schulgemeinde, die Entdeckungen und Erfindungen, die Eisenbahnen, der Verkehr, die Freizügigkeit, die gewaltige Macht der Presse und die Preßfreiheit, das Vereinswesen, der ungeheure Fortschritt der Naturwissenschaft, der Wechsel der philosophischen Systeme und Anschauungen, die neue Methode und Ausbildung der geschichtlichen Forschung, die Scheidung zwischen Gebildeten und Ungebildeten, das Fabrikwesen mit der Zentralisation der Bevöl3 5 9 Vgl. F. W. Bautz; in: BBKL Bd. 1, Hamm 1975, Sp. 704; W. Klötzer (ed.), Frankfurter Biographie Bd. 1, Frankfurt/M. 1994, S. 93; unrichtig F. Wintzer, Art. „Predigt IX."; in: TRE Bd. 27, Berlin/New York 1997, S. 321. 360 Vgl. dazu auch die zustimmende Rez. durch M. Rade; in: ThLZ 11 (1886), Sp. 40-45 ('Das Unzulängliche, hier wird's Ereigniss', Sp. 40), sowie H. Bassermann; in: ZprTh 8 (1886), S. 273-279, der Bornemanns Analyse der Defizite teilt, seine Reformideen jedoch — um des akademischen Charakters der Praktischen Theologie willen - für undurchführbar hält. Für eine zweckfreie „reine Wissenschaftlichkeit" des Studiums plädiert E. Haupt, Plus ultra. Zur Universitäts-Frage, Halle 1887.
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kerung, das erstaunliche Anwachsen der großen Städte - alles das nicht ohne unmittelbaren Einfluß auf die kirchlichen und sittlichen Verhältnisse des Volkslebens - und mitten unter diesen neuen Gestaltungen die finstern Mächte des Atheismus und Materialismus und Pessimismus und Kommunismus, des Pauperismus und des Klassenhasses mit einem neuen Evangelium für die Welt. Ein andres Leben ist da und ein andres Geschlecht."361 Die Dynamik der lebensweldichen Mobilisierungen drohte die überkommenen sozialen Verankerungen von Religion und Ethos allenthalben zu destabilisieren: Der zunehmende Druck weltanschaulicher Konkurrenz sowie die Prozesse sozialer Dissoziation bedeuteten eine tiefgreifende Veränderung der Bedingungen praktisch-theologischen Handelns. Vor allem die moderne „Verschiebung der Berufsidee des Pfarramts" 362 - gemeint ist die schwindende Eindeutigkeit kirchlicher Handlungsfelder sowie der Verlust verbindlicher pastoraler Leitbilder - hatte ein enormes Verunsicherungspotential freigesetzt und der Forderung nach theologischer und pastoraler Vergewisserung besonderen Nachdruck verliehen. Für die akademische Praktische Theologie wurde deshalb die Aufgabe immer drängender, den Ausweis ihrer Wissenschaftlichkeit sowie die Sicherung der kirchlich-christlichen Traditionsbestände nicht auf Kosten von Gegenwartsorientierung und Wirklichkeitsnähe erreichen zu wollen — denn „wenn der Vertreter der praktischen Theologie die Ofenbank des überlieferten Schematismus verlässt und einen Schritt hinausthut in die Wirklichkeit des Lebens, da spürt er den Sturm und das Unwetter."363 Polemisch karikiert W. Bornemann denn auch die herrschenden Rückzugstendenzen innerhalb der akademischen Theologie: „Aber man möchte am liebsten der Kirche ein Hüttlem bauen abseits von dem großen Getriebe der Welt und die kirchlich Gesinnten sammeln und auf eine Wirksamkeit in dem wüsten Lärme draußen verzichten." „Es ist, als habe sich der Protestantismus an der Zugluft dieser modernen Kultur erkältet und müßte nun auf einige Zeit das Zimmer hüten, weil ein Teil der sorgenden Geistlichkeit davon eine Genesung erwartet. Vielleicht wird die kranke Kirche aber doch eher gesund, wenn sie sich hinausbegibt und frisch an ihre Arbeit draußen geht."364 Für diese Arbeit „draußen" formulierte Bornemann zugleich auch schon diejenige Maxime, unter der Kirche und Theologie dem „neuen Geschlecht" zu begegnen hätten und welche gewissermaßen die Grundüberzeugung aller weiteren praktischtheologischen Reformtendenzen der Jahrhundertwende bilden sollte — die 3 6 1 W. Bornemann, Die Unzulänglichkeit des theologischen Stuäums der Gegenwart. Ein Wort an Dozenten, Pfarrer und Studenten, Leipzig 1886, S. 24. 3 6 2 M. Besser, Ueber die Zweckmäßigkeit des theologischen Studiums der Gegenwart; in: DEBl 12 (1887), S. 29. 3 6 3 W. Bornemann, Historische und praktische Theologe, S. 8f. 364 w , Bornemann, Die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums der Gegenwart, S. 19f., 21.
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Überzeugung der gleichsam noch unausgeschöpften Akkomodations- und Inkulturationsfähigkeit des christlichen Glaubens: „Unser Evangelium ist nicht so ärmlich, daß wir immer dieselbe Formel wieder reiten müßten, und nicht so gesetzlich, daß es an den einmal festgesetzten Buchstaben gebunden wäre. Es ist reich und schmiegt sich an alle Verhältnisse des Lebens, an alle Bedürfnisse der einzelnen Seelen, an die wechselnden Zuständen der verschiednen Zeitalter an."365 Konstitutiv für die Praktische Theologie war ihre Aufgabe, im akademischen Studienbetrieb das wissenschafdiche Praxisinteresse stellvertretend gegenüber der Ausdifferenzierung systematischer oder historischer Wirklichkeitsrekonstruktion zu bewahren. Doch je mehr „die übrige Theologie die Fühlung mit der Praxis verliert und sich rein wissenschaftlich historisch gestaltet, um so nothwendiger ist eine besondere Disziplin, welche sich eigens zur Aufgabe setzt, diese Fühlung wiederherzustellen."366 Die akademische Theologie insgesamt, besonders aber die Praktische Theologie, waren deshalb auf die Wiederentdeckung der „Wirklichkeit" von Religion und Kirche verwiesen, deren spannungsvolle Gegenwartsentwicklung das vordringliche Material der theologischen Reflexion zu bilden hätte. So urteilt rückblickend auch E. Troeltsch: „Denn die Welt der literatischen Neuigkeiten und der vielgelesenen Bücher ist noch nicht identisch mit der der menschlichen Herzen. Aber eine neue Zeit war es doch. Die wissenschaftliche Theologie [...] war etwas zu sehr angekränkelt von der Blässe des Gedankens und bedurfte der Erfrischung durch einen kräftigen, die Wirklichkeit des religiösen Lebens studierenden Realismus. [...] Sie verkannte die Religion in ihrer naiven, durch keine Philosophie und Wissenschaft verkümmerten und gelähmten Kraft, sie studierte sie nicht in ihrem wirklichen Leben, sondern konstruierte sie aus einer Theorie." 367 Der ursprüngliche Impetus der historischen Kritik, mit welchem das aufgeklärte und relativierende geschichtliche Verstehen allgemein zur leitenden Perspektive geworden war, drohte unter der Hand ins Leere zu laufen und die um ihre wissenschaftliche Reputation bemühte Praktische 3 6 5 A. a. O., S. 94; vgl. O. Baumgarten, Art. „Akkommodation"; in: RGG 1 Bd. I, Sp. 312—314, der gegenüber einer kompromittierenden „Anbequemung" an die überlieferten Formen für eine selbstbewußte Fortschreibung der Tradition plädiert: „Somit entsteht für eine des Namens würdige moderne Theologie die Aufgabe, [...] mit Mut und Vertrauen zu dem uns gewordenen eigentümlichen inneren Erleben und zu der unserm Geschmack voll entprechenden künstlerischen Darstellung an der Herstellung einer neuen, ehrlichen, stilvollen religiösen Symbolsprache zu arbeiten." (a. a. O., Sp. 314) 3 6 6 H. Bassermann, Die praktische Theologie als eine selbständige, wissenschaftüche theologische Disziplin, S. 19. 3 6 7 E. Troeltsch, Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart, S. 11 f.
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Theologie zu einem gelehrsamen Selbstzweck, zu einer archäologischen Liebhaberei von nur noch antiquarischem Wert werden zu lassen: „Umfassende historische Einleitungen sagen, wie man es gemacht hat, aber die im Verhältnis sehr kurze Darstellung der Grundsätze des Handelns selbst ist nicht streng genug auf die aus dieser historischen Grundlegung herauszuarbeitenden Gesetze und noch weniger auf eine Erkenntnis des Objektes aufgebaut." 368 Besonders ausgeprägt findet sich diese historiographisch-deduktive Tendenz bekanntlich in dem umfangreichen, 1892 erschienenen Lehrbuch derpraktischen Theologie von Ernst Christian Achelis, das in seiner dritten Auflage (1911) schließlich auf drei Bände anwachsen sollte und gerade wegen seines eindrucksvollen Materialreichtums und seiner systematischen Geschlossenheit vielfach Anlaß zu Spott und Kritik gegeben hat: Trotz seiner opulenten historisch-systematischen Konzeption sei es letztlich nichts anderes als künstlich ersonnener „Schrank voll Schubfächer", der die lebendige Wirklichkeit mehr schlecht als recht in ein normatives begriffliches Ordnungsschema zwingen wolle.369 Spitz polemisiert deshalb Walter Frühauf (1878-1956) - langjähriger Geschäftsführer der 1898 gegründeten Gustav-Glogau-Gesellschaft, in welcher auch O. Baumgarten seit 1908 Mitglied war - gegen den zeitgenössischen Betrieb der Praktischen Theologie: „Die Geschichte wird eigentlich für alles hier herangeholt, als ob es sonst keine Begründung gäbe als die Autorität der Geschichte, als ob mit der Autorität der Geschichte eine Sache in ihrem berechtigten Vorhandensein bewiesen wäre." 370 Mit seinen „Kritiken und Anregungen" will Frühauf insbesondere Dogmatik, Ethik und Praktische Theologie aus ihrem Verhaftetsein im Historismus herauslocken und endlich die „für praktische Wirksamkeit so bittemötige Einbeziehung der gegenwärtigen Menschen in den Stoff erwirken: Nicht der dogmatisch fixierten „Geschichtsreligion", sondern der lebendigen „Gegenwartsreligion" soll die universitäre Theologie dienen.371
368 p Niebergall, Die wissenschaftlichen Grundlagen der praktischen Theologie; in: MKP 3 (1903), S. 271. 3 6 9 A. Eckert, Die Bedeutung der praktischen Theologie in der gegenwärtigen Krisis; in: „Dienet einander!" 21 (1912/13), S. 322. Vgl. dag. H. Bassermann, Rez. „E. Chr. Achelis, Praktische Theologie Bd. I und II"; in: ZprTh 14 (1892), S. 92-100, 374—378; M. Schian, E. Chr. Achelis' Lehrbuch der Praktischen Theologie; in: TM 14(1911), S. 303-313. 370 y/j Frühauf, Praktische Theologie! Kritiken und Anregungen, Dresden [1906], S. 17. 3 7 1 Vgl. a. a. O., S. 158; außerdem Frühaufs „Selbstanzeige" seines Werkes im Jahrbüchlän der Gustav-Glogau-Gesellschaft VIII (1906), S. 39f. Kritisch dazu M. Rade; in: ZThK 17 (1907), S. 69: Der bloße Ruf „Praktisch! Praktisch!" eröffne doch noch keine konkrete Perspektive für die Vermittlung von Theorie und Praxis, welcher sich ja eine Reihe neuerer Theologen - wie etwa F. Niebergall oder P. Drews - längst schon verschrieben hätten.
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Wenn auch die hier angeprangerten Tendenz zu einseitiger Historisierung in späteren Reformprogrammen der Praktischen Theologie in polemischer Absicht zuweilen ungebührlich überzeichnet worden ist, so ist gleichwohl grundsätzlich einzuräumen, daß die breite Aufarbeitung des geschichtlichen Stoffes - oft zudem einhergehend mit einem Wissenschaftsideal, das noch immer dem Prinzip der begrifflich-systematischen Konstruktion verpflichtet war — vielfach jeden expliziten, problemorientierten Gegenwartsbezug von vornherein erdrückte bzw. marginalisierte. Dagegen waren im Bewußtsein einer reflektierten historischen Kritik „geschichtliche Erforschung" und „prinzipielle Beurtheilung" nicht legitimerweise zu trennen. Denn: „Führt jene, für sich allein angewendet, zu einem Empirismus, der jeweils das einmal Bestehende in Ordnung findet, so würde diese, von dem geschichtlichen Verständniss entblösst, in ein hohles, luftiges Konstruieren verfallen, das gar keinen Einfluss auf das Bestehende zu üben vermöchte. Geschichte ohne Principien ist blind, Principien ohne Geschichte sind leer."372 Alle „historische Selbstanalyse" bedurfte folglich des Bezuges zu „entwicklungsgeschichtlich angelegten Zukunftsprogrammen"373 - erst von diesen her erhielt die historische Forschung ihr lebendiges Interesse, welches niemals mit der bloßen Stoffsammlung selber schon gegeben wäre. „Wo diese Zukunftsrichtung wegfällt, da wird die Historie zum reinen Historismus, zur völlig relativistischen Wiedererweckung beliebiger vergangener Bildungen mit dem lastenden und ermüdenden Eindruck historischer Aller-Welts-Kenntnis und skeptischer Unproduktivität für die Gegenwart."374 In diesem Sinne ist auch der reformerische Einspruch gegen einen unproduktiven praktisch-theologischen Historismus nie grundsätzlich gegen geschichtliches Verstehen, gegen verarbeitete Geschichte, sondern lediglich gegen ein folgenloses, gleichsam äußerliches Addieren historischen Detailwissens gerichtet gewesen. Doch unter dem Eindruck der massiven gesellschaftlichen Wandlungsprozesse wurde der herrschende Wissenschaftsbetrieb der Jahrhundertwende vielfach pauschal als zu unbeweglich und abständig abgeurteilt: Jede Form historischer Orientierung und Durchbildung konnte in undifferenzierter Perspektive zur Chiffre einer abstrakten und verknöcherten Wirklichkeitsferne werden, so daß eine nüchterne Würdigung etwa von Achelis' „undogmatisch kritischer Analyse kirchlicher Pra-
3 7 2 H. Bassermann, Die praktische Theologie als eine selbständige, wissenschaftliche theologische Disziplin, S. 21; vgl. ders., Theorie und Praxis mit besonderer Berücksichtigung der Predigt; in: MPTh 3 (1907), S. 6-21; ders., Theorie und Geschichte; in: a. a. O., S. 204-219. 3 7 3 E. Troeltsch, Art. „Neunzehntes Jahrhundert", S. 246. 3 7 4 A. a. O., S. 250.
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xisgeschichte" kaum mehr möglich war. 375 Historie und Theorie erschienen gleichermaßen als tote Begriffssysteme, die nunmehr von der Wucht der Realität ein für allemal überholt worden waren. „Angesichts der bedrängenden Probleme der Gegenwart wirkt schließlich selbst die jüngste Vergangenheit archaisch. [...] Die Genese der Praktischen Theologie scheint mit ihrer Gegenwart zusammenzufallen."376 Im Sinne der Metapher modemer Beschleunigungserfahrung werden Gegenwart und Praxis wechselseitig identifizierbar: „Das absolut gesetzte Gegenwartsbewußtsein macht dessen Ableitung aus einer kontinuierlichen geschichtlichen Entwicklung der Praktischen Theologie unmöglich."377 Dabei war solche radikale Gegenwartsorientierung zweifellos im Zusammenhang zu sehen mit einer allgemeinen Tendenz zur Empirisierung der Wissenschaft im Sinne einer Durchsetzung des „Primats der Erfahrung vor der Theorie", wonach Wissenschaftlichkeit sich gegenüber grundlegend gewandelten Standards zu erweisen hatte: Auch die Theologie mußte sich nunmehr als autonome Wissenschaft von der Wirklichkeit legitimieren, deren „Axiome" der unmittelbaren und intuitiven Evidenz zugänglich sein sollten und deren Arbeit „voraussetzungslos" sowie prinzipiell revidierbar zu sein hatte.378 Eine besondere reformerische Aufmerksamkeit mußte bei der Tendenz solcher Empirieorientierung auf der Frage nach der Funktion und Leistungsfähigkeit der universitären Praktischen Theologie liegen: Neben der „Fülle des kirchlichen Lebens der Gegenwart in allen seinen Verzweigungen" hätte sie insbesondere „einen tiefen Einblick in die menschliche Seele überhaupt" zu vermitteln, um über die Konstitutionsbedingungen der modernen religiös-kulturellen
3 7 5 G. Krause, Art. „Achelis, Ernst Christian"; in: TRE Bd. 1, Berlin/New York 1977, S. 401. Auch Achelis selber konnte sich in dem Vorwurf historistischer Vereinseitigung durchaus nicht wiederfinden: „Mir ist freilich keine Praktische Theologie bekannt, die den 'Historizismus' im angegebenen Maße kultivierte." E. Chr. Achelis, Rez. „Paul Drews, Das Problem der praktischen Theologie"; in: MPTh 7 (1910/11), S. 115; vgl. ders., Lehrbuch der praktischen Theologie, Bd. 1, Leipzig 3 1911, S. VIII. 3 7 6 W. Steck, Konstitutionsprobleme der Praktischen Theologie, S. 150. 3 7 7 Ebd. 3 7 8 Vgl. H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, S. 113f.; G. Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft, S. 18f., 43ff. Dazu - in Auseinandersetzung mit einer konfessionalistischen Berufungspolitik der Behörden - E. Troeltsch, Voraussetzungslose Wissenschaft [1897]; in: ders., GS II, bes. S. 187-189; außerdem H. Delbrück, Rez. „A. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christenthums in den ersten drei Jahrhunderten"; in: PrJ 110 (1902), bes. S. 521f.; O. Baumgarten, Die Voraussetqungslosigkeit der protestantischen Theologie, Kiel 1903. Polemisch schon E. v. Hartmann, Moderne Probleme, Leipzig 1886, S. 137: „So gelangt schliesslich jeder Dreck und Quark dazu, den gleichen Werth wie die höchsten Blüthen des Geisteslebens vor dem Forum der Wissenschaft zu beanspruchen, weil er ebensogut Gegenstand der Erfahrung wie diese ist."
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„Wirklichkeit" orientieren zu können. 379 Doch in Anbetracht der Defizite im herrschenden Vorlesungsbetrieb fand W. Bornemanns Diktum von der „unpraktischen praktischen Theologie" 380 als kritische Problemanzeige weithin große Zustimmung: Provozierend konnte etwa Martin Rade (1857-1940) sich brüsten, auch ohne Studium der akademischen Praktischen Theologie ein guter Pfarrer geworden zu sein, während Otto Baumgarten pointiert von der „praktischen Erfolglosigkeit" dieser „so hoch entwickelten Universitätsdisziplin" sprach, welche es nicht zu verhüten vermocht habe, „daß die große Mehrzahl der Geistlichen mit einem Salto mortale aus der wissenschaftlichen Theorie in die traditionelle Praxis stürze". 381 Die von ihm propagierte forschungspraktische Wendung zielte deshalb - in Anlehnung an englische Vorbilder - auf ein stärker empirisch und pragmatisch ausgerichtetes Theologiestudium im Geiste eines „christlichen Realismus": 382 „Wir sind nun, nach dem gewaltigen Fiasko des grössten, des Hegeischen Systems, im Zeitalter des Realpolitikers Bismarck, auf allen Gebieten der Wissenschaft auf der Hut vor dem Trug der Idee. Aber besonders auf dem Gebiet menschlicher Bildung ist Konsequenz, System verfehlt. Unser wissenschaftlicher Betrieb ist viel mehr induktiv, empirisch geworden." 383 Baumgartens Programm einer induktiven praktischen Theologe findet sich in nuce schon in seinen Lizentiatenthesen aus dem Jahre 1888 - diese Thesen wollen Ernst machen mit der Einsicht, daß die aufgesprengte gesellschaftliche Wirklichkeit sich nicht mehr dem begrifflich-deduktiven Zugriff historisch-systematischer Ordnungsschemata fugen will: „18. Gleichgültigkeit gegen das Einteilungsschema der praktischen Theologie ist nicht eins mit Methodelosigkeit. 3 7 9 H. Bassermann, Die praktische Theologie als eine selbständige, wissenschaftliche theologische Disziplin, S. 22. 380 Vgl. W. Bornemann, Die Un^ugänglichküt des theologischen Studiums der Gegenwart, S. 85. 3 8 1 M. Rade, Zur Frage nach dem richtigen Betriebe der praktischen Theologie; in: ZprTh 17 (1895), S. 351; O. Baumgarten, Art. „Praktische Theologie"; in: RGG1 Bd. IV, Sp. 1723. 382 YGJ Q Baumgarten, Die Bedeutung des englischen Einflusses für die deutsche praktische Theologie; in: ZprTh 15 (1893), S. 242, 244f.; ders., Englische Predigtweise; in: EvFr 8 (1908), S. 522-525; ders., Art. „Engländerei im kirchlichen Leben"; in: RGG1 Bd. II, Sp. 337-339; außerdem C. Clemen, Vorbildliche Seiten am kirchlichen Leben Englands; in: EvFr 7 (1907), S. 238-249, 294-300, 333-344. 3 8 3 O. Baumgarten, Ueber die Bedeutung des wissenschafdichen Betriebs der pädagogischen Kunst; in: ZprTh 21 (1899), S. 158; vgl. ders., Bismarcks Stellung Religion und Kirche, Tübingen u. a. 1900; ders., Bismarck; in: B. Beß (ed.), Unsere reägiösen Erzieher Bd. II, Leipzig 1908, S. 226-253, sowie ders., Art. „Bismarck"; in: RGG 1 Bd. I, Sp. 1264-1268 u. a. m. Dazu H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, S. llOf.
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19. Die neuen Aufgaben des kirchlichen Lebens fordern, da sie nicht ohne Verkümmerung in das vor ihrem Acutwerden deduzierte Schema eingefügt werden können, gebieterisch eine andere, nämlich descriptive Behandlung der praktischen Theologie als der Theorie der gegenwärtigen Aufgaben des Amtes."384 Doch räumt Baumgarten zugleich selbstkritisch ein: „Freilich ist dieser Betrieb der p.[raktischen] Th.[eologie] unendlich viel anspruchsvoller an die Beobachtungs- und Erlebnis kraft und an die Weitherzigkeit der Mitarbeiter, die einer spezifisch idiotistisch-relativistischen Arbeitsweise sich befleißigen müssen, als der bisherige nomothetisch-dogmatisch-normative Betrieb, der nur Festigkeit in den Prinzipien und Konsequenz in ihrer Anwendung, daneben Kenntnis der Hauptzüge der Entwicklung besitzen muß." 385 Oskar Pfister, der eine eigene kleine Umfrage zur Reform unserer Ausbildung %um Pfarrer in der Schweiz veranstaltet hatte, faßte als deren Ergebnis die hauptsächlichen Kritikpunkte in fünf Sätzen zusammen: „Unser Studium ist 1) zu sachlich, zu wenig auf die religiös-lebendige Persönlichkeit gerichtet; 2) zu sehr historisch-antiquarisch, zu wenig den Gegenwartsproblemen zugewandt; 3) zu sehr abstrakt, zu wenig in Fühlung mit der Wirklichkeit; 4) zu unselbständig, zu wenig die Freude an der eigenen wissenschaftlichen Betätigung herausbildend; 5) zu kausal, zu wenig teleologisch-normativ abgezweckt." 386 Das einseitig historisch und deduktiv ausgerichtete Theologiestudium sollte durch einen entsprechenden empirischen und praxisbezogenen Unterbau wirklich be.mkqualifi^ierend werden — dahin geht die große Tendenz der mit Bornemann's Schrift einsetzenden Reformdebatte. 387 Die Studieninhalte sollten weniger durch die Eigendynamik der verschiedenen Forschungstraditionen als vielmehr durch den positiven Bezug auf die kirchlichen Handlungsfelder bestimmt sein, um die beiden „gegebenen Größen, das Christentum und die empirische Wirklichkeit", wechselseitig in ein produktives Verhältnis zu setzen und „an die Seele der Leu-
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O. Baumgarten, Herder's Anlage und Bildungsgang %um Prediger, Halle 1888, S.
103f. O. Baumgarten, Art. „Praktische Theologie", Sp. 1725. O. Pfister, Die Reform unserer Ausbildung zum Pfarrer; in: SThZ 24 (1907), S. 37 (im Original hervorgehoben). Kritisch dazu K. G. Götz, Zur Reform der Ausbildung zum Pfarramt; in: a. a. O. 26 (1909), S. 97-111. 3 8 7 Dazu instruktiv G. Rietschel, Der Betrieb der praktischen Theologie auf der Universität; in: Festschrift %um 50jährigen Stiftungsfest des Studentenvereins Erlangen, Erlangen 1910, S. 189-234. Außerdem U. Stenglein-Hektor, Religionsforschung als Wirklichkeitsgewinn; in: F. W. Graf/H. M. Müller (eds.), Der deutsche Protestantismus um 1900, bes. S. 31 ff. 385
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te" heranzukommen.388 Unter dem Leitbild der medizinischen Tätigkeit wird deshalb im Reformentwurf des Brandenburgischen Pfarrers Gustav Mix (1876-1943) die alte Rede von der „Hilfswissenschaft" 389 kritisch gewendet und mit neuer Tendenz gefüllt: „Im Mittelpunkt des ganzen theologischen Studiums stehen immer noch philologische und historische Arbeiten, die gewiß nicht unwichtig sind, aber im Gesamtbereich der Theologie doch nur die Stellung von Hilfswissenschaften beanspruchen können. Was dagegen die Hauptsache sein sollte: Genaue Kenntnis des menschlichen Wesens und unseres Volkslebens mit seinen mannigfaltigen Krankheitserscheinungen auf religiös-sittlichem Gebiete, medizinisch ausgedrückt: Anatomische Pathologie und Krankheitskunde, richtige Anamnese, Diagnose und Prognose, um die im Evangelium dargebotene Arznei in richtiger Mischimg und dem Zustand des Kranken angemessen anwenden zu können - das alles hat zurzeit im Bereich des theologischen Studiums keinen Raum, oder erhält doch nur ein kümmerliches Plätzchen angewiesen im Winkel gleich neben der Tür."390 Gewissermaßen ihren Höhepunkt und Abschluß erreichte die Reformdiskussion mit dem 1910 von Paul Drews (1858-1912) veröffentlichten und viel rezipierten Beitrag Das Problem der Praktischen Theologie.391 Drews, der zunächst durch reformationshistorische Arbeiten hervorgetreten war, bevor er 1894 eine Professur für Praktische Theologie in Jena übernahm, hat in dieser Programmschrift %ur Reform des theologischen Studiums die Defizite der Praktischen Theologie in einem historischen Durchgang bündig zu388
G. Mix, Zur Reform des theologischen Studiums. Bin Alamrtf,
München 1908, S.
15. 3 8 9 G. Diegel, Die hohe Bedeutung der Seelenkunde für den Geistlichen; in: F. Schwabe (ed.), Denkschrift des evangelischen Prediger-Seminars Friedberg für die Jahre 1865-1868, Friedberg 1868, S. 201; vgl. dazu den „Exkurs" bei M. Plieth, Wahrnehmung der Seele. Zur Geistesgeschichte des Verhältnisses %•wischen Seelsorge und Psychologie (APTh 28), Göttingen 1994, S. 55-57, der in seinen historischen Bezügen jedoch ergänzungsbedürftig ist. 3 9 0 G. Mix, Zur Reform des theologischen Studiums, S. 25. Kritisch dazu M. Schian, Zur Reform des theologischen Studiums; in: PrKZ 5 (1909), Sp. 98: „Hilfswissenschaften? Die gesamte Bibelwissenschaft? [...] Ja, wenn es sich nur darum handelte, dem angehenden Pfarrer die nötigste Kenntnis von Bibel und Christentumsgeschichte zu vermitteln! Aber er soll in die Lage versetzt werden, sich selber ein Urteil, eine eigene persönliche Stellung zu erringen." 39 * P. Drews, Das Problem der Praktischen Theologie, Tübingen 1910. Zu Drews vgl. G. Krause; in: TRE Bd. 9, Berlin/New York 1982, S. 188-190; W. Rudolph, Paul Drews — der „Vater der evangelischen Kirchenkunde und religiösen Volkskunde", theol. Diss. Leipzig 1967, bes. S. 6-22. Außerdem K. Eger, Paul Drews' theologische Arbeit; in: ThStKr 90 (1917), S. 1-30; Chr. Grethlein, „Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen ..."; in: U. Schnelle (ed.), Reformation und Neuheit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin/New York 1994, S. 377-397.
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sammengestellt und ihre „Fehlentwicklung" - im Sinne einseitiger Verabsolutierung - an Hand folgender vier Stichworte gegliedert: Streben nach Systematisierung, begriffliche Deduktionsmethode, einseitiger Biblizismus, verkehrter Historizismus. Er bündelt und pointiert mit seiner Kritik Bestrebungen nach Empirisierung und Gegenwartsorientierung in der Praktischen Theologie, wie sie seit W. Bornemann bereits vielfach verfolgt worden waren, und verleiht ihrer sachlichen Berechtigung noch einmal einen programmatischen Ausdruck. Dabei legt er jedoch ausdrücklichen Wert darauf, daß die Wissenschafdichkeit des akademischen Studiums nicht durch die andrängenden Praxisprobleme überformt werde, weshalb er zur notwendigen konzeptionellen Korrektur in der theologischen Ausbildung auf den 'Doppelcharakter' der Praktischen Theologie — an der Universität und, davon zu unterscheiden, im Predigerseminar abhebt. Die universitären Disziplinen der Praktischen Theologie sollten von unnötigen Wissensstoff sowie von verfrühten, letztlich dys funktionalen Praxisübungen entlastet werden, um sich verstärkt den psychologischen und sozialen Grundlagen von Religiosität und Kirchlichkeit - gleichsam im Sinne einer praktisch-theologischen „Geländekunde" 392 — widmen zu können. Für die Erreichung dieses Zieles wäre der Kanon der praktisch-theologischen Fächer um neue Forschungsgegenstände zu erweitern, wobei Drews zufolge insbesondere der religiösen Volkskunde sowie der Religionspsychologie ein hohes Maß an theoretischer Erschließungskraft zuzumessen sein würde. Die „religiöse Volkskunde" hatte dabei namhafte Vorläufer in dem mehrbändigen, überaus erfolgreichen modernitätskritischen Projekt einer Naturgeschichte des Volkes ab Grundlage einer deutschen Social-Politik von Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897) sowie in den umfangreichen sozialstatistischen Untersuchungen des Dorpater Systematischen Theologen Alexander von (Dettingen (1827-1905).393 Ersterer, langjähriger Professor für Staatswirtschaftslehre an der Universität München, an welcher er zugleich auch Kulturgeschichte lehrte, zeichnete sich durch einen eher novellistischen Zug sowie die Tendenz zu feinsinnig-humorvoller „Kleinmalerei"394 in der Volkskunde aus, letzterer dagegen hatte mit seinem
M. Peters, Zur Reform der praktischen Theologie; in: NKZ 22 (1911), S. 251. Vgl. Deutschbaltisches Biographisches Lexikon 1710-1960, Köln/Wien 1970, S. 555f., sowie den Nachruf in: AELKZ 38 (1905), Sp. 845. Dazu die Würdigung durch Oeningens Schüler R. Seeberg, Alexander von (Dettingen, ein baltischer Theologe; in: ders., Aus Religion und Geschichte Bd. 2, Leipzig 1909, S. 34-58. Ein Druckfehler dieser Schrift — vgl. S. 34 mit dem Inhaltsverzeichnis des Bandes — scheint auch das unrichtige Todesjahr „1906" in den RGG-Artikeln von W. Gruehn und E. Schott sowie im Register des EKL? zu erklären. 3 9 4 Vgl. O. Baumgarten, Art. „Riehl, Wilhelm Heinrich"; in: RGG 1 Bd. IV, Sp. 2319; K. Fuchs; in: BBKL Bd. 8, Herzberg 1994, Sp. 315-317. Dazu P. Steinbach, 392 393
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Projekt Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage die christliche Sittenlehre kritisch in der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit verankern wollen und sie als dezidierte Socialethik sowohl einer deterministischen Sozia]\physik als auch einer unsoziologischen, abstrakt-normativen PersonalttbÄk gegenüberstellt: Vielmehr sollte ein nüchterner „inductiver Nachweis der Gesetzmässigkeit sittlicher Lebensbewegung im Organismus der Menschheit" bei (Dettingen die Grundlage bilden für die „deductive Entwickelung der Gesetze chrisdichen Heilslebens im Organismus der Menschheit". Trotz seines kritischen Einspruchs hinsichdich der vermeintlich zu weit in den Hintergrund gerückten individuellen Verantwortlichkeit hat Christian Palmer in seiner Rezension der Moralstatistik dieses Projekt denn auch als heilsames „Gegenmittel gegen allerlei idealistische Träumerei" gerühmt.395 Zugleich stellte Oettingen die Aufgaben der praktisch-theologischen Reflexion christlicher Frömmigkeitspraxis neu in ihren enzyklopädischen Zusammenhang: „Die Heilsgesinnung als Princip des Lebens und Handelns innerhalb] der neuen Menschheit wird die Ethik; die Consequen^en dieses Princips in der zeitgeschichdichen Ausgestaltung chrisdich-kirchlichen Gemeindelebens (in Verfassung und Cultus, Amtsführung und Seelsorge, Predigt und Katechese) wird die practische Theologie darzulegen haben [...]."396 Wenngleich Oettingen auf diese Weise bereits moderne Sozialforschung und theologische Reflexion systematisch miteinander zu verbinden suchte, so blieben doch in den folgenden Jahren zunächst Arbeiten aus dem Umfeld der „Volkskunde" im Geiste W. H. Riehls für das Gebiet der Praktischen Theologie von größerer Bedeutung - ihre Ergebnisse wurden vielfach auch explizit in handlungsorientierende Konzeptionen pfarramdicher Arbeit umgesetzt.397 In ihrer TenEinleitung; in: W. H. Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft (1851/ 9 1897), Frankfurt/M. u. a. 1976, S. 7-52 (Lit.). 3 9 5 Chr. Palmer, Rez. „A. v. Oettingen, Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre"; in: JDTh 15 (1870), S. 395. Dazu G. Linnenbrink, Die Socialethik Alexander von Oeffingens, Diss. Münster 1961; A. Pawlas, Statistik und Ethik, Frankfurt/M. u. a. 1991. 3 9 6 A. v. Oettingen, Die christliche Sittenlehre, Erlangen 1873, S. 280. 3 9 7 Vgl. H. Gebhardt (zunächst anonym), Zur bäuerüchen Glaubens- und Sittenlehre. Von einem thüringischen Landpfarrer (1885), Gotha 3 1895; P. Gerade, Meine Erlebnisse und Beobachtungen als Doifpastor (1883-1893), Magdeburg 1895; H. v. Lüpke, Die Arbeit des Pfarrers für die Wohlfahrt des Landvolks, Berlin 1900; Anonym, Unser Landvolk und die Kirche; in: Die Grenzten 59/1 (1900), S. 465-474, 530-540; A. l'Houet (Pseudonym für Wilhelm Borée), Zur Psychologie des Bauerntums, Tübingen 1905; dazu kritisch P. Drews, in: MKP 6 (1906), S. 20-30, 69-74 (zu Borée vgl. An die Freunde Nr. 30 [1909], Sp. 308); K. Hesselbacher, Die Seelsorge auf dem Dorfe, Göttingen 1908; A. Eckert, Probleme und Aufgaben des ländlichen Pfarramtes, Berlin 1910; G. Mix, Der Pfarrer als Volkservjeher. Einige Kapitel aus der Praxis des handpfarrers, Dresden 1914. 118
denz zielten solche Untersuchungen auf eine Typisierung der berufsständischen und regionalen Prägungen im ländlichen Raum, wobei es vor allem Studien zur „bäuerlichen Lebenswelt" - zuweilen durchaus verbunden mit der sozialkonservativen Intention ländlicher Heimatpflege - waren, die auf ihre Weise der Dynamik einer differenzierten und in sich widersprüchlichen gesellschaftlichen Wirklichkeit entgegentreten wollten. Diesem Ziel diente auch die ab Oktober 1907 erscheinende, von dem Pfarrer Hans von Lüpke (1866-1934) herausgegebene Zeitschrift Die Dorfkirche - Monatsschrift %ur Pflege des religiösen Lebens in heimatlicher und volkstümlicher Gestalt aufschlußreich darin besonders ein unter dem Eindruck der Bevölkerungsmobilisierung geschriebener Artikel von Heinrich Sohnrey (1859-1948) mit dem Titel „Die Dorfkirche in der - Großstadt", da hier die Umwälzungen und tektonischen Verschiebungen im Gefolge der modernen Migrationsprozesse in lebensweltlicher Perspektive beschrieben werden.398 Denn im Zuge der industriellen Entwicklung hatten die gewachsenen Siedlungsstrukturen oftmals gewaltige Veränderungen erfahren - jahrhundertealte Dörfer konnten plötzlich zu bevölkerungsstarken Ausläufern großstädtischer „Agglomerationen" werden, während sich umgekehrt in den traditionellen Stadtzentren bereits die deutliche Tendenz zu moderner „Citybildung" abzeichnete: eine kommerzielle Verdichtung bei gleichzeitiger Abwanderung der angestammten Wohnbevölkerung.399 So gewannen infolge ihrer zunehmenden gesellschaftspolitischen Bedeutung ab etwa 1890 auch literarische Erfahrungsberichte sowie sozialkundliche Studien aus dem Bereich der großstädtischen bzw. industriellen Arbeitswelt einen deutlichen Einfluß auf die Entwicklung der religiösen Volkskunde, insbesondere wenn es darum ging, die modernen Dissoziationserfahrungen am Ort ihrer Entstehung deskriptiv einzuholen und einer praktisch-theologischen Reflexion zuzuführen.400 Daneben traten schließlich auch Untersuchungen des ange-
398 Die Dorfkirche 1 (1908), S. 26-29. Dazu vgl. J. Böhmer, Dorjpfamr und Doifpredigt, Gießen 1909; E. Fenner, Art. „Dorfkirchenbewegung"; in: TRE Bd. 9, Berlin/New York 1982, S. 147-150; H. Kröger, Art. „Sohnrey, Heinrich"; in: BBKL Bd. 10, Herzberg 1995, Sp. 745-749. 3 9 9 Vgl. S. Schott, Die Citybildung in den deutschen Großstädten seit 1871; in: Statistisches Jahrbuch deutscher Städte 14 (1907), S. 21—46; ders., Die großstädtischen Agglomerationen des Deutschen Reichs 1871-1910, Breslau 1910, S. 13ff., 59ff. 4 0 0 Vgl. E. Baumann, Der Berliner Volkscharakter in der Seelsorge, Berlin 1880; P. Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Stuäe, Leipzig 1891; E. Gnauck, Erinnerungen einer freiwilligen Arbeiterin; in: Die Hilfe 1 (1895), H. 6, S. 3f., H. 7, S. 2-4; W. F. Classen, Großstadtheimat, bes. die Abschnitte „Zur Naturgeschichte des Großstadtvolks" (S. 131-162) und „Weltanschauung und Großstadt" (S. 163-224); H. Gallwitz, Zur Psychologie der Landgemeinden mit industrieller Arbeiterbevölkerung; in: EvSo% 19 (1910), S. 145-156, 239-249; F. Behrens,
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stammten kleinstädtischen Milieus, dem regional noch immer eine große Bedeutung zukam.401 Der Notwendigkeit einer solchen fundierten empirischen Orientierung für kirchliches Handeln hatte frühzeitig Martin Rade Nachdruck verliehen, wenn er bereits 1891 zur Mitarbeit an der Erstellung eines Sammelwerkes warb, welches bei einem Umfang von etwa 30 Heften eine möglichst präzise Orientierung über die Gesamtheit der deutschen Landesund Provinzialkirchen bieten sollte: Gerade im zeitgenössischen „Übergangsstadium" müsse in „schonungsloser Wahrhaftigkeit" eine Bestandsaufnahme der kirchlichen Wirklichkeit vorgenommen werden, welche den neuen Herausforderungen in der praktischen Arbeit durch „statistische Feststellungen" sowie anhand von „Einzelbildern" bzw. sachlichen „Längs- und Querschnitten" zweckdienlich zur Hilfe käme. 402 Nachdem Paul Drews neun Jahre darauf die Monatsschrift fiir die kirchliche Praxis programmatisch mit der Akzentuierung der religiösen Volkskunde als Aufgabe der Praktischen Theologie eröffnet und zur engagierten Mitarbeit an diesem neuen Forschungsgegenstand aufgerufen hatte, begann er die Überlegungen Rades, die im übrigen schon die Intentionen der Schleiermacherschen „kirchlichen Statistik" sowie der „Kirchenkunde" im Sinne von Claus Harms aufnahmen, in einem breit angelegten Projekt der Evangelischen Kirchenkunde zu realisieren. Als Beitrag zur religiösen Volkskunde sollten hier Geschichte und Gegenwart der deutschen evangelischen Landeskirchen monographisch dargestellt werden, um anhand solcher Übersichten eine fundierte Einfuhrung in die regionalen kirchlichen und sozialkulturellen Strukturen zu ermöglichen.403 Dabei war dieser Ansatz einer auf Praxisorientierung ausgerichteten „Gegenwartsgeschichte"404 zugleich zu verstehen als der gleichsam letzte Schritt einer konsequent durchgeführten religionsgeschichdichen Methode: Die histoDie religiöse Gedankenwelt der Arbeiter; in: Die Innere Mission 6 (1911), S. 245-258, 286-297, 334-341. 4 0 1 Vgl. hierzu exemplarisch die „15 Sonntagspredigten" von G. Füllkrug, Jesus in der Kleinstadt, Schwerin 1912, sowie ders., Seelsorge in der Kleinstadt; in: P. Blau (ed.), Praktische Theologie in Einzelbildern aus ihrer Arbeit, Hamburg 1912, S. 142-153. 4 0 2 M. Rade, Unsre Landgemeinden und das Gemeindeideal, Leipzig 1891 (Evangelischsoziale Zeitfragen II/1), S. 31f., 59f. 4 0 3 Vgl. P. Drews, „Religiöse Volkskunde", eine Aufgabe der praktischen Theologie; in: MKP 1 (1901), S. 4 ; ders., Art. „Volkskunde, religiöse"; in: RGG 1 Bd. V, Sp. 1746-1754. Da2u J. Witte, Art. „Statistik, kirchliche"; in: a. a. O., Sp. 893-897; M. Schian, Art. „Kirchenkunde"; in: RE 3 Bd. 23, S. 756-763 (Lit.); V. Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbeängungen der Praktischen Theologie Bd. 1, S. 349ff.; J. Schilling, Paul Drews und seine Konzeption einer Kirchenkunde. Eine Vorstellung; in: J. Mehlhausen (ed.), Pluraäsmus und Identität, Gütersloh 1995, S. 413-425. 4 0 4 M. Schian, Art. „Kirchenkunde", S. 761; vgl. G. Rau, Art. „Kirchenkunde"; in: TRE Bd. 18, Berlin/New York 1989, S. 599-602. 120
rische Aufarbeitung der Frömmigkeitspraxis wird hier fortgeschrieben bis hin zur empirischen Erhebung der kirchlich-religiösen Wirklichkeit in der Gegenwart. Ganz im Sinne der paradigmatischen Neuorientierung an der Realität urteilt deshalb Erich Foerster in seiner Würdigung des Drew'schen Projektes: „Er stellt sich fest und entschlossen auf den Boden der Empirie, er fängt nicht, wie der Dogmatiker, im Himmel an, um von dort die Dinge auf Erden zu konstruieren, wie sie sein sollten, auch nicht wie der Historiker am Anfang, um die Entwicklung und das Wachstum zu begleiten, sondern wie der Naturforscher am Ende, bei der Sache selbst. [...] Er hat der Beschäftigung mit den Kirchen dadurch Etwas von dem Reiz und dem Interesse verliehen, das jede Beobachtung des Wirklichen vor der theoretischen Synthese und das Leben vor dem Vergangenen voraus hat." 405 Insgesamt erschienen in dieser Sammlung sieben Bände: Königreich Sachsen von P. Drews (1902), Provinz Schlesien von M. Schian (1903), Grossher^ogtum Baden von A. Ludwig (1907), Bayern von H. Beck (1909), Thüringen von P. Glaue (1910), sowie nach dem Tod von P. Drews (1912) Niedersachsen von E. Rolffs (1917) und Württemberg von P. Wurster (1919), die jedoch beide noch auf Vorkriegsmaterial basieren. Dabei sollte ein jeweils paralleler Aufbau der Bände die inhaltliche Vergleichbarkeit des gesammelten Materials sicherstellen. Zur Datenerhebung wurden, ganz in Sinne der von Drews vorgeschlagenen empirischen Untersuchungsmethode, jeweils auch Fragebögen an die Pfarrerschaft versendet; Paul Glaue berichtet dazu, daß es bei 751 versendeten Bögen einen Rücklauf von 355 Stück gegeben habe - ein Teil der Geistlichen hatte die Antwort verweigert, „weil die Sammlung der Kirchenkunde ein Unternehmen der 'liberalen Theologie' sei".406 Abgesehen davon, daß Glaue sich nicht als einen „liberalen", sondern als einen „modernen" Theologen verstand, war die Evangelische Kirchenkunde nicht als positionelles Unternehmen angelegt und hat auch im konfessionellen Lager Anerkennung gefunden. Der Drew'schen Sammlung traten rasch gleichgerichtete Arbeiten zur Seite;407 ab 1910 erschienen in der Reihe Studien %urpraktischen Theologie zudem Beiträge zur Kirchenkunde des evangelischen Auslands.
4 0 5 E. Foerster, Unsere Kirchen; in: ChW \ 7 (1903), Sp. 800f. So auch F. Niebergall, Rez. „Das kirchliche Leben der Ev.-lutherischen Landeskirche des Königreichs Sachsen"; in: MKP 2 (1902), S. 278: „In diesen durch das ganze Buch zerstreuten kritischen Bemerkungen steckt aber eine praktische Theologie in nuce. Und zwar eine praktische Theologie moderner Art, wie sie sich ergiebt aufgrund des modernen Verständnisses des Evangeliums und der Beachtung der ganzen modernen Entwicklung der Welt und des Lebens." P. Glaue, Das kirchliche Leben der evangeäschen Kirchen in Thüringen, S. VIII. 407 Vgl 2. B. J. Jüngst, Das evangelisch-kirchüche Leben der Rbeinprovin^ Halle 1902; G. Ecke, Die evangelischen Landeskirchen Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert. Blicke in
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Wie die religiöse Volkskunde Frömmigkeit und kirchliche Sitte in ihrem regionalen sowie sozialgeschichtlichen Kontext verorten wollte, ging es in der zeitlich parallel sich entwickelnden Religionspsychologie um die Erhebung der innerseelischen Bedingungen von Religiosität: ihr Interesse war „die Darstellung der verschiedenen religiösen Individualitäten in ihrer Entwicklung und bleibenden Ausprägung."408 Insofern ist der religionspsychologische Forschungsansatz als Versuch zu verstehen, die vordem nur religionsphilosophisch und religionsgeschichdich ausgerichtete Religionswissenschaft methodisch komplettieren. Die Wahrnehmung des Religiösen in seelischen Prozessen oder biographischen Wendungen wie der Konversion wird in dieser Forschungsperspektive zur Aufgabe einer empirieorientierten Religionswissenschaft, die sich praxisrelevant und erfahrungsnah der Wirklichkeit von Religion stellen will. Bahnbrechend waren hier die Forschungen von US-Amerikanern wie G. Stanley Hall, James H. Leuba, Edwin D. Starbuck sowie William James (1842-1910), von dessen berühmten Edinburger Gifford-Vorlesungen (1901/02) The Varieties ofReügious Experience 409 Georg Wobbermin 1907 eine erste, wirkungsgeschichtlich bedeutsame Ubersetzung ins Deutsche vorlegte.410 Insgesamt wurde gleichwohl die systematisch-theologische Erschliessungskraft der Religionspsychologie ebenso kontrovers veranschlagt wie der Erweis ihrer Produktivität am konkreten Material; vor allem in ihrer eigentlich theologischen Valenz blieb sie durchaus umstritten. Vor dem Hintergrund der skizzierten praxis- und empirieorientierten Reformbestrebungen schien ihr Ertrag für praktisch-theologische Handlungsfelder zunächst am wenigsten problematisch: Als „angewandte Religionspsychologie" fand sie zumindest programmatisch vielfachen Eingang in konkrete Praxiszusammenhänge, vor allem im Bereich von Bildungsarbeit
ihr inneres Leben, Berlin 1904; M. Wilde, Kirchäches und christliches heben in unseren Gemeinden, Greifswald 1904. 4 0 8 P. Drews, Dogmatik oder religiöse Psychologie, S. 146; vgl. V. Drehsen, Protestantische Religion und praktische Rationalität, S. 220 (A. 19). 4 0 9 London 1902. Dazu vgl. die Rez. von E. Troeltsch; in: DLZ 25 (1904), Sp. 3021-3027, der den Tatsachenreichtum und Wirklichkeitssinn des Werkes lobt, psychologisch aber „vor allem die Unterschätzung des Gedankens, des Willens und des Sittlichen in der Religion sowie die Vernachlässigung der Psychologie der Gemeinschaftsreligion" kritisch anmerkt (Sp. 3027). Außerdem K.-J. Bruder, William James: Das Ich - der gegenwärtige Augenblick im Strom des Bewußtseins; in: M. Pfister (ed.), Die Modernisierung des Ich, S. 74-83. 4 1 0 W. James, Die reügiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Materialien und Stuäen %u einer Psychologie und Pathologie des reägiösen Lebens, Leipzig 1907 ^1914 u. ö.). Die erste vollständige Ubersetzung besorgte E. Herms unter dem Titel Die Vielfalt reügiäser Erfahrung, Olten/Freiburg i. B. 1979. 122
und Apologetik,411 wie ja auch P. Drews ihr einen festen Platz in der akademischen Fächerstruktur zukommen lassen wollte. Doch in Ermangelung eines ausweisbaren methodischen Interpretationshorizontes, der Religiosität auch in ihren privatisierten bzw. unbewußten Wendungen psychologisch zu erschließen vermochte, blieb diese frühe Religionspsychologie in der Praktischen Theologie letztlich ohne durchschlagenden Erfolg. Mit sicherem Gespür für die Komplexität des mit der „religiösen Psychologie" aufgegebenen Forschungsgebietes äußerte sich deshalb O. Baumgarten, nachdem er im Wintersemester 1909/10 selber eine erste Vorlesung über diesen Gegenstand abgehalten hatte, betont skeptisch über die Aufnahme des Faches Religionspsychologie in den Kanon der praktisch-theologischen Disziplinen: Die Arbeit auf diesem Gebiet erfordere feinste „Fühlfäden" und freie Orientierung auf den innerlichsten Gebieten des persönlichen wie des Kulturlebens, darüber hinaus „so spezifische Gaben der Beobachtung und Darstellung [...], wie sie sonst nur der Novellist und Skizzenschreiber zu besitzen pflegt", daß ihre obligatorische Behandlung im Curriculum des allgemeinen Universitätsbetriebes Baumgarten grundsätzlich ausgeschlossen schien.412 Auch wenn eine differenzierte Aufarbeitung der religionspsychologischen Forschungen aus der Zeit um die Jahrhundertwende noch immer aussteht, so ist doch gleichwohl aus heutiger Perspektive festzustellen, daß die meisten dieser frühen Ansätze zu sehr in den methodischen und erkenntnistheoretischen Problemstellungen ihrer Zeit verhaftet geblieben sind, als daß sie bleibende Bedeutung hätten erreichen können. Die Wendung zur Empirie, zu Erfahrung und Psychologie spiegelte zunächst den Einspruch gegen eine „bloß historische" Erfassung der Gegenstandswelt; doch solche Ausrichtung auf Empirie- und Praxisreflexion sollte sich mit der fortschreitenden Formation und Ausdifferenzierung der Humanwissenschaften in der Zwischenkriegszeit methodisch noch einmal nachhaltig verfeinern. Für die Seelsorge sowie für weite Teile der Religionspsychologie war dabei die zunehmende Etablierung von Psychoanalyse und Psychotherapie von besonderer Bedeutung, welche mit ihren Ein4 1 1 Siehe z. B. F. Niebergall, Die Bedeutung der Religionspsychologie für die Praxis in Kirche und Schule; in: ZThK 19 (1909), S. 4 1 1 ^ 7 4 ; ders., Ein Beitrag zur Jugendpsychologie; in: EvFr 13 (1913), S. 111-124; E. Pfennigsdorf, Der reügiöse Wille. Ein Beitrag Psychologie und Praxis der Religion, Leipzig 1910; ders., Warum Religionspsychologie?; in: GKG 47 (1911), S. 345-349; ders., Der praktische Wert der Religionspsychologie; in: AELKZ 44 (1911), Sp. 879-882 (dazu: Sp. 762f.); ders., Retigonspsjchologie und Apologetik, Leipzig 1912; R. Wielandt, Die Mitarbeit des praktischen Theologen an der Religionspsychologie; in: Archiv für Religionspsjchologie 1 (1914), S. 195-201. 4 1 2 O. Baumgarten, Paul Drews' „Problem der praktischen Theologie"; in: EvFr 10 (1910), S. 187; vgl. S. 186.
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sichten zur Theorie des Unbewußten sowie zum Verstehen des Fremdpsychischen rationalistische und ethisch-moralische Verkürzungen von Religion und Frömmigkeit überwinden halfen. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn die frühe, vielfach vor allem kognitiv und experimentell ausgerichtete Religionspsychologie gerade auf die Seelsorgetheorie keinen nennenswerten Einfluß genommen hat: dies geschah vielmehr erst „nach Freud", d. h. mit der allmählichen Rezeption tiefenpsychologischer Interpretationskategorien in der Seelsorgepraxis, was jedoch zugleich ein hohes Maß an weltanschaulichen Konfliktpotentialen in sich bergen sollte. Exemplarische Bedeutung in der frühen Diskussion um den Wert der psychoanalytischen Behandlungsmethode für die Seelsorge kam dabei dem sogenannten „Foerster-Pfister-Streit" zu. 413 In dieser literarischen Kontroverse, die sich an den von dem Schweizer Pfarrer und Freud-Schüler Oskar Pfister (1873-1956) — von ihm stammt immerhin das erste Lehrbuch der Psychoanalyse 414 - vorgetragenen „Fall Dietrich" anschloß, polemisierte der Moralpädagoge Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966) gegen die sexualisierende, der etablierten Psychiatrie vielfach willkürlich erscheinende „Deutungsphantastik" der psychoanalytischen Autoren, welche mit ihren Theorien nur dem Verfall sittlicher Freiheit und Verantwortlichkeit Vorschub zu leisten schienen, während umgekehrt Pfister F. W. Foerster der latenten Autoritätsfixierung sowie eines unreflektierten katholisierenden Herrschaftsinteresses verdächtigte. Nüchterner stellte dagegen Adolf Keller (1872-1962), ein Zürcher Pfarrer und Freund Oskar Pfisters, in dem einschlägigen RGG-Artikel zur Verwandtschaft von Psychoanalyse und Seelsorge fest: „Die Seelsorge hat praktisch und theoretisch von alters her vieles besessen und geübt, das sich mit Erkenntnissen der P.[sychoanalyse] berührt. Dazu gehört die Einsicht in die seelische Verursachung manches Leidens, die starke Beachtung des Gefühls- und Trieblebens, die therapeutische Bedeutung der Beichte, die Forderung voller Wahrhaftigkeit als Bedingung der Heilung, die Wertung des Vertrauens, die Forderung der Ueberwindung des Niedern durch ein Höheres, die mit der Sublimierung verwandt ist [...]. Die P.[sychoanalyse] erweist sich vom Standpunkt dieser Ver-
O. Pfister, Ein Fall von psychanalytischer Seelsorge und Seelenheilung; in: EvFr 9 (1909), S. 108-114, 139-149, 175-189; F. W. Foerster, Psychoanalyse und Seelsorge; in: a. a. O., S. 335-346, 374—388; O. Pfister, Die Psychanalyse als wissenschaftliches Prinzip und seelsorgerliche Methode; in: a. a. O., 10 (1910), S. 66-73, 102-113,137-146,190-200; F. W. Foerster, Nochmals Psychoanalyse und Seelsorge; in: a. a. O., S. 263-275; O. Pfister, F. W. Foerster - ein Psychanalytiker?, Bern 1918. Dazu vgl. R. Schmidt-Rost, Seelsorge 3wischen Amt und Beruf, S. 83—89; ders., Oskar Pfister. Der erste Pastoralpsychologe; in: Chr. Möller (ed.), Geschichte der Seelsorge in Ein^elporträts Bd. 3, S. 185-200; M. Plieth, Die Seele wahrnehmen, S. 31-48; E. Nase, Oskar Ilsters analytische Seelsorge, S. 208ff. 4 1 4 O. Pfister, Die psychanalytische Methode (Pädagogium Bd. I), Leipzig/Berlin 1913. 413
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gleichung aus als eine empirische Bestätigung mancher Erfahrungen einer individualisierenden Seelsorge."415 Gleichwohl blieb die Legitimität psychoanalytischer Seelenbehandlung insgesamt eher umstritten - trotz oder gerade wegen des spektakulären Charakters der jeweils vorgetragenen „Fälle". Die in ihrer Struktur als „Befreiungsarbeit am Menschen"416 liegende Affinität zwischen Seelsorge und Psychoanalyse wurde weithin nur zögerlich und unter Vorbehalten zugestanden und ist in nennenswerter Weise erst in der religionspsychologischen Forschung der Zwischenkriegszeit sowie in der ab 1970 auch in Deutschland neu einsetzenden „Seelsorgebewegung" realisiert worden.417 1.7. Zur Lehre von der Seelsorge Wo immer die traditionalen lebensweltlichen Formen durch industrielle bzw. großstädtische Dynamisierung aufgesprengt worden waren, standen die Plausibilitätsstrukturen einer konventionellen Pfarramtspraxis weithin zur Disposition. Denn mit den neuzeitlichen Ubergängen in eine moderne Welt hatten Predigt und Beichte als die ehedem „festen For men"418 gemeindlicher Erbauung ihren überkommenen sozialen Ort verloren und an ihrer Semantik des Selbstverständlichen deutlich eingebüßt, so daß das parochiale Gemeindeleben in seiner Substanz bedroht schien: „Die Noth der Zeit ist groß, vielleicht größer als je seit den Tagen der Reformation."419 Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn nunmehr die „specielle Seelsorge" in ihrer Gestalt als als freier, gleichsam außeramtlicher Form der Kommunikation des Evangeliums als besonders geeignet angesehen wurde, den Anschluß an die veränderte gemeindliche Wirklichkeit wiederherzustellen: „Gerade in unseren Tagen wendet sich der Seelsorge besonderes Interesse zu. Ist es eine betrübende Thatsache, daß das Hauptmittel des amtlichen Wirkens, die Predigt, nicht mehr die Gemeinde in ihrem ganzen Umfange erreicht, so liegt auf der Hand, daß die
4 1 5 A. Keller, Art. „Psychoanalyse"; in: RGG1 Bd. IV, Sp. 1972f. Zu A. Keller, 1948 ein Mitbegründer des ORK, vgl. U. Leu; in: BBKL Bd. 3, Sp. 1302-1305. 4 1 6 A. Keller, Art. „Psychoanalyse", Sp. 1973; vgl. ders., Art. „Psychotherapie"; in: a a O , Sp. 1985-1987. 4 1 7 Vgl. zur Übersicht E. Nase/J. Scharfenberg (eds.), Psychoanalyse und Religion (WdF Bd. 275), Darmstadt 1977. 4 1 8 A. Hardeland, Geschichte derspeaellen Seelsorge, S. 527. 4 1 9 A. Hardeland, Die Seelsorge im Sinne der lutherischen Kirche; in: AELKZ 31 (1898), Sp. 1194.
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Seelsotge nun, als einzig verbleibende Möglichkeit pastoraler Einwirkung auf die Gefährdeten, die höchste Wichtigkeit erhält."420 Die Näherbestimmung solcher spezifisch seelsorgertichen Verkündigungsdimension hatte ihren Ausgang jeweils bei der Besonderheit des Einzelnen und der Kontingenz seines je individuellen „Bedürfnisses" genommen. Für die Praktische Theologie insgesamt ist hierbei der soziale Prozeß einer zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung und Individualisierung bedeutsam geworden, in dessen Gefolge der Rezeption Schleiermachers langfristig eine weitreichende Integrationskraft zukommen sollte: Individualität und Sozialität werden so gegeneinander vermittelt, daß Gefühl und Innerlichkeit ihr Recht gegenüber einer zugreifenden Außenwirklichkeit behalten, ohne zu einem idealen Refugium der bürgerlich-christlichen „Persönlichkeit" überhöht zu werden. Jedes Individuum, so Schleiermacher, bedarf der „Geselligkeit", es verlangt nach „mittheilender Darstellung" und kommunikativer „Circulation"421 — insbesondere, wenn es um die Ausbildung der „religiösen Anlage" geht: im Reflex der Mannigfaltigkeit individueller „Anschauungen des Universums" wird der Einzelne seinerseits zu einem „Kompendium der Menschheit", das im lebendigen Austausch mit der Allgemeinheit steht.422 Aufgabe der Seelsorge ist es nun, diejenigen, die aus dem vielstimmigen Konzert mündiger Gemeindeglieder gleichsam herausgefallen sind, wieder zum Vollklang religiöser „Selbstthätigkeit" zu verhelfen und sie zur „Identität mit dem Ganzen" zurückzubringen:423 „Das Bestreben, den krankhaften Zustand einzelner, liege nun die Abweichung mehr im Theoretischen oder im Praktischen, wieder aufzuheben, ist die Seelsorge im engern Sinn." 424 Die gemeinschaftliche Erbauung im Gottesdienst als einem „darstellenden", nicht einem „wirksamen" Handeln— findet ihre notwendige Ergänzung in der seelsorgerlichen Begleitung und Förderung des Einzelnen, durch welche diesem wieder der Zugang zur Allgemeinheit eröffnet werden soll: „Der Cultus setzt gemeinsamen Glauben schon voraus und faßt, wenn er sich selbst begreift, die Gemeinde bei diesem Glauben; die Seelsorge dagegen faßt jede Seele bei ihrem speciellen Verhältnisse zum Gemeindeglauben und Leben, also bei der Differenz, und will das zum Culthus nötige Gemeinsame eben in den Einzelnen fördern, Störungen abhelfen, Krankheiten heilen, und jeden so-
A. a. O., Sp. 1067. Belege bei F. Schleiermacher, Praktische Theologie, S. 65,145 und 603. 4 2 2 F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), Hamburg 1958, S. 99 (Zählung der 1. Auflage). Vgl. F. Schleiermacher, 'Praktische Theologie, S. 428. 4 2 4 F. Schleiermacher, Kun^e Darstellung des theologischen Studiums 1811), S. 89 420 421
(§ 26).
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weit wie nur möglich versenken in das Gemeinsame und eine lebendige Gestaltung desselben in ihm herausbilden."425 Die damit implizierte Bestimmung von Seelsorge, die den Einzelnen unter dem Aspekt seines Zurückbleibens hinter der Allgemeinheit des Gemeindeglaubens wahrnimmt, wurde bald jedoch in Richtung auf ein Modell modifiziert, das nunmehr umgekehrt nach dem individuellen Aneignungsbori^ont des Wortes Gottes fragte - die fortschreitende Delegitimation christlicher Traditionsbestände sowie die zunehmenden Anforderungen an individuelle Plausibilisierungsleistungen stehen hier deutlich im Hintergrund. Nicht die ideale Höhe gemeindlicher Geselligkeit, sondern die konkreten lebensgeschichtlichen Bedingungen des Einzelnen rückten somit in den Mittelpunkt des seelsorgerlichen Interesses: „Erst im Rahmen einer solchen Kirchentheorie, die die Selbständigkeit des frommen Individuums hervorhebt, wird eine spezielle Seelsorgelehre erforderlich, und je weniger die empirischen Verhältnisse die ideale Höhe des Kirchenbegriffs bewahren, um so breiter wird die Poimenik entfaltet."426 Diese perspektivische Verschiebung trug der Einsicht Rechnung, daß es grundsätzlich keinen differenzlos im Gemeindeglauben aufgehenden „individuellen Glauben" gibt; jedes einzelne Gemeindeglied war immer zugleich auch abständig und potentiell auf seelsorgerliche Begleitung angewiesen. Als praktisch-theologischer Reflex einer popularisierten Hegelschen Denkfigur verwies das Geschehen der „Individualisierung" somit auf den Schritt vom Allgemeinen, der Universalität des Wortes Gottes als dem einen Evangelium, hin zur Akkomodation an das regional bzw. geschichtlich Besondere sowie auf seine schließliche Aneignung im Individuellen — in unendlicher biographischer Konkretisierung: „Die allgemeinen Trostgründe von der Vorsehung, von Abmessung der Leiden durch die Allwissenheit, von der Erlösung und dem herrlichen Ausgange der Leiden, von ihren großen Vortheilen und von der Ewigkeit, müssen stets mit Zurückfuhrung auf die eigene Lebensgeschichte des Leidenden verbunden seyn und speciell eingehen, um Resultate für die Anerkennung der Vorsehung zu gewinnen."427 In diesem Sinne hatte der Systematiker Theodor Albert Liebner (1806-1871) den Zusammenhang von allgemeiner und spezieller Seelsorge in eine bündige Verhältnisbestimmung über-
4 2 5 A. Schweizer, Ueber die wissenschaftliche Constructionsweise der Pastoraltheologie oder Theorie der Seelsorge, S. 40. So noch R. Seyerlen, Das System der praktischen Theologie in seinen Grundzügen; in: ZprTh 5 (1883), S. 219: „Die Seelsorge hat zu ihrem unmittelbaren Gegenstand die Einzelnen. Gegenstand einer besonderen clericalen Thätigkeit können sie aber nur werden, sofern sie nicht in Identität mit der Gemeinde sich befinden. Danach geht die Seelsorge auf die Hervorbringung dieser Identität [...]." 4 2 6 R. Schmidt-Rost, Seelsorge ^wischen Amt und Beruf, S. 42f. 4 2 7 G. P. C. Kaiser, Entwurf eines Systems derPastoraltheohgie, Erlangen 1816, S. 106.
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geführt: „Das Eingehen auf die eigenste empirische Bestimmtheit der Einzelnen als solcher in ihrer ganzen concreten Mannichfaltigkeit ist dann die Seelsorge im engern Sinne, specielle Seelsorge."428 Im Gefalle dieser Verschiebung auf die individuelle Perspektive zielte die Redeweise von der „Orthotomie des Wort Gottes" (vgl. 2. Tim 2, 15) auf dessen adäquate persönliche Applikation, welche biblische Botschaft und die kontingente Individualität konkret miteinander zu vermitteln hätte. Von C. I. Nitzsch zu einer praktisch-theologischen Lehre ausgebildet, handelt die Orthotomie von „der rechten Austheilung und Anwendung des göttlichen Wortes in bezug auf die Eigenthümlichkeit der Zustände und Anlässe".429 Sie erfordert „theils Einhalten des vom Wort vorgezeichneten Heilswegs, theils die richtige, durch sachliche und psychologische Nothwendigkeit gegebene Theilung oder Applikation der Einen Wahrheit an die Einzelnen genau nach den Bedürfnissen derselben."430 Der innere Grund solcher Applikationsfähigkeit des göttlichen Wortes ist die Überzeugung einer ursprünglichen Koinzidenz von Schrift- und Lebenserfahrung - auf daß „Christus allen alles, d. h. jedem etwas Verschiedenes werde"431. Insofern steht der Begriff der Orthotomie in synonymer Verwendung zu der Aufgabe der Individualisierung des Wortes Gottes, welche „der Individualisierung des menschlichen, zeitlichen, örtlichen Bedürfens, Empfangens und Verlangens" entspricht: „Ist das Wort Gottes wirklich für Alle und für Alles da, so muß es sich individualisieren nach Zeit, Ort und Person." 432 In diesem Sinn formuliert Emil Quandt in bezug auf die Predigt: „Wir nennen Individualisation in der Predigt diejenige Thätigkeit resp. Fertigkeit des Predigers, da er die Schriftwahrheiten aus ihrer Allgemeinheit hervorzieht und sie in bestimmte Formen des concreten Lebens der Hörer einfügt. Die Individualisation definiert die ausgekernten Lehren der Bibel in naheliegenden Anschauungen, sie übersetzt die kündlich großen Geheimnisse in das Detail des menschT. A. Liebner, Die praktische Theologie; in: ThStKr 16 (1843), S. 656. C. I. Nitzsch, Praktische Theologie Bd. III/l, Bonn 1857, S. 168 ( 2 1863, S. 161). Hinweise zur Verwendung des Begriffs in Reformationszeit und Pietismus bei A. Hardeland, Geschichte der speciellen Seelsorge, S. 443; E. Chr. Achelis, Art. „Seelsorge"; in: RE3 Bd. 18, Leipzig 1906, S. 139; ders., Lehrbuch der praktischen Theologie, 3. Auflage, Bd. III, S. 85-87. 4 3 0 R. Kübel, Umriß der Pastoraltheologie; in: ders. (ed.), Denkschrift des Königlich Preußischen evangel theologischen Seminars Herborn für die Jahre 1870-72, Herborn 1873, S. 54. 4 3 1 E. Chr. Achelis, Praktische Theologie (Grundriss der Theologischen Wissenschaften, Teil 6), Freiburg i. B./Leipzig 1893, S. 143 ( 5 1903, S. 245). Dazu C. I. Nitzsch, Praktische Theologie Bd. III/1, §452; R. Schmidt-Rost, „Eigentümliche Seelenpflege"; in: PTM 8 (1988), bes. S. 288-293. 4 3 2 C. I. Nitzsch, Praktische Theologie Bd. III/l, S. 169 (= 2. Auflage, S. 162); S. 118 (= 2. Auflage, S. 112). Im Original mit Hervorhebungen. 428 429
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liehen Lebens, sie wirbt für die große Wahrheit durch Anwendung derselben auf die kleinen Dinge."433 Doch die Predigt selber kann diese Aufgabe immer nur bedingt erfüllen; mit den gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen sowie der Verwissenschaftlichung praktisch-theologischer Handlungsfelder tritt der „generelle" Bedeutungshorizont von Seelsorge zurück — zugunsten einer präziseren theologischen und methodischen Reflexion der „speziellen" Seelsorge im Einzelgespräch. Die Rede von der „Individualisierung" drängt mithin auf ihre Konkretisierung im Einzelgespräch, in welchem der individuelle Bedeutungsund Bedürfnishorizont möglichst uneingeschränkt zur Geltung kommen soll. Die Seelsorgelehre hätte dementsprechend aus der Theorie der „kirchlichen Pflege des Christenthums" sowie aus der „Natur des christlichen Lebens" die „Grundsätze zur Verkündigung des Evangeliums in der hirtenamtlichen Ansprache an einzelne Glieder der Gemeinde außerhalb des Gottesdienstes" zu entwickeln, wobei insbesondere der Offenheit des Feldes seelsorgerlicher Begegnungen bzw. freier Gespräche Rechnung zu tragen wäre.434 Denn das seelsorgerliche Handeln ist „in seiner Art und Weise durchaus nicht amtlich geregelt, sondern durch die Umstände gegeben, also im gewissen Sinn zufällig. Daher kann auch die Wissenschaft der Seelsorge nur im Allgemeinen die Voraussetzungen, Grundsätze und Ziele dieses Handelns beschreiben und muß ihre Anwendung dem pastoralen Takt überlassen."435 Unabhängig von der Vielfältigkeit der konkreten Praxissituationen ließen sich jedoch die für die Ausbildung einer „Seelsorgelehre" leitenden theologischen Voraussetzungen systematisch zusammenfassen, wie es der seit 1868 in Bonn lehrende Praktische Theologe Theodor Chrisdieb (1833-1889) vorgeschlagen hat: 1) der „hohe Wert" einer jeden Menschenseele, 2) die allgemeine „Seelengefahr" des sich selbst überlassenen Menschen sowie 3) die Bestimmung zu einem „höheren Ziel", die Berufung zur himmlischen Seligkeit.436 Der erste gesondert erschienene Entwurf zur Seelsorgelehre ist die Pastoraltheorie oder die Lehre von der Seelsorge des evangelischen Pfarrers von Alexander Schweizer (1808-1888) 437 aus dem Jahre 1875, welche mit ihrem Einsatz beim „Gemeindegedanken" sowie mit ihrer pastoraltheologischen Kontextualisierung von Seelsorge konzeptionell noch bis auf H. A. 4 3 3 E. Quandt, Ueber das Individualisieren in der Predigt; in: PBl 13 (1871), S. 373 (im Original mit Hervorhebungen). 4 3 4 W. Otto, Evangelische Praktische Theologie Bd. 1, Gotha 1869, S. 402. 4 3 5 R. Kübel, Umriß der Pastoraltheologie, S. 3. 4 3 6 T. Chrisdieb, Art. „Praktische Theologie"; in: RE 2 Bd. 15, Leipzig 1885, S. 524f. 437 v g ] p Christ, Art. „Schweizer, Alexander"; in: RE3 Bd. 18, Leipzig 1906, S. 66-72; E. Hauschildt; in: BBKL Bd. 9, Sp. 1212-1215.
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Köstlin fortgewirkt hat: Bereits hier wird die pastorale Amtsführung im Sinne einer „aufsehend erkennenden Seelsorge" von den Aufgaben der eigentlich „behandelnden Seelsorge" unterschieden und beiden Ebenen in einem dritten Teil die jeweils „mitwirkende pastorale Moral" nachgeordnet.438 Nicht begrifflich-deduktive Entfaltung, wohl aber pragmatische Orientierung an den Bedingungen der Amtswirklichkeit haben deshalb für die wissenschaftliche Behandlung der Pastoraltheorie maßgeblich zu sein. In diesem Sinne heißt es in der Uberschrift zu § 25: „Die ausübende Seelsorge, in vielen und mannigfaltigen Behätigungen vor sich gehend, läßt sich ihrer Natur nach nicht systematisch eintheilen, wohl aber in zweckmäßiger Anordnung wesentlich vollständig überschauen." 439 Gerade angesichts dieses Vorbehaltes gegenüber einem festen „System" der Seelsorge konnte auch O. Baumgarten rückblickend die Einsicht formulieren, die Grundlinien seiner Praktischen Theologie dem Schleiermacherschüler A. Schweizer zu verdanken, den er während seines Studienjahres 1880/81 in Zürich persönlich gehört hatte.440 Dabei war für Schweizer konzeptionell die Einsicht leitend gewesen, daß den aufbrechenden Diskontinuitäten, wie sie durch die modernen Wandlungsprozesse freigesetzt wurden, gerade in ihrer Gleichzeitigkeit mit dem Fortbestehen traditionaler Strukturen Rechnung zu tragen wäre — Pastoraltheologie und Seelsorge hätten sich auf eine zunehmend inhomogene und ausdifferenzierte Wirklichkeit einzustellen: „Vorerst sehen wir aber mancherlei Uebergangszustände, Mischungen des Hergebrachten mit Anfängen der werdenden Erneuerung noch geraume Zeit vorherrschen, was auch von der praktischen Theologie, ganz besonders von der Pastoraltheologie berücksichtigt und bedient werden muß." 441 Von einem stärker lutherisch geprägten Standpunkt aus hat Gerhard von Zezschwitz (1825—1886) dagegen den „Sonntagsgottesdienst" als Regelfall einer spezifisch seelsorgerlichen Zuwendung herausgestrichen:442 Seelsorge ist demnach prinzipiell auf die gottesdienstliche Versammlung zu beziehen, da diese als „Idee der absoluten Höhe, welche das Communionleben der Gemeinde für die innerirdische Existenz der Kirche repräsentiert", in sich nicht zu überbieten ist.443 Die lebenswelt438 Vgl a . Schweizer, Pastoraltheorie, Leipzig 1875, S. 207ff.; dazu F. Zimmer, Das Prinzip der pastoralen Moral; in: ThStKr 68 (1895), S. 136-150. 4 3 9 A. Schweizer, Pastoraltheorie, S. 77 (im Original hervorgehoben). 4 4 0 O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 59. 4 4 1 A. Schweizer, Pastoraltheorie, S. IV. 4 4 2 G. v. Zezschwitz, System der praktischen Theologe, Leipzig 1876/78; zum 'Übergangscharakter' dieses Werkes vgl. W. Birnbaum, Theologische Wandlungen von Schleiermacher bis Karl Barth, S. 112-115 Außerdem T. Ficker, Art. „Zezschwitz, von"; in: RE2 Bd. 18, Leipzig 1888, S. 427-440. 4 4 3 G. v. Zezschwitz, System der praktischen Theologie, S. 473. 130
liehe „Erhaltung auf der Höhe der Cultusstufe" sowie die alltagspraktische „Durchfuhrung des Höhenmasses jener Stufe" bedürfen dagegen weiterer Unterstützung sowie helfender „Mittel", welche insbesondere in den Aufgabenbereich der Seelsorge gehören.444 Denn trotz ihrer Nachordnung gegenüber der cura generalis behält die cura specialis bei G. v. Zezschwitz ihre methodische Eigenständigkeit und „specifische Function" gegenüber der allgemeinen „Seelenversorgung" in der gottesdienstlichen Verkündigung. Neben Zezschwitz ist als praktisch-theologischer Vertreter der „Erlanger Schule" Theodosius Harnack (1816—1889)445 zu nennen, dessen zweibändige Praktische Theologie 1877/78 erschien und ebenfalls vor allem im konfessionell lutherisch geprägten Raum Verbreitung fand. Harnack wurde zudem für die Poimenik auch durch seine komprimierte Darstellung der „Pastorallehre" im Handbuch der theologischen Wissenschaften bedeutsam:446 Uber das „Grundverhältnis zu Christus" hinaus, wie es im Kultus in Wort und Sakrament gestiftet wird, geht es „in der spezifischen Seelsorge zunächst und vor allem um die Mannigfaltigkeit von Lebensbeziehungen, die für den einzelnen ebensoviel Versuchungen als Förderungen enthalten." .Ähnlich wie bei Zezschwitz ist deshalb die Aufgabe der Seelsorge primär die Durchführung und Bewahrung des Glaubens im Alltag der Welt, damit „nicht bloß der Sonntagsmensch, sondern der ganze Mensch, der Alltagsmensch in allen Verhältnissen" ein Glied des Reiches Gottes sei.447 Strukturierendes Prinzip ist dabei gleichwohl nicht der individuelle Lebenshorizont mit seinen persönlichen Bedürfnissen, sondern die Entfaltung des reformatorischen Amtsbegriffs und des mit ihm gesetzten geistlichen Auftrags. Das wesendiche Hilfsmittel der Seelsorge ist folglich die Beichte; hier kann das geisdiche Amt ordnungsgemäß und vollmächtig auf das individuelle Glaubensbewußtsein einwirken. Ebenfalls dem Amtsbegriff der lutherischen Tradition verpflichtet, jedoch stärker als Zezschwitz oder Harnack von einer entschieden polemischen Grundhaltung gekennzeichnet, ist der seelsorgetheoretische Entwurf des Berliner Praktischen Theologen Franz Karl Ludwig Steinmeyer
Vgl. a. a. O., S. 475. Zu T. Harnack vgl. F. Hoerschelmann; in: RE i Bd. 7, Leipzig 1899, S. 445449; M. Seitz/M. Herbst; in: TRE Bd. 14, Berlin/New York 1985, S. 458-462; V. Drehsen, Konfessionalistische Kirchentheologie; in: F. W. Graf (ed.), Profile des neu%ütüchen Protestantismus 2/1, S. 146—181. 4 4 6 T. Harnack, Die Pastorallehre oder die Geschichte und Theorie der Seelsorge; in: O. Zöckler (ed.), Handbuch der theologischen Wissenschaften Bd. IV Praktische Theologie (1. Auflage 1883, als Bd. III), München 3 1890, S. 473-510, hier S. 473. 4 4 7 A. a. O., S. 474. Im Anschluß an T. Harnack vgl. K. Burger, Art. „Seelsorge"; in: RE2 Bd. 14, Leipzig 1884, S. 30-34. 444 445
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(1811—1900).448 Gegen die aufkommende pastoraltheologische Reaktion, die angesichts der modernen Destabilisierungstendenzen in der Pfarramts- und Gemeindepraxis „die 'christliche Persönlichkeit' zur seelsorgerlichen Potenz" zu machen gedachte, will Steinmeyer einer Rückbesinnung auf den „biblischen Amtsbegriff' das Wort reden: 449 Denn gleichwie „der Mangel der speciellen cura den Missstand nicht verursacht hat, so liegt auch die Beseitigung desselben ausserhalb der Sphäre ihrer Potenz." 450 Die Seelsorge hat es grundsätzlich immer mit dem Hinsehen zu tun, weshalb die der Kirche entfremdeten Massen niemals durch individuelles seelsorgerliches Einwirken erreicht werden können. Auch die nunmehr propagierten Formen offensiver Seelsorge und modemer Pastoraltheologie müssen somit als untaugliche Mittel der geistlichen Erneuerung angesehen werden, wie Steinmeyer am Beispiel des Hausbesuchs zu verdeutlichen sucht: Hier drohe die Gefahr einer „Comprimirung des Amts", so daß der würdige „Eliasmantel" dem Pastor unvermerkt von den Schultern falle und nur der „frater christianus" übrig bleibe. 451 „Bei dem Hausbesuch lockert sich das Band zwischen der speciellen und der generellen cura so sehr, dass die erstere ihre Fühlung mit der letzteren fast verliert. Die Seelsorge wird zur Conversation, gar oft zu einer theologischen, sie entartet zum Dispüt und verirrt sich [...] von dem praktischen Gebiet. Sie versäumt ihren Beruf, den Beruf der Application des gepredigten Worts auf den Einen. Anstatt dass sie die Spitze desselben mit Nachdruck gegen das Individuum kehrt, ist sie zur Limitirung bereit und stumpft die Schärfe des Stachels ab. [...] Auf der Kanzel volle Parrhesie und offenes Visir, bei dem Hausbesuch eine Decke vor dem Angesicht! Machen wir den Einzelnen keinen Vorwurf daraus. Nicht eine verwerfliche Menschengefalligkeit, nicht eine missverstandene Zartheit ist der Grund, sondern die Ursache ruht in der Sache selbst. Die Luft, wie sie innerhalb des Hauses ist, benimmt den Amt den freien Odemzug Vielmehr müßten rechte Evangeliumsverkündigung und Sakramentsverwaltung sowie die Ausübung der Beichte wieder in ihren bekenntnisgemäßen Rang versetzt werden, um Bewahrung und Wachstum des bedrohten kirchlichen Lebens in den Gemeinden sicherzustellen. Denn die 448 Vgl. E. Haupt, Zur Erinnerung an F. L. Steinmeyer; in: HWDH 23 (1900), S. 275-288, 335-350; dazu G. Kawerau; in: RE 3 Bd. 18, Leipzig 1906, S. 794-800; E. Hauschildt; in: BBKL Bd. 10, Sp. 1332-1334. Außerdem J. Jaeger, Die Seelsorge; in: Der alte Glaube 9 (1907/08), Sp. 919-927, 991-995,1087-1094. 449 F. L. Steinmeyer, Die speäelle Seelsorge in ihrem Verhältniss %urgenerellen (Beiträge zur Praktischen Theologie IV), Berlin 1878, S. 139, vgl. S. 31ff. 450 A. a. O., S. 138. 451 A. a. O., S. 90. 452 A. a. O., S. 91f.
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Kirche findet ihren eigentlichen und letzten Existenzgrund nicht in sich selbst als einem menschlichen Werk, sondern in ihrer Qualität als göttlicher Stiftung; nur im Rückgang auf diesen geistlichen Ursprung kann das Heil des Einzelnen gefunden und der Bestand der Kirche insgesamt gesichert werden. Wie die göttliche Verheißung auf der Errichtung und Erhaltung des Amtes liegt, so muß sich auch die spezielle Seelsorge aus dessen geistlichen Funktionen ableiten lassen - sie hat keine eigene, darüber hinausgehende Dignität: „Was die generelle cura der Gemeinde sagt, davon macht die specielle eine Anwendung auf den Einzelnen."453 Damit will Steinmeyer keinesfalls einer Reduktion der Seelsorge auf predigende Verkündignung das Wort reden - im Gegenteil: „Wer der Seelsorge bedarf, den befriedigt die Kanzelsprache nicht. Allgemeinheiten gleiten ohne Wirkung von ihm ab. Er widerspricht nicht, er erkennt das Gesagte an: und doch zieht er sich verletzt und verstimmt zurück, denn seine Gebühr ist ihm darin nicht gereicht."454 Nur gilt eben zugleich, daß die Seelsorge am Einzelnen sich theologisch weder auf besondere geistliche Vollmacht noch auf das Prinzip der Brüderlichkeit oder die Kraft der Persönlichkeit gründen kann. Die Seelsorge verdankt ihren Bestand und ihr Gelingen vielmehr allein dem göttlichen Heilshandeln, mit deren ordnungsgemäßer Verkündigung in Wort und Sakrament eben das geistliche Amt beauftragt ist: „Vertrauen!" Die neuere pastoral-theologische Literatur hat sich viel mit diesem Begriffe zu schaffen gemacht. Hier findet sie den Schlüssel zu dem Geheimniss des Erfolgs. Aber in dem Gegenstande dieses Vertrauens greift sie fehl. Auf die Person will dasselbe nicht bezogen seyn. [...] Die Person des Hirten tritt erst in zweiter Reihe in Betracht; oben an steht das Amt, oben an die Mittel und Güter, über welche dasselbe verfügt. Diesem Amte gebührt das Vertrauen; und es hat diess Vertrauen verdient."455 Dem pastoraltheologischen Modell einer individuellen bzw. persönlichen Integration und Bewältigung der neuzeitlichen Fraktionierungen begegnete Steinmeyer näherhin mit einem doppelt gerichteten Einwand, der einerseits auf „Uberforderung der Geistlichen", andererseits auf „Geringschätzung des Wortes Gottes" herauslief. Denn die personalisierende Verantwortungszuschreibung der Pastoraltheologie sowie die überspannten Erwartungen an die Leistungsfähigkeit der Geistlichen bedeuteten zunächst einmal eine Steigerung der psychischen Belastung, die in Steinmeyers Augen geradezu als kontraproduktiv anzusehen war: „Outrirte Anforderungen thun niemals gut. Sie spornen nicht an, sondern sie lähmen; sie fördern das Handeln nicht, sondern sie sistiren die Thätigkeit. Sie sind ein Symptom für die Unhaltbarkeit einer Theorie, welche solcher Mittel be453 454 455
A.a. O..S. 67. A.a. 0.,S. 69. A. a. O., S. 46f. 133
dürftig ist. Man irrt, wenn man des Hirten Person zum Faktor der seelsorgerlichen Erfolge macht." 456 Doch auch in theologischer Hinsicht schien Steinmeyer die zeitgenössische Ausdifferenzierung professioneller „Arbeitstheilung" sowie die Betonung methodischer Fertigkeiten in der Seelsorge fragwürdig, da ihnen notwendigerweise die Rückbesinnung auf die rechte geisdiche Mitte fehlen mußte: „die rhetorische Kunst macht nicht zum Prediger, und die geschickte Fragestellung nicht zum Catecheten, und der psychologische Scharfblick nicht zum Seelsorger. Ein rhetorisches Kunstwerk gereicht [...] zur Bewunderung; eine virtuose Erotematik leistet der geistigen Gymnastik einen Dienst; und der richtige Blick des Psychologen frappirt, überrascht, beschämt, erschüttert Den, auf welchen er gerichtet ist. Das aber ist auch Alles [...]." 457 Ohne geistliche Vollmacht und kirchlichen Auftrag blieben alle diese methodischen Fertigkeiten ohne tieferen Wert. Dagegen erwartete Steinmeyer einen wesentlichen Beitrag zu der von ihm angestrebten theologischen Erneuerung von der Wiederbelebung der Beichte sowie dem Vertrauen auf die vom kirchlichen Amt verwalteten sakramentalen Gnadenmittel. Darüber hinaus setzte er auf eine Wiederentdeckung der Bibel und ihrer geisdichen Erschließungskraft, was er in seiner Seelsorgelehre nicht zuletzt durch einen expliziten Rekurs auf neutestamendich-griechische Begrifflichkeit deutlich zu machen suchte. Denn ein wesentliches Charakteristikum der Heiligen Schrift ist es, daß sich in ihr die Aussagen des christlichen Glaubensbekenntnisses gleichsam urbildlich mit den Dimensionen individueller und kollektiver Lebenserfahrung verbinden, wodurch die psychologisierenden Klugheiten der neuen pastoraltheologischen Strömung entbehrlich würden: „Eines sonderlichen psychologischen Scharfblicks, welcher die Sonde in die Tiefen der Gemüther zu senken vermag, bedarf es auch zur Sichtung und Sonderung der Individualitäten nicht. [...] Es giebt keinen Charakter im ganzen Umfange der Gesellschaft und keinen Zustand im gesammten Bereiche des Lebens, ohne dass er sein Vorbild hätte in der Geschichte der Schrift. Jeder Druck und jedes Leid, jede Schuld und jede Verirrung, - dort liegen sie schon vor. Der Reichthum an Verhältnissen, welchen das complicirte moderne Leben geschaffen hat, beschränkt dieser Behauptung nicht ihr Recht. Versirt der Geistliche in der Schrift, ist er bekannt mit allen den lebensvollen Gestalten, welche im Alten und Neuen Testamente erscheinen, so erkennt er bei der Seelsorge sofort seinen Mann, er weiss wie derselbe zu nehmen ist und wie er seinerseits aufzutreten hat." 458
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A.a. O..S. 41. A. a. O., S. 153. A. a. O., S. 126f.
Ähnlich wie Steinmeyer um eine prinzipielle Bestimmung reformatorischer Seelsorge bemüht, unternimmt der schwedische Theologe Martin Gabriel Rosenius (1825-1901) in seiner Schrift Die Bedeutung der Seelsorge und ihre damit gegebene Begrenzung einen historisch-systematischen Durchgang durch evangelische Konzeptionen der Seelsorgelehre des 19. Jahrhunderts, wobei er diese Analyse als kritisches Instrument der Freilegung positioneller theologischer Paradigmen verstanden wissen will: „Unser Gedanke ist, dass die Lehre von der Seelsorge einer der Punkte im wissenschaftlichen Glaubensbewußtsein ist, in welchem alle Eigenthümlichkeiten der verschiedenen theologischen Anschauungsweisen sich sammeln wie in einem Fokus."459 In seinem eigenen, ebenfalls deutlich lutherisch geprägten Entwurf entwickelt Rosenius sodann Seelsorge als eine Funktion der 'Ausübung der Schlüsselgewalt', bei welcher es zentral um das Binden und Lösen von Schuld in der Beichte geht.460 Ergänzend zu den hier skizzierten poimenischen Entwürfen aus dem Umfeld des Luthertums ist die Theorie der Seelsorge des Breslauer katholischen Pastoraltheologen Ferdinand Probst (1816—1899) zu erwähnen, welcher die seelsorgerliche „Behandlung des Menschen" einerseits nach den unterschiedlichen sittlichen sowie leiblich-geistigen „Zuständen", andererseits nach den verschiedenen gesellschaftlichen und kirchlichen „Ständen" gliedern will, auf die jeweils regulierend und erziehend einzuwirken wäre.461 Allgemeine, vor allem studienpraktische Verbreitung hat sodann der ebenfalls sich lutherisch verstehende Grundriss der praktischen Theologie des in Göttingen lehrenden Karl Knoke (1841-1920) gefunden, welcher 1886 aus seinem akademischen Unterrichtsgebrauch hervorgegangen ist und obgleich stark an den Verhältnissen in der Hannoverschen Landeskirche orientiert - bis 1896 vier Auflagen erlebt hat. Seiner methodischen Ausrichtung nach auf akademische Zweckdienlichkeit in der Pfarrerausbildung angelegt, sind die Ausführungen in diesem „Grundriss" inhaldich knapp gehalten: Sie verlangen nach mündlicher Erläuterung im Vortrag und wollen in den Sachfragen gemeinhin einen pragmatischen Konsens formulieren. Die Seelsorge erhält dabei eine ausdrücklich pädagogische Tendenz - sie soll auf Erziehung im Glauben zielen und „ist ihrem We-
4 5 9 M. G. Rosenius, Die Bedeutung der Seelsorge und ihre damit gegebene Begrenzung, Stockholm 1880. 4 6 0 Vgl. a. a. O., S. 92ff. 4 6 1 F. Probst, Theorie der Seelsorge, Breslau 1883 (21885). Für den katholischen Raum vgl. außerdem Rody, Großstadt und Seelsorge; in: Der katholische Seelsorger 1 (1889), S. 21-30, 73-79; F. W. Woker, Zur Frage über die Privatseelsorge bei Katholiken größerer Städte und Industriegebiete; in: a. a. O. 7 (1895), S. 119-127, 185-189, 306-312; H. Swoboda, Großstadtseelsorge, Regensburg 1909 (21911); E. Gatz, Katholische Großstadtseelsorge im 19. und 20. Jahrhundert; in: K. Elm/H.-D. Loock (eds.), Seelsorge und Diakonie in Berlin, S. 23-38.
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sen nach persönliche Deutung des göttlichen Wortes auf die individuellen Verhältnisse der einzelnen kultfähigen Gemeindeglieder"462. Der bewußte Verzicht auf begrifflich-systematische Entfaltung zugunsten eines Gewinns an didaktischer Einfachheit und Ubersichdichkeit ist K. Knoke freilich von E. Chr. Achelis nachdrücklich zum Vorwurf gemacht worden, weil bei dieser auf praktische Nützlichkeit ausgehenden .Anlage der theoretische und historische Horizont der Praktischen Theologie ungebührlich verkürzt werde.463 In seiner Anlage und Durchfuhrung stellt denn auch das von Achelis selber vorgelegte — überaus fundierte und einflußreiche — Lehrbuch der praktischen Theologie gewissermaßen ein opulentes Gegenstück zu Knokes schlankem Grundriss dar: In seiner historischen und inhaltlichen Stoffsammlung breit ausgreifend, will Achelis die Fülle des Materials gleichwohl einheitlich aus den systematischen Bestimmungen der Kirche herleiten. Auch die Poimenik als Teil der „Lehre von der Bethätigung der Heiligkeit der Kirche" erfährt in dieser Weise eine ausführliche Behandlung: ihre prinzipielle Legitimation sieht Achelis in einem gleichsam naturgemäßen Selbsterbauungsbedürfnis der Kirche, wie es ja auch sonst „keine Gemeinschaft giebt, die nicht im Interesse ihres Bestandes einen ihrem Zweck entsprechenden Einfluß auf ihre Glieder zu gewinnen suchen müßte. Auf dieser allgemein menschlichen und für alle Christen verbindlichen Grundlage erhebt sich die spezielle kirchliche Seelsorge, die durch den Pastor ausgeübt wird." 464 Im Aufriß im wesentlichen den von C. I. Nitzsch entworfenen Linien folgend, werden Begriff und Geschichte der Seelsorge, Person und Amt des Seelsorgers sowie insbesondere die spezifische „Art und Weise der seelsorgerlichen Thätigkeit" bei Achelis detailliert entfaltet — letztere steht hier nicht wie bei Knoke in Analogie zur Pädagogik, für deren Selbstverständnis gemeinhin eine Differenz in der Mündigkeit konstitutiv sei, sondern zur medizinischen Tätigkeit des Arztes, der eben auch selber ein potentiell kranker und gefährdeter Mensch ist. Damit kommt Achelis letztlich - trotz sachlicher Einzelkritik in bezug auf die Zuordnung historischer Details sowie die Plausibilität einzelner begrifflicher bzw. systematischer Entscheidungen - in seinen Ausfuhrungen hinsichdich der theologischen Wesensbestimmung von Seelsorge weitgehend auf einer Linie mit Köstlins Lehn von der Seelsorge zu stehen, die ebenfalls, gerade im Gefälle ihrer theologischen Konzentration auf das 4 6 2 K. Knoke, Grundriss der praktischen Theologie. Ein Hausmittel beim Studium der Praktischen Theologie für Studierende und Kanädaten der Theologie, Göttingen 4 1896, S. 175. 4 6 3 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung K. Knoke, Herr D. Achelis und mein Grundriss der Praktischen Theologie, Göttingen 1890; H. Bassermann, Rez. „K. Knoke, Grundriss der praktischen Theologie"; in: ZprTh 13 (1891), S. 180-182. 4 6 4 E. Chr. Achelis, Art. „Seelsorge", S. 136.
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„Wesen der Seelsorge", auf ein Geltenlassen der jeweils relativen Berechtigung unterschiedlicher konfessioneller Traditionen aus ist.465 Denn auch wenn über Fragen der enzyklopädischen Verortung und systematischen Bestimmung von Seelsorge vielfach kontrovers geurteilt wurde, so herrschte doch über ihre theologische Begründung sowie über die materiale Durchdringung einzelner Praxisfelder um die Jahrhundertwende ein weitreichender Konsens. Mit Recht konnte deshalb M. v. Nathusius urteilen: „Die neuere Ansicht ist ziemlich ungeteilt sowohl über das Wesen der Seelsorge, wo der etwas einseitige Schleiermachersche Standpunkt verlassen ist, als auch über ihre Notwendigkeit, und nicht minder über die allgemeine Art der Ausführung, wobei sowohl die etwas steife und zurückhaltende Amtsstellung des früheren Luthertums als auch die methodistische Unruhe gleichmäßig vermieden werden." 466 Diese Einschätzung galt ebenfalls für die zeitgenössischen Entwürfe zur Pastoraltheologie, wie sie etwa der in Basel lehrende Bernhard Riggenbach (1848-1895), Herausgeber von J. T. Becks Pastorallehren des Neuen Testaments, oder der biblizistisch geprägte Greifswalder Systematiker und Neutestamentier Hermann Cremer (1834—1903) vorgelegt hatten.467 Ähnlich wie die konfessionell-lutherischen Entwürfe nahmen diese eher konservativen Theologen ihren Ausgang jeweils in der Lehre vom kirchlichen Amt, in welchem sich die einzelnen pastoralen Funktionen, mit dessen auftragsgemäßer Verwaltung der Pfarrer betraut werden soll, zu gründen hätten - doch blieb das eigentliche Ziel ihrer Pastoraltheologie immer die erfahrungs- undpraxisnahe Instruktion auf der Basis eines biblischfundierten Amtsgewissens, welche im herkömmlichen System der Praktischen Theologie keinen rechten Ort mehr zu haben schien: „In all den Werken über praktische Theologie aber, welche den Kirchenbegriff zum Ausgangspunkt machen, kommt ein Gebiet zu kurz, nämlich die ethischen Voraussetzungen einer erfolgreichen Amtsverwaltung."468 Denn wie die Praktische Theologie „Theorie der kirchlichen Ausübung des Christentums" (C. I. Nitzsch) bzw. „Lehre von der Selbsterbauung der Kirche" (Th. Harnack) sein wollte, so zielte die Pastoraltheologie auf den Entwurf einer kohärenten „Berufstheorie des Pfarrers".469 465 Vgl a . a . o . S. 133, sowie ders., Rez. „Köstlin, H. A., Die Lehre von der Seelsorge"; in: ThLZ 20 (1895), Sp. 623-626. 466 M. v. Nathusius, Die heutige praktische Theologie in ihren neuesten Erscheinungen; in: HWDH 16 (1893), S. 102f. 467 Vgl. B. Riggenbach, Die Christliche Gemeindepastoration nach Schrift und Erfahrung. Vorlesungen über Pastoraltheologie, Basel 1898; H. Cremer, Pastoraltheologie, Stuttgart 1904. 4 6 8 B. Riggenbach, Die Christliche Gemeindepastoration, S. 4f. Dazu vgl. G. Rau, Pastoraltheologie. Untersuchungen %ur Geschichte und Struktur einer Gattung praktischer Theologe, München 1970; G. Krause, Hat die Praktische Theologie wirklich die Konkurrenz der Pastoraltheologie überwunden?; in: ThLZ 95 (1970), Sp. 721-732. 469 Vgl. W. Steck, Der Pfarrer ^wischen Beruf und Wissenschaft, München 1974. 137
Mit ihrem Selbstverständnis eines berufspraktischen „Pfarramtsratgebers"470, der insbesondere jüngeren Geistlichen eine positionelle theologische Orientierung sowie eine gewissenhafte Einfuhrung in die pastoralen Amtsgeschäfte bieten wollte, kam sie zu stehen „in der Mitte zwischen der Wissenschaft praktischer Theologie und zwischen der Amtsinstruktion, die der Geistliche beim Antritt des Amtes erhält und auf die er verpflichtet wird." 471 Das strukturierende Prinzip der Pastoraltheologie lag folglich im Amtsbegriff sowie in dessen funktionaler Entfaltung, wobei zur theologischen Bestimmung des pfarramtlichen Auftrages gemeinhin der Begriff der „Seelsorge" diente, in welchem die unterschiedlichen Aufgaben des Pfarrers, dessen generelle Bezeichnung ja auch sonst schlicht Seelsorger („Pastor") lauten konnte, ihren integralen Zusammenhalt fanden.472 In einer solchen weiten Bestimmung von Seelsorge spiegelten sich zugleich jedoch die grundsätzlichen Schwierigkeiten, die sich mit der akademischen Behandlung pastoraler Arbeitsfelder ergaben, insofern nämlich die theoretische Eingrenzung des Stoffes scheinbar immer nur praxis fern geraten konnte - oder eben auf einen vermeintlich unzureichenden Systematisierungsniveau geschehen mußte. Lediglich der Entwurf des Straßburger Theologen Alfred Krauss (1836—1892) nahm hierbei mit seiner grobmaschigen Systematik und seiner gebrauchswertorientierten Ausrichtung eine besondere Stellung ein: Im Anschluß an Alexandre Vinet und Alexander Schweizer faßt er die Seelsorgelehre programmatisch als Pastoraltheorie und definiert sie als „Lehre vom Hirtenamte des christlichen Geistlichen"473. Als ausdrückliche Theorie will diese Pastorallehre zwar eine lediglich kasuistische Aufarbeitung des Materials qualitativ übersteigen und allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten der Seelsorge formulieren, doch verzichtete Krauss dabei zugunsten einer größeren pfarramtspraktischen Wirklichkeitsnähe auf jede prinzipielle oder historische Herleitung des Stoffes und wurde gerade deshalb vielfach als eine bloße Neuauflage der alten Pastoralklugheit bzw. als ein Rückfall hinter Schleiermacher wissenschaftlich abgetan. So kritisierte M. v. Nathusius: „Das Unwissenschaftliche an diesem Verfahren liegt darin, daß er uns den Kirchendiener, dessen Aufgaben er beschreiben will, einfach als empirische Erscheinung vorstellt: Es giebt Pastoren - was haben sie zu thun und wie haben sie es auszuführen? das ist
Vgl. O. Janz, Bürger besonderer Art, S. 258ff. u. ö. Chr. Palmer, Art. „Pastoraltheologie"; in: RE Bd. 11, Gotha 1859, S. 179; vgl. dazu ders., "Evangelische Pastoraltbeologie (1860), Stuttgart 2 1863. 4 7 2 Vgl. A. Wächtler, Evangeäsche Pfarramts künde, Halle a. S. 1905, S. 90. 4 7 3 A. Krauss, Lehrbuch der praktischen Theologie Bd. 2, Leipzig/Freiburg i. B. 1893, S. 211. 470 471
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die Frage."474 Tatsächlich geben seine transparente Anlage sowie seine lebendige Sprache „dem Buch einen eminent praktischen Zug und das Gepräge realistischer Frische"475 - seine Ausrichtung auf die empirische Wirklichkeit berücksichtigt gleichermaßen die persönlichen wie die sozialkulturellen Bedingungen beruflicher Wirksamkeit. Auch O. Baumgarten sah es ausgezeichnet durch eine „ungemein plastische Vergegenwärtigung eigener Amtserfahrungen", die mit kulturgeschichtlichen „Aperçus" instruktiv angereichtert worden seien.476 Inhaldich war es dem liberaltheologisch geprägten A. Krauss um die Formulierung einer konsistenten Synthese von wissenschaflicher Reflexion und praktischem Erfahrungswissen auf der Linie Schleiermachers zu tun gewesen, welche sich eher um die Herausarbeitung pragmatischer Kunstregeln als um die Deduktion abstrakter Prinzipien bemühen sollte. Seine materialen Ausfuhrungen zur Pastoraltheorie lassen darüber hinaus jedoch auch verständlich werden, inwiefern die von ihm entwickelte pragmatische Perspektive zuweilen etwas drastisch und ungeistlich wirken und deshalb einen eher skeptischen Eindruck hinterlassen konnte. So urteilt er über die angemessene Berufseinstellung im kirchlichen Dienst: „Der Pfarrer ist in erster Linie füir die Erfüllung der mit seinem Amt verbundenen amdichen Pflichten da; dafür wird er bezahlt. Wofür sich ein Mensch bezahlen lässt, Das muss er zu Allererst wahrnehmen. Findet er höhere Pflichten, so soll er seine Stelle aufgeben; so lange er sich bezahlen lässt, ist Das, wofür er Geld annimmt, sein oberstes Gebot. Das ist eine sehr ordinäre Moral; aber die Sicherheit der ganzen Culturentwicklung, der ruhige Fortgang aller Geschäfte beruht darauf."477 Dieser Zug zum „Realismus" findet sich bei Krauss nicht nur hinsichtlich einer funktionalen Ausrichtung der professionellen pfarramtlichen Berufswirklichkeit, sondern ebenso in bezug auf die seelsorgerliche Wahrnehmungseinstellung überhaupt. So polemisiert er etwa unter dem Stichwort Erweckung: „Eine Frau, welche lieber mit dem Pfarrer von ihrem Seelenheil spricht, als sich ihrer Haushaltung widmet, ist auf bestem Wege entweder überzuschnappen oder auf die bedenklichsten Irrwege zu gerathen. Wohl heisst es: 'den Geist dämpfet nicht!' Aber es heisst nirgends: lasset eure Vernunft verdampfen!'"478 Hinter solchen vielleicht 4 7 4 M. v. Nathusius, Die heutige praktische Theologie in ihren neuesten Erscheinungen, S. 26. 4 ' 5 H. A. Köstlin, Rez. „A. Krauss, Lehrbuch der praktischen Theologie"; in: ThLZ 19 (1894), Sp. 225. 4 7 6 O. Baumgarten, Art. „Praktische Theologie", Sp. 1722. 4 7 7 A. Krauss, hehrbuch derpraktischen Theologie Bd. 2, S. 241. 4 7 8 A. a. O., S. 263. Oder: „Ein erwecktes Kind ist fiir jeden Vernünftigen ein Gegenstand tiefsten Mideides und sollte nicht vom Pfarrer, sondern vom Arzte behandelt werden." (ebd.)
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streitbaren Passagen steckt mehr als die bloße Lust an der Provokation sie wollen die Seelsorge vielmehr mit dem zeitgenössischen „gesunden Menschenverstand" verbinden, um die religiöse Dimension des Lebens nicht in einer abseitigen Sonderwirklichkeit aufgehen lassen zu müssen. Denn ebenso wie der christliche Glaube muß sich auch die Seelsorge im Alltag des Lebens bewähren: „Der erfahrene Seelsorger ist praktischer Psychologe und beobachtet die Leute."479 Die Sorge um die Seele darf das Heil nicht an der konkreten alltagspraktischen Wirklichkeit vorbei konstruieren, sondern muß ihre Verankerung im gelebten Leben selber finden. Vor diesem Hintergrund ist auch die pragmatische Definition zu verstehen, die Krauss selber vorlegt: „Was ist Seelsorge? Die liebevolle Behandlung fremder Interessen, als ob es die eigenen wären." 480 Indem er jedoch die gesamte Pfarramtspraxis - mit den Handlungsebenen des Pfarrers, des Bürgers sowie des 'Menschen' im allgemeinen - unter den einheitlichen Gesichtspunkt der „Seelsorge" stellt, kann in dem Entwurf von Krauss die explizite Ausformulierung einer speziellen Seelsorgelehre weitgehend entfallen. Nicht das legitime Selbsterhaltungsstreben der Kirche wie bei Achelis, sondern die natürlichen Bedürfnisse des Einzelnen nach Begleitung und Beratung bilden den allgemeinen Grund der Seelsorge: Subsidiär und passager tritt der Geistliche als „Hausfreund" in den Kreis der natürlich gewachsenen Beziehungen ein, um das Bemühen um „Seelenheil" mit seinem hirtenamtlichen Dienst zu unterstützen und gegen Schwäche, Irrung und Beschränkung „mit Rath und Tath einzutreten".481 Ganz im Sinne dieser von Krauss gezeichneten Linie bestimmt denn auch der um Studienreform bemühte Theologe und Schriftsteller Walter Frühauf den Seelsorger als einen „Freund des inwendigen Menschen": „Was für wertvolle Seelenstudien lassen sich da machen, wenn die Menschen solchem Freunde und Berater ihres Innern gegenüber aus sich herausgehen, ihm voll Vertrauen sagen, wie es ihnen in bangen und in freudigen Stunden ums Herz ist, vor allem, wo sie es drückt und woran es liegt, dass sie nicht die rechte Lebensfreudigkeit besitzen, die das Leben lebenswert macht. [...] Wie geschäftsmässig und gesellschaftlich kalt wird dagegen heute so oft das Seelsorgeramt verwaltet und wie so wenig Vertrauen haben die Menschen heute zu dem, der sich ihren [sie] Seelsorger nennt. Wie anders müsste das sein bei all der Menschenkenntnis, die die Psychologie zu geben vermag. Ist es doch kein Geheimnis mehr, dass keine Weitergabe seelischer Kräfte besser wirkt als die von Person zu Person, wenn sich eine Seele der anderen aufschliesst."482
479 480 481 482
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A. a. O., S. 409. Ein kommentiertes Fallbeispiel findet sich a. a. O., S. 417f. A. a. O., S. 422. A. a. O., S. 403ff., 216f. W. Frühauf, Praktische Theologie!, S. 134.
Die einzige als ein in sich geschlossener Entwurf publizierte Seelsorgelehre der Jahrhundertwende ist Die Lehre von der Seelsorge nach evangelischen Grundsätzen von Heinrich Adolf Köstlin (1847-1907), die als Band V in der von Hermann Hering bei Reuther & Reichard herausgegebenen Sammlung von Lehrbüchern der praktischen Theologie in gedrängter Darstellung 1895 veröffentlicht wurde und 1907 in zweiter Auflage erschien. Als Autor dieses Lehrbuchs der Poimenik war zunächst Johannes Hesekiel (1835-1918), seit 1886 Generalsuperintendent in Posen, vorgesehen worden; binnen Jahresfrist hatte dann H. A. Kösdin die Bearbeitung übernommen. 483 In ihrer Anlage und Durchfuhrung weit über die Grenzen schultheologischer oder positioneller Lager hinaus als eine kompetente, der Sache angemessene Bearbeitung anerkannt, nimmt diese Seelsorgelehre in der Zeit um 1900 eine herausgehobene Stellung ein und verlangt schon von daher nach einer eingehenderen Auseinandersetzung - zumal angesichts der Tatsache, daß Leben und Werk Heinrich Adolf Köstlins in der praktisch-theologischen Forschung bislang kaum gewürdigt worden sind. Denn wie wenig andere war Kösdin in der Lage, jenseits der Fronten eingefahrener positioneller Sprachspiele eine ausgleichende und integrierende Vermitdungsebene anzustreben, die unterschiedliche Traditionslinien in sich zu vereinigen wußte und Gegensätzliches nicht ausschließen, sondern in Anbetracht der gemeinsamen christlichen Verantwortung für den Fortbestand des geisdichen Lebens der Kirche in den Hintergrund rücken wollte. In persönlich überzeugender Weise verband Köstlin traditionelle Bibelfrömmigkeit südwestdeutscher Prägung mit der aufrichtigen Verpflichtung gegenüber den bewegten Zeitläuften, populärphilosophische Begrifflichkeit mit der Substanz neutestamentlich-reformatorischer Grundüberzeugungen ebenso wie die Betonung des theologischen Wesens der Seelsorge mit einer grundsätzlichen Bejahung des Reichtums und der Aufgaben einer modern werdenden Welt. So ist es nicht verwunderlich, wenn Julius Smend in seinem Nachruf vor allem Köstlins verbindende Kraft und seine ausgleichende Uberparteilichkeit als besondere Qualitäten herausstreicht: „Eine Persönlichkeit von ganz seltener Harmonie ist Köstlin gewesen. Es verbanden und durchdrangen sich in ihm auf einzigartige Weise der durchgebildete Theolog und der Kirchenmann mit dem echt pastoralen, seelsorgerlichen Herzen, der Schriftsteller und der Prediger, der Gelehrte und der Künstler, der feine Ästhetiker und der kluge Organisator."484 Der „in Kunst und Wissenschaft seiner Grundstimmung nach so konservative Mann" war in seinem persönlichen Umgang und fachlichen Vgl. Anonym, Eine neue praktische Theologie; in: HWDH 17 (1894), S. 222. J. Smend, Zu Heinrich Adolf Köstlins Gedächtnis; in: MGKK 12 (1907), S. 210f. 483
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Urteil gleichwohl „äußerst weitherzig und fortschrittlich"485, wie denn auch hinsichtlich seiner hehre von der Seelsorge immer wieder der „warme Ton", der „tiefe Ernst" und sowie „persönliche Färbung" dieses anerkannten Lehrbuchs herausgestrichen worden sind. So merkt E. Chr. Achelis in seiner durchaus wohlwollenden Rezension an, daß sich manche Abschnitte dieses Lehrbuches „wie ein Erbauungsbuch in höherem Stil" lesen — was er als Lob, jedoch zugleich auch als vorsichtige Kritik verstanden wissen will: „Das tiefe Gemüthsleben, in das die Gedanken eingetaucht sind, giebt dem Stil eine eigenthümliche Weichheit und Frische, und die allerdings oft recht langen Perioden und die wohl allzu reichliche Verwendung der Amplification stören nicht in dem geistigen Genuss."486 Insgesamt stehen sicherlich Köstlins hehre von der Seelsorge sowie der oben vorgestellte Abschnitt zur Pastoraltheorie aus dem Lehrbuch der praktischen Theologie von A. Krauss kontrastierend einander gegenüber: Theologische Konzentration, jedoch nicht ohne Blick für die modernen gesellschaftlichen Bedingungen auf der einen Seite — und pragmatische Wirklichkeitsorientierung, jedoch nicht ohne erkennbare systematischtheologische Grundentscheidungen auf der anderen Seite. Mit seinem Einsatz bei Kategorien der empirisch-pragmatischen Evidenz sowie mit seiner Betonung der berufspraktischen Leistungsfähigkeit berührt sich Krauss dabei deudich mit den Reformintentionen der jüngeren, „modernen" Theologengeneration der Jahrhundertwende, die sich dezidiert einer Neuinterpretation der christlichen Glaubensüberlieferung unter den Bedingungen von Modernität widmete. So ist es nicht verwunderlich, daß F. Niebergall die Pastoraltheorie von A. Krauss 1904 separat noch einmal in zweiter Auflage herausgebracht hat — im Vorwort zu dieser Ausgabe streicht er lobend die Begründung der Ausführungen „auf liberalen evangelischen Grundsätzen", das „farbige Bild aus der Wirklichkeit" sowie „den ernsten, frommen Hauch" in der gesamten Darstellung heraus.487 Ihren eigenständigen programmatischen Ausdruck hat die Seelsorgelehre der „modernen Theologie" jedoch nicht in diesem Werk, sondern in den Veröffentlichungen des Kieler Praktischen Theologen Otto Baumgarten (1858-1934) gefunden: Mit seinem Engagement im Evangelisch-sozialen Kongreß, seiner Mitarbeit bei der von Martin Rade herausgegebenen Christlichen Welt sowie seiner ausgedehnten praktisch-theologischen Publikationstätigkeit - nicht zuletzt in seinem großen, von ihm
A.a. 0 . , S . 211. E. Chr. Achelis, Rez. „H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge"; in: ThLZ 20 f1895), Sp. 623f. 4 8 7 F. Niebergall, Vorwort des Herausgebers; in: A. Krauss, 'Pastoraltheorie, Tübingen 1904, S. V. 485 486
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selber als „Monographie" apostrophierten RGG-Artikel zur Seelsorge488 hat er sich wie kein anderer seiner Generation um die theologische Neuinterpretation seelsorgerlichen Handelns unter den Bedingungen der modernen Welt bemüht. So nimmt es nicht Wunder, daß Baumgarten zu denjenigen Theologen der Jahrhundertwende gehört, welchen nunmehr, nach der theologiegeschichtlichen Neubewertung des „Kulturprotestantismus"489, eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Bereits 1986 erschien ein von Wolfgang Steck herausgegebener Sammelband zum Gedenken an seinen 50. Todestag; in der Folge hat sich insbesondere Hasko von Bassi um die detaillierte Würdigung der Biographie Baumgartens große Verdienste erworben:490 Die inhaltliche Charakterisierung seiner Veröffentlichungen im Horizont einer kritischen Rekonstruktion der Lebensgeschichte Baumgartens erwächst hier unter der Hand zu einer aufschlußreichen Dokumentation der wechselseitigen Verwobenheit von Person, Zeitgeschichte und theologischer Position. Wenn somit durch v. Bassi Werk und Biographie Baumgartens unter umfänglichen Rückgriff auf zuvor unerschlossenes Archivmaterial einer kritisch-systematischen Gesamtinterpretation zugeführt worden sind, so haben doch einzelne praktisch-theologische Fragestellungen bislang noch vergleichsweise wenig Berücksichtigung gefunden. Bei dieser Ausgangslage bedeutet die systematische Rekonstruktion der Seelsorgekonzeption O. Baumgartens gerade aus dessen frühen Schriften nicht nur für sich schon die Akzentuierung eines bislang zu wenig beachteten Aspektes seiner praktisch-theologischen Arbeit, sondern kann daneben zugleich der instruktiven Kontrastierung gegenüber der Seelsorgelehre H. A. Köstlins dienen. Denn wenngleich auch zwischen beiden Autoren keinesfalls ein polemisches Verhältnis bestanden hat, Köstlin vielmehr in der 2. Auflage seiner Lehre von der Seelsorge durchaus auf die poimenischen Publikationen Baumgartens verweisen konnte und auch dieser gegenüber Kösdin und seinem „mild-liberalen, weitsichtigen Standpunkt" ehrliche „Anerkennung" zollte,491 so stehen doch gleichwohl die beiden seelsor4 8 8 O. Baumgarten, Art. „Seelsorge"; in: RGG 1 Bd. V, Sp. 528-558; vgl. ders., Meine Lebensgeschichte, S. 108. 489 ygi p w . Graf, Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theologischen Chiffre; in: ABG 28 (1984), S. 214-268; J. Ringleben, Art. „Kulturprotestantismus"; in: EKL? Bd. II, Göttingen 1989, Sp. 1522-1525; M. Jacobs, Art. „Liberale Theologie"; in: TRE Bd. 21, Berlin/New York 1991, S. 47-68; F. W. Graf, Art. „Liberale Theologie"; in: EKL3 Bd. III, Göttingen 1992, Sp. 86-98. 490 w Steck (ed.), Otto Baumgarten. Studien Leben und Werk (Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte Reihe II, Bd. 41), Neumünster 1986; H. v. Bassi, Otto Baumgarten. Ein „moderner Theologe" im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. u. a. 1988. 4 9 1 O. Baumgarten, Art. „Seelsorge", Sp. 558; ders., Beiträge zu einer psychologischen Seelsorge (I); in: MKP 6 (1906), S. 125.
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getheoretischen Entwürfe in einer deutlichen Spannung zueinander: Kösdin beginnt, die positioneile Sprachwelt einer bibeltheologisch geprägten Frömmigkeit zu öffnen und den zeitgenössischen Diskurs über die für die Gegenwart aufgegebenen Problemstellungen literarisch in sie zu integrieren — eine lebensgeschichtlich oder alltagspraktisch konstituierte „Teilnehmerperspektive" kommt dabei jedoch noch kaum zum tragen. 492 Ganz anders Baumgarten, dem als „Fabrikpastor" die lebensweltlichen Konkretionen von industrieller Modernisierung schon während seiner Zeit in Waldkirch sowie in Halle und Berlin zu einer solchen persönlichen Erfahrung geworden waren, daß sie nach engagiertem Handeln sowie nach praktisch-theologischer Reflexion verlangten: „die Probleme, die sich mir aufdrängen, sind vorwiegend solche der größeren oder kleineren Stadt." 493 Frühzeitig hob Baumgarten deshalb auf diejenigen perspektivischen Differenzen ab, die sich aus der unterschiedlichen regionalen Sozialstruktur sowie aus dem Grad der alltagspraktischen Einsicht in die modernen Lebensbedingungen ergeben: „Gott sei Dank, giebt es noch viele Gegenden, viele Ortschaften, wo man eine soziale Frage z. B. nicht kennt, wo man nur jene allgemeinen Gegensätze von arm und reich u. s. f. findet, denen man entgegentritt mit Worten wie: 'reiche und Arme müssen bei einander sein etc.' Allein auch diese Idylle wird bald der Vergangenheit angehören [...] — es hilft nichts, sich die Augen zu verschliessen gegen diese allerdings fatale Thatsache der steigenden Sozialisierung und Mobilisierung und Einspannung in den Grossbetrieb in Stadt und Land. Nun wird der Seelsorger einer Fabrikgemeinde wohl nicht leicht fragen, was ihn diese Revolution auf den wirtschaftlichen Gebiet angehe; ihm hat nicht erst Goehre's 'drei Monate Fabrikarbeiter' die sittlichen und kirchlichen Konsequenzen der veränderten Arbeits- und Verdienstweise aufgewiesen."494 Aus seiner inneren und äußeren Nähe zu dem dynamischen Potential einer modern werdenden Welt versteht es sich, daß Baumgarten nie eine bloße „Theorie" der Seelsorge hat entwickeln wollen: Seine Schriften sind kein Produkt akademischer Wissenschaftlichkeit, sondern wollen der positioneilen Klärung sowie der kritischen Neuinterpretation des kirchlichen Traditionsbestandes dienen - gerade um die Essenz der christ492 Ygj da^y ¿¿e autobiographischen Schilderungen bei H. A. Köstlin, Canädatenfahrten, Tübingen 1876; ders., Professor und Pfarrer Dr. H. A. Köstlin; in: G. Diegel (ed.), Denkschrift des evangeüschen Prediger-Seminars Friedberg für die Jahre 1869 bis 1885, Friedberg 1886, S. 214-230; zur Terminologie vgl. L. W. Beck, Akteur und Beobachter, Freiburg/München 1976, S. 43-82. 4 9 3 O. Baumgarten, Vreägt-Probleme, S. III; vgl. ders. Meine Lebensgeschichte, S. 15; S. 70ff. 4 9 4 O. Baumgarten, Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens" in der praktischen Theologie; in: ZprTh 14 (1892), S. 58f. 144
liehen Botschaft auch unter den Bedingungen einer „modern" werdenden Welt zur Geltung zu bringen. Baumgartens Sprache ist zugreifend und lebendig, seine Veröffentlichungen kommen fast durchweg ohne Anmerkungen aus - häufig sind es in den Druck gegebene Vorlesungen. Programmatisches Engagement gegenüber der gesellschaftlichen „Wirklichkeit" und ihren immer neuen Herausforderungen war seine Stärke und weniger die systematische Entfaltung einer Seelsorge/^ow im Sinne begrifflicher Stringenz und historischer Vergewisserung. Insofern ist die Gegenüberstellung von H. A. Köstlin und O. Baumgarten durchaus als Rekonstruktion von Seelsorgelehre traditioneller und moderner Provenienz zu verstehen: Zwei Milieus theologischer Argumentation kommen mit diesen beiden Autoren exemplarisch zur Darstellung. Damit ist zugleich der konkrete Einsatz für den weiteren Gang der beiden folgenden Kapitel benannt: Sie versuchen jene Phase, in der die Umbruchserfahrungen der pastoralen Seelsorge-Praxis in Konzeptionen zur Seelsorgelehre reflektiert werden, materiell in ihrer Problematik zu fixieren, indem zwei namhafte Autoren der Seelsorgelehre anhand ihrer praktisch-theologischen Leitbegriffe vorgestellt werden. Symbolisch verdichtet mag man sich die Unterschiedlichkeit dieser Milieus schon an der äußerlichen Charakterisierung der beiden Autoren veranschaulichen: Köstlin, den „das Musikalische in seiner Natur, das auf Ausgleichung der Dissonanzen hinstrebte"495, als warm, gründlich sowie manchmal etwas langatmig und umständlich erscheinen ließ - im Kontrast zu dem „beweglichen, immer etwas unruhigen und unzufriedenen Otto Baumgarten" 496 , der in seinem Engagement für soziale und kirchenpraktische Reformen nötigenfalls auch öffentlichen Konflikt und Widerspruch nicht scheute. Beide poimenischen Entwürfe sollen in ihren Traditionslinien sowie ihrem praktisch-theologischen Ansatz kritisch rekonstruiert und inhaltlich als Antworten auf die Herausforderungen ihrer Zeit verstanden werden, um so die Jahrhundertwende als „Kapitel" aus der Geschichte der Seelsorgelehre in ihrer Eigenständigkeit und Vielschichtigkeit neu zu würdigen und dabei zu verdeutlichen, inwiefern im historischen Kontext des „Aufbruchs in die moderne Welt" Grundfragen der Seelsorgelehre exemplarisch ihre Bearbeitung gefunden haben.
4 9 5 P. Wurster in der Todesanzeige für H. A. Köstlin; in: MPTh 3 (1906/07), S. 380. Vgl. E. Chr. Achelis, Rez. „H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge", Sp. 623f. 4 9 6 F. Rittelmeyer, Aus meinem Leben, Stuttgart 1937, S. 257.
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2. H. A. Köstlin: Seelsorge als Zudienung des Heilswortes an den Ein2elnen
2.1. Heinrich Adolf Köstän (1847-1907) „Musikalische Theologen hat es immer gegeben. Aber die theologischen Musiker sind selten. Ein solcher war Köstlin. Die Musik war ihm Lebenselement. Sie war ihm, gleich der Sprache, ebenso Gegenstand des eindringendsten zergliedernden Studiums, wie die höchste, feierlichste Gestalt des Atmens in einer höheren Geisteswelt, des Umgangs mit Gott."1 Geboren wurde H. A. Köstlin am 4. September 1846 in Tübingen. Seine — im übrigen katholische - Mutter, Josefine Caroline Lang-Köstlin (1815-1880), entstammte einer angesehenen Musikerfamilie: ihr Vater war Violonist, ihre Mutter Kammersängerin, sie selber war ebenfalls eine bekannte Sängerin und Liedkomponistin, unter anderem auch von Felix Mendelssohn-Bartholdy gefördert und freundschaftlich begleitet — Mendelssohn wurde später Pate ihres erstgeborenen Sohnes.2 Nach ihrem Tod verfaßte H. A. Köstlin einen zunächst für die Familie bestimmten Aufsatz über den wechselvollen Lebensgang dieser „Künstlerin und Mutter" Josefine Lang - daraus entstand jene Lebensskizze, die 1881 in der Sammlung musikalischer Vorträge veröffentlicht wurde. Der Vater H. A. Köstlins, Christian Reinhold Köstlin (1813-1856), war Jurist und ab 1841 Professor für Strafrecht in Tübingen, in seinem Denken stark von der Philosophie Hegels geprägt.3 Sein Vater, Köstlins Großvater, war der Theologe Nathanael Köstlin (1776-1855), der von 1812-1815 Professor der Praktischen Theologie in Tübingen gewesen K. Seil, Gedächtnisrede auf Heinrich Adolf Köstlin; in: Der 20. Deutsche Evangeliscbe Kirchengesangvereinstag %u Stuttgart am 8. und 9. Oktober 1907, Leip2ig 1907, S. 34. Zur biographischen Übersicht vgl. H. Mulert; in: RGG 1 Bd. III, Sp. 1580; P. Wurster; in: RE 3 Bd. 23, S. 780-784; K. Dienst; in: RGG 3 Bd. III, Tübingen 1959, Sp. 1718; ders.; in: BBKL Bd. 4, Herzberg 1992, Sp. 292f.; W. Breuninger (ed.), Magisterbuch 34. Folge, Tübingen 1907, S. 96; Chr. Sigel (Bearb.), Das Evangelische Württemberg 2. Hauptteil: Generalmagisterbuch (Bibliothek des EOK Stuttgart); Bibäographie der Württembergischen Geschichte Bd. 6, Stuttgart 1929, S. 294f. 2 Vgl. ADB 51 [1906], S. 345 (H. A. Köstlin); R. Sietz, Art. „Lang, Josefine Caroline"; in: MGG 8, Kassel u. a. 1960, Sp. 179f. Dazu R. Werner, The Songs of Josephine Carotine Lang. The Expression of a Life, Minneapolis 1988. 3 Vgl. ADB 16 [1882], S. 759-761; NDB 12 [1980], S. 408f. (Lit.). 1
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war, dann Oberkonsistorialrat und später Prälat und Generalsuperintendent in Stuttgart bzw. Tübingen wurde;4 seine erste Frau, die Mutter Christian Reinhold Köstlins, starb bereits 1819. Ein jüngerer Bruder von Nathanael Köstlin war der Arzt Heinrich Gotthilf Köstlin (1787-1859) er war an der Einrichtung der berühmten, 1833 eröffneten Nervenheilanstalt Winnenthal maßgeblich beteiligt; sein Sohn, ein Onkel H. A. Köstlins, war der Kirchenhistoriker Julius Kösdin (1826-1902), bekannt geworden als Mitbegründer des Vereins für Reformationsgeschichte sowie durch sein zweibändiges Werk Martin huther. Sein Leben und seine Schriften (Elberfeld 1875; 51903). Ein weiterer Bruder von Nathanael Kösdin war Gottlieb Köstlin (1785-1854), der als Lehrer am Seminar in Urach auf den jungen Johann Tobias Beck (1804-1878) prägenden Einfluß hatte.5 Im Hause Kösdin verkehrte ein Gutteil der zur damaligen gesellschaftlichen Elite Württembergs gehörenden Kreise - es war „eine sehr hoch ansehnliche, weit verzweigte und nach schwäbischer Art festzusammenhängende Familie von hochgestellten Geistlichen und Beamten".6 Dabei hatte der Jurist Christian Reinhold Köstlin zugleich dichterische Ambitionen, deren Ergebnisse er unter dem Pseudonym Christian Reinhold veröffentlichte und die im Zusammenhang der ersten Begegnungen zwischen ihm und Josefine Lang, seiner späteren Ehefrau, während eines Kuraufenhaltes in Kreuth eine gewisse Rolle spielten: Er dichtete Lieder, und sie vertonte sie.7 Die Hochzeit der beiden fand schließlich 1842 statt; die junge Familie lebte von nun an in einem Landhaus außerhalb Tübingens und war eng mit dem dortigen gesellschaftlichen Leben verbunden, wie z. B. Josefine Lang-Kösdin über lange Jahre mit Friedrich Silcher bis zu dessen Tod 1860 - befreundet war.8 Heinrich Adolf Kösdin nun - es gab neben ihm noch drei ältere Brüder sowie zwei jüngere Schwestern — war zunächst von schwächlicher körperlicher Konstitution, hatte jedoch in seiner Familie eine schützende Atmosphäre der Geborgenheit und Förderung, die einen wesendichen 4 Vgl. J. Köstlin, Art. „Köstlin: Nathanael Friedrich" in: ADB 16 [1882], S. 759; D. Rössler, Prolegomena zur Praktischen Theologie; in: ZThK 64 (1967), S. 357. Dazu R. Kübel, „Beck, Johann Tobias"; in: RE2 Bd. 17, Leipzig 1886, S. 693-706; B. Riggenbach, Johann Tobias Beck. Ein Schriftgelehrter ^um Himmelreich gelehrt, Basel 1888; K. W. E. Knodt, J. T. Beck. Eine Säkularerinnerung; in: HWDH 27 (1904), S. 439447, 502-508, 564-587; K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Berlin 3 1961, S. 562-569; H.-M. Wolf, Art. „Beck, Johann Tobias"; in: TRE Bd. 5, Berlin/New York 1980, S. 393f. 5 Vgl. J. Köstlin, Art. „Köstlin, K. W. Gottlieb K."; in: ADB 16, S. 737; H. A. Köstlin, Rez. „B. Riggenbach johann Tobias Beck"; in: ThLZ 13 (1888), Sp. 380f. 6 H. A. Köstlin, Josefine Lang, Leipzig 1881, S. 74; vgl. NDB 12 [1980], S. 407f.; M. Köstlin, Das Buch derFamiäe Köstlin (als Manuskript gedruckt), Stuttgart 1931. 7 Vgl. H. A. Köstlin, Josefine Lang, S. 68ff. 8 Vgl. H. A. Köstlin, Carl Maria von Weber. Friedrich Silcher, Stuttgart 1877, S. 46.
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Ausdruck in der Musik und im gemeinschaftlichen Musizieren fand. Im Rückblick schreibt Köstlin dazu: „Wehmut überkommt mich, wenn ich unserer Familienkoncerte gedenke, da wir 4 Brüder Streichquartett spielten, Mutter und Schwestern mit den hellen, süßen Stimmen sangen und die Vögel in den Zweigen vor den Fenstern mitjubilirten. Kein noch so schönes Koncert hat mir später so das Herz bewegt, wie diese reine, herrliche Hausmusik [...]."9 Doch diese frühe häusliche Harmonie, durch welche Köstlin seine Jugend retrospektiv „von dem Goldschimmer der Tonkunst umsäumt und verklärt" 10 sah, erfuhr schon bald jähe Einbrüche: Selber kaum zehnjährig, starb sein Vater, der aufgrund von zunehmender Heiserkeit bzw. Stimmlosigkeit bereits seit 1853 seine Vorlesungstätigkeit hatte aufgeben müssen, 1856 an einem Lungen- bzw. Halsleiden; zudem mußte Köstlins ältester Bruder 1860 geisteskrank in die Heilanstalt Winnenthal eingewiesen werden — während der Zweitälteste bereits seit einigen Jahren an einer schleichenden „skrophulösen Krankheit" litt. 11 Erwähnt sei diese Leidensfolge, weil Köstlin sie mit seinem Entschluß, Theologie zu studieren, durchaus in Verbindung brachte: „Daß ich die brennende Liebe zur Musik zurückdrängte, um das Landexamen zu bestehen, war nur natürlich: der älteste im Irrenhaus, der zweite damals schon auf Krücken angewiesen, die Mutter oft krank - das waren ernste Winke." 12 Soziale und seelsorgerliche Aspekte vermengen sich hier in der Motivation, eine „Stütze" für die Familie sein zu wollen. So schreibt Köstlin, der nach der Typhus-Erkrankung des dritten Bruders 1867 gleichsam zum männlichen „Haupt der Familie"13 geworden war, über seinen geisteskranken ältesten Bruder: „Seit 1860 führte mich die traurige Pflicht etwa 6-8 Mal in jedem Jahre in die Irrenanstalt Winnenthal. Sieben Jahre hindurch habe ich da in den tiefen Jammer hineingeschaut, der sich hinter den Mauern einer Irrenanstalt verbirgt, damals, weil viel zu jung und unerfahren, ohne die Freiheit des Blicks und ohne die objektive Überlegenheit, welche den Arzt wie den Seelsorger über den Anblick des Elends hinaushebt, vielmehr mit so starker Anteilnahme des Gemüts, daß ich 1862 ein nervöses Fieber davontrug, welches mir bleibende Spuren gelassen hat. Mächtigen Trost und Halt gewährte mir jedesmal die priesterliche Gestalt des unvergeßlichen Albert Zeller, des leitenden Anstaltsarzts: er war ein ächter Seelenarzt, dessen feingestimmte, tief religiöse Persönlichkeit weiten Kreisen durch die 'Lieder des Leids' nahegekommen ist. Der
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H. A. Köstlin, Professor und Pfarrer Dr. H. A. Köstlin, S. 216. Ebd. H. A. Köstlin, josefine Lang, S. 83, 85f.; dazu ders., Canädatenfahrten, S. 59-65. H. A. Köstlin, Professor und Pfarrer Dr. H. A. Köstlin, S. 219. A. a. O., S. 223.
schwere Ernst des Lebens, der mir bei diesen Besuchen vor die Seele trat, hat in mir die Liebe zu dem Berufe des Seelsorgers wach erhalten und gestärkt."14 Nach seiner vierjährigen Seminarzeit in Schönthal unter dem damaligen Ephorus Eduard Elwert (1805-1865)15 nahm Kösdin sein Theologiestudium in Tübingen auf.16 Seine thematischen Interessen lagen - neben der Teilnahme am musikalischen Leben - zunächst in den vorgeschriebenen philosophischen Studien (bei Christoph Sigwart [1830-1904] sowie Otto und Edmund Pfleiderer), die ihm mit ihrer Ausrichtung auf gedankliche Durchdringung und begriffliche Klarheit eine geradezu seelsorgerliche Erfahrung wurden. So erinnert er sich in bezug auf seine intensive JungStilling Lektüre: „es legte sich mir, da mich die Theorie der Geisterkunde', die 'Scenen aus dem Geisterreich' besonders beschäftigten, ein mystischer Nebel über das Gemüt und doch mochte und konnte ich nicht darüber reden aus falscher Scham. Da war es mir, als ich in die Philosophie hineinkam, als teilten sich die Nebel; ich atmete, wie von bösem Drucke befreit, auf." 17 Auch nach Beendigung des Studiums war es vor allem der „innere Vorrat" an philosophischer Bildung, von welchem er sich ein hinreichendes Maß an „Orientierungspunkten" für die zukünftige Amtspraxis erhoffte.18 In Köstlins eigener Rückschau auf seine Ausbildung wird deutlich, wie wenig ihn anfänglich die eigentlich theologischen Inhalte als vielmehr die Persönlichkeiten der sie vortragenden Lehrer beeindruckt und geprägt haben - er nennt dabei insbesondere Christian Palmer, mit dem er auch hinsichdich der musikalischen Neigungen sehr verbunden war, sowie Johann Tobias Beck, den berühmten Vertreter des vor allem in Württem14 A. a. O., S. 223f. Zur medizinisch-seelsorgerlichen Arbeit in dieser Anstalt vgl. Anonym, Lichtblicke im Umgang mit Gemüthskranken; in: AELKZ 24 (1891), Sp. 897-899, 921-923, 945-947, 971-973, 998-1000. 15 Vgl. E. Elwert, Nachrichten über den vierjährigen Kursus von 1860-1864; in: Programm des Königlich Württembergischen Evangelisch-Theologischen Seminars Schönthal, Tübingen 1864, S. 29-31; R. Kübel; in: RE2 Bd. 4, Leipzig 1879, S. 194-197. Außerdem H. A. Köstlin, Zur Reform der niedern Seminare; in: EKSW 30 (1869), S. 43f., 5053; ders., Die musikalische Bildung der Theologen; in: a. a. O., S. 239-245; ders., Zur Theologenerziehung; in: MPTh 2 (1905/06), S. 305-308 - eine Rez. von Hermann Hesses Unterm Rad - , bes. S. 307. 16 Eine Übersicht über Köstlins Vorlesungsbesuch findet sich im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart (Bestand A 27, Nr. 1756,1); dort finden sich auch die Aktenstücke zu seinen theologischen Prüfungen. Zur stiftungsmäßigen Einrichtung der Württemberger Seminare sowie zum Studienbetrieb in Tübingen vgl. P. Wurster, Das kirchliche Leben in Württemberg, S. 182-197; H. Hermelink, Geschichte der Evangelischen Kirche in Württemberg von der Reformation bis %ur Gegenwart, Stuttgart/Tübingen 1949, S. 408-415. 17 H. A. Köstlin, Professor und Pfarrer Dr. H. A. Kösdin, S. 222. 18 Vgl. a. a. O, S. 224.
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berg beheimateten „biblischen Realismus". Abgesehen von der theologischen bzw. historischen Wissensvermittlung blieben ihm - so Köstlins eigene spätere Einschätzung — die argumentative Richtung sowie der systematische Gestaltungswille seiner Dozenten vielfach fremd. Beck's Vorlesungen etwa habe er ohne nennenswerte innere Beteiligung mitgeschrieben und ordnungsgemäß „in der Colleg-Mappe nach Haus" getragen;19 ihr gedanklicher Gehalt sei ihm dagegen oft erst im Nachhinein aufgegangen — und hat sich, so ist hinzuzufügen, später durchaus erkennbar in seinen eigenen Publikationen niedergeschlagen. In bezug auf J. T. Beck konnte Köstlin deshalb mit Recht sagen, daß „der Kreis derer, welche dieses kraftdurchwehten Charakters noch jetzt mit lebendiger Pietät gedenken und seine Worte in mancher schwierigen Lage sich vergegenwärtigen", durchaus weit größer sei als der Kreis derer, die sich als theologische Schüler und Freunde Beck's sein „biblisches System" angeeignet haben.20 Köstün resümiert: „man konnte also der Theologe Beck's im eigentlichen Sinne als Zuhörer ablehnend gegenüberstehen und dennoch von dem heiligen Wahrheitsernst, der seinen Vortrag durchwehte, vom dem imponirenden Charakter, der dahinter stand, von der sittlichen Hoheit und Strenge, mit welcher er sich unmittelbar an den Wahrheitssinn und an das Gewissen wandte, immer wieder mächtig angezogen, ja hingerissen fühlen, so daß man trotz aller theoretischen Vorbehalte und vielleicht nach längerem grundsätzlichen Wegbleiben doch wieder kam und sich zu seinen Füssen setzte."21 Im August 1868 bestand Kösdin seine Kandidatenprüfung in Tübingen mit „gut". Seinen musikalischen Interessen sowie seiner aufrichtigen Bewunderung für das dramatische Werk Richard Wagners folgend, widmete er sich während des sich nun anschließenden Vikariates in Weilheim der Anfertigung einer längeren musikalisch-ästhetischen Abhandlung, mit der er sich am 26. Februar 1869 bei der Tübinger philosophischen Fakultät um die „Ertheilung der Doktorwürde" bewarb.22 Die gut 200 Seiten starke Schrift, die Köstlin unter dem Titel Die Aufgabe der modernen Tonkunst. Ästhetische Ski^e %um Verständnis der neuen Tondichtung zur Beurteilung einreichte und die er „den Jüngern und Verehrern der ernsten Kunstrichtung unter Künstlern und Laien mit warmer Sympathie zugeeignet" wissen wollte, fand im Kreis des Fakultätskollegiums jedoch nicht die nötige Zustimmung. Der Erstgutachter Karl von Köstlin (1819-1894), ein ent-
A. a. O., S. 223. H. A. Köstlin, Rez. „B. Riggenbach, Johann Tobias Beck"; in: ThLZ 13 (1888), Sp. 378. 21 Ebd. Dazu J. T. Beck, Gedanken aus und nach der Schrift für christüches beben und geistliches Amt, Frankfurt a. M./Erlangen 1859. 22 Vgl. dazu die entsprechenden Aktenstücke aus dem Universitätsarchiv Tübingen (UAT 131/18b Nr. 25). 19
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fernter Verwandter H. A. Köstiins und Professor der deutschen Literatur und Ästhetik, hatte allzu deutlich die eher emotionale und enthusiastische Grundtendenz der vorgelegten Arbeit herausgestrichen und deshalb unbeschadet seiner persönlichen Stimmenthaltung sowie seines späteren öffentlichen Eintretens für Wagner 23 - von einer Annahme dieser Promotionsschrift abgeraten. In seinem Gutachten bemängelt er hinsichtlich Köstiins allzu unkritischer Begeisterung: „Diese Selbstentäußerung [...] verhindert, aus dem Zauberkreis der W.[agner]'schen Gedankensphäre so herauszutreten, daß er ihr gegenüber wenigstens formell eine Objektivität des Räsonnements erlangt hätte, durch welche er wirklich fähig geworden wäre[,] seinerseits 'zu ihrem Verständniß' beizutragen, und sie hat ihn desgleichen daran gehindert, sein eigenes 'Hinausgehen über W.[agner]' bestimmt zu formulieren und Ernst damit zu machen (weil er, wenn er sich dazu ermannt hätte, seinem Abgott stärker hätte gegenübertreten müssen [...])." Einige Jahre nach dieser herben Enttäuschung hat Kösdin das von ihm zusammengetragene Material überarbeitet und - wenn auch nur in Aufsatzform - anläßlich der Einweihung des Bayreuther Festspielhauses veröffendicht. 24 Zunächst ging er jedoch 1869/70 für ein Jahr nach Paris als Erzieher in das Haus des württembergischen Gesandten Baron von Wächter. Beides — den „Ernst des Ueberganges" vom Studium ins Vikariat sowie die Hauslehrertätigkeit in der „verführerischen Weltstadt" — hat Kösdin literarisch in den Candidatenfahrten verarbeitet, die 1875 zunächst anonym erschienen. Der „Glanz der Großstadt", in den er nun eintauchte, sowie die „interessante [n] Männer aller Berufsarten" 25 , denen er in dieser neuen Umgebung begegnete, faszinierten und erfüllten ihn seine Pariser Tagebücher zeigen ihn entsprechend als einen kulturell und politisch vielseitig interessierten Mann mit weitem Horizont, wenngleich er nicht umhin konnte, diese „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" (W. Benjamin) in kritischer Metaphorik mit dem „modernen Babel" zu identifizieren. 26 In den Candidatenfahrten wirft er sich selber vor, daß sein Tagebuch aus jener Zeit allzusehr „dem Feuilleton eines Journals" glich: „der strenge Geist der 23 Vgl. K. v. Köstlin, Richard Wagner's Tondrama: Der Ring der Nibelungen. Seine Idee, Handlung und musikalische Komposition, Tübingen 1877. Dazu C. Dahlhaus, Art. „Köstlin, Karl Reinhold von"; in: MGG7, Kassel u. a. 1958, Sp. 1394f. 24 Vgl. H. A. Köstlin, Richard Wagner und sein Bühnenfestspiel zu Bayreuth; in: Staatsan^eiger für Württemberg!Uterarische Beilage 1876, S. 246-254, 264-272, 284299, 305-316, 321-330. 25 H. A. Kösdin, Professor und Pfarrer Dr. H. A. Kösdin, S. 225. 26 H. A. Kösdin, Briefe aus dem modernen Babel; in: EKSW 31 (1870), S. 70, 99f., 124-127,171-174.
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Selbstbeobachtung und Selbstkritik verlor sich mehr und mehr daraus." Die Ursache dafür sah er im „Fluch des Genußlebens der großen Städte", das „Hunger zurückläßt trotz der Uebersättigung".27 Gleichwohl war diese Zeit für seinen theologischen Werdegang auch von positiver Bedeutung, „die Erzieherthätigkeit mit ihren vielfach demütigenden, aber auch reinigenden Erfahrungen hat mich dem Seelsorgerberuf wieder vollständig gewonnen: als Arbeit an der eigenen Seele und als Arbeit an der Seele des Nächsten lernte ich nun meinen Beruf erfassen; der unendliche Wert Einer Seele war mir aufs Gewissen gefallen und aufgegangen: alles rückte nun in ein neues Licht: was mir früher nebensächlich vorgekommen war, gewann entscheidende Bedeutung, was mir früher das Wesendiche geschienen, trat zurück, die ganze Weltund Selbstbetrachtung verschob sich zu Gunsten der theologischen Weltansicht."28 Ohnehin im Zweifel über die Tragfähigkeit seiner musikalischen Begabung, verzichtete er endgültig auf ein Musikstudium bzw. eine musikalische Karriere. Vielmehr war er sich nunmehr sicher, daß „der Beruf zu trösten, zu helfen, wo es Elend gibt, Licht zu zeigen, wo es dunkel ist" ihm am ehesten entspreche: „Ich will den Menschen in mir, den Gott in mir angelegt hat, ausbilden." 29 Kaum aus Paris zurückgekehrt, zog er am 28. Juli 1870 als Feldprediger der 2. württembergischen Feldbrigade in den deutsch-französischen Krieg, wo er sich das Eiserne Kreuz sowie den Friedrichsorden erwarb. In seinen Tagebüchern notierte er dazu: „17. April. General Obernitz überreicht mir auf der Straße unter den beschämendsten Worten das Eiserne Kreuz. Hunderte haben es mehr verdient. Aber ich trag es gerne, weil ich dankbar bin, den Feldzug 1870 mitgemacht zu haben." 30 Dabei lag für ihn ein besonderer Akzent auf der persönlichkeitsbildenden Erschließungskraft der Kriegseindrücke: „Der unmittelbare und tägliche Verkehr mit dem Soldatenstande erst unter den Eindrücken des Krieges, später unter dem anbrechenden Sonnenschein des Friedens, der angestrengte Dienst in den Lazarethen erst vor Paris, dann in Rheims in Verbindung mit einer Fülle sonstiger Erfahrungen und Beobachtungen, H. A. Köstlin, Canädatenfahrten, S. 102,100; vgl. S. 118. H. A. Köstlin, Professor und Pfarrer Dr. H. A. Köstlin, S. 225. 29 Aus einem Pariser Tagebuch Heinrich Adolf Köstlins f ; in: Staats-Anzeigerfür Württemberg/Literarische (Besondere) Beilage 1910, S. 61. 30 H. A. Köstlin, Aus meinem Feldpredigerleben. 1870-1871; in: Staats-Anzeiger für Württemberg/Literarische (Besondere) Beilage 1910, S. 323 (posthum veröffentlicht). Dazu die stilisierte Abschiedsszene in ders., Im Felde. Bilder und Erinnerungen aus dem Jahre 1870/71, Friedberg 1886, S. 1: „Noch klingt dir im Ohr das letzte Wort, noch fühlst Du den letzten Händedruck in der Hand! 'Halt dich brav und bring' das eiserne Kreuz mit!' hat der Vater gesagt - und still, mit den Thränen kämpfend hat die Mutter dazu dich angeblickt, denn Mutterliebe ist halt doch noch stärker als Vaterlandsliebe [...]." 27 28
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wie Sie eine so bewegte Zeit jeden machen läßt, der nicht stumpf an den Ereignissen vorübergeht, konnten eine Vorlesung über Tastoraltheologie' aufwiegen." 31 Denn die extremen Bedingungen des Kriegsalltags verlangten von den Feldgeisdichen eine besondere Flexibilität, um sich während des Einsatzes den wechselnden Bedürfnissen und unvorhersehbaren Anforderungen situativ anverwandeln zu können: „Raschheit der Orientierung, liturgische Beweglichkeit und Formbeherrschung, Schlagfertigkeit im Gedankenausdruck, Bestimmtheit und Kürze der Rede sind darum Grunderfordernisse für den Feldprediger." 32 Seine Aufgaben liegen einerseits in der Begleitung von Verwundeten und Sterbenden, andererseits im Abhalten von Feldgottesdiensten, wobei Köstlin hinsichtlich solchen Glaubensbeistandes „im Felde" herausstreicht: „Der Gottesdienst wird im Kriegslager wie ein Stück Heimat empfunden, der Mann im Talar steht vor den Soldaten wie ein verkörperter Gruß von daheim. In erhöhtem Maße gilt daher von der Wortverkündigung im Felde, daß sie nicht tendenzmäßige Standes- und Kriegspredigt sein soll, sondern Darbietung des Evangeliums zu der Lage. Der Feldprediger hat nicht die Aufgabe, den 'militärischen Geist' zu pflegen, noch weniger 'zum Kampf zu begeistern' das ist Sache der Offiziere. Er hat die Aufgabe, den Kriegsdienst in das Licht christlicher Pflichterfüllung zu rücken, die schweren Aufgaben, die der Kriegsdienst dem Manne vorzeichnet und die er zunächst mit dem Evangelium nicht in Einklang bringen kann, durch dieses zu beleuchten, zur christlichen Auffassung und Erfüllung derselben zu helfen, die mannigfachen Vorkommnisse des Kriegslebens, Sieg und Niederlage als Worte Gottes an das Gewissen des Volkes zu deuten."33 Neben dieser Aufgabe der pastoraltheologischen Begleitung und religiös-sittlichen Interpretation des Kriegsgeschehens legt Köstlin einen wesentlichen Akzent auf das Erfordernis der individuellen christlichen Stärkung: „hier, wo es gilt, die Kraft des Leibes, des Geistes, des Gemütes bis an die Grenze des Möglichen anzuspannen, kann am wenigsten die Kraft entbehrt werden, die den Menschen an der Wurzel des inneren Lebens stärkt, ihm Recht und Möglichkeit gibt, alles, was die Schlagkraft lähmt und die Todesfreudigkeit niederhält, alle Sorgen, die Gemüt und Gewissen bedrücken, entschlossen auf die Seite zu legen, und damit ihn befähigt, der Ewigkeit mit Ruhe ins Gesicht zu schauen."34 Erinnerungen und Eindrücke aus dieser durchaus als vaterländische Aufgabe begriffenen Zeit wurden später von Köst31 H. A. Köstlin, Professor und Pfarrer Dr. H. A. Köstlin, S. 226; vgl. ders., Rez. „G. Hammon, Einiges aus dem Tagebuche eines Feldgeistlichen im Kriege 1870/71"; in: ThLZ 13 (1888), Sp. 100; ders., Rez. „Edm. Pfleiderer, Erlebnisse eines Feldgeistlichen im Kriege 1870/71"; in: a. a. O. 15 (1890), Sp. 459f.; ders., Rez. „Fricke, Aus dem Feldzuge 1866"; in: a. a. O. 16 (1891), Sp. 483f. 32 H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 298. 33 A. a. O., S. 296. 34 A. a. O., S. 295. Dazu ders., Aus ernsten Tagen. Eine Reihe von Feldpredigten, Stuttgart 1871; O. Straub, Die evangelische Seelsorge bei dem Kriegsheer, Berlin 1870.
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lin zu Vorträgen verarbeitet und in Predigten bzw. Festreden gleichsam zivilreligiös gewürdigt - so etwa in der Predigt %ur erstmaligen Feier des Geburtsfestes Kaiser Wilhelm L, gehalten in Rheims 22. März 1871: „Für uns Schwaben aber ist es noch ein ganz besonderer Tag. Ist es doch heute das erste Mal, daß wir diesen Tag in Gemeinschaft mit allen unseren Volksgenossen [...] als Vollbürger des Reiches begehen dürfen, nachdem wir das Vollbürgerrecht uns redlich erstritten haben durch treue Hingebung an des einen Reiches heilige Sache, und nachdem dies Vollbürgerrecht ist besiegelt worden durch das Herzblut der edelsten Blüte unseres Stammes."35 Auch Köstlins Rede bei der 25jährigen Gedächtnisfeier der Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches, gehalten am 19. Januar 1896, zeigt ihn - entgegen der allgemeinen Tendenz zum „Kriegskatzenjammer" — in ungebrochenem National- und Kaiserstolz, der ihn insbesondere die parteiüberbergreifende Einigungskraft des Deutschen Reiches herausstreichen läßt: „Wir wollen es geloben: treu und unentwegt zu stehen zu Kaiser und Reich, in Kampf und Arbeit, mit Gut und Blut, — das Vaterland höher zu halten, als die Partei, welche es auch sei, - in jedem Bürger, was uns von ihm sonst scheidet, den Deutschen zu ehren und nie zu übersehen, mit Hand anzulegen zu allem Guten in Brüderlichkeit und Treue!"36 Nachdem Köstlin im Sommer 1872 seine Zweite Theologische Dienstprüfung ebenfalls mit „gut" abgelegt hatte, heiratete er am 10. März 1873 Sofie Gerok (1847-1930), eine Tochter des Oberhofpredigers Karl Gerok (1815—1890)37. Vier Jahre später wurde die Tochter Therese (18771964) geboren, die einem größeren Leserkreis durch ihre Gedichtveröffentlichungen in zeitgenössischen literarischen Zeitschriften bekannt wurde. 38 Von 1871 bis 1873 war Köstlin Repetent am Tübinger Stift. Dort hielt er im Wintersemester 1872/73 eine Vorlesung über die „Geschichte der Tonkunst", aus welcher seine 1875 erschienene Geschichte der Musik im Umrißfür die Gebildeten aller Stände hervorging — mit diesem Werk sollte es Köstlin schließlich doch noch gelingen, an der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen den Doktortitel zu erwerben. Sein diesbezügliches Gesuch vom 12. März 1877 wurde im Kollegium einstimmig positiv beschieden, gerade auch unter Hinweis auf Köstlins ersten, fehlge-
H. A. Köstlin, Predigten und Reden, S. 233-236, hier: S. 233f. A. a. O., S. 239-246, hier: S. 246; vgl. ders., Rez. „Z. v. Reuß, Zurückgeblieben in Feindesland"; in: DLBl 1 (1878/79), S. 127; ders., Zeitrede zur Gedächtnißfeier der Kämpfe vom 30. November 1870 zu Ulm auf der Wilhelmsburg am 30. November 1871; in: V. F. Oehler (ed.), Evangelische Casualreden, S. 632-636. 37 Vgl. G. Gerok, Karl Gerok. Ein Lebensbild aus seinen Briefen und Aufzeichnungen (1892), Stuttgart 2 1905; dazu ADB 49 [1904], S.307-315; NDB 6 [1964], S.314f. 38 Vgl. G. A. Gerok, Art. „Köstlin, 4. Therese"; in: RGG2- Bd. III, Tübingen 1929, Sp. 1139. 35
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schlagenen Versuch aus dem Jahre 1869.39 Die im Fach Ästhetik eingereichte Arbeit erhielt das Prädikat „cum laude", zugleich bekam Köstiin die venia legendi verliehen. Seine in diesem zweiten Promotionsverfahren vorgelegte Geschichte der Musik sollte im übrigen zu Kösdins erfolgreichster Publikation werden - sie wurde in 6. Auflage noch 1910 herausgegeben, doch war sie in musikwissenschaftlicher Hinsicht trotz ihrer Popularität keineswegs unumstritten. Treffend pointiert E. Bernoulli in seiner Rezension der 5. Auflage: „Das Ganze möchten wir etwa vergleichen mit einer vollgepfropften Ledertasche, in der nicht stets der passendste Raum benützt werden konnte, wo das und jenes vergessen und auch etwa einmal Überflüssiges wenig praktisch eingepackt wurde. Will man reisen, so bedarf man ihrer doch, da nichts schwerfälliger ist, als Kisten und Koffer. "40 Während seiner pfarramtlichen Tätigkeit in Sulz a. N. (1873-1875), in Maulbronn (1875-1878), in Friedrichshafen (1878-1881) sowie in Stuttgart (1881-1883) 41 trat Köstlin zunächst durch seine regelmäßige Mitarbeit in der von Victor Friedrich Oehler herausgegebenen Zeitschrift „Halte was du hast" hervor, für die er vom ersten Jahrgang an Predigtmeditationen bzw. Beispiele von Kasualreden beisteuerte — ebenso wie für die homiletische Vierteljahrsschrift ,Mancherlei Gaben und Ein Geist". Letztere wurde seit 1861 von dem Pfarrer Emil Ohly (1821-1890) herausgegeben und wollte auf der Grundlage eines „positiven biblischen Christenthums" ein periodisches Hilfsbuch zur Vorbereitung der sonntäglichen Perikopen-Predigt sowie „Materialien zu casuellen Predigten und Reden" bieten. 42 Außerdem veröffendichte Köstlin in diesen Jahren eine Reihe von kleineren Aufsätzen in der Musikzeitschrift Euterpe sowie in der Allgemeinen Zeitung, welche sich vorwiegend musikalischen Tagesfragen widmeten. Eine überregionale Bedeutung sollte Kösdin bald durch seine maßgebliche Beteiligung an der Förderung des gemeindlichen Kirchenchorwesens, insbesondere an der Neuorganisation des freiwilligen Chordien-
39 Vgl. hierzu die entsprechenden Aktenstücke aus dem Universitätsarchiv Tübingen (UAT 131/29b Nr. 29).
E. Bernoulli, Rez. „Heinr. Adolf Köstän, Geschichte der Musik im Umriß"; in:
MGKK5 (1900), S. 114. Dazu vgl. R. v. Liliencron; in: DLBll (1884/85), S. 9f., 14f.; H. Bellermann; in: DUZ 6 (1885), Sp. 90-92; H. A. Köstlin, Pro domo; in: DLBl 8 (1885/86), S. 5f. 41 Die Personalakten aus Köstlins Amtsjahren im Württembergischen Dienst finden sich im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart (Bestand A 27, Nr. 1756, 2) - die Pfarrstellenwechsel sind ebenfalls im Evangelische Kirchen(- und Schul)blatt für Württemberg belegt. 42 Vgl. E. Ohly, Vorwort; in: MGEG 1 (1861) pl863], S. III-VI. 155
stes, erlangen.43 Dieses Interesse hatte ihn 1875 in Sulz zunächst zur Zusammenarbeit mit ähnlichen Bestrebungen in den Nachbarstädten Calw und Nagold sowie zur gemeinsamen Ausrichtung von Kirchengesangfesten geführt, woraus am 21. September 1877 die Gründung des Evangelischen Kirchengesangvereins fiir Württemberg hervorging.44 Dem konstituierenden Ausschuß dieses kleinen Vereins gehörten neben Köstlin der Dekan Mezger (Calw), die Schullehrer Roos (Calw), Dölker (Nagold), Brennle (Sulz), Eide (Maulbronn) sowie der Seminarmusiklehrer Eberle (Maulbronn) an. 1881 entstand, auf Initiative von H. A. Köstlin und Ludwig Hallwachs (1826-1903), der hoher Staatsbeamter und zugleich Vorsitzender des örtlichen Evangelischen Kirchengesangvereins Darmstadt war und den Köstlin 1878 in Maulbronn kennengelernt hatte, der Evangelische Kirchengesangverein für Südwestdeutschland.45 Auf dem ersten überregionalen deutsch-evangelischen Kirchengesangvereinstag, der 1882 in Stuttgart abgehalten wurde, hat sich Köstlin sodann - als Korreferent von Theophil Becker - programmatisch zu den Zielen und Aufgaben der Kirchengesangvereine geäußert: Er hebt dabei die Bedeutung des Gesangs neben Predigt und Liturgie hervor und betont die Notwendigkeit der Organisation von Kirchenchören sowie die Aufgabe heranführender musikalischer Erziehung.46 Am 27. September 1883, auf dem zweiten deutsch-evangelischen Kirchengesang-Vereinstag, wurde schließlich der Evangelische Kirchengesangverein für Deutschland gegründet, dessen stellvertretender Vorsitzender bzw. - nach dem Ausscheiden von Hallwachs im Jahre 1901 — dessen Vorsitzender Köstlin war. 47
43 Vgl. H. A. Köstlin, Art. „Kirchengesangsverein"; in: CKL Bd. I, Calw/ Stuttgart 1891, S. 932f.; ders., Art. „Kirchengesangvereine, evangelische" in: RE3 Bd. 10, Leipzig 1901, S. 367-376; ders., Ubersicht über die Entwicklung der evangelischen Kirchengesang-Vereine in Deutschland; in: MPTh 2 (1905), S. 80-87. Dazu J. Smend, Art. „Kirchengesangvereine, evangelische"; in: RGG1 Bd. III, Sp. 12561260; W. Blankenberg, Art. „Kirchenchorwesen"; in: RGG3 Bd. III, Sp. 1416f.; C. Mahrenholz, 75 Jahre Verband evangelischer Kirchenchöre Deutschlands; in: Musik und Kirche 29 (1959), S. 1-19; G. A. Krieg, Die gottesäenstlicbe Musik als theologisches Problem, Göttingen 1990, S. 71-74. 44 Die Statuten des Vereins wurden publiziert im EKSW 39 (1878), S. 4-7. 45 Vgl. L. Hallwachs, Der evangelische Kirchengesangverein für Südwestdeutschland; in: Euterpe 41 (1882), S. 6-8; F. Zimmer, Die deutschen evangelischen Kirchengesangvereine der Gegenwart in ihrer Entivickelung und Wirksamkeit nach urkundlichen Quellen dargestellt, Quedlinburg 1882. Außerdem K. Seil, Ludwig Hallwachs f ; in: MGKK8 (1903), S. 43-47. 46 Vgl. H. A. Köstlin, Ueber die nächsten Ziele und Aufgaben der Kirchengesang-Vereine; in: Der erste deutsch-evangelische Kirchengesang-Vereinstag Stuttgart am 3. und 4. October 1882, Stuttgart 1882, S. 34-51. 47 Zum Verein und seiner Geschichte vgl. die Denkschriften der Kirchengesangvereinstage sowie die Ubersicht 50 Jahre Evangelischer Kirchengesangverein für Deutschland
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Rückblickend analysiert Karl Seil nicht ohne zivilreligiösen Stolz: „Es ist der in der Befreiungszeit geborene christlich-nationale volksfreundliche Sinn, der diese Bewegung geschaffen hat."48 Demgegenüber streicht Köstlin zur nüchternen Würdigung seiner eigenen Leistungen heraus: „Neu war nicht sowohl die Gründung von Kirchengesangvereinen als Einzelchören, sondern die bewusste Zusammenfassung der bis dahin vereinzelten, von der Liebhaberei einzelner Persönlichkeiten abhängigen Bestrebungen zu einem festen Organismus, genauer die planmässige Organisation des freiwilligen Chordienstes als einer Sache der evangelischen Kirche, als eines Dienstes, zu dem den einzelnen der Besitz der Gabe verpflichtet, und auf den die Gemeinde als solche Anspruch hat."49 In diesem Sinne hat Köstlin über Jahrzehnte an der verbandsmäßigen Organisation des Kirchenchorwesens mitgearbeitet, wozu neben den jährlichen Kirchengesang-Vereinstagen sowie der Arbeit des Zentralausschusses auch Veröffentlichungen zur Bedeutung von Musik in Kirche und Schule gehörten. 50 Daneben hat Köstlin von 1884 an die Zeitschrift Halleluja. Organ für die geistliche Musik in Kirche, Haus, Verein und Schule redigiert; aus finanziellen Gründen mußte dieses Blatt jedoch bereits 1886 sein Erscheinen wieder einstellen. Außerdem sind in diesem Zusammenhang einschlägige Lexikonartikel in der dritten Auflage der Realensyklopädie^, Köstlins ausgedehnte Rezensionstätigkeit vor allem im Deutschen
1883-1933, hgg. vom Vorstand im Zentralausschuß (= E. Becker, F. Flöring, J. Plath), Essen 1933. 48 K. Seil, Ein Willkommensgruß dem deutschen evangelischen Kirchengesangvereinstag in Leipzig; in: MGKK 3 (1898), S. 251. 49 H. A. Köstlin, Rez. „G. Rietschel, Lehrbuch der Liturgik, I. Band"; in: ZprTh 22 (1900), S. 272; dazu G. Rietschel, Lehrbuch der Liturgik Bd. 1, S. 476f. 50 Vgl. H. A. Köstlin, Der Gesangsunterricht in er Volksschule; in: Neue Blätter aus Süddeutschland 2 (1873), S. 312-327; ders., Zur Frage über die musikalische Ausbildung der Volksschullehrer, in: Süddeutscher Schul-Bote 40 (1876), S. 145-147; ders., Die Musik als christliche Volksmacht (ZCVL V/5), Heilbronn 1880 - zutreffend charakterisiert in der Rez. durch E. Engelhardt; in: GuZ 23 (1881), S. 166f.: „Sie richtet sich an jene Lehrer, die sich gegen methodischen Gesangunterricht wehren, weil sie meinen, Gesang sei nur das dem Amüsement dienende Fach, und zeigt ihnen, wie der [...] Gesang ein ganz bedeutendes Mittel der Disciplin und Concentration bilde, vor allem aber belebend auf das Gemüth und die Phantasie einwirke." Außerdem H. A. Köstlin, Luther als der Vater des evangelischen Kirchengesanges (Sammlung musikalischer Vorträge 34), Leipzig 1882; ders., Über das Kirchliche in der Musik; in: Corresponden blatt des evangelischen Kirchengesangvereins für Deutschland 4 (1890), S. 1-5, 13-18. Insgesamt E. Becker, Die ersten 25 Jahre; in: 50 Jahre Evangelischer Kirchengesangverein für Deutschland, S. 28-32, 97f. 51 Vgl. H. A. Köstlin, Art. „Kirchenmusik"; in: Bd. 10, Leipzig 1901, S. 443458; Art. „Magnifikat"; in: Bd. 12, Leipzig 1903, S. 71-75; Art. „Miserere"; in: Bd. 13, Leipzig 1903; Art. „Orgel"; in: Bd. 14, Leipzig 1904, S. 428-436; Art. „Psalmodie"; in: Bd. 16, Leipzig 1905, S. 218-226; Art. „Requiem"; in: a. a. O., S. 66S-669; Art. „Te Deum"; in: Bd. 19, Leipzig 1907, S. 465-469 u. a. m. 157
Utteraturblatt52 sowie eine Reihe weiterer Schriften zur Musik, insbesondere zur Musikgeschichte, zu nennen - Arbeiten, die musikwissenschaftlich heute vielfach überholt und weitgehend von nur noch historischem Wert sind.53 Auf sie kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht eigens eingegangen werden; anzumerken ist jedoch, daß Köstlin 1886 zum Ehrendoktor der Theologischen Fakultät Gießen promoviert wurde, „weil er sich durch sein [...] Werk über die Geschichte der Musik um die Kirchenmusik sehr verdient gemacht hat" und „als einer der ersten mit Rat und Vorbild für ihre eifrige Pflege und Förderung in der Kirche eingetreten ist"54 - auf diese Weise sollten Köstlins musikalische Interessen schließlich doch noch ihren Niederschlag in seiner beruflichen Karriere finden. Mit Beginn des Studienjahres 1883/84, zum 1. Oktober 1883, wurde Köstlin als Lehrer an das 1837 begründete Predigerseminar in Friedberg berufen, wo er Nachfolger von Franz Alexander Schwabe (1813-1884) wurde.55 Im Rückblick beginnt nun die „glücklichste und gesegnetste Zeit seines Lebens": Er unterrichtete hier die liturgischen Fächer sowie Katechetik und Pastoraltheologie; darüber hinaus vertrat er das Fach Religion am Friedberger Schullehrer-Seminar und hatte ein Gemeindepfarramt zu verwalten.56 Aus dieser Friedberger Zeit entstammen seine ersten pastoraltheologischen Arbeiten57 ebenso wie seine Geschichte des christlichen Gottesdienstes (Freiburg i. B. 1887), die er zum Dank für die verliehene Doktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Gießen widmete. Dieses Werk fand in der Fachwelt eine überwiegend freundliche Aufnahme: bei vielen Differenzen im einzelnen wurde insbesondere der 52 Vgl. H. A. Köstlin, Überblick über die neueste Musik-Litteratur; in: DLBl3 (1880/81), S. 133-135, 140-142; ders., Das katholische deutsche Kirchenlied; in: aa. O. 8 (1885/86), S. 42f., 9 (1886/87), S. 65f.; Geschichte des Tanzes in Deutschland; in: a. a. O., S. 70f.; Zur geistlichen Hausmusik; in: a.a.O. 10 (1887/88), S. 177f. u.a.m. 53 Vgl. H. A. Köstlin, Die Tonkunst. Einführung in äe Ästhetik der Musik, Stuttgart 1879; ders., Die deutsche Tonkunst; in: Das deutsche Volkstum Nr. 10, Leipzig/Wien 1898, S. 525-568. Zur Übersicht C. Mahrenholz, Art. „Köstlin, Heinrich Adolf', in: MGG 7, Sp. 1392-1394; Riemann Musiklexikon, 12. Auflage, Personenteil A-K, S. 948. 54 Zitiert nach E. Becker, Die ersten 25 Jahre, S. 49. 55 Vgl. K. Köhler, Rede bei der feierlichen Wiedereröffnung des Predigerseminars; in: G. Diegel (ed.), Denkschrift des evangelischen Prediger-Seminars Friedberg für die Jahn 1869 bis 1885, Friedberg 1886, bes. S. 172-175. 56 Vgl. J. Smend, Zu Heinrich Adolf Köstlins Gedächtnis, S. 210; P. Wurster, Art. „Köstlin, Heinrich Adolf', S. 782. 57 Zur Orientierung seien genannt: Der Begriff des geistlichen Amts; in: Theologische Studien aus Württemberg 6 (1885), S. 150-209, 243-252; Philipp Jakob Spener in seiner Bedeutung für die Geschichte der Seelsorge; in: HWDH 9 (1886), S. 97-115; Der seelsorgerliche Krankenbesuch; in: HWDH 12 (1889), S. 17-32. Zu dem Spener-Vortrag, der 1885 auf der oberhessischen Provinzialkonferenz in Gießen gehalten wurde, vgl. Anonym, Die Krankenseelsorge; in: AELKZ 18 (1885), bes. Sp. 757.
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studienpraktische Wert dieser Publikation lobend herausgestrichen.58 Auch Köstlins hehre von der Seelsorge nach evangelischen Grundsätzen aus dem Jahre 1895 geht auf diese Ausbildungstätigkeit zurück und ist folglich dem „evangelischen Predigerseminar zu Friedberg in treuer Anhänglichkeit gewidmet". 59 Seine dortigen Lehrveranstaltungen im Fach Seelsorge haben - trotz der verbreiteten Vorbehalte gegenüber den vermeintlichen unwürdigen Bedingungen „seelsorgerlichen Experimentierens" - neben der SeelsorgeAfoorä auch persönliche Übung und konkrete Praxisreflexion miteinzubeziehen gewußt. So urteilt Eugen Sachsse: „Wir haben nicht Kliniken für unsre Kranken, wie die Mediziner, wir können auch nicht bewährte Seelsorger bei ihrer Praxis begleiten, das verbietet der eigentümliche Charakter dieser Arbeit. Auch die theologischen Seminarien sind zu dem Resultat gekommen, daß die Unterweisung auf diesem Gebiet nur durch theoretischen Vortrag geschehen könne. Zur Unterstützung des Vortrages kann man vielleicht wie z.B in Friedberg geschieht, einen oder zwei Patienten einem Kandidaten zur selbständigen Behandlung überweisen, der dann dem Professor Bericht erstattet über seine Beobachtungen und Einwirkung, und dabei belehrt werden kann."60 Auch in diesen Jahren hat Köstlin seine breite Rezensionstätigkeit fortgesetzt: Neben einer Vielzahl von Rezensionen vor allem liturgischer bzw. litugiegeschichdicher Werke61 hat er sich auf die Besprechung praktisch-theologischer Neuerscheinungen konzentriert - ein Schwerpunkt lag dabei, bedingt durch seine Tätigkeit in der Religionslehrerausbildung,
Vgl. dazu J. Abel; in: EKSW 48 (1887), S. 265-268; A. Hasenclever; in: PKZ 34 (1887), Sp. 552-554; F. Spitta; in: ThLZ 13 (1888), Sp. 287-290; H. Bassermann; in: ZtrTh 11 (1889), S. 184-194; P. Kleinert; in: ThStKr62 (1889), S. 601-621. 59 Zur Seelsorgeausbildung in Friedberg vgl. F. F. Fertsch, Die specielle Seelsorge als Gegenstand der seminaristischen Thätigkeit; in: ders., (ed.), Denkschrift des evangelischen Vrediger-Seminariums Friedberg für äe Jahre 1847 und 1848, Friedberg 1850, S. 1-100; G. Diegel, Die hohe Bedeutung der Seelenkunde für den Geistlichen; in: F. Schwabe (ed.), Denkschrift des evangelischen Prediger-Seminars Friedbergfür die Jahre 1865 bis 1868, Friedberg 1868, S. 193-202; H. L. Harsch, Geschichte der Seelsorgeausbildung am Theologischen Seminar Friedberg/Hessen; in: K. Dienst (ed.), 150 Jahre Theologisches Seminar Friedberg 1837-1987, Darmstadt 1987, S. 73-90. 60 E. Sachsse, Wie hat die evangelische Kirche Deutschlands ihre gegenwärtigen Aufgaben zu lösen?, S. 12f. Von neuen Formen der Seelsorgeausbildung berichten E. Satder, Der Kursus für specielle pastorale Seelsorge zu Posen; in: MIM 11 (1891), S. 177-189; M. v. Nathusius, Pastoraltheologische Übungen; in: HWDH 23 (1900), S. 415-424; A. Gmelin, Laien- und Berufsseelsorge; in: MIM 31 (1911), S. 161-166. 61 Vgl. H. A. Köstlin, Rez. „K. Sartorius, Die Leichenverbrennung innerhalb der christlichen Kirche"; in: ThLZ 13 (1888), Sp. 337-339; Rez. „H. Bassermann, Entwurf eines Systems evangelischer Liturgik"; in: a a O., Sp. 475-477; Rez. „Ed. Meuss, Die gottesdienstlichen Handlungen"; in: aaO. 19 (1894), Sp. 118-120u.a.m. 58
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auf dem Gebiet der Katechetik.62 Darüber hinaus hat Köstlin an dem zweibändigen Calwer Kirchenkxikon mitgearbeitet, das 1891/93 in erster, 1905 in zweiter Auflage erschien und als Ergänzung zu dem bekannten Calwer Bibellexikon konzipiert war; es wurde von Paul Zeller redigiert und vom Calwer Verlagsverein als Theologisches Handwörterbuch illustriert herausgegeben.63 Von 1889 an war Köstlin zudem Mitherausgeber der renommierten pastoraltheologischen Zeitschrift „Malte was du hast" sowie, von 1904 an, von deren Fortsetzung unter geändertem Titel, der Monatsschrift für Pastoraltheologie. Am 10. Dezember 1890 wurde Köstlin Oberkonsistorialrat der Hessen-Nassauischen Kirche in Darmstadt; sein dortiger Vorgänger, der Kirchenhistoriker Karl Seil (1845-1914), war nach neunjähriger Amtszeit zum Sommersemester 1891 auf eine Professur für Kirchengeschichte nach Bonn berufen worden.64 Die üblicherweise mit seinem neuen Amt verbundene Superintendentur übernahm Köstlin zum 1. April 1891, sein Nachfolger in Friedberg wurde, wenn auch nur für die kurze Zeitspanne von 1891 bis 1893, Julius Smend.65 Neben seinen kirchenleitenden Aufgaben als Superintendent der Provinz Starkenburg konnte Köstlin in diesen Jahren immerhin seine bereits erwähnte l^ehre von der Seelsorge niederschreiben. Im August 1895, dem Jahr ihres Erscheinens, folgte er im Alter von 49 Jahren einem wiederholt an ihn ergangenen Ruf auf die Professur für Praktische Theologie an der Universität Gießen, als Nachfolger von Max Reischle (1858-1905), nachdem er bereits im Januar 1888
62 Vgl. H. A. Köstlin, Rez. „G. v. Zezschwitz, Die Christenlehre im Zusammenhang"; in: ThLZ 13 (1888), Sp. 457-461; Rez. „K. Buchrucker, Grundlinien der kirchlichen Katechetik"; in: ThLZ 15 (1890), Sp. 312-314; Rez. „K. Euler, Handbuch zum kleinen Katechismus Luthers/Fr. Wild, Der kleine Katechismus D. Martin Luthers"; in: a. a. O., Sp. 336-338; Rez. „Fr. Oehmke, Die fünf Hauptstücke des lutherischen Katechismus"; in: a. a. O., Sp. 338f.; Rez. „Th. Hardeland, Der kleine Katechsimus D. Martini Lutheri"; in: a. a. O., Sp. 362f.; Rez. „Th. Kaftan, Auslegung des lutherischen Katechismus"; in: ThLZ 18 (1893), Sp. 595f. Dazu H. A. Köstlin, Philipp Jacob Spener als Lehrer der Jugend; in: G. Diegel (ed.), Denkschrift des Evangelischen Prediger-Seminars Friedbetgfiir das Jahr 1886 und bis Frühjahr 1887, Friedberg 1887, S. 139-153; ders., Grundsätze über die Behandlung des kleinen lutherischen Katechismus im Religions-Unterricht; in: HWDH 16 (1893), S. 1-10, 89-98; E. Chr. Achelis, Der gegenwärtige Stand der Katechetik; in: ZThKA (1894), S. 4 3 7 ^ 6 2 . 63 Von Köstlin vgl. die Art. „Gottesdienst" (I, S. 650-653), „Hymnologie" (I, S. 805), „Katechismus" (I, S. 911-913), „Kirchenlied" (I, S. 938-941), „Kirchenmusik" (I, S. 941-945), „Liturgie" (II, S. 55-59), „Seelsorge" (II, S. 686-688) u. a. m. 64 Vgl. K.-G. Wesseling, Art. „Seil, Karl"; in: BBKL Bd. 9, Herzberg 1995, Sp. 1366-1368. Dazu die verbliebenen Aktenstücke im Zentralarchiv der EKHN, Best. 111 Nr. 5. 65 Vgl. R. Günther, Art. „Smend, Julius"; in: RGG2 Bd. V, Tübingen 1931, Sp. 587; K.-G. Wesseling, in: BBKL Bd. 10, Herzberg 1995, Sp. 649-652.
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einen attraktiven Ruf nach Greifswald abgelehnt hatte.66 Dieser, der fünfte Lehrstuhl in Gießen, war 1882 neu eingerichtet worden und ist bis 1892 mit Johannes Gottschick (1847-1907), dem langjährigen Herausgeber der Zeitschrift für Theologie und Kirche, besetzt gewesen.67 Während Gottschick inzwischen als Praktischer Theologe in Tübingen lehrte, wechselte sein Nachfolger Reischle nunmehr nach Göttingen auf einen Lehrstuhl für Systematische Theologie, von wo aus dieser jedoch schon bald nach Halle weiterziehen sollte. In Gießen lehrte Köstlin neben den angestammten praktisch-theologischen Disziplinen auch Innere und Äußere Mission, Enzyklopädie sowie, seinen Interessen entsprechend, Geschichte der Kirchenmusik. Namhafte Kollegen an dieser überwiegend liberal geprägten theologischen Fakultät waren die Neutestamentier Bernhard Stade (1848-1906) und Wilhelm Baldensperger (1856-1935), der Kirchengeschichtler Gustav Krüger (1862-1940) sowie der Systematiker Ferdinand Kattenbusch (1851-1935). In diese Gießener Zeit fällt auch Köstlins offizielle Festrede bei der Universitätsfeier zum 400. Geburtstag Melanchtons im Jahre 1897.68 Doch bereits nach knapp sechs Jahren Lehrtätigkeit in Gießen mußte Köstlin aus gesundheitlichen Gründen um seine vorzeitige Pensionierung nachsuchen; bedeutende Nachfolger auf seinem praktischtheologischen Lehrstuhl wurden von 1901—1908 Paul Drews sowie von 1908-1924 Martin Schian. Schon länger leidend, zog Köstlin sich 1901 in den Ruhestand nach Darmstadt zurück, wo er neben der Abfassung kleinerer pastoraltheologischer Arbeiten insbesondere die Herausgabe des zweibändigen Kirchenbuchs für die evangelische Kirche des Großher^ogtums Hessen vorbereitete.69
66 Vgl. H. A. Köstlin, Professor und Pfarrer Dr. H. A. Köstlin, S. 230. Dazu T. Häring, Art. "Reischle Max"; in: RE3 Bd. 24, S. 384-393; K.-G. Wesseling, in: BBKL Bd. 7, Herzberg 1994, Sp. 1571-1577. 67 Vgl. P. Drews, Der wissenschaftliche Betrieb der praktischen Theologie in der theologischen Fakultät zu Gießen; in: Die Universität Gießen von 1607 bis 1907 Bd. 2, Gießen 1907, bes. S. 291f.; H. G. Gundel, Art. „Gießen"; in: TRE Bd. 13, Berlin/New York 1984, S. 264. Außerdem H. A. Köstlin, D. Johannes Gottschick; in: MPTh 3 (1906/07), S. 280-282; W. Gottschick, Art. „Gottschick, Johannes Friedrich"; in: RE 3 Bd. 23, S. 579-587. 68 Vgl. H. A. Köstlin, Zum Gedächtnis Melanchtons; in: HWDH 20 (1897), S. 293-303, wiederabgedruckt in: ders., Predigten und Reden, S. 256ff. Dazu E. Chr. Achelis, Rez. „Köstlin, H. A., Predigten und Reden"; in: ThLZ 27 (1901), Sp. 251f. 69 Vgl. Kirchenbuch für die evangelische Kirche des Großherapgtums Hessen, Bd. I Die Gemeindegottesdienste, Bd. II Die gottesdienstächen Gemeindehandlungen, Darmstadt 1904; dazu J. Smend, Das neue Kirchenbuch für das Großherzogtum Hessen; in: MGKK 9 (1904), S. 277-282, 320; H. A. Köstlin, Nochmals das neue Kirchenbuch für das Großherzogtum Hessen; in: a. a. O., 10 (1905), S. 16-18, worin er letzte Korrigenda vornimmt.
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Köstlin selber urteilt in bezug auf dieses Werk und seinen eigenen Anteil daran: „Das ist vor allem der Geist der Versöhnung und Ausgleichung der mancherlei Gegensätze, aus dem es hervorgegangen ist, und die Mannigfaltigkeit und Reichhaltigkeit des Inhaltes, die das Ergebnis des friedlichen Austausches der Gaben und Kräfte, der Richtungen und Strömungen ist, die dazu mitgewirkt haben. Natürlich hat ja Einer zuletzt die Arbeit tun müssen. Ihm lag es ob, die Wünsche und Darbietungen aus den verschiedenen Lagern gegeneinander abzuwägen, auszugleichen und zu einer gewissen Einheitlichkeit zusammenzufassen."70 Nach Abschluß dieser Arbeit ging er im August 1904 nach Cannstatt in seine württembergische Heimat zurück. Auch für Württemberg war eine Neugestaltung des agendarischen Kirchenbuchs in Aussicht genommen, an welcher Köstlin nun mitarbeiten sollte.71 Zugleich begann er, die zweite Auflage seiner hehre von der Seelsorge vorzubereiten — ihr Erscheinen im Herbst 1907 erlebte er jedoch ebensowenig wie die Vollendung des württembergischen Kirchenbuchs: durch einen Schlaganfall stirbt Kösdin im Alter von 60 Jahren am 4. Juni 1907.72 Im Rückblick auf Leben und Werk dieses um kirchliche Verständigung so bemühten Mannes streicht E. Foerster insbesondere dessen seelsorgerliche Grundeinstellung sowie seine durchgebildete Bibelfrömmigkeit heraus, welche Kösdin auch in seinem akademischen Wirken vorrangig geprägt haben: „Er selbst ist ein reicher Geist und er verlangt von dem Pfarrer, daß er sich um eine weite und allgemeine Bildung bemühe, weil er nur als wirklich Gebildeter dem Reichtum persönlichen Lebens gerecht werden kann; aber das Haupterfordernis des rechten Seelsorgers ist ihm doch, daß er sich unter die Einwirkung Jesu stellt, damit es in ihm zu einer Lebensbewegung komme, die das ganze Sein und Wesen ergreift."73
H. A. Köstlin, Zur Liturgik; in: HWDH 27 (1904), S. 594. Vgl. H. A. Köstlin, Zur Gesangbuch frage, in: EKSW 67 (1906), 105-108; Chr. Römer, D. Dr. Heinrich Adolf Köstlin f ; in: a. a. O. 68 (1907), S. 189. 72 Vgl. F. Spitta, Zum 25jährigen Jubiläum des Deutschen evangelischen Kirchengesangvereins; in: MGKK12 (1907), S. 297; P. Wurster, Nachruf auf H. A. Köstlin; in: MPTh 3 (1906/07), S. 379f.; G. A. Gerok, Zum Gedächtnis von D. Dr. Heinrich Köstlin; in: a. a. O., S. 381-383. Ein unrichtiges Datum („5. Juni") findet sich in: ThLBl 28 (1907), Sp. 287; AELKZ 40 (1907), Sp. 575; CCW 17 (1907), S. 303; Die Universität Gießen von 1607-1907 Bd. 1, S. 438; W. Diehl (ed.), Hessen-darmstädtisches Pfarrer- und Schulmeister-Buch, Friedberg 1921, S. 17; E. Jaekel, Chronik der Darmstädter kirchlichen Ereignisse (1900-1989). 73 E. Foerster, Rez. Die Lehre von der Seelsorge nach evangelischen Grundsätzen; in: ChW21 (1907), Sp. 1201. 70 71
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2.2. Pastoraltheologie oder Seelsorgelehre? Köstlin hat sich vielfach, vor allem seit den Jahren seiner praktischtheologischen Lehrtätigkeit in Friedberg, zu Fragen der Seelsorge und Pastoraltheologie geäußert - von etwa 1885 an liegt hierin ein wesentlicher Schwerpunkt seiner Publikationstätigkeit. Aus den zahlreichen Einzelbeiträgen zu diesem thematischen Komplex ragt als Hauptwerk die Lehre von der Seelsorge nach evangelischen Grundsätzen hervor, in welcher er seine praktisch-theologische Arbeit zu einem Lehrbuch systematisiert hat Diese Monographie, deren Aufriß auch schon dem zwei Jahre zuvor erschienenen Artikel zur Seelsorge im Calwer Kirchenlexikon zugrundelag, setzt ein mit einem ausfuhrlichen ersten Kapitel über „Begriff und Wesen der Seelsorge": Ausgehend von der terminologischen Grundbedeutung werden hier - im Sinne einer begriffsgeschichtlichen Reflexion - katholisches und evangelisches Seelsorgeverständnis in ihrer historischen Entwicklung bis in die neuere Zeit hinein verfolgt und in einem zusammenfassenden Ergebnis kritisch gewürdigt. Gegenüber dem katholischen Seelsorgeverständnis der „Seelenleitung" ist evangelische Seelsorge demnach zu bestimmen als „positive Einwirkung auf das Gewissen durch das Mittel des Heilsworts"74. Im zweiten Kapitel handelt Köstlin sodann von den „Organen der Seelsorge": Neben dem Wort Gottes und der Gemeinde - als „Trägerin des Heilsworts" - zählt hierzu insbesondere die seelsorgerliche Persönlichkeit, deren charakteristische Eigenschaften sowohl in allgemein-ethischer als auch in spezifisch pastoraler Hinsicht entfaltet werden. Das umfangreiche dritte Kapitel befaßt sich schließlich mit den „Aufgaben der Seelsorge": Neben dem weiten Feld der indirekten Seelsorge, das die seelsorgerliche Aufsicht über den „Glaubensstand" bzw. den „sitdichen Lebensstand" der gesamten Gemeinde umfasst, gehört hierzu vor allem der Bereich der direkten Seelsorge, der einerseits im öffendichen, andererseits im privaten Raum anzusiedeln ist, darüber hinaus aber nach vielfältiger „Individualisierung" in persönlicher, situativer oder sozialer Hinsicht verlangt. Über das ganze Lehrbuch hinweg hat Köstlin — unter dem Eindruck der Verpflichtung gegenüber den sozialkulturellen Dynamisierungen sowie der zunehmenden Differenzierung pfarramtlicher Funktionsbereiche - einschlägige Fachliteratur zu den jeweiligen Abschnitten übersichtlich zusammengestellt: zur Wohlfahrtspflege genauso wie zur Gefangnisseelsorge, zur Psychiatrie oder zur Krankenseelsorge. Diese beachtlichen Literaturlisten, die für die zweite Auflage der Lehre von der Seelsorge noch einmal gründlich überarbeitet und aktualisiert wurden, geben einen Eindruck von der Breite Köstlins literarischer 74
H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 1. Auflage, S. 123. 163
Studien, welche er im Dienste der pastoralen Verantwortung immer zugleich an das praktische Berufsinteresse zurückgebunden wissen wollte: „Der maßgebende Gesichtspunkt für die Auswahl und die Ausdehnung solcher Studien ist nicht der einer fachmännischen Beherrschung des betreffenden Gebietes, sondern die Förderung der Menschenkenntnis und Seelenkunde, die uns dazu hilft, die Menschen zu verstehen und einem jeden das Evangelium von der Seite nahe zu bringen, die seinem Verständnis am nächsten liegt. Auswahl und Ausdehnung richtet sich also [...] nach dem Bedürfnis des seelsorgerlichen Berufs, nach dem Interesse des Dienstes überhaupt, im einzelnen dann wieder nach den Personen und Verhältnissen."75 Trotz ihrer deutlichen Tendenz zur Verwissenschaftlichung des Lehrstoffs besteht die Doppelgesichtigkeit der Köstlin'schen „Seelsorgelehre" darin, konzeptionell eine Gesamtdarstellung des Gebietes der Praktischen Theologie unter dem einheidichen Gesichtspunkt der Seelsorge sein zu wollen, in materialer Hinsicht dagegen durchaus Traditionsgut aus der Pastoraltheologie aufzubereiten, welche als „Theorie des Amtsgewissens und der zielbewußten Amtswirksamkeit" im Sinne einer praxisnahen Erfahrungswissenschaft ihre eigenständige, auch wissenschaftlich begründete Funktion neben der Praktischen Theologie behalten sollte: „Eben dadurch, daß die Pastoraltheologie auf Grund wissenschaftlicher Begriffsbestimmung und mit Hilfe der dadurch gewonnenen Maßstäbe die Erfahrung sichtet, klärt, ordnet, falschen Generalisationen begegnet, aus den gleichartigen Fällen die Regeln ableitet, erweist sie sich als Wissenschaft und hat als solche (als Wissenschaft vom zielbewußten Handeln im geistlichen Berufe) ihr gutes Recht neben dem oder innerhalb des Systems der praktischen Theologie." 76 Wie schon im Entwurf von Alexander Schweizer vorgebildet, werden auch in Kösdins hehre von der Seelsorge unter dem Leitbegriff der Seelsorge, welche die „eigendiche und oberste Aufgabe des Amts" ausmacht, die Tätigkeiten des Gemeindepfarrers in pastoraltheologischer Systematik zusammenfaßt und mittels der Unterscheidung der indirekten (aufsehenden) Seelsorge, der sog. Gemeindepflege, von den Aufgaben der direkten (einwirkenden) Seelsorge, der „eigendichen Seelenpflege", in sich ausdifferenziert. 77 Gleichwohl will die von Kösdin vorgelegte Konzeption weder die alte Pastoraltheologie restituieren noch ein Signal dafür setzen, „auf die systematische Darstellung der praktischen Theologie zu verzichten und
A. a. O., 2. Auflage, S. 174. H. A. Köstlin, Zur pastoraltheologischen Litteratur; in: HWDH 14 (1891), S. 21; vgl. S. 20. 77 H. A. Köstlin, Der Begriff des geistlichen Amts, S. 169; vgl. A. Schweizer, Ueber die wissenschaftliche Constructionsweise der Pastoraltheologie oder Theorie der Seelsorge, S. 51 f.; ders., Pastoraltheorie, bes. S. 28—33. 75 76
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hinter Schleiermacher zurück[zu]gehen"78: In der ersten Auflage seines Lehrbuchs weist Köstlin deshalb zunächst auf die Unscharfe des Seelsorgebegriffs hin, die dazu gefuhrt habe, daß sich diese Disziplin nicht recht in das Ensemble der Praktischen Theologie einordnen lasse - mit einer erweiterten Verwendung des Terminus Seelsorge, wie er sie vorschlägt, könne demgegenüber nicht nur die Kirche als „Heilsanstalt", sondern auch der Aspekt der Kirche als eines „sozialen Körpers" wieder deutlicher zur Geltung gebracht werden.79 Darüber hinaus erinnert Köstlin an die für die Praktische Theologie geltende Grundbestimmung, eine Theorie des kirchlichen Handelns entwerfen zu wollen, was einen konzeptionellen Einsatz beim Gemeindegedanken verlangt: „Die praktische Theologie stellt sich mit vollem Recht auf den Standpunkt der Gemeinde, sie geht vom Begriff der Kirche als der Gemeinde der Gläubigen aus und entwickelt daraus - stets in engster Fühlung mit der Wirklichkeit - die Thätigkeiten und Aufgaben der Kirche."80 Auch Köstlin will deshalb nicht aufs Neue eine traditionelle Pastoraltheologie bieten, die sich allein an „Amt" und „Person" orientierte, sondern intendiert mit seiner Seelsorgelehre einen thematischen Durchgang durch die pastoralen Arbeitsbereiche im Gemeindekontext, welche jeweils in ihrer spezifisch seelsorgerlichen Dimension dargestellt werden sollen. Wenngleich dabei eigentümlicherweise gerade die Kasualhandlungen überhaupt nicht in den Blick genommen werden, so charakterisiert doch E. Simons in einer Rezension die von Köstlin vorgelegte Konzeption insgesamt zutreffend: „Ist die Gemeinde wesentlich Seelsorgegemeinde, so hat all ihr Tun, auch das liturgische, homiletische, katechetische eine seelsorgerliche Seite an sich; nach dieser Seite kommt es in unserem Lehrbuch zur Sprache, aber nur nach ihr, so daß von einem Rückgang hinter Schleiermacher zur alten Pastoral in der That nicht die Rede sein kann. Wohl aber wird dadurch das seelsorgerliche Thun vor der Gefahr der Isolierung bewahrt und vor der anderen der der Amtstechnik oder gar -Kasuistik, und auf den ihm zukommenden hohen Standpunkt erhoben."81
H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 1. Auflage, S. VII. A. a. O., S. 117, 119. Kritisch dazu die Rez. von K. Schmerl; in: ThLBl 16 (1895), bes. Sp. 467f.: „Aber wenn es auch wahr ist, dass alle kirchlichen Thätigkeiten ein seelsorgerliches Moment haben und alle kirchlichen Handlungen im letzten Grunde der Förderung des Seelenheiles dienen," so ist es doch „nicht recht ersichtlich, weshalb die Auffassung der Kirche als eines sozialen Körpers, einer organisierten Gemeinschaft, einer Seelsorgergemeinde, die Theorie dahin beeinflussen wird, das Wesen der Seelsorge deutlicher zu exponieren." In diesem Sinne auch P. Gennrich; in: DLZ 29 (1908), Sp. 786. 80 H. A. Köstlin, Zur pastoraltheologischen Litteratur, S. 19f. 81 E. Simons, Zur Seelsorge; in: HWDH 19 (1896), S. 228; vgl. die anonyme Rezension in: Neues sächsisches Kirchenblatt 14 (1907), Sp. 493f. 78 79
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Gerade unter den Lehranforderungen am Friedberger Predigerseminar hatte sich Köstlins Eindruck verstärkt, daß obwohl „so viel praktisch-erbaulicher Stoff und so viel treffliche Ratschläge aus der Erfahrung bewährter Seelsorger und Pastoraltheologen vorliegen, es doch sehr an einer prinzipiellen Grundlegung der speciellen Seelsorge fehlt und nur allzuvieles dem bons sens, dem natürlichen Takt des jungen Seelsorgers überlassen bleibt."82 Gleichwohl leitet Köstlin die Konzeption seiner Seelsorgelehre nicht zuerst aus ausbildungspraktischen Erwägungen her, die ohne Zweifel wichtige Impulse für die Anlage des Lehrbuchs gegeben haben, sondern begründet seinen Entwurf im Sinne einer methodischen Entscheidung, die auf eine Vergewisserung theologischer Identität „angesichts der gegenwärtigen Periode stürmischer Auseinandersetzung" aus ist.83 Köstlin versteht seine Lehre von der Seelsorge insofern als eine theologische Antwort auf die sozialen Mobilisierungen der modernen gesellschaftlichen Transformationsprozesse: Mit der Orientierung über die pastoralen Arbeitsfelder unter dem Vorzeichen einer Praktischen Theologie der Seelsorge soll gerade die lebendige Mitte der „mancherlei Unternehmungen und Aufgaben, auf die uns die Not der Zeit hindrängt", wieder vergewissernd herausgestrichen werden.84 Angesichts der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse, die zunehmend die traditionelle Gemeindepastoration herausfordern bzw. destabilisieren, will Köstlins Lehre von der Seelsorge eine heilsame „Erinnerung an das Eine, das Not ist" sein: der persönlichen theologischen Durchbildung und der geistlichen Konzentration.85 Wenn sich Köstlin hierin auch mit der Tendenz der Christlichen Bedenken Robert Kübels aus dem Jahre 1888 berührt, so sieht er sich doch anders als dieser — gerade aufgrund seiner theologischen Konzentration verwiesen auf die noch unabgeschlossene Aufgabe, „die von Gott geschaffenen Ordnungen und Kräfte des natürlichen, sittlichen und socialen Lebens mit christlichem Geiste zu erfüllen, christlich zu prägen, und damit zu Trägern und Factoren des Reiches Gottes zu erheben."86 Im Geist der Moderne und ihrer „realistischen und encyklopädistischen Richtung" liegt Köstlins Auffassung nach die eigentliche Herausforderung der Zeit - und nicht in einem theologisch fehlgeleiteten Selbstverständnis des modernen Christentums, wie es Kübel suggeriert.87 Weder H. A. Köstlin, Der seelsorgerliche Krankenbesuch, S. 17. H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. IX. 84 A. a. O., 1. Auflage, S. VII. 85 Vgl. a. a. O., S. VIII. 86 H. A. Köstlin, Rez. „Bedenken, christliche, über modern christliches Wesen"; in: ThLZ 14 (1889), Sp. 384. 87 Ebd. Im übrigen scheint es Köstlin, „als hätte der Verfasser, wenn er die Physiognomie des modern christlichen Wesens zu bestimmen sucht, doch nur einseitig die Uebertreibungen, die Auswüchse und Verirrungen der modernen 82 83
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„vielgeschäftigem Dilettantismus" noch gar dem modernistischen Ruf nach einer „Seelsorge auf neuen Bahnen" will er deshalb das Wort reden - vielmehr soll im Reflex auf die modernisierungsbedingten Aufgabenund Rollendifferenzierungen der pastoralen Praxis nunmehr zur Selbstbesinnung und Konzentration im Sinne einer grundsätzlichen Verständigung über Begriff und Wesen evangelischer Seelsorge angeleitet werden. Das religiös-sittliche „Ideal" muß in eine „persönliche Aufgabe" übergeführt werden, die Praktische Theologie muß gleichsam immer wieder zur Pastoraltheologie mutieren, wenn es darum gehen soll, für die anstehenden pfarramtlichen Aufgaben der modernen „Wirklichkeit" auszubilden: „Wir betonen dies, weil es uns aufs Neue klar geworden ist, dass trotz der Ausbildung des 'Systems der praktischen Theologie' gerade unserer Zeit mit ihren verwickelten Aufgaben und Anforderungen, eine Pastoral-Theologie noth thäte, welche auf dem Boden eines scharfen Amtsbegriffes Fuss fassend, die Pflichten des Amtes zusammenhängend erörterte, ihr gegenseitiges Verhältniss bestimmte und dann, unter dem Gesichtswinkel des Amtsgewissens, das ganze Gebiet beleuchtete, in welches der moderne Geistliche hingestellt ist."88 Die Auflösungserscheinungen der Gegenwart kommen hier nur schemenhaft als die „verwickelten Aufgaben unserer Zeit" in den Blick und bleiben sprachlich wenig greifbar - allenfalls ein „scharfer Amtsbegriff' scheint gegenüber der veränderten Wirklichkeit eine zuverlässige Orientierung zu ermöglichen. Doch der Erfolg der pastoralen Arbeit sowie die Kraft einer überzeugenden Verkündigung können „nur dem Worte selbst und der von ihm getragenen Persönlichkeit' innewohnen:89 Wie das Reich Gottes eine Größe ist, die sich aus lebendigen Persönlichkeiten zusammensetzt, so will auch Kösdins Seelsorgelehre als eine Erinnerung daran verstanden werden, „daß es denn doch zuletzt, ja vor allem darauf ankommt, von Person auf Person zu wirken".90 Der einzelne Amtsträger soll deshalb in seiner Person die Dekompositionen des traditionalen Amtsverständnisses unter den Bedingungen von Modernität elastisch auffangen und ihnen offensiv entgegentreten - ganz im Sinne dessen,
Christlichkeit im Auge, sodass er im Grunde nur gegen das modern christliche Unwesen kämpft [...]." (a. a. O., Sp. 383) 88 H. A. Köstlin, Rez. „K. Möller, Das ausseramtliche Leben des Geistlichen"; in: ZtrTh 11 (1889), S. 95. 89 H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 91. 90 A. a. O., S. IXf. Über Köstlins eigentlich bibeltheologisch geprägte Rede vom Reich Gottes hinaus nimmt diese Wendung deutlich die Subjektivierungs- und Verinnerlichungstendenz im Übergang von A. Ritsehl zu W. Herrmann auf; vgl. dazu J. Weiß, Die Idee des "Reiches Gottes in der Theologe, Gießen 1901, bes. S. llOff.; H. Timm, Theorie und Praxis in der Theologie Albrecht Ritschis und Wilhelm Herrmanns, Gütersloh 1967. 167
was schon F. Wintzer kritisch hinsichtlich der Köstlin'schen Konzeption angemerkt hat: „Das berufliche Identitätsproblem des Seelsorgers wird auf diese Weise rigoros, aber höchst eindeutig gelöst." 91 Denn die „Selbstbesinnung auf das Eine, das Not tut", die Köstlin mit seiner Seelsorgelehre erreichen will, muß durch persönliche „Ernüchterung und Vertiefung" hindurch individuell erarbeitet werden: Leitgedanke dabei ist die „Harmonie von Person und Amt", die durchgehende Ubereinstimmung von äußerer Rollenerwartung und innerer Haltung. 92 Der Amtsträger soll von „innerstem Lebensinteresse" geleitet sein, so daß die mit der Rolle verbundenen Anforderungen wirklich vom Personenkern ausgefüllt werden - erst darin geschieht die Durchbildung zu einer „seelsorgerlichen Persönlichkeit": „Wer sich, wenn er an das Seelsorger- oder Erziehergeschäft geht, erst in Positur werfen und eine besondre Amtsmiene annehmen muß, der wird schwer dem Verdacht entgehen, daß er gleichsam zweierlei Leben führe, ein außerdienstliches und ein dienstliches, das das letztere etwas innerlich Fremdes, nur äußerlich Übernommenes, der Beruf ihm nur eine Tätigkeit neben andern, nicht aber die sein Leben beherrschende und ausfällende, mit seinem Wesen verwachsene Aufgabe bilde."93 Dagegen soll in einer einheitlichen pastoralen Identität dienstliches und außerdienstliches Leben von der Mitte der Person her zusammengeführt werden: „ein Pfarrer ist immer im Dienst". Im Duktus einer traditionellen pastoraltheologischen Topik untermauert Köstlin diese Formel mit dem Hinweis auf die permanente Bereitschaft des Pfarrers, dem „Ruf in ein Trauerhaus" nachkommen zu können: „Er wähle seine Kleidung so, daß er nicht erst nötig hat, sich umzukleiden! Er wähle seine Gesellschaft so, daß der Ruf an das Sterbebett nicht wie eine hereinplatzende Bombe empfunden wird! Es ist für den Geistlichen immer noch ehrenvoller und schmeichelhafter, wenn man an Kleidung, Haltung und Gang den Seel-
F. Wintzer (ed.), Seelsorge, S. XXII. Auf der Linie dieser Interpretation urteilt auch H. L. Harsch, Geschichte der Seelsorgeausbildung am Theologischen Seminar Friedberg/Hessen, S. 77: „Köstlin löst das Problem der Identität des Seelsorgers durch eine rigorose Konzentration auf das theologische Proprium. Er bezahlt dies mit einem Verlust an Komplexität und Sensibilität [...]. Es fehlen ihm auch Methoden, junge Kollegen auf dem Weg ihrer beruflichen Identitätsfindung in annehmender Weise zu begleiten." In Bezug auf die pastorale Amtsethik liest Harsch bei Köstlin lediglich „lange Passagen von Ermahnungen und zurechtweisender Gesinnungsbildung" heraus: „Als heutiger Kandidat würde man sich mit diesen Idealen ziemlich alleingelassen fühlen." (ebd.) 92 H. A. Kösdin, Die Lehre von der Seelsorge, 1. Auflage, S. VIII; 2. Auflage, S. 155. 93 A. a. O., 2. Auflage, S. 152; vgl. S. 153. 91
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sorget erkennt, als wenn er im Eisenbahn-Abteil von den Mitreisenden als Commis voyageur oder Weinreisender angesprochen wird." 94 Doch nicht nur kirchenkritische oder „ausgesprochen unkirchlich gesinnte" Kreise sind gezeichnet von Mißtrauen, Kühle oder passivem Widerstand gegenüber dem amtlichen Wirken - auch „Gemeindegenossen, in denen ein ernstgemeintes Suchen und Fragen, ein lebendiges religiöses Interesse nicht zu verkennen ist", stehen vielfach der pfarramtiichen Verkündigung mit Skepsis und Ablehnung gegenüber, woraus Köstlin hinsichtlich der zeitgenössischen Vorurteilsstrukturen folgert: „Es ist also das Amt, die berufliche Einfassung des Dienstes am Wort, die observanzmäßige Form und was damit zusammenhängt, es sind Gepflogenheiten, vielleicht uns gar nicht bewußte Äußerlichkeiten in Auftreten und Gebahren, was, mit Paulus zu reden, bei ihnen dem Evangelium ein Hindernis macht." 95 Deshalb legt Köstlin einen nachdrücklichen Akzent auf die Unablösbarkeit der damals heftig umstrittenen Frage der „Bekenntnisbindung" von dem Erfordernis „persönlicher Wahrhaftigkeit": Gerade der Glaube und seine lebenserschließende Kraft verlangen vom Seelsorger „Aufgeschlossenheit des Sinnes für alle sich ihm als Wahrheit aufdrängenden Wirklichkeiten", verlangen einen aufrechten Wahrheitstrieb sowie ein offenes Wahrheitsohr in Auseinandersetzung mit den Ansprüchen und Strömungen der Zeit. 96 „Für die Bildung der persönlichen Weltanschauung und Lebensauffassung darf mithin nichts anderes maßgebend sein, als die Wahrheit. Nur was sich mir als solche, als unabweisbare und unausweichliche Wirklichkeit erweist und erprobt, kann und darf ich mit meiner Person vertreten. Damit ist es unvereinbar, sich aus irgend welcher Rücksicht zum voraus auf ganz bestimmte Aussagen und Erkenntnisse festzulegen oder festlegen zu lassen. Kein Mensch ist Herr seiner inneren Entwicklung, seines geistigen Wachstums; keiner kann mit voller Gewißheit sagen, wie er morgen denkt, zumal so lange er noch in der Entwicklung steht."97 Gleichwohl kann dieser Entwicklungsprozeß nicht jenseits jeder institutionellen Verpflichtung geschehen: Das persönliche „Berufsinteresse" des Pfarrers bleibt zurückgebunden an das „recht verstandene Lebensinteresse der Gemeinde", was gerade als recht verstandenes nicht auf einseitige Verabsolutierung zielen kann, sondern Teil eines dialogischen Begegnungsgeschehens wird. 98 „Der Gemeinde gegenüber bewährt sich 94
A.a. 0.,S. 154.
95
H. A. Köstlin, Zur Standesseelsorge der Pfarrer; in: MPTb 3 (1906/07),
S. 114. 96
Vgl. H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seeborge, 2. Auflage, S. 177f.
97
A. a. O., S. 176. Vgl. a. a. O., S. 163.
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diese Treue im Dienst, die Einheit des Lebens- und Berufsinteresses mit dem Interesse der Gemeinde, darin, daß wir uns ihr völlig zur Verfügung stellen, daß wir jedem Gemeindeglied ohne Unterschied gehören und zugänglich sind."99 Wie die Ausbildung pastoraler Kompetenz und Berufssicherheit notwendige Bedingung für eine erfolgreiche Amtsführung ist, so wird umgekehrt das geistliche Amt legitimiert vom gemeinschaftlichen Bedürfnis nach Erbauung, für dessen Befriedigung der Pfarrer über die engen Grenzen persönlicher Vorlieben oder kirchlich-theologischer Parteiungen sich eben berufsmäßig verantwortlich zeichnet. Gerade in Anbetracht der hohen Bedeutung der Persönlichkeit in Pfarramt und Seelsorge wendet sich von hier aus die Perspektive noch einmal zurück und fragt die Seelsorger selber nach ihrem Gehalten- und Getragensein in der Einwirkung des Wortes Gottes. Köstlin faßt diese reflexive Dimension einer Seelsorge an Seelsorgern unter dem Begriff der „Standesseelsorge" zusammen - so sehr hier wahrhafte „Brüderlichkeit" die eigentlich christliche Form gegenseitiger Unterstützung wäre, so sehr steht Köstlin zugleich deutlich vor Augen, daß sich solche gesprächsweise Entlastung in „rückhaltloser Offenheit" unter den faktischen Arbeitsbedingungen kaum realisieren läßt.100 Neben der lebens- und berufspraktischen Erschließungskraft wissenschaftlicher Werke und literarisch gestalteter Amtserfahrungen bleibt der Pfarrer deshalb auf die individuelle „Selbst-Zudienung des Evangeliums" angewiesen, welche jedoch im Arbeitsalltag „der verhärtenden Wirkung der Gewohnheit" zu verfallen droht:101 über dem berufsmäßigen wird der persönliche Umgang mit dem Wort Gottes gleichsam verlernt. Die ursprüngliche „Unmittelbarkeit und Frische" der Bibel sowie ihre religiöse „Eindrücklichkeit und Treffsicherheit" drohen unter der alltäglichen Abnutzung verloren zu gehen, so daß der Seelsorger sie nicht mehr für sich selbst in ihrer spirituellen Kraft freisetzen kann. Darüber hinaus liegt es in dem „vorwiegend intellektualistischen Zug" der evangelischen Theologie, daß über die Reflexion auf die „Heilserkemtnis" die „personbildende K r a f f des Heilswortes vernachlässigt wird: Über theologische Richtungsstreitigkeiten und kirchenpolitische Grabenkämpfe scheint vielfach der existentielle Grund christlicher Glaubensüberzeugnung in Vergessenheit zu geraten. 2.3. Das „Wesen der Seeborge" Bereits mit seinen ersten pastoraltheologischen Publikationen hat Köstlin die Grundlinien seiner begrifflichen Bestimmung von Seelsorge im we99 100 101
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A. a. O., S. 165. Vgl. H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 290. A. a. O., S. 290, 286; dort auch die nächsten Belege.
sentlichen ausformuliert. So schrieb er 1893, zwei Jahre nach dem Ende seiner Lehrtätigkeit am Friedberger Predigerseminar, eine längere Abhandlung über Die Wandlungen im Begriff der Seelsorge, die zu Jahresbeginn 1894 erschien und den seelsorgegeschichtlichen Lehrstoff seiner Friedberger Zeit rekapituliert.102 Ausgangspunkt ist dabei die konfessionelle Mehrdeutigkeit von „Seelsorge", die als zentrale Kategorie praktischtheologischen Handelns jeweils ihre spezifische positionelle Aufladung erfahren hat: „Daß der Begriff 'Seelsorge' in dem verschiedensten Sinne gebraucht wird, ohne daß man sich dieser verschiedenen Prägung des Begriffs immer bewußt ist, bekommt jeder zu empfinden, der sich mit der Litteratur über die Seelsorge befassen und diesen Grundbegriff, für den alle Konfessionen dasselbe Wort haben, aber jede wieder einen anders bestimmten Inhalt verbindet, festlegen will." 103 Begriff und Wesen der Seelsorge müssen deshalb in einem systematischen Durchblick durch ihre geschichtliche Entwicklung rekonstruiert werden, wozu Köstlin in einem „Ersten Artikel" zunächst auf die einschlägigen Seelsorgetraditionen in der Alten Kirche sowie im Katholizismus eingeht und diese mit dem ihnen zugrundeliegenden Kirchen- und Amtsverständnis in Beziehung setzt. Im Durchgang durch die historischen und konfessionellen Wandlungen des Seelsorgebegriffs erschließt sich Kösdin als chrisdiche Allgemeinbestimmung: Seelsorge ist „die Bemühung um die Seele im Interesse ihrer Erhaltung und Bewahrung". Die Seele als „das geistige Theil im Menschen" soll auf das in Jesus Christus erschienene ewige Leben gegründet werden und damit die Möglichkeit ergreifen können, „in den Besitz der von ihm dargebotenen Heilsgüter und unter den Bereich der von ihm ausströmenden Heilskräfte zu gelangen" 104 . Deshalb ist für die Seelsorge die Fähigkeit bedeutsam, sich jeweils in die konkrete Lebenswirklichkeit einfühlen und individuell auf sie eingehen zu können. Auch im Zerrbild der seelsorgerlichen Methodik des Jesuitenordens sieht Kösdin diesen Grundsatz noch verdeutlicht: „Wesentliches Erfordernis für den Seelsorger ist außer der völligen Einigung seines Willens und Denkens mit dem absoluten Willen der Kirche, d. i. des Ordensoberen bezw. des Papstes die höchste Bildsamkeit und Geschmeidigkeit, vermöge deren er sich den Personen angenehm zu machen, den Verhältnissen anzupassen, nicht bloß den Bedürfnissen, sondern auch den Schwächen der Zeitläufte, der Stände, der Parteien, der Individualitäten anzuschmiegen und sie im Interesse der Kirche auszunützen versteht."105 H. A. Köstlin, Die Wandlungen im Begriff der Seelsorge; in: HWDH i, S. 1-12, 57-66,108-117, 297-322. 1 0 3 A. a. O., S. 1; dort auch die nächsten Belege. 1 0 4 A. a. O., S. 2. 1 0 5 A . a . O , S . 111. 102
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Mit einem „Zweiten Artikel", der Wesen und Begriff der Seelsorge nach evangelischer Anschauung entwickeln will, hat Köstlin sodann seinen historischen Durchblick zur Seelsorgelehre zuendegefuhrt. Von Martin Bucer bis herauf zu Emil Sülze werden hier die einschlägigen praktischtheologischen Entwürfe rekonstruiert, um aus ihnen einen Allgemeinbegriff evangelischer Seelsorge zu erheben: Ihrem Wesen nach besteht sie in der „heilskräftigen Einwirkung des Geisteswortes auf die Gewissen". Ihr grundsätzliches Ziel ist die Heranführung zur vollen Reife des Glaubens bzw. die „Ausbildung der kirchlichen Anstaltsgenossenschaft zur wirklichen Heilsgemeinde", weshalb sie immer an die Beziehung zwischen „lebendigen Personen" gebunden bleibt.106 Seelsorge als „Zudienung des Heilsworts von Person zu Person, wie sie die besondere Lage und das besondere Bedürfnis des einzelnen erfordert"107 — von hier aus ist die Formel zu verstehen, mit der Kösdin seine Seelsorgekonzeption klassisch auf den Begriff gebracht hat: Seelsorge ist Zudienung des Heilsworts an den Einzelnen.108 Nur vordergründig mag es so scheinen, als ob von dieser Definition aus eine direkte Linie zu Eduard Thurneysens Bestimmung von Seelsorge als „Ausrichtung des Wortes Gottes an den Einzelnen"109 führte und folglich „die gängige Meinung, erst die dialektische Theologie habe die theologische Besinnung auf die Mitte der Seelsorge gebracht"110, schon anhand solcher Parallelität der Sprachmuster als sachlich unzutreffend sich erwiese. Im Gegensatz zu solch kurzschlüssigen Auffassungen werden die unterschiedlichen historischen Kontexte und Frontstellungen auch theologiegeschichtlich entsprechend differenziert zu würdigen sein — wie ja überhaupt die „positiven" und altgläubigen Kreise der Zwischenkriegszeit den Einspruch der dialektischen Theologie sowie ihre Berufung auf das Wort Gottes nur sehr vereinzelt als schließliche Koinzidenz mit denjenigen Glaubensüberzeugungen interpretierten, die sie selber schon seit Jahrzehnten gepflegt hatten. Insofern ist auch die unterschiedliche materiale Entfaltung vermeintlich gleichlautender Seelsorgedefinitionen immer mit in den Blick zu nehmen, damit die faktiA. a. O., S. 298. H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 231. 108 vgl a . a . o . , 1. Auflage, S. 126; dazu ders., Rez. „A. Krauss, Lehrbuch der praktischen Theologie"; in: ThLZ 16 (1891), Sp. 630: „Die Seelsorge nach evangelischer Auffassung ist nicht Leitung der Seelen, sondern Einwirkung auf die freie christliche Persönlichkeit durch Zudienung des Wortes in und ausserhalb des Cultus, in geordneten und in freien, casuell durch Personen und Umstände bedingten Formen, tt 109 £ Thurneysen, Die Lehre wn der Seelsorge, S. 9; Thurneysen erwähnt Köstlin übrigens nur an zwei Stellen (S. 137; 176) - und zwar lediglich summarisch und gerin ii. i^. Harsch, Geschichte der Seelsorgeausbildung am Theologischen Seminar Friedberg/Hessen, S. 77; vgl. F. Wintzer (ed.), Seelsorge, S. XXII. 106
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sehen historischen und theologischen Differenzen nicht vorschnell nivelliert werden: Es lohnt einer genaueren Untersuchung darüber, in welchem praktisch-theologischen Kontext Seelsorge jeweils als „Verkündigung des Wortes Gottes an den Einzelnen" bestimmt wurde. Seelsorge besteht, so Köstlin in einer komprimierten Zusammenfassung seiner seelsorgetheoretischen Leitgedanken, „in der Einwirkung von Person zu Person auf das Gewissen durch das Mittel des Wortes, sei es des gesprochenen in Form der Mahnung oder Warnung, sei es des in der eigenen Person zur Anschauung gebrachten in Form des Vorbilds in Wesen und Wandel. Sie wendet sich an die freie Selbstentscheidung des Christenmenschen, der seine Seligkeit selbst zu schaffen hat, das ihm nach seinem Ursprung und seiner Bestimmung wesentliche, durch Jesus Christus errungene und im Evangelium dargebotene ewige Leben kraft eigenen Willensentschlußes selbst ergreifen muß. [...] Diese aber, die dauernde Lebensverbindung mit Jesus Christus, die völlige Einigung des Willens mit dem Willen des Herrn, die Verbindung und Einigung der persönlichen Lebensinteressen mit den Interessen des Reiches Gottes, und die hieraus sich ergebende lebendige Teilnahme an allen auf seine Herstellung gerichteten Arbeiten und Einrichtungen, vor allem also an dem Leben der Gemeinde, ist das Ziel der Seelsorge."111 Chrisdiche Persönlichkeits- und Gemeinschaftsbildung in freier Gewissensentscheidung sind diejenigen Bestimmungen, welche in der seelsorgerlichen Bemühung um eine willenseinige Lebensverbindung mit Jesus Christus von grundlegender Bedeutung sind. Seelsorge meint somit „eine auf die Gewinnung des Menschen für das Reich Gottes, auf die Erweckung desselben zu Buße und Glaube gerichtete Bemühung" - eine Bemühung, die sich immer als „Einwirkung auf die freie Selbstentscheidung des Menschen im Interesse seines persönlichen Heils" versteht. 112 Doch darf die Verkündigung des Wortes Gottes weder auf das geschriebene Wort der Bibel noch auf das gesprochene Wort etwa der Predigt oder der seelsorgerlichen „Einzelberatung" 113 eingegrenzt werden. Denn ob die Seelsorge an ein Wort der Bibel anknüpft, oder ob sie sich darauf beschränkt, dieses „in der eigenen Person zur Anschauung zu bringen und so ohne Wort unmittelbar wirken zu lassen, das ist nicht wesentlich: was sie als Seelsorge kennzeichnet, ist eben nur dies, daß es das Heilswort H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 42f. H. A. Köstlin, Die kirchliche Seelsorge an den Gefangenen; in: HWDH 13 (1890), S. 106; ders., Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 247, vgl. S. 231. Im Anschluß daran W. Fleck, Zur Lehre von der Seelsorge; in: NKZ 11 (1900), S. 948: „Ob Seelsorge im einzelnen Falle überhaupt möglich ist, ist wesentlich durch die Willensstellung dessen bedingt, auf den sie sich richtet. Sie hat es mit der Freiheit des Menschen zu thun, sie ist keine mechanische Kraftentwicklung, sondern Einwirkung auf die freie Selbstbestimmung." 1 1 3 H. A. Köstlin, Die Wandlungen im Begriff der Seelsorge, S. 3. 111
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ist, das sie, sei es durch ausdrückliche Bezugnahme auf das Bibelwort, sei es durch die stille Macht der das Evangelium %ur Anschauung bringenden Persönlichkeit, in Wirkung Wesentliche Dimensionen der Verkündigung des Heilswortes können und sollen im Seelsorger personalisiert werden, damit „sein ganzes Wesen und Gehaben etwas fühlen lasse von der Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes"115. Das Wort verleiblicht sich so gleichsam bis in die Person des Seelsorgers hinein und wirkt auch in konkreten kommunikativen oder situativen Aspekten. Gerade vor dem Hintergrund seiner kirchenmusikalischen Interessen ist Köstlin nachhaltig daran gelegen, „dem Wort auf alle nur mögliche Weise Bahn zu brechen, nicht bloss die Redegäbe, sondern auch die anderen von Gott verliehenen Gaben wie z. B. Gesang, Malerei, Plastik in den Dienst des Worts zu rufen, weil Gottes Wort nicht bloss das gesprochene, sondern auch das gesungene und dargestellte sein kann." 116 In seiner Leben-stiftenden Wirkmächtigkeit materialisiert sich das Wort Gottes auch außersprachlich, vor allem in künstlerischen Gestaltungen — er soll deshalb nicht lediglich verbal mitgeteilt werden, sondern vielmehr zugleich auch eine personale und szenische Verdichtung erfahren: „Was im gemeinsamen Gottesdienst der heilige Raum, die feiernde Gemeinde, Orgelton und Liederklang wirken, die friedvolle Sabbatstimmung, das muß am Krankenbett die Person des Seelsorgers allein leisten. Er muß etwas von der Luft, die um Jesus weht, mitbringen."117 Die Person des Seelsorgers soll im Seelsorgegespräch symbolisch für das einstehen, was für die Gemeinde in der Versammlung zum sonntäglichen Gottesdienst liegt: Zweckfreie Sabbatruhe, feiernde Vergegenwärtigung des Heiligen, christologische Konzentration. Dabei ist insbesondere die Zweckfreiheit, die innere Freigabe der Person des anderen, für die seelsorgerliche Zudienung des Heilswortes an den Einzelnen von fundamentaler Bedeutung: „Das Gewicht des Wortes und damit die Kraft und der Erfolg der seelsorgerlichen Wirkung hängt davon ab, daß es sich vor dem Gewissen des Hörers als Wort Gottes erweist, als ein Wort, das einzig von dem Interesse für das Reich Gottes und für das wahre, recht verstandene Heil des Hörers eingegeben ist. Alle Kraft und Wirkung wird ihm genommen, wenn selbstische Interessen, persönliche Empfindlichkeit, gekränkte Eitelkeit sich dahinter verstecken oder darin verraten."118
H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 233. A. a. O., S. 347. 1 1 6 H. A. Köstlin, Rez. „Bedenken, christliche, über modern christliches Wesen", Sp. 384. 1 1 7 H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 348. 1 1 8 A. a. O., S. 322. 114 115
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Der Dienst der Seelsorge besteht darin, sich für den Blick auf den anderen innerlich freizugeben. Echte Gesprächsbereitschaft sowie Aufmerksamkeit und Gespürigkeit für das individuelle Bedürfnis und die inneren Konflikte des Gegenübers sind das, was der Seelsorger anzubieten und zu verkörpern hat und was eine wirklich persönliche Zudienung des Heilswortes im Sinne einer Antwort des Glaubens überhaupt erst ermöglicht. Nicht für den Erfolg dieser Bemühung hat der Seelsorger einzustehen wohl aber für seine Bereitschaft zu kritischer Selbstüberprüfung, was die Herstellung eines vertrauensvollen Gesprächsraumes sowie einer glaubwürdigen Gesprächshaltung anbelangt. In diesem Sinne expliziert Köstlin am Beispiel des seelsorgerlichen Krankenbesuchs: „Wir haben nicht die Aufgabe, mit dem Kranken in bestimmter Zeit zu einem bestimmten Ziel zu kommen, einen Heils-Kursus mit ihm durchzumachen, sondern, so gut wir's nach bestem Wissen und Gewissen vermögen, im Interesse seines Heils auf ihn einzuwirken durch gewissenhaft abgewogene Darbietung dessen, was ihm nach seiner besonderen Lage not tut und förderlich ist." 119 Denn mit der Bestimmung der seelsorgerlichen Aufgabe als Bemühung um Einwirkung auf die Persönlichkeit im Interesse ihres Heils soll zugleich das Ergebnis dieser Bemühung — die persönliche Entscheidung zum Glauben - der Machbarkeit und dem Verfügungsbereich des Seelsorgers entzogen werden und der Wirkung Gottes und seines Geistes anheimgestellt bleiben. 2.4. Amt und Gemeinde Im Sinne der reformatorischen Rede vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen erinnert auch Köstlin zunächst an die grundlegende Bestimmung protestantischer Mündigkeit: „Jeder ist für die eigene Seele verantwortlich", jeder ist „sein eigener Seelsorger".120 Nicht zum Ersatz eines mündigen, selbstverantwortlichen Christenlebens, wohl aber zu seiner besseren Ausformung und zur zuverlässigen Stellvertretung in der gegenseitigen Pflege hat die Gemeinde als „Ideal-Person" das Amt aus sich herausgesetzt, um die durch alltägliche Konvivienz konstituierten seelsorgerlichen Pflichtenkreise der einzelnen Gemeindeglieder subsidiär zu unterstützen. Das Amt und der mit ihm betraute Pfarrer „tritt nicht an die Stelle der natürlichen Seelsorger, sondern ihnen zur Seite, durch seine Handreichung mit der ihm eigentümlichen, berufsmäßig gewonnenen größeren Vertrautheit mit dem Hauptmittel der Seelsorge, dem Worte Gottes, und der ihm zu Gebot stehenden relativ reicheren Erfahrung die
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A. a. O., S. 354. H. A. Köstlin, Die Wandlungen im Begriff der Seelsorge, S. 2, 5. 175
natürliche Seelsorge ergänzend [,..]."121 Zur Fundierung seiner Seelsorgelehre hatte sich Köstlin deshalb in seinen ersten Veröffentlichungen um eine historische Rekonstruktion der kirchlichen Amtstheologien bemüht: Seine Studie zum Begriff des geistlichen Amts, die zeitlich in die ersten Jahre seiner Friedberger Lehrtätigkeit fällt, stellt insofern eine Grundlegung seiner dortigen Vorlesungen in Pastoraltheologie dar. Diese historische Untersuchung zielt auf eine systematisch-theologische Bestimmung von Kirche — freilich in praktisch-theologischer Absicht: Köstlin streicht in dieser Studie heraus, daß die theoretische Gliederung des Amtsbegriffs abhängig ist von der jeweils korrespondierenden Kirchentheorie — die „in der Gegenwart gegebene empirische Kirche" ist erst im Durchgang durch den weitverzweigten Verlauf ihres Gewordenseins zu verstehen.122 Umgekehrt wird die Gesamtheit der christlichen Gemeinschaften von ihrem geschichtlichen Anfangspunkt her zugleich als ein organisches Ganzes begreifbar: „Indem die einzelnen, geschichtlich gewordenen Sonderkirchen zu der idealen Einheit eines in zeitlichem Nacheinander und räumlichem Nebeneinander sich entfaltenden geistigen Gesamt-Organismus zusammengefaßt werden, erscheinen die Sonderkirchen in ihrer spezifischen religiösen Bestimmtheit und Ausprägung nicht mehr bloß als zufällig entstandene Gegensätze, gleichsam als die erratischen Blöcke einer entschwundenen Zeit, sondern als Glieder eines Ganzen und dieses Ganze erscheint dem betrachtenden Blick als räumlich-zeitliche Projektion der Stiftung Jesu Christi, als die folgerichtige Fortsetzung und Auswirkung der von Ihm vollbrachten Erlösung [...]."123 Im Ergebnis dieses historischen Durchgangs zum Begriff des geistlichen Amts streicht Köstlin die Gemeinde als Trägerin des Heilsworts heraus und grenzt sie in ihrer Bedeutung von einem katholisierenden Verständnis der Kirche als Heilsanstalt ab.124 Die pastoraltheologische Reflexion auf das Amt sowie die Ausbildving pastoraler Identität müssen deshalb für Kösdin immer an eine praktisch-theologische Grundlegung im Gemeindebegriff zurückgebunden bleiben: Amt und Amtsführung sind eine Funktion der Gemeinde, wie umgekehrt die Aufgabe wechselseitiger Seelsorge ein bleibendes Charakteristikum evangelischen GemeindeleH. A. Köstlin, Die kirchliche Seelsorge an den Gefangenen, S. 112. H. A. Köstlin, Der Begriff des geistlichen Amts, S. 153. 1 2 3 A. a. O., S. 193. 124 Yg[ a a o . , S. 165f. Dazu ders., Der seelsorgerliche Krankenbesuch, S. 19: „Es gibt auf evangelischem Boden kein kirchliches Handeln im eigentlichen Sinne des Wortes, welches seinen Zweck in sich selbst hätte, so daß der Geistliche sich mit dem korrekten und vollständigen Vollzug desselben beruhigen dürfte [...]. Der oberste Gesichtspunkt und der letzte Zweck aller Amtstätigkeit ist, sei es direkt, sei es indirekt, die Einwirkung auf die christliche Persönlichkeit durch das W o r t [...]." 121
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bens ausmacht. Wenn auch die pfarramtliche Seelsorge stützend und organisierend zu den natürlichen Seelsorgeverhältnissen hinzutritt, so soll doch der Anspruch individueller Selbstverantwortung und gemeindlicher Wechselseitigkeit nicht grundsätzlich aufgegeben werden: Gemeinde ist Seelsorger-Gemeinde - dieser in Anschluß an E. Sülze geprägte Leitsatz Köstlins fundiert Gemeindetheorie und Seelsorgelehre in einem gemeinsamen Ursprung, der in der Wirkmächtigkeit des göttlichen Heilswortes liegt. Als Dienst der Liebe intendiert Seelsorge folglich protestantische Mündigkeit, Freiheit der Entscheidung sowie ein persönliches Glaubensverhältnis, sie behält aber als ihre Zielvorstellung immer zugleich die Eingliederung in die kirchliche Gemeinschaft, da in dieser das göttliche Heil seinen bekenntnisgemäßen irdischen Ort finden soll.125 Bei einer solchen praktisch-theologischen Grundlegung mußte der Spannung zwischen „Begriff und „Wirklichkeit" der Kirchengemeinden eine besondere Bedeutung zukommen: Der dogmatischen Bestimmung von Kirche als Gemeinschaft der Heiligen stand eine volkskirchliche Wirklichkeit gegenüber, die - auch jenseits der anonymen Massengemeinden in den neuen wirtschaftlichen Ballungsräumen - vielfach von religiöser Äußerlichkeit und Indifferenz gezeichnet war. Sofern der Satz, daß die Gemeinde Subjekt der Seelsorge ist, nicht zu einer leeren Phrase verkommen sollte, mußte den Fragen des Gemeindeaufbaus und der Gemeindereform eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Von daher war es nur konsequent, wenn Köstlin in der ersten Auflage seiner hehre von der Seelsorge ausfuhrlichen Bezug auf die Reformbestrebungen E. Sulzes genommen hat - dessen Dresdener Konzept einer „Seelsorgegemeinde" wird von Köstlin immerhin als die neueste Entwicklung auf dem Gebiet der Seelsorge eingestuft. In der zweiten Auflage der Lehre von der Seelsorge dagegen, als die Diskussionen um Sulzes Seelsorgegemeinden sich mit der weitgehenden Durchsetzung von Seelsorgebezirken bereits wieder gelegt hatten, zieht auch Köstlin Sülze nicht mehr in einer solch eingehenden Weise heran, sondern würdigt ihn schon mehr im Stil späterer Lexikoneintragungen. Er stellt ihn Spener und seinen Reformimpulsen zur Seite und urteilt zusammenfassend: „Die ganze Organisation der Gemeinde muß darauf angelegt sein, daß die Gemeinde sich zur Seelsorger-Gemeinde entwickeln und als solche auswirken kann, daß das Bewußtsein der Pflicht und des Rechtes der Teilnah1 2 5 H. A. Köstlin, Die hehre von der Seelsorge, S. 4. In diesem Doppelsinn auch R. Hopf, Vom Amt der Seelsorge; in: H.WDH 14 (1891), S. 64: „die Seelsorge ist diejenige Thätigkeit des kirchlichen Amtes, welche [...] auf dem Wege des freien persönlichen Einwirkens auf Grund und mit Hilfe des göttlichen Wortes an die einzelnen sich wendet unter Beiziehung der hierzu geeigneten Kräfte in der Gemeinde und, fügen wir gleich auch noch hinzu, in bewußter Abzielung nicht nur auf die Erbauung der einzelnen Seelen, sondern auch auf die Erbauung der Gesamtgemeinde."
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me an der Seelsorge in allen Gliedern geweckt und lebendig erhalten werde." 126 Insgesamt teilt Köstlin zwar Sulzes seelsorgetheoretischen Einsatz beim Gemeindegedanken, doch will er stärker als dieser zwischen Seelsorge und Diakonie trennen, wobei letztere als Verwirklichung der christlichen Liebe immer nur ein begleitendes Hilfsmittel der Seelsorge darstellen kann: „Seelsorge im eigentlichen, geistlichen Sinne ist [...] Versorgung, Stärkung, Erbauung der Seele durch das Wort" 127 . Entsprechend erhält in Köstlins Konzept der „Seelsorger"gemeinden das personale Moment einen deutlich höheren Stellenwert als bei Sülze, dessen reformerisches Engagement - trotz anderslautender Intention - vielfach in der Entwicklung von äußeren Organisationsformen zur sozialen Stützung „lebendiger Gemeinden" aufzugehen schien. Die Bedingungen freier religiöser Persönlichkeitsbildung drohten demgegenüber als eigenständiger Faktor unterbestimmt zu bleiben, weshalb Köstlin in seiner Rezension von Sulzes 1906 erschienener Schrift Die Reform der evangelischen Landeskirchen nach einer wohlwollenden Besprechung der kirchenreformerischen Vorschläge schließlich resümiert: „Wie man aber sich dazu stelle, welche Einschränkungen und Ergänzungen, welche Modifikationen man je nach dem Standort, den man einnimmt, wünschen mag, eines geht uns alle doch persönlich an: [...] daß der Gemeinde-Organismus richtig funktioniere, dazu bedarf es der rechten Persönlichkeiten. Lebendig ist ja die bestorganisierte Seelsorgergemeinde genau in dem Maß, als es lebendige, von Jesus Christus ergriffene, von seinem Geiste getragene Persönlichkeiten sind, aus denen sie besteht, die in ihr das Wort und die Führung haben, das Gemeindebewußtsein und das Gemeindeleben beinflussen."128 Folglich ist Köstlins Auseinandersetzung mit Sülze dadurch bestimmt, die unterschiedlichen Einzelforderungen zur Reform der „evangelischen Gemeinde" in ihrem Status kategorial zu sichten und in der theologischen Unterscheidung von eschatologischer „Heilsgemeinde" und kirchlicher „Rechtsgemeinde" zu verorten - gerade um die gutgemeinten Reformintentionen zur Errichtung von organisierten Seelsorgegemeinden nicht lediglich zu „Sittencensur", „Sittenpolizei" oder bloßer „ArmenDiakonie" zu veräußerlichen. Nicht die empirische Gemeinde als solche, die kirchliche 'Rechtsgemeinde, sei folglich schon Trägerin der Seelsorge oder eben wahrhafte Seelsorgergemeinde, sondern nur die unmittelbar im göttlichen Wort stehende Heilsgemeinde. Grundsätzlich bleibt somit für Köstlin die altprotestantische Unterscheidung von ecclesia late dicta und ecclesia stricte bzw. proprie dicta in Geltung - eine Unterscheidung, die 126 127 128
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H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 91. A. a. O., 1. Auflage, S. 121. H. A. Köstlin, Ein Vermächtnis; in: MPTh 3 (1906/07), S. 188.
sich im übrigen nicht vollständig mit jener von sichtbarer und unsichtbarer Kirche deckt, da auch die wahre Kirche bei aller weldichen Zweideutigkeit durchaus auch sichtbar werden kann: Nur die Heilsgemeinde, die „als Brennpunkt des Glaubens und der Liebe, als Mittelpunkt und Sammelort aller guten Kräfte, als Hüterin und Pflegerin der höchsten Bildung und des reinsten Menschentums, als Hort der Schwachen und Armen, als Zuflucht der Verkürzten und Verfolgten, als Retterin der Irrenden und Sündigenden" das Ideal einer christologisch-gegründeten Erlösungsgemeinschaft abbildet, kann deshalb Seelsorger-Gemeinde im eigentlichen, theologisch qualifizierten Sinn sein.129 „Die Gemeinde Jesu ist Seelsorgergemeinde in dem Maße, als sie Wortgemeinde und Glaubensgemeinde ist" 130 - diese theologische Unterscheidung erlaubt es Köstlin, das Gemeindeprinzip E. Sulzes für die Seelsorge beizubehalten, ohne jedoch dem Kurzschluß einer euphorischen Reformpraxis zu verfallen, welche sich „schwärmerisch" oder „gesetzlich" gegen die volkskirchliche Wirklichkeit wenden müßte. Aber gerade die für Sülze organisatorisch so drängende Frage, wie denn aus der konkretvorfindlichen Gemeinde durch christliche Erziehung und Disziplin eine wahrhaft evangelische Seelsorgegemeinde werden könne, wird von Köstlin weitgehend unbeantwortet gelassen und durch seine definitorische Bestimmung gleichsam sistiert: „Kurz, aktuelles Organ der Seelsorge ist die Gemeinde in dem Maß, als sie sich aus der Anstaltsgemeinde, der Gnadenmittel-Anstalt, zur Seelsorgergemeinde entwickelt, in der jedes Glied seine Seelsorgerpflicht erfüllt, Träger des Heilsworts und der Heilseinwirkung wird in dem Kreise, in den es gestellt ist, für diejenigen, die durch die Bande des Blutes oder des Berufes oder durch besondere Verhältnisse und Lagen auf diese seine Einwirkung angewiesen sind."131 Die allenthalben ja gerade problematische Verankerung dieser Entwicklung von der Anstaltsgemeinde zur Seelsorgergemeinde in der faktischen Gemeindewirklichkeit bleibt von Kösdin weitgehend unberührt: Gemeindeideal und Gemeindewirklichkeit, reformorientierte theologische Normierung und problemorientierte organisatorische Praxisreflexion zweifellos defizitärer empirischer Strukturen werden auf diese Weise vorschnell harmonisiert und wechselseitig um ihre eigentlich provokanten Spitzen gebracht, so daß beide ihr kritisches Potential verlieren. Entsprechend verständnislos kritisiert denn auch M. Schian, daß bei Köstlin der Sulze'sche Gemeindebegriff „noch nicht entfernt zu konsequenter Durchsetzung" gekommen sei132 - denn trotz seiner prinzipiellen Befürwortung von 1 2 9 H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 96; vgl. ders., Der Begriff des geistlichen Amts, S. 165f. 1 3 0 H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 1. Auflage, S. 121; vgl. S. 143. 1 3 1 A. a. O., 2. Auflage, S. 41f. 1 3 2 M. Schian, Die evangelische Kirchgemeinde, Gießen 1907, S. 5.
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Sulzes Reformprogramm bleiben Köstlins Überlegungen im Kern nur auf die Heilsgemeinde bezogen, also gleichsam auf den systematischtheologischen Ort der „wahren Kirche", an welchem die objektive Wahrheit des Evangeliums bereits zur subjektiven Wahrheit des individuellen Glaubens geworden ist und die störende Mehrdeutigkeit des lebensweltlichen Kontextes unter den Bedingungen von Modernität ausgeblendet bleiben kann. 133 Der so entstandene theologische Rahmen ermöglicht es, eine kritisch-normative Bestimmung der Seelsorger-Gemeinde zu geben, ohne sich in detaillierte Strategien ihrer empirischen Umsetzung oder sozialen Verortung verstricken zu müssen. Eine eingreifende Qualität kann der Empirie auf diese Weise jedoch nicht zukommen; sie erscheint immer nur in der Brechung einer theologischen Perspektive, die der Erfahrungswirklichkeit im letzten übergeordnet bleibt und die faktisch nur auf einen immer kleineren Ausschnitt der Wirklichkeit noch zutrifft. Diesbezüglich ist aufschlußreich, wie Köstlin mit der Behandlung der sogenannten Gemeindepflege ein klassisches Feld der Pastoraltheologie in seine Seelsorgelehre miteinbezieht: Aspekte der Kirchlichkeit gehören ebenso in diese Rubrik wie die „seelsorgerliche Aufsicht über den sittlichen Lebensstand der Gemeinde", der im wesentlichen unter den Vorgaben einer göttlichen Schöpfungsordnung wahrgenommen wird und dessen Kernstück die Pflege des Familienlebens ausmacht. Solche Reflexion auf den Gemeindekontext, auf die Bedingungen der sozialkulturellen und alltagspraktischen Wirklichkeit, führt Köstlin aber immer gleichsam gerade nur so weit, wie das Auge des Pfarrers reicht; eine übergreifende Analyse kirchlicher Handlungsfelder erfolgt dabei nicht. Auch können Kategorien wie „Stellung zum weltlichen Regiment", „Reinerhaltung der Ehe" oder „Pflege des christlichen Geistes im Hause" kaum hinreichend für die Alltagswirklichkeit im proletarischen Milieu in Geltung gesetzt werden — sie bilden vielmehr eine bürgerlich-fromme Perspektive ab, die mit ihrem Leitbild der christlichen Persönlichkeit sich noch weitgehend unberührt zeigt von den Antagonismen politischer bzw. ökonomischer Modernisierungsprozesse. Eingebunden in eine schichtspezifische, gemeindezentrierte Optik noch jenseits eines industriellen Anschauungsraumes, geschieht folglich auch die begriffliche Rekonstruktion der Seelsorgelehre eher im Horizont einer traditionalen, bürgerlichen Welt. Dabei bewahrt der gemeindetheologische Blickwinkel die Seelsorgelehre zwar grundsätzlich vor ihrer Isolierung vom kirchlichen Kontext bzw. von der konkreten pfarramtlichen Praxis des einzelnen Amtsträgers, aber dennoch gerät die auf diese Weise eingeholte Wirklichkeit, bei aller menschlich-warmen Einfühlungsfähigkeit Köstlins, insgesamt eher blaß 133
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Vgl. z. B. H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 1. Auflage, S. 143,169.
und statisch, weil ihr nicht in ihrer aufsprengenden und produktiven Eigendynamik nachgegangen wird. Es fehlen in dieser theologisch überformten Perspektive letztlich doch die direkten alltagspraktischen Erfahrungen von Industrialisierung und lebensweltlicher Modernisierung, welche in ihrer eingreifenden Qualität auch Köstlins Seelsorgelehre eine gänzlich andere Brisanz und Tiefenschärfe zu geben vermocht hätten. So hingegen geschieht seine praktisch-theologische Reflexion der modernen Dissoziationserscheinungen vorwiegend in einer „populär-dogmatischen Terminologie"134, die sich vor allem der Sprachwelt J. T. Becks und des oberdeutschen Luthertums verdankt und die weithin auf eine spätidealistische, bürgerliche Begrifflichkeit zurückgreift. 2.5. Das Wort Gottes als Heilswort Wie die Spannungen zwischen empirischem und dogmatischem Gemeindeverständnis bei Köstlin einseitig zugunsten der theologischen Bestimmungen aufgelöst werden, so zielt auch seine Rede von der Gründung der Gemeinde in der Verkündigung des Wortes Gottes auf eine dezidiert theologische Perspektive — die Wirkmächtigkeit des Heilswortes selbst ist es, welche sachlich aller seelsorgerlichen Gemeinschaft vorläuft und sie erst ermöglicht. Von daher ist es zu verstehen, wenn Köstlin das „Wort Gottes" in der ersten Auflage der Lehre von der Seelsorge zu den „Organen der Seelsorge" rechnet und dort der Gemeinde sowie der seelsorgerlichen Persönlichkeit vorordnet. In der zweiten Auflage wird es demgegenüber - weniger einleuchtend - unter den „Aufgaben der direkten Seelsorge" aufgeführt und dabei dem "Wesen der Seelsorge" nachgeordnet: Mit dieser Tendenz, dem subjektiven Faktor im seelsorgerlichen Gebrauch des Wortes Gottes ein stärkeres Gewicht zu verleihen, sollte offenbar der enge Bezug des Heilswortes zum eigentlichen Seelsorgegespräch deutlicher zum Ausdruck gebracht werden, doch begibt sich Köstlin damit der Geschlossenheit seiner Konzeption. Die ohnehin vielfach angefochtene Anlage des Stoffes droht auf diese Weise noch stärker in zwei Hälften zu zerfallen: in Pastoraltheologie auf der einen und Seelsorge im engeren Sinn auf der anderen Seite. In systematisch-theologischer Perspektive behält das Wort Gottes gleichwohl seine tragende Funktion - die Offenbarung Gottes in seinem Wort ist schöpferisch, setzt Wirklichkeit frei und bleibt insofern aller Praxisreflexion vorlaufend: „Als eine Macht wirkt das Heilswort auf den Menschengeist, als zwingende Autorität tritt an den Willen des Menschen heran, sofern es sich als Wort Gottes kund gibt, d. h. nicht nur den Anspruch erhebt, als solches zu 134
D. Rössler, Grundriß der Praktischen Theologe, Berlin/New York 1986, S. 171. 181
gelten, sondern sich dem unbestochenen Wahrheits- und Rechtssinn als Kundmachung der absoluten Realität, der unausweichlichen Wirklichkeit, mit der jeder unbedingt zu rechnen hat, unmittelbar bezeugt, mit voller, unausweichlicher Evidenz einleuchtet."135 Die Selbstmächtigkeit des Wortes Gottes ist seine zentrale Bestimmung — wo es ergeht oder geschieht, da wirkt es in zu existentieller Entscheidung drängender Unmittelbarkeit auf das Gewissen. Hier verstummt jedes Abwägen oder Debattieren; die im Wort Gottes ergehende Anrede setzt ihre eigene, zwingende Wirklichkeit, deren Schöpfer und einzige Autorität Gott selbst ist. Die einzigartige Wirkung der Bibel besteht darin, daß sie den Menschen in eine Wirklichkeit rückt, „die sich ihm als eine unwandelbar gewisse, unverbrüchliche, unausweichliche aufdrängt, und eben damit ihn zwingt, sich mit ihr abzufinden so oder so, beziehungsweise darin, daß sie dem, der in ihr Wurzel gefaßt hat, einen Rückhalt gewährt wider alle Not und Anfechtung des Daseins, dem er als Erdenbewohner dem Leibe nach angehört." 136 Doch die Kraft sowie die schlechthinnige Verbindlichkeit dieser „Stimme der Ewigkeit" werden von Köstlin nicht lediglich in normativer Weise theologisch behauptet, sondern sie bleiben zurückgebunden an die Ebene subjektiver Evidenz und individueller Plausibilität: Das Einzigartige der Bibel geht nicht in ihrem theologischen oder ethischen Gehalt auf, ebensowenig im Geschehen der ästhetischen Erhebung, wenngleich in allen diesen Hinsichten ihr eine besondere Bedeutung zukommt - es liegt vielmehr in ihrer unerschöpflichen Lebensnähe und ihrer lebensbildenden Wirkmächtigkeit, in der „religiösen Erbauung, in der ethischen Förderung und Festigung, die wir bei ihr finden, in der Wirkung auf den religiös-ethischen Kern unseres Wesens, in dem Eindruck auf Gemüt und Gewissen" 137 . Denn „die Evidenz der Wahrheit beruht nicht auf der Thatsächlichkeit außer uns, die wir ja nie erreichen, sondern auf der Thatsächlichkeit in uns, auf der Folgerichtigkeit des Denkens, auf der Ubereinstimmung des Denkens mit der Ordnung und den Gesetzen seiner Organisation." 138 Die Wahrheit des Wortes Gottes ist folglich an die Dimension ihrer realen Erfahrbarkeit gekoppelt; sie bleibt verwiesen auf rezeptionsästhetische Einsichten und ist damit zurückfuhrbar in praktisch-theologische Reflexionszusammenhänge: „Sehen wir die einzelnen Worte und Partien der heiligen Schrift auf ihre Wirkung an, die erfahrungsgemäß eine mannigfaltig abgestufte ist, so haftet die
135 136 137 138
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H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 236. A. a. O., S. 239. A. a. O., 1. Auflage, S. 134. H. A. Köstlin, Wissen und Glauben; in: DLBl9 (1886/87), S. 94.
stärkste Wirkung nicht sowohl an denjenigen Stücken und Worten, welche einer göttlichen Forderung oder Lehrmeinung in apodiktischer Weise Ausdruck geben, als vielmehr an denjenigen, in welchen das Ewigkeitsleben, die göttliche Seinswelt und Lebensordnung sich als Erfahrung, als ein Erlebtes bezeugt, als die das Leben gestaltende, die ganze Persönlichkeit erfüllende und tragende, allen dagegen anstürmenden Gewalten standhaltende und sie überwindende reale Kraft zur Anschauung kommt, die uns anmuten als Auswirkung und Ausstrahlung des höheren Lebens selbst."139 Auch für Köstlin erweist sich somit die Erfahrung als vermittelnde hermeneutische Kategorie der Wirkmächtigkeit des göttlichen Heilswortes. Dabei geht es ihm vor allem um den Anschauung und Identifikation stiftenden Wert narrativer biblischer Texte, den diese ethisch-appellativen oder theologisch-reflektierenden Passagen voraus haben. Wie das Wort Gottes „Evangelium" ist, Heilswort nämlich als Zeugnis von Jesus Christus, so finden auch die biblischen Schriften in ihrer „Christus-Tendenz und Christus-Mäßigkeit" ihre Mitte: „Je christocentrischer wir lesen und auslegen", so formuliert Köstlin, desto deutlicher und zuverlässiger erweist sich die Bibel als Trägerin und Übermittlerin des Heilswortes. 140 Die biblischen Überlieferungen der Worte und Taten Jesu sind gleichsam „Bruchstücke eines wundervollen Kunstwerks", in denen Person und Persönlichkeit Jesu aufscheinen und die das Geschehen einer lebendigen, ethisch-verpflichtenden Begegnung eröffnen: „Die durch sie erfolgende Berührung mit ihm selbst macht sie zu Kräften, die in uns eine Lebensbewegung auslösen; das in den Worten flutende Personleben ist es, an dem sich in uns Leben entzündet." 141 Auch bei Köstlin findet sich denn die vielfach verwendete Formel: „Nur am Leben entzündet sich das Leben." 142 Zur Näherbestimmung dieses Persönlichkeitslebens Jesu führt Kösdin im Sinne einer lebensphilosophischen Zivilisationskritik psychologisierend aus: „Was ihn für uns über alles menschliche Wesen hinaushebt und zum Gottwesen macht, das ist die Wahrnehmung einer sittlich-religiösen Überlegenheit, einer Reinheit, Echtheit, Ursprünglichkeit und Wahrhaftigkeit gegenüber aller Verschrobenheit, Gebrochenheit, Verkranktheit, Unsauberkeit und Unwahrheit in Menschen und Zuständen, einer Liebe, einer Selbstaufopferung, eines 1 3 9 H. A. Köstlin, Die Lehn von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 240; vgl. ders., Predigten und Reden, S. 13: „Wir müssen die Schrift wissenschaftlich studieren, um an das Wort Gottes, an das Evangelium möglichst nahe heranzukommen. Aber was wirkt, was die Gewissen trifft, die Herzen erquickt, das ist nicht die theoretische Erkenntnis, sondern das durch unsere persönliche Erfahrung hindurchgegangene, zum persönlichen Erlebnis gewordene Wort Gottes." 1 4 0 H. A. Köstlin, Die Lehre wn der Seeborge, 1. Auflage, S. 141; 2. Auflage, S. 251. 1 4 1 A. a. O., 2. Auflage, S. 244. 1 4 2 H. A. Köstlin, Predigten und Redin, S. 13.
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heiligen Seins und Wollens, wie wir es eben nur in Gott selbst als möglich und wirklich denken."143 Um den Menschen vor dem Zugriff materialistischer Reduktion oder der semantischen Verflüchtigung zu einem bloß idealen „Durchkreuzungspunkt der gesamten Lebenstätigkeiten" zu bewahren, unterscheidet der christliche Glaube, so Köstlin, die Seele als Trägerin eines „eigentümlichen, geistigen Lebens" von dem Bedingungsgefüge der sinnlichen Welt.144 Als Organ und Trägerin des Geistes und des Lebens verweist die Seele den Menschen auf seine eigentümliche Aufgabe und Befähigung, sich über das Äußerliche und Vorfindliche hinaus als freie und verantwortliche Persönlichkeit zu begreifen und „alle Hemmnisse, welche sich der Bemühung um Erhaltung ihres Lebens und um Erreichung ihrer Bestimmung entgegenstellen, mit Erfolg zu überwinden"145. Auch die Seelsorge muß folglich eine bloße Psychohygiene oder „Gesundheitspflege der Seele" übersteigen - ihr Ziel liegt in einer lebendigen Teilnahme an der konkreten „Herstellung des Reiches Gottes" im Sinne einer umfassenden Gemeinschafts- und Beziehungsfähigkeit.146 Auffallend ist, wie sich hier Köstlins südwestdeutsche Bibelfrömmigkeit mit der Reich-Gottes-Theologie A. Ritschis bzw. W. Herrmanns berührt, genauso wie umgekehrt populäridealistische Wendungen („Persönlichkeit") von ihm mit einer bibeltheologisch geprägten Sprache im Sinne J. T. Becks („Selbstentscheidung") verbunden werden. Zur Begründung der Seelsorge im engeren Sinn hat Köstlin darüber hinaus in der ersten Auflage seines Lehrbuchs auch die „Seelenlehre" Becks ausfuhrlich herangezogen; in der zweiten Auflage bleibt sie dagegen nur noch als impliziter Verweisungszusammenhang erkennbar.147 Doch gerade angesichts der Bemühungen Köstlins um biblische Gründung und erfahrungsnahe Öffnung der Seelsorgelehre wird immer wieder deutlich, wie die faktische Ausgesetztheit christlicher Existenz mit diesen theologischen Bestimmungen vielfach eben nur verkürzt in den Blick gerät - zumal unter den Bedingungen einer sich modernisierenden Welt. Der Verfehlung und dem Scheitern, als konstitutiven Bestandteilen menschlicher Existenz, kommen in seinem Entwurf keine eigene theologische Dignität zu - sie stehen gleichsam warnend an den Rändern
H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 246. A.a.O.,S. 1. 1 4 5 A. a. O., S. 2. 1 4 6 Vgl. a. a. O., S. 2f., 43. 1 4 7 Vgl. J. T. Beck, Umriß der biblischen Seelenlehre, Tübingen 2 1862; H. A. Köstlin, Die Lehn von der Seeborge, 1. Auflage, S. 267f., 271f.; 2. Auflage, S. 231ff. Zu Beck's Lehre vom „Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit" vgl. R. Kübel, Art. „Beck, Johann Tobias", S. 698, 701ff. 143
144
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christlicher Existenz, deren Kern letztlich harmonistisch durch das ungebrochene Ideal eines „gotterfullten und gottgemäßen Lebens" im Sinne einer völligen „Willenseinigkeit mit dem Herrn" bestimmt ist. 148 Die Radikalität von Sünde und Gnade scheint hier zugunsten einer milden psychologisierenden Anschaulichkeit harmonisiert worden zu sein, wodurch umgekehrt gerade die von Köstlin angestrebte Lebensnähe an Schärfe und Farbe verliert. Doch kann andererseits auch in Kösdins Perspektive die Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes letztlich nicht argumentativ eingeholt werden - sie erweist sich vielmehr in jeweils unverfugbarer persönlicher Evidenz und kann nur im Wagnis des gelebten Lebens selber erfahren werden. Über allen historischen Abstand hinweg hat sich die Bibel immer wieder als lebendige Quelle götdicher Offenbarung und persönlicher Glaubenszuversicht erwiesen, welche in leidvoller oder vergewissernder Unmittelbarkeit dem Einzelnen als höhere, aufsprengende und erneuernde Macht begegnete: „Das giebt dem Schriftwort seine überzeugende, zwingende, je nachdem niederbeugende oder aufrichtende Kraft, daß es sich giebt und erweist als unmittelbares Zeugnis einer Lebenswirklichkeit, deren ewiger Bestand für sie nicht etwas Erschlossenes, sondern etwas Selbstverständliches ist, als Zeugnis der ewigen Gottesordnung, an der keiner vorüberkommt, an der zerschellt, wer wider sie anläuft."149 Trotz aller Wechselhaftigkeit der Zeidäufte bleibt somit das Heilswort selber ein unverrückliches und einheitliches, das mit seiner überkommenen Autorität unangefochten vorausgesetzt werden kann. Sein Bestand und Inhalt ist mit seiner Uberlieferung eindeutig festgelegt und muß als Evangelium Jesu Christi nur noch situativ appliziert werden - die Aufgabe des Seelsorgers ist es dabei, im Horizont dieses einen Heilswortes das Einzelne und Konkrete zum Ganzen zusammenzuschauen und es zur persönlichen Aneignung individuell auszulegen. 150 2.6. Die Einheit der Seelsorge und ihn methodische
Differenzierung
In einem umfassenden Sprachgebrauch ist „Seelsorge" die allgemeine Bestimmung christlicher Verkündigung und Erbauung, welche in allen gemeindlichen Handlungsfeldern das leitende Motiv abgibt: Die „auf ihre Erbauung zum Leibe Christi gerichtete Bemühung der Gemeinde als der Trägerin der Gnadenmittel ist die Seelsorge, das Wort im weitesten Sinne genommen. Sie ist die Seele und der Nerv, der Zweck und die treibende 148 149 150
H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 3, 42f. A. a. O., 1. Auflage, S. 135. Vgl. a. a. O., 2. Auflage, S. 251. 185
Kraft aller Tätigkeiten, die von der Kirche ausgehen, also ihnen allen übergeordnet."151 Zur näheren Differenzierung dieser praktisch-theologischen Allgemeinbestimmung hat auch Köstlin auf die altprotestantische Unterscheidung von „genereller" und „specieller" Seelsorge zurückgegriffen, welche der Wechselseitigkeit und Gleichursprünglichkeit von „Gemeindeerbauung" und „Erbauung des Einzelnen" Rechnung tragen sollte. In ihrem enger gefaßten Sinn bezieht sich Seelsorge dagegen allein auf die individuelle Erbauung, auch da, wo sie im öffentlichen Raum etwa des Gottesdienstes geschieht: Die cura generalis ist nicht einfach mit der gottesdienstlichen Verkündigung, die cura specialis nicht mit dem Seelsorgegespräch zu identifizieren. Umgekehrt ist nicht alle Erbauung schon Seelsorge im engeren Sinn, sondern differenziert sich in unterschiedliche Formen der verkündigenden „Zudienung des Heilsworts": die monologische Rede in der Predigt, das zielgerichtete Gespräch im Unterricht sowie der seelsorgerliche Dialog eines freien persönlichen Gesprächs machen erst in ihrer Gesamtheit eine erbauende Zudienung des Heilsworts aus und haben methodisch alle drei in Predigt, Unterricht und Seelsorgegespräch ihr Recht und ihre jeweils besondere Aufgabe: „Es darf also nicht gesagt werden, daß die wesentliche Form für die Verkündigung die Predigt, für die der dialektischen Vermittlung die Katechese, der Unterricht, für die der persönlichen Bezeugung das seelsorgerliche Einzelgespräch sei." 152 In Predigt, Unterricht und seelsorgerlicher Einzelbesprechung müssen vielmehr alle drei Formen der Verkündigung einander durchdringen, sofern denn „ein Funke göttlichen Lebens vom Redenden auf den Hörenden überspringen" und es in diesem zur „Auslösung einer neuen Lebensbewegung" kommen soll.153 Mit diesem Ausgriff auf die Gleichursprünglichkeit jeder Zudienung des Heilswortes geht es Köstlin um die einheidiche Bestimmung von Seelsorge als einer spezifischen Verkündungs&w«J70», die in unterschiedlichen Ve rkündigungs Situationen zum Tragen kommen kann. Zur präziseren Erfassung der gemeinhin mit dem Begriffspaar „genereller" und „specieller" Seelsorge bezeichneten Differenz schlägt Köstlin deshalb die alte, auf die Aufklärungstheologie Johann Salomo Semlers (1725—1791) zurückgehende Unterscheidung von „öffentlicher" und „privater" Seelsorge vor, welche die methodische und situative Differenz der jeweiligen „Verfahrungsweise" 154 angemessener beschreiben soll. Denn auch Predigt und Unterricht können einen primär seelsorgerlichen Charakter erhalten, sofern in ihnen die individuelle Tröstung und Mah151 152 153 154
186
A. a. O., S. 40; vgl. a. a. O., 1. Auflage, S. 122. A. a. O., 2. Auflage, S. 316. Ebd. A. a. O., S. 317.
nung in den Vordergrund gerückt wird, wie umgekehrt eine seelsorgerliche Einzelbesprechung durchaus Verkündigung oder Unterrichtsgespräch sein kann, ja geradezu „jede von dem Interesse der Seelsorge getragene Wortdarbietung sowohl Verkündigung als Unterweisung und Zeugnis sein muß." 155 Oberster Gesichtspunkt für eine seelsorgerliche Wortverkündigung im engeren Sinn ist die Beziehung auf den Einzelnen und sein Heilsbedürfnis: In welchen Formen sich Seelsorge auch vollziehen mag, „immer wird es sich darum handeln, das Heilswort, sei es durch die öffentliche Verkündigung, sei es durch die private Zudienung zur Wirkung zu bringen, d.h. so zu verwenden, daß es sich in Kräfte umsetzt, die auf die Persönlichkeit einwirken."156 Gerade hierin deckt sich für Kösdin der Gebrauch der Termini „öffentlich" und „privat" nicht mit den Bedeutungsfeldern der sogenannten generellen bzw. speziellen Seelsorge: „Die Scheidung der S. [eelsorge] in generelle und spezielle im hergebrachten Sinn, wonach die erstere mit der öffendichen, die letztere mit der privaten identifiziert wird, ist irreführend, da keineswegs alle private S. [eelsorge] als solche schon speziell, zum voraus schon auf spezielle Punkte zugespitzt sein muß, spezielle S. [eelsorge] aber nur diejenige zu heißen verdient, welche durch eine ganz spezielle Aufgabe bedingt ist."157 Allgemeinheit (cura generalis) und Besonderheit (cum specialis) stehen sich nicht in einer solchen Weise gegenüber, daß das Allgemeine immer in der Öffentlichkeit etwa der Gemeinde und das Besondere immer in der Privatheit des Individuums aufginge. „Die öffentliche Seelsorge ist eine allgemeine nur insofern, als sie es zunächst mit der Gemeinde als Gesamtheit oder doch mit einem Kollektivum, mit einer größeren Gruppe zu tun hat, deshalb von dem, was die einzelnen innerhalb dieser Gruppe von einander unterscheidet, zunächst absieht und das allen Gemeinsame ins Auge faßt [...]. Aber das allen Menschen Gemeinsame ist ja gerade das Innerste, das Tiefste, das Individuellste im Menschen. Dieses, den innersten Kern der Individualität, das Zentrum der Persönlichkeit, will sie treffen und erfassen, auf den einzelnen will sie einwirken gerade, wenn sie und indem sie sich an die Allgemeinheit wendet. Sie ist also auch als öffendiche, wenn nicht individuell bedingt, nicht gelegendich veranlaßt, so doch individuelle, d. i. auf die Person des einzelnen gerichtete Seelsorge."158 Zugespitzt kann sogar gesagt werden: „die öffendiche, in gewissem Sinn allgemeine Seelsorge ist um so wirksamer, je spezieller sie ist, und die private (die spezielle) ist 1 5 5 A. a. O., S. 315. Vgl. dazu ders., Rez. „G. Rietschel, Lehrbuch der Liturgik, I. Band", S. 266f., wo Köstlin sich ergänzend mit liturgischen Aspekten von Verkündigungssituationen auseinandersetzt. 1 5 6 H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 234. 1 5 7 H. A. Köstlin, Art. „Seelsorge", S. 688. 1 5 8 H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 316.
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um so gesegneter, je allgemeiner sie ist, je mehr sie sich als die Auswirkung der öffentlichen erweist, je mehr es ihr gelingt, die Einzel-Not in das Licht des Wortes zu rücken, in das allgemeine Leben des Glaubens aufzunehmen."159 Das eine Wort Gottes ist zwar als universell Gültiges bleibend mit sich identisch, seine Präsentation zur individuellen Aneignung ist jedoch so zu gestalten, daß es im persönlichen Leben auch tatsächlich ankommen und einwirken kann. So erläutert Köstlin den Gehalt der Forderung, daß eine Predigt als Verkündigung auch „interessant" sein müsse, in seelsorgerlicher Perspektive dahingehend, daß sie für eine bestimmte Gemeinde mit allen ihren Anliegen und Fragen so aktuell und individuell wie möglich formuliert sein soll: Ohne die Einbeziehung der konkreten seelsorgerlichen Erfahrungszusammenhänge entbehrte sie der notwendigen „Lebendigkeit und frischen Concretheit", sie bliebe „abstract" und unpersönlich. 160 Die Predigt soll deshalb „vom Worte Gottes jedesmal das vorausstellen, was dem Interesse und dem Verständnis des Menschen nach der Zeit, in der er lebt, und nach den Verhältnissen, unter denen er lebt, am nächsten liegt, sich in natürlicher Weise an das, was im allgemeinen Bewußtsein feststeht, anknüpfen läßt, zu den Fragen, welche den Hörern auf der Zunge liegen oder welche sie halb unbewußt im Herzen umtreiben, in Beziehung steht, was geeignet ist, auf ihre Seelenlage Licht zu werfen, ihnen ihr eigenes Inneres aufzuschließen, sie zu sich selbst zu bringen und vor das eine Notwendige zu stellen". 161 In gleicher Weise ist für einen seelsorgerlichen Religionsunterricht zu fordern, „daß die Heilswahrheit unter dem Gesichtspunkt der Antwort auf die aus dem Wahrheits- und Rechts- bezw. Seligkeitstrieb entspringenden Grund- und Lebensfragen zu einem relativen Ganzen verknüpft, als den Menschen tragendes und befriedigendes Lebenssystem aufgezeigt wird [...]." 162 Nicht intellektuelle Wissensvermittlung, sondern sittlich-religiöse Durchbildung ist folglich das Ziel dieses Unterrichts, der zu persönlicher Glaubensüberzeugung und lebendiger Frömmigkeitspraxis an-
1 5 9 A. a. O., S. 317. In diesem Sinne auch C. Windel, Die Gefahren der Äußerächkeit im christächen Seelenleben, Wiesbaden 1886, S. 33f.: „Ein und dieselbe christliche Wahrheit spiegelt sich gar mannigfaltig in den verschiedenen Seelen wieder. Dabei stellt sich heraus, daß je individueller eine Wahrheitserkenntnis angeeignet wird, desto innerächer und ursprünglicher sie ihre Lebenskraft erweist. Zwar bezeichnet man das individuelle, das ursprüngliche Wesen eines Menschen vielfach als rein 'Äußerliches' desselben, gleichsam Entschuldigung suchend für dasselbe. Dieser Ausdruck ist jedoch völlig unzutreffend, indem umgekehrt jenes sogenannte 'Äußerliche' das Innerste des Betreffenden ist." 1 6 0 H. A. Köstlin, Der seelsorgerliche Krankenbesuch, S. 19. 1 6 1 H. A. Kösdin, Die hehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 319. 1 6 2 H. A. Köstlin, Grundsätze über die Behandlung des kleinen lutherischen Katechismus im Religions-Unterricht, S. 96.
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stiften will: Gleich Wagnerschen „Leitmotiven" soll das Heilswort immer wieder mit den Lebenseindrücken der Heranwachsenden verbunden werden, so daß die religiöse Anlage in stufenmäßiger Folge ihre christliche Ausprägung erhalten kann. 163 Hierfür ist eine große Gespürigkeit und Weite auf Seiten des Seelsorgers erforderlich, da alle religiös-weltanschaulichen Differenzen ihre letzte Wurzel in der Verschiedenheit der religiösen Anlage haben, wie es denn genau genommen auch „soviele religiöse Weltanschauungen und Grundstellungen als selbständige religiöse Individualitäten gibt." 164 „Grunderfordernis für den Religionsunterricht in allen Formen und auf allen Stufen ist mithin unter dem Gesichtspunkt der seelsorgerlichen Wirkung, daß er [...] erziehend wirke, den in jedem normalen Menschen schlummernden Keim religiösen Lebens wecke, zur Entfaltung bringe und durch aufmerksame Pflege zu gesundem Wachstum entwickle."165 Hinsichtlich der Tradierung und praktischen Vermittlung des Christentums ist deshalb immer auch das Unverrechenbare und Individuelle persönlicher Bildungsprozesse zu beachten: „Nicht der Glaube selbst, aber die Kenntnis seiner Quelle, der Person und des Wortes Jesu Christi, ist lehrbar."166 Der Selbstmächtigkeit des Wortes Gottes entspricht die Freiheit der Glaubensentscheidung; insoweit es überhaupt eine Erziehung zum Glauben geben kann, kennt diese jedenfalls keine anderen „Machtmittel" als das persönliche Zeugnis, den aufrichtigen Mut zur Wahrheit sowie die personal-fordernde Ausstrahlung eines Vorbildes. Der antwortende Glaube bleibt demgegenüber immer „die Sache der freien Selbstentscheidung, [er] schließt jede Einwirkung durch Zwang, physischen wie moralischen aus, da sie seinem Begriffe widerspricht und sein Wesen zerstört."167 Zur Ermöglichung dieser Freiheit hat der Religionslehrer nicht zuletzt auch auf die sozialen Lebensbedingungen der Schüler zu reflektieren: „Der Mensch ist gewiß noch nicht viel, wenn er menschenwürdig wohnt und notdürftig zu essen hat; aber er muß mindestens menschenwürdig wohnen und seinen Hunger stillen können, wenn sich in ihm das höhere Leben regen soll. Wo der Kampf um die allernotwendigsten Bedürfnisse des physischen Lebens alle Kräfte und alle Zeit in Anspruch nehmen muß, wo soll da das Interesse für die Fragen Raum finden, die über dieses Leben hinausgehen? Manche Klagen über reli-
A. a. O., S. 92; vgl. S. 5. H. A. Köstlin, Das Neue Testament im Lichte der modernen Theologie; in: MPTh 1 (1904/05), S. 459 - eine um Verständigung zwischen Altgläubigen und Modernen bemühte Besprechung des von O. Baumgarten u. a. verfaßten Sammelwerks Die Schriften des Neuen Testaments, neu übersetzt undfür die Gegenwart erklärt. 1 6 5 H. A. Köstlin, Die Lehn von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 326f. 1 6 6 A. a. O., S. 260. Dazu vgl. F. M. Schiele, Gedanken über die Lehrbarkeit der Religion; in: MKP 1 (1901), S. 92-102; R. Kabisch, Ueber die Lehrbarkeit der Religion; in: ZThK 12 (1902), S. 316-344; außerdem ders., Wie lehren wir Reägion?, Göttingen 1910. 1 6 7 H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 261. 163 164
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giösen Stumpfsinn würden verstummen, wenn der Religionslehrer sich um die persönlichen Verhältnisse der Kinder, die er zu Christus fuhren will, kümmern und sich ihrer sorglich annehmen wollte."168 Durch die Seelsorge im engeren Sinn schließlich soll die Verkündigung und Erbauung des sonntäglichen Gottesdienstes im „zwanglosen Gespräch" den einzelnen, aus vielfältigen Gründen dort Ferngebliebenen gesondert nahegebracht sowie für ihre individuelle Lage persönlich ausgerichtet werden: „Kann ein Glied nicht zur öffentlichen Zudienung des Heilsworts gelangen, so hat der Dienst desselben, hat das Heilswort in der Person dessen, der mit der Verwaltung desselben betraut ist, zu ihm zu kommen." 169 Gegenüber allen äußeren Ursachen, die bestimmte Berufsstände wie „Bahnwärter, Droschkenführer, Kellner" an der Teilnahme an der öffendichen Erbauung im Gottesdienst hindern mögen, legt Köstlin das größere Gewicht auf innere Hindernisse und Bedürfnisse, die ein Gemeindemitglied von der allgemeinen Zudienung des Heilswortes trennen können und es in die Absonderung treiben:170 „[Die specielle Seelsorge] erstreckt sich auf diejenigen im Kreise der dem Amte Anbefohlenen, welche von der generellen Seelsorge nicht erreicht werden, weil sie aus irgend einem Grunde von den Quellen der gemeinsamen Erbauung abgeschnitten sind; [...] also z. B. auf Kranke, Gefangene, und sonst Behinderte; sie erstreckt sich zeitweilig auch auf solche, die [...] durch ihre Gemütslage sich nicht im Stande fühlen, in der großen Gemeinschaft zu erscheinen und zu verweilen, wie solche, die von einem außerordentlichen Leid betroffen worden sind: die Seelsorge wird sie aufsuchen, nicht weil sie in der öffentlichen Verkündigung nicht den ersehnten Trost in Trauer, das ersehnte Licht für ihrer Seele Dunkel finden könnten, also nicht, weil das öffentliche Wort inhaltlich und dynamisch nicht ausreichte, sondern weil ihre Gemütslage, das zuckende Weh der verwundeten Seele es ihnen unmöglich macht, eine größere Zahl von Menschen zu sehen, in der Öffentlichkeit zu erscheinen."171 Solch „zuckendes Weh" innerer Vereinzelung mag in Krankheit oder schwerer Versündigung wie „Ehebruch, Verbrechen, Wucher" bestehen; auch mag „relig. [iöse] Verirrung oder Gleichgültigkeit" den Zugang zum Gottesdienst verstellen - in allen diesen von Kösdin skizzierten Fällen seelischer oder sozialer Isolation muß die Seelsorge sich den speziellen Bedürfnissen des Einzelnen widmen und ihm den Anschluß an die Gemeinde und die in ihr vorfindliche generelle Seelsorge wieder eröffnen: 172
168 169 170 171 172
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A. a. O., S. 328f. A. a. O., S. 338. Vgl. H. A. Köstlin; Art. „Seelsorge", S. 688. H. A. Köstlin, Der seelsorgerliche Krankenbesuch, S. 24. Vgl. H. A. Köstlin, Art. „Seelsorge", S. 688.
„Es gilt denn in der spetiellen Seelsorge die Konsequenz der öffentlichen zu ziehen und dem Kranken, dem der Besuch des Gottesdienstes unmöglich ist, gleichsam den Sonntag in passender, d. h. psychologisch taktfester Weise in's Haus zu bringen."173 Solche spezielle Seelsorge hat die Zudienung des Heilswortes auf die konkreten persönlichen Lebensfragen und Heilssehnsüchte hin zu individualisieren - denn im praktischen Vollzug steht ihr eine „unendliche Mannigfaltigkeit von Einzelfällen"174 gegenüber, die im Voraus nicht systematisch einzuholen sind: „Für diese Einzelfälle Anweisung zu geben, ist nicht mehr die Aufgabe der Theorie. Das Leben, die Wirklichkeit ist viel zu reich und unerschöpflich, als daß man zum voraus alle Möglichkeiten berechnen und für jeden Einzelfall ein Verfahren ausdenken könnte."175 - Nicht die Seelsorgelehre hat folglich hier speziell zu werden, sondern das Geschehen der Seelsorge selber. 2.7. Individualisierung und seelsorgerliche Diagnose Die seelsorgerliche Zudienung des Wortes Gottes fällt in eins mit der „Forderung der Individualisierung, d. i. der Anpassung an das persönliche Bedürfnis und Verständnis."176 Denn wie das Heilswort beim je einzelnen Individuum wirklich lebensgestaltend ankommen und nicht als bloße Formel oder allgemeine Wahrheitsbehauptung seine Gültigkeit beanspruchen will, so muß auch seine Aneignung zu persönlicher Glaubenszuversicht in unendlicher subjektiver Brechung geschehen: „je lebendiger das Christentum, desto persönlicher, individueller ist es"177. Die damit implizierte Offenheit des Feldes konkreter seelsorgerlicher Aufgaben erforderte Leitlinien zu dessen Strukturierung und Systematisierung, welche Orientierung in der Vielfalt individueller Seelsorgesituationen verschaffen sollten: „Denn im einzelnen Fall sind sie Mittel und Wege unendlich verschieden, weil sie individuell sind, anders bei denen, die in Trübsal sind, anders bei Angefochtenen, anders bei Leichtmüthigen; verschieden nach den Lebensaltern, nach den Geschlechtern, nach dem Berufen, nach der Lebensstellung und nach der Lebensführung jedes Einzelnen."178
173
J. Werner, Adolf Köstlin: Die Lehre von der Seelsorge; in: K i M o 17 (1898),
S. 248. 174 175 176 177
H. A. Köstlin, Die hehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 402. Ebd. A. a. O., S. 253. H. A. Köstlin, Das Neue Testament im Lichte der modernen Theologie,
S. 454. 178
M. Frommel, Der Arzt und der Seelsorger; in: PB/15 (1885), S. 440. 191
Zur Individualisierung des Heilsworts wurde deshalb seit C. I. Nitzsch psychologisch nach den Seelenvermögen des Denkens, Wollens und Fühlens differenziert, aus denen in theologischer Perspektive die Typisierungen des irrenden, sündigenden und leidenden Menschen hergeleitet wurden. In gleicher Weise hatte bereits der Pädagoge und Psychologe Johann Friedrich Herbart (1776-1841) - angesichts der offenbar unvermeidlichen Verstrickungen menschlichen Existierens — die Aufgabe der Religion als „höhere Hülfe" für den Menschen in dreierlei Hinsicht entfaltet: „den Leidenden zu trösten, den Verirrten zurechtzuweisen, den Sünder zu bessern und dann zu beruhigen." 179 Dabei korrespondierte diesem dreifach aufgegliederten „Bedürfnis der Religion" im Handeln des Seelsorgers jeweils ein lehrhaftes, tröstendes oder strafendes Moment. 180 Mit dem Fortgang der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse haben darüber hinaus die „örtlichen und sozialen Gesichtspunkte für die Einteilung und Darstellung der seelsorgerlichen Aufgaben" eine zunehmende Bedeutung gewonnen, welche dazu verhelfen sollten, die Ausrichtung der christlichen Botschaft an den Einzelnen anschlußfähig in seiner konkreten Lebenswirklichkeit und Lebenserfahrung zu verankern. 181 Wenn auch unter den Bedingungen der industriellen Klassengesellschaft sozialgeschichtlich überholt, wurde zur begrifflichen Einholung der veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit noch weithin auf die vormoderne Stände-Terminologie zurückgegriffen, welche die moderne Ausdifferenzierung milieuspezifischer Plausibilitätsstrukturen allerdings nur unzureichend zu erfassen vermochte. Neben solchem Rekurs auf die soziale „Standeszugehörigkeit" behielten zugleich die biographischen Differenzierungen nach Lebensalter oder Geschlecht sowie die charakterlichen „Unterschiede des Temperaments" ihre pastoraltheologische Bedeutung, wenn es darum ging, den Horizont derjenigen Merkmale zu rekonstruieren, welche regelhaft gesellschaftliche Bedingungen im Einzelnen abbilden und ihn somit in seiner Individualität bestimmen. Hinsichdich der Ausbildung individueller Frömmigkeit resümierte denn auch der spätere Berliner Pfarrer Rudolf Wielandt (1875-1948) in seinem Programm der Religionspsychologie von 1910: „Man wird sehen, daß in den verschiedenen 1 7 9 J. F. Herbart, Kurze Emyklopääe der Philosophie (1831); in: ders., SW Bd. 9, Langensalza 1897 (Neudruck Aalen 1964), S. 67. Dazu H. Joppien, Art. „Herbart, Johann Friedrich"; in: TRE Bd. 15, Berlin/New York 1986, S. 57-62. 180 ygL Nase, Oskar Pfisters analytische Seelsorge, S. 73-75; E. Chr. Achelis, Art. „Seelsorge", S. 138; J. Schiller, Drei poimenische Fragen; in: ZKWL 9 (1888), bes. S. 212ff. Dieser Text liest sich bis in seine Details hinein wie ein komprimierter Entwurf der Köstlinschen Seelsorgelehre; eine literarische Verbindung ist jedoch einstweilen nicht herzustellen. Dazu auch J. Schiller, Seelsorgefragen; in: Die Seelsorge 1 (1896), S. 1 3 1 - 1 3 7 , 1 4 7 - 1 5 2 . 181 Vgl p Niebergall, Fragen und Aufgaben der Praktischen Theologie der Gegenwart; in: Die Studierstube 7 (1909), S. 510.
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christlichen Zeiten der Wert und die Kraft der einzelnen christlichen Vorstellungen recht verschieden gewesen ist. Die psychologische Lagerung, die gegenseitigen Stärkeverhältnisse und die Mischungsweise der verschiedenen Vorstellungen und Gefühle in der wirklichen lebendigen Religion wechseln auch im Christentum stark. Sie wechseln nach Individualität, Temperament, Phantasierichtung, Stärke der religiösen Begabung, Geschlecht und Alter." 182 Wenn auch eine solche Feststellung in ihrer Allgemeinheit sicher nicht zu bezweifeln war, so stand jedoch gerade die nähere Bestimmung des Verhältnisses von sozialer Prägung und individueller Religiosität, von seelischer Disposition und persönlicher Frömmigkeit noch weithin infrage. Skeptisch hinsichtlich der praktischen Erschließungskraft pauschalierender Interpretationsmuster, streicht Köstlin deshalb den primär „heuristischen Wert" der Rekonstruktion solcher überindividuellen Generalisierungen heraus. Nicht etwa eine fehlende sozialwissenschaftliche Absicherung - hier weiß er sich durchaus auf ein breites Spektrum einschlägiger zeitgenössischer Literatur zu stützen - , sondern eben das Einmalige der Individualität selber schien ihm eine verobjektivierende Darstellung der Strukturprinzipien von Individualität zu verunmöglichen. Das Konzept der Persönlichkeit sperrt sich gegen eine allzu weitgehende Vermessung des Individuellen — Individuum est ineffabik. „Es kann sich hier höchstens darum handeln, durch die reiche Fülle einige orientierende Hilfslinien zu ziehen, bestimmte Gruppen, die als solche dem Seelsorger in jeder Gemeinde entgegentreten, herauszuheben und auf das ihnen Gemeinsame hinzuweisen, das von vornherein beachtet werden muß. [...] In jeder, auch der engst gefaßten Gruppe findet sich wieder eine Fülle von Verschiedenheiten und Abstufungen, die nicht übersehen werden dürfen. Kein Mensch, sofern er zur Persönlichkeit veranlagt ist und erhoben werden soll, gleicht ganz dem andern oder deckt sich mit dem Typus der Gruppe, der er zugehört. Die Kenntnis des letzteren ist nur das Mittel, um desto leichter auf das zu kommen, worin der Einzelne von der Gruppe abweicht, als ein 'Selbst', als eine Persönlichkeit sich darstellt."183 Unter diesem Vorbehalt formuliert Kösdin Leidinien, welche über die Prinzipien seelsorgerlicher Individualisierung orientieren sollen. So gilt für ihn in bezug auf die Geschlechterdifferenz: „der Mann erwirbt, die Frau hält zusammen" 184 . Dem schaffenden und verwertenden Impuls des Mannes stehe - auch auf dem Gebiet des Religiösen - komplementär die bewahrende und kontemplative Tendenz der Frau gegenüber: „Dem 182
R. Wielandt, Das Programm
der Religionspsychologie
(SgV 62), Tübingen 1910,
S. 26. 183 184
H. A. Köstlin, Die hehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 254f. A. a. O., S. 270. 193
Manne kommt die Religion wesentlich in Betracht als die den Willen in Bewegung setzende Macht, als Motiv des Handelns und Wirkens. Wenn sie sich nicht als das erweist, wenn 'man nichts mit ihr machen' kann, so hat sie ihm - auch wenn er theoretisch, aus Gewohnheit oder Pietät, an ihr festhält - praktisch 'keinen Wert', sie bedeutet ihm nichts, hat für ihn keinerlei entscheidendes Gewicht." 185 Und weiter: „Der Frau dagegen erscheint die Religion, der Glaube vorwiegend unter dem Gesichtspunkt des im Herzen ruhenden köstlichen Besitzes, dessen man ja auch dadurch froh wird, daß man ihn im engeren und weiteren Kreise verwertet und nutzbar macht, den es aber in erster Linie zu hüten und zu mehren gilt, weil er über den Verlust alles anderen tröstet." 186 Was die Frau und eine durch sie ergehende Zudienung des Heilsworts anbelangt, so ist es für Köstlin folglich „nicht die Predigt, die Gabe des geistlichen Zuspruchs, die Freudigkeit des auf andere eindringenden Bekehrungseifers, also die direkte Seelsorge, wozu sie berufen ist, sondern die indirekte Seelsorge, die Bezeugung des Evangeliums durch den Wandel ohne Wort, durch die unermüdliche, auch das Kleine und Nebensächliche umfassende Treue und mütterliche Sorgsamkeit, durch die geräuschlos dienende, niemals sich vordrängende, sondern willig sich unterordnende Liebe, die sich nicht erbittern läßt, alles glaubt, alles hofft, alles duldet, nimmer müde wird." 187 Ihrer häuslichen und gemeindlichen Arbeit, insbesondere aber ihrer Erziehungstätigkeit gilt Köstlins volle Aufmerksamkeit und Wertschätzung: Jede „Hausfrau und Mutter" steht in unmittelbarer Nähe zur Diakonisse, weshalb sie jedoch auch eines besonderen Schutzes sowie persönlicher Rückzugsräume bedarf: „Soll sie nicht in dem täglichen Dienste sich zersplittern und verlieren, unter den tausenderlei Anforderungen erlahmen, so bedarf sie mehr als andere der steten Vergegenwärtigung des Evangeliums, der ununterbrochenen Verbindung mit dem, den es bezeugt und dem ihr Leben und Wirken gehört, des freien, unmittelbaren Zugangs zu ihm, dessen Gegenwart ihr Licht und Kraft ist. Die ordentliche Zudienung des Wortes im Gemeindegottesdienst und bei gelegentlichem Seelsorgerbesuch reicht dazu nicht aus. Die intensive Anspannung der Gemüts- und Nervenkraft, die unausgesetzte Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit nach außen und für andre fordert, damit das Heilswort an die übermüdete Seele überhaupt noch innerlich herankommen und seine Heilskraft an ihr entfalten könne, als Gegengewicht einen Ort der Stille, einen Raum, der vom Geiste des Evangeliums durchwaltet ist, durch sich selbst wirkt, zum Gleichmaß stimmt, beruhigend zu Gemüt spricht."188
185 186 187
S. 4f.
A. a. O., S. 268. A. a. O., S. 269f. A. a. O., S. 272; vgl. ders., Rez. „Frauenbibliothek"; in: DLBl 3 (1880/81),
1 8 8 H. A. Köstlin, Die Lehn von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 272f. Vgl. S. 273: „Denken wir daran, was es für die abgehetzte Hausfrau und Mutter wert wäre, einen
194
Wie kritisch die von Köstlin vorgetragenen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen heute auch zu sehen sein mögen, so wird doch hier immerhin - über die traditionelle Rollenfestlegung hinaus - zugleich der Einsicht Ausdruck verliehen, daß selbstlose Hingabe, will sie wirklich helfend sein bzw. bleiben, jederzeit zugleich eines Ausgleichs bedarf, der im Rückzug auf etwas Eigenem besteht — ein eigener Raum, eigene Zeit, die freie Pflege eigener Bedürfnisse und Interessen. Die moderne Frauenbewegung, deren „Ziele und Grenzen" Köstlin in diesem Zusammenhang gleichwohl nicht weiter thematisieren will, hat die hier formulierte Einsicht jedenfalls immer auch als Forderung erhoben, um die Erfüllung dieses doch selbstverständlichen Bedürfnisses im lebenspraktischen Alltag durchzusetzen.189 Entschieden traditionskritischer als hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Roilenzuschreibungen, die in ihrer gesellschaftlichen Vermitteltheit und ideologischen Unterfutterung kaum durchschaut werden, argumentiert Köstlin in der Frage einer charakterlichen Bestimmtheit durch die sogenannten „Temperamente": In ihrer zur Lehre ausgebildeten Gestalt geht diese Typisierungslehre menschlicher Temperamente auf antike griechische Vorstellungen der „Vierzahl der Elemente" bzw. der Mischungsverhältnisse der körperlichen „Säfte" sowie auf eine entsprechende Begriffsbildung des Arztes Galenus (130-201/210 n. Chr.) zurück und hat schon von daher, insbesondere im Bereich der Erforschung medizinischpsychologischer Heilverfahren, eine weitverzweigte Traditionsgeschichte. Über ihren Beitrag zur anthropolischen Grundlegung hinaus fand sie innerhalb der Theologie ihre Bedeutung vor allem im Feld praktisch-theologischer Perspektiven — so differenzierte etwa Friedrich Büttner in seinem Werk Temperament und Kirche die griechisch-orthodoxe Kirche als Repräsentantin des melancholischen Temperaments, die römisch-katholische Kirche als Repräsentantin des sanguinischen, die reformierte als Repräsentantin des cholerischen sowie die lutherische als Repräsentantin des phlegmatischen Temperaments.190 Darüber hinaus bot sich dieses Schema an, wenn es um die Ausbildung seelsorgerlicher „MenschenRaum zu wissen, in dessen geweihte Stille sie zuweilen sich flüchten, wo sie vom Kleinkram des Lebens einen Augenblick sich losmachen und der ermatteten Seele frische Luft zufuhren könnte? Und wenn wir nicht Erholungsheime für unsere Frauen schaffen können, sollten wir ihnen nicht wenigstens die Kirchen den Tag über offen stehen lassen?" 189 Vg[ K. Schirmacher, Die moderne Frauenbewegung. Ein geschichtlicher Überbäck, Leipzig 1905; F. Mahling, Probleme der modernen Frauenfrage; in: Die Information 6 (1907), S. 3-8, 24-28, 38-43, 57-60. Dazu J.-C. Kaiser, Zur Politisierung des Verbandsprotestantismus; in: W. Schieder (ed.), Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 254-271. Außerdem V. Woolf, Room ofOne's Om (1929), dt. Ein Zimmer für sich aMn, Frankfurt/M. 1981. 190 Vgl. F. Büttner, Temperament und Kirche, Gütersloh 1905. 195
kenntnis" oder um eine lebensnahe Auslegung der Bibel ging - etwa in Predigten über die verschiedenen Nachfolgerufe Jesu, die jeweils in Beziehung zu den unterschiedlichen Temperamentseigenschaften gesetzt wurden.191 Als „ein Mittleres zwischen der Methode rein begrifflicher Einteilung und der bloß empirischen individuellen Anschauung"192 wurde der Lehre von den Temperamenten vielfach ein besonderer heuristischer Wert beigemessen, wenn es um die systematische Verarbeitung seelsorgerlicher Erfahrungen ging. In diesem Sinne hatte Carl Windel (1840-1890) langjähriger Pfarrer am Berliner Charite-Krankenhaus und später Hofprediger in Potsdam - im ersten Heft seiner Beiträge aus der Seelsorge für die Seelsorge bereits 1872 Überlegungen zur Erschließungskraft der Temperamentenlehre entwickelt.193 Wenn auch die Vielfältigkeit der Mischformen im allgemeinem es bedingen mochte, daß die Temperaments-Unterschiede sich nur selten deutlich genug ausgeprägt finden, um für „eine consequentere durchgehende Behandlungsweise in der Seelsorge" zugrundegelegt werden zu können, so sollte ihnen doch ein besonderer praktischer Wert bei der Fundierung einer individualisierenden seelsorgerlichen Wahrnehmungseinstellung zukommen.194 Entgegen einer „eigenschaftlich descriptiven" Typendifferenzierung mit ihrer Tendenz zu verdinglichender Festschreibung hält Windel dabei daran fest, „daß das Temperament nur eine natürliche Bestimmtheit der Seele ist, danach das sanguinische, das melancholische, das cholerische, das phlegmatische jedes einen verschiedentlichen Resonanzboden für die äußern und innern Wahrnehmungen darbietet, und woher dann aus den verschiedentlichen Wechselbeziehungen zwischen Wahrnehmung und Affect der durchgrei-
1 9 1 Beispielhaft vgl. dazu die Predigt von Köstlins späterem Schwiegervater über Luk 9, 57-62 aus dem Jahr 1854: K. Gerok, Predigten auf alle Sonn-, Fest- und Feiertage des Kirchenjahres, Stuttgart 1856, S. 929-938; außerdem K. Lühr, Die wer menschlichen Temperamente, Gotha 1886; F. A. Frobenius, Die Seelsorge in Rücksicht auf die Temperamente; in: Die Seelsorge 3 (1898), S. 26-30, 4 0 ^ 6 . 1 9 2 C. Sigwart, Art. „Temperament"; in: K. A. Schmid (ed.), Enzyklopädie des gesamten Erqehungs- und Unterrichtswesens Bd. 9, Leipzig 2 1887, S. 416; vgl. G. Rümelin (1815-1889), Ueber die Temperamente [1881]; in: ders., Reden und Aufsätze III, Freiburg i. B./Leipzig 1894, S. 3—36; O. Baumgarten, Art. „Temperamente"; in: RGG1 Bd. V,Sp. 1129-1131. 1 9 3 C. Windel, Ueber die Bedeutung der Temperamente bei der Seelsorge; in: ders., Beiträge aus der Seelsorge für die Seelsorge Heft 1, Wiesbaden 1872, S. 1—70. Kritisch dazu die Anzeige von Chr. Palmer, in: JDTh 20 (1875), S. 173: „bei manchen ordinären Menschen, die in der Seelsorge uns vorkommen, möchte man zweifeln, ob auch nur irgend eines der 4 Temperamente sich in ihnen nachweisen lasse." 1 Vgl. C. Windel, Erfahrungen am Krankenbette; in: ders., Beiträge aus der Seelsorge für die Seelsorge Heft 1, S. 114.
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fend unterschiedliche Einfluß für das Seelenleben entsteht."195 Darüber hinaus ordnet Windel im Gefolge Hermann Lotzes (1817-1881) die Temperamente, etwa im Sinne eines epigenetischen Prinzips, den vier „Perioden der Lebensalter: Kindheit, Jugend, Mannesalter, Greisenalter" zu und stellt sie so in einen lebensgeschichtlichen Sinnzusammenhang.196 Mit dieser Perspektive - wie im übrigen auch mit den weiteren Heften seiner Reihe - ist C. Windel bereits frühzeitig zu einer stärkeren „Berücksichtigung empirischer Gesichtspunkte"197 in der Seelsorge übergegangen, insbesondere was die Reflexion konkreter 'szenischer Momente' des Gesprächsgangs anbelangte. Die individuelle temperamentliche Gestimmtheit soll Windeis Auffassung zufolge weder zugunsten einer „wahrhaft christlichen Temperamentslosigkeit" vernichtet noch zu einer bequemen Entschuldigung der eigenen Charakterfehler herangezogen werden. Vielmehr geht es ihm um eine „Uberwindung der Temperamentseigenthümlichkeiten" im Sinne einer persönlichen Durchgestaltung: „der sittlich-christliche Charakter [bildet] sich aus der Beherrschung des Temperaments und aus der Verwerthung zugleich desselben seine ihm eigenthümlichen Charakter-Züge heraus"198. Zurückhaltend gegenüber der Idee einer christlichen Uberformung des Temperaments, stellt Köstlin dagegen die prinzipielle Korrumpiertheit aller temperamentlichen Prägungen in den Vordergrund: „unser Kreuz, unser individuelles, persönliches Kreuz ist doch immer der Widerstand, den unser Selbst, unsere Art, unser Temperament, unsere besondere Sünde uns bereitet."199 Darüber hinaus scheint ihm jedoch auch der praktische Erklärungswert der Temperamentenlehre von nur begrenzter Reichweite: „Versteht man unter Temperament die Gesamtheit der natürlichen Bestimmtheiten, die durch Klima und Geburt, Vererbung, leibliche Konstitution, Umgebung und Erziehung bedingte Disposition des Menschen, den sogenannten natürlichen Charakter, so versteht es sich von selbst, daß das Temperament auch auf die religiöse Anlage und Disposition von 195
C. Windel, Ueber die Bedeutung der Temperamente bei der Seelsorge, S. 12,
15. A. a. O., S. 53; vgl. S. 19, 26f, 46f. Vgl. F. Wintzer (ed.), Seelsorge, S. XXIII, der Windel freilich nicht in dieser Weise einordnet (vgl. S. 233). 1 9 8 C. Windel, Ueber die Bedeutung der Temperamente bei der Seelsorge, S. 59. 1 9 9 H. A. Kösdin, Pastoraltheologische Betrachtungen: Marc. 8,34; in: MPTh 1 (1904/05), S. 213. Kritisch dazu B. Liebermann, Die seelsorgerliche Diagnose, Bielefeld/Leipzig 1900, S. 47: „Dem ist entgegenzuhalten, daß das Temperament, insoweit es zur Sünde fuhren kann, zwar zu dämpfen, aber als Grundart und Grundstimmung der Psyche [...] jedenfalls nicht zu übersehen, sondern wegen seiner grundlegenden Bedeutung wohl zu beachten und zu erforschen bleibt, was übrigens auch schon aus dem Gebot seiner Bekämpfung hervorgeht" - denn auch und gerade das, was „bekämpft" werden soll, muß zuvor wahrgenommen und verstanden werden. 196
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wesentlichem Einfluß ist, das innere Verhältnis zum Heilswort bedingt, mithin von dem beachtet werden muß, der dem Menschen dasselbe in der ihm zukommenden, seiner Persönlichkeit entsprechenden Weise zuzudienen hat. Zugleich erhellt freilich, daß es streng genommen ebenso viele Temperamente gibt, als Individuen."200 Die theoretische Reichweite der Temperamentenlehre schien Kösdin folglich eher begrenzt, da die Veranschlagung temperamentlicher Charakterunterschiede unweigerlich „mit der Forderung der Individualisierung überhaupt" zusammenfallen mußte.201 Insofern hielt er es für wenig aufschlußreich, die Frage nach der individuellen Disposition eines Menschen, nach seiner religiösen Gestimmtheit und persönlichen Gemütslage, anhand dieser pauschalierenden Typenbildungen beantworten zu wollen, da sie eben immer nur „erfundene Normalcharaktere" abbilden können: Sie verfuhren häufig zu jener Art „geistreicher Spielerei", in deren Gefolge sich die individuelle Lebensperspektive dem begrifflichen Zugriff eines Temperamentsbildes zu fugen hat und von dort her gleichsam zurechtinterpretiert wird. 202 Wie jede Individualität sich unter bedingenden sozialen Strukturen herausbildet, so benötigt auch die Wahrnehmung des Individuellen orientierende Raster, die das Verstehen leiten. Doch die Temperamentenlehre im herkömmlichen Sinn - und schon gar nicht in ihrer popularisierten Fassung - kann diese Aufgabe nur unzureichend erfüllen, da sie in unzulässiger Weise aus partikularen Persönlichkeitsaspekten charakterliche Zuschreibungen ableiten will, die den Einzelnen unter einer simplifizierenden Begrifflichkeit verrechnen: „Die herkömmliche Lehre von vier Temperamenten kann daher höchstens als methodisches Hilfsmittel zur leichteren Beobachtung der charakteristischen Eigentümlichkeiten der einzelnen, gleichsam als vorläufige Klassifikation der unendlichen Fülle von mannigfaltig abgestuften Individualitäten in Betracht kommen. Ihre Verwertung für die Seelsorge hat zwar auf den ersten Blick etwas Verführerisches, da den Einteilungsgrund das verschiedene Maß der Erregbarkeit des Gefühls bildet, worin man so häufig den Gradmesser des religiösen Lebens erblickt, unterliegt aber großen Bedenken." Denn die Verschiedenheit der Gefühlsanlage ist durchaus nicht als exklusives individuelles Charakteristikum anzusehen, schon gar nicht läßt sich, so Kösdin, allein von hier aus „auf die Temperaturhöhe des religiösen Lebens schließen".203 Kritisch fällt zudem ins Gewicht, daß die Temperamentenlehre gerade unter dem Anschein individualisierender Wahrnehmung von der Wirklichkeit des Einzelnen abstrahiert und diese in einem idealtypi-
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H. A. Köstlin, Die Lehre von der .Seelsorge, 2. Auflage, S. 274f. A. a. O., S. 275. A. a. O., S. 278. A. a. O., S. 277.
sehen Begriff gleichsam wiederum untergehen läßt - sie fiele somit unter das Verdikt einer „falschen Verallgemeinerung"204. Demgegenüber sieht sich die seelsorgerliche Individualisierung des Heilsworts stets mit den materialen Dimensionen von Individualität konfrontiert - diese selbst bleibt jedoch begrifflich uneinholbar und muß in der konkreten Begegnung immer wieder neu entdeckt und ausgehalten werden. In der Geschichte der Seelsorgelehre ist solche Aufgabe einer Wahrnehmung des Individuellen auf den aus der Medizin entlehnten Begriff der „seelsorgerlichen Diagnose" gebracht worden, welche der erste Schritt jeder wirklich persönlichen Verkündigung zu sein hätte. Zu nennen ist hierzu schon die Pastoraltheologie von Gottlieb Philipp Christian Kaiser (1781-1847), Konsistorialrat und Professor der Theologie in Erlangen, der den Abschnitt über „geisdiche Pädeutik" (Seelsorge bzw. Pastoraltheologie im engeren Sinne) in die Kapitel „Diagnostik" (Aufmerksamkeit auf den religiössittlichen Zustand), „Psychagogik" (geistliche Erziehung bzw. Therapeutik) und „Nomoteletik" (Kirchenzucht) einteilte.205 Dabei geht es ihm in der Diagnostik darum, „sich in die Denkart des Andern zu versetzen", während die Psychagogik darauf angelegt ist, „die Hindemisse des religiösen Lebens wegzuräumen, und dagegen die Mittel seiner Beförderung herbeizuschaffen und anzuwenden." 206 C. I. Nitzsch war es sodann, der diese Terminologie aus dem Bestand der pastoraltheologischen Tradition in den systematischen Gesamtzusammenhang der wissenschafdichen Praktischen Theologie gebracht hat, von wo aus sie vielfältige Rezeption in der poimenischen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fand. 207 Nitzsch hatte der Begriff der seelsorgerlichen Diagnose zunächst im dritten Band seiner Praktischen Theologie, in welchem er unter den Kunstlehren der „unmittelbar auf die Gemeinde gerichteten Thätigkeiten" als drittes Hauptstück die Lehre „Von der eigenthümlichen Seelenpflege mit Rücksicht auf innere Mission" entwickelte, im Zusammenhang der „persönlichen Bedingungen gesegneter Seelenpflege" (§§ 446-456) eingeführt.208 Die „unerläßliche Pflicht und Tugend, das Individuelle zu erken204 205
Vgl. a. a. O., S. 353. G. P. Chr. Kaiser, Entwurf eines Systems der Pastoraltheologie,
Erlangen 1816,
S. 73ff. A. a. O., S. 79, 86. Vgl. J. J. v. Oosterzee, Praktische Theobgie Bd. 2, dt. Heilbronn 1879, S. 2 8 1 285; A. Schweizer, Pastoraltheorie, S. 174ff.; B. Riggenbach, Die Christliche Gemeindepastoration nach Schrift und Erfahrung, S. 194ff.; E. Chr. Achelis, Lehrbuch der praktischen Theologie Bd. 3, S. 70-81. 2 0 » C. I. Nitzsch, Praktische Theologie Bd. III/l, S. 118ff. (2. Auflage S. 112ff); vgl. B. Kleinpaul, Zur geistlichen Seelsorge; in: PBl 13 (1871), S. 22-27; U. Nembach, Seelsorge nach Karl Immanuel Nitzsch; in: ThZ 28 (1972), S. 331-346; D. Gerbracht, Die Gemeinde und der Einzelne, Göttingen 1977, S. 57ff. 206
207
199
nen, auf welches hier und da das göttliche Wort gerichtet werden soll" 2 0 9 , verlangte nach einer möglichst feinsinnigen Wahrnehmungs- und Verstehensfähigkeit - für Nitzsch eine besonders anspruchsvolle und schwere Aufgabe der Seelsorge. Denn: „es kostet oft viel Zeit, ein Gemüt zu verstehen und richtig nehmen zu lernen." 2 1 0 Hier ist der Seelsorger auf seine persönliche Erfahrung verwiesen, in welcher sich - mehr durch „sittliche Uebung" und „bildende Zucht" als in Analogie zur kongenialen „Herzenskündigkeit des Herrn" - theologische und allgemeine Bildung zu echter „Menschen-Kenntniß" vereinigen sollen. 211 D e m Leitbild medizinisch-ärztlicher Tätigkeit folgend, stellt Nitzsch sodann der „diagnostischen Befähigung" die „therapeutische Tüchtigkeit" gegenüber, die als pflegende Einwirkung auf den Bedürftigen immer v o m „divinatorischen Mitgefühl" des Seelsorgers geleitet sein soll, welches sich letztlich der annehmenden und vergebenden Liebe Gottes verdankt: „Wir denken uns den geschichtlich und geistlich verständigten Blick der gläubigen Liebe auf ein gegebenes Erforderniß für den Bedürftigen. Aus einer solchen Wahrnehmung soll kraft der Theilnahme, die sie anregt und des Berufsgefühls, welches Wachen und Einsehnnehmen fordert, ein entsprechendes Einwirken hervorgehen." 2 1 2 Dieses hat vor allem durch ein angemessenes Ausdrucks- und Darstellungsvermögen in Rede und Gespräch, durch freies Beten sowie ein dazu stimmendes persönliches Verhalten zu geschehen, weshalb Nitzsch die therapeutische Tüchtigkeit näherhin in die Lehrhaftigkeit, die Gabe des Gebetes sowie das begleitende Handeln differenziert. Die dabei zugrundegelegte Parallelität zwischen Arzt und Seelsorger sollte in der Folgezeit zunehmend an Bedeutung gewinnen — nicht zuletzt aufgrund des allgemeinen Aufschwungs medizinischer Forschung. An diesem Leitbild hatte sich nunmehr auch das methodische Vorgehen des Seelsorgers zu orientieren: „Gerade der Vorzug, den die neuere Schule der Heilkunde von der alten so stark betont: die Aufgabe des Arztes zu individualisieren - sie ist's, die eine der ersten und schwersten Aufgaben des rechten Seelsorgers bildet: individualisieren in der Diagnose der Krankheit, und individualisieren in der Wahl des Arzneimittels im einzelnen Fall." 2 1 3 Die Plausibilität der be209 210 211 212 213
C. I. Nitzsch, Praktische Theologie Bd. III/l, S. 118 (2. Auflage S. 112). A. a. O., S. 119 (2. Auflage S. 113). Ebd.; vgl. S. 130 (2. Auflage S. 124). A. a. O., S. 130 (2. Auflage S. 124); vgl. S. 170 (2. Auflage S. 162). M. Frommel, Der Arzt und der Seelsorger; in: PBl15 (1885), S. 432. Kritisch
dagegen schon F. L. Steinmeyer, Die specielle Seelsorge in ihrem Verhältniss %ur generellen, S. 125: „Dass der Seelsorger die Individualitäten zu sondern hat, so viel räumen wir ja ein; im Uebrigen erneuern wir unsern Protest gegen die Analogie des ärztlichen Berufs und meiden jeden Anlass zu dem Vorwurf der Charlatanerie. Schwerer als die generelle cura ist die specielle allerdings; denn Application fällt immer härter als Deklaration." 200
ruflichen Differenzierung und Professionalisierung sollte auch für die pfarramtlichen Tätigkeitsbereiche fruchtbar gemacht werden, deren faktische Konkurrenz zu den medizinischen Heilverfahren sich zugleich doch abzuzeichnen beginnt: „Nur wo eine Erkrankung des geistlichen Lebens eingetreten ist, da hat die specielle Seelsorge einzutreten. Da hat das Einzelgespräch den Charakter einer ärztlichen Consultation, wofür die Kanzel nicht ausreicht Aber freilich - wie Viele gehen zum leiblichen Arzt und wie wenige zum Seelsorger!"214 Sichdich im Gefälle der durch Nitzsch vorgegebenen Linien, jedoch mit deutlicherer Akzentuierung der Parallele zum ärztlich-diagnostischen Handeln, begreift auch Bernhard Liebermann (1858-1917)215, Herausgeber der von 1896—1903 erscheinenden Zeitschrift Die Seelsorge in Theorie und Praxis. Centraiorgan \•ur Förderung der Seelsorge, die Aufgabe der seelsorgerlichen Diagnose: Sie ist zu bestimmen als „die Erforschung der Symptome und der Erscheinungsformen der Krankheit der Seele und zwar in ihrer Bedingtheit durch äußere und innere Verhältnisse"216. Ausgangspunkt für solche Diagnose einer Krankheit der Seele ist das Verständnis von Sünde als „Lebenshemmung"; nach Liebermann gilt es, die vielfältigen Formen der Lebenshemmung und Lebensverneinung zu diagnostizieren und ihnen seelsorgerlich zu begegnen - denn: Religion ist Leben. 217 Wenngleich sein Entwurf punktuell auch Ansätze zur theologischen Differenzierung bietet - etwa die Einsicht „Kein Leben ohne Lebenshemmung"218 —, so verschenkt Liebermann jedoch die in ihnen liegenden Möglichkeiten durch eine verobjektivierende Festschreibung seiner moralischen Kriterien: Die Kategorie der Hemmung wird nicht in einem existenziellen, dynamischen Sinn verstanden, sondern lediglich auf äußerliche, ethisch-moralische Verhaltensmuster bezogen und kurzschlüssig mit ihnen korreliert. Neben einer solchen moralischen Engführung der Rede von der seelsorgerlichen Diagnose hat sich gemeinhin ein weniger normativ aufge2 1 4 M. Frommel, Der Arzt und der Seelsorger, S. 437; dazu J. Naumann, Arzt und Seelsorger; in: ChW 1 (1893), Sp. 1199-1201, 1225-1228; R. Kober, Arzt und Seelsorger in ihrer gegenseitigen Ergänzung und Begrenzung; in: PBl 45 (1903), S. 1 13; R. Schmidt-Rost, Seelsorge ^wischen Amt und Beruf, bes. S. 77ff. 2 1 5 Die Angabe im Deutschen Literatur-Lexikon Bd. IX, Bern/München 1984, Sp. 1380, ist entsprechend zu korrigieren. 2 1 6 B. Liebermann, Die seelsorgerüche Diagnose. Einheitlich auf neuer Grundanschauung dargestellt und dem evangelischen Seelsorger als Wegweiser dargeboten, S. 14 (im Original hervorgehoben); kritisch dazu C. Lülmann, Pastoraltheologie; in: Thjber 20 (1900), S. 1151 f., der den gedanklich unausgereiften, zuweilen „feuilletonistischen" Charakter dieser Schrift bemängelt, sowie T. Nottebohm, Referat über Schriften zur Seelsorge; in: HWDH 24 (1901), S. 683-685. 2 1 7 Vgl. B. Liebermann, Die seelsorgeräche Diagnose, S. 70ff. 2 1 8 A. a. O., S. 177; vgl. S. 138f.
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ladener Gebrauch dieses Terminus durchgesetzt, bei welchem vor allem der Aspekt der unvoreingenommenen Wahrnehmung im Vordergrund stand. In diesem Sinne definiert E. Chr. Achelis in seinem Lehrbuch der praktischen Theologier. „Die diagnostische Gabe ist die Fähigkeit, aus gewissen Zeichen (Symptomen) und Einzelzügen ein treffendes Bild von dem inneren Zustand und der Bedürftigkeit des Objektes der Seelsorge sich zu entwerfen."219 Da es in der Seelsorge nicht um geistliche Wissensvermittlung, sondern vielmehr um die persönliche Entfaltung des göttlichen Heilswillens geht, muß der Seelsorger sich zunächst auf die konkrete Lebenswirklichkeit seines Gegenübers einlassen, um von hier aus seine Verkündigung des Wortes Gottes in die individuelle biographische Situation einzeichnen zu können. Dem seelsorgerlichen Einwirken müssen mithin diagnostisches Wahrnehmen und Verstehen vorausgehen, da nur so dem Heilswort der Weg ins Leben gebahnt werden kann — „verkannt wird der Wert der Diagnose von der Überspannung der Vorstellung von der Objektivität des Wortes Gottes, welche den subjektiven Faktor der Rezeptivität übersieht und das seelsorgerliche Gespräch zu einer Privatansprache macht [...]."22° „Das innere Leben eines Menschen birgt tausend Rätsel, macht eine sichere Diagnose schwer [...]. Will jemand einen anderen gerecht beurteilen und ihn von irgend einem seelischen Übel befreien, so muß er nicht nur Menschenkenntniss überhaupt zu seiner helfenden Tätigkeit mitbringen, sondern er muß so viel wie möglich die Verhältnisse zu überschauen vermögen, in denen der betreffende Mensch aufgewachsen ist, muß seine Freunde wissen, seinen Umgang kennen, seine Umgebung in Bettacht ziehen, kurz so eingehend von seinem ganzen Wesen unterrichtet sein, daß er an dem rechten Punkte einzusetzen und die wirksamsten Heilmittel anzuwenden imstande ist. Deshalb läßt der gewissenhafte Arzt sich das ganze Leben eines Patienten erzählen."221 Damit ist genau die Tendenz beschrieben, mit welcher auch Köstlin die Wendung der seelsorgerlichen Diagnose aufgreift: „Man muß ja doch, ehe man mit geisdicher Zuspräche dreinfährt und an den Menschen herandringt, wissen, mit wem es zu tun hat, für welche Seelenlage, für welches Bedürfnis man das Wort Gottes teilen soll."222 Der diagnostische Blick soll dafür einstehen, vor allem Reden und Agieren sich der tatsächlichen Befindlichkeit des Gegenübers vergewissert zu haben, um es nicht mit der intendierten seelsorgerlichen Einwirkung zu verfehlen und etwa E. Chr. Achelis, Lehrbuch der praktischen Theologie Bd. 3, S. 71. Ebd. 2 2 1 E. Katzer, Sozial- und Individualseelsorge; in: ZRPs(H) 1 (1907/08), S. 166f.; vgl. Anonym, Der Seelsorger als Menschenkenner; in: AELKZ 35 (1902), Sp. 266272. 2 2 2 H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 349. 219
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beim Krankenbesuch „Irrtümer zu bekämpfen, die der Kranke gar nicht teilt"223. Diese schlichte Grundregel des Primats der Wahrnehmung und des Verstehens soll verhindern, sich auf vorurteilsgeleitete „diagnostische" Kurzschlüsse zurückzuziehen oder „therapeutische Einwirkungen" nach theologischen Stereotypen anwenden zu wollen. Erst recht verbietet es sich, in einem Sttlsotgzgespräch, „wo Rede und Gegenrede sich natürlich und kunstlos zu geben hat", direkt auf Begriffe wie Diagnose oder Therapie zurückzugreifen: Die Verwendung solcher vermeintlich wissenschaftlichen Terminologie macht das Gegenüber scheu und verleitet den Seelsorger nur zu jenem „superklugen Ausforschen", das der persönlichen Anlage des Gesprächs nicht gerecht wird.224 „Wir reden von seelsorgerlichem Verkehr [...] und vermeiden das Wort 'Diagnose', weil es so leicht den Seelsorger zu einem falsch-methodisierenden Verfahren verleitet, zu jenem Examinieren und Inquirieren, das den Kranken uns entfremdet und dasjenige Mittel ist, welches am wenigsten zum Verständnis seines Inneren fuhrt. Die liebreiche Beobachtung des Kranken, wie er sich stellt zu seiner Lage, hält zu seiner Umgebung, die sorgfältige Beachtung seiner Wünsche und Worte - das ist alles, was wir für die seelsorgerliche Diagnose fordern."225 Schon scheinbare Beiläufigkeiten können im Gespräch von großer Bedeutung sein, zumal der Seelsorger mit einer „gesteigerten Empfindlichkeit"226 bei seinem Gegenüber zu rechnen hat. Nicht nur für den Umgang mit sogennanten „Geisteskranken", die Köstlin hier zunächst im Auge hat, gilt daher seine Beobachtung: „Das seelsorgerliche Wort, mag es auch in seiner logischen Bedeutung richtig erfaßt worden sein, gewinnt nach Umständen schon durch den Wortklang Beziehungen und Spitzen, von denen derjenige, der es gesprochen hat, gar keine Ahnung haben kann"721. Für die Praxis der Gesprächsführung weiß Kösdin denn auch Einsichten zu formulieren, die bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren haben: Die Fähigkeit, das Gegenüber mit seinen belasteten, sorgenvollen oder verzweifelten Gedanken ungestört zu Wort kommen und ausreden zu lassen, steht dabei an oberster Stelle. Wie die Basis für eine solche vertrauensvolle Begegnung gelegt werden kann, welche allein in eine christlich-gegründete „neue Daseinssfäre" zu fuhren vermag, verdeutlicht Köstlin eindrücklich am Beispiel des Gesprächs in der Gefängnisseelsorge:
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Vgl. a. a. O., S. 337. A. a. O., S. 354. H. A. Köstlin, Der seelsorgerliche Krankenbesuch, S. 32. H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 358. A. a. O., S. 370. 203
„Das wird vielleicht am besten so ermöglicht, daß wir uns zunächst bemühen, den Weg zum Herzen des Unglücklichen zu finden, ihn dazu bringen, die Geschichte seines verlorenen Lebens zu erzählen und zwar so, wie er sie auffaßt und versteht, also ihn reden und klagen, ja anklagen und andre, die ihn so weit gebracht haben, verdammen lassen, ohne viel dazwischen zu reden. Erst muß die Last vom Herzen, ehe das Gewissen zum Wort kommen kann. Suchen wir nur ganz sachte den Finger auf die wenigen Lichtpunkte zu legen, die in seiner Erzählung aufleuchten, auf die Anregungen und Ansätze, die Möglichkeiten zum Guten, an denen auch ihm nicht wird gefehlt haben, den durch Verbitterung und Haß getrübten Blick hinzulenken und dabei festzuhalten."228 Das Heilswort soll nicht dem Gesagten entgegengesetzt werden, sondern es soll in die individuelle Lebensgeschichte eingefugt werden - es geht seinen Weg hindurch durch die konkrete Situation und die je eigene, biographische Perspektive. Die persönliche Bedürftigkeit und Konfliktlage sowie die andrängenden Protestpotentiale sollen herausgespürt werden, um an ihnen endang die „Wirkmächtigkeit" des Heilswortes konkret entfalten zu können. Die Last soll erzählt und gehört werden und den ihr gebührenden Raum erhalten; die „Lichtpunkte", an denen sich Hoffnung anknüpfen könnte, sollen demgegenüber nicht übersehen werden, doch sind sie vorsichtig zu behandeln, um nicht einem vorschnellen, schönfärbenden Gebrauch zum Opfer zu fallen: „Denn das Leben nimmt den meisten Menschen mehr, als es ihnen gibt; es erfüllt nicht alle unsere Wünsche und erfüllt sie nicht so, wie wirs haben möchten; es führt an Sterbebetten und Gräber, es bringt Krankheiten und Verluste, es macht einsam und immer einsamer. Daher so viele verdrossene, früh gealterte, immer so müde Menschen [,..]." 229 Zwar muß die christliche Lebensvergewisserung immer ihre Verankerung in unverstellter individueller Wirklichkeitserfahrung haben, doch erinnert Köstlin zugleich daran, daß nicht schon der kruden Wirklichkeit als solcher eine vergewissernde Kraft eignet — dafür erfordert es vielmehr spezifisch religiöser Interpretationsleistungen, in welchen es darum geht, „die so erkannte und gesicherte Wirklichkeit auf unser Gewissen wirken zu lassen, uns mit ihr in Beziehung zu setzen, unser Denken und Handeln, unsere Grundsätze und unsere gesamte Lebensrichtung mit ihr in Einklang zu bringen" 230 : „Denn nicht eine gedachte, zum voraus gewollte und angenommene, durch irgend eine außer ihr liegende Autorität zu deckende Wirklichkeit ist es, auf die wir das Heil gründen können und dürfen, sondern die Wirklichkeit, wie sie ist, sich uns als solche darstellt und erweist, aller kri-
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A. a. O., S. 399. H. A. Köstlin, Erster Weihnachtstag; in: HWDH 27 (1904), S. 95. H. A. Köstlin, Zur Standesseelsorge der Pfarrer, S. 116.
tischen Forschung standhält. Denn nur sie bietet den festen Rückhalt und unerschütterlichen Grund für Leben, Leiden und Sterben."231 Weder die Person des anderen noch die eigene darf für sekundäre Interessen verzweckt werden - zumal in der Seelsorge nicht, deren Intention ja gerade die Freigabe des anderen an das Unabgegoltene seiner eigenen Lebensgeschichte ist. Wie nirgend sonst geht es deshalb in der seelsorgerlichen Begegnung um eine Haltung, die Freiheit und Verstehen ermöglichen will, gerade ohne die individuellen Verwerfungen und Defiziterfahrungen fortzuschreiben: „Der Seelsorger ist nicht der Richter. Um einen Menschen helfen zu können, muß man ihn verstehen; um ihn zu verstehen, muß man Zeit für ihn haben, Zeit und viel Geduld."232 Darüber hinaus findet sich bei Köstlin ein Gedanke, der bereits vorausweist auf einen zentralen Aspekt der amerikanischen Pastoralpsychologie im Gefolge Anton T. Boisens (1876—1965) - nämlich der Hinweis, in der seelsorgerlichen Gesprächsbegegnung insbesondere mit kranken Menschen auch interpretatorisch von dessen lebensgeschichtlicher Situation auszugehen und folglich „die Schwere des Falles gewissermaßen zum Text zu nehmen" 233 . Mit dieser Formulierung bekommt das Gegenüber als ein „living human document"234 einen eigenständigen Rang im Bedeutungshorizont von Text und Tradition zugesprochen und wird als korrespondierende Bezugsgröße im hermeneutischen Prozeß verankert. In einem vorsichtigen Ausgriff formuliert Köstlin hier Perspektiven, die sich gleichwohl erst in den nachfolgenden Jahrzehnten als pastoralpsychologische Einsichten Bahn verschaffen sollten. Von hier aus ist es zu verstehen, wenn der Schweizer Theologe und Religionspsychologe Hans Schär (1910-1967) angesichts der zeitgenössischen Tendenz zu einer einseitig theologischen Rekonstruktion der Seelsorgelehre 1961 anerkennend schreibt: „Man muß in der Literatur über protestantische Seelsorge schon ziemlich weit zurückgehen, um eine andere, weniger autoritativ eingestellte Art der Seelsorge zu finden." 235 — Er entdeckt eine solche, den „Menschen Gottes" ins Zentrum rückende Seelsorge nicht zuletzt und sicherlich nicht zu Unrecht - bei Heinrich Adolf Köstlin.
Ebd. H. A. Köstlin, Pastoraltheologische Betrachtungen: Matth. 10, 20; in: MPTh 1 (1904/05), S. 337. 2 3 3 H. A. Köstlin, Die hehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 351. 2 3 4 Zu dieser von Anton Boisens stammenden Formulierung vgl. C. V. Gerkin, The Utting Human Document, Nashville 1984. Außerdem D. Stollberg, Therapeutische Seelsorve. Die amerikanische Seelsorgebewegung, München 1969, S. 163—191. 23 ^ H. Schär, Seelsorge und Psychotherapie, Zürich/Stuttgart 1961, S. 51. 231
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3. Protestantische Seelsorge bei O. Baumgarten
3.1. Otto Baumgarten (1858-1934) Im Unterschied zum Werk Heinrich Adolf Köstlins hat Baumgartens weitverzweigtes theologisches und politisches Engagement in der jüngsten Vergangenheit bereits eine intensive Aufmerksamkeit erfahren — zu nennen sind hier vor allem die grundlegenden archivalischen und biographischen Forschungen, die Hasko von Bassi mit seiner Kieler Dissertation einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat.1 Darüber hinaus hat Baumgarten selbst 1929 eine ausgedehnte Retrospektive auf seine Lebensgeschichte vorgelegt — wenngleich dieses Werk über weite Strecken lediglich Selbstzitate aus seiner theologischen und politischen Lebensarbeit zusammenstellt, so finden sich doch vor allem im ersten Drittel dieser Autobiographie aufschlußreiche Kommentierungen zu Baumgartens eigener Sicht auf seine lebensgeschichtlichen Prägungen bzw. Wendepunkte. Deshalb kann sich die biographische Rekonstruktion Baumgartens vielfältiger Tätigkeiten sowie die eingehende Würdigung seiner umfangreichen literarischen Produktion an dieser Stelle auf die Nachzeichnung wesendicher Grundlinien beschränken und wird dabei zugleich dem Interesse an der Praktischen Theologie der Jahrhundertwende entsprechend — das Hauptgewicht auf die Zeit vor 1914 legen. Geboren in München am 29. Januar 1858 als zweites Kind der Eheleute Hermann Baumgarten (1825-1893) und Ida Baumgarten geb. Fallenstein (1837-1899), verbrachte Otto Baumgarten den größten Teil seiner Kindheit im badischen Karlsruhe, an dessen Polytechnikum sein Vater seit 1861 als Professor für Geschichte lehrte. Dieser, eng befreundet mit dem Historiker und Publizisten Georg Gottfried Gervinus (1805-1871), war zunächst als national und liberal gesonnener Publizist hervorgetreten; 1872 erhielt er einen Ruf an die neugegründete deutsche Universität in Straßburg, wo er den Lehrstuhl für mittlere und neue Geschichte übernahm.2 Baumgartens Mutter entstammte einem alten Hugenottengeschlecht, ein Teil ihrer Vorfahren war im angelsächsischen Raum beheimatet - von ihr empfing Baumgarten eine tiefe religiöse und musisch-kreative Prägung, welche ernste Frömmigkeit und soziales Ver1 2
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Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, Frankfurt/M. u. a. 1988 (Lit.!). Vgl. a. a. O., S. 6.
antwortungsbewußtsein weitherzig miteinander zu verbinden wußte. Darüber hinaus war der gesellige und gesellschaftliche Umgang im Elternhaus für den jungen Baumgarten von persönlicher Bedeutung - hier sind vor allem, neben den Kontakten zum badischen Hof, der badische Staatsminister Julius Jolly (1823-1891) und seine Frau Elisabeth („Tante Betty") zu nennen, später auch Baumgartens Vetter Max Weber.3 Biographisch bedeutsam wurde für Baumgarten seine bewußte Bekehrung zu einem christlichen Leben unter der verpflichtenden Erfahrung von „Lüge und Wahrheit", von „Gnade und Vergebung"4 - sie stand deutlich im Kontrast zu der weithin indifferenten religiösen Haltung in seiner Umgebung, wie er sie im herrschenden Bildungsklima etwa der Schule vorfand: „Christus war ein Outsider dieser in sich geschlossenen Kultur, so der idealistisch-humanistischen wie der naturwissenschaftlichrealistischen."5 Seinen inneren Neigungen folgend, beabsichtigte Baumgarten deshalb nach seinem Abitur im Sommer 1876, in Straßburg das Theologiestudium aufzunehmen. Die alltagspraktische, empfindsame und sozialkritische Religiosität der Mutter, die sich gegen jede „satte Genügsamkeit an einer klassisch-ästhetischen Bildung" wendete, auf der einen, und die rational-protestantischen, wissenschaftlich durchgebildeten Überzeugungen des Vaters, an dem Baumgarten rückblickend dessen nationalliberale Einstellung und seine - später enttäuschte - Verehrung für Bismarck herausstreicht, auf der anderen Seite — das waren die gegensätzlichen Prägungen aus seinem Elternhaus, die Baumgarten nunmehr im Sinne einer „Versöhnung zwischen christlichem Glauben und liberal-protestantischer Rationalität" im eigenen theologischen Studium zu überwinden suchte.6 Bestärkt wurde er in diesem Entschluß durch seine Bekanntschaft mit dem wenig älteren Eduard Simons, der ihm ein überzeugendes Vorbild für die theologische Vermittlung der beiden konträren weltanschaulichen Linien war. „Simons repräsentierte aufs glücklichste den Typus des modernen, auf alle Probleme des heutigen Kulturmenschen eingestellten und doch in der freudigen Bejahung des ewigen Evangeliums nicht angefochtenen Theologen."7 Gleichwohl war es Baumgarten nicht möglich, sogleich mit ungebrochenem Engagement seine ehrgeizigen theologischen Studienziele zu verwirklichen: Schon bald nach den ersten Semesterwochen „brach eine depressiv-melancholische Anlage durch", die ihn zu einem neunmonatigen, Vgl. a. a. O., S. 2ff. O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 36; zu den lebensgeschichtlichen Wurzeln dieser Bekehrung in der Pubertät Baumgartens vgl. a. a. O., S. 26. 5 A. a. O., S. 24. 6 Vgl. a. a. O., S. 7. 7 A. a. O., S. 35. Dazu vgl. F. W. Graf, Art. „Simons, Eduard"; in: BBKL Bd. 10, Herzberg 1995, Sp. 432-476. 3
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ärztlich angeratenen Landaufenthalt einschließlich des dazugehörigen arbeitsamen Lebens als „Naturkind" nötigte.8 Auf diese Weise bereits aus „idealistischer Übergeistigkeit" zu einem „psychopsychischen Realismus" herabgeholt, hatte Baumgarten sodann 1877/78 seine einjährige Militärdienstzeit abzuleisten.9 Rückblickend bringt er seine später programmatisch vertretene Wende Induktiven durchaus in einen kausalen Zusammenhang mit dem „erschütternden Eindruck", den der Kommißalltag auf seine „lebens- und weltfremde Seele" machte: „Da wandte ich mich definitiv ab von dem deduktiven, konstruktiven Idealismus und zwang mich zu einem unerbittlichen Realismus in genauester Beobachtung der Volkssitten und der Ursachen und Wirkungen der Volksunsitten." 10 Im Wintersemester 1878/79 begann Baumgarten sein Studium in Straßburg gewissermaßen ein zweites Mal; neben den historischen Vorlesungen seines Vaters war für ihn vor allem der Unterricht bei dem Neutestamentler Heinrich Julius Holtzmann von großer Bedeutung.11 Während seiner weiteren Studienzeit wechselte Baumgarten für ein Semester nach Göttingen, um dort den einflußreichen systematischen Theologen Albrecht Ritsehl (1822-1889) zu hören. Dieser, der vielen engkirchlichlutherischen Theologiestudenten ein stärker freiheitliches und intellektuell redliches Verständnis des biblisch-reformatorischen Glaubens eröffnet hatte, konnte bei dem so ganz anders geprägten Baumgarten keine große Wirkung erzielen — Ritsehl hinterließ bei ihm lediglich den etwas ambivalenten Eindruck eines „Bismarck auf dem Katheder" 12 . Im Herbst 1880 ging Baumgarten für zwei Semester nach Zürich, um dort Alexander Schweizer und Alois Emanuel Biedermann (1819-1885) zu hören; 1882 legte er das erste Staatsexamen in Straßburg ab. Nach der nun anschließenden, wegen der guten Examensnote auf ein halbes Jahr verkürzten Zeit im Heidelberger Predigerseminar wurde Baumgarten Pfarrvikar in Baden-Baden und heiratete am 9. Januar 1883 seine sieben Jahre ältere Halbcousine Emily Alice Fallenstein (1850— 1883). Doch bereits nach wenigen Monaten bat er aus Gründen der Arbeitsüberlastung um seine Versetzung; Baumgarten wurde deshalb im Mai 1883 Pastorationsgeistlicher im überwiegend katholisch geprägten
A. a. O., S. 39. Vgl. a. a. O., S. 40; 43ff. Dazu siehe L. Mertens, Das Einjährig-Freiwilligen Privileg. Der Militärdienst im Zeitgeist des deutschen Kaiserreiches; in: ZRGG 42 (1990), S. 316-329. 10 O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 46. 11 Vgl. a. a. O., S. 52f. Dazu ders., Heinrich Holtzmann; in: ChW 46 (1932), Sp. 435-437. 12 O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 55; vgl. ders., Die persönlichen Erfordernisse des geistächen Berufs, Tübingen 1910, S. 31, wo er ihn einen „Imperator auf dem Katheder" tituliert. 8 9
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Waldkirch bei Freiburg - eine Region, in der die konflikthaften Prozesse sozialer und ökonomischer Modernisierung zunehmend Platz griffen.13 Noch im selben Jahr starb völlig unerwartet Baumgartens Ehefrau an den Folgen der Geburt ihres ersten Kindes; auch dieser Sohn konnte nur wenige Tage überleben. Wenngleich in den folgenden Jahren eine Reihe innergemeindlicher Querelen Baumgarten die Pfarramtsarbeit zusätzlich erschwerten, so wird es doch vor allem dieser frühe Verlust gewesen sein, der ihm langfristig die soziale und emotionale Grundlage für ein Leben im Pfarrhaus entzogen hat.14 Baumgarten entschloß sich daher, eine akademische Laufbahn ins Auge zu fassen, und siedelte 1887 nach Halle über, um dort seinen theologischen Lizentiaten zu machen. Inhaltlich verfolgte er dabei den bereits über Jahre gehegten Plan, über „Herder als Kirchen- und Schulmann" zu arbeiten.15 Für dieses Interesse waren neben der eigenen Jugendlektüre auch die Herder-Forschungen seines Vaters von Bedeutung gewesen. Zudem hatte die zeitgenössische HerderRezeption auch in theologischen Kreisen durch die ab 1877 erscheinende, von Bernhard Suphan (1845-1911) besorgte kritische Gesamtausgabe der Werke Herders neuen Auftrieb erhalten.16 Baumgartens Wechsel nach Halle war dabei zu einem guten Teil durch den dortigen Literaturhistoriker und Herder-Forscher Rudolf Haym (1821-1901) motiviert. Dieser hatte damals unlängst eine zweibändige Monographie über Herder nach seinem Lieben und seinen Werken (Berlin 1877-1885) abgeschlossen, zeigte sich jedoch - in der Meinung, Herder erschöpfend erforscht zu haben — ausgesprochen uninteressiert an dem von Baumgarten vorgestellten Projekt.17 Gleichwohl ließ dieser sich nicht von seinem Vorhaben abbringen und legte nach anderthalb Jahren intensiver und eigenständiger Auseinandersetzung mit den einschlägigen Schriften Herders seine Lizentiatenarbeit unter dem Titel Herder's Anlage und Bildungsgang %um Prediger (Halle 1888) vor, die sich inhaltlich mehr an die älteren Forschungen des Kirchengeschichtlers Karl Rudolf Hagenbach (1801-1874) anschloß; 13 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 20; G. Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik, S. 228f.; zur Übersicht A. Ludwig, Das kirchliche beben der evangelisch-protestantischen Kirche des Grossher^ogtums Baden, Tübingen 1907. 14 Vgl. O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 70ff.; H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 21-28. 15 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 23f. 16 Vgl. O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 17, 34f.; außerdem H. Baumgarten, Herder und Georg Müller; in: PrJ 29 (1872), S. 23-51, 127-161; G. Frank, Herder als Theologe; in: ZWTh 17 (1874), S. 250-263; A. Werner, Art. „Herder"; in: RE2 Bd. 5, Leipzig 1879, S. 791-796; ders., Herder's Bedeutung in der evangelischen Kirche; in: PKZ 34 (1887), Sp. 165-173, 189-197. Dazu ders., Art. „Herder"; in: RE3 Bd. 7, Leipzig 1899, S. 697-703; H. Stephan, Art. „Herder"; in: RGG1 Bd. II, Sp. 2122-2126 (Lit.). 17 Vgl. O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 81 f.
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in Baumgartens späterer - allerdings unzutreffender - Erinnerung blieb diese Schrift unveröffentlicht.18 Nach seinem Probevortrag „Ueber praktische Auslegung" am 2. November 1888 und der öffentlichen Verteidigung seiner Thesen am folgenden Tag wurde er nunmehr zum Lizentiaten der Theologie promoviert.19 Persönlich bedeutsam für Baumgarten wurden - auch im Zusammenhang mit diesem Promotionsverfahren - seine in Halle geknüpften freundschaftlichen Kontakte zu dem deutlich älteren Willibald Beyschlag (1823-1900), der dort seit 1860 Praktische Theologie lehrte und führender Mitbegründer der Deutsch-evangelischen Blätter sowie des 1886 ins Leben gerufenen Evangelischen Bundes %ur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen war. Ganz im Sinne Baumgartens hatte Beyschlag gegenüber einer allzu affirmativen und kulturpositivistischen Auffassung des Christentums dessen konstitutive Weltdistanz wieder neu in Anschlag bringen wollen. Wenn auch Baumgarten später ihm diesbezüglich mangelnde Konsequenz und vermittlungstheologische Halbherzigkeit vorwerfen sollte, so betonte Beyschlag doch schon in seiner Analyse der „Religion in der modernen Gesellschaft" von 1887 gerade die gleichsam noch unverbrauchte kulturkritische Kraft des christlichen Glaubens, welche auch Baumgarten immer wieder in den Vordergrund seiner theologischen Überlegungen zu rücken bemüht war: „Was das arme, culturschmucklose Evangelium der an weltlichen Bildungselementen überreichen, in religiöser Hinsicht noch tieferer Skepsis verfallenen alten Welt gegenüber vermocht hat, warum sollte es das der modernen Welt gegenüber nicht vermögen, der es unerschöpft und unersetzt gegenübersteht?"20 Uber seine Zusammenarbeit mit Beyschlag hinaus gewannen die in Halle aufgenommenen Beziehungen zu einer Reihe von Theologen der jüngeren Generation für Baumgarten einen prägenden Einfluß - zu nennen sind hier insbesondere der Religionsgeschichtler und spätere Kieler Fakultätskollege Albert Eichhorn (1856—1926) sowie der bedeutende liberale Kirchenhistoriker Adolf Hamack. Nachdem Baumgarten bereits im August 1886 von Martin Rade eine Einladung zur Mitarbeit an dem geplanten Projekt eines Evangelisch-Lutherischen Gemeindeblattes für die gebildeten Glieder der evangelischen Kirche erhalten hatte, gehörte er rasch zum festen Mitarbeiterkreis dieser anfänglich vor allem von Ritschlianern dominierten Zeitschrift, die sich unter ihrem Vgl. K. R. Hagenbach, Art. „Herder"; in: RE1 Bd. 5, Stuttgart/Hamburg 1856, S. 747-753. Dazu O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 86; H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 399 (A. 39). 19 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 39 (die Jahresangabe ist entsprechend zu korrigieren). W. Beyschlag, Die Religion und die moderne Gesellschaft, Halle a. S. 1887, S. 20; vgl. O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 1 (1901), S. 36. 18
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bald geänderten Titel Christliche Welt zum fuhrenden Publikationsorgan des gesamten deutschen Kulturprotestantismus im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert entwickeln sollte.21 Wie diese neugegründete Zeitschrift ihr Profil bewußt in doppelter Abgrenzung - einerseits gegenüber der allzu rationalistischen Theologie im liberalen Protestantenvereins, andererseits gegenüber den konfessionell-traditionalistischen Orientierungen des konservativen Luthertums22 - suchte, so intendierte auch Baumgarten mit seinen ersten Beiträgen in diesem Blatt eine kritische Reformulierung und Neubewertung der Differenz von Kultur und Religion. Die junge „moderne Theologie", wie er sie in diesen frühen Artikeln in der Christlichen Welt zu entwickeln begann, wandte sich sowohl gegen die restaurativen Bestrebungen der konfessionell Orthodoxen, die zugunsten der Sicherung des kirchlichen Traditionsbestandes die religiöse und weltanschauliche Eigendynamik der Gegenwart theologisch diskreditierten — als auch gegen liberale Theologen aus dem Umkreis des Protestantenvereins, welche programmatisch „eine Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesamten Kulturentwickelung" ihrer Zeit anstrebten23 und dabei - so Baumgarten - das Anstössige und Sperrige des christlichen Glaubens in unzulässiger Weise mit der Logik ihrer rationalen Bildungs- und Kulturinteressen verrechneten. Beide Lager würden weder der paradoxen Macht des Evangeliums noch dem tieferen religiösen Bedürfnis ihrer Zeitgenossen gerecht — eine These, die sich Baumgarten nicht zuletzt im Zusammenhang zweier von Halle aus unternommener Kongreßbesuche aufdrängte. Zunächst fuhr er im Mai 1888 auf die erste vom Deutschen Evangeüsationsverein nach Gnadau einberufene Pfingstkonferenz, um von dieser Zusammenkunft gemeinschaftschristlicher Kreise für die Christliche Welt zu berichten. Programmpunkte der Gnadauer Konferenz waren die stärkere Betonung der Lehre von der Heiligung sowie die Verstärkung der Mitar21 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 33; dazu O. Baumgarten, „Die Christliche Welt"; in: ZprTh 21 (1899), S. 245-276; M. Rade, Art. „Christliche Welt und Freunde der Christlichen Welt"; in: RGG1 Bd. I, Sp. 1703-1708; ders., Art. „Ritschlianer"; in: RGG1 Bd. IV, Sp. 2334-2338; R. Schmidt-Rost, Ein Freund der Christlichen Welt. Otto Baumgarten als Verfechter eines freien Protestantismus; in: W. Steck (ed.), Otto Baumgarten, S. 57-71; F. W. Graf, Art. „Rade, Paul Martin"; in: BBKL Bd. 7, Herzberg 1994, Sp. 1195-1223. 22 Vgl. H. Ruddies, Liberales Kulturluthertum; in: F. W. Graf (ed.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus 2/2, S. 403f. 23 So §1 des Vereinsstatuts; dazu P. Mehlhorn, Art. „Protestantenverein, Deutscher"; in: RE3 Bd. 16, Leipzig 1905, S. 127-135; E. Petersen, Art. „Protestantenverein"; in: RGG1 Bd. IV, Sp. 1894-1899; C. Lepp, Protestantisch-liberaler Aufbruch in die Moderne. Der deutsche Protestantenverein in der Zeit der Reichsgründung und des Kulturkampfes (Religiöse Kulturen der Moderne Bd. 3), Gütersloh 1996.
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beit von Laien in Gemeinschaftspflege und Evangelisation.24 Trotz oder gerade wegen - seiner Symphathie für lebendiges Christentum blieb Baumgartens Eindruck von dieser Konferenz ein äußerst zwiespältiger; die Abfassung des Berichts für die Christliche Welt kostete ihn sichtliche Überwindung. Dennoch lag ihm daran, sich zunächst unvoreingenommen um den Wahrheitskern solcher - seiner Auffassung nach - demagogisch „uniformierten Anfassung der Massen", wie sie hier propagiert wurde, zu bemühen, und räumte selbstkritisch ein: „Unsre evangelische Kirche und ihre gebildete Predigt ist in der That zu vornehm zur Evangelisation der Massen" - ihr fehlte eben gemeinhin der rechte Volkston mit seiner „frappirenden Derbheit".25 Aber auch wenn den bewußt offensiven Methoden moderner Erweckungsprediger tatsächlich eine grössere Massenwirksamkeit beschieden sein sollte, so würde doch zugleich „die Einseitigkeit dieser Predigt, von allem Verständnis für die Gewissensnot der führenden Klassen abgeschnitten, die Kluft zwischen dem Glauben des Volkes und dem Zweifel der Bildung erweitern [...]:"26 Der integrierende volkskirchliche Rahmen, der noch immer die geschichtlich ausgewiesene „Form für allen christlichen Lebensinhalt" biete, würde so aufgesprengt werden, wodurch die Kirche über kurz oder lang in frei konkurrierende Vereine zerfiele. Außerordentlich kritisch sah Baumgarten deshalb die Missionsbestrebungen solcher volkskirchenkritischen Erweckungsbewegungen; gegenüber der auf der Gnadauer Pfingstkonferenz erhobenen Forderung, es müsse auch in Deutschland „schneller gearbeitet, das Werk an den Seelen amerikanisirt werden", empfand Baumgarten eine tiefe Skepsis: „Ja, es steckt ein unserm Volksgemüte fremder Trieb in dem ganzen Unternehmen!" Mit dem nötigen lebensgeschichdichen Abstand schildert Baumgarten seinen Besuch auf dieser Konferenz gleichwohl anhand einer humorvoll-pointierenden Anekdote: „Mein redliches Bemühen, in den Heilsgewißheit und Seelenweckung suchenden Kreis innerlich einzudringen, wurde schon durch die unausgesetzten Selbstbekenntnisse über die eigene Bekehrung, durch die Besprechung der Frage, ob man besser 5 Laien je 10 oder 10 je 5 Minuten über ihre Begegnung mit Jesus sprechen und beten lasse, aufs äußerste angespannt; als aber ein schwäbischer cBruder', mit dem ich in einem Zimmer schlafen sollte, mich fragte: Wer von uns soll nun für uns beide beten?', da griff ich nach Rock und Hut, rannte zwei Stunden lang auf der von herrlichem Mondschein erfüllten Chaussee nach Schönebeck und feierte meine Rückkehr aus der geist-
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Vgl. H. Benser, Art. „Gemeinschaftschristentum"; in: RGG1 Bd. II, Sp. 1264. O. Baumgarten, Laienpredigt; in: ChWl (1888), S. 419. A. a. O., S. 420; dort auch die nächsten Belege.
liehen Unnatur zur freien Natur durch einen gründlichen Trunk in einer seßhaften Bürgerrunde."27 Am 10. und 11. Oktober 1888 fand sodann der 17. Deutsche Protestantentag in Bremen statt. Zu diesem Jubiläumsereignis anläßlich des 25jährigen Bestehens des Protestantenvereins entsandte Martin Rade bewußt den positionell noch unbelasteten Baumgarten als Berichterstatter für die Christliche Welt,28 Im Anschluß an den Festvortrag von Wilhelm Hönig, welcher auf die geleistete Arbeit sowie auf die bleibenden Ziele des Protestantenvereins zurückblickte, würdigte Baumgarten denn auch zunächst die besondere geschichtliche Bedeutung dieser nationalliberal und antikatholisch ausgerichteten Vereinigung, die mit ihrem durch Richard Rothe inaugurierten Programm einer „Versöhnung von Religion und Kultur im Geiste evangelischer Freiheit" den deutschen Protestantismus auf die Höhe der kirchlichen, politischen und wissenschaftlichen Anforderungen seiner Zeit zu heben vermocht hatte. Doch infolge der gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen hätten sich - so Baumgarten - die vordringlichen Aufgaben protestantischer Zeitgenossenschaft unterdessen entscheidend verändert: Die Durchsetzung liberaler Werte in Kirche und Gesellschaft sowie die Bestrebungen nach nationaler Einigung haben dank des Ganges der geschichtlichen Entwicklung - sichtlich an Aktualität verloren, die sozialen Kosten der industriellen Modernisierung sowie eine undogmatische Neufundierung des christlichen Rechtfertigungsglaubens stünden dagegen nunmehr im Vordergrund.29 Infolge dieser Entwicklung erlebten die Vereine und Werke im Umkreis der Inneren Mission einen enormen Aufschwung - der Protestantenverein dagegen müsse darauf achten, nicht in bloßer positioneller Selbstbeweihräucherung zu erstarren, da er auf diese Weise nur um so schneller seine frühere Bedeutung einbüßen werde: „Es rächt sich da die Kulturfreundlichkeit, die im empirischen Staate den Genossen der Kirche sieht. Und wir können darin nur eine gesunde Entwickelung begrüßen: die Kirche des Evangeliums darf nicht Leben und Hauptnahrung ziehn von den seis auch edelsten Kulturbestrebungen."30 Folglich kritisiert Baumgarten an dem kulturellen Harmonisierungsprogramm des Protestantenvereins, daß dieser in seinem Bemühen um die Versöhnung von Religion und Kultur „die Brücke von der Bildung statt vom Evangelium aus schlägt und somit vielfach einen faulen Frieden macht, wobei die elementarsten christlichen Bedürfnisse, 2' O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 86; dazu vgl. ders., Kirchliche Chronik; in: MKP 2 (1902), bes. S. 322. 28 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 34. Dazu siehe auch W. Hönig, Der XVII. Protestantentag in Bremen; in: Protestantische Flugblätter 23 (1888), S. 65-74. 29 Vgl. O. Baumgarten, Der Protestantentag zu Bremen, ein Jubiläum; in: ChW 2 (1888), Sp. 441 f. 30 A. a. O., S. 443; dazu ders., Kirchliche Chronik; in: MKP 2 (1902), bes. S. 42.
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Gnadensehnsucht, Gnadengewißheit und das Ärgernis des Kreuzes dem Idealismus und Intellektualismus geopfert werden [...]."31 Das formaljuristisch ausgelegte Gemeindeprinzip des Protestantenvereins, das auf die verfassungsmäßige Stärkung der Rechte des gemeindlichen Individuums zielte, schien Baumgarten dabei ebensowenig eine zureichende Antwort auf den kirchlichen Plausibilitätsverlust der Gegenwart zu sein wie die liberaltheologische Tendenz zu einer intellektualistischen Engfuhrung der religiösen Wahrheits frage. 32 Nachdem Baumgarten 1888 die Stelle eines Waisenhauspredigers in Rummelsburg - als Nachfolger seines Freundes Adolf Jülicher (18571938) — erhalten hatte, siedelte er noch im selben Jahr nach Berlin über, um sich an der dortigen Fakultät im Fach Praktische Theologie zu habilitieren.33 Seine nach anderthalbjähriger Arbeit Anfang 1890 vorgelegte Habilitationsschrift hatte „Herder's Stellung zum Rationalismus" zum Gegenstand. Deutlicher als in der Lizentiatenarbeit um historische Gediegenheit bemüht, konnte Baumgarten seine interpretatorische Originalität bei der Abfassung dieser Schrift nur in einem weit geringeren Maße entfalten, so daß es nicht verwunderlich ist, wenn ihre wesentlichen Ergebnisse lediglich in einer kurzen, vorab veröffendichten Zusammenfassung erschienen.34
31 O. Baumgarten, Der Protestantentag zu Bremen, ein Jubiläum, S. 444. Vgl. da2u die alte Kritik E. v. Hartmanns an den „Taschenspielereien" des liberalen Protestantismus, die er in folgenden Vergleich faßt: „Auch wer die Prätension, Christ zu sein, aufgegeben hat, kann darum wohl einmal Schriftstellen citdren, wie man Dichterstellen citirt; aber man thut so etwas nicht in der Meinung, dadurch grössere Beweiskraft zu erzielen, sondern nur zum rhetorischen Schmuck, oder aus Freude an dem treffenden Ausdruck, den ein Gedanke in solcher Stelle gefunden." E. v. Hartmann, Die Selbst%erset%ung des Christenthums und die Reägion der Zukunft, Berlin 1874, S. 62. Außerdem ders., Religiöse Wandlungen; in: Die Gesellschaft Bd. 4/2 (1888), S. 569-581, sowie U. Hobbing, Zur Praxis der Seelenpflege (1894), Lemgo o. J. pl899], S. 12: „Jede entschlossen auf die Ewigkeit gerichtete Seele will, bewußt oder unbewußt, gerade das, was der Liberalismus ihr vorenthält, sie will Gott begegnen in einem Menschenangesicht und will den Beweis ihrer Versöhnung." 32 O. Baumgarten, Der Protestantentag zu Bremen, ein Jubiläum, S. 443f.; vgl. ders., Kirchliche Chronik; in: MKP 1 (1901), S. 185ff., 214f.. Konstrastierend dazu W. Hönig, Die liberale Richtung und das religiöse Bedürfniß; in: Die Predigt der Gegenwart 21 (1884), S. 90f.: „Religiöses Bedürfniß ist die Sehnsucht des schwachen, unvollkommenen Menschen, in einen Zusammenhang mit demjenigen Leben zu gelangen, welches, unendlich höher als er selbst, die Quelle alles Lebens ist, aufgenommen zu werden in die große Einheit des Lebens, von welcher Alles ausgeht und zu welcher Alles zurückkehrt." 33 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 40ff. 34 Vgl. O. Baumgarten, Herder's Stellung zum Rationalismus; in: DEBl 14 (1889), S. 649-669.
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Im Kontrast zur fachlichen Beschränkung und Selbstdisziplinierung in seiner in Berlin angefertigten Habilitationsschrift war das politische und soziale Leben in der Reichshauptstadt für Baumgarten äußerst anregend: Ein herausragendes Ereignis während seiner Berliner Zeit stellten dabei die kaiserlichen Februarerlasse aus dem Jahr 1890 dar, die die Kirchen nachdrücklich zu einer verantwortlichen Mitwirkung an der Lösung der sozialen Frage aufriefen. In Reaktion auf diese politische Wende kam es - insbesondere durch die Initiative des langjährigen Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker (1835-1909) - bereits im Mai 1890 zur Gründung des Evangelisch-sozialen Kongresses, der jenseits der kirchenpolitischen Parteiungen an der Lösung der andrängenden sozialpolitischen und sozialethischen Aufgaben mitzuarbeiten gedachte.35 Trotz seiner Vorbehalte gegenüber dem Antisemitismus Stoeckers engagierte sich auch Baumgarten von Anbeginn in dieser überwiegend bildungsbürgerlichen Arbeitsgemeinschaft, in dessen Auftrag er - unterstützt durch seinen Vetter Max Weber - in den folgenden vier Jahren die insgesamt neunzehn Hefte der Schriftenreihe Evangelisch-soziale Zeitfragen herausgab.36 Baumgarten selbst verfaßte für diese Reihe seinen engagierten Beitrag Der Seelsorger unsrer Tage (1891), der eigene Pfarramtserfahrungen widerspiegelte und entschieden für eine kritische Öffnung der pastoralen Praxis gegenüber den Anforderungen der modernen industriellen Lebenswelt warb. Offenbar auf Betreiben des in Jena seit 1871 lehrenden Systematischen Theologen Richard Adelbert Lipsius (1830-1892), der auf Baumgartens Herder-Forschungen aufmerksam geworden war, erhielt Baumgarten — für ihn selbst völlig überraschend - noch im August 1890 einen Ruf als Extraordinarius an die Jenaer Theologische Fakultät. Diese ihm angetragene außerordentliche Professur für Praktische Theologie war in Jena neu eingerichtet worden, um die als unzureichend empfundene Lehrtätigkeit des langjährigen Ordinarius Rudolf Seyerlen (1831-1906) durch eine eher praktisch ausgerichtete Lehrkraft wirkungsvoll zu ergänzen.37 Wenngleich Baumgarten Berlin nicht leichten Herzens verließ, so fand er 35 Vgl. K. E. Pollmann, Art. „Evangelisch-sozialer Kongreß (ESK)"; in: TRE Bd. 10, Berlin/New York 1982, S. 645-650; ders., Adolf Stoecker; in: G. Heinrich (ed.), Berlinische Lebensbilder Bd. 5, Berlin 1990, S. 231-247; ders., Soziale Frage, Sozialpolitik und evangelische Kirche 1890-1914; in: J.-C. Kaiser/M. Greschat (eds.), Sozialer Protestantismus und Soyalstaat, Stuttgart u. a. 1996, S. 41-56; V. Drehsen, „Evangelischer Glaube, brüderliche Wohlfahrt und wahre Bildung". Der Evangelisch-soziale Kongreß als sozialethisches und praktisch-theologisches Forum des Kulturprotestantismus im Wilhelminischen Kaiserreich (1890-1914); in: H. M. Müller (ed.), Kulturprotestantismus, Gütersloh 1992, S. 190-229. 36 Vgl. H. v. Bassi, Art. „Baumgarten" in: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck Bd. 9, Neumünster 1991, S. 42. 37 Vgl. F. W. Graf, Art. „Seyerlen, Karl Rudolf'; in: BBKL Bd. 9, Herzberg 1995, Sp. 1537-1567, bes. Sp. 1545.
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doch in Lipsius, dem alternden „Haupt der Jenaer Schule"38, auch an seiner neuen Wirkungsstätte einen durch wissenschaftliche Bildung und ernsthafte Christlichkeit ausgezeichneten Gesprächspartner, dessen Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik er posthum 1893 in dritter Auflage edierte. Zunächst hatte Baumgarten sich jedoch auf den in Jena anfallenden Lehrbetrieb einzustellen und eine Vielzahl an Vorlesungen auszuarbeiten, die insbesondere pädagogische und pastoraltheologische Themen sowie das Gebiet der sogenannten „praktischen Exegese" umfaßten.39 Daneben begann er, eine Reihe von Aufsätzen in der Zeitschrift fiir praktische Theologie zu publizieren, deren Mitherausgeber er bereits 1892 wurde.40 Im Rückblick auf seine Jenaer Zeit als Extraordinarius — von Herbst 1890 bis Ostern 1894 - betont Baumgarten vor allem seinen grundsätzlichen Widerspruchsgeist gegen die Eingefahrenheit der dort etablierten Lehrmeinungen: „Da in Jena durch die schon lange herrschende liberale Theologie jede Abwehr reaktionärer, orthodox-pietistischer oder asketischer Velleitäten überflüssig war, trieb mich mein überall der Tradition und Mode feindlicher Kampfgeist zu energischem Angehen gegen die Selbstverständlichkeit und Selbstzufriedenheit des herrschenden Kirchentums."41 Nicht zuletzt aufgrund seiner dezidiert praktischen Ausrichtung sowie seiner persönlichen Verbindungen zur Inneren Mission wurde Baumgarten zum Sommersemester 1894 auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie nach Kiel berufen. Er trat hier die Nachfolge des offensichtlich eher blaß gebliebenen Gustav Kawerau (1847-1918) an, der nach Breslau übergewechselt war. In Kiel, wo er wie in Jena zugleich das Amt des Universitätspredigers versah, sollte Baumgarten schließlich bis zu seiner Emeritierung im Wintersemester 1925/26 bleiben. Zu seinen Fakultätskollegen aus der Kieler Zeit gehörten unter anderem der Kirchenhistoriker Hans von Schubert (1859-1931), der mit Baumgarten freundschaftlich verbunden war und sich offenbar auch für seine Berufung eingesetzt hatte,42 die Systematiker Friedrich August Nitzsch (1832-1898), Erich Schaeder (1861-1936) und Arthur Titius (1864-1936) sowie der eher konservative Neutestamentier Heinrich Ferdinand Mühlau (1839—1914). Daneben sind der Alttestamentler Ernst Sellin (1867-1946) sowie insbeO. Baumgarten, Meine hebensgeschichte, S. 93. Vgl. H. v. Bassi, Otto 'Baumgarten, S. 47f. 40 Vgl. z. B. O. Baumgarten, Die Reformbedürftigkeit der preussischen Confirmationsordnung; in: ZprTh 13 (1891), S. 18-31; ders., Die Verpflichtung der Kirche gegen die Jugendgemeinde; in: a. a. O., S. 203-219; ders., Der Entwurf der neuen preussischen Agende; in: ZprTh 15 (1893), S. 344—359. 41 O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 97. 42 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 54. 38 39
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sondere die Kirchengeschichtler Gerhard Ficker (1865-1934) und Albert Eichhorn als langjährige Fakultätskollegen Baumgartens zu nennen; später kamen noch die von Baumgarten persönlich und fachlich geschätzten Systematiker Hermann Mulert (1879-1950) und Hermann Mandel (1882-1946) hinzu. 43 Durch seine Beteiligung an einem Aufruf zur Unterstützung des Hafenarbeiterstreiks in Hamburg im Januar 1897 sollte Baumgarten schon bald — weit über Kiel hinaus - öffentlichen Anstoß erregen; aber auch innerhalb der schleswig-holsteinischen Landeskirche geriet er „wegen seiner Relativierung des Absolutheitsanspruchs der urchristlichen wie der reformatorischen Theologie zunehmend in Konflikt mit der lutherischen Geistlichkeit". 44 Angesichts ihrer starren Bestands- und Vergangenheitsorientierung hatte Baumgarten der kirchlichen Hierarchie sowie der konfessionellen Orthodoxie provozierend „Glaubensschwachheit" sowie religiöse Überheblichkeit vorgeworfen - die Glaubensfreiheit, die Luther errungen hat, werde von ihnen verkehrt in ein doktrinäres System, das die Evangeliumserfahrung durch eine „Destillation des flüssigen Schriftmaterials" ängstlich und gleichsam literalistisch „einfrieren" will.45 Der „himmlische Egoismus" 4 6 (Johannes Falk) der vermeintlich Rechtgläubigen erweise sich insofern als lieblos und arrogant gegenüber den andrängenden Fragen der Gegenwart, die unbilligerweise moralisch disqualifiziert würden. Demgegenüber gelte es vielmehr, die inneren und äußeren „Nötigungen" jeder weltanschaulichen oder religiös-sittlichen Überzeugung zu respektieren und zunächst jeweils in ihrer subjektiven Legitimität zu verstehen. In einer pointierten Fassung hatte Baumgarten sein umstrittenes theologisches Emanzipationsprogramm im ersten Heft der von ihm neu herausgegebenen Monatsschrift für die kirchliche Praxis vorgetragen, welches auch an die gesamte schleswig-holsteinische Pfarrerschaft versandt wurde. 47 Obwohl die dort formulierten Sätze, die an frühere Äußerungen anknüpften und in der Forderung nach „Befreiung der Christenheit aus der Knechtung unter das Urchristentum und die Reformationstheologie" sowie nach „Erhebung der christlichen Gemeinde zu einer Gewissens-
43 Vgl. a. a. O., passim; dazu auch O. Baumgarten, Art. „Kiel, Universität"; in: RGG 1 Bd. III, bes. Sp. 1091ff. 44 H. v. Bassi, Art. „Baumgarten", S. 42; vgl. ders., Otto Baumgarten, S. 59-66. 45 O. Baumgarten, Der protestantische Lehrprozess; in: ZprTh 22 (1900), S. 63, vgl. S. 61. Dazu auch ders., Kirchliche Chronik; in: EvFr 8 (1908), S. 204 u. a. m. 46 Zitiert nach O. Baumgarten, Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens" in der praktischen Theologie, S. 51; vgl. dazu H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 265-269. 47 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 66.
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macht im sozialen Ringen der Gegenwart"48 gipfelten, nicht gegen das konfessionelle Luthertum gemünzt waren, sondern sich kritisch gegen den von Baumgarten verehrten Willibald Beyschlag und dessen vermittlungstheologisches Programm wendeten, sollte es nunmehr zu einer Reihe scharfer und polemischer Auseinandersetzungen um Baumgartens theologisches Wirken in Schleswig-Holstein kommen. Zu seinem Hauptkontrahenten wurde hier zunächst der langjährige Kieler Generalsuperintendent Theodor Kaftan (1847—1932)49, dessen neuaufgelegte Auslegung des lutherischen Katechismus Baumgarten in dem neuen, von ihm selber mit initiierten Schleswig-Holsteinischen Kirchenblatt 1901 einer ausfuhrlichen kritischen Rezension unterzog, die sich mit ihren insgesamt fünfzehn Folgen über bald vier Monate hinzog. „Aus einer Kritik der Kaftanschen Erklärung erwuchs aber unter den Händen eine Kritik des Lutherischen Katechismus selbst in bezug auf seine Verwertbarkeit für Kinder einerseits, für modern gebildete Lehrer andererseits."50 In der Retrospektive erinnert sich Baumgarten denn auch an ein einschneidendes Gespräch mit Kaftan aus jener Zeit, das die Frage nach der legitimen Fortbildung der christlichen Tradition in die Gegenwart hinein zu seinem Gegenstand hatte und von beiden Seiten als „Bruch" empfunden wurde: „Ich gab Kaftan ruhig zu, daß sein Unterricht auf dem Boden des Lutherischen Bekenntnisbuches stehe, eben deshalb aber für Kinder und Erwachsene unseres Zeitalters nicht mehr geeignet sei."51 Doch hatte auch Kaftan seinerseits nicht daran gelegen, in eine akademische Debatte über den Wert der einzelnen Stücke des lutherischen Katechismus einzutreten - vielmehr war es sein Ziel, in den strittigen theologischen Fragen eine grundsätzliche Klärung und positionelle Scheidung herbeiführen. Über diesen Konflikt zwischen Baumgarten und Kaftan hinaus formierte sich im Umfeld der konfessionell-lutherisch dominierten Pastoralkonferenz sowie des konservativen Schleswig-Holstein-Lauenbutgischen Kirchen- und Schulblattes bald jedoch eine heftige Kritik an Baumgartens theologischer Position sowie an seiner Ausbildungstätigkeit an der Kieler Fakultät, wobei ihm insbesondere „unlutherische Umtriebe" zur Last gelegt 48 Vgl. O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 1 (1901), S. 36; dazu schon ders., Ueber praktische Auslegung, S. 303f. 49 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 54ff., 105ff.; W. Göbell, Art. „Kaftan, Theodor"; in: TRE Bd. 17, Berlin/New York 1988, S. 521-523. 50 O. Baumgarten, Neue Bahnen, Tübingen/Leipzig 1903, S. 1. 51 O. Baumgarten, Meine hebensgeschichte, S. 144f.; vgl. S. 142. Dazu T. Kaftan, Auslegung des lutherischen Katechismus, Schleswig 1901; ders. Erlebnisse und Beobachtungen des ehemaligen Generalsuperintendenten D. Theodor Kaftan, Kiel 1924, S. 340ff.; W. Göbell, Kirchliches Leben um die letzte Jahrhundertwende. Ein Beitrag zum Protestantismus in Schleswig-Holstein; in: Nordelbingen 22 (1954), bes. S. 179-182; H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 66-68.
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wurden. Wenn sich auch Baumgarten immer darüber im klaren war, daß trotz aller Nachstellungen und Verleumdungen „das Martyrium eines ordentlichen Professors nicht sehr erheblich ist"52, so begriff er sich selbst doch als einen modernen Zeugen der Glaubenswahrheit, welcher nunmehr die Anwürfe der Widersacher des Evangeliums erleiden sollte. Wie er schon immer — „unter Anerkennung der tiefgreifenden Differenzpunkte" in weltanschaulichen und religiösen Fragen - „die Verfolgung der Rechtgläubigen nicht als etwas befremdliches, sondern als eine geschichtliche Notwendigkeit" angesehen hatte, so formulierte er nun nicht ohne aufrechte protestantische Glaubenszuversicht: „Es gilt, sich männlich und klar zu rüsten auf die Wirklichkeit und die Kämpfe zu nehmen, wie sie kommen, vertrauend auf die Kraft der eigenen inneren Geschichte und Erlebnisse, Christum und sein Heil voll hinübernehmend in die Gleichzeitigkeit des heutigen innern Lebens."53 Ihren - in dieser Weise von Kaftan sicherlich nicht intendierten Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen im Jahre 1902, als 193 Pastoren der schleswig-holsteinischen Landeskirche am 26. Juli in einer Petition an den preußischen Kultusminister Konrad Studt (1838-1921) Beschwerde gegen Baumgartens fortgesetzte „agitatorische Polemik" einreichten und seine Absetzung vom akademischen Lehramt forderten. Studt jedoch - selber ein eher konservativ geprägter Mann - hegte nicht die Absicht, staatlicherseits in den Bereich theologischer Forschung und Lehre einzugreifen, und ging nicht auf die in der Petition vorgetragenen Forderungen ein. Darüber hinaus erhielt Baumgarten demonstrative Unterstützung von seiten der Kieler Professorenschaft, die ihn im November 1902 außer der Reihe zum Rektor der Universität für das Amtsjahr 1903/04 wählten.54 In seiner Rede bei Antritt des Rektorates im März 1903 handelte Baumgarten sodann - mit hintergründigen Bezug auf die Vorkommnisse in Schleswig-Holstein - von der Vorausset^ungslosigkeit der protestantischen Theologie, wobei er insbesondere die geschichtliche Unabgeschlossenheit christlicher Glaubensüberzeugungen betonte: „Wird das Christentum als das unendlich bewegliche, jeden neuen Kulturwert in sich aufnehmende Ganze erkannt, das nie fertig ist, weil es morgen schon mehr in sich begreift als heute, dann kann jeder den gottgegebenen Wuchs seines inneren Lebens mit hineinbringen in das Leben der Gemeinschaft und darin die Erhebung der subjektiven Werte zu ewigen Normen erleben."55
52 53 54
O. Baumgarten, O. Baumgarten, Vgl. H. v. Bassi, O. Baumgarten,
Kirchliche Chronik; in: MKP 2 (1902), S. 448. Kirchliche Chronik; in: MKP 1 (1901), S. 294. Otto Baumgarten, S. 69, 75; ders., Art. „Baumgarten", S. 42. Die Vorausset^ungslostgkeit der protestantischen Theologie, S. 16. 219
Rückblickend auf den „Fall Baumgarten" charakterisierte der damalige Kieler Marine-Oberpfarrer Christian Rogge (1867-1912), der 1911 zum Generalsuperintendenten der Rheinprovinz ernannt werden sollte, die Kontrahenten: „Auf der einen Seite stehen die starren konfessionellen Lutheraner, zumal Nordschleswigs, auf der andern der in reformierten Kreisen wurzelnde, süddeutsche, bewegliche D. Baumgarten. Er ist durch und durch Impressionist, jedem, auch dem leisesten Eindruck zugänglich, voller Aufmerksamkeit und positiven Interesses für jede neue Strömung im Volksleben, stets darauf bedacht, mit den 'ganz Modernen' in Fühlung zu bleiben. Jeden Hauch der öffentlichen Meinung aufzunehmen und auf sich wirken zu lassen, ist Baumgartens Lebensbedürfnis."56 Von konservativer Seite als angriffslustiger „moderner Evangelist" apostrophiert, der nun mit seiner emanzipatorischen Propaganda den Schulbetrieb erobern wolle, entfaltete Baumgarten gegen Kaftans Auslegung des lutherischen Katechismus sein eigenes, dezidiert modern-theologisches Programm der Religionsdidaktik in einer Vorlesung über den „Unterricht in der christlichen Religion", die er im Sommersemester 1902 hielt und die ein Jahr später unter dem Obertitel Neue Bahnen im Druck erschien.57 Von Heinrich Bassermann lebhaft als „Herold längst und allgemein gefühlter Bedürfnisse, Wünsche und Anschauungen"58 begrüßt, betont Baumgarten in diesem kritischen Reformentwurf nachdrücklich das Erfordernis wirklicher Gegenwartsorientierung und Lebensnähe, die er als Entfaltung des Prinzips evangelischer Freiheit interpretiert: „Wir modernen Leute sind Empiristen, leben nur in Erfahrungen."59 Kaftan dagegen fiel es schwer, in methodischer Hinsicht etwas wirklich „Neues" in Baumgartens religionspädagogischem Entwurf zu entdecken — umso mehr ging es ihm um die kritische Aufdeckung der anstössigen moderntheologischen Grundentscheidungen, durch welche Baumgarten seiner
Chr. Rogge, Predigtprobleme; in: Die Stuäerstube 2 (1904), S. 487. Vgl. dazu E. Bunke, Moderne Evangelisten; in: Die Reformation 2 (1903), S. 586ff.; H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 72f.; P. C. Bloth, Baumgartens Weg zu den 'Neuen Bahnen' als religionsdidaktischem Emanzipationsprogramm; in: W. Steck (ed.), Otto Baumgarten, S. 121-128. 58 H. Bassermann, Rez. „O. Baumgarten, Neue Bahnen"; in: ThLZ 28 (1903), Sp. 314; vgl. ders., „Neue Bahnen" im Religionsunterricht; in: PrM 7 (1903), S. 431: „Das sind mutige, kraftvolle Gedanken und Bestrebungen. Sie erinnern an die ersten Zeiten des Protestantenvereins. Und doch ists ein neuer, andrer Geist, der in ihnen lebt; und in diesem müssten sie aufgefasst und verwirklicht werden [...]." Außerdem E. Simons; in: DLZ 24 (1903), Sp. 1763-1766; F. Niebergall, Bausteine für die Katechetik; in: EvFr8 (1908), S. 141-148. 59 O. Baumgarten, Neue Bahnen, S. 37. 56
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Auffassung nach die Basis des gemeinsamen christlichen Bekenntnisses zu verlassen schien.60 Die an diese Auseinandersetzungen sich anschließenden Jahre sind sicherlich als die in theologischer Hinsicht „wichtigste Schaffensperiode" Baumgartens anzusehen:61 Den Neuen Bahnen folgten die Predigten aus der Gegenwart (1903) sowie die Predigt-Probleme (1904), welche die „Hauptfragen der heutigen Evangeliumsverkündigung" zu ihrem Gegenstand nahmen; ergänzt wurden sie durch die „Psalmpredigten" sowie die „Jesuspredigten" aus dem Jahre 1911.62 Die Stärke des für Baumgarten charakteristischen „homiletische [n] Empirismus" strich dabei Heinrich Bassermann in seiner kritischen Rezension heraus: „In ihm reagiert eine erleuchtete, durchaus moderne, aber warme und tiefe Frömmigkeit mit instinktiver Sicherheit gegen alles Verrostete und Verrottete, gegen alles Geschmacklose und Uberstiegene, vor allem gegen alles, was dem stark ausgeprägten Wirklichkeitssinn unsrer Tage widerstreitet."63 Darüber hinaus entstanden Vorträge bzw. Vorlesungen wie Über Kinder^tehung. Erlebtes und Gedachtes (1905), Carlyle und Goethe (Lebensfragen 13) und Gustav Frenssens Glaubensbekenntnis (beide 1906), Die persönlichen Erfordernisse des geistlichen Berufs (1910) sowie das Bändchen Die Abendmahlsnot. Ein Kapitel aus der deutschen Kirchengeschichte der Gegenwart (1911), das in der Reihe der Religionsgeschichtlichen Volksbücher erschien. Sein breites literarisches Interesse, das zugleich mit diesen Publikationen zum Ausdruck kommt und im übrigen weit in Baumgartens Jugendzeit zurückreicht, hat dabei durchaus einen programmatischen Stellenwert — gegenüber der vorherrschenden Tendenz zur Explikation des Religiösen in einer abgesonderten theologischen Sprachwelt stellt Baumgarten polemisch fest: „Aber noch immer hält es der Mustertheologe für Allotria, geschichtliche Biographien und Romane zu lesen; noch immer hält er es für seine wesentliche Selbsterziehungsaufgabe, dieser Welt der natürlichen Menschheit und ihren geistigen Genüssen entsagend, sich völlig in erbaulicher, predigender Atmosphäre einzuspinnen."64 60 Vgl. T. Kaftan, Neue Bahnen und Predigtprobleme; in: AELKZ 37 (1904), Sp. 622-668, 686-693, 707-711, bes. Sp. 667. 61 Vgl. H. v. Bassi, Art. „Baumgarten", S. 42f. 62 Vgl. O. Baumgarten, Altes und Neues aus dem Schat% des Psalters (Moderne Predigtbibliothek IX/1), Göttingen 1911; ders., Jesuspredigten, Tübingen 1911. Dazu A. Zillessen, Ein Prediger für die Gegenwart; in: Die Evangelische Gemeinde 3 (1911/12), S. 165-169, 185-187. 63 H. Bassermann, Rez. „O. Baumgarten, Predigt-Probleme"; in: ThLZ 29 (1904), Sp. 371, vgl. 372. 64 O. Baumgarten, Grundzüge einer psychologischen Seelsorge am sündigen Menschen; in: ZprTh 18 (1896), S. 17; vgl. ders., Meine Lebensgeschichte, S. 8, 18, 63; ders., Geistliches Verständnis Shakespeares bei Robertson; in: ChWb (1889), Sp. 2 5 29, 53-56; ders., Art. „Carlyle, Thomas"; in: RGG1 Bd. I, Sp. 1578-1586; ders., Art.
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Auch als Herausgeber des Monatsschrift für die kirchliche Praxis- ab 1907 Evangeäsche Freiheit - setzte sich Baumgarten nachhaltig für die Öffnung der Praktischen Theologie gegenüber den Bedingungen moderner Wirklichkeitserfahrung ein. In gleicher Richtung wirkte er als verantwortlicher Redakteur der Bereiche „Praktische Theologie" und „Religion der Gegenwart" bei der Erstellung des großen religionsgeschichtlichen Lexikons Die Religion in Geschichte und Gegenwart (1909-1913), für das er selber etwa 80, z. T. umfangreiche Artikel beisteuerte.65 Neben dieser ausgedehnten publizistischen Tätigkeit war Baumgarten zudem kirchenpolitisch sehr aktiv: Von Anbeginn — d. h. seit dem sogenannten Apostolikumsstreit 1892 - zum Kreis der Freunde der Christlichen Welt gehörend, hat er ihre offizielle Konstitution im Jahre 1904 nachhaltig unterstützt und im schleswig-holsteinischen Zweig dieser Vereinigung insbesondere durch das Abhalten modern-theologisch ausgerichteter Ferienkurse mitgearbeitet.66 Ebenso war Baumgarten 1909 bei der Gründung des schleswigholsteinischen Landesverbandes der Freunde der evangelischen Freiheit maßgeblich beteiligt, welcher einer wirkungsvolleren Vertretung liberaler d. h. freier und modern-theologisch ausgerichteter - kirchenpolitischer Interessen in den Gremien der Landeskirche dienen wollte.67 Baumgarten, der sich trotz seiner Bedenken gegen eine geschichtslose „Internationalisierung des Christentums"68 zur Mitarbeit auf dem 1910 in Berlin abgehaltenen 5. Weltkongreß für freies Christentum und religiösen Fortschritt entschloß und auch im Vorbereitungskomitee dieser Veranstaltung mitgewirkt hat, wurde bald erneut in die Lehrauseinandersetzungen zwischen freier Christlichkeit und rechtgläubiger Bekenntnisgebundenheit im heimischen Deutschland verwickelt. Nachdem der freigeistige Kölner Pfarrer Carl Jatho bereits über Jahre Zielpunkt der Anwürfe aus dem konfessionell-konservativen Lager gewesen war, kam es im Juni 1911 zu einem förmlichen Lehrbeanstandungsverfahren gegen den mittlererweile Sechzigjährigen, das nach dem erst kurz zuvor verabschiedeten sogenannten „Irrlehregesetz" von dem Spruchkollegium des Preußischen Oberkirchenrates in Berlin durchgeführt wurde.69 Für die mündlichen Verhandlungen über die Feststellung und Beurteilung etwaiger Lehrabweichungen hatte sich Jatho als - rechtmäßig zustehende - Beistände
„Dickens, Charles"; in: RGG1 Bd. II, Sp. 59-63; ders., Art. „Robertson, Frederick William"; in: RGG1 Bd. IV, Sp. 2352-2355 u. a. m. 65 Zur Übersicht vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 655-660. 66 Vgl. a. a. O., S. 84. 67 Vgl. a. a. O., S. 86f. 68 O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 169. 69 Vgl. dazu W. Härle/H. Leipold (eds.), Lehrfreiheit und Lehrbeanstandung Bd. 1: Theohgische Texte, Gütersloh 1985, S. 115ff.; H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 90ff.; M. Jacobs, Art. „Jatho, Carl"; in: TRE Bd. 16, Berlin/New York 1987, S. 545-548. 222
Gottfried Traub und Otto Baumgarten erbeten, welche aber gleichwohl seine schließliche Amtsenthebung nicht zu verhindern vermochten - im Gegenteil: In einem anschließenden Diziplinarverfahren gegen seinen Verteidiger Traub wurde auch dieser vom Preußischen Evangelischen Oberkirchenrat im Sommer 1912 dienstentlassen.70 Beide Fälle lösten einen Sturm öffentlicher Entrüstung aus, wobei Baumgarten - aufgrund seiner Rolle als Verteidiger im Jatho-Prozeß - ebenfalls zum Ziel der Anfeindungen von konservativ-orthodoxer Seite wurde, welche in der Forderung gipfelten, eine Art „Strafprofessur" als zweiten praktisch-theologischen Lehrstuhl an der Kieler Fakultät einzurichten.71 Eine große Anerkennung bedeutete dagegen für Baumgarten seine Wahl zum Vorsitzenden des Evangelisch-sozialen Kongresses im Dezember 1911. Hier wurde er Nachfolger Adolf Hamacks, der dieses Amt nach fast zehnjähriger Tätigkeit aus Gründen der Arbeitsüberlastung niedergelegt hatte; bis zum Ausbruch des Ersten Welkrieges sollten immerhin noch drei wichtige Kongreßtagungen — in Essen, in Hamburg sowie in Nürnberg — unter Baumgartens Leitung stattfinden.72 Baumgarten, der bei Kriegsbeginn nicht von einem irrationalen Enthusiasmus verschont geblieben war und etwa in seiner Rede über „Lebendige Religion" geradezu von einer Mobilmachung seiner moderntheologischen Überzeugungen im Dienste des „großen Alliierten im Himmel"73 zeugt, begann doch gleichwohl den Fortgang sowie die Légitimât des Krieges zusehends kritisch zu beurteilen. Ohnehin der englischen Nation und Kultur familiär wie freundschaftlich verbunden, zudem ein Teilnehmer der Friedensfahrt deutscher Kirchenvertreter nach England im Jahre 1908,74 bemühte Baumgarten sich nachhaltig um eine differenzierte Sicht und eigenständige theologische Würdigung der Kriegsereignisse, wobei er sich insbesondere gegen die annexionistischen Ziele des Alldeutschen Verbandes wandte. In pastoraltheologischer Perspektive widmete er sich der problematischen Aufgabe des „Tröstens in Kriegsnot", ebenso wie er bereits 1915 eigene Versuche zur religiös-sittli-
70 Vgl. O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: EvFr 11 (1911), S. 240-246, 273-284; 12 (1912), S. 356-371; ders., Der Jatho Prozeß und die Entstaatlichung der Kirche; in: EvFr 11 (1911), S. 299-309, 389-398; ders., Meine Anklage gegen den preußischen Evangelischen Oberkirchenrat, Tübingen 1913. 71 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. lOlff.; ders., Art. „Baumgarten", S. 43. 72 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 11 lff.; ders., Art. „Baumgarten", S. 43. 73 O. Baumgarten, Lebendige Reägion (A. Ripke [ed.], Zehn deutsche Reden Nr. 6), Leipzig 1915, S. 30. 74 Vgl. O. Baumgarten, Englische Reiseeindrücke; in: EvFr 8 (1908), S. 293-298; ders., Meine Lebensgeschichte, S. 240-242; W. Bornemann, Die Friedensfahrt deutscher Kirchenmänner nach England, Gießen 1908; H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 117-120, 446f.
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chen Analyse von Feldbriefen publizierte.75 Daneben hielt er eine Reihe bedeutsamer Vorlesungen, welche als gedruckte Schriften weit über ihren ursprünglichen Hörerkreis hinaus zu wirken vermochten: Politik und Moral (1915/16), Er^ehungsfragen des neuen Deutschland (1916/17) sowie Christlicher Glaube und Weltkrieg (1917) reflektieren in konzentrierter Gestalt die fortschreitenden Herausforderungen des sozialen und politischen Zeitgeschehens, welches Baumgarten einer kritisch-analytischen Klärung — im Sinne einer praktisch-theologischen Fundierung der anstehenden gesellschaftlichen Neuorientierungen - zufuhren wollte. So ist es nur konsequent, wenn Baumgarten mit dem herannahenden Kriegsende zusehends begann, die radikal neuen „Wirklichkeiten" in ihrem geschichtlichen Verpflichtungscharakter zu bejahen und offensiv an der gesellschaftlichen Umgestaltung mitzuarbeiten. Seine engagierte Aufnahmefähigkeit und Beweglichkeit wurde in dieser kritischen Umbruchsphase noch einmal besonders deutlich. So proklamierte er 1918 in einer Predigt, die die „Schnellzugsgeschwindigkeit" der Revolutionszeit atmet, in der für ihn charakteristischen Weise: „Wer nicht mitläuft, wird überrannt von der mächtigen Welle. Behagen, Besinnung, Vertiefung, Stille - unmöglich! Nur immer vorwärts! zugreifen! erraffen! umlernen! neue Ziele, neue Wege fassen!" 76 Nach anfänglicher Skepsis bejahte Baumgarten den Prozeß der Demokratisierung, wurde selbst Mitglied in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei und kämpfte engagiert für den Erhalt und Ausbau der neuen politischen Ordnung.77 Exemplarische Zeugnisse seiner aufrechten Loyalität gegenüber der jungen Republik und ihrer Verfassung waren seine Unterstützung des Zentrumspolitikers Wilhelm Marx bei der Reichspräsidentenwahl 1925 sowie sein öffentliches Eintreten gegen die deutlich zunehmenden antisemitischen Tendenzen, denen er bereits 1926 mit seiner kleinen Schrift Kreu^ und Hakenkreuz eine profunde theologische Analyse entgegenstellte. Mit dem Wintersemester 1925/26 wurde Baumgarten emeritiert. Sein Nachfolger wurde — für ihn persönlich bitter enttäuschend - der konservative und volksmissionarisch geprägte Heinrich Rendtorff (1888—1960), Vgl. O. Baumgarten, Trösten in Kriegsnot; in: EvFr 14 (1914), S. 340-350; ders., Seelsorgerliche Probleme im Krieg; in: a. a. O., S. 464-467; 15 (1915), S. 19-22; ders., Die Religion in Feldbriefen; in: EvFr 15 (1915), S. 135-141, 214-219. Insgesamt M. Schian, Die Arbeit der evangelischen Kirche im Felde (Die deutsche evangelische Kirche im Weltkriege Bd. 1), Berlin 1921; W. Pressel, Die Kriegspnägt 1914-1918, Göttingen 1967, bes. S. 194ff.; H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 120ff.; G. Brakelmann, Krieg und Gewissen. Otto Baumgarten als Poütiker und Theologe im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1991. „Krieg und Gewissen" benannte auch Karl Heim seinen Vortrag auf der Allgemeinen Deutschen Christlichen Studentenkonferenz in Wernigerode 1916 — vgl. ders., Glaube und heben, Berlin 1926, S. 234—265. 76 O. Baumgarten, Werfet das Vertrauen nicht weg!; in: EvFr 18 (1918), S. 357f. 77 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 154ff. 75
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der wie sein Vater Franz Rendtorff (1860-1837) - zeitweilig ein Fakultätskollege Baumgartens - zuvor Direktor des Predigerseminars in Preetz gewesen war. „Bitte mir nach 30jähriger Wirksamkeit den einzig von mir abgelehnten Nachfolger zu ersparen. Baumgarten" hatte dieser noch knapp — jedoch erfolglos — an den zuständigen Minister in Berlin telegraphiert.78 Wenn auch Rendtorff bereits 1930 die Kieler Fakultät wieder verlassen sollte, um das Amt des Landesbischofs in Mecklenburg-Schwerin zu übernehmen - ein Amt, von dem er 1933 aus politischen Gründen zurücktreten mußte - , so war doch gleichwohl seine Berufung auf diesen praktisch-theologischen Lehrstuhl ein deutlicher Ausdruck dafür, wie wenig sensibel mit der Frage der Fortführung des modern-protestantischen Lebenswerkes Otto Baumgartens umgegangen wurde.79 Literarisch widmete sich Baumgarten in den folgenden Jahren insbesondere der Abfassung seiner Lebensgeschichte, die gerade aus den vielen negativen Erfahrungen heraus sicherlich auch als Bemühen um öffentliche Rekonstruktion der eigenen personalen und positionellen Integrität zu verstehen ist. Im Bewußtsein des Unabgegoltenen und vielleicht auch Tragischen in der Biographie Baumgartens resümiert Erich Foerster in einem interessanten Vergleich: „Baumgarten hat daher mit seiner Eigenart in Deutschland bittere Erfahrungen gemacht; in den Vereinigten Staaten wäre ein Mann seines Schlages gewiß mit 40 Jahren Präsident eines großen Kirchenkörpers gewesen."80 Als letztes größeres Werk veröffentlichte Baumgarten 1931 seine Protestantische Seelsorge. Auch diese Monographie - darin der Lebensgeschichte nicht unähnlich - bietet eher eine umgreifende Zusammenstellung wesentlicher thematischer Aspekte und poimenischer Perspektiven aus Baumgartens Lebensarbeit, als daß sie seinen seelsorgetheoretischen .Ansatz noch einmal neu systematisch entfalten würde. Vielmehr kompiliert diese Veröffentlichung über weite Strecken lediglich Einzelveröffentlichungen sowie Vorlesungsmaterial aus der Vorkriegszeit und konnte schon von daher den Eindruck erwecken, „zwanzig Jahre zu spät" erschienen zu sein — zumal eben über der inhaltlichen Tendenz dieser Seelsorgelehre doch „der Hauch des heute so verfehmten Kulturprotestantismus" zu liegen schien.81 Gleichwohl war Baumgarten mit seinem Engagement für einen modernen, der evangelischen Freiheit verpflichteten Protestantismus - trotz aller Anfeindungen, wie er sie in den letzten Lebensjahren insbesondere Zitiert nach H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 229f. Vgl. auch a. a. O., S. 226ff. 80 E. Foerster, Selbstbiographien von Theologen; in: TbR N F 2 (1930), S. 194; vgl. G. Sodeur, Otto Baumgarten; in: Christentum und Wirklichkeit 20 (1929), S. 290. 81 F. Niebergall, Rez. „O. Baumgarten, Protestantische Seelsorge"; in: ThLZ 57 (1932), Sp. 216; vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 338ff. 78
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von nationalsozialistischer Seite erleiden mußte - nie wirklich in Isolation geraten, sondern hat zeitlebens auf Kongressen und Versammlungen ernsthafte Gesinnungsgenossen gefunden; selbst sein Tod am Abend des 21. März 1934 ereilte ihn im bereits sich füllenden Vortragssaal, wo er über den „freien Protestantismus in der Gegenwart" hätte sprechen sollen. 82 3.2. „Herders Bruch mit Goethe " Zu Recht hat Baumgarten immer wieder darauf hingewiesen, daß seine wissenschaftliche Arbeit von einem wesentlich praktischen Interesse geleitet ist: Fast alle seine Schriften reagieren auf aktuelle praktisch-theologische Herausforderungen oder (kirchen-)politische Konfigurationen und sind häufig in polemischer Absicht verfaßt, wie überhaupt akademisches Theoretisieren oder systematische Geschlossenheit ihm stets eher als Verhinderung denn als Ermöglichung konkreter Wirklichkeitsbewältigung erschienen. Dabei lassen sich die zentralen, vielfach nur impliziten Grundlinien Baumgartens theologischer Position und praktisch-theologischer Urteilsbildung besonders deutlich an seinen frühen Publikationen aufzeigen:83 Vor allem in seiner ausgiebigen Beschäftigung mit Johann Gottfried Herder (1744—1803) ergänzten sich biographische Prägungen und wissenschaftliche Interessen zu einem persönlichen theologischen Thema, das den grundlegenden „Gegensatz von Religion und Kultur"84 zu seinem Gegenstand nahm. In diesem Sinne formulierte Baumgarten bereits in seinen Lizentiatenthesen programmatisch: „Eine wirklich praktische Theologie muß zu voller Klarheit erziehen über die Gegensätze: Humanität und Christentum, Gymnasium und Volkskirche, Bibel und Klassiker."85 Als junger Mitarbeiter der Christlichen Welt galt seine erste Publikation folgerichtig der theologischen Aufarbeitung von „Herders Bruch mit Goethe", den er als „eine Abrechnung zwischen klassisch-ästhetischer und christlich-moralistischer Weltanschauung" interpretierte:86 Nicht das Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 256f. Um Aufweis solcher inneren Geschlossenheit bemüht sich Baumgarten selber in seiner Lebensgeschichte, bes. S. 16-19; eine Rekonstruktion Baumgartens systematisch-theologischer Grundentscheidungen im Raster der dogmatischen „loci" bietet H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 258ff. 84 O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 9. 85 O. Baumgarten, Herder's Anlage und Bildungsgang %um Prediger, S. 104. 86 O. Baumgarten, Herders Bruch mit Goethe; in: ChW 1 (1887), S. 353f., 363365, 373-375, 383-385; dazu vgl. B. Suphan, Goethe und Herder; in: Deutsche Rundschau Bd. 52 (1887), S. 63-76; K. Seil, Die Reügion unserer Klassiker, Tübingen/Leipzig 1904, bes. S. 75ff.; H. Stephan, Nachlese zu den Früchten des Herdergedenktags; in: 82
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Kongeniale in der Freundschaft dieser beiden deutschen Geistesgrößen, sondern gerade die tiefere Problematik des sonst eher marginalisierten Konfliktes %wischen ihnen sollte hier thematisiert werden. Dabei war Baumgartens historische und literarische Rekonstruktion dieser personellen Konfiguration von Anbeginn überlagert durch das Interesse der eigenen theologischen Klärung und Selbstverortung: Gegenüber den herrschenden liberaltheologischen Perspektiven galt es ihm, eine eigene kulturprotestantische Alternative zu entwickeln, die sowohl das Unverrechenbare des christlichen Glaubens als auch die Eigendynamik gegenwärtiger Wirklichkeitserfahrung zu ihrem vollen Recht kommen ließe. Insofern sollte der Bruch zwischen Herder und Goethe nicht lediglich als historischer Sachverhalt verstanden werden, sondern vielmehr als Folie einer prinzipiellen theologischen Selbstverständigung dienen. Für Baumgarten lagen dabei die größeren Sympathien eindeutig auf Seiten Herders: Mochte dessen „Unbethulichkeit"87, wie Goethe seine moralische Engkreisigkeit zuweilen genannt hatte, an menschlicher Größe und persönlicher Durchbildung auch hinter der künstlerischen Offenheit und Formvollendetheit eines Goethe deutlich zurückgeblieben sein — in bezug auf die christlich-pädagogische Verpflichtung zu praktischer Weltgestaltung komme Herder jedoch das weit höhere Recht zu: „Nicht sich zufrieden abschließen in einem geschlossenen Kreise, den man ganz und mit schönsten Schein erfüllt, sondern ewig das Unfertige irdischen Wesens empfindend, sich rastlos strecken nach dem, was vorn ist!"88 Unter dieser Maxime trifft Herders kritische Bildungspraxis mit der modernen Fortschrittsorientierung unmittelbar zusammen, so daß das zeitgenössische sozialreformerische Engagement in jenem sein kongeniales Vorbild zu erkennen vermochte: „Ist nicht überhaupt die Abwendung von der unästhetischen Wirklichkeit, diese egoistische Abschließung in einer jenseits der Lebenskämpfe gezimmerten Idealwelt, dieser Götzendienst vor dem reinen Bilde der verklärten eignen Subjektivität zu unsrer Zeit einer realistischen, Wahrheit und Wirklichheit in Eins setzenden, darum aber auch zur Wirkung auf die Wirklichkeit befähigenden Auffassung gewichen?"89 Herders sittlich-religiös motivierte Kritik — „die strebende Unruhe, die das Erreichte immer wieder auflösende Unzufriedenheit"90 - löst in Baumgartens Perspektive eine wesentliche Dimension biblisch-reformatorischen Christentums ein, die gegen gefällige ChW 19 (1905), Sp. 355; M. Christlieb, Art. „Goethe (1749-1832)"; in: RGG1 Bd. II, Sp. 1494-1503. 87 R. Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken Bd. 2, S. 16; O. Baumgarten, Herder's Anlage und Bildungsgang %um Prediger, S. 51. 88 O. Baumgarten, Herders Bruch mit Goethe, S. 374. 89 Ebd. (Hervorhebung vom Vf.). 90 Ebd. 227
Weltbeheimatung und ästhetische Weltförmigkeit das Defizitäre und Zweideutige aller irdischen Wirklichkeit sowie das Recht der christlichen Rede von der immer noch ausstehenden Vollendung und Befriedung der Welt neu in Geltung setzt. „Das Christentum will eben nicht Stimmung, Melodie, Glockenton, vage Empfindung allgemeiner Abhängigkeit und Symbolisierung innerer Vorgänge sein; es will Grundton, fester, durchgehender Grundakkord sein, eine treibende Kraft, die bis ins Einzelnste den Willen bestimmt, eine Wahrheit und Wirklichkeit, die nicht bloß unser Sonntagskleid ausmacht, sondern Werktagskleid und Handwerkszeug für das gemeine, persönliche Leben."91 Wenngleich Baumgarten also herausstreicht, wie sehr Herders Bruch mit Goethe das Recht und die Pflicht christlicher Weltverantwortung auf seiner Seite hatte, so macht er andererseits doch zugleich deutlich, daß Herder gerade in dieser religiös-sittlichen Ausrichtung seines Schaffens eine unfertige, tragische Figur geblieben ist: Sein Scheitern lag darin, „daß er nicht mit ganzer Wendung zum Christentum sich kehrte, um mit Freudigkeit dafür den Vorwurf der Engherzigkeit und Beschränktheit auf sich zu nehmen, sondern verletzt und entmutigt in der Mitte stehen blieb, moralisirend und räsonnirend auch die edelsten Blüten jenes Schönheitsideals bekrittelte, von dem er sich doch nur halb frei machen konnte." 92 Herders „symbolische Auslegung der christlichen Heilslehre" setze vielmehr an die Stelle götdicher Erlösung und Heiligung unevangelisch die „Selbsterlösung des Menschen durch eigne gute That": „Eigentlich ist ihm jedes Menschenwort, das ihn stärkt und kräftigt, Gottes Wort; das Christentum keineswegs die einzige Offenbarung, sondern ein Bildungsmotiv neben so vielen anderen [...]. So wird eben das Wesendiche verkannt: daß es sich bei der Religion, bei der Erlösung zumal nicht um zeitliche Bildung, sondern um die Heiligung handelt, die ein ewiges Leben, Seligkeit in sich trägt." 93 Insofern können Herder sowie die Stilisierung seiner Entfremdung zu Goethe Baumgarten selber zunächst in doppelter Hinsicht zu einer positionellen Selbstverortung dienen: Mit Herder hält er an der Unverrechenbarkeit von klassischer und christlicher Weltanschauung fest: Schönheit und Sittlichkeit dürfen nicht unkritisch zugunsten der ersteren harmonisiert werden, die ästhetische darf die moralische Humanität nicht überlaA. a. O., S. 383 (Hervorhebung vom Vf.). A. a. O., S. 385. So analysiert Baumgarten auch Herders ästhetische Unempfänglichkeit sowie seine „Moralitätssucht" vor dem Hintergrund der gemeinsamen Italien-Reise kritisch: „Wie um sich von dem unbehaglichen Gefühl dieser seiner Unzulänglichkeit zu retten, warf er sich mit doppelter Stärke auf die in ihm so heftig entwickelte Empfindung des Sittlichen." (a. a. O., S. 364; vgl. S. 373). 93 A. a. O., S. 383f. 91
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gern.94 Zur politischen Aktualisierung veranschaulicht er: „Es giebt wohl kaum eine größere Täuschung und befremdendere Zumutung, als die, den mit ihrem Lose unzufriedenen Arbeitern, den thatsächlich schwergeprüften kleinen Leuten oder den an den Widersprüchen der Gegenwart sich antreibenden Pessimisten Goethische Grundsätze vom 'freudigen und thätigen Erfassen der Gegenwart' entgegenzuhalten."95 Über Herder hinaus will Baumgarten jedoch den Bruch zwischen „Ideal und Wirklichkeit" im Geiste des biblisch-reformatorischen Christentums radikalisieren und die „Gerechtigkeit, die aus dem Glauben geht", als eingreifende, überirdische und irdische Macht neu in Geltung gesetzt wissen: Die Unverrechenbarkeit christlicher Weltdistanz soll nicht im Gefälle einer wohlmeinenden Anbequemung an das 'Edle und Gute' unter der Hand wieder verspielt werden.96 Neben diesem frühen Aufsatz in der Christlichen Welt sind vor allem seine bereits genannte Dissertation über Herder's Anlage und Bildungsgang %um Prediger sowie seine unveröffentlicht gebliebene Habilitationsschrift wichtige Ergebnisse seiner Herder-Forschungen; dazu gehören ein umfangreicher, im Grunde monographischer Lexikonartikel zu Herder sowie eine im Nachgang zum 100. Todestag Herders gehaltene Vortragsreihe.97 In diesen Arbeiten knüpft Baumgarten jeweils — vielfach sogar wörtlich — an seine früheren Publikationen und deren hier aufgezeigten Grundlinien an, wobei zugleich — im Anschluß an I. A. Dorner — das „Pathologische"98 in der Biographie Herders sowie dessen theologische Defizite von Baumgarten noch deutlicher herausgestrichen werden: „Die Tragik dieses Lebens war, daß es nie völlig Bankerott erklärte, um völlig vom Kapital der Gnade zu leben."99 Insofern kann Herder für Baumgarten nur als negatives Beispiel dienen, wenn es darum geht, unter den Bedingungen moderner Reizsamkeit und lebensweltlicher Pluralisierung die Notwendigkeit einer inneren religiös-sittlichen Neufundierung aufzuzeigen: „Wer die ganze Schwierigkeit, welche die heutige vielseitige ästhetische und sentimentale Bildung der Erziehung zu konzentrierter, zentraler, naiver Reue entgegenstellt, zur Stärkung der Geduld mit dem Vgl. a. a. O., S. 374. O. Baumgarten, Nochmals christliche und klassische Weltanschauung; in: a. a. O., S. 504. Dazu O. H., Christlich-moralistische und klassisch-ästhetische Weltanschauung; in: a. a. O., S. 502f. 96 Vgl. O. Baumgarten, Herders Bruch mit Goethe, S. 373. 97 Vgl. O. Baumgarten, Herders Lebenswerk und die religóse Frage der Gegenwart, Tübingen 1905; ders., Herder; in: CbW 22 (1908), Sp. 204-206, 208-223; ders., Art. „Herder, Joh. Gottfried"; in: EHP Bd. III, Langensalza 1897, S. 601-675 - dazu ders., Meine Lebensgeschichte, S. 89, wonach er Herder hiermit ein leider in diesem Lexikon „vergrabenes Denkmal" gesetzt habe. 98 Vgl. O. Baumgarten, Herder's Anlage und Bildungsgang %um Prediger, S. 51. 99 A. a. O., S. 33. 94
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einzelnen ermessen will, der verfolge den Lebensgang Herders, der es bei aller Tiefe seiner Empfindung, bei aller Regsamkeit seiner religiösen Reaktionen doch zu keiner wirklichen Busse im evangelischen Sinne brachte."100 Vor allem in Herders Unterschätzung des „radikal Bösen" (Kant) sowie in seinem ungebrochenen Glauben an die Erziehbarkeit des Menschen liegen für Baumgarten unzulässige Verkürzungen der biblischen Rede von Sünde und Gnade, die Herder letztlich - trotz seiner Wertschätzung etwa des „poetischen, tiefsinnigen Reichtums" der Bibel hinter dem Schriftverständnis Luthers zurückbleiben ließen: „Wer sagen kann, das Christentum sei so alt als die Schöpfung, so verbreitet wie die Menschen, der kann die Einzigartigkeit und Absolutheit des geschichtlichen Christentums nicht wohl behaupten."101 Die Fragwürdigkeit einer solchen romantisierenden Einzeichnung des Christlichen ins Allgemeinmenschliche liegt für Baumgarten nicht allein in der damit verbundenen Nivellierung des Christentums, sondern vielmehr auch in Herders einseitiger Ausrichtung am Ideal mündiger Christlichkeit, in deren Gefolge der überlieferte Gemündeglaube abgewertet und die individuellen religiösen Bildungsprv^esse praktisch-theologisch allzusehr überfrachtet werden. Kritisch streicht Baumgarten an Herders Konzeption heraus: „Er geht von der [sie] gewiß nicht bloß dem Missionsbetrieb der Pietisten, sondern auch dem katechetischen Betrieb der Volkskirche verhängnisvollen Irrtum aus, daß man lediglich durch freie, selbstthätige Aneignung dessen, was auf eigenem Seelenboden keimt, in geschichtlichen Erscheinungen aber in voller Reife entgegentritt, christlich werden könne. Der Weg über Autoritäts- und Gemeindeglauben zu eigener, aber mehr als subjektiver, Glaubensgewißheit war ihm verborgen."102 Dagegen müssen für Baumgarten das lutherische extra nos der Gerechtigkeit aus dem Glauben sowie die innere Autorität des tradierten Glaubensbekenntnisses ihre sachliche Priorität gegenüber den Koordinaten eines bloß subjektiven Aneignungshorizonts behalten; entsprechend sieht er sich genötigt, eine „realistische Weltsicht" gegenüber einer ästhetisch-idealistischen Überschätzung der faktischen sozialkulturellen Verhältnisse anzumahnen: „Es fehlt Herder eine tiefe Erfahrung von den Uebeln in der Welt, von der Bedrängung unseres persönlichen Wertes durch den Naturmechanismus, der uns nicht bloß fördert und anschauend beglückt, sondern auch in den Kampf ums Dasein verstrickt, wo nicht der Bessere, sondern der Stärkere siegt. Sein Mitgefühl mit den Leiden der Schwerarbeitenden hatte sich noch nicht zum sozialen Solidaritätsgefühl entwickelt, keine Empfindung für stellvertretendes Leiden 1 0 0 O. Baumgarten, Grundzüge einer psychologischen Seelsorge am sündigen Menschen, S. 21. 101 Vgl o . Baumgarten, Herden Lebenswerk und die religiöse Frage der Gegenwart, S. 18, 99. 1 0 2 O. Baumgarten, Art. „Herder, Joh. Gottfried", S. 650.
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und tragische Schuld erweckt."103 Der kritische Vorbehalt der christlichen Weltauffassung bricht gleichermaßen die stilisierte Harmlosigkeit einer urtümlichen Naö/rschönheit wie die vermeintliche Ungebrochenheit der geschichtlichen /G/Ä«rentwicklung auf; eine lineare Fortschreibung der Schöpfung - sei sie pädagogisch oder ästhetisch motiviert - zu ihrer Versöhnung mit sich selbst ist folglich unmöglich. Der Einspruch der biblischen Botschaft hält demgegenüber die faktischen Risse und Brüche im Weltlauf offen - nicht um sie festzuschreiben, wohl aber, um - im Wissen um die Vorläufigkeit aller seelsorgerlich-pädagogischen Anstrengungen - auf ihre wahrhafte Heilung und Befriedung hinzuarbeiten. Aus diesem Grund sieht sich Baumgarten zur Skepsis gegenüber Herders schwärmerischer Formulierung der Einheit der Menschheit genötigt: „'wir arbeiten und dulden, säen und ernten für einander.' Seltsam, daß ihm dies Gesetz nicht zu schaffen macht! Wie fern liegt da der soziale, gar sozialistische Gedanke der tragischen Verflochtenheit des Einzelnen ins wirtschaftliche Gesamtleben der Welt."104 Indem die christliche Religion fundamental auf eine Perspektive verweist, die im göttlichen Außerhalb der Welt ihre Verankerung hat, zielt sie - so Baumgarten im Anschluß an Alois Emanuel Biedermann und Albrecht Ritsehl - auf eine „Welt- und Selbstbeurteilung unter der Idee Gotr tes". 105 Als „Wechselbeziehung des absoluten und endlichen Geistes" setzt sie wesentlich „ein Offenbarungsmoment, eine als vis-ä vis empfundene objective Realität" voraus — „in dieser Erneuerung des evangelischen Grundprinzips besteht der Ertrag der christlich-theologischen Arbeit des Jahrhunderts seit H.[erder]"106. Doch neben seinem entschiedenen Rückgriff auf eine biblisch-reformatorische Gegenüberstellung von Gott und Welt sowie seiner Betonung der darin implizierten Dichotomie von Religion und Kultur akzentuiert Baumgarten auf einer zweiten thematischen Ebene — ebenfalls in Anlehnung an Herder - in der Folge zunehmend auch die Aufgabe einer praktisch-hermeneutischen Vermittlung von Religion und Kultur, welche den Zielpunkt seines eigenen kulturprotestantischen Religionsverständnisses ausmacht. Wie einerseits die differenzlose Aussöhnung des Christentums mit einem sich selbst genügenden Asthetizismus unmöglich bleibt, so gilt es umgekehrt gleichwohl, die Verkündigung der chrisdichen Botschaft nachhaltig vor „unorganischer Knechtung unter die Normen einer vergangenen Epoche" zu bewahren: „Es kann sich nicht darum handeln, das Wort vom Kreuz, das der Welt ein Aergernis, eine Thorheit bleiben muß, seiner Paradoxie zu entkleiden, dem natürlichen Wesen die Wiedergeburt zu ersparen, der Selbstgenügsamkeit des gedachten und freigeschaffenen Ideals zu weichen - wohl 103 104 105
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O. Baumgarten, Herder.r Lebenswerk und die religiöse Frage der Gegenwart, S. 94f. O. Baumgarten, Art. „Herder, Joh. Gottfried", S. 638. O. Baumgarten, Herder's Anlage und Bildungsgang %um Prediger, S. 29.
A.a. Q.,S. 37.
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aber, in der Fassung und Form der Verkündigung Alles zu vermeiden, was der klassischen Bildung von vorn herein die gemeinsame Luft zum Atmen, den Boden der Verständigung entzieht."107 Unter dem Vorbehalt der notwendigen biblisch-reformatorischen Vertiefung macht Baumgarten denn auch immer wieder deutlich, wie sehr sich bei Herder bereits wegweisende Einsichten für die gegenwärtige Praxis formuliert finden, die ihre innovative Valenz gegenüber dem herrschenden Betrieb in Pädagogik und Praktischer Theologie noch längst nicht verloren haben: Einfühlung in das Inkommensurable jeder menschlichen Persönlichkeit; psychologische Analyse auch der elementarsten, alltäglichsten Erscheinungen; Beobachtung, praktische Übung und pädagogische Freilegung der seelischen Bilderkraft statt toter Begriffe und rationalistischer Kahlheit.108 Die methodischen Leitlinien solcher an Herder orientierten Bildungsarbeit fallen dabei weithin zusammen mit den pädagogischen Eigenschaften und Kompetenzen, die Baumgarten zufolge - auch für Herder als Person charakteristisch waren: „Feind aller Abstraction und bloßen Demonstration, völlig gleichgültig gegen ein von obersten Begriffen deducirtes, alle Kategorien des Denkens umfassendes System", bedurfte dieser stets der prägenden Eindrücke aus der Außenwelt sowie „der lebendigen concreten Anschauungen; abgezogene Begriffe, moralische Kategorien, zwei drei Kriterien bedeutete ihm nichts."109 „Sein Maßstab ist dem entsprechend ein relativer, nicht von außen herangebrachter, sondern aus der inneren Gesetzmäßigkeit der betreffenden Entwicklungsgröße entnommen; das Befriedigende für ihn ist nicht, was harmonisch, abgeschlossen, abgerundet sich darstellt, sondern was lebendig gärt, vorwärts strebt, über sich hinaustreibt: nicht der Kreis, sondern die Hyper bei."110 Herders differenzierte Auseinandersetzung mit allem Einzelnen und „Idiotistischen"111 in seiner je individuellen Eigenart sowie sein gleichsam poetisches Zusammenschauen scheinbar disparater Vielfältigkeit war innerlich geeint durch seine „weitstrahlende, unendlich aufnahmsfähige Persönlichkeit, die ihre eigene Gesetzmäßigkeit und Freiheit" in alle von ihm untersuchten Phänomene hineingetragen hat: „seine geistvolle, innerlich concentrierte Natur unterliegt nicht der Versuchung zu lebloser Vereinzelung; seine phantasiereiche, sinnlich-lebendige Natur kennt keine A. a. O., S. 100; vgl. S. 98. 108 Vgl a . x o., S. 5,10; ders., Herder's Stellung zum Rationalismus, S. 655. 1 0 9 O. Baumgarten, Herder's Anlage und Bildungsgang %um Prediger, S. 10; ders., Herder's Stellung zum Rationalismus, S. 655. 1 1 0 O. Baumgarten, Art. „Herder, Joh. Gottfried", S. 608. 1 1 1 O. Baumgarten, Herder's Anlage und Bildungsgang fum Prediger, S. 15. 107
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Gefahr unbestimmter, sachenloser, abstracter Allgemeinheiten, greift impulsiv hinein in's concret Besondere als selbständiges Glied des ganzen Leibes."112 Ihren eigentlichen Zielpunkt fand Herders literarische Arbeit folglich in der praktischen Abzweckung auf einen konkreten Handlungsvollzug: „Sein Denken läuft stets aus in ein Fordern, seine Resultate werden immer praktische Reformen. So wenig er die Thatsachen vergewaltigen will durch praktische Rücksichten, so unbedingt ist es ihm Bedürfnis, sie zu verwerten zur Einwirkung auf die Entwickelung der Menschheit." 113 Originäres geschichtliches Interesse verband sich bei ihm mit einer unvoreingenommenen Wertschätzung der Gegenwart, die Würdigung aller sprachlichen und nationalen Eigentümlichkeiten mit dem Ausblick auf die volle Ausbildung einer in sich vielstimmigen Menschheit. So würdigt Baumgarten an Herder vor allem dessen „Abwendung von abstrakter, schablonenhafter, aus der Theologie deducierender Betrachtungsweise" sowie „die psychologische, anthropocentrische, concrete Richtung seiner Weltanschauung", durch welche Herder „die Theologie aus den engen Schulräumen dogmatischer oder vernunftgemäßer Lehre in's Freie des wirksamen geschichtlichen Lebens führte. Er war eben Theologe, weil er Pädagoge und Psychologe war, Psychologe mit praktischen Trieben, Pädagoge auf psychologisch-empirischer Basis." 114 Wenn auch Herders Werk in vielerlei Hinsicht etwas „Rhapsodisches" und Unfertiges haben mochte und sich weitgehend der Abfassung aktuell veranlaßter Gelegenheitsschriften verdankte, so fehlte ihm doch Baumgarten zufolge - am Ende keineswegs die nötige innere Geschlossenheit: „Daß er sein Ideal nie in ruhiger Entwickelung vortragen konnte, stets des Sprungbrettes einer aufgeregten Polemik bedurfte, scheint mir nicht ohne Weiteres dasselbe zu sein wie der Vorwurf, daß die Einheit des Grundgefuhls und der Stimmung sich nicht in systematische Gedanken umsetzt."115 In Anbetracht der facettenreichen und vielfach polemischen literarischen Produktion, wie sie für Baumgarten selber kennzeichnend werden sollte, läßt nicht zuletzt auch dieses Urteil erahnen, wie sehr ihm Herder und dessen Schriften als produktive Projektionsfläche der eigenen theologischen Identitätsbildung dienen konnten, in der er geistesverwandtes Denken und kongeniale Inspiration zu finden vermochte.
112 113 114 115
A. a. O., S. 10; vgl. ders., Art. „Herder, Joh. Gottfried", S. 607. O. Baumgarten, Herder's Anlage und Bildungsgang %um Prediger, S. 14. A. a. O., S. 73; ders., Herder's Stellung zum Rationalismus, S. 658. O. Baumgarten, Herder, Sp. 222. 233
3.3. Im Streit um die Wirklichkeit Baumgarten interpretierte Herder als eine „lebendige Brücke von dem Bildungsideal der Humanisten zum Lebensideal des Christentums"116, doch hat er zugleich einschränkend hinzugefügt, daß diese Brücke, die Herder „von der Geistesbildung aus zur Religion schlug, nicht bis an das feste Ufer eines gewissen Glaubens, einer absoluten Lebensnorm, einer objektiven Gewißheit" hinüberreichte.117 Baumgartens Parteinahme für Herder gegen Goethe ist insofern weder als antihumanistische Bildungsfeindlichkeit noch als antimoderner Restitutionsversuch vergangener „positiver" Frömmigkeitsformationen zu verstehen, sondern zielt dezidiert auf das inkommensurable Eigenrecht der Religion sowie der Kultur. Im Anschluß an die bekannte Schleiermachersche Bestimmung betont Baumgarten deshalb an Herders Religionsverständnis vor allem dessen Unverrechenbarkeit mit ethisch-moralischen Handlungsforderungen: „Wie er den anderen Lebensgebieten ihre Selbständigkeit garantirte, so auch der Religion ihre eigene Provinz. Sein Moralismus hatte eine sehr bedeutsame, freilich nie ganz damit ausgeglichene Kehrseite an dem Trieb der religiösen Phantasie."118 Doch wie um der religiösen Sprengkraft und Anstößigkeit der christlichen Botschaft willen an ihrer Fremdheit und Überweldichkeit festgehalten werden muß, so muß um der Freiheit und Eigengesetzlichkeit aller sozialkulturellen Prägungen willen die Dynamik jeder gegenwärtigen „Wirklichkeit" in ihrem inneren Recht respektiert werden, bevor sie kritisch im Licht des Evangeliums beurteilt werden kann. Denn auch als eigenständige Sinnprovinz hat sich die „religiöse Phantasie" nicht gegenüber den anderen Wirklichkeitsbereichen hermetisch abzuriegeln, sondern diese als Tätigkeitsfelder eines legitimen chrisdichen Engagements zu begreifen: „Instrumente, Werkzeuge sind wir, Kraftübertragungen von Gott zur Menschheit". Für Baumgarten bedeutet dies zugleich: „alle menschliche Größe vor Gott liegt im Dienst, in der Arbeit, und die Blüten und Blätter, so schön und reich sie sein mögen, das bloße Ausleben und Ausbreiten der Persönlichkeit, erhalten vor Gott, der kein Aesthetiker, sondern Ethiker ist, ihren Wert lediglich dadurch, daß sie Früchte verheißen und schaffen f...]."119
1 1 6 E. Morres, Rez. „O. Baumgarten, Herders Anlage und Bildungsgang zum Prediger"; in: ZprTh 13 (1891), S. 182; vgl. O. Baumgarten, Herder's Anlage und Bildungsgang %um Prediger, S. 96. 1 1 ' O. Baumgarten, Herder's Anlage und Bildungsgang %um Prediger, S. 98. 1 1 8 O. Baumgarten, Herder's Stellung zum Rationalismus, S. 656. Dazu auch Anonym, Herder und Schleiermacher als Vorkämpfer der modernen Theologie (Sendboten der modernen Theologie Heft II/III), Friedenau-Steglitz 1907, S. 13ff. 1 1 9 O. Baumgarten, Eine Arbeitsfrist; in: EvFr 8 (1908), S. 10 (Hervorhebung vom Vf.).
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Die damit anvisierte kritische Zeitgenossenschaft, die angesichts der faktisch immer auch korrumpierten Wirklichkeit sowie der paradoxen Weltdistanz des biblisch-reformatorischen Glaubens gerade im unbequemen Einspruch und in produktiver Unzufriedenheit zu sich selber kommt, hat Baumgarten selber zeitlebens als Person ausgezeichnet, so daß seine eigene Biographie gleichsam als eine lebenspraktische Fortschreibung seiner frühen, prägenden Auseinandersetzung mit Herder zu verstehen ist: Herder war es, so Baumgarten im Rückblick, „der meine Jugend begleitet, meine ersten Studien geleitet, in mir den Mut starker, neuzeidicher Auffassung gestärkt und das nie rastende Suchen nach einer Versöhnung von Bildung und Christentum wie kein anderer angeregt hatte. Ich darf sagen: ich habe Herder nicht bloß studiert, ich habe mit ihm gelebt und vermag meine eigensten Erlebnisse nicht abzulösen von den Eindrücken seiner Schriften und seines persönlichen Wesens." 120 Diese persönlichen Sätze Baumgartens sind insofern interessant, als sie dem Eindruck korrespondieren, den seine Schriften zu Herder ohnehin an vielen Stellen nahelegen: Herder wird zu einem Kristallisationspunkt Baumgartens eigener theologischen Entwicklung. Engagierte Zeitgenossenschaft, pädagogisches Praxisinteresse und kritische Reformorientierung sind hier ebenso als Attribute zu nennen wie der Hinweis auf Herders weitstrahlende Persönlichkeit, seine essayistische Publikationstätigkeit sowie seine häufig ausgesprochen polemische Frontstellung. Wie sich Baumgarten zur Ausbildung seiner eigenen kulturprotestantischen Orientierung an Herder theologisch gleichsam abarbeitet, so scheinen zugleich viele seiner Urteile zu Herder nur dem vorzugreifen, was umgekehrt Baumgarten selber in den Augen seiner späteren Kritiker charakterisieren wird: „er war kein Absolutist, sondern Eklektiker, kein logischkonsequenter, sondern praktisch-reflektierender, das Gute von allen Seiten aufgreifender Reformpädagoge. Solche wirken indirekt und wiederum lokal sehr direkt, aber nicht geschichdich und allgemein."121 In diesem Sinne resümiert auch Baumgarten selber in biographischer Retrospektive: „Ich bin zweifellos im letzten Grunde keine gelehrte, theoretische, gar akademische und produktive Natur, sondern durch und durch praktisch, die Früchte der wissenschaftlich-theoretischen Arbeit verwertend im Dienste der lebendigen Seelen, der Gemeinde und des Volkes. Zum Brückenschlagen erschien ich mir prädestiniert durch pädagogische Zuleitung der lebendigen Erkenntnisse an die mitten im Leben stehende Laienwelt."122 Insofern nimmt es nicht wunder, daß sein biblisch-reformatorischer Vorbehalt gegenüber Herders Verflachung der christlichen Botschaft im Sinne ihrer volkspädagogischen Umsetzung - dessen „an120 121 122
O. Baumgarten, Herders Lebenswerk und die reügiöse Frage der Gegenwart, S. III. O. Baumgarten, Art. „Herder, Joh. Gottfried", S. 663. O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. 79. 235
thropo-, statt theocentrische Orientierung" 123 - vielfach auf Baumgarten selber gleichsam zurückgefallen ist: Die erbitterten Auseinandersetzungen um seine angeblich mangelhafte biblisch-reformatorische Bekenntnistreue sowie die Anfeindungen wegen fehlender Rechtgläubigkeit und Pietät legen hierfür ein beredtes Zeugnis ab. 124 Stellvertretend sei in diesem Zusammenhang auf das um Fairness und Sachlichkeit bemühte Urteil Theodor Kaftans hingewiesen, der trotz aller theologischen Differenzen, durch die er sich von Baumgarten geschieden wußte, über die rechthaberischen und polemischen Kontroversen bloß positioneller Schulstreitigkeiten durchaus hinausgreifen wollte. In seiner Besprechung Baumgartens Neuer Bahnen sowie der Predigt-Probleme setzt Kaftan sich zunächst mit dem zuweilen erhobenen Vorwurf auseinander, Baumgarten habe noch kein „ordentliches Buch" geschrieben: „O. Baumgarten hat eine flüssige und geschickte Feder. Was er schreibt, ist anregend. [...] Aber ein 'ordentliches Buch' zu schreiben - das liegt ihm nicht, wenn ich ihn richtig beurteile. Auch die hier zu besprechenden Schriften sind schnell gefertigte Wiedergaben von Vorlesungen; beide tragen wesentlich den Charakter dessen, was wir mit einem Fremdworte als Essays bezeichnen. Das ist eine Charakteristik derselben, keine Verurteilung" Denn: „Es ist nämlich sehr fraglich, ob der, welcher in heutiger Zeit literarisch wirken will, nicht besser tut, Essays zu schreiben, als das, was man ein 'ordentliches Buch' nennt."125 Im weiteren versucht Kaftan sodann eine inhaltliche Würdigung der von Baumgarten entwickelten praktisch-theologischen Perspektiven, die er kritisch — unter Anspielung auf Franz Delitzsch' Rede vom „tiefen Graben" — auf ihren positioneilen Grundsbestand hin durchleuchtet: „O. Baumgarten vertritt die 'Theologie', welche die spezifische Gottesoffenbarung in Jesu Christo nicht nur naturalistisch verschränkt, sondern auch historizistisch auflöst. Zwischen den Vertretern dieser Theologie und den Vertretern des Christusglaubens braucht niemand Gräben zu ziehen; es handelt sich hier um Gegensätze, für die es keine Vermittlung gibt, denen gegenüber nur ein Entweder-Oder gilt, nur daß dieser Gegensatz nicht identifiziert werden darf mit dem althergebrachten von orthodox und liberal."126 Der Bruch zwischen Herder und Goethe wird in dieser Perspektive gleichsam in die zeitgenössische Gegenwart hinein fortgeschrieben und stellt sich nunmehr als unüberbrückbares Entweder-Oder zwischen Kaftan und Baumgarten dar, in dessen Gefälle erneut das biblisch-geschichtliche Christentum gegen seine kulturselige Verwässerung zu sichern wäre. Dabei weist Kaftan in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, daß O. Baumgarten, Art. „Herder, Joh. Gottfried", S. 658. 124 Vg] hierzu H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 66ff.; außerdem W. Göbell, Otto Baumgarten und die Landeskirche; in: W. Steck (ed.), Otto Baumgarten, S. 75-104. 12!> T. Kaftan, Neue Bahnen und Predigtprobleme, Sp. 662. 1 2 6 Ebd.; vgl. H. Luther, Der breite Graben zwischen positiver und negativer (moderner) Theologie; in: Positive Union 3 (1906), S. 5-15. 123
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die aus der Reichsgründungsära überkommene Frontstellung von konfessioneller und liberalprotestantischer Theologie, von Positiver Union und Protestantenverein, inzwischen überholt ist - die jüngere moderne Theologie, wie Baumgarten sie verkörpert, definierte sich nicht nur im Kontrast zu einer positiven bzw. konfessionellen Gemeindeorthodoxie, sondern sie stellte sich zugleich auch kritisch zu den theologischen und kirchenpolitischen Optionen des älteren Liberalprotestantismus, welcher unter dem Eindruck der massiven gesellschaftlichen Umwälzungen zwar nicht sein historisches Recht, wohl aber seine einstige analytische Erschließungskraft sowie seine kritische Produktivität verloren zu haben schien. Denn nach den stolzen und optimistischen Jahren der Gründerzeit dominierten nun die eher „bedenklichen Erscheinungen im wirtschaftlichen und sittlichen Leben": In Reaktion auf die sozialen Kosten der industriellen Modernisierungsoffensiven war es zu einem allgemeinen Aufschwung sozialdiakonischen Engagements gekommen, das zivilreligiös von der Parole „mehr Religion!" flankiert wurde, da man sich von ihr eine Heilung der aufbrechenden gesellschaftlichen Fraktionierungen erhoffte. Die theologisch anspruchsvolle Arbeit des Protestantenvereins, so die etwas selbstmitleidige Perspektive Wilhelm Honigs, sei durch diese gesellschaftliche Entwicklung — also durch seiner Auffassung nach bloß „zufällige Strömungen und Stimmungen" - unverdient aus der Mode gekommen: andere Richtungen würden inzwischen als „modern" gelten. 127 Während sich bei Robert Kübel noch eine neutrale Verwendung des Terminus „modern" fand, wenn er Über den Unterschied \wischen der Positiven und der Liberalen Pachtung in der modernen Theologie (1881) handelte, und er erst mit seinen Christlichen Bedenken über modern christliches Wesen (1888) einer pejorativen Einfärbung zuneigte, so hatten Franz Delitzsch (1813-1890) und Martin Kahler (1835-1912) von vornherein eindeutig positioneil gegen das Recht der — von ihnen so bezeichneten — „modernen Theologie" argumentiert und dabei insbesondere das Wirken Albrecht Ritschis und seiner Schule im Auge gehabt.128 Doch dieses umstrittene Signum der „Modernität" konnte nicht dauerhaft allein auf die theologische Schule um Ritsehl beschränkt bleiben — die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse verlangten eine theologische Fortentwicklung auch innerhalb dieser einstmals so modernen und kritischen Richtung, da ihre theologischen Grundorientierungen nicht mehr den Anforderungen der Gegenwart zu genügen schienen. Zutreffend stellt Kaftan deshalb fest: „Heute legen die, welche sich mit Emphase als moderne Theologen bezeichnen, Wert darauf, deutlich zu machen, daß sie über die Ritschlsche Theologie hinaus sind; 127
Vgl. W. Hönig, Aus der Mode; in: PKZ 38 (1891), bes. Sp. 137.
128 Vgl M. Kahler, Die moderne Theologe und die Stellung der Kirche
ihr auf Kandel
und Katheder [1880]; in: ders., Dogmatische Zeitfragen Heft 1, Leipzig 1898, S. 73-109, F.
Delitzsch, Der tiefe Graben ^wischen alter und moderner Theologie. Ein Bekenntnis, Leipzig 1888. Dazu auch G. Ecke, Die theologische Schule Albrecht Ritschis, Berlin 1897. 237
diese gilt heute als eine solche, in deren Gewandung noch ein Rest mittelalterlichen Geruchs steckt [...]. Als moderne Theologie gilt heute die schon öfter erwähnte, in eine allgemeine Religionswissenschaft umgesetzte 'Theologie', die mit allem 'Supranaturalistischem' gründlich aufgeräumt hat und nur von Produkten menschlicher Entwicklung weiß."129 Gleichwohl diente der Terminus „moderne Theologie" in dem hier bezeichneten Sinne einer Reihe durchaus unterschiedlicher Theologen zur positionellen Selbstcharakterisierung: Neben Baumgarten und dem Herausgeberkreis seiner Monatsschriftßr die kirchliche Praxis zählten hierzu ebenso die beschaulichen Stimmungsbilder von Franz Breda wie die kleine Reihe der Sendboten der modernen Theologie aus dem Jahre 1907 oder die profilierten Frankfurter Vorträge, die ab 1908 jährlich von Wilhelm Bornemann, Erich Foerster, Hermann Schuster, Willy Veit und anderen gehalten wurden und die sich kritisch mit der zeitgenössischen Diskussion um Religion und Kirchlichkeit auseinandersetzten.130 Außerdem zu nennen sind in diesem Zusammenhang Religionsgeschichtler wie Wilhelm Bousset (1865-1920), Heinrich Weinel (1874-1936) oder Paul Wernle (1872-1939), aber auch ein Theologe wie Martin Schian, Mitbegründer der Preußischen Kirchen^eitung sowie der Konferen^für evangelische Gemeindearbeit, der einen Teil seiner modern-theologischen „Bekenntnisse" unter dem Pseudonym „Richard Ernst" veröffentlichte.131 Daneben war die im Umfeld von Carl Jatho und Gottfried Traub sich sammelnde Bewegung eines freien Protestantismus im Rheinland bzw. in Westfalen dezidiert modern-theologischen Idealen verpflichtet — ebenso wie der umstrittene Bremer Pfarrer Albert Kalthoff oder der zuletzt in Paris lehrende Kirchenhistoriker Jean Réville (1854—1908), dessen populärwissenschaftliche Vorträge Le protestantisme libéral, ses origines, sa nature, sa mission 1904 unter dem deutschen Titel Modernes Christentum herausgebracht wurden.132 Insofern jedoch Fortschrittsorientierung, wissenschaftliche Rationalität und weltanschauliche Pluralisierung zusehends zu allgemeinen Bedingungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit wurden, konnte „Modernität" nicht länger ein Kampfbegriff lediglich der kritischen theologischen Schulrichtungen bleiben — in Anerkennung des faktisch sich vollziehenden Ubergangs in eine moderne Welt wollten „auch manche Tositive' von
T. Kaftan, Moderne Theologie des alten Glaubens, Schleswig 1905, S. 69. 130 Vgl p Breda, Aus den Papieren eines modernen Theologen. Stimmungsbilder, Berlin 1900; H. Tribukait, Die Entstehung der modernen Theologie (Sendboten der modernen Theologie, Heft I), Friedenau-Steglitz 1907; W. Bornemann u. a., Die reügiösen Ideale der modernen Theologie, Frankfurt a. M./Berlin 1908; dies., Darf Religion Privatsache bkiben?, Frankfurt a. M. 1909 u. a. m. 1 3 1 Vgl. R. Ernst, Der „moderne" Theologe und das praktische Amt, Halle a. S. 1897; ders., Wie ich an moderner Theologe wurde, Göttingen 1908 - dazu siehe Karl Barth, Gesamtausgabe III. Vorträge und kleinere Arbeiten 1905- 1909, Zürich 1992, S. 315f. 1 3 2 Zur Übersicht vgl. H. Mulert, Art. „Moderne Theologie"; in: RGG1 Bd. IV, Sp. 417f.; M. Schian, Art. „Moderne"; in: ders. (ed.), Handbuch für das kirchüche Amt, Leipzig 1928, S. 411. 129
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dem Ehrennamen der 'Modernen' nicht ausgeschlossen sein."133 Vor diesem theologiepolitischen Hintergrund ist die Ausbildung einer sogenannten „modernen positiven Theologie" bei Reinhold Seeberg (1859— 1935), Richard Heinrich Grützmacher (1876-1959) oder Karl Beth (1872-1959) zu verstehen, die auf jeweils unterschiedliche Weise versucht haben, die subjektive Erfahrung der Wahrheit des christlichen Glaubens sowie die damit gesetzten positiven Heilstatsachen nicht auf Kosten ihrer Anschlußfähigkeit an die geschichtliche Entwicklung oder an die Prinzipien des modernen Wahrheitsbewußtseins behaupten zu müssen.134 Dabei war es naheliegend, daß die Diskussion um Legitimität und Erschließungskraft dieser Programme sich auf die nähere Bestimmung des spezifisch „Modernen" konzentrieren mußte - sowie daran anschließend auf die Frage, in welcher Weise Modernität und christliche Glaubenswahrheit konkret aufeinander zu beziehen seien, ohne daß letztere einen substantiellen Schaden nähme. 135 Konsensfähig war dabei Seebergs Formulierung, daß es mit der Forderung nach einer „modern-positiven Theologie" darum ging, die „Goldkörner" der letzten beiden Generationen - des Deutschen Idealismus sowie des modern-technischen Fortschritts und der Realpolitik - für das Glaubensleben der Gegenwart aufzubereiten: Zwar war der „schmerzliche Verzicht" auf ein absolutes Wissen auch im positiven Lager unvermeidlich geworden, doch sollte unterhalb der vormodernen Objektivitätsansprüche der „selbsterlebten Glaubenserfahrung" zumindest ein Raum weltanschaulicher Antonomie und subjektiver Vergewisserung offengehalten werden.136 In kaum verkennbarer Nähe zu solchen modern-positiven Entwürfen, jedoch mit einem wesentlich stärkeren Gewicht auf der Unterscheidung von Theologie und Glaube, hat auch Theodor Kaftan seine kritische Auseinandersetzung mit Baumgarten theologisch zu fundieren gesucht K. Seil, „Positive" und „Moderne", Leipzig 1912, S. VI. Insgesamt vgl. M. Schian, Art. „Modern-positiv"; in: RGG1 Bd. IV, Sp. 4 1 8 425; dazu F. W. Graf/K. Tanner, Lutherischer Sozialidealismus; in: F. W. Graf (ed.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus 2/2, S. 354-397 (Lit.); Karl Beth; in: RWGS II 133
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»&i. J ... v. (Dettingen, Zur Frage über modernes Christentum und moderne Theologie; in: MNR 60 (1904), S. 337-360; K. Girgensohn, Die Theologie Reinhold Seebergs; in: Die Studierstube 3 (1905), S. 4—15; M. Christlieb, Ist R. Seebergs Theologie modern und positiv zugleich?; in: a. a. O., S. 195-206; A. Eckert, Die Forderung einer modernen positiven Theologie; in: Positive Union 3 (1906), S. 3 7 ^ 3 , 62-69; ders., Ist die moderne positive Theologie - Vermittlungstheologie?; in: Die Reformation 5 (1906), S. 490—492; ders., Zum Ringen um die moderne positive Theologie; in: a. a. O. 6 (1907), S. 11-15, 33-36. 136 Vgl r . Seeberg, Das Moderne und die „Moderne"; in: Die Reformation 3 (1904), S. 215; A. v. (Dettingen, Das Lebensproblem und die „Moderne"; in: Baltische Monatsschrift 45 [Bd. 56] (1903), S. 314. 239
und das Programm einer "modernen Theologie des alten Glaubens" entwickelt.137 Sein Hauptanliegen dabei war es, die Identität von Kirche und Theologie gegen ihre pseudochristliche Überfremdung zu verteidigen, so daß er sich angesichts der vermeindich illegitimen Inanspruchnahme der christlichen Tradition durch die „moderne Theologie" zu einem theologischen „Doppelkampf' gegen die inneren Feinde des biblisch-reformatorischen Glaubens genötigt sah: „Die Theologie hat sich dagegen zu wehren, aufgelöst zu werden in eine allgemeine Religionswissenschaft. Die Kirche hat sich dagegen zu wehren, aufgelöst zu werden in einen menschlich normierten Religionsverein."138 Dennoch konnte der Kampf gegen die modern-theologische, insbesondere historisch-kritische „Auflösung des Christentums" nicht durch schlichte Negation aller wissenschaftlichen Rationalität oder weltanschaulichen Pluralisierung geschehen - auf diese Weise würde sich der christliche Glaube nur unweigerlich auf ein ohnmächtiges Winkeldasein zurückziehen. Vielmehr sollte die Lebens- und Rettungskraft des alten Glaubens unbedingt gewahrt bleiben, seine reflexive Vergewisserung jedoch nicht im bloßen Nachvollzug der Tradition, sondern in Auseinandersetzung mit dem modernen Wahrheitsbewußtsein und den Grundstrukturen seiner Wirklichkeitserkenntnis theologisch entfaltet werden. Wie weit und in welcher Weise Kaftan mit diesem Programm den Forderungen Baumgartens entgegenzukommen beabsichtigte, wird schnell deutlich, wenn man sich die konkrete Gestalt seiner „modernen Theologie des alten Glaubens" vor Augen führt: Ganz auf der von Baumgarten vorgezeichneten Linie versteht auch Kaftan seine Theologie als eine der Gegenwart verpflichtete, „durch die Eigenart des modernen Geisteslebens bestimmte Theologie".139 Gemäß den Konstruktionsprinzipien dieser modernen Welt müssen die Voraussetzungen einer solchen Theologie einerseits in der „Freisetzung des Individuellen" aus vordem korporalen Gemeinschaften sowie der diesem Prozeß folgenden sitdich-religiösen Autonomie des Menschen, andererseits in der Konstitution eines spezi1 3 7 Zuerst in T. Kaftan, Vier Kapitel von der Landeskirche, Schleswig 1903, S. 8ff; vgl. R. H. Grützmacher, Die Forderung einer modernen positiven Theologie; in: AELKZ 38 (1905), Sp. 1042-1048; T. Kaftan, Moderne Theologie des alten Glaubens; in: a. a. O., Sp. 1089-1095, 1114—1117; W. Schmidt, ..Moderne Theologie des alten Glaubens" in kritischer Beleuchtung, Gütersloh 1906; K. Dunkmann, Moderne Theologie alten Glaubens, Gütersloh 1906; W. Bousset, Moderne Positive Theologie; in: ThR 9 (1906), S. 287-302, 327-340, 371-381, 413-424; 10 (1907), S. 1-18; F. Traub, Neubildungen in der Dogmatdk; in: MPTh 2 (1905/06), S. 227-254; ders., Moderne Positive Theologie; in: MPTh 3 (1906/07), S. 144—166; M. Schian, Zur Beurteilung der modernenpositiven Theologie, Glessen 1907. 1 3 ° T. Kaftan, Vier Kapitel von der Landeskirche, S. 2. 1 3 9 T. Kaftan, Moderne Theologie des alten Glaubens, S. 70 (im Original hervorgehoben).
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fisch modernen „Wirklichkeitssinnes" liegen, welcher die Form aller neuzeitlichen Wahrheitserkenntnis bildet. Als „modern" ist folglich eine Theologie zu bezeichnen, „die keiner nur äußeren Autorität sich beugt, die die Bahnen des modernen, sich seiner Grenzen und seiner Art bewußten Denkens geht, die aller Wirklichkeitserkenntnis sich er schließt."140 Die kantische Vernunftkritik, die Ausbildung eines autonomen Persönlichkeitsideals oder die moderne Wirklichkeitsorientierung sind dabei in theologischer Hinsicht für Kaftan „neutrale" Größen, da sie nicht die Substanz des christlichen Glaubens berühren. Vielmehr eröffnen sie — neben dem traditionskritischen Moment, das gemeinhin im Vordergrund steht — für die Entfaltung des christlichen Glaubens jeweils zugleich einen neuen, tieferen Horizont und erweitern somit letztlich sein Verständnis. Denn: „Wo die Wirklichkeit ist, da ist Gott". 141 Zum Bruch mit den Prinzipien der Moderne muß es, so Kaftan, erst dort kommen, wo diese sich selbst verabsolutiert und eine quasireligiöse Dignität und Normativität beansprucht: hier schließlich walte nicht mehr der weltanschaulich neutrale „moderne Geist", sondern eine Neuauflage der alten adamitischen Selbstüberhebung. Kaftans entscheidende Kritik an der sich selbst mit Emphase als modern bezeichnenden Theologie ist denn auch, daß diese einen „halben Pakt" mit der modernen Weltanschauung geschlossen habe: 142 Mit ihrer Tendenz zu moderner Selbstüberhebung verleugnet sie die Zumutungen eines biblischen Sünden- und Gnadenbewußtseins, ohne jedoch konsequenterweise auf den nunmehr unzutreffenden Titel „Theologie" zu verzichten. Allein dieser irreführenden Selbstetikettierung verdanke sich die besondere Gefährlichkeit der sogenannten modernen Theologie, da hier im Namen bzw. unter dem Deckmantel von „Theologie" diese um ihr Eigentliches gebracht werde: Christliche Glaubensreflexion verkehrt sich hier zu einer bloßen „Theologie der Rhetorik", zu einer „Theologie des Tastens, Umprägens und Entleerens".143 Wahrhaft moderne Theologie dagegen, die diese Bezeichnung sowohl hinsichtlich ihrer Anschlußfähigheit an das moderne Weltbild als auch hinsichtlich ihres Festhaltens an theologischer Weltanschauungskritik zu Recht trüge, bliebe sich, so Kaftan, der irdischen Begrenztheit moderner Wirklichkeitsorientierung stets bewußt: „Die moderne Theologie ist die Theologie des doppelten Wirklichkeitssinns, eines Wirklichkeitssinns beides für das, was göttlich, und das, was menschlich ist." 144 A. a. O., S. 73 (im Original hervorgehoben). A. a. O., S. 78 (im Original hervorgehoben). 142 Ygi a a o., S. 81ff.; ebenso C. Stange, Das Frömmigkeitsideal der modernen Theobgie, Leipzig 1907, bes. S. 31. Dagegen die Rez. von S. Eck; in: ChW 22 (1908), Sp. 26-30. 1 4 3 Vgl. F. K., Notizen; in: EuFr6 (1906), S. 397. 1 4 4 T. Kaftan, Moderne Theologe des alten Glaubens, S. 100. 140 141
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Wenngleich Baumgarten die weitgehende Öffnung Kaftans gegenüber den Bedingungen moderner Wirklichkeitserfahrung sowie sein Bemühen um eine moderne Theologie des alten Glaubens — für das letzterer bald unvermutete Kritik von Seiten des bibeltheologisch geprägten Kieler Dogmatikers Erich Schaeder einstecken solle145 - als „Übergangsformel" durchaus positiv zu würdigen wußte, so konnte er doch in Kaftans eigentümlich überformter theologischer Wirklichkeitskonstruktion nichts anderes als eine bloß äußerliche Kosmetik erkennen, welche auf halbem Wege zu einer wirklich modernen Auffassung des Christentums stehenblieb. Von zwei Seiten wurde Kaftan somit als „Semimoderner" — als modern bzw. als wenig modern — diskreditiert; auch Baumgarten selbst resümierte denn seinerseits skeptisch: „Uns erscheint freilich die hier vertretene Kombination des Alten und Modernen ebenso widerspruchsvoll als dem Verfasser unsere moderne Theologie".146 Noch polemischer karikierte dagegen Wilhelm Herrmann (1846-1922) in seiner kritischen Bilanz der „modernen Theologie des alten Glaubens" ihre wissenschaftstheoretische Abständigkeit: „Wenn moderne Theologen eine entscheidende Wendung darin sehen, daß sie anfangen, einem so elementaren wissenschaftlichen Begriff, wie dem Entwicklungsgedanken sein Recht zu geben, so mag das für sie selbst wohl epochemachend sein. Aber das verrät doch dann nur, in welcher Erstarrung sie bisher das Wirkliche zu sehen gewohnt waren [...]. Sie täten besser, davon zu schweigen und nicht durch ihre laute Freude zu verraten, in welchem Winkel sie bisher gesessen haben müssen."147 In seiner eigenen Analyse der „Lage des Christentums in der Gegenwart" kann Baumgarten im wesentlichen drei typologische Ausprägungen des Protestantismus ausmachen, die er zunächst unpolemisch als legitime christliche „Neubildungen" der Jahrhundertwende nebeneinanderstellt: „modernes", „amerikanisches" sowie „schwermütiges" Glaubensverständnis markieren für ihn die drei dominanten Tendenzen in der zeitgenössischen Frömmigkeitspraxis.148 Doch während das effektorientierte, nordamerikanisch geprägte „Missionschristentum" seiner Auffassung 1 4 5 Vgl. E. Schaeder, Zur theologischen Lage der Gegenwart; in: Die Reformation 6 (1907), S. 241-248, 274-278, 630-634; ders., Erich Schaeder; in: RWGS II (1926), bes. S. 209-211; F. M. Schiele, Der Streit um Theodor Kaftan; in: CCW 18 (1908), bes. S. 596ff. Vermittelnd R. Bärwinkel, Moderne Theologie und moderne Weltanschauung, Erfurt 1907; F. Rendtorff, Zum Kampf um die moderne Theologie des alten Glaubens; in: DEBl 33 (1908), S. 566-577. 1 4 6 O. Baumgarten, Notizen; in: MKP 5 (1905), S. 281; vgl. ders., Kirchliche Chronik; in: EvFr 8 (1908), S. 205; T. Kaftan, Zur Verständigung über moderne Theologie des alten Glaubens, Schleswig 1909, bes. S. 2. 1 4 7 W. Herrmann, Moderne Theologie des alten Glaubens; in: ZThK 16 (1906), S. 232f. 1 4 8 O. Baumgarten, Art. „Christentum. Seine Lage in der Gegenwart", Sp. 1688.
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nach oberflächlich bleibt und eine vorschnelle „Harmonie mit dem Unendlichen" erwecken will, dagegen das prononcierte Sünden- und Gnadenbewußtsein etwa des Gemeinschaftschristentums - insgesamt durchaus als ein „hocherfreuliches Symptom" 149 gewürdigt - vielfach etwas Krampfhaftes habe, scheinen für Baumgarten allein die Formen des modernen Christentums eine uneingeschränkte Legitimität und Anschlußfähigkeit gegenüber der zeitgenössischen Wirklichkeitserfahrung zu besitzen. Denn allein diese modernen Formen sind bestrebt, „das Chr. [istentum] in die volle geistige Gegenwart zu verpflanzen, es von dem Ballast zeitgeschichtlich bedingter und begrenzter Anschauungen zu entlasten, damit sein bleibend wertvoller Kern, sein ewiges Prinzip sich ungehemmt auswirken und den suchenden Geistern der Gegenwart als Lösung der Rätsel und Nöte empfehlen kann." 150 Insoweit Baumgarten selber sich diese modern-theologische Perspektive zu eigen macht, wird zugleich nachvollziehbarer, weshalb er immer wieder - trotz seiner energischen Betonung des für wahrhaft evangelische Frömmigkeit konstitutiven Transzendenzbezuges - polemisch von konfessionell-lutherischer Seite der Verwässerung und Auflösung christlicher Glaubenssubstanz bezichtigt worden ist: Seine Negation einer idealistischen Überhöhung bzw. materialistischen Reduktion von Wirklichkeit trieb ihn zwar zum Einspruch gegen differenzlose „Kulturseligkeit" oder die weltanschauliche Programmatik eines pantheistischen Monismus, doch war damit gleichwohl kein dualistisches, Gott und Mensch einander antagonistisch gegenüberstellendes Weltbild impliziert. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, wenn Friedrich Rittelmeyer (18721938), später ein Mitbegründer der Christengemeinschaft, in seiner selbstkritischen Analyse der Defizite der modernen Theologie — für die er im übrigen viel Beifall von der 'falschen' Seite erhielt - schließlich feststellte: „Was uns schwach gemacht hat, ist gerade das, worauf wir stolz waren, nämlich unsre Versöhnung zwischen Christentum und Kultur, an der wir auch dort unbewußt arbeiteten, wo wir das Schlagwort selbst vielleicht mißbilligten. Aber vereinigen und versöhnen macht schwach, nur große Gegensätze machen stark."151 Denn im Unterschied zur modernen Theologie im Sinne Kaftans war Baumgartens leitender systematisch-theologischer Bezugspunkt gerade die „Einheit der Wirklichkeit", die als Wirklichheit zwar durchaus die Dichotomie von Religion und Kultur bzw. den Bruch zwischen Bildung A. a. O., Sp. 1689. A. a. O., Sp. 1688. Zur Unterscheidung von „leichtmütigem" und „schwermütigem" Christentum vgl. auch W. James, Die reügiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, S. 74ff., 122ff. 1 5 1 F. Rittelmeyer, Was fehlt der modernen Theologie?; in: ChW 24 (1910), Sp. 1042. 149
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und Glaube in sich birgt, in ihrer letzten Bestimmung als Einheit diese geschichtlichen Differenzen jedoch immer zu übersteigen vermag. Weder darf folglich das Christentum seinen Heimatort in einer engkreisigen frommen Sonderwirklichkeit finden wollen, die ohnehin nur noch in einer berufsmäßigen „Sonderdenkweise des geistlichen Standes"152 sozial verankert wäre, noch darf der herrschende Betrieb sozialkultureller Wirklichkeitsdefinition sich verabsolutieren und auch das Irrationale, Sperrige und Unabgegoltene der christlichen Glaubensüberzeugung harmonisieren oder majorisieren wollen. In ihrem unverkürzten Sinn verweist die Rede von der 'Einheit der Wirklichkeit' somit auf die „Übereinstimmung von Erleben und Denken", d. h. auf die Einheit der „Welt, wie sie objektiv außer uns und in unserm Innern sich spiegelnd ist" 153 - und hat insofern die Verunmöglichung jeder partikularistischen Bemächtigung der Wirklichkeit zum Ziel. Weder dualistische Spaltung noch idealistische, kulturoptimistische Kolonisierung können deshalb legitimerweise den Anspruch erheben, der Totalität der Wirklichkeitserfahrung „vor Gott" angemessen Ausdruck zu verleihen. Wenngleich Baumgarten die theologische Rede von der Einheit der Wirklichkeit nicht im Zusammenhang begrifflich entfaltet, so erhalten doch erst von hier aus die Jenseitsverankerung der Glaubensgewißheit und die von ihm formulierte göttliche Dignität der Tatsachenwirklichkeit, die bleibende Abständigkeit und Fremdheit der christlichen Botschaft und die seelsorgerlich-solidarische Pflicht zu ihrer wirklich zeitgenössischen hermeneutischen Vermittlung jeweils ihre innere Plausibilität. Auch die von Baumgarten formulierte „doppelte Voraussetzung des modernen Christentums", welches im Sinne der sogenannte „Kleiderphilosophie" Thomas Carlyles (1795-1881) den ewigen Wahrheitssätzen des christlichen Glaubens nur ein neues, für die Gegenwart gültiges „Gewand" verleihen will, verweist auf eine materialiter zwar unbedingt pluralistische und vielfach auch antagonistische, jedoch als Erfahrungsraum im letzten einheitlich bestimmte Wirklichkeit. Als die beiden Prämissen einer solchen modernen Theologie hält Baumgarten fest: erstens: „moderne Geisteskultur ist nicht ohne weiteres dem Christentum] entgegengesetzt, ihre tiefsten Persönlichkeitswerte sind ihm vielmehr kongenial"; zweitens: „das Christentum] ist solcher Einkleidung in neue Symbole, solcher Weiterbildung in neue Denk-, Empfindungs- und Geschmacksformen durchaus fähig."154
O. Baumgarten, Der Seelsorger unsrer Tage, S. 38. O. Baumgarten, Predigt-Probleme, S. 92. 1 5 4 O. Baumgarten, Art. „Christentum. Seine Lage in der Gegenwart", Sp. 1688. Dazu ders., Carljle und Goethe, S. 70ff.; H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 295ff. 152 153
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In theologischer Perspektive dürfen deshalb Wahrheit und Wirklichkeit nicht auseinandergerissen werden: „Jede Wahrheit muß sich an der Wirklichkeit bewähren." 155 Zur Fundierung dieses konstitutiven Zusammenhanges rekurriert Baumgarten auf einen spezifisch „neutestamendichen Begriff der Wahrheit = Wirklichkeit (vergl. Eph. 4, 21: 'so wie es Wahrheit, d. h. Wirklichkeit in Jesu.')" 156 Demzufolge ist die Wirklichkeit nicht nur kritisches Korrektiv, sondern zugleich schöpferische, normative Macht: ihr eignet eine geschichtlich vermittelte, gleichsam offenbarungstheologische Dignität. Insofern trifft auch auf O. Baumgarten jener Satz zu, den Karl Barth ursprünglich auf den in Genf lehrenden Theologen Charles Durand-Pallot (1876-1951) gemünzt hatte: „Das Wort 'réalité' im Sinn von empirisch vorliegender Tatsächlichkeit hat für ihn einen eigentlich religiösen Klang und es wird daher in Controversen als letzter Trumpf ausgespielt."157 Gegen jede bequeme oder ängstliche Abwendung von der konkreten Realität - und geschehe sie auch unter Berufung auf die höhere Jenseitshoffnung des christlichen Glaubens - ist an der aufschließenden Qualität der Wirklichkeit ab einer Ansage des Willens Gottes festzuhalten: Unter ihren Bedingungen haben sich Sittlichkeit und christliche Nächstenliebe, evangelische Freiheit und Wahrhaftigkeit sowie eine wirklich zeitgenössische Auslegung der richtenden und aufrichtenden Glaubensbotschaft zu konkretisieren. Offenbar aus seiner Beschäftigung mit den Untersuchungen Rudolph Sohms (1841-1917) zur Geschichte des Kirchenrechts ist Baumgarten dabei - als Ausdruck der normativen Macht einer theologisch interpretierten „Wirklichkeit" - Luthers Rede von der „voluntas dei, quam in ipso facto videmus" zugewachsen. Inhaltlich ging es für Baumgarten dabei um die Frage nach dem theologischen Stellenwert des weltlichen Rechts bei Luther: „Wie kann da Sohm noch von jedesmaliger freier Gestattung durch die Versammlung Christi reden? Muss er doch selbst anfuhren, dass Luther 1519 in de protestate Papae Gehorsam sogar gegen die 'ungerechte' Gewalt 'um des Gewissens willen' fordert und beifügt: est ipsa voluntas dei, quam in ipso facto videmus, d. h. in der ge-
1 5 5 H. v. Bassi, Praktische Theologie zwischen Wirklichkeit und Wahrheit; in: W. Steck (ed.), Otto Baumgarte?!, S. 185; vgl. ders., Otto Baumgarten, S. 262-264. 1 5 6 O. Baumgarten, Moderne Ideale; in: Schleswig-Holsteinisches Kirchenblatt 1 (1900) H. 2, 1900, S. 2. Dazu vgl. auch M. Kahler, Wirklichkeit und Wahrheit; in: Die Reformation 4 (1905), S. 436^39; S. Faut, Wirklichkeitssinn und Religion. Ein Beitrag zur Apologetik; in: MPTh 2 (1905/06), S. 271-278. 1 5 7 K. Barth, Die moderne Seelsorge und ihre psychologischen und religiösen Grundlagen (Rezensionsfragment 1910/11); in: ders., Gesamtausgabe III. Vorträge und kleinere Arbeiten 1909-1914, Zürich 1993, S. 228.
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schichtlichen, thatsächlichen Zulassung von Gewalt. So sehr verehrt Luther die historisch-ethischen Notwendigkeiten!"158 Diese Wendung von der „voluntas dei", mit der Baumgarten programmatisch auch das Vorwort seiner Lebensgeschichte schließt,159 bündelt noch einmal das Hauptanliegen seiner theologischen Ausrichtung: engagierte Verpflichtung gegenüber Erfahrungswahrheit und Empirie — doch nur, um potentiell alles Bestehende zugleich als von Gott gestellte Aufgabe verstehen zu können. Die vielfachen faktischen Gegensätzlichkeiten von Religion und Kultur hatte Baumgarten als „Ausdruck einer konstitutiven Differenz zwischen religiösem Bewußtsein und kultureller Praxis"160 interpretiert; mit dieser eschatologischen Differenzbestimmung zielte er jedoch zugleich auf die Aufgabe ihrer reflexiven Vermitthing, die notwendigerweise unabschließbar bleiben muß. Die engagierte Anerkennung sozialkultureller Eigengesetzlichkeiten und der Respekt vor der Unverrechenbarkeit des christlichen Glaubens fugen sich bei Baumgarten somit insgesamt zum Entwurf einer ethischen Theologie, der pluralistische Wirklichkeitskonstitution »«¿Jenseitigkeit Gottes spannungsvoll offenhalten will: „Im Versuch, eine geschlossene Ontologie auf ein pluraästisches Wirklichkeitsverständnis hin aufzubrechen, erfährt die liberale Kritik eines feudal-korporativen Sozialsystems, in welchem Religion und Politik, Gesellschaft und Staat nicht entkoppelt sind, gleichsam noch einmal eine theoretische Verdichtung. Denn die Unterscheidungsleistungen, die Baumgarten gegenüber allen monistischen Theorien einklagt, dienen genau jenem Interesse, welches der liberalen Emanzipationsbewegung ihre besondere Dynamik verliehen hatte: dem Interesse der Erschließung von Freiräumen individueller Selbstentfaltung."161 Die Gegenwart soll theologisch gerade als offener Handlungsraum begriffen werden, ohne das Kontrafaktische und Paradoxe des christlichen Glaubens darin vorschnell verrechnen zu müssen — aber auch ohne in vermeintlich frommer Weltdistanz faktisch einer bloß partikularen, womöglich restaurativen ideologischen Binnenstruktur aufzusitzen.
1 5 8 O. Baumgarten, Der Ertrag der neuesten kirchenrechtlichen Werke für die praktische Theologie; in: ZprTh 16 (1894), S. 349f., vgl. S. 348. Dazu R. Sohm, Kirchenrecbt Bd. 1: Die geschichtlichen Grundlagen (Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft VIII/1), Leipzig 1892, bes. S. 477. Die Recherche-Ergebnisse bei H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 521 (A. 53) sind insofern zu korrigieren. 1 5 9 O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, S. VI. 160 p. w . Graf, Lex Christi und Eigengesetzlichkeit, S. 242. 1 6 1 A. a. O., S. 249, vgl. S. 238.
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3.4. Die „moderne Theologie " und die kirchliche Praxis Die von Baumgarten vorangetriebene praktisch-theologische Reflexion der modernen gesellschaftlichen und religiösen Differenzierungsprozesse hatte ihren Ausgang bei der nachhaltig gewandelten Wirklichkeitserfahrung genommen. Simplifizierende Schuldzuweisungen, nach denen die historisch-kritische Glaubenszersetzung sowie der dogmatische Substanzverlust der „modernen Theologie" zu religiöser Unverbindlichkeit geführt und somit dem Niedergang der christlichen Traditionswerte Vorschub geleistet hätten, immunisierten sich insofern in unzulässiger Weise gegen die innere Dynamik der modernen Lebenswelt: Sie dienten sichtlich der positionellen Selbstentlastung und verkannten zudem das engagierte Bemühen der „modernen Theologie" um zeitgenössische Anschlußfähigkeit und substantielle Traditionsbewahrung. Gegen solche Tendenzen zu positioneller Selbststabilisierung strich der spätere Gießener Systematiker Samuel Eck (1857-1919) bereits in einer frühen Schrift heraus: „Dieser Zeit der endlosen Fragen, der Ungewißheit auf allen Gebieten des Lebens, der unerhörten Umwälzungen in allen Bedingungen des Daseins, ihr können wir nur dienen, wenn wir ihre Art an uns selbst erfahren, wenn wir mit zu den Fragenden, Zweifelnden, Ringenden gehören [...]. Mit dem Fertigen weiß unsre Zeit nichts anzufangen. Denn es ist nichts fertig in ihr. Wie soll sie dann den Glauben verstehen, der es nicht wagen wollte, in dem Schmelztiegel der Kritik unterzugehen, damit er neu aus ihm erstehe?"162 Auch die moderne Theologie will folglich als eine legitime Gestalt neuzeitlicher Frömmigkeit anerkannt und in ihrem Bemühen um eine für die Gegenwart gültige Auslegung des Christentums gewürdigt werden. Ihre prinzipiellen Charakteristika hat F. M. Schiele in einer Besprechung Baumgartens Neuer Bahnen zutreffend in den Stichworten „Empirismus" und „Kultur" zusammengefaßt: Ersterer, verstanden in einer weiten und allgemeinen Bedeutung, ist „die Neigung unserer Zeitgenossen, sich bei dem Erfahrenen als Erlebnis zu beruhigen, es auf seine Sicherheit nur durch Vergleich mit anderem Erfahrenen (seltener schon durch eine kritische Theorie der Erfahrung) zu prüfen, keinesfalls aber die darüber angestellte Spekulation als eine höhere Stufe anzusehen, die uns über das Erlebnis selbst irgendwie hinaus führen" könnte - letztere dagegen, die Kultur, steht als gleichursprüngliche und reflexiv mit dem Christentum vermittelte mit diesem in einem Verhältnis wechselseitiger Verschränkung, so daß „wir heute christliche Frömmigkeit thatsächlich nur zu-
1 6 2 S. Eck, Welchen Segen bringt die Beschäftigung mit der modernen Theologie unserm praktischen Berufsleben?, Leipzig 1894, S. 24.
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gleich mit moderner Kultur haben können."163 Doch ist dieses Zugleich eben nicht lediglich ein harmonisches, sondern ein durchaus auch konflikthaftes und antagonistisches, zumindest sofern das „autonome mutige Vertrauen zum Vatergott beim Kampf ums Heil" und die „Vielseitigkeit des modernen Kulturinteresses" in ihrer jeweiligen Eigendynamik wirklich ausgehalten werden und über „klaffende Widersprüche" in den äußeren Formen hinweg das Wagnis einer Anverwandlung an die Gesinnung Jesu gesucht und eingegangen wird.164 „So hat denn durch die ganze Geschichte der christlichen Lehre hindurch eine naive, zumeist unbewußte Anbequemung stattgefunden an die biblische Urgestalt, sei es, daß man diese nach der eignen Seite hin bog, sei es, daß man die eigne mehr oder weniger fortgeschrittene Auffassung in die alten Formen und Ausdrücke hineinzwängte. [...] - Wir heutigen gestehen uns offen die Differenz zwischen den zeitgeschichtlich bedingten Anschauungen und Denkformen des Urchristentums und zwischen der ebenso notwendig zeitgeschichtlich bedingten, fortentwickelten Denk- und Anschauungs- und Geschmacksart unsres neuzeitlichen Christentums ein und beschränken die bleibende Kontinuität auf eine Fortwirkung des Geistes und der Gesinnung, auf eine wesentliche Identität der eigentümlichen religiösen Grunderfahrungen und sittlichen Grunderlebnisse."165 Doch auch wenn der Ansatz dieser jüngeren modernen Theologie zunächst auf dem Feld akademischer historischer Forschung erwachsen war und dort sein Recht gegen eine systematisch-theologische Verzeichnung biblisch-reformatorischer Uberzeugungen behauptet hatte, so hatte er sich doch nie als unabhängig von der gesellschaftlichen Wirklichkeit verstanden, sondern drängte bald auch schon zur Umgestaltung der Praktischen Theologie sowie der pastoralen Gemeindepraxis, um eine entschlossene historisch-kritische Wirklichkeitsorientierung bis in die kirchliche Gegenwart hinein fortzuschreiben: „Wir wollen nicht unterlassen, die geschichtliche Auffassimg kirchlichen Lebens auch darin zu bewähren, dass unsere Gegenwart als eine neueste Phase der Geschichte, auch als Geschichte beachtet wird und zu ihrem Rechte kommt. Man wird dies ungeschichtlichen Subjektivismus schelten; wir glauben, dass nur der einen vollen Geschichtssinn hat, der auch seine eigene Welt als eine für sich lebende Epoche erfasst, statt sie mit der Last geschichtlicher Reminiscenzen und Rechtfertigungen zu beschweren."166 Religionsgeschichdiches Forschungsinteresse und praktisch-theologische Gegenwartsorientierung koinzidieren somit in der Frage „Wie wird Reli-
1 6 3 F. M. Schiele, Der Unterricht in der christlichen Religion im Geiste der modernen Theologie; in: ChW 17 (1903), Sp. 393. 1 6 4 Vgl. ebd. 1 6 5 O. Baumgarten, Art. „Akkommodation", Sp. 312f. 1 6 6 O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 1 (1901), S. 287.
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gion praktisch lebendig?"167 Mit der engagierten Würdigung des spezifischen, oft abständigen und fremdartigen Profils der biblischen Schriftsteller oder auch Martin Luthers sollte umgekehrt zugleich das unverbrüchliche Eigenrecht der Jetztzeit in Geltung gesetzt werden, wenn anders nicht beiden Seiten ihre eigentliche Spitze abgebrochen werden sollte und sie so um ihre jeweils unverwechselbare Dynamik gebracht würden: Baumgarten ging es um „historische Treue gegen die Schrift und evangelische Freiheit für das Leben der Gegenwart."168 Dafür war eine substantielle Fortschreibung des biblisch-reformatorischen Prinzips der Freiheit notwendig, durch welches allein das Eigenrecht aller individuellen und geschichtlichen Entwicklung gewahrt werden konnte - „Ehrenschild" der älteren liberalen Theologie ist deshalb ihre „unbedingte Aufrichtigkeit gegen die eigene, moderne Uberzeugung, die es verschmäht, sich durch die umgedeuteten Ausdrucksweisen jener klassischen Perioden als genuine Fortbildung ihrer Theologie zu legitimieren [,..]."169 Recht verstanden schließt sich somit Baumgartens Auslegung des evangelischen Freiheitsprinzips wesentlich enger an Luthers reformatorische Grundeinsichten an als das „positive" Bemühen um Bewahrung einzelner konfessioneller Besitzstände: „Luther hat doch selbst gesagt, daß er betonen wolle, was gerade dermalen notthue auszustreichen. Nun denn, heute thut Anderes not! Darum bedienen wir uns der Freiheit, zu der uns Luther befreit hat! Jede Zeit muß sich die Schriftwahrheit übersetzen in ihre Denkart und zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse."170 Deshalb wurden schließlich im Selbstverständnis der modernen Theologie „die unwillkürlichen Zusammenbiegungen der reformatorischen und urchristlichen wie der modernen Gedankenlinien wieder aufgegeben und an Stelle unklarer Vermittlungen mutige Unterscheidungen gesetzt"171: „Wir rücken die Heiligtümer des Glaubens: Jesus und ebenso Paulus, Luther und die Reformation zunächst in solche Ferne und betonen [...] die Distanz unserer Anschauungen von denen jener Zeiten, um gesichert zu sein vor dem Wunsch der Uebereinstimmung als Vater des Gedankens, so daß die Hörer alle direkte, unmittelbare persönliche Fühlung mit ihnen verlieren."172 Erst im Durchgang durch diese Abständigkeit sollen dann alle geschichtlichen „Spezialisierungen" wiederum „zu bloßen Erscheinungs-
1 6 7 W. Bousset, Die Bedeutung der Person Jesu für den Glauben, Berlin 2 1910, S. 13 zitiert nach: W. Steck, Konstitutionsprobleme der Praktischen Theologie, S. 173. 16i* O. Baumgarten, Ueber praktische Auslegung, S. 311. 1 6 9 O. Baumgarten, Vorwort zur dritten Auflage; in: R. A. Lipsius, hehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, Braunschweig ^1893, S. X. 1 7 0 O. Baumgarten, Über die Behandlung des Katechismus; in: Schlesmg-Holsteinisches Kirchenblatt 2 (1901), H. 22, S. 1. 1 7 1 O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 1 (1901), S. 214f. 1 7 2 O. Baumgarten, Die persönlichen Erfordernisse des geistlichen Berufs, S. 15.
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formen des einen christlichen Prinzips" verdichtet und für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden.173 Denn: „Wir bedürfen eines ungehemmten, von der Last der Geschichte ungedrückten Auslebens der Glaubenserfahrungen, die wir auf dem Grunde der Zugehörigkeit zu Christo selber machen." 174 Die sklavisch-ängstliche Treue gegenüber der Überlieferung, hinter der sich oft nur doktrinäre Herrschaftsansprüche verbergen, soll der „evangelischen Freiheit" weichen, welche nicht zuletzt den Spielraum für ein seelsorgerliches Eingehen auf die konkrete Lebensgeschichte eines anderen Menschen erst eröffnet. Selbst in konservativer Perspektive mußte deshalb zugegeben werden, daß die moderne Theologie dem Typus des modernen Menschen „höchst kongenial" ist: „Die meisten Erfolge hat die moderne Theologie bei den Aesthetikern. Diese suchen und finden bei ihr eine schöne, ausgeglichene, sympathische Religion, die ihnen erlaubt, mitten in der Welt stehen zu bleiben und als echte Weltkinder an allen Genüssen und Freuden teilzunehmen und doch zur christlichen Kirche eine warme Stellung zu behalten. Die moderne Theologie wird hier wirklich Vermittlungsreligion."175 Zu einer respektvollen und empathischen Haltung hat Baumgarten selber sich stets auch gegenüber Vertretern konfessioneller Rechtgläubigkeit bereitgefunden, sie aber umgekehrt von diesen genauso gegenüber dem „modernen Menschen in seiner akademischen Ausgabe"176 oder den Arbeitern in ihrem Kampf um Existenzsicherung und gerechten sozialen Ausgleich gefordert. Freilich ließ er nie einen Zweifel daran, daß er seinerseits die größere solidarische Pflicht gegenüber dem Schicksal der in ihrem Streben nach Autonomie unwiederbringlich modernen Menschen empfand - für Baumgarten war es selbstverständlich, „daß die heutige Menschheit, der Gebildete wie der Proletarier, im Gefühl ihrer ganz neuen Würde, ihrer eigentümlichen Aufgaben auf Grund ganz neuer Naturbeherrschung und Welterfassung, also ihrer Eigenständigkeit", jeder „Unterordnung unter und Einlebung in die Vergangenheit passiven Widerstand" oder gar kritischen Einspruch entgegensetzt.177 Die Antagonismen in diesem jeweils mit subjektivem Recht geführten „Kampf um
1 7 3 Ebd.; vgl. F. Rittelmeyer, Art. „Person Christi und christliches Prinzip"; in: RGG1 Bd. IV, Sp. 1388-1390, E. Troeltsch, Art. „Prinzip, religiöses"; in: a. a. O., Sp. 1842-1846. 1 7 4 O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 1 (1901), S. 287. 1 7 5 G. Füllkrug, Das praktische Ziel der modernen Theologie; in: Die Reformation 6 (1907), S. 293f. 1 7 6 F. Niebergall, Zwei moderne Prediger; in: MKP 4 (1904), S. 336. 1 7 7 O. Baumgarten, Art. „Christentum. Seine Lage in der Gegenwart", Sp. 1685.
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die Weltanschauung"178 (Richard Wimmer) müssen aus der Plausibilitätsstruktur des individuell Verpflichtenden sowie aus dem bedingenden sozialkulturellen Zusammenhang heraus verstanden werden, um eine polemische Verurteilung alles Modernen oder eine scheinbar fromme Selbstrechtfertigung angesichts der fortschreitenden Säkularisierungstendenzen zu unterlaufen: „Die Entwicklung des Protestantismus geht durch tragische Konflikte hindurch, die nicht durch Schuld des alten oder neuen Glaubens heraufbeschworen sind."179 Intellektuelle Redlichkeit - von Baumgarten in Anschluß an Friedrich Albert Lange als „Sittlichkeit des Denkens"180 apostrophiert - und der Druck ökonomischer Existenzsicherung galten ihm unter den Bedingungen von Modernität als legitime Grenzen traditioneller Frömmigkeit. Deshalb betont er hinsichtlich weltanschaulicher Abweichungen von der Norm des evangelischen Glaubensbekenntnisses, wie sie nunmehr immer häufiger in Gemeinden zu finden sind, die pastorale Aufgabe einer adäquaten „Diagnose des Irrtums": „Dazu gehört psychologische Bildung, um die Genesis des Zweifels aus psychischen Zuständen zu erkennen, historische Bildung, um die Geschichte und den Zusammenhang des Irrtums mit allgemeinen Bewegungen zu erkennen, theologische Bildung, um die Tragweite des Irrtums zu erkennen, um nicht den Irrtum des Individuums zu isolieren."181 Die Unhintergehbarkeit der individuellen und geschichtlichen Entwicklung verpflichtet zum Zugeständnis eines zumindest relativen Rechts jeder religiös-sittlichen Weltanschauung, sofern der einzelne innerlich an sie gebunden ist und sie sich lebensweltlich als prägend und nachvollziehbar erweist. Es ist folglich Baumgartens „methodisches Prinzip", die faktische Ausdifferenzierung des Christentums nicht als einen defizitären Modus entwerten zu wollen, sondern sich um ein jeweils „subjektives Verständnis" der religiösen Pluralisierung zu bemühen: 182 „Wie in der Jüngerschaft des Herrn, so findet sich in der gegenwärtigen Gemeinde eine Fülle von individuellen Typen, die zur Befriedigung ihrer individuellen Bedürfnisse einer gewissen Strahlenbrechung der göttlichen Sonne, einer bestimmten Darbietung des Heilswillens und Heilsweges bedürfen, und ich habe oft beobachtet, dass die Einen zu ihrer Förderung unreflektirt mehr zu Paulus, die Anderen mehr zu Synoptikern, die dritten nur zu Johannes griffen, 1 7 8 Vgl. O. Baumgarten, Im Kampf um die Weltanschauung; in: ChW 2 (1888), S. 58f.; ders., Art. „Wimmer, Richard (1836-1905)"; in: RGG 1 Bd. V, Sp. 2077f. 1 7 9 O. Baumgarten, Neuer und alter Glaube; in: ChW 12 (1898), Sp. 799; vgl. ders., Kirchliche Chronik; in: MKP 5 (1905), S. 509. 1 8 0 O. Baumgarten, Die Osterthatsache und unsere Osterpredigt; in: MKP 1 i, S. 124. O. Baumgarten, Beiträge zu einer psychologischen Seelsorge (I), S. 468.
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O. Baumgarten, Predigt-Probleme, S. 129f. 251
je nachdem ihr religiöses Erleben mehr dramatisch oder episch oder lyrisch verlief."183 Umgekehrt findet dieses Recht der je individuellen Ausformung persönlicher Frömmigkeit seine normative Schranke in der für die christliche Glaubensüberzeugung konstitutiven Wirklichkeitsverankerung — diese liegt der je subjektiven Brechung des Christentums sachlich zugrunde und bildet ein kritisches Korrektiv falscher Beliebigkeit. Die persönliche Uberzeugung muß diskursiv ausweisbar bleiben und sich der Plausibilität gemeinsam geteilter Wirklichkeitserfahrung stellen - denn „der christliche Begriff von Wahrheit schliesst objektive Wirklichkeit, reelles Sein, christliche Wahrheitsliebe, Wirklichkeitssinn, Reellität, Realismus in sich." 184 Die kritische Tendenz der von Baumgarten hier wortreich und vehement eingeholten „Realität" zielt gegen eine Verflüchtigung des Christentums zu einer bloß rhetorischen Größe. Gegenüber seiner partikularistischen Aufsplitterung in religiöse Sonderwirklichkeiten oder einer allzu einverständig hingenommenen Säkularisierung und gesellschaftlichen Sedimentierung ist die konkrete geschichdiche Manifestation des Christentums in Bekenntnisbildung und Glaubensgemeinschaft immer wieder neu in Geltung zu setzen und zu entfalten. Begrifflich hält Baumgarten deshalb — gewissermaßen zur semantischen Unterscheidung von Subjektivierung und Individualisierung - fest: „Protestantismus ist nicht gleich Subjektivismus, wenigstens nicht bloss." 185 Die objektive Sicherheit des christlichen Glaubens fundiert das Feld des subjektiv Wahrhaftigen, die persönliche Glaubensgewißheit ruht auf der geschichdich verbürgten Überlieferung der christlichen Heilszuversicht: „Nicht wir sollen durch lumen internum und auf ganz freien Wegen subjektiver Erkenntnis das Heilsgut produzieren, sondern das Heil hält uns, überwältigt uns, assimiliert uns sich." Die dafür nötige „Autorität aber giebt nur die Tradition, die Übertragung, nicht die Subjektivität." 186 In diesem Sinne ist Jesus als das Urbild der Individualisierung anzusehen; seiner Gestalt darf sich nicht instrumentalisierend - auch nicht in frommer Geste - bemächtigt werden: „Jesus selbst bleibt eine Individualität, und diese Individualität will ebenso gewahrt bleiben wie die unsere. Sie ist auch nicht als solche unser Richtpunkt, sondern — der Reflex, die Transparenz Gottes in ihr. Sie kann niemals das Schema abgeben für eine Individualität, die im 20. Jahrhundert
1 8 3 O. Baumgarten, Ueber praktische Auslegung, S. 308; breiter ausgeführt in ders, Preägt-Problem, S. 76f. 1 8 4 O. Baumgarten, Grundzüge einer psychologischen Seelsorge am sündigen Menschen, S. 7. 1 8 5 O. Baumgarten, Der protestantische Lehrprozess, S. 58. 1 8 6 A. a. O., S. 60; vgl. S. 58.
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in der Ausgestaltung begriffen ist. Nicht nachbilden, sondern umindividualisieren heißt unser Weg." 187 Mit ihrem zweipoligen Ansatz zur Fundierung chrisdicher Glaubenspraxis zielt die moderne Theologie im Sinne Baumgartens auf eine kritisch-reflexive Vermittlung der Normativität des Ursprungs sowie der Normativität der Gegenwart — „gleich weit entfernt von Knechtung der Gegenwart unter die anders orientierte Theologie des Urchristentums und der Reformationszeit wie von amerikanischer Überschätzung des bloß Modernen als Maßstabes aller Werte." 188 Der vehementen Verweigerung gegenüber einer „Knechtung unter das Urchristentum" im Namen konfessioneller Rechtgläubigkeit steht dabei die ebenso entschlossene Zurückweisung jeder liberalprotestantischen Vereinnahmung der neutestamentlichen Christusbotschaft gegenüber: die Einsicht in die historische Kontingenz des Christusgeschehens sowie die Eröffnung christologisch begründeter Freiheit zum eigenen Leben entsprechen einander. Insofern nimmt die jüngere moderne Theologie mit ihrer konsequent historischen Perspektive und ihrem Ziel der reflexiven Vermitdung von Geschichte und Gegenwart vielleicht mehr von den ursprünglichen Einsichten und Intentionen der Reformatoren auf, als die vermeintlichen „Gralshüter" in den verschiedenen konfessionellen Lagern wahrhaben wollen. 189 Auf jeden Fall aber konnte sie mit ihrem theologischen Ansatz, der gleichsam auf den gemeinsamen Skopus von Tradition und Situation zielt, sich offensiver und engagierter den reformerischen Herausforderungen der sozialkulturellen Modernisierungsprozesse stellen als eine restaurativ um konfessionell-christliche Bestandssicherung bemühte Gemeindeorthodoxie, die sich zunehmend lediglich reaktiv um den Erhalt der kirchlichkonfessionellen Einheit zu sorgen begann.190 Gleichwohl stand in konservativer Perspektive das Zersetzende und Defizitäre der modernen Theologie weithin im Vordergrund - beispielhaft mag diese Frontstellung an Baumgartens fast bekenntnishaftem Text Moderne Ideale deutlich werden. In dieser „Skizze" hatte er zunächst die geschichtliche Unabgeschlossenheit des chrisdichen Glaubens zum Ausdruck gebracht:
A. Zillessen, Vom Umindividualisieren der Individualität; in: EvFr 13 (1913), S. 436.; vgl. S. 437: „Weder verzerren und verfälschen wir Jesu Individualität nach unsern Wünschen und Nötigungen, noch ahmen wir sie gesetzlich übertragend nach." 1 8 8 O. Baumgarten, Art. „Praktische Theologie", Sp. 1725. 189 Vgl dazu l . Glasen, Macht die moderne Theologie religiös ärmer?; in: DEBl 32 (1907), S. 1-27, bes. S. 9. 190 Vgl. W. Caspari, Die geschichtliche Grundlage des gegenwärtigen Evangeäschen Gemeindelebens, S. 301f.; O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 5 (1905), S. 42-52; ders./A. Eichhorn, Art. „Gemeindeorthodoxie"; in: RGG1 Bd. II, Sp. 1253-1257. 187
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„Christentum, Religion überhaupt, ist nicht rein persönlicher, unmittelbarer Verkehr der Seele mit Gott, sondern schließt notwendig Welt- und Selbstbeurteilung unter der Idee Gottes ein, ist also bedingt durch das Welt- und Selbstleben, das sich fortgehend entwickelt. Wandelt sich das Weltbild, verändert sich die Selbsterfassung, das psychologische Vermögen der Welt- und Selbstbeherrschung, so werden neue Momente des Lebens in das Verhältnis zu Gott, in den Verkehr mit Gott hineingezogen; neue Interessen und Fragen werden zu Gewissensanliegen, damit zu Faktoren unserer religiösen Lebensanschauung."191 Doch wenngleich Baumgarten zur Korrektur von besorgten Mißdeutungen seiner emphatischen Sätze in der Folge nachdrücklich auf den „festen Grund" seiner eigenen Bekenntnisgebundenheit hingewiesen hat, dürfte er gleichwohl die rechtgläubigen Vorbehalte ihm und seiner Theologie gegenüber damit nicht wirklich ausgeräumt haben. Konservative Stimmen haben, neben einzelnen diffamierenden Abqualifizierungen 192 , deshalb vielfach nur die Hoffnung hegen können, daß unter dem Druck der konkreten pastoralen Praxis - etwa als Prediger an hohen kirchlichen Festtagen oder als Seelsorger an Kranken- und Sterbebetten - die Vertreter der modernen Theologie schon notgedrungen auf den sicheren Boden der „positiven" Uberlieferung sich zurückbegeben werden, sofern sie nicht blind an dem tatsächlichen gemeindlichen Erwartungshorizont scheitern wollten. So heißt es etwa in einer anonym verfaßten Rezension des ersten Jahrgangs der Monatsschrift für die kirchliche Praxis, „daß es dem modernen Theologen zwar noch ein Leichtes ist, in schwungvollen Worten und mit dem ganzen Aufgebot seiner reichen Terminologie festzustellen, was von den Festthatsachen homiletisch verwendbar ist, daß sich aber im Ernstfall dann doch der klaffende Widerspruch zwischen dem, was er als Prediger der Gemeinde nur geben darf, und dem, was sie von ihm erwartet, lähmend auf ihn legt und ihn entweder zum nüchternsten Moralisiren oder zu phantastischen Abirrungen auf die entlegensten Gebiete verleitet."193 - Für beides findet der Schreiber sodenn auch 1 9 1 O. Baumgarten, Moderne Ideale; in: Schlesudg-Holsteinisches Kinhenblatt 1 (1900), H. 2, S. 1; vgl. ders., Der feste Grund unseres geschichtlichen Christentums; in: a. a. O., H. 7, S. 3, wo Baumgarten zur Klärung seiner ,,kühne[n] Antithesen" herausstreicht, „daß er, wenn er auch von Modernisierung des christlichen Bildungsideals redet, darum doch nicht daran denken kann, das Christentum in seinem Wesen dem Wechsel der Zeiten zu unterwerfen." Dazu ders., Entstehungsgeschichte einer Predigt; in: MKP 1 (1901), S. 21-28. 1 9 2 Vgl. W. Caspari, Die geschichtüche Grundlage des gegenwärtigen Evangelischen Gemeindelebens, S. 310, der von „vereinzelten, geradezu ekelhaften Exzessen modern-protestantischer Kanzelberedsamkeit" spricht. 1 9 3 Anonym, Ein modernes Vademecum für das geistliche Amt; in: AELKZ 35 (1902), Sp. 579. Dagegen vgl. A. Ziegeler, Was verdanken wir der modernen Theolo-
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beredte Beispiele, doch verkannten solche Stimmen, wie wenig die vermeintlichen „modernen Feinde" des überlieferten Glaubens doktrinär antitraditionalistisch eingestellt waren: ihnen ging es vielmehr um situative Einfühlung und homiletische Wahrhaftigkeit - und gerade nicht um kritisch-destruktive Prinzipientreue oder rücksichtslose Selbstdurchsetzung, wie man exemplarisch an den homiletischen Überlegungen Baumgartens zu den großen kirchlichen Jahresfesten aufzeigen kann.194 Gegenüber den Befürchtungen der Orthodoxen stellte er deshalb zurecht: „Uebrigens glaube ich gar nicht daran, dass die moderne Theologie notwendig die religiöse Gewissheit der 'kleinen Leute' zerstören muss. Die moderne Theologie ist nämlich nicht blos eine kritische, [sondern] auch eine sehr positive Grösser, sie hat ihre ganze Force in der Simplifizierung der Glaubens- und Sittenlehre, in der Beseitigung von Vor- und Seitenbauten, die den Blick auf das Hauptgebäude verschränken."195 Angesichts der herrschenden religiös-kirchlichen Dissoziationen formulierte Baumgarten folglich positiv als die zentrale praktisch-theologische Herausforderung der zeitgenössischen Predigt: „Sie muß sich elastisch ausstrecken und entgegenstrecken den vielen Bedürfnissen der modernen Kultur und doch im Grunde immer konzentrisch bleiben in der einfältigen Richtung auf Christus und durch ihn auf Gott: 'Du, den ich tief im Herzen trage.'"196 Unter der Maxime „Live it down" hat auch Baumgarten immer wieder „vor allem unhistorischen, liberalistischen oder sozialistischen Zumuten der eigenen Aufklärung" gewarnt: 197 Modern-theologische Programmatik sollte ihren ersten Ort nicht in der Gemeinde („Man wird da kein Bedürfnis verspüren, seine Sonderauffassungen und Zweifel an die grosse Glocke zu schlagen" 198 ), sondern vielmehr im konzeptionellen Diskurs um die Strategien einer praktisch-theologischen Handlungsorientierung haben. Denn die praktische Arbeit des Geisdichen verlangte vor allem, mit der Gemeinde und den in ihr vorherrschenden Glaubensüberzeugungen zu leben. Dazu Baumgarten: „Betonen wir 'sorgenvollen' Altgläubigen in unserer Gemeinde gegenüber nie unser Nichtglauben an Wunder, Jungfrauengeburt, Auferstehung am dritten Tage! wir gelten sonst für
gie?; in: Kirchäche Gegenwart 1 (1902), Sp. 327-330, 343-347, 359-364, 375-377, 390392. 1 9 4 Vgl. O. Baumgarten, Leitfaden der Homiletik, Kiel 1899, S. 32ff.; ders., Der Todesgedanke Jesu, eine Vorarbeit für unsere Passionspredigten; in: MKP 1 (1901), S. 80-89; ders., Die Osterthatsache und unsere Osterpredigt; in: a. a. O., S. 123—127 u. a. m. 1 9 5 O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 2 (1902), S. 447. 196
O. Baumgarten, Die persönächen Erfordernisse des geistlichen Berufs, S. 54.
O. Baumgarten, Protestantische Seelsorge, S. 112; ders., Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens" in der praktischen Theologie, S. 63 (im Original hervorgehoben). Dazu vgl. P. Gastrow, Die Praxis des Amtes und der Kriticismus; in: MKP 2 (1902), bes. S. 242. 1 9 8 O. Baumgarten, Der protestantische Lehrprozess, S. 73; vgl. S. 72. 197
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blosse Verstandesmenschen und Pietädose, und unser Einfluss ist a limine vernichtet durch mangelndes Vertrauen zu unserem Gehorsam Christi. Zeigen wir vielmehr stillschweigend unser Positives, den Kern, das Gemeinsame, und lassen wir auf Grund dieses [...] Gemeinbesitzes das bloss Traditionelle, Enge, Aengstliche allmählich von selbst in seiner Bedeutung für die Gemeinde zurücktreten, endlich sterben, leben wir's, wie der Engländer sagt, nieder!"199 Demgegenüber werde — Baumgartens Auffassung zufolge — im Gefolge der anstehenden theologischen Lehrstreitigkeiten der Bestand der geistlichen Gemeinschaft letztlich gerade gefestigt, da mit dem Streit zugleich produktive „gemeinschaftliche Kräfte in Bewegung gesetzt werden, um die Lehre weiter auszudehnen auf Grund der Schriftauslegung." 200 Auch wenn Baumgarten mit dieser Auffassung langfristig sicherlich im Recht sein sollte, so hat er doch mit seinem kritischen kirchenpolitischen Engagement sowie mit seiner „Vorliebe für starke Worte" 201 zunächst häufig nur Widerspruch und Unverständnis provoziert - gerade seine mutige Konfliktbereitschaft gegenüber einem theologisch verbrämten Traditionalismus war es ja, die ihn im Raum der Öffentlichkeit zu einer durchaus umstrittenen Figur hat werden lassen. Entsprechend kritisiert der eingangs erwähnte August Wilhelm Hardeland denn auch an Baumgartens pastoraltheologischem Leitbild gerade dessen vermeintlich absichtsvolle Konfliktorientierung: „Leider muss ich bekennen, dass mir der reine Genuss der mancherlei guten Worte stark getrübt ist durch das mehrfach mit Emphase hervortretende Betonen des Satzes, der theologische Lehrer müsse notwendig seinen Hörern Aergernis geben. [...] Aufgabe eines Lehrers des theologischen Nachwuchses kann es nicht sein, Konflikte absichtlich herbeizuführen; er hat vielmehr den Beruf, Berater in solchen Konflikten zu sein und dahin zu helfen, dass sie nicht Formen annehmen, in denen sie für den geistlichen Beruf untüchtig machen könnten."202 Insofern sollte sich die von Ernst Troeltsch zunächst geäußerte, eher beschwichtigende Einschätzung nicht bewahrheiten, nach welcher die modernen theologischen Bestrebungen der sog. jüngeren Generation sich einer vornehmlich akademischen Emanzipationsbewegung verdankten: „Daher bewegt sich der Streit auch nur um ganz allgemeine, rein wissenschaftliche Fragen, die für die praktische Unterweisung der zukünftigen Geisdichen nicht von unmittelbarer Bedeutung sind. Es handelt sich nur 1 9 9 O. Baumgarten, Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens" in der praktischen Theologie, S. 64. 2 0 0 O. Baumgarten, Der protestantische Lehrprozess, S. 64. 2 0 1 A. Hardeland, Rez. „O. Baumgarten, Die persönlichen Erfordernisse des geistlichen Berufs"; in: ThLBllX (1910), Sp. 88. 2 0 2 A. a. O., Sp. 89.
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um eine prinzipielle Auseinandersetzung mit der Historisirung der Theologie, mit dem Geist der psychologischen Analyse und des entwicklungsgeschichtlichen Relativismus, aus dem diese hervorgegangen ist." 203 Eine frühzeitige und sichtlich differenzierte Würdigung gerade der Praxisfähigkeit dieser jungen, ursprünglich aus dem näheren oder weiteren Umkreis Albrecht Ritschis hervorgegangenen Theologen findet sich dagegen bei Paul Kleinert' der - einig in dem praktisch-theologischen Einsatz bei der jeweils konkreten Gemeindewirklichkeit, dazu mit sicherem Gespür für das eigentümlich Neue dieser noch jungen Richtung - über trennende schultheologische Differenzen hinweg herausstreicht: „Der intensive Nachdruck, den die neue Theologie auf den Begriff der Offenbarung legt und die Verknüpfung desselben mit der heiligen Schrift, die Energie, mit welcher sie der von ihr geforderten Frömmigkeit ein christozentrisches Gepräge aufdrückt, der gut evangelische Accent, den sie im Glaubensbegriff auf das Moment des Vertrauens legt: da überall ist ein gemeinsamer Boden, dessen Raum man nicht von vornherein mit den Schanzpfählen des subjektiven Urteils verstellen darf, daß ja aber das alles ganz anders gemeint sei, als wirs anzusehn gewohnt sind. Dazu besitzt die neue Theologie in ihrem gern hervorgehobenen 'empirischen' Charakter eine beträchtliche Fähigkeit der Akkommodation an gegebene Thatbestände."204 Die bleibende Objektivität des Heilsgeschehens betonend, fugt er sodann jedoch mahnend hinzu: „Darauf fußend wird die Gemeinde und um der Gemeinde willen die pastorale Praxis von jeder neuen Theologie verlangen, daß sie ihr statt Krücken den Stab biete: eine Versöhnungslehre, welche Erkenntnis und Haß der Sünde nicht erschlafft, sondern schärft, und die durch den Tod Christi geschehene Tilgung der Schuld mit neuem Licht der Tröstung und neuen Impulsen der Heiligung den heilsuchenden Gewissen übergebe."205 Zweifellos hat Kleinert mit der Betonung des gemeinsamen Bodens zwischen Altgläubigen und Modernen einen thematischen Aspekt angeschnitten, der nicht nur strategische Fragen der theologiepolitischen Binnendifferenzierung berührte, sondern im weiteren auch die Modernität der „modernen Theologie" selbst betroffen hat. Denn wenn auch Baumgartens Differenz zu positiver bzw. konfessioneller Rechtgläubigkeit immer wieder als die dominierende Frontstellung in den Vordergrund getreten ist, so gab es im Hintergrund doch auch 'Stimmen von links', die persönlich durchaus in freundschaftlicher Verbundenheit — die theologischen Uberzeugungen Baumgartens nicht mit rechtgläubiger, sondern mit moderner Skepsis betrachteten. So urteilte etwa der Baumgarten aus seiner Jenaer Zeit persönlich bekannte Herbartianische Pädagoge Wilhelm Rein 203 204 205
E. Troeltsch, Zur theologischen Lage; in: ChW 12 (1898), Sp. 629. P. Kleinert, Die neue Theologie und die pastorale Praxis, S. 4. A. a. O., S. 18. 257
(1847-1929) in seiner Rezension der Neuen Bahnen: „Das Buch ist für den Verfasser höchst charakteristisch. In seiner Brust wohnen zwei Seelen: eine moderne und eine mittelalterliche." 206 Insbesondere Baumgartens Festhalten an dem für die chrisdiche Existenz konstitutiven Sünden- und Gnadenbewußtsein schien Rein ein der neuzeidichen Anthropologie sowie der modernen Lebenserfahrung fremdes Relikt, das sich nicht mehr authentisch mit echter Zeitgenossenschaft vermitteln ließe. Die Rede vom „Bruch mit sich selbst", von „Sündengefühl" und „Schuldbewußtsein" 207 als den tiefsten und eigendichsten sowie erst die Fröhlichkeit des Evangeliums eröffnenden Wahrheiten fand ihre zeitgenössische hermeneutische Grenze ebenso an weltanschaulichem Optimismus wie an religiöser Indifferenz - sie war offenbar nicht dem vorbehaltlosen Eingehen in die Gegenwart abgerungen, sondern stand gleich einem erratischen Block quer zu dem volkskirchlichen, „durchschnittlichen" religiös-sittlichen Bewußtsein. Für F. M. Schiele befand sich Baumgarten deshalb mit seiner Überzeugung in direkter Kongruenz zu der „herkömmlichen orthodox-pietistischen Lehre": „Hier vermag ihm nur zu folgen, wer dieser Lehre anhängt." 208 Theologische Zeitgenossenschaft müsse Schieies Auffassung nach auch in diesem wichtigen Punkt fortgeschrieben werden, um der religiösen Gegenwart ihr volles Recht zukommen zu lassen. Von anderer Seite hatte auch R. H. Grützmacher den sogenannten „modernen Theologen" nicht nur ihre mangelnde positive Gläubigkeit, sondern zugleich auch ihr antiquiertes Bild von Modernität vorwerfen wollen: „Wie der Ritschlianismus die Ideen Kants energisch auf die Theologie angewandt hat, so sind die Religionsgeschichtler zu den spekulativen Philosophen [...], vor allen Dingen zu Herder und Hegel zurückgekehrt und haben diese nur leise modern aufgefrischt." 209 Doch weder Goethe noch etwa Herder seien die wirklichen Speerspitzen moderner Weltanschauung - nur von „dem Standort des kleinen deutschen Professors [aus], der da meint, was er oder die Kollegen denken, das denke auch die ganze Welt", könne man zu einer solchen Auffassung gelangen. 210 Die wahrhafte Signatur der Moderne, wie sie sich bei den Massen der Bevölkerung spiegelt, beschrieben vielmehr Autoren wie Nietzsche, Tolstoi und Ibsen; die populäre moderne Stimmung sei gezeichnet von
206 Vom Büchertisch. Monatsbeilage zu den Deutschen'blätternfür ergehenden Unterricht, Nr. 6, Juni 1903, S. 25 - zitiert nach H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 405 (A.
20). 207
O. Baumgarten, Neue Bahnen, S. 110. 208 p m. Schiele, Der Unterricht in der christlichen Religion im Geiste der modernen Theologie, Sp. 394. 209 R. H. Grützmacher, Modern-positive Vorträge, Leipzig 1906, S. 9. 210 R. H. Grützmacher, Die Forderung einer modernen positiven Theologie; in: ders., Studien %ur systematischen Theologe II, Leipzig 1905, S. 76. 258
Zerrüttung, matter Verzweiflung und sozialistischem Pessimismus.211 Die allenthalben aufkommenden, zumeist nur vage formulierten Erlösungssehnsüchte schienen gleichfalls jenseits des klassischen oder idealistischen Weltbildes zu liegen: „Wer die Mysterien des Mithras oder der Mater magna wieder erneuern wollte, würde weit mehr Zulauf finden, als ein Begründer ethischer Gesellschaften."212 Wenn auch Grützmacher mit seiner Version einer modern-positiven Theologie, die „vom Modernen" jeweils nur soviel annehmen wollte, wie mit dem „alten Evangelium" vereinbar war, 213 selber allzu offensichtlich hinter die Konstruktionsprinzipien der Moderne zurückzufallen drohte, so beinhaltete doch seine Kritik an der landläufigen modernen Theologie ein gewisses Wahrheitsmoment: in der Frage nämlich, inwieweit bei aller emphatischen Modernität des freien Protestantismus diesen letzlich doch eine bildungsbürgerlich verengte Perspektive leitete, die seine Analyse des zeitgenössischen weltanschaulichen Klimas unzureichend und kraftlos bleiben lassen mußte. Entsprechend räumte F. Rittelmeyer selbstkritisch ein: „wir empfinden noch viel zu wenig die wirklich lebendigen Probleme und meinen, was uns als Theologen wichtig und interessant ist, müsse deshalb auch Andern wichtig und interessant sein."214 Auch und gerade die „modernen Theologen" müßten deshalb sich neu der zeitgenössischen Erfahrungswirklichkeit stellen und „wieder Zeit haben für die Menschen, viel Zeit, um uns an ihnen und mit ihnen zu entfalten, und müssen das Zusammensein mit ihnen als metaphysisches Ereignis verstehen lernen."215 Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, wenn der Osnabrücker Pfarrer und spätere Superintendent Ernst Rolffs (1867-1942) über Baumgarten pointiert urteilt: Er „mag ein modemer Theologe sein, - ein 'moderner Mensch' ist er nicht." 216 Denn gerade das, was dem modernen Bewußtsein am alten Glauben am meisten fremd und anstößig erscheine - wie etwa Sündengefühl und Jenseitshoffnung — werde von ihm noch mit allem Ernst festgehalten. „Es ist mir daher fraglich, ob BAUMGARTEN wirklich die Pflicht oder auch nur das Recht hat, sich den Altgläubigen gegenüber mit solcher Energie als Vertreter eines neuen Glaubens hinzustellen, wie er es zu tun pflegt. Dem 'modernen Bewusstsein' gegenüber gehört er jedenfalls auf die Seite der Altgläubigen."217 Inwieweit diese Kritik einer Perspektive entspringt, die Baumgarten 211 212 213 214 215 216
Vgl. a. a. O , S. 77ff. A. a. O., S. 79. Vgl. R. H. Grützmacher, Modern-positive Vorträge, S. 19. F. Rittelmeyer, Was fehlt der modernen Theologie?, Sp. 1036. A. a. O., Sp. 1042 (Hervorhebung vom Verf.). E. Rolffs, Die moderne Theologie in der kirchlichen Praxis; in: ThR 6 (1903),
S. 366. 217
Ebd. 259
gleichsam 'besser als er sich selbst' verstanden hat, muß vielleicht letztlich offenbleiben; daß Baumgarten, der sich selber zuweilen mehrdeutig einen „liberalen Pietisten"218 nannte, für sich persönlich an der spannungsvollen Jenseitigkeit des christlichen Glaubens festgehalten hat, ist jedenfalls ebenso unstrittig wie etwa seine Gegnerschaft gegen eine geschichtslose Freigabe aller Lehr- und Bekenntnisordnung. Daß aber auf der anderen Seite seine Auffassung von Modernität gerade nicht in einem eindimensionalen Raum sozialkultureller Monochromatik aufging, sondern das Widersprüchliche und Ungleichzeitige der zeitgenössischen Gegenwart durchaus miteinschloß, dürfte ihn zumindest in der Retrospektive moderner als manchen „Modernen" der Jahrhundertwende erscheinen lassen, in dessen Verständnis Baumgarten etwa mit seinem Festhalten an der Jenseitsbezogenheit der biblischen Botschaft noch nicht völlig in der Gegenwart angekommen sei. Gegen solche, im letzten Grunde vormodernen Homogenitätsansprüche an das moderne Bewußtsein streicht Baumgarten umgekehrt gerade heraus: „Das ist ja erst wirklich historische Durchbildung, die damit rechnet, dass die verschiedenen Schichten der Kulturgeschichte, über und durch einander geschoben noch mitleben in der Gegenwart."2^ Die Zurechtschneidung der Geschichte aus einer einheitlichen Zentralperspektive diente dagegen vielfach nur der Absicherung und Legitimierung eigener Partikularinteressen und wäre insofern auch ideologiekritisch zu hinterfragen - im Bewußtsem „des Volkes" und seiner urtümlichen „Geschichte von unten" jedoch, so Baumgarten im Anschluß an Herder, haben sich unreglementierte Pluralität und perspektivische Dezentralität ihren eigenwilligen Ort bis in die Gegenwart hinein bewahrt: „Wie Herder immer wieder betont, lebt das Volk niemals in den großen Zusammenhängen, immer nur in Brennpunkten derselben, geniesst nie die Geschichte, nur Geschichte», hat kein Bedürfnis, eine einheitliche, grosse, zusammenhängende Auffassung sich anzueignen, sondern springt gerne von der einen zur anderen Auffassung; die allerdings nötige charaktervolle Einheit liegt mehr in der durchgehenden Gesinnung als in der bewussten Zusammenordnung."220
Vgl. O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 2 (1902), S. 41. O. Baumgarten, Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens" in der praktischen Theologie, S. 62f.; vgl. ders., Ueber die Bedeutung des wissenschaftlichen Betriebs der pädagogischen Kunst; in: ZprTh 21 (1899), S. 160: „Das Interessanteste an der Geschichte der Pädagogik ist zweifellos die Geschichte der 'Bildungsidealer. das ist ein Querschnitt der Kulturgeschichte. Aber sie lehrt nicht reine Fortschrittlichkeit nach dem Refrain: 'wie herrlich weit wir es gebracht!', sondern sie lehrt, dass frühere Bildungstriebe und Schichten sich erhalten mitten unter den neueren." 2 2 0 O. Baumgarten, D. Sulze's Evangelische Gemeinde, S. 350. 218
219
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3.5. Seelsorge unter den Bedingungen von Volkskirche Seelsorge war für Baumgarten sicher mehr als eine praktisch-theologische Spezialdisziplin: In seinem privaten und menschlichen Wirken oft als herausragende „seelsorgerliche Persönlichkeit" charaktersiert, fanden auch Baumgartens praktisch-theologische Schriften - selbst wo sie nicht der Poimenik im engeren Sinn gewidmet waren - gerade in der seelsorgerlichen Perspektive ihre eigentliche Mitte.221 So gilt denn Baumgarten gemeinhin als „der Seelsorger" unter den namhaften modern-theologischen Reformern der Praktischen Theologie - neben Paul Drews und seinem Programm der religiösen Volkskunde, Richard Kabisch und seiner Frage nach der hehrbarkeit der Religion oder Friedrich Niebergall mit seiner emphatischen Proklamation moderner Predigt sowie seiner Forderung nach einer zeitgemäßen Umgestaltung der Konfirmationspraxis. Dabei sind die Publikationen Baumgartens, die sich ausdrücklich mit Fragen der Seelsorgelehre befassen, gar nicht einmal besonders zahlreich: Neben dem Seelsorger unsrer Tage von 1891 sind hier im wesentlichen der Aufsatz über die Grund^üge einer psychologischen Seelsorge am sündigen Menschen von 1896 sowie dessen Fortsetzung aus den Jahren 1906/07 - unter dem Titel Beiträge einer psychologischen Seelsorge — zu nennen. Dazu ist außerdem die pastoraltheologische Vorlesung Die persönlichen Erfordernisse des geistlichen Berufs \on 1910 zu rechnen, da in Baumgartens Perspektive eine Seelsorgelehre nie konzipiert werden kann ohne den Rekurs auf eine „Lehre vom Seelsorger", d. h. auf die persönlichen Bildungsprozesse des Geistlichen.222 Systematisiert hat Baumgarten seinen praktisch-theologischen Ansatz einer Lehre von der Seelsorge schließlich in der ersten Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart — in diesem umfangreichen Lexikonartikel von 1913 bündelt er seine modern-theologischen Grundüberzeugungen sowie sein spezifisch seelsorgerliches Praxisinteresse zu einem komprimierten Gesamtentwurf, welcher eine Bilanz seiner seelsorgetheoretischen Arbeiten der Vorkriegszeit bietet. Wie zuvor C. I. Nitzsch, E. Chr. Achelis oder H. A. Köstlin setzt auch Baumgarten in diesem Artikel zunächst mit einer ausführlichen historischen Rekonstruktion ein, die gut ein Drittel des gesamten Artikels in Anspruch nimmt. Ausgehend von den zentralen neutestamentlichen Belegstellen, die mit ihrer eindringlichen Versöhnungs- und Rettungsbotschaft für die chrisdiche Seelsorge konstitutiv wurden, entwirft Baumgarten hier einen differenzierten Überblick zur Seelsorgegeschichte, wobei für die Entwicklung des 19. Jahrhunderts insbesondere Wicherns Gedanke der Inneren Mission sowie die - vor allem durch Stoecker inaugu2 2 1 Vgl. R. Schmidt, Ist Seelsorge veraltet?; in: ChW 47 (1933). Sp. 212f.; H. v. Bassi, Otto baumgarten, S. 353. 2 2 2 Vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 357.
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rierte - Durchsetzung einer christlich-sozialen Perspektive in der Seelsorge herausgestrichen werden. Eine Besonderheit des von Baumgarten entfalteten historischen Durchgangs ist dabei seine Absicht, nicht bloß vergangene Erscheinungsformen christlicher Seelsorge in ihrer geschichtlichen Einmaligkeit chronologisch nebeneinander stellen zu wollen, sondern diese Formen zugleich als typische Ausprägungen zu begreifen, die bis in die Gegenwart hinein die konfessionelle bzw. theologische Ausdifferenzierung im Seelsorgeverständnis präjudizieren. In dieser Perspektive wird die moderne Welt zu einem Prisma historisch-pluralisierter Seelsorgekonzeptionen, die nunmehr um ihre gegenwärtigen Geltungsansprüche miteinander konkurrieren müssen, wie umgekehrt die geschichtlichen „Haupttypen der christlichen Seelsorge" allesamt jeweils essentielle poimenische Aspekte für sich reklamieren können, die sie nur nicht hätten verabsolutieren dürfen. In einem zweiten, kürzeren Abschnitt dieses Lexikonartikels beschäftigt sich Baumgarten sodann mit dem „Recht der Seelsorge", das er durch eine Reihe moderner gesellschaftlicher Tendenzen infrage gestellt sieht: Neben der politischen Unzeitgemäßheit von Seelsorge in einer Epoche, die zunehmend den mündigen, entscheidungs fähigen Staatsbürger als Subjekt voraussetzt, standen ihm hierbei vor allem „individualistische" und „psychologische" Einwendungen vor Augen:223 Die protestantische Ablehnung aller äußeren Bevormundung einerseits sowie das neue Bewußtsein der sozialen und psychophysischen Determinierungen in der menschlichen Entwicklung andererseits schienen den Radius sowie den Wirkungsbereich christlicher Seelsorge nachhaltig einzuschränken. Wenn er auch die öffentliche Wortverkündigung in Gottesdiensten oder auf Diskussionsveranstaltungen nicht in gleicher Weise diesen Bedenken ausgesetzt sah, so wußte Baumgarten doch solchen kritischen Vorbehalten gegen „Massensuggestion" immerhin die „starke Mahnung zu entnehmen, direkte, absichtliche und als beabsichtigt erkannte Einwirkungen möglichst durch indirekte" zu ersetzen.224 Die spezielle Seelsorge hingegen wird ihre Berechtigung jedenfalls so lange behalten, wie sie nicht ausdrücklich zurückgewiesen wird - weshalb die Pfarrer sich ihrer christlichen Seelsorgepflicht keinesfalls unter Hinweis auf deren Unzeitgemäßheit endedigen dürften, sondern vielmehr den Maßstab der eigenen „pastoralen Tüchtigkeit" gerade in ihrer Inanspruchnahme für seelsorgerliche Beratung und Begleitung sehen sollten.225 Anschließend entfaltet Baumgarten in einem umfangreichen dritten Abschnitt die zentralen Aussagen seiner Seelsorgelehre, indem er die „Hauptgebiete der Seelsorge" zueinander in Beziehung setzt: Insofern ihr 223 224 225
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Vgl. O. Baumgarten, Art. „Seelsorge", Sp. 538f. Vgl. a. a. O., Sp. 540. Vgl. a. a. O., Sp. 541.
Gegenstand nicht lediglich in einzelnen, irgendwie „fehlerhaften" oder zurückgebliebenen Seelen bestehen soll, sondern die gesamte Gemeinde umfaßt, muß es in der Seelsorge grundsätzlich um die Förderung und Vervollkommnung aller Gemeindeglieder gehen. Systematische Kirchenbuchfüihrung, Ernstnehmen der Kasualhandlungen sowie das Angebot von Sprechstunden können dazu eine wichtige Hilfe sein. Darüber hinaus vermag die religiöse Volkskunde zu einer differenzierten Wahrnehmung des individuell Besonderen anzuleiten, wobei sie jedoch zugleich dem Seelsorger seine persönlichen Grenzen aufzeigt: Am Ende ist alle Seelsorge in der Gemeinde immer auf die alltägliche, mitsorgende Unterstützung durch solche Freundschaften und Gemeinschaften angewiesen, „die sich auf der Grundlage natürlicher Zusammengehörigkeit ungesucht bilden" und im gemeinsamen Alltagsleben verankert sind.226 Die Verkündigung des Wortes Gottes, wie sie in Predigt, Unterricht und Einzelunterredung zu geschehen hat, erhält dabei ihren spezifisch seelsorgerlichen Charakter durch eine gewisse vornehme Zurückhaltung, derzufolge sie „nicht ohne Veranlassung die letzten, höchsten Motive in Anspruch nehmen wird, um nicht die Paradoxie des Evangeliums zum Alltagsgeschwätz und formelhaften, selbstverständlichen Gerede herabsinken zu lassen [,..]."227 Zur seelsorgerlichen Erschließung der jeweiligen „Wahrheit der Situation" greift Baumgarten auf die traditionelle, von C. I. Nitzsch geprägte Trias des irrenden, des sündigen sowie des leidenden Menschen zurück, die er anhand der klassischen Fragestellungen einer materialen Poimenik - etwa in Blick auf die Gefängnis- oder die Krankenseelsorge - eingehend entfaltet. Während er gegenüber Zweifel, Unglaube und religiöser Indifferenz ein indirektes, zeugnishaftes Einwirken empfiehlt, betont Baumgarten hinsichtlich der Konfrontation mit dem Menschen als Sünder gerade die Unverfügbarkeit des Evangeliums, welches in seiner Wirkung der Machbarkeit sowie dem Vermögen des Seelsorgers entzogen bleibt: „Der Seelsorger wird aber nie vergessen dürfen, daß nicht seine suchende Liebe und treibende Energie, sondern [...] nur eine objektive, göttliche Macht, welche die Seelen überwältigt, an die sie ihr Selbst verlieren, nur die Gnade, der sie im Glauben gehorsam werden, sie festmachen kann, sich weit öfter erschütternder Lebenserfahrungen als unseres Zeugnisses bedienend."228 Dagegen dürfen Leiden und Krankheit nicht vorschnell im Sinne einer himmlischen Pädagogik auf ihren geistlichen Nutzen hin verrechnet werden; grundlegend erscheint Baumgarten vielmehr eine „natürliche Beurteilung" solcher Kreuzeserfahrungen, gemäß welcher das Leiden zunächsteinmal Anlaß zur Klage und zum Protest 226 227 228
A. a. O., Sp. 543. A. a. O., Sp. 544. A. a. O., Sp. 548. 263
gibt. 229 Diese Perspektive läßt Baumgarten zugleich das unbedingte Recht auf Ausschöpfung aller medizinischen Heilungsmöglichkeiten herausstreichen, welchen der Seelsorger keinesfalls - auch nicht im Bereich von Psychotherapie und Psychiatrie - mit Mißtrauen oder Konkurrenzangst zu begegnen habe. Im Anschluß an die schon in den neunziger Jahren ausgetragene Fachrichtungskontroverse zwischen Medizinern und Seelsorgern um die Reichweite ihrer jeweiligen Handlungskompetenzen stellt Baumgarten fest: „Bei tiefen religiösen Erschütterungen, Depressionen und Exaltationen hilft nicht religiöser Zuspruch, ob noch so begehrt, sondern nur die Vermittlung ärztlicher Behandlung, als welche auch die Psychoanalyse zu gelten hat. Möglichst zeitige Verweisung an den Arzt ist das größte Verdienst des Seelsorgers."230 Vor dem Hintergrund dieser deutlichen Differenzierung von ärzdicher und pastoraler Zuständigkeit stellt Baumgarten im vierten Abschnitt seines Artikels sodann „Diagnose" und „Therapie" als die beiden Hauptmittel der Seelsorge heraus, welche insbesondere bei Hausbesuchen zur praktischen Anwendung kommen sollen. Dabei übersteigt der therapeutische Charakter der Seelsorge durchaus die Ebene des verbalen Gesprächs und schließt das Gebet, das den inneren Höhepunkten und ihrer Verdichtung vor Gott vorbehalten ist, ebenso wie das „begleitende Handeln" mit ein. Letzteres dient der alltagspraktischen Stärkung und Verdeudichung des Seelsorgegeschehens und umgreift neben traditionellen pastoraltheologischen Qualitäten durchaus auch das „Einwirken auf die äußere Lage" im Sinne eines diakonischen Handelns.231 Im fünften Abschnitt würdigt Baumgarten schließlich den Wert der Erbauungsliteratur für die Seelsorge, welche gegenüber der zunehmenden „Verfeinerung und Individualisierung des Seelenlebens"232 neue Quellen der persönlichen geistlichen Selbstversorgung zu eröffnen vermag und deshalb über das hinausgeht, was der einzelne Seelsorger allein mit seiner Person erreichen kann. Ausführlicher als H. A. Köstlin, dabei zugleich im deudichen Anschluß an C. I. Nitzsch, dessen Abschnitt „Von den Helfern und den litterarischen Hülfsmitteln der Seelsorge" aus dem dritten Band seiner Praktischen Theologie gleichsam in die Gegenwart hinein fortgeschrieben wird, bietet Baumgarten hier einen komprimierten Durchgang durch die Geschichte der Erbauungsliteratur sowie einen Überblick über ihre zeitgenössischen Tendenzen, wobei er im einzelnen praktische Bibelauslegungen, Gebets- und Andachtsbücher, Predigtsammlungen, Vgl. a. a. O., Sp. 548f. A. a. O., Sp. 550; vgl. J. Naumann, Art. „Psychiatrie und Seelsorge"; in: RGG 1 Bd. IV, Sp. 1965-1969; R. Schmidt-Rost, Seelsorge fischen Amt und Beruf, S. 92f. 231 Vgl o . Baumgarten, Art. „Seelsorge", bes. Sp. 553. 2 3 2 Vgl. a. a. O., Sp. 554. 229
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apologetische Werke sowie nicht zuletzt die unterschiedlich ausgerichteten Gemeindeblätter in ihrem Wert für die Seelsorge würdigt. 233 Ergänzung findet dieser umfangreiche Lexikonartikel zur Seelsorge in weiteren Beiträgen Baumgartens für die erste Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart. Zu nennen ist hier zunächst der - vergleichsweise knappe — Artikel „Praktische Theologie", welcher vor allem die Bedeutung einer reflektierten „religiösen Grundstellung" sowie das Erfordernis eines undogmatischen „Gleichnisschauens zwischen Schrift und Leben" für die Praxis des Geistlichen herausstreicht. 234 Daneben treten Artikel, die der Analyse der kirchlich-religiösen Gegenwart dienen; hierzu zählen der Beitrag „Jesus Christus in der Gegenwart" sowie die wichtigen Ubersichten zur „evangelischen Volks frömmigkeit" und zur „Lage des Christentums in der Gegenwart", die beide einen eigenständigen Beitrag Baumgartens zur zeitgenössischen religiösen Volkskunde darstellen. 235 Nicht zuletzt gehört in diese Reihe die Vielzahl solcher Artikel, die Baumgarten christlich geprägten Schriftstellern und Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts gewidmet hat: Charles Dickens, Gustav Frenssen oder Wilhelm II. - einer seiner umfangreichsten Artikel in diesem Lexikon mögen hier stellvertretend für den von Baumgarten stets betonten seelsorgerlichen und persönlichkeitsbildenden Wert von Biographien bzw. literarischen Werken stehen, ebenso wie auch seine Bearbeitung von Stichworten wie Buße, Geduld, Liebe oder Wahrhaftigkeit ihren inneren Zusammenhang in einer spezifisch poimenischen Perspektive erhält. 236 Fast zwei Jahrzehnte nach dem RGG-Artikel zur Seelsorge hat Baumgarten sein poimenisches Hauptwerk Protestantische Seelsorge publiziert: Es ist dies die letzte Monographie vor seinem Tod, welche den Ertrag seiner jahrzehntelangen Arbeit auf dem Gebiet von Seelsorge und Pastoraltheologie noch einmal abschließend zusammenfaßt. Die Einordnung dieser Schrift in den Kontext der praktisch-theologischen und poimenischen Diskussion im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ist nicht leicht vorzunehmen: Ihrem Erscheinungsjahr „1931" nach gehört sie bereits in die ausklingende Zwischenkriegs^eit und ist insofern als Dokument dieser in sich vielschichtigen, keinesfalls monochromatisch dialektisch-theologisch geprägten Ära zu werten - ihrem Textbestand nach bündelt diese Mono2 3 3 Vgl. a. a. O., Sp. 554-558; C. I. Nitzsch, Praktische Theologie Bd. III/l, S. 142168; H. A. Köstlin, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Auflage, S. 193-195. 2 3 4 Vgl. O. Baumgarten, Art. „Praktische Theologie"; in: RGG 1 Bd. IV, Sp. 1720-1726, bes. 1725f. 235 Ygj o Baumgarten, Art. „Christentum. Seine Lage in der Gegenwart"; in: RGG1 Bd. I, 1681-1690; ders., Art. „Jesus Christus in der Gegenwart"; in: RGG1 Bd. III, Sp. 410^133; ders., Art. „Volksfrömmigkeit II. Evangelische"; in: RGG1 Bd. V, Sp. 1738-1745. 2 3 6 Zur bibliographischen Übersicht vgl. H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 655-660.
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graphie jedoch nur Baumgartens schon in der Vorkriegszeit entwickelten Grundlinien der Seelsorgelehre, wie sie von ihm in einer Reihe von Einzelveröffentlichungen sowie in seinen akademischen Vorlesungen entfaltet worden waren. 237 Zudem folgt auch der Aufriß dieses Werkes im wesentlichen der Systematik des RGG-Artikels zur Seelsorge: Neu hinzugenommen werden lediglich das ausführliche Kapitel über die „Persönlichen Erfordernisse des Seelsorges", welches die genannte Vorlesung Baumgartens aus dem Jahre 1910 wiedergibt, sowie ein am entsprechenden RGG-Artikel orientierter Abschnitt zur religiösen Volkskunde, welcher die „Seelsorgegemeinde" zu seinem Gegenstand hat. 238 Demgegenüber wird der Abschnitt zur Erbauungsliteratur nunmehr mit den „Hauptmitteln der Seelsorge" zu einem neuen Teil zusammengefaßt, in welchem Baumgarten einleitend auch die Frage nach der Bedeutung der Psychoanalyse für die Seelsorge streift: Angesichts seiner „tiefen Verstocktheit in das öffentliche Leben" schien es ihm - trotz aller Sympathie für diese neue Forschungsrichtung - nicht möglich, sich intensiver mit psychoanalytischen Einsichten auseinanderzusetzen, wie überhaupt der „Durchschnitt der Pfarrer" seiner Auffassung nach nicht hinreichend befähigt für eine „analytische Behandlung der Seelsorge" sein würde. 239 Darüber hinaus integriert Baumgarten in die Protestantische Seelsorge umfangreiches Material aus seinen weiteren, bereits oben erwähnten Einzelveröffentlichungen zur Seelsorge - einschließlich seiner engagierten Auseinandersetzung mit dem bibeltheologisch geprägten Robert Kübel, dem Nachfolger J. T. Becks in Tübingen: Im Gefolge seiner Replik auf dessen Christliche Bedenken über modern christliches Wesen war Baumgarten einst zu einem im emphatischen Sinn „modernen" Theologen geworden. 240 Insgesamt wird man deshalb sagen müssen, daß die Protestantische Seelsorge weder in ihrem äußeren Aufbau noch in ihrem materialen Textbestand nennenswert über Baumgartens Vorkriegs-Publikationen zur Seelsorge hinausführt: Obgleich sie als aufschlußreiches liberalprotestantisches Dokument der Zwischenkriegszeit gelten kann, kam ihr doch in poimenischer Perspektive keine wirklich eingreifende Bedeutung mehr zu. Die materiale Rekonstruktion der Seelsorgelehre im engeren Sinn kann sich deshalb auf jene Veröffentlichungen konzentrieren, in denen Baumgarten bis 1914 die Grundlinien seiner Theologie der Seelsorge 237 ygi q Baumgarten, Protestantische Seelsorge, S. 273; H. v. Bassi, Otto Baumgarten, S. 555f., 672. Die Darstellung bei F. Wintzer (ed.), Seelsorge, S. XXV, wonach die Protestantische Seelsorge „1932" erschien und „für Baumgartens Lehrtätigkeit seit ungefähr 1920 repräsentativ ist", wäre insofern zu korrigieren. 238 Vgl. O. Baumgarten, Protestantische Seelsorge, S. 66-170,177-193. 2 3 9 Vgl. a. a. O., S. 273-277, hier S. 275. 240 Ygj o . Baumgarten, Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens" in der praktischen Theologie; in: ZprTh 14 (1892), S. 50-68. 266
entwickelt hat. Der erfahrungsoffene und „induktive" Ansatz dieser engagierten Praxistheorie soll dabei im Rekurs auf drei grundlegende Themenkreise eingefangen werden, welche für die Seelsorge im Sinne O. Baumgartens konstitutiv sind: Die Reflexion auf die Prinzipien christlicher Frömmigkeit, die Wahrnehmung von Seelsorge in ihrem sozialen Kontext sowie schließlich die psychologischen Bedingungen einer gelungenen Seelsorge als Gespräch. 3.5.1. Christliche Frömmigkeit Ohnehin skeptisch gegenüber jeder deduktiven, begriffsanalytischen Systembildung, welcher sich das Lebendige und Widersprüchliche der konkreten Wirklichkeit sowie das Inkommensurable des persönlichen Lebens niemals würden fugen können, gibt Baumgarten nur selten zusammenhängend Auskunft über die Konstruktionsprinzipien seiner systematischtheologischen Grundentscheidungen - am ausführlichsten tut er es in seinem eigentlich religionsdidaktischen Entwurf Neue Hahnen von 1903. Dabei ist für Baumgarten charakteristisch, daß allein im Zusammenhang vom bleibenden „Wesen des Christentums" (§6) und den vielfältigen „Konsequenzen dieses wesentlichen Christentums für unser Welt- und Gegenwartserleben" (§7) der eigentliche Gehalt des christlichen Glaubens sich erschließen läßt. Zur Wesensbestimmung des Christentums kann Baumgarten an die damals erst vor Jahresfrist erschienene Vorlesung Adolf Harnacks und die daran entstandene Debatte sich anlehnen.241 In großer Nähe zu Harnack bestimmt er im wesentlichen drei „Erlebniskreise" des Christentums, wobei jedoch seiner Auffassung nach der „Realismus des Kreuzes" die natürliche „Ästhetik der inneren Schönheit" 242 nie völlig überformen dürfe: für das Feld von Sünde und Gnade den von Christus geoffenbarten „gnädigen Vater", für Widerfahrnisse im Bereich von Schicksal und Vorsehung die an Christus verdeutlichte „Liebe des Vaters" und schließlich - im Horizont von Gemeinschaft und Geist und damit der Frage nach Gerechtigkeit im Felde des Sozialen den von Christus vermittelten „Vater unser", dessen Reich kommen möge — im Gegenzug zum „himmlischen Egoismus" spricht Baumgarten hier vom „Sozialismus des Heils". 243 Diesem Ansatz entsprechend ist ein prinzipiell unabschließbarer Weltbezug dem Christentum schon immer
2 4 1 A. v. Harnack, Das Wesen des Christentums (1900), Neudruck Gütersloh 2 1985 - zur zeitgenössischen Rezeption vgl. O. Baumgarten, Kirchliche Chronik; in: MKP 1 (1901), S. 37, 293f.; E. Rolffs, Harnack's Wesen des Christentums und die reügiösen Strömunsen der Gegenwart, Leipzig 1902. 2 4 2 O. Baumgarten, Neue Bahnen, S. 31f. 2 4 3 A.a. O..S.29.
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wesentlich mitgesetzt - woraus Baumgarten die einsichtige Konsequenz zieht, daß das Christentum nicht identisch mit seiner ersten oder einer klassischen Erscheinungsform sein kann, sondern nur im „Längsschnitt durch sein ganzes geschichtliches Leben" zu erfassen ist und kulturell somit grundsätzlich offen bleibt: „Die Religion ist Welt- und Selbstbeurteilung unter der Idee Gottes; so hat sie auch ein funktionelles Verhältnis zu der Umwelt, zu dem Weltleben; sie geht ein in die Kultur und nimmt von ihr vergängliche, variable Elemente auf." 244 Steht das Wesen der christlichen Religion in einem konstitutiven Verweisungszusammenhang mit allen historischen bzw. individuellen Formen christlicher Frömmigkeit, so ist es umgekehrt als eigene „Provinz" direkt an seine je individuelle Genese im lebensgeschichtlichen Bildungsprozeß gebunden. Im Anschluß an Schleiermacher formuliert Baumgarten deshalb: „Religion ist nicht eins mit Sittlichkeit noch mit Tüchtigkeit; sie ist eine Form, eine Beziehung und Richtung unseres Bewußtseins, die bei den verschiedenen Individuen verschieden stark angelegt ist." 245 Dieser „religiöse Trieb" - die Stärke der religiösen Anlage - wird im „Mutterunterricht" ausgebildet; Baumgartens Ausfuhrungen dazu sind gewissermaßen als religionspädagogische Aufschlüsselungen der allgemeinen Bestimmungen zu lesen, wie sie sich in den Reden Schleiermachers Über die Religion finden: 246 „Vergessen wir nie, daß Religion nicht lehrbar ist wie Mathematik oder Französisch. [...] Religion, Religiosität ist lehrbar nur wie etwa Musik, durch Übertragung. Einpauken von Tonleitern und Harmoniefolgen und Einlernen von Stücken ergibt noch keine musikalische Bildung. Diese setzt eine gewisse Disposition voraus, die nur geweckt sein will, Fühlfaden, die nur angefaßt sein wollen; sonst fehlt bei aller Unterrichtung das Wesen musikalischer Bildung. Ebenso werden, wo Stimmung, wo, wie Schleiermacher sagt, Geschmack für das Unendliche fehlen, die Objekte des religiösen Unterrichts zu inhaltsleeren Nichts en."247 In großer Nähe zur mystisch-beseelten Welt wird das Kind in einem umfassenden Gefühl der Geborgenheit und des Schauers heimisch, das allen A. a. O., S. 39f. O. Baumgarten, Herden Lebenswerk und die religiöse Frage der Gegenwart, S. 53. 246 Yg[ p Schleiermacher, Über die Reägion (1799), der von einer „Anlage zur Religion" (S. 122, Zählung der ersten Auflage) spricht und in der dritten Rede („Über die Bildung zur Religion") ausführt (S. 144): „Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder andern, und wenn nur sein Sinn nicht gewaltsam unterdrückt, wenn nur nicht jede Gemeinschaft zwischen ihm und dem Universum gesperret und verrammelt wird, [...] so müßte sie sich auch in Jedem unfehlbar auf seine eigene Art entwickeln [...]." 2 4 7 O. Baumgarten, Neue Bahnen, S. 49. 244
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späteren religiösen Anschauungen als Grundlage und Trägerin dienen kann. In § 8 der Neuen Bahnen fuhrt Baumgarten illustrierend aus: „Es empfiehlt sich vor allem die Übergangszeit im Dämmerlicht, was man das Schummrige nennt; da kommt am leichtesten das Gefühl des Uberzeitlichen, des Mysteriums über die Seele. Oder am Bett des Kindes, wenn die tiefen Schatten es decken. Das Gebet der Mutter mit dem Kinde ist ihr Hauptunterricht." 248 Gerade in der Akzentuierung dieses prärationalen Grundzuges aller Religion wird deutlich, wie sehr Baumgarten seine eigenen religionspädagogischen Maximen zugleich als Fortschreibung der Einsichten Herders versteht. Ebenso wie Schleiermacher hatte dieser, über alle rationalistisch-verkürzende „Aufklärerei" hinausführend, gerade die ursprünglichen Dimensionen christlicher Religiosität wieder freilegen wollen, die eng mit den Bereichen der sinnlichen Einbildungskraft, der mythischen Wirklichkeitsverdichtung sowie des Wunderbaren und Feierlichen verbunden sind. So formuliert Baumgarten in einer „Erziehungspredigt" zu Mk 10, 13—16 im Anhang der Neuen Bahnern „Darum aber kann unser reifes religiöses Leben nur gedeihen, wenn wir immer wieder werden wie die Kindlein. Aus Reflexionen des zerlegenden Verstandes, die uns zu keinem vollen, großen Eindruck kommen lassen, müssen wir zurück zu dem unmittelbaren, hingenommenen Empfangen der Offenbarungen, zu der reinen Empfänglichkeit, die in sich wirken läßt, was wirken soll. [...] O, daß so viele Männer unseres Volks sich nie die stillen Stunden gönnen, wo ihre Seele daliegt, der göttlichen Strahlen gewärtig, nur aufnehmend, fühlend und feiernd, was sie fühlt." 249 Deshalb müßten die religiösen Erziehungsbemühungen zunächsteinmal dahingehen, möglichst frühzeitig und elementar Erfahrungen mit den Tiefendimensionen der Wirklichkeit zu ermöglichen: „Je mehr die in Nordamerika besonders gepflegte Religionspsychologie uns in die unbewußten Regionen der religiösen Erlebnisse hineinführen wird, desto klarer wird uns der Anteil der unterbewußten Reaktionen auf mystische Reize an dem Wachstum religiöser Erfahrung werden. Schon unser großer Herder hat es deutlich erkannt, daß die Erziehung zur freien Teilnahme am religiösen Feierleben im wesentlichen eine frühe Gewöhnung an Reaktionen ist, die zunächst ohne Überlegung und Bewußtsein, gewissermaßen als ein 'Mechanismus der Fibern' vor sich gehen und das kindliche Gemüt mit Ahnungen und Schauern des Ewigen, Unnennbaren erfüllen, bis sie dann, durch reichliche Gewöhnung und Erinnerung an heilige Stunden festgeworden, auch die Last bewußter Überlegungen und kritischer Erwägung der Wahrheit des Überlieferten zu tragen vermögen." 250
248 249 250
S. 8f.
A. a. 0 . , S . 56. A. a. O., S. 113 (21909, S. 127). O. Baumgarten, Die religiöse Erhebung in Deutschland, Berlin-Schöneberg 1910,
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Andererseits würden alle diese Stimmungen diffus und flüchtig bleiben, wenn sie nicht später ihre ethische Kultivierung und bewußte christliche Ausrichtung fänden in geprägten religiösen Verobjektivierungen wie Sinnbild, Bekenntnis und Sitdichkeit, in welchen Religiosität gleichwohl niemals aufgeht. Diese andere, gleichsam „väterliche" Seite der Religion mit ihren religiös-sittlichen Erlebniskreisen ordnet Baumgarten der ethischen Konstitution der Persönlichkeit zu. Die christologische Bestimmung des Menschen bleibt hier jedenfalls bezogen auf die Aktualisierung des Sünden- und Gnadenbewußtseins, in welcher Weise auch immer diese sich ereignen mag: „der Seelsorger der Volkskirche muss es vermeiden, jedem die gleiche Form aufzuoktroyieren; er muss den einzelnen sich ruhig aussprechen lassen, um zu wissen, in welcher Richtung die Erweckung resp. Erledigung seines Schuld- und Erlösungsbewusstseins liege."251 Im Eingehen auf den je individuellen Horizont konkretisiert sich die Vermittlung von volkskirchlicher Allgemeinheit und subjektiver Wahrhaftigkeit zu einer religiös-sittlichen Durchbildung der Persönlichkeit. Um diese Dimension jedoch nicht einfach abstrakt der vielspältigen Lebenswirklichkeit entgegenzusetzen, ist es Baumgarten wichtig, sie in den Zusammenhang einer integrierenden Stufenfolge von „natürlicher", „gesetzlicher" und „evangelischer Sitdichkeit" darzustellen - dem epigenetischen Prinzip der Ich-Entwicklung Erik H. Eriksons nicht unähnlich.252 Die „therapeutische Seelsorge" im Sinne Baumgartens sucht deshalb die Befreiung aus Lebensverengung und religiös-sittlicher Deformation zu ermöglichen - sie ist Sorge um das Verlorengehen des Menschen an die „Knechtschaft der Vergänglichkeit und Selbstigkeit"253 und stellt sich gegen das Diktat von Endlichkeit und Entfremdung, welche das Leben in seiner ihm eigentümlichen höheren Bestimmung perspektivisch zu verkürzen drohen. Der seelsorgerliche Weg zum „Menschen Gottes" würdigt dabei gerade das Unvergleichbare und Unverrechenbare jedes Individuums, er fordert „wahre Ehrerbietung vor dem Heiligtum der andern Seele und vor ihren geheimnisvollen Gängen durch das Labyrinth innerer Konflikte"254. Religion liegt dabei weder in der bloßen Übernahme einer bestimmten Form von Sitdichkeit oder in der kognitiven Übereinstimmung mit einer Glaubenslehre - wohl aber bilden diese das kulturelle Rückgrat bzw. die christlich-ethische Verankerung erwachsener 2 5 1 O. Baumgarten, Grundzüge einer psychologischen Seelsorge am sündigen Menschen, S. 13. 2 5 2 Vgl. a. a. O., S. 14; J. Scharfenberg, Otto Baumgarten und die Seelsorge heute, in: W. Steck (ed.), Otto Baumgarten, S. 140. 2 5 3 O. Baumgarten, Grundzüge einer psychologischen Seelsorge am sündigen Menschen, S. 22. 2 5 4 O. Baumgarten, Protestantische Seelsorge, S. 228.
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Religiosität. Eine reiche kindliche, mystische Welt im Verbund mit deren sittlicher und intellektueller Durchbüdung - darin erst gewinnt die tragende religiöse Gefiihlstönung ihre sittliche und gemeinschaftliche Kraft. Damit ergibt sich bei Baumgarten insgesamt ein doppelter Ansatz im Religionsbegriff: Eine frühe und mütterliche Sphäre, die im Gemüt und vom Geheimnis lebt, sowie eine spätere, väterliche und sittlich-historische Dimension, die um Vernunft und Willen kreist, ohne jedoch einseitig rationalistisch zu werden. Mütterliche und väterliche Seite sind dabei übrigens - wie aus der Lebensgeschichte Baumgartens durchaus zu entnehmen ist — mit einiger Deutlichkeit auch in seinen tatsächlichen Elternbeziehungen wiederzufinden.255 Ohne das väterliche Realitätsprinzip ist Frömmigkeit oftmals „bloße Projektion des eigenen, idealisierten Ich" auf Gott oder die Natur: an die Stelle „einer ethischen tritt eine ästhetische Religiosität]", die als religiöse „Knochenerweichung" ohnmächtig und kraftlos gegenüber „dem Selbstbetrug des Trieb- und Gefühlslebens" bleiben muß. 256 Erst „ein Realitätsgefuhl für das göttliche Gegenüber, das als eine starke, überwältigende Wirklichkeit in unser Leben hineinragt"257, führt zur Ausbildung wahrhaft christlicher Frömmigkeit, die den Ernst und die Freiheit des Evangeliums in sich aufgenommen hat und somit auch die sittliche Kraft zu kritischem Einspruch und unbestechlicher Wahrhaftigkeit freisetzt: „Religion ist ein großer Protest gegen die sinnfällige Welt, ein großes 'Dennoch' des sich gegen den Mechanismus der Natur, gegen die Ordinärheit der Masse, gegen die Gemeinheit der fleischlichen Triebe behauptenden innersten Lebens, ein großes Heldentum, das sich aus der Vergänglichkeit der alltäglichen, dämmernden, kleinlichen Menschenherde aufreckt zur ewigen Kraft einer in Gott starken und frohen Einsamkeit."258 3.5.2. Der soziale Charakter der Seelsorge Wenn somit die persönliche christliche Glaubensgewißheit prinzipiell eine letzte Unabhängigkeit und Freiheit gegenüber der Welt offenhält und den korrumpierenden Bedingungen der „Wirklichkeit" ihren Verhängnischarakter nimmt, so geht umgekehrt das Christentum keinesfalls in der Qualität eines Refugiums unbezwingbarer Innerlichkeit auf. Seine kulturverwobene Geschichtlichkeit sowie seine praktische Ausrichtung und pädagogische Verantwortung verpflichten es vielmehr zu solidarischer Weite und verständiger Parteinahme im Interesse der Durchsetzung von „allseitiger Gerechtigkeit": „Es genügt nicht, im Heiligtum und 255 256 257 258
O. Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, bes. S. 9,14f., 19. O. Baumgarten, Art. „Religiosität"; in: RGG1 Bd. IV, Sp. 2224. A. a. O., Sp. 2223. O. Baumgarten, Über Kinderergehung, Tübingen 1905, S. 73.
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in der Gemeinde der Heiligen zu wirken; man muss ab Missionar und Pädagog hinaustreten auf den Markt des Lebens und nicht bloss Begehrenden das Heilsgut darstellen, vielmehr dies Begehren erst durch Entgegenbringen wecken. Da gilt es denn anzuknüpfen an das Vorgefundene, da gilt es unbewusstes Christentum und Spuren der anima naturaliter christiana zu erkennen, all' die Verkapselungen des christlichen Geistes in die Erscheinungen des Weidebens; da gilt es, demütig zu achten auf die Nachwirkungen der geschichdichen Thatsache des Christentums, auch in verweltlichten, humanisierten Bestrebungen [,..]."259 Für die Seelsorge kommt es darauf an, soziale und ökonomische Strukturbedingungen als solche zu erkennen und sie nicht dem Einzelnen unbilligerweise als Schuld oder Versagen zuzurechnen. Denn erst ein kritisches Verstehen der gesellschaftlichen Zusammenhänge erlaubt eine sachgemäße Beurteilung kultureller Phänomene sowie individueller Schicksale - deshalb ist es eine theologische Aufgabe, „sozial denken zu lernen, um auf die sozialisierten einzelnen zu wirken."260 „Wir dürfen den einzelnen nicht mehr so isolieren - isolieren nur für die innerste Sphäre der Seelsorge, nicht aber in der vorbereitenden, verhütenden Thätigkeit der Seelsorge - wir müssen ihn als Glied eines Ganzen ins Auge fassen, zum grossen Teil Produkt der Gesamtentwickelung und besonders der ökonomischen Verhältnisse."261 Diese empirisch-kritische Perspektive einer sozial-ethischen Theologie hat Baumgarten sich schon früh — etwa als Mitbegründer des ESK— programmatisch zu eigen gemacht; bereits 1891 erschien dazu seine Schrift Der Seeborger unsrer Tage als drittes Heft in der von ihm herausgegebenen Reihe Evangelisch-soziale Zeifragen.262 Unter der Leitfrage „Wie kann die evangelische Kirche zu einer sozialen Macht organisiert werden?" 263 entwickelt er hierin im Anschluß an E. Sulze's Initiativen zur Gemeindereform Grundgedanken zur Behebung einschlägiger organisatorischer Mängel in der pfarramtlichen Gemeindearbeit. Wichtigstes Ziel dabei ist es, soziale und kommunikative Barrieren zwischen dem Pfarrer und seinen Gemeindegliedern abzubauen. Den unter259 o . Baumgarten, Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens" in der praktischen Theologie, S. 56; vgl. S. 61. 260 A. a. O., S. 58. Und weiter: „es gilt, einen sozialen Bäck gewinnen, hauptsächlich auch, um die Schuld des einzelnen und die Gesamtschuld recht zu scheiden, um vom einzelnen nicht zu fordern, was der Gesamtzustand, die allgemeine Auffassung, der gesamte Lebenszuschnitt zur heroischen Leistung hervorragender Menschen macht." (ebd.) 261 A.a. 0 . , S . 59 262 Dazu S. Eck, Evangelisch-soziale Zeitfragen; in: ChW 5 (1891), Sp. 321-324. Außerdem vgl. O. Baumgarten, Volksschule und Kirche. Auch eine soziale Frage, Leipzig 1890; ders., Die Erziehung der gewerblichen Jugend. Vom zweiten Evangelisch-sozialen Kongreß; in: ChWb (1891), Sp. 625-629. 263 yg] o . Baumgarten, Der Seelsorger unsrer Tage, S. 3. 272
schiedlichen Gruppen und sozialen Schichten gegenüber soll sich der Pfarrer als offen und gesprächsfähig erweisen - als einer, der als Christ und Mitmensch mitten im Leben steht und die alltagspraktische Erschließungskraft des christlichen Glaubens in seiner Person zu symbolisieren vermag: „Ist nicht Religion mehr als eine aparte Angelegenheit und Sonderinteresse, eine das Ganze durchdringende Lebensauffassung? So soll sie auch nicht abgelöst von den Dingen des Lebens, sondern als etwas an ihnen, als ihre Farbe, als ihr innewohnendes Gesetz zur Geltung kommen." 264 Vor allem in bezug auf das Proletariat und seine prekäre ökonomische Situation habe sich der Pfarrer jeder ignoranten Selbstgerechtigkeit zu begeben: Als Reflex auf die harten, vielfach unzumutbaren Alltags- und Lebensbedingungen sind die antikirchlichen Ressentiments im Arbeitermilieu genauso zu respektieren wie die Herausbildung neuer, in bürgerlicher Perspektive womöglich defizitär erscheinender Lebensformen. Der organisierte Protest der Arbeiter ist keinesfalls als „Klassenegoismus" zu diskreditieren, sondern vielmehr im Sinne einer berechtigten Forderung nach menschenwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Sache zu unterstützen, auch wenn die weltanschaulichen Invektiven der Sozialdemokratie scharf zurückgewiesen werden müssen. Ohnehin kann die Arbeit des Pfarrers keinesfalls in der Fortsetzung der politischen Agitation „von der Kanzel herab" bestehen; wie er der Situation und den Bedürfnissen seiner Gemeinde insgesamt verpflichtet ist, so hat er in Seelsorge und Verkündigung ebenso die Perspektive der bildungs- und industriebürgerlichen Gemeindeglieder einzunehmen und ihre Interessen bzw. subjektiven „Nötigungen" zu verstehen. Auch sie sollen weder ausgegrenzt noch moralisch diffamiert werden, so daß der Pfarrer es schließlich für seinen „Ruhm" zu erachten habe, „wenn er allen alles, das heißt jedem etwas wird, ohne daß sie sich darüber streiten können: Gehört er zu mir oder zu dir?" 265 Gegen bürgerliche oder kirchliche Engkreisigkeit soll die Wirksamkeit des Pfarrers wieder „an gesunder, elastischer Ausdehnung" 266 gewinnen und sich auf die konkreten Interessen und Lebensbedingungen aller Gemeindeglieder einstellen, so daß auch für die Seelsorge „das Gesetz aller würdigen und fördernden Unterhaltung" gelten kann, das bereits Schleiermacher formuliert hat: „daß sich die eine Persönlichkeit der anderen zum Genüsse und Vergleiche darbiete." 267 Doch angesichts der großen Bevölkerungsteile, die selbst einem konventionellen kirchlichen Leben gegenüber entfremdet sind, bedarf das traditionelle, primär auf Gebet und Beichte zulaufende poimenische Selbst264 265 266 267
A. a. A. a. A.a. A. a.
O., S. 17. O., S. 14. 0 . , S . 5. O. S. 17.
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Verständnis grundlegender Modifikationen, welche neue Felder der konkreten sozialen Verortung von Seelsorge zu erschließen vermögen. Denn „zu den seelsorgerlichen Geschäften, Gängen und Besuchen" sind gerade auch solche zu rechnen, „die sich lediglich auf der Höhe von sonstigen ernsten und sachlichen Unterhaltungen über Lebensfragen halten." 268 Deshalb müssen die ehemals festen Formen von Seelsorge und Verkündigung im lebensweltlichen Ubergang zur Moderne eine neue Struktur gewinnen - mit den anstehenden Transformationsprozessen haben sie eine freiere Gestalt anzunehmen: „Es muß mit dem Vorurteil gebrochen werden, als sei die Predigt die einige Verkündigungsform des Wortes Gottes. Jede wahrhaft christliche Unterhaltung, jedes Gespräch einer Mutter oder eines Seelsorgers mit einem Kinde — und Mutter und Seelsorger sollen verwandt empfinden! - wird Wort Gottes aussäen, [...] in der schlichten, der Situation und Sache entsprechenden Form, die als ungemacht, als wahr berührt."269 Zur Erreichung der hierfür nötigen pfarramtlichen Neuorientierungen müßte jedoch auch die universitäre Ausbildung umgestaltet werden; insbesondere die Pastoraltheologie wäre um die Vermittlung von Grundkenntnissen in den Fächern Pädagogik und Soziologie zu erweitern, wobei letztere „eine kurze Ubersicht über die hauptsächlichen Wirtschaftssysteme, eine Theorie der sozial-ethischen Anschauungen des Evangeliums und eine Theorie der pastoralen Klugheit für die Seelsorge in Arbeitergemeinden" zu bieten hätte, erstere dagegen neben der Geschichte der Pädagogik vor allem „moderne" didaktische und schulpädagogische Aspekte behandeln sollte.270 Neben diesen curricularen Modifikationen sind zugleich die zugrundeliegenden ekklesiologischen Leitvorstellungen von entscheidender Bedeutung: Ungeachtet aller „sorgenvollen Bedenken", wie sie etwa Robert Kübel gegenüber einem auf praktische Ausweitung und zahlenmäßigen Erfolg hin angelegten „modern-christlichen Wesen" vorgebracht hatte, will Baumgarten an dem Konzept der Volkskirche als einer „Sammelstation" festhalten, die ihrer Intention nach nicht auf „eine homogene Masse, eine charakteristische Einheit, gleichsam eine Familie" zielt, sondern die sich offensiv der faktischen Pluralisierung innerhalb der gesellschaftlichen bzw. kirchlichen Wirklichkeit stellt.271 Jede Vereindeutigungs- oder Homogenisierungstendenz im Sinne einer gleichsam schon irdischen Scheidung zum Reiche Gottes würde demgegenüber die Auflösung der volkskirchlichen Strukturen be-
A . a . O..S. 27. A. a. O., S. 18. 2 7 0 Vgl. a. a. O., S. 31. 2 7 1 O. Baumgarten, Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens" in der praktischen Theologie, S. 55. 268
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deuten - eine für Baumgarten undenkbare Möglichkeit, wie er anhand der Kindertaufe verdeutlicht: „Zum Wirken auf die Gesamtheit verpflichtet aber auch die Taufgnade; wer nur 'eigentliches', nur bewusstes Christentum anerkennt und geistlicher Pflege wert achtet, muss folgerichtig die Kindertaufe verwerfen. Sind aber die Massen des Volks mit Geburtsrecht in der Kirche, giebt es eine Volkskirche und hat diese Kirche eine volkerziehliche Aufgabe, so bedarf sie der Organe, die die virtuelle zur aktuellen Taufgnade entwickeln. Jedenfalls ist annoch der Seelsorger vokationsmässig in den Dienst dieser Massenkirche gestellt."272 Eine solche Bejahung des volkskirchlichen Horizonts des Gemeindepfarramts stimmt zusammen mit einer „realistischen" Einschätzung des „vorhandenen Menschenmaterials" - und zwar auf seiten der Pfarrer wie auf seiten der Gemeindeglieder: 273 „gehorsam gegen die Gesetze der Wirklichkeit" 274 , mahnt Baumgarten dazu, den durchschnittlichen Charakter der religiösen Anlage oder das Ausmaß an innerer Unabhängigkeit gegenüber den sozialkulturellen Bedingungen nicht idealistisch zu überschätzen, sondern vielmehr in all seiner prosaischen Nüchternheit zur Kenntnis zu nehmen und als religiös-sittliche Aufgabe zu verstehen. „Mir scheint es fraglos, dass die Landeskirche nur das grosse Netz sein kann mit weiten Maschen, das allerlei Volk äusserlich umschliesst, ein Vorbereitungsgebiet für die Seelsorge, die den einzelnen besonders nimmt, und dass ihre Aufgabe, als Sauerteig den ganzen Teig zu durchsäuern, zugleich eine Verdünnung und Lockerung der eigentlichen Substanz des Christentums mit sich bringt." 275 An die Stelle einer theologischen Disqualifizierung der Halbheiten und Zweideutigkeiten von Volkskirche tritt hier folglich der Respekt vor der Weite und dem Wert ihrer gesellschaftlichen Aufgabe, wobei das handlungsleitende Bild von Gemeinde sich entsprechend verschiebt. Pointiert formuliert Baumgarten: „Somit kann ich mich wohl interessieren für die Bildung einer Brudergemeinde innerhalb der grossen Gemeinde; aber der Gedanke, diese letztere selbst zur Brudergemeinde auszugestalten, erscheint mir unpsychologisch und utopisch." 276 Nicht zuerst die Sammlung einer kleinen Schar wahrhaft Gläubiger, sondern die soziale Verantwortung gegenüber einer von Dissoziation gezeichneten gesellschaftlichen Wirklichkeit motivieren das pfarramtliche Handeln unter den Bedingungen einer modernen Volkskirche - „Bildung des Geistlichen zum sozialen Charakter!" lautete deshalb die Maxime, 272 273 274 275 276
A. a. O., S. 55; vgl. S. 52. O. Baumgarten, D. Sulze's Evangelische Gemeinde, S. 359. A. a. O., S. 264. A. a. O., S. 273. Ebd. 275
unter der Baumgarten die wissenschaftliche Reflexion praktisch-theologischer Handlungsfelder mit der Orientierungsleistung pastoraltheologischen Erfahrungswissens vermittelt wissen wollte.277 Denn unter den Bedingungen volkskirchlicher Pluralität darf die theologische Identität des Pfarrers nicht die notwendige Vertrauens- und Gesprächsfähigkeit gegenüber den unterschiedlichen Gruppierungen in der Gemeinde blockieren - seine persönlichen Prägungen und Vorlieben sollen nicht über seine Bereitschaft zu helfen und zu begleiten entscheiden. Eine kritische Reflexion der eigenen Gebundenheiten und Vorurteile ist daher erforderlich, damit der unvermeidliche „Partikularcharakter des Seelsorgers" niemandem als Schranke hemmend gegenübertritt.278 Sozialkritisches Verständnis der lebensweltlichen und ökonomischen Bedingungen, individuelle und situative Anverwandlungsfähigkeit sowie theologische Kommunikations- und Interpretationskompetenz bezeichnen somit insgesamt diejenigen Merkmale, welche sich in der Person eines volkskirchlich-orientierten Seelsorgers zu vereinigen haben. Dabei sollte unter dem Vorzeichen der persönlichen Elastizität und sozialen Verbindlichkeit im pastoralen Handeln durchaus auch die spannungsvolle Jenseitigkeit der christlichen Glaubenszuversicht eingeschlossen sein: „Das ist also der soziale Charakter des Seelsorgers: mit Verständnis und Entgegenkommen für jede Form menschlicher Entwickelung, Schwachheit, Notlage, ohne doch darin aufzugehen und die höhere Zielbestimmung zu verlieren: die himmlische Berufung in Chri-sto!"279 3.5.3. Psychologische Seelsorge Die sozialkulturellen Bedingungen von Lebensgeschichte sowie das Inkommensurable persönlicher Religiosität verlangen vom Seelsorger besondere Qualitäten religiöser und interaktioneller Erschließungskraft, mit welchen seine allgemeine volkskirchliche Verantwortung in ein konkretes, kommunikatives Geschehen überführt werden kann. Wie individuelle Wahrhaftigkeit, situative Evidenz und theologische Transformationsleistung als Charakteristika von Seelsorge sich immer unter den herrschenden Bedingungen einer sozialen Welt bewähren müssen, so impliziert umgekehrt die „Bildung des Seelsorgers zum sozialen Charakter" zugleich seine psychologische Sensibilisierung: Das soziologisch fundierte Verständnis der pfarramtlichen Aufgaben findet sein Ziel und seine seelsorgerliche Konkretion in kommunikativer Öffnung und menschlichem Einfühlungsvermögen. Von prinzipieller Bedeutung ist dabei die persön2 7 7 O. Baumgarten, Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens" in der praktischen Theologie, S. 50. 2 7 8 A . a . O . , S . 62. 2 7 9 Ebd.
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liehe Wahrnehmvings- und Verstehensfähigkeit, welche sich zweckfrei an den anderen freigibt und die lebensgeschichtliche Verankerung des chrisdichen Glaubens im individuellen Horizont zu rekonstruieren vermag: Religion und Biographie sind in Baumgartens Perspektive unauflöslich miteinander verbunden. In diesem Sinne faßt Dietrich Rössler zusammen: „Die Biographie eines Menschen, die Geschichte, in der seine Persönlichkeit Gestalt gewinnt, ist Ausdruck seiner Religion. Darin ist die Einsicht begründet, daß die wesentliche und entscheidende Bildung des Menschen die religiöse Bildung ist. Darin ist aber auch die Überzeugung formuliert, daß die Religion nur so, nur in der Rekonstruktion von Individualität zur Anschauung kommen kann. [...] Religion ist Subjektivität."280 Vor allem die idiosynkratischen, vielfach unbewußten Strukturen individueller Frömmigkeit sollen deshalb in der Seelsorge aufgenommen werden und im Sinne einer christlichen Glaubensaneignung ihre Vertiefung und Durchbildung erfahren. Dazu ist die Ebene rationaler Begrifflichkeit in Richtung auf eine umfassendere Sphäre theologischer Symbolisierungsfähigkeit aufzusprengen: „Virtuosität hat auf dem religiösen Gebiete der, welchem nach dem Goetheschen Wort 'Alles Irdische ein Gleichnis und das Himmlische ein Ereignis' wird, so daß er überall ungesucht Spuren des Ewigen findet." Diese religiöse Anlage hat „ihren Sitz nicht im klaren, unterscheidenden, gegenständlichen Bewußtsein, sondern in Gefühl und Trieb, die großenteils unbewußt arbeiten."281 Die religiöse Interpretation von Lebensgeschichte und Wirklichkeitserfahrung bedarf der emotionalen Feinfühligkeit sowie der intuitiven Anverwandlungsfähigkeit. Das ungezwungene Gespür für religiöse Tiefenschärfe muß verankert sein in einer Gesprächshaltung, die gleich einer „Aeolsharfe" zum Mitschwingen mit der emotionalen Bewegung des Anderen bereit ist: „jede Vibration der umgebenden Luft löst eigene Töne aus." 282 Solches seelsorgerliche Verstehen des Gegenübers stand für Baumgarten in Analogie zum Nachempfinden des „fremden Lebens", wie es die exegetische Arbeit bei ihrem Bemühen um Auslegung historischer Texte aus längst vergangenen Epochen zu leisten hatte. In einem programmatischen Aufsatz hatte der Alttestamentier Hermann Gunkel (1862-1932) in Baumgartens Monatsschrift für die kirchliche Praxis dazu ausgeführt: „Die lebendige Person also, in ihrem Wollen und Denken, in der Mannigfaltigkeit ihrer ganzen geistigen Existenz, sie ist der eigentliche Gegenstand aller Exegese. Eine edle Leidenschaft soll den Exegeten erfüllen, diese eigentümli280
D. Rössler, Die Subjektivität der Religion; in: W. Steck (ed.), Otto Baumgarten,
S. 15. 281 282
O. Baumgarten, Die persönlichen Erfordernisse des geistlichen Berufs, S. 38. A. a. O., S. 19. 277
che, nie wiederholte und nicht wiederholbare Person zu erfassen [...]. Und nicht eher hat er Ruhe, als bis er das Ganze intuitiv erschaut und zugleich mit der Reflexion durchdringt, bis ihm klar ist, welchen inneren Zusammenhang die Gedanken gehabt haben, was Ursache und was Wirkung, was Haupt- und was Nebensache gewesen ist." 283 Gerade insofern in der Exegese die Hauptaufgabe oft darin besteht, „das Unausgesprochene, Vorausgesetzte, Mitschwingende zwischen den Zeilen herauszuhören", kann die Auslegung der fremden Texte sich nicht mit bloßer philologischer „Mikrologie" und zergliedernder Gelehrsamkeit begnügen: 284 „Denn Exegese im höchsten Sinne ist mehr eine Kunst als eine Wissenschaft. Der Exeget soll etwas vom Künstler an sich haben; und darum braucht er mehr als nur Wissen und Verstand." 285 Entsprechend dieser exegetischen Maximen verschiebt sich auch das Leitbild für die seelsorgerliche Tätigkeit im Sinne Baumgartens: „Der praktische Theologe muß etwas Künstlerisches, Dichterisches, Intuitives mehr noch als Wissenschafdichkeit an sich haben" 286 - denn auch er soll fremde Lebenswirklichkeiten erschließen und im Horizont des christlichen Glaubens deuten. Noch jenseits der Ausdifferenzierung und Institutionalisierung psychotherapeutischer Dialogformen greift Baumgarten zur Beschreibung solcher „auslegenden" bzw. verstehenden Gespräche auf das - metaphorisch seiner Auffassung nach nicht zu pressende — Begriffspaar Diagnose und Therapie zurück, das von ihm in Analogie zum ärzdichen Handeln für die Arbeit des Seelsorgers verwendet wird. Bis in einzelne Formulierungen hinein kann Baumgarten sich hier an C. I. Nitzsch und die entsprechenden Abschnitte in seiner Praktischen Theologie anlehnen: Dessen „große [s], konsequent aufgebaute [s] Werk" erhielt für Baumgarten weder durch seine „wissenschaftliche Architektur" noch durch seine „umfassende Rekonstruktion organisierter Religion" gegenwärtige Aktualität, sondern allein im Prozeß seiner praktisch-theologischen Dekonstruktion: „Erst indem Nitzsch' Theorie ihrer wissenschaftlichen Logik entkleidet wird und ihre Fragmente zur selektiven Nutzung im Interesse praktischen Handelns freigegeben werden, läßt sich ihr Wert' für die Bildung praktischer Theorien zutreffend taxieren." 287 Die schon bei Nitzsch herausgestrichene „diagnostische Gabe" ist dabei in erster Linie eine Größe der vorbehaltlosen Wahrnehmung: „eine gewisse unwillkürliche Beob2 8 3 H. Gunkel, Ziele und Methoden der alttestamentlichen Exegese; in: MKP 4 (1904), S. 523. 2 8 4 Ebd.; vgl. S. 529. 2 8 5 A. a. O., S. 524. 2 8 6 O. Baumgarten, Art. „Praktische Theologie", Sp. 1725. 2 8 7 W. Steck, Friedrich Schleiermacher am Reißbrett, S. 225; vgl. O. Baumgarten, Art. „Praktische Theologie", Sp. 1722.
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achtungslage der Seele, die vor den Konsequenzenmachereien systematisch-deduktiver Denkart gesichert ist, ein intensives Interesse und ein instinktiver Blick für das Persönliche, Eigenartige, Widerspruchsvolle, eine innere Unabhängigkeit von vorgefaßten Meinungen, Sympathien und Antipathien, kurz eine Unabgeschlossenheit und Offenheit für sich korrigierende Eindrücke" 288 . Die Unverrechenbarkeit des Anderen als einem fremden Gegenüber - seine Eigenheit und seine Bedingtheiten, seine Gestalt als Persönlichkeit und als Schicksal - soll in der intuitiven Schlußbildung von „äußerer Darstellung" und „innerer Bewegung" zusammenhängend aufgenommen werden, wobei die seelsorgerliche Diagnose insbesondere in der Fähigkeit besteht, „aus gewissen Symptomen und Einzelzügen und aus dem Gesamteindruck ein treffendes Bild von der inwendigen Lage und Bedürftigkeit des Individuums zu gewinnen." 289 Als hermeneutische Kategorie ist solche diagnostische Gabe gleich der theologischen Interpretationskompetenz überhaupt — mehr durch Intuition als durch diskursive Rationalität bestimmt, doch entbindet dies den Seelsorger weder von seiner Verpflichtung zu kritischer Selbstreflexion noch von seiner Bereitschaft, die eigene Menschenkenntnis kontinuierlich zu erweitem, wie es insbesondere durch die ernste Lektüre von profaner Literatur geschehen kann: Denn gerade der Seelsorger bedarf „einer reicheren anthropologischen Empirie, die vorzüglich aus der Enge der unmittelbar religiösen, zentripetalen Erfahrung herausfuhrt." 290 Aus der „unbefangenen psychologischen Beobachtung des Einzelfalls" soll ein Entwurf der „inneren Gestalt" des Anderen erschlossen werden, der als offenes Bild noch Raum läßt für alles Unfertige, Problematische oder Unverstandene. 291 Von besonderer Bedeutung ist dazu der Wahrnehmung korrespondierend - die Gabe der Einfühlung, des „Sichversetzens in andere" 292 , welche Ausdruck der sympathetischen Anteilnahme und Begleitung ist: „Die Seele der Seelsorge ist die Sympathie, das mehr noch instinktive als reflektive Erfassen der inneren Situation, in der sich jemand befindet. Ein Trost mag objektiv richtig und noch so wertvoll sein, trifft er die Seele nicht in ihrem gegenwärtigen Zustand, dann bleibt er Gerede und verletzt sogar. [...] Man muß eben ganz und gar in den Anderen sich eingefühlt haben, sodaß in seinem Gefühl das O. Baumgarten, Art. „Seelsorge", Sp. 551. A. a. O., Sp. 550f.; ders., Protestantische Seelsorge, S. 116. 2 9 0 O. Baumgarten, Protestantische Seelsorge, S. 119 — in direkter Aufnahme einer Wendung von C. I. Nitzsch, Praktische Theologie Bd. III/l, S. 123 (21863, S. 117), nach der der Seelsorger „die Enge seiner unmittelbaren Erfahrung durch Kenntnisnahme von der reichen anthropologischen Empirie zu ergänzen" hätte. 2 9 1 Vgl. O. Baumgarten, Art. „Seelsorge", Sp. 551. 2 9 2 Ebd. 288 289
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Gegenüber aufhört und er zu uns redet wie zur eigenen Seele. Da hilft nur Stärke des inneren Tastens oder der Fühlfáden." 293 Durch sie gewinnt die Diagnose — das intuitive Erkennen des Anderen - vielfach in sich schon eine gleichsam therapeutische Qualität, welche als „Seelenpflege" auf mögliche Veränderung und hilfreiche Unterstützung des Individuums zielt. „Das rechte Anhören, bei dem man zunächst den Abschluß eines festen Urteils verschiebt, ist schon der halbe Trost. Wenn der Leidende die Sympathie, das volle Eingehen in seine Lage, das Zuhören auf seine Klagen bemerkt, dann wird ihm geteiltes Leid zu halbem Leid wie geteilte Freude zu doppelter Freude. Wenn dagegen der Seelsorger den anderen doch immer als Objekt der Beobachtung sich gegenüberbehält, aus ruhiger Reflektion und Berechnung zu ihm spricht, was er sich nach seiner eigenen Art zurechtgelegt hat, dann tappt er daneben."294 Theologisch als „Wirkungen des Mitgefühls Christi" gedeutet, eröffnen „elastische Geistesgegenwart, stetes innerstes Dabeisein und Unmittelbarkeit der Teilnahme" 295 einen seelsorgerlichen Begegnungsraum, der den Anderen gelten lassen und ihn an sich selbst freigeben will. Der Respekt vor den lebensgeschichdichen Prägungen und innerseelischen Gebundenheiten ermöglicht eine Gesprächshaltung, die der inneren und äußeren Wirklichkeit des Einzelnen ihr Recht zukommen läßt und am Prozeß der „stark individuellen Ausprägung der Einen Wahrheit" 296 aufrichtiges und lebendiges Interesse zu nehmen bereit ist: „Es ist ausgeschlossen, ein festes Ziel planmäßig zu verfolgen; man muß, die Seele von Fall zu Fall verfolgend, die Natur teils sich selbst helfen lassen, teils ihr nachhelfen, von der Weisheit selbstloser Liebe geleitet, die sich nicht aufdrängt, aber in steter Bereitschaft hält, stets auf dem Posten, wenn begehrt, aber zufrieden, wenn nicht zum Eingreifen benötigt." 297 Im Unterschied zum „begleitenden Handeln" und seinem „Einwirken auf die äußere Lage" bezeichnet Baumgarten die seelsorgerliche Einwirkung im Gespräch oder im Gebet als „Suggestion" - nicht in einem pejorativen, manipulativen Sinne, sondern verstanden in seiner neutralen Bedeutung als Beeinflussung: „Die Menschheit ist nun einmal so angelegt, daß fast alle, mehr als sie es sich gestehen, weniger durch Gründe und Einsichten als durch Suggestion seitens mehr oder weniger frei gewählter Autoritäten bestimmt werden." 298 Insofern ist es sicher keine 293 294 295 296 297 298
280
O. Baumgarten, Die persönlichen Erfordernisse des geistlichen Berufs, S. 22f. A. a. O., S. 23f. O. Baumgarten, Art. „Seelsorge", Sp. 551 f. O. Baumgarten, Ueber praktische Auslegung, S. 308. O. Baumgarten, Art. „Seelsorge", Sp. 551. A. a. O., Sp. 552.
„Warnung"299, wenn Baumgarten gegen eine kommunikative Überschätzung von verbaler Rede und zusprechender Verkündigung auch für die Arbeit der „geistlichen Autoritäten" die Bedeutung einer wirklich hörenden Aufmerksamkeit herausstreicht: „Es ist aber eigentümlich, daß die Suggestion fast noch größer ist beim Zuhören als beim Zureden, da dort die befreiende, versichernde Wirkung der Teilnahme, die das Vertrauen der möglichen Abhilfe weckt, und des Glaubens an das bessere Ich, das sich der Autorität gegenüber hervorwagt, noch stärker wirkt als hier, wo doch leicht der Kontakt gestört wird durch ein Element des Nichtverstehens oder der unerfüllbaren Zumutung."300 Die Bereitschaft zuzuhören würdigt den Wert persönlicher Mitteilung; sie setzt auf die Fähigkeiten zur Selbsterschließung im anderen und weiß um die Unhintergehbarkeit innerer Einsicht und persönlicher Aneignung. Poetische Schlüssel einer solchen einfühlenden Seelsorge sind Takt und Geschmack; das tastende Gespür des Seelsorgers, sein behutsames, nie vorschnelles oder bemächtigendes Bemühen um Verständnis sowie seine Bezogenheit auf das Gesamt der Eindrücke jedes einzelnen Falles - sie mögen ihn in Fühlung bringen mit den vielfach unbekannten oder verschütteten Zugängen zu tieferen Lebens- und Glaubensfragen und sein Gegenüber zu einer religiös-sittlichen Selbsterhebung im Sinne der christlichen Persönlichkeitsbildung fuhren. Solches Erschließen vergewissernder Glaubenstraditionen für die individuelle Lebenspraxis kann nur in einem Prozeß unaufdringlicher, intuitiver Einwirkung geschehen - „es ist das Behandeln des Details aus einer grossen, ahnungsvollen Auffassung des Ganzen und zugleich ein Heraustasten dessen, was für die Stimmung und Situation des betreffenden Individuums Wahrheit hat oder bekommen kann." 301 Soweit Baumgarten die — weitgehend rationalistische — psychologische Forschung seiner Zeit zur Kenntnis genommen hat, schien ihm diese zur Ausbildung solcher seelischen Gespürigkeit letztlich ungeeignet. Von daher ist es verständlich, daß seiner Auffassung nach das „unbewusst tastende Taktgefühl" sowie die Neugierde und Offenheit gegenüber jeder einzelnen Begegnung von weit größerer Bedeutung für die Seelsorge sind als die „überlegteste Berücksichtigung der psychologischen Grundgesetze". Baumgartens Mahnung lautet deshalb: „Hüten wir uns vor metaphysischen Systemen, überhaupt vor der Knechtung unter die abstrakte akademische Psychologie! Das System wird der Unerklärbarkeit der Individualität, der Spontaneität nicht gerecht."302 Nicht die systematische Gegen J. Scharfenberg, Otto Baumgarten und die Seelsorge heute, S. 142. O. Baumgarten, Art. „Seelsorge", Sp. 552. 3 0 1 O. Baumgarten, Ueber praktische Auslegung, S. 310. 3 0 2 O. Baumgarten, Über die Bedeutung des wissenschaftlichen Betriebs der pädagogischen Kunst, S. 169; vgl. S. 167. 299
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Einsicht in psychologische Zusammenhänge an sich will hier von Baumgarten diskreditiert werden, wohl aber die falsche Verrechnung des Einzelnen unter die vermeintliche Sicherheit abstrakter Gesetzmäßigkeiten, die unabhängig vom Geschehen persönlicher Beziehung ihre mechanische Anwendung und Wirksamkeit finden sollen: Kann doch die wissenschaftliche Psychologie - über die Erforschung funktioneller Details hinaus - bestenfalls allgemeine Orientierung über Wahrnehmungseinstellung und Persönlichkeitsentwicklung verschaffen, niemals jedoch den Prozeß personaler Durchbildung oder das je individuelle Geschehen von Begegnung, Einfühlung und Verständigung ersetzen. „Der praktische Wert psychologischer Studien scheint mir nun nicht in dem Gewinn sicherer Methoden zu liegen, sondern in der Aneignung allgemeiner Maximen. Es giebt keine von der Persönlichkeit des Erziehers und Lehrers, von dem inkommensurabeln Einfluss seiner persönlichen Art unabhängige, sicher zum Ziele führende allgemeine Methode."303 Das „Gewebe des Lebens" erscheint Baumgarten aus drei Fäden gesponnen: „aus Zufall, menschlichem Willen und gestaltendem Willen der Gottheit"; dem entspricht, in freier Aufnahme der bereits von C. I. Nitzsch geprägten Systematik, daß in jeder konkreten seelsorgerlichen Begegnung drei Momente sich mischen: „Irrtum, elementare Not und freie Sünde". 304 Das Gewebe des Lebens - die innere, seelische Welt genauso umfassend wie alle Sphären des Sozialen und Politischen - wird für Baumgarten zu einer integrierenden Metapher des Disparaten und Gebrochenen - und damit das Leben selber zum Garanten einer einheitlichen Wirklichkeit.305 Die Freude am Entdecken und Verstehen sowie der Respekt vor den Prägungen und Bedingungen jeder einzelnen Lebensgeschichte bewahren den Seelsorger vor einem Selbstmißverständnis, das die befreiende Botschaft des Glaubens unversehens der Machbarkeit oder eigenen Verfügbarkeit unterwerfen will. Zur Verdeutlichung erinnert Baumgarten hierbei an eine weithin verlorengegangene Qualität persönlicher Zuneigung und Begleitung, die in dieser ungebrochenen Fassung sicher nicht ohne weiteres verallgemeinerbar ist, in jedem Fall aber auf seine eigene Lebenserfahrungen zurückverweist: „Es haben aber viele die Erfahrung gemacht, daß mehr als alle Seelsorger ihnen eine Mutter gegeben hat, die mit der Seele ihrer Kinder, auch der erwachsenen, lebt und ringt. Es braucht nicht die eigene zu sein, ist oft die Anderer gewesen. Ein Kandidat sollte immer mit der eigenen oder einer andern Mutter eine Korrespondenz führen, in der die innersten Rückwir-
A. a. O., S. 169. J. Scharfenberg, Otto Baumgarten und die Seelsorge heute, S. 134; vgl. O. Baumgarten, Protestantische Seelsorge, S. 120-123. 30s Vgl j . Scharfenberg, Otto Baumgarten und die Seelsorge heute, S. 132f. 303
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kungen und Beobachtungen der Seele besprochen werden. Es ist ein ungeheurer Gewinn, wenn so der Blick geschärft wird für Seelengänge."306 Mit der Anerkennung der je eigenen Gesetze und Strukturen alles Lebendigen wird jede bemächtigende Seelenführung, jede funktionelle Ausbeutung und Manipulation zurückgewiesen; der Seelsorger darf sein Gegenüber weder für seine eigenen noch für kirchlich-religiöse Interessen verzwecken. Mehr als alle literarische und theologische Durchbildung soll zu dieser Haltung ein freisetzendes, gleichsam „mütterliches" Begleiten und Verstehen verhelfen, das Einfühlung und Lebenserfahrung in zweckfreier Anteilnahme zu verbinden weiß. „Der Takt des Herzens, die Achtung vor allem Werdenden, die Ueberwindung aller hierarchischen Gelüste und Empfindlichkeiten"307 bestimmen sich von hier aus - als Konkretionen christlicher Liebe und evangelischer Freiheit — als die Grundbedingungen einer wahrhaft protestantischen Seelsorge.
3 0 6 O. Baumgarten, Protestantische Seelsorge, S. 68; vgl. ders., Die persönlichen Erfordernisse des geistlichen Berufs, S. 27f. 3 0 7 O. Baumgarten, Beiträge zu einer psychologischen Seelsorge (III); in: EvFrl (1907), S. 71.
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4. Epilog Wie mit dem Außruch in die moderne Welt die traditionalen lebensweltlichen Bindungen in Richtung auf neue, strukturell ausdifferenzierte und individualisierte Vergesellschaftungsmechanismen transformiert wurden, so stand auch die legitimierende und sozialintegrative Autorität der Kirche unter den Bedingungen von Modernität zunehmend zur Disposition: Wo die industriellen Modemisierungsprozesse Platz griffen, bedeuteten sie einen bis dahin unbekannten funktionalen und inhaltlichen Plausibilitätsverlust des kirchlich-christlichen Traditionsbestandes, durch welchen langfristig der gesellschaftlichen Verankerung des Christentums als einer sinnkonstitutiven Zentralperspektive der Boden entzogen zu werden drohte. Dabei waren es insbesondere die massiven sozialökonomischen Mobilisierungen und Dynamisierungen, die sukzessive das Ordnungsgefüge der überkommenen Sozialstruktur zu transformieren begannen: Die einsetzende „sociale Differenzierung" (G. Simmel) entließ den Einzelnen aus den vorgeprägten Verbindlichkeiten der traditionalen Ordnung und forderte die individuelle Lebensführung in zunehmendem Maße zu Integrationsleistungen heraus, welche sich sowohl gegenüber der gesteigerten gesellschaftlichen Komplexität als auch gegenüber den entstehenden neuartigen Abhängigkeitspotentialen bewähren mußten. Denn mit den modernen Differenzierungsprozessen wurden neue soziale Räume für individuelle Optionen und Orientierungen freigesetzt, die langfristig zu einer fortschreitenden lebensweltlichen Pluralisierung sowie zum Verlust von alltagspraktischer „Selbstverständlichkeit" fuhren sollten: Sofern sich das Individuum aus den gewachsenen sozialstrukturellen Zusammenhängen herauszulösen begann, war es in bis dahin ungekannter Weise der „Vereinzelung" ebenso wie der „Vermassung" ausgesetzt — und wurde doch zugleich in zunehmendem Maße als verantwortliches Subjekt und potentieller Autor der eigenen Lebensgeschichte gefordert. Die überkommenen kirchlichen Plausibilitätsstrukturen erfuhren in diesem Prozeß der Säkularisierung und Individualisierung ihre schleichende Aushöhlung, vielfach sogar ihre Auflösung: Im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung begann die Parochialgemeinde als integrierender Sozialverband aufgesprengt zu werden und wurde mit der Aufgabe konfrontiert, sich unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen - nunmehr als örtliche Kirchengemeinde - organisatorisch und konzeptionell zu behaupten. Vor allem die Pfarramtspraxis sowie die Gemeindeorganisation waren dabei vielerorts sehr direkt den veränderten 284
sozialstrukturellen Bedingungen ausgesetzt und bildeten deshalb einen Kristallisationspunkt füir die anstehende Neubestimmung des sozialen Ortes sowie der gesellschaftlichen Funktion von „Kirche". Denn insoweit die großen Linien der gesellschaftlichen Veränderungen bis hin in die konkrete Gemeindesituation Vor Ort' durchschlugen, hatten Verkündigung und gottesdienstliche Feier, religiös-ethische Orientierung und seelsorgerliches Begleiten unter grundlegend gewandelten Bedingungen zu geschehen: Wachsende Kirchenentfremdung und weltanschauliche Pluralisierung wurden in diesem Prozeß zu den großen Herausforderungen an die zeitgenössische Christentumspraxis. Infolge der fortschreitenden Modernisierung der Lebenswelt sah sich schließlich auch die Praktische Theologie - als eine gesellschaftsbezogene Theorie kirchächen Handelns — vor die Aufgabe einer Neubestimmung ihrer Handlungsfelder gestellt, was seinen Niederschlag insbesondere in den kritischen Bemühungen um Empirieorientierung, um konzeptgeleitete Praxisreflexion sowie um eine professionsspezifische Reform des theologischen Studiums fand. Doch das Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit war durchaus kein einheitliches: Wie schon äußerlich die Mobilisierungs- und Dynamisierungsprozesse in regional und temporal sehr unterschiedlicher Weise eingesetzt hatten, so sollten nun auch prinzipiell die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sowie die Dezentralität aller gesellschaftlichen Perspektiven zu konstitutiven Merkmalen dieser auf Fortschritt und Erneuerung ausgerichteten „Ubergangszeit" werden und in dem - ursprünglich kunsttheoretischen — Begriff der „Moderne" ihre zumindest terminologische Vereinheitlichung erfahren. Doch die „moderne Wirklichkeit" selber blieb mehrdeutig, ihre Interpretation strittig: Auch in der akademischen Praktischen Theologie geschah folglich die theoretische Aufarbeitung der lebensweltlichen Modernitätserfahrungen in einem positionellen Diskurs konkurrierender konfessioneller und theologiepolitischer Optionen. Dabei zeigte sich je länger desto deutlicher, daß eine historistische Rückversicherung allein — im Sinne einer kritisch-analytischen Rekonstruktion der fortschreitenden Entfremdungs- und Entkirchlichungstendenzen aus ihrer Geschichte heraus — die mit den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen aufgegebenen praktisch-theologischen Orientierungsleistungen nicht einholen konnte: Die eingehende Rekonstruktion der historischen Entwicklungslinien überwand nicht in sich selbst schon die mit der modernen Lebenswelt freigesetzten theologischen Irritationen, sondern verlangte darüber hinaus nach kritischer Gegenwartsanalyse und programmatischer Zukunftsorientierung. Die vehement eingeforderte „Wende zur Empirie" in den praktischtheologischen Reformprogrammen der Jahrhundertwende richtete sich folglich gegen einen solchen Betrieb der Praktischen Theologie, der in seinem Rückgang auf die Geschichte des kirchlichen Lebens leerzulaufen drohte und über die Orientierung an den wissenschaftlich-akademischen 285
Standards die Frage nach seiner eingreifenden Relevanz für die anstehenden Praxisaufgaben zu vernachlässigen schien. Gegenüber dem heftig kritisierten Praxis- und Wirklichkeitsverlust war es das Interesse der jüngeren, „modernen" und religionsgeschichtlich geprägten Theologengeneration der Jahrhundertwende, das Programm einer historisch-kritischen Analyse bis in die unmittelbare Gegenwart hinein fortzuschreiben, um der engagierten Reflexion zeitgenössischer Praxiserfahrungen eine substantielle Neuinterpretation der theologischen Tradition gegenüberstellen zu können: Wie zuvor das geschichtliche Denken die idealistische Systembildung dekonstruiert hatte, so hatte nunmehr die als gleichsam naturwissenschaftlich sich begreifende Gegenwartsorientierung die theologische Dignität der „Empirie" neu in Geltung gesetzt. Inwieweit hierbei ein prinzipieller Konsens innerhalb der Praktischen Theologie - durchaus über die trennenden positioneilen Grenzen hinweg - bestand, läßt sich beispielhaft an den konzeptionellen Wandlungen Köstlins Monatsschrift für Pastoraltheologie oder Baumgartens Monatsschrift für die kirchliche Praxis aufzeigen - doch zugleich weist eben die jeweils spezifische inhaltliche Tendenz beider Zeitschriften auch auf die unterschiedlichen kirchenpolitischen Interessen in der theologischen Wirklichkeitsinterpretation. Angesichts der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Räume sowie der Vervielfältigung individueller Lebenslagen konnte der Seelsorgelehre in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zukommen: Sie bildete einen exemplarischen Schnittpunkt zwischen individueller Erfahrung, theologischer Interpretationsleistung und kommunikativer Vermittlung. Die Mehrdeutigkeit der aufgesprengten Wirklichkeit sollte hier in handlungsleitende Deutungsmuster übergeführt werden, welche in die Lage versetzten, die individualisierten Praxissituationen eines pastoralen Alltags unter den Bedingungen von „Modernität" an identitätsbildende theologische Rahmenkonzeptionen zurückzubinden. Der - im Gegensatz zur Predigt - eher „private" Charakter der Seelsorge sowie die hohe Bedeutung des subjektiven Faktors im seelsorgerlichen Gespräch, das als intimer Raum der persönlichen Begegnung theologiepolitisch schwer zu instrumentalisieren war, verhinderten dabei zugleich eine positioneile Uberformung der zeitgenössischen Diskussion um die Seelsorgelehre: Die Komplexität der andrängenden Modernitätserfahrungen überstieg hier das positionelle Entweder-Oder zwischen „Altgläubigen" und „Fortschrittlichen" und gab die Perspektive frei auf thematische Grundkonstellationen der Poimenik, die als bleibende Aufgaben der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft, von Situation und Tradition zu jeder Zeit jeweils einer relativen, immer nur vorläufig gültigen 'Lösung' zugeführt werden müssen. Dabei zeigt die konkrete Gegenüberstellung von Konzeptionen zur Seelsorgelehre bei H. A. Kösdin und O. Baumgarten, wie sehr die theologische Valenz der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse in Rela286
tion zum jeweils zugrundeliegenden persönlichen Erfahrungsraum steht Köstlins Beitrag zur Formulierung einer modernen Theorie der Seelsorge besteht dabei vor allem darin, seine eigentümlich verschränkte, bibeltheologisch-idealistische Sprachwelt den andrängenden zeitgenössischen Problemhorizonten geöffnet zu haben, auch wo er selbst von ihnen nicht unmittelbar berührt oder umgetrieben war. Doch über solche perspektivische Erweiterung hinaus haben die mit den Modernisierungsschüben freigesetzten lebensweltlichen Dissoziationen wenig Eingang in die Seelsorgekonzeption H. A. Köstlins finden können: In Ermangelung konkreter, alltagspraktischer Erfahrungen wird die „moderne Welt" bei Köstlin gleichsam immer nur „aus der Ferne" in den Blick genommen. Dagegen sollte die von ihm angestrebte Rückbesinnung auf das theologische Proprium eine erneute Konzentration auf die „Mitte" der Seelsorge erwirken, welche als persönliches Glaubensverhältnis den Ursprung allen geistlichen Lebens bildete und sich allein in dem in Christus erschienenen göttlichen Heil gründete: Nur dieser Glaube war es, der alle Bedingungen der „Welt" transzendierte. Gleichwohl hatte sich auch diese überzeitliche Perspektive, die von der „freien Glaubensentscheidung" als Grunddatum der Seelsorge ausging, materiaäter in einem pastoraltheologisch gefärbten Rekurs auf die traditionellen Aufgaben der pastoralen Gemeindepflege sowie auf die persönlichen Voraussetzungen einer theologisch verantworteten Pfarramtspraxis zu konkretisieren. Köstlins Ausgriff auf personale Integrität und Elastizität des Pfarrers als Seelsorgers, seine Ausführungen bezüglich der Aufsicht über den religiös-sittlichen Zustand der Gemeindeglieder sowie sein Festhalten am traditionellen Leitbild einer intakten Kerngemeinde sind insofern auch als implizite Antwort auf die allenthalben aufbrechenden Pluralisierungen und Fraktionierungen der „modernen Welt" zu verstehen: „Heilswort" und „Heilsgemeinde" stehen bei Köstlin als feste und fraglose Größen für die in der Tradition verbürgte Geschlossenheit des chrisdichen Glaubens ein und verweisen von dort her auf ein konstitutives „Jenseits" der gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse. Nicht eine offensive Neuinterpretation der christlichen Uberlieferung, sondern die Bekräftigung und Betonung biblischer Glaubenserfahrungen gegenüber den zersetzenden Tendenzen der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird somit zur eigentlichen Aufgabe in Seelsorge und Verkündigung unter den Bedingungen von Modernität. Zu dieser Sicht fugt sich schließlich auch Kösdins umsichtiges Engagement bei der Stärkung der theologischen Valenz des musikalischen Ausdrucks im Gemeindeleben: Der vorsprachliche Raum insbesondere des Kirchengesangs konnte eben noch immer die aufkeimenden Dissonanzen zu einer harmonischen Polyphonie zusammenführen, unter deren Vollklang jeweils momenthaft die drohenden Risse und Brüche der gesellschaftlichen Wirklichkeit wieder zu einer höheren Einheit zu verschmelzen vermochten. 287
Für O. Baumgarten hingegen hatte die schöpferische, harmonische Kraft musikalischer Ausdrucksformen nicht eine solche systematische Bedeutung wie für H. A. Kösdin. Seine engagierte Hinwendung zu den Friktionen und Antagonismen der modernen gesellschaftlichen „Realität" wollte vielmehr bewußt mit der faktischen Konkurrenzsituation einander widerstreitender Erfahrungen und Interessen ernst machen: An die Stelle der präsentativen Symbolik Kösdins kirchenmusikalischer Herkunft und Beheimatung tritt bei Baumgarten die diskursive Ebene der kritischen theologiepolitischen Identitätsbildung - dem Evangelischen Kirchengesangverein für Deutschland stehen hier gewissermaßen der EvangelischSoziale Kongreß oder die Freunde der Christlichen Welt als milieuspezifische Pendants gegenüber. Baumgartens persönliche Perspektive war dabei schon frühzeitig von handfesten, alltagspraktischen Erfahrungen mit den gesellschaftlichen Umbrüchen gekennzeichnet - die „Wirklichkeit" der modernen Verhältnisse hat deshalb auch in theologischer Hinsicht für ihn einen besonderen Verpflichtungscharakter gewonnen. Das Christentum muß - Baumgarten zufolge — seine Botschaft im „Streit um die Wirklichkeit" engagiert und selbstbewußt auslegen können, gerade wenn es sich in seiner aufstörenden und versöhnenden Kraft für die Jetztzeit erweisen will: Die lebenswelüichen Erfahrungen verlangten nach neuer symbolischer Deutung und kommunikativer Vermittlung zur freien Vergegenwärtigung des christlichen Glaubens. In diesem Sinne verstand Baumgarten das intellektuelle Emanzipations- und Freiheitsbewußtsein der Neuzeit ebenso wie die sozialen Kosten des Aufbruchs in die „moderne Welt" als substantielle Herausforderungen des christlichen Glaubens. Diesem modernen Erfahrungsraum sich zu öffnen, setzte die Bereitschaft zu einer mutigen Aktualisierung und Fortschreibung der christlichen Tradition voraus, durch welche - scheinbar paradoxerweise - die ursprünglichen Einsichten des biblisch-reformatorischen Glaubens vielleicht noch eher für die Gegenwart erschlossen würden als durch eine wortgetreue Konservierung des Traditionsstoffes oder durch dessen archaisierende Wiederaufbereitung im Medium bloßer Behauptung und Apologetik. Die christliche Rede etwa von Gerechtigkeit und Freiheit war deshalb jeweils in eine eingreifende Interpretation der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu transformieren, wobei sie als kritische Option durchaus auch öffentliche Stellungnahme oder parteipolitisches Engagement mit einschließen konnte. Trotz seiner engagierten Gegenwarts- und Wirklichkeitsorientierung hat Baumgarten gleichwohl stets vor einer unkritischen Akkomodation an die „moderne Welt" gewarnt, da eine solche theologische Überanpassung unversehends zur schönfärberischen Harmonisierung der gesellschaftlichen Widersprüche - ebenso wie zur geistlichen Verflachung des Protestantismus - führen würde. Konstitutiv für Baumgartens praktisch-theologisches Schaffen blieb vielmehr sein Festhalten an der funda288
mentalen Differenz zwischen „Glaubenswirklichkeit" und „Kulturentwicklung" - auch dort, wo er zwischen beiden Größen „Brücken" bauen wollte. Seine Intention war es, die christliche Botschaft weder in der Funktion eines religiösen Ferments der Kultur aufgehen zu lassen, noch sie als unantastbaren dogmatischen Traditionsbestand in der Bastion einer soziokulturellen Sonderwirklichkeit konservieren zu wollen. Die inhaltliche Reichweite und Sprengkraft Baumgartens „moderner" religiöser Hermeneutik, die in seiner - für die damalige Zeit ungewöhnlichen - Parteinahme „für Herder gegen Goethe" ihre prägnante literarische Verankerung fand, hat Baumgarten konkret anhand der einzelnen Handlungsfelder der Praktischen Theologie zu entfalten versucht. Die dabei entstandenen Entwürfe zur Homiletik, zur Religionsdidaktik, zur Pastoraltheologie oder zur Seelsorgelehre sind dezidiert dem moderntheologischen Programm einer offensiven Gegenwarts- und Wirklichkeitsorientierung verpflichtet, welche einer akkomodierenden „Knechtung" unter vergangene Ausdrucksformen des Christentums das Recht einer inneren Nötigung zu Gestaltwandel und Erneuerung entgegensetzte. Historisch-kritische „Gerechtigkeit" gegenüber der Vergangenheit sollte so verbunden werden mit „evangelischer Freiheit" für die Gegenwart, um der Wirklichkeit des gelebten Lebens Raum für eine eigene theologische Würdigung und Deutung zu verschaffen. Hinsichtlich der Seelsorgelehre bestand solche engagierte Wirklichkeitsorientierung für Baumgarten in einer doppelten Ausrichtung: Einerseits in der kritischen Reflexion des „sozialen Charakters" von Seelsorge, andererseits in der Herausbildung von Grundlinien einer „psychologischen Seelsorge". Noch jenseits der heutigen Standards für eine methodische Ausdifferenzierung im Seelsorgegespräch war auf beiden Ebenen für Baumgarten die Dimension der Einfühlung von zentraler Bedeutung: In Anerkenntnis der sozialen Existenzbedingungen sowie der individuellen seelischen Gestimmtheiten sollte die Würdigung der einzelnen Lebensgeschichte in der Seelsorge jeweils verbunden werden mit der kommunikativen Anschlußfähigkeit der christlichen Rede von Sünde und Gnade, von Heil und Versöhnung. Doch angesichts solcher emphatischen Betonung der kommunikativen Verstehens- und Vermittlungsaufgabe in der Seelsorge sollte aus heutiger Perspektive gleichwohl nicht übersehen werden, daß auch in den konkurrierenden theologiepolitischen Milieus der Jahrhundertwende weithin Einigkeit über die theologische Grundbestimmung von Seelsorge herrschte: Die individuelle und soziale Wirklichkeit des Einzelnen sollte in der Kraft des biblisch-christlichen Glaubens interpretiert und erneuert werden. Nicht die prinzipielle „Definition" von Seelsorge und seelsorgerlichen Situationen, sondern vielmehr der konkrete lebensweltliche Wirklichkeitshorizont war es, der hier zur positionellen Differenzierung zwischen den verschiedenen theologischen „Lagern" führte. 289
Dabei sollten rückblickend die Ansprüche an das epochale Bruchbewußtsein der „Moderne" jedoch auch nicht überzogen werden: Für weite eile der Kirche - ebenso wie der Praktischen Theologie - jener Jahre um 1900 ist eher die Perspektive H. A. Köstilins als die O. Baumgartens repräsentativ gewesen: Offen für ein gewisses Maß an Neuorientierung und Gegenwartsreflexion, aber auf Kontinuität und Konsens bedacht und noch weithin unberührt von den Dynamisierungen der modernen Lebenswelt, besaß der Köstlinsche Entwurf zur Seelsorgelehre faktisch weitaus größere Integrationskraft als Baumgartens modern-theologisches Emanzipationsprogramm. Trotz seines engagierten Bemühens um kritische Tuchfühlung mit den Aufbruchspotentialen der zeitgenössischen Wirklichkeit - ein Bemühen, das Baumgarten durchaus auch für heutige praktisch-theologische Konzeptbildung exemplarische Bedeutung verleiht - blieb er doch in der Kirchen- und Theologiepolitik seiner Zeit eher ein „Außenseiter", dessen positionelles Interesse gerade im seelsorgerlichem „Brückenschlagen" zu den vielen der Kirche entfremdeten Bevölkerungsschichten bestand. Dabei ist es als das besondere Verdienst O. Baumgartens anzusehen, sozialpolitisches Engagement und religiöse Persönlichkeitsbildung gleichermaßen unter dem Leitbegriff von „Seelsorge" zusammengeführt zu haben. Denn insofern die Konjunktur von Seelsorge und Pastoraltheologie im ausgehenden 19. Jahrhundert sich einer grundlegenden Ambivalenz von „Modernisierung" verdankte — nämlich dem paradoxen Zugewinn an Freiheit und Abhängigkeit im Sinne einer beginnenden „strukturellen Individualisierung", welche einem gleicherweise individualisierten kirchlichen Handeln besondere Plausibilität verlieh —, insofern konnte auch diese Orientierung am Einzelnen nicht auf die Sorge um das ideale Gut seelischer Innerlichkeit beschränkt bleiben. Vielmehr war die traditionssprengende Freisetzung und Mobilisierung von neuen Lebensmöglichkeiten in Baumgartens Perspektive ebenso eine Herausforderung seelsorgerlichen Begleitens wie die massenhafte „Zurechtschneidung" von individualisierten Einzelnen für die funktionalen Erfordernisse der modernen Industrialisierungsprozesse. Eine gewisse Prädominanz der Wertorientierungen einer bürgerlichen „Persönlichkeitskultur" ist dabei in den theologischen Interpretationslinien Baumgartens sicherlich unverkennbar - auch seine programmatische „Modernität" blieb hierin eben eine milieuspezifische, zeitverhaftete Perspektive, die in sich selber immer wieder Brechungen und Korrekturen erfahren hat. Doch trotz der berechtigten kritischen Einwendungen in Einzelfragen sollte gleichwohl die theoretische und praktische Leistungsfähigkeit Baumgartens modern-theologischer Hermeneutik nicht vorschnell in Abrede gestellt werden: Die Einsicht, daß die Zeugnisse der christlichen Tradition zunächst von ihrem historischen Ursprung und Kontext her zu verstehen sind, verbindet sich bei Baumgarten mit der Offenheit zu de290
ren lebendiger, eigenständiger Aneignung im Sinne der Bejahung einer religiös-produktiven Gegenwartskultur. Die eingreifende Erschließungskraft einer solchen zweipoligen praktisch-theologischen Konzeption, die gleichsam die Freiheit der Vergangenheit sowie der Gegenwart im Sinne einer kritischen Wirklichkeitsorientierung zusammenfuhren will, hat Baumgarten nicht nur auf dem Feld der Seelsorge, sondern auch für die Predigtlehre oder die Religionspädagogik seiner Zeit aufgewiesen - in Gemeinschaft mit einer Generation Praktischer Theologen wie F. Niebergall, P. Drews, R. Kabisch oder F. M. Schiele, die sich als Vorkämpfer einer dezidiert modernen Christentumspraxis verstanden. Infolge der theologiepolitischen Verwerfungen durch die sogenannte 'dialektische Theologie' ist eine konstruktive Würdigung dieser frühen, engagierten Auseinandersetzungen um die Bewältigung der „modernen Religionskrisis" (E. Troeltsch) erst einige Generationen später geschehen - den Durchbruch schufen hier insbesondere Friedrich Wintzer und Wolfgang Steck mit ihren grundlegenden Arbeiten zur Reformhomiletik der Jahrhundertwende.1 Das Werk Friedrich Niebergalls wurde darüber hinaus von Henning Luther (1947-1991) auch auf seinen bildungspraktischen und emanzipatorischen Theoriehorizont hin ausgeleuchtet - ihm sind inzwischen weitere Untersuchungen zur Systematisierung und Kritik der „modernen" Religionspädagogik zur Seite getreten.2 Die hier vorgelegte Arbeit hat demgegenüber versucht, die kritischen Reformintentionen der Jahrhundertwende, welche sich angesichts der Beschleunigung und Dynamisierung im gesellschaftlichen Wandel um eine offensive praktisch-theologische Gegenwarts- und Wirklichkeitsorientierung bemühten, hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Seelsorgelehre nachzuzeichnen. Dabei sollte einerseits deutlich gemacht werden, wie sehr die Entfaltung einer „Seelsorgelehre" jeweils abhängig ist von den sie motivierenden theologischen Grundentscheidungen - sei es der Rekurs auf das schöpferische „Heilswort" und die ideale „Heilsgemeinde" wie bei H. A. Kösdin oder die kritische Ingeltungsetzung des Prinzips der „evangelischen Freiheit" zur theologischen Interpretation der modernen Wirklich1 Vgl. F. Wintzer, Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der 'dialektischen Theologie' in Gründungen, Göttingen 1969; ders., Evangelische Predigt seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts; in: K. Elm/H.-D. Loock (eds.), Seelsorge und Diakonie in Berlin, S. 293-306; W. Steck, Das homiletische Verfahren. Zur modernen Predigttheorie, Göttingen 1974 u. a. m. 2 Vgl. H. Luther, Religion, Subjekt, Erziehung. Grundbegriffe der Erwachsenenbildung am Beispiel der Praktischen Theologie Friedrich Niebergalls, München 1984; Chr. Kahrs, Evangelische Erziehung in der Moderne. Eine historische Untersuchung ihrer ersjehungstheoretischen Systematik (Forum zur .Pädagogik und Didaktik der Religion Bd. 11), Weinheim 1995; M. Heesch, hehrbare Reügion? Stuäen über die sqentistische Theorieüberäeferung und ihr Weiterwirken in den theologisch-reügionspädagogischen Entwürfen Richard Kabischs und Friedrich Niebergalls (TBT Bd. 80), Berlin/New York 1997.
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keit wie bei O. Baumgarten. Andererseits sollte mit dieser Untersuchung der Tatsache Rechnung getragen werden, daß sich die konzeptionellen Weiterentwicklungen auf dem Gebiet der Seelsorgelehre des 19. und 20. Jahrhunderts nicht zuerst einem gleichsam 'autochtonen' Prozeß der disziplinimmanenten Rekonstruktion und Revision verdankten, sondern sie in hohem Maße auf gesellschaftliche oder theologiegeschichtliche Umbrüche reagierten, in deren Folge der Ansatz einer Theorie der Seelsorge füir die jeweilige Gegenwart im Sinne einer 'exemplarischen Christentumspraxis' neu formuliert wurde. Wechselnde Konstellationen in den leitenden systematisch-theologischen Programmatiken auf der einen, und gewandelte Anforderungen in den soziokulturellen Differenzierungsprozessen auf der anderen Seite erweisen sich somit als die beiden Faktoren, die die Entwicklungslogik der Poimenik im wesentlichen bestimmt haben - dies sollte in Hinsicht auf die Rekonstrukion einer „Geschichte der Seelsorgelehre" stärker als bisher mit in den Blick genommen werden. So haben auch weder O. Baumgarten noch H. A. Köstlin ihre Seelsorgelehre zuerst 'gegen' frühere Entwürfe — etwa von C. I. Nitzsch oder A. Schweizer - schreiben wollen; ihr Anliegen war es vielmehr, das theoretische und praktische Verständnis von Seelsorge für die Anforderungen der Gegenwart neu auszulegen. Während Köstlin dazu vor allem die theologische „Mitte" der Seelsorge — die Konzentration auf „das Eine, das Not tut" — in Erinnerung rief, legte Baumgarten den Akzent auf eine entschlossene Gegenwarts- und Wirklichkeitsorientierung, welche sich ebenso den prägenden individuellen Mustern einer Biographie wie den überindividuellen psychosozialen Bedingtheiten von christlicher Frömmigkeitspraxis stellen wollte. Wenn sich beide damit auch — auf jeweils unterschiedliche Weise — um eine sachgerechte Aktualisierung von „Seelsorge" unter den Bedingungen moderner gesellschaftlicher Differenzierung bemühten, so blieben sie doch, Baumgarten ebenso wie Köstlin, in der kritischen Perspektive der 'dialektischen Theologie' hinter den notwendigen Anforderungen an eine konsistente Seelsorgetheorie allzu sehr zurück: Das theologische Proprium der Seelsorge könne nicht - so beispielhaft Eduard Thurneysen (1888-1974) in seinem frühen Aufsatz über „Rechtfertigung und Seelsorge" — anhand der Kategorien der Empirie oder der Individualität entfaltet werden, ohne entscheidend an seiner richtenden und versöhnenden Macht zu verlieren.3 Wenn auch offen bleiben muß, inwieweit es sich hierbei um eine zutreffende Interpretation Thurneysens eigener seelsorgerlicher Praxis handelte, so war doch die Seelsotgelheorie nunmehr - im Horizont des kategorischen „Entweder-Oder" zwischen Gott und 3 Vgl. E. Thurneysen, Rechtfertigung und Seelsorge; in: ZZ 6 (1928), S. 197— 218 (wiederabgedruckt in: F. Wintzer [ed.], Seelsorge, S. 73-94).
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Mensch, zwischen Zeit und Ewigkeit - dezidiert an der Kategorie des theologischen „Bruchs" orientiert, welcher sich perspektivisch gegenüber allen menschlichen Möglichkeiten und Verstrickungen zu vollziehen habe.4 Dabei wollte das kritische Programm der 'Theologie des Wortes Gottes' gerade nicht als praktische Handlungsorientierung, sondern vielmehr als prinzipielle Reflexion auf den theologischen Ermöglichungsgrund aller Praxis verstanden werden. Im Sinne einer solchen „Sorge um den Menschen als Seele" ging es Thurneysen in der Seelsorge zentral um ein neues „Sehen und Verstehen des Menschen von Gott her": das „Sumpfgelände" menschlichen Suchens und Irrens schien Thurneysen - seelsorgetheoretisch, nicht gesprächstechnisch — nur durch „gründlichste Entwässerung und Trockenlegung" überwindbar zu sein.5 Die hier in Anschlag gebrachte 'Metaphorik' Thurneysens zielte darauf, den Menschen wieder neu als einen durch Christus Angesprochenen und Gerechtfertigten wahrzunehmen: „Dieses Sehen des Menschen als eines, auf den Gott seine Hand gelegt hat, das ist der primäre Akt aller wirklichen Seelsorge. Solches Sehen hat freilich - das muß von Anfang an mit aller Deutlichkeit ausgesprochen werden — nichts zu tun mit irgendeiner psychologischen Feststellung. Es ist ein reiner Akt des Glaubens."6 Die Kirche ist dabei „der Ort, wo eben dieses Glauben sich ereignet, der Ort in der Welt, wo der Mensch unter Ausschaltung aller anderen Gesichtspunkte psychologischer oder soziologischer Art angesehen wird als der Mensch, der Gott gehört."7 Bei allem Bemühen um eine ästhetische Würdigung und systematisch-theologische Aktualisierung seines Werkes ist insgesamt jedoch nicht zu übersehen, daß die Reformulierung prinzipieller theologischer Perspektiven bei Thurneysen letztlich durch die Dichotomisierung von Mensch und Gott, von Humanwissenschaften und Theologie erreicht werden sollte: „Auf eine letzte, jenseits aller bewußten und unbewußten psychischen Nöte liegende Not wird alles bezogen, und aus einer letzten und ersten, jenseits aller auch der tiefsten seelischen Möglichkei-
4 Vgl. D. Hoch, Offenbarungstheologie und Tiefenpsychologie in der neueren Seelsorge (TEH Nr. 195), München 1977. Dazu R. Bohren, Prophetie und Seelsorge, NeukirchenVluyn 1982, bes. S. 203ff.; R. Landau, „Bruchlinien" - Beobachtungen zum Aufbruch einer Theologie; in: EvTh 45 (1985), S. 139-158; W. Kurz, Der Bruch im seelsorgerlichen Gespräch. Zum Sinn einer verfemten poimenischen Kategorie; in: PTh 74 (1985), S. 436^151; A. Grözinger, Offenbarung und Praxis. Zum schwierigen praktisch-theologischen Erbe der Dialektischen Theologie; in: ZThK Beiheft 6, Tübingen 1986, S. 176-193. 5 Vgl. E. Thurneysen, Rechtfertigung und Seelsorge, S. 209f., 217 (F. Wintzer [ed.], Seelsorge, S. 85f., 93). A. a. O., S. 209 (F. Wintzer [ed.], Seelsorge, S. 85). 7 A. a. O., S. 210 (F. Wintzer [ed.], Seelsorge, S. 86).
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ten des Menschen stehenden Hoffnung heraus wird dem Menschen zugesprochen."8 Insofern verdankte es sich nicht nur positioneller Polemik oder rein pragmatischen Erwägungen, wenn die während des Kirchenkampfes und in der Nachkriegszeit so plausible 'dialektische Theologie' in den sechziger Jahren selbst wieder an theologischer Erschließungskraft verlieren sollte: Die eher humanwissenschaftlich orientierten theologischen Traditionen insbesondere aus dem angelsächsischen Raum — angereichert um die Impulse vieler aus Deutschland emigrierter Psychotherapeuten und Tiefenpsychologen — begannen nun allmählich, auch in der deutschsprachigen Seelsorgelehre wieder Fuß zu fassen, und halfen dem Mangel an konkreter, theologisch qualifizierter Praxisreflexion spürbar ab. Die empirische Tradition samt ihrer zwischenzeitlich so verfemten Orientierung am Einzelnen und seiner Lebenserfahrung wurde auf dem Wege dieses theologischen „Re-Imports" offensiv wieder aufgenommen: Im Zentrum der Seelsorgztheorie sollte eben doch der Mensch und seine individuelle biographische bzw. lebensweltliche Perspektive stehen - und nicht eine theologische Konstruktion menschlicher „Wirklichkeit", die letztlich nur als paßförmige Folie zur Applikation der theologischen Botschaft fungiert. Der meistenteils unterbliebene Dialog mit der „modernen Theologie" aus der Zeit der Jahrhundertwende hatte demgegenüber in den sechziger und siebziger Jahren noch mühsame Umwege in die Vereinigten Staaten oder in die Niederlande erforderlich gemacht, wenn es um die theologische Würdigung der Erfahrungswirklichkeit ging, obwohl doch die praktisch-theologischen Grundlegungen solcher empirieorientierten Seelsorgekonzeptionen „behaglich" auch bei Theologen wie F. Niebergall oder O. Baumgarten nachzulesen gewesen wären.9 Für eine solche humanwissenschaftliche Öffnung der Seelsorgetheorie hat sich vor allem Joachim Scharfenberg (1927—1996) in seinen Arbeiten zur Fundierung der Pastoralpsychologie nachhaltig eingesetzt, wobei er sich gleicherweise um den .Anschluß an praktisch-theologische Traditionen des 19. Jahrhunderts wie um eine Aufarbeitung der außertheologischen Forschungen - insbesondere auf dem Gebiet der Psychoanalyse Sigmund Freuds - bemühte.10 Damit war zwar eine Wiederaufnah8 A. a. O., S. 217 (F. Wintzer [ed.], Seelsorge, S. 93). Vgl. dagegen K. Raschzok, Ein theologisches Programm zur Praxis der Kirche; in: ThLZ 120 (1995), Sp. 299312 (Lit.); W. Grab, Deutungsarbeit. Überlegungen zu einer Theologie therapeutischer Seelsorge; in: PTh 86 (1997), S. 325-340. 9 Vgl. D. Rössler, Die Subjektivität der Religion, S. 12. Differenzierend dazu M. Jochheim, Die Anfänge der Seelsorgebewegung in Deutschland. Ein Beitrag zur neueren Geschichte der Pastoralpsychologie; in: ZThK 90 (1993), S. 462-493. 10 Vgl. dazu schon J. Scharfenberg, Johann Christoph Blumhardt und die kirchliche Seelsorge heute, Göttingen 1959; ders., Wo steht die evangelische Seelsorge heute?; in:
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me der empirisch-hermeneutischen Tradition in der Seelsorgelehre eingeleitet, doch wurde dieser Ansatz in der Folgezeit zusehends eingeengt auf die Orientierung an den konzeptionellen Theoriebildungen der verschiedenen tiefenpsychologischen Schulen bzw. psychotherapeutischen Verfahren. Die methodische und organisatorische Ausdifferenzierung der „Seelsorgebewegung" hat so ihrerseits einer professionellen Monopolisierung innerhalb der poimenischen Deutungskultur Vorschub geleistet.11 Gleichwohl soll die praktische Leistungsfähigkeit und Plausibilität der Pastoralpsychologie hier weder in Frage gestellt noch theologisch desavouiert werden - im Gegenteil: Vielmehr hat ja gerade die Evidenz ihrer praktisch-theologischen Erschließungskraft zur Professionalisierung in der seelsorgerlichen Praxis sowie zur fortschreitenden Institutionalisierung der „Seelsorgebewegung" geführt. Nicht die Kritik an den pastoralpsychologischen Praxismodellen und ihren Zielen, sondern die Frage nach der angemessenen Verankerung ihrer personenzentrierten Wahrnehmungsperspektive in der Alltagswirklichkeit ist deshalb heute das vordringliche Problem: Gegen jede Form eines nivellierenden oder bemächtigenden Zugriffs auf das Unreglementierte und Widersprüchliche des gelebten Lebens - im Sinne einer schlechten „Veralltäglichung" — sind gerade die ursprünglichen, auf Befreiung, Lebensgewinn und Erneuerung zielenden Einsichten der psychoanalytischen bzw. gesprächspsychologischen Entdeckungszusammenhänge immer wieder neu in Geltung zu setzen, damit die Seelsorge als ein offener, produktiver Prozeß des Wahrnehmens und Verstehens gestaltet werden kann, welcher dem Unverfugbaren und Kontingenten menschlichen Existierens einen würdigen Raum zu eröffnen vermag.12 So verstanden heißt Seelsorge „am Leben teilnehmen" — nicht auf der Ebene des „Machens" oder Manipulierens, sondern auf der Ebene der Einfühlung und Interpretation. Dabei wird man IF^M 11 (1959), S. 1-9; ders., Sigmund Freud und seine Reägionskritik als Herausforderung für den christlichen Glauben, Göttingen 1968 u. a. m. 11 Dazu kritisch Chr. Möller, Alltägliche Seelsorge in der christlichen Gemeinde; in: W>KG 69 (1980), S. 239-251; R. Schmidt-Rost, Seelsorge ^wischen Amt und Beruf. Stuäen ¡pr Entwicklung einer modernen evangelischen Seelsorgelehre seit dem 19. Jahrhundert (APTh 22), Göttingen 1988; ders., Probleme der Professionalisierung der Seelsorge; in: W^M 41 (1989), S. 31-^2; I. Karle, Seelsorge als Thematisierung von Lebensgeschichte. Gesellschaftsstrukturelle Veränderungen als Herausforderung der evangelischen Seelsorgetheorie; in: M. Wohlrab-Sahr (ed.), Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt/New York 1995, S. 198-217; dies., Seelsorge in der Moderne. Eine Kritik, der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre, Neukirchen-Vluyn 1996. 12 Vgl. H. Luther, Die Zwiespältigkeit des Alltags. Perspektiven der neueren Diskussion zu 'Alltag' und 'Lebenswelt': ein Literaturbericht; in: W^M 38 (1986), S. 436-458; ders., Alltagssorge und Seelsorge: Zur Kritik am Defizitmodell des Helfens; in: a. a. O., S. 2-17 (wiederabgedruckt in: ders., Reägion und Alltag. Bausteine einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, S. 184ff., 224ff.). 295
gleichwohl konzedieren können, daß sich solch eine seelsorgerliche Thematisierung von Lebenserfahrung und Lebensgeschichte zweifellos auch außerhalb der methodisch-reflektierten Interpretationskompetenz der Pastoralpsychologie findet - der gemeindliche Kontext, die lebensweltliche Verankerung sowie die alltagssprachliche Konstitution von „Seelsorge" sollten von hier aus wieder neu in den Blick genommen und für die Seelsorgetheorie fruchtbar gemacht werden.13 Die Einsicht in die alltagspraktischen Dimensionen von Seelsorge koinzidiert dabei mit dem genuin theologischen - und pastoralpsychologischen - Interesse an gelebter Gegenwart und Wirklichkeit, die in kritischer Deutung als Orte der Gegenwart Gottes sich erweisen sollen. Gegen die Tendenz zur positioneilen Selbststilisierung innerhalb der poimenischen Diskussion nach 1945 - wonach eine wirklich theologische Reflexion der Seelsorgelehre in den Jahrzehnten vor ihrer 'Neubegründung' durch E. Thurneysen nachhaltig verloren gegangen sei — ist hier deshalb eine Perspektive rekonstruiert worden, die den zeitgenössischen theologischen Diskussionsrahmen H. A. Köstlins und O. Baumgartens ernst nimmt und nicht lediglich als negative Kontrastfolie disqualifiziert. Gleichzeitig sollte aber auch der Tatsache Rechnung getragen werden, daß sich längst vor den Konzepten der modernen Seelsorgebewegung bereits eine erfahrungsorientierte empirische Tradition zur Reflexion von Seelsorge herausgebildet hatte, die in der poimenischen — insbesondere pastoralpsychologischen - Diskussion der Gegenwart weithin übersehen wird. Wenn es auch diesen praktisch-theologischen Ansätzen aus der Zeit der Jahrhundertwende, gemessen an den Standards heutiger Seelsorgeausbildung, noch an der nötigen theoretischen bzw. methodischen Ausdifferenzierung gefehlt hat, so erweisen sich doch diese Ansätze gerade in ihrer „vorwissenschaftlichen" Tendenz durchaus als anschlußfähig gegenüber den gegenwärtig in der Seelsorge sich abzeichnenden Problemkontexten. Denn die faktische Pluralisierung seelsorgerlicher Arbeitsformen und -Situationen - nicht nur im pastoralen Handeln - läßt doch die Frage aufkommen, ob die „Wissenschaftlichkeit" der Seelsorgelehre nur über den Rekurs auf entsprechende Theoriebildungen pastoralpsychologischer Provenienz eingeholt werden kann - oder ob nicht vielmehr die eigene empirisch-hermeneutische Tradition der Praktischen Theologie den weiteren theoretischen Rahmen darstellt, der sowohl die notwendige Professionalisierung als auch die ursprüngliche und unhintergehbare Alltagsverankerung von Seelsorge zu umgreifen vermag.
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5. Literatur und Abkürzungen
5.1. Verzeichnis verwendeter Abkürzungen Abkürzungen wurden entnommen SIEGFRIED M. SCHWERTNER, TRE Abkürzungsverzeichnis, Berlin/New York 21994. Darüber hinaus bedeuten: DI B/ Deutsches Litteraturblatt EKSW Evangelisches Kirchen(- und Schul)blatt für Württemberg GSG Georg Simmel-Gesamtausgabe KiMo Kirchliche Monatsschrift. Organ für die Bestrebungen der Positiven Union MGEG „Mancherlei Gaben und ein Geist"
5.2. Veröffentlichungen Heinrich Adolf Köstlins -
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Zur Reform der niedern Seminare; in: EKSW 30 (1869), S. 43f., 50-53 Die musikalische Bildung des Theologen; in: EKSW 30 (1869), S. 239-245 Gedächtnißrede auf die in den viertägigen Kämpfen vor Paris am 30. Nov., 2., 3. u. 4. Dez gefallenen deutschen Krieger, Tübingen 1870 (Ubers.)/PRIME, Aus der neuen Welt. Der Mormonismus und seine Zukunft; in: EKSW 31 (1870), S. 81-85 Briefe aus dem modernen Babel; in: EKSW 31 (1870), S. 70, 99f., 124-127, 171174 Aus ernsten Tagen. Eine Reihe von ¥ eidpredigten, Stuttgart 1871 Der Gesangunterricht in der Volksschule; in: Neue Blätter aus Süddeutschland für Erziehung und Unterricht 2 (1873), S. 312-327 Herbstgefuhl (4stimmiges Lied; nach einem Text von Karl Gerok); in: Euterpe. Eine Musikzeitschrift für Lehrer, Cantoren, Organisten und Freunde der Tonkunst überhaupt 32 (1873), S. 157f. Rede gehalten bei der Einweihung des Silcher-Denkmals zu Tübingen; in: Euterpe 33 (1874), S. 132-134 Deutsches Leben im Volksgesange der Reformationszeit; in: Im neuen Reich. Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst 4/1 (1874), S. 17-31 (vgl. S. 248) Geschichte der Musik im Umriß für die Gebildeten aller Stände dargestellt, Tübingen 1875 (21880 Freiburg i. B./Tübingen; 31884; verbesserte Neuausgabe Berlin 888; Berlin 51899; Leipzig 61910) (anonym) Canädatenfahrten. Aus den Papieren eines schwäbischen Pfarrers, Tübingen 1876 (2. Ausgabe Freiburg i. B./Tübingen 1884; 2. Auflage Kanädatenfahrten, Freiburg i. B./Leipzig/Tübingen 1899) Richard Wagner und sein Bühnenfestspiel zu Bayreuth; in: Staatsanzeigerfür Württemberg! Uterarische Beilage 1876, S. 246-254, 264-272, 284-299, 305-316, 321-330
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Zur Frage über die musikalische Ausbildung der Volksschullehrer; in: Süddeutscher Schul-Bote. Eine Zeitschrift für das deutsche Schulwesen 40 (1876), S. 145-147, 153-155 Ueber den gegenwärtigen Stand der Tonkunst. Zum Neujahr 1876; in: Euterpe 35 (1876), S. 1-4,17-19 G. Verdi's „Requiem", auf den Todestag Alessandro Manzoni's componirt; in: Euterpe 35 (1876), S. 130f. (anonym) Josefine Lang. Ein Künstlerleben; in: Euterpe 36 (1877), S. 134—137, 152-157,174-178,194-200 Carl Maria von Weber. Friedrich Silcher (Neue Volks-Bibliothek II. Serie, Heft 19 und 20), Stuttgart 1877 1 Kor. 13, 8: Die Liebe höret nimmer auf! (Leichen- bzw. Grabrede); in: Victor Friedrich Oehler (ed.), Evangelische Casualreden. Ein Beitrag ^ur Predigt der Gegenwart, Stuttgart 1877, S. 326-328 Zeitrede zur Gedächtnißfeier der Kämpfe vom 30. November 1870 zu Ulm auf der Wilhelmsburg am 30. November 1871; in: Victor Friedrich Oehler (ed.), Evangelische Casualreden. Ein Beitrag %ur Predigt der Gegenwart, Stuttgart 1877, S. 632636 Über das altdeutsche Volkslied (Rez. Franz M. Böhme, Altdeutsches Liederbuch, Leipzig 1877); in: Allgemeine Zeitung!Beilage 1877, S. 517-519 (Nr. 35 vom 4. Februar 1877) Joh. 11,1-27; in: HWDH 1 (1878), S. 59-62 Joh. 21, 1-14; in: HWDH 1 (1878), S. 71-74 Epiphanias (Rom. 1,16-25); in: HWDH 1 (1878), S. 122-125 Sonntag Misericordias (Offb. 7, 13-17); in: HWDH 1 (1878), S. 272-275 21. Sonntag nach Trinitatis (1. Cor. 15, 35-40); in: HWDH 1 (1878), S. 548-551 1. Cor. 9, 24-27 (Septuagesimä); in: MGEG 17 (1878), S. 219-223 Matth. 28,1-10 (1. Tag des hl. Osterfestes); in: MGEG 17 (1878), S. 307-311 Apg. 1, 1-11 (Himmelfahrtsfest); in: MGEG 17 (1878), S. 359-362 Hiob 1, 21 (Grabrede); in: MGEG 17 (1878), S. 706f. Rez. „Z. v. Reuß, Zurückgeblieben in Feindesland"; in: DLBl 1 (1878/79), S. 127 Zur Musikgeschichtlichen Literatur; in: DLBl 1 (1878/79), S. 129f. Die Tonkunst. Einführung in die Ästhetik der Musik, Stuttgart 1879 Rede Einweihung der in der Stiftskirche Tübingen Ehren der im Feld^ug 187071 gefallenen Tübinger aufgerichteten Gedenktafel, Tübingen 1879 Sonntag nach Christfest (Luc. 2, 15-20); in: HWDH 2 (1879), S. 59-62 Karfreitag (Passionsgeschichte); in: HWDH 2 (1879), S. 205-208 Sonntag Cantate (Joh. 16,16-23); in: HWDH 2 (1879), S. 304-307 2. Sonntag nach Trinitatis (Luc. 15,1-10); in: HWDH 2 (1879), S. 349f. 6. Sonntag nach Trinitatis (Matth. 6,19-34); in: HWDH 2 (1879), S. 361-364 Matth. 11,16-24 (Septuagesimä); in: MGEG 18 (1879), S. 184-187 1. Petr. 2,11-17 (Jubílate); in: MGEG 18 (1879), S. 302-305 Neueste Musik-Literatur; in: DLBl2 (1879/80), S. 135f., 142f. Die Musik als christliche Volksmacht (ZCVL Bd. V, Heft 5), Heilbronn 1880 Sonntag Reminiscere (1. Thess. 4,1-12); in: HWDH 3 (1880), S. 128f. Sonntag Cantate (Jacobi 1, 13-20); in: HWDH 3 (1880), S. 228f. 1. Sonntag nach Trinitatis (1. Joh. 4,16-21); in: HWDH 3 (1880), S. 281-284 2. Sonntag nach Trinitatis (1. Joh. 3,13-24); in: HWDH 3 (1880), S. 316f. 8. Sonntag nach Trinitatis (Rom. 8,12-17); in: HWDH 3 (1880), S. 368-371 20. Sonntag nach Trinitatis (Eph. 5,15-21); in: HWDH 3 (1880), S. 516-519
2. Cor. 12,1-10 (Sexagesimä); in: MGEG 19 (1880), S. 201-204 Luk 24, 36-47 (Quasimodogeniti); in: MGEG 19 (1880), S. 281-284 Matth. 10, 24-33 (Cantate); in: MGEG 19 (1880), S. 301-304 Joh. 7, 33-39 (Exaudi); in: MGEG 19 (1880), S. 324-327 Rez. „Frauenbibliothek"; in: DLBl 3 (1880/81), S. 4f. Überblick über die neueste Musik-Litteratur; in: DLBl 3 (1880/81), S. 133-135, 140-142 Josefine Lang (Sammlung musikalischer Vorträge Nr. 26/27; [Serie III, S. 51103]), Leipzig 1881 Konradin Kreuzer. Eine Säkularerinnerung; in: Daheim 17 (1881), S. 124—128 10. Sonntag nach Trinitatis (Luk. 19,1-10); in: HWDH 4 (1881), S. 461-163 21. Sonntag nach Trinitatis (Joh. 11, 32-45); in: HWDH 4 (1881), S. 555-558 Joh. 10, 22-30 (Misericordias Domini); in: MGEG 20 (1881), S. 346-349 1. Petri 4, 8-11 (Exaudi); in: MGEG 20 (1881), S. 377-381 Luther ab der Vater des evangeüschen Kirchengesanges (Sammlung musikalischer Vorträge Nr. 34; [Serie III, S. 289-316]), Leipzig 1882 Ueber die nächsten Ziele und Aufgaben der Kirchengesang-Vereine; in: Der erste deutsch-evangelische Kirchengesang-Vereinstag Stuttgart am 3. und 4. Oktober 1882, Stuttgart 1882, S. 34-51 (wiederabgedruckt in: Euterpe 42 [1883], S. 139-141, 158-160,172-175; 43 [1884], S. 8-11, 26-30) 1. Kor. 13,13 (Kopulationsrede); in: MGEG 21 (1882), S. 618-620 1. Kor. 15, 43 (Grabrede); in: MGEG 21 (1882), S. 647f. Psalm 51, 11-14 (Beicht- und Abendmahlsrede); in: MGEG 21 (1882), S. 659662 Liturgische Passionsfeier, auf Carfreitag Nachmittag; in: HWDH 6 (1883), S. 264-267 Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis (Matth. 5, 17—18); in: Gustav Gerok (ed.), Himmelan! Ein Jahrgang Evangelienpreägten aus Württemberg, Stuttgart 1884, S. 353— 362 2. Sonntag nach Epiphaniä (Rom. 12, 6-16); in: HWDH 7 (1884), S. 119-123 Osterfest (1. Cor. 15,1-20); in: HWDH 1 (1884), S. 270-274 Der Begriff des geistlichen Amts; in: Theologische Studien aus Württemberg 6 (1885), S. 150-209, 243-252 (zugleich als Monographie Ludwigsburg 1885) Septuagésima (Matth. 11,16-24); in: HWDH 8 (1885), S. 85f. Vorbereitungspredigt (2. Petr. 3, 9); in: HWDH 8 (1885), S. 183-186 14. Sonntag nach Trinitatis (Matth. 13, 44-50); in: HWDH 8 (1885), S. 465-468 Pro domo; in: DLBl 8 (1885/86), S. 5f. Rez. „Das katholische deutsche Kirchenlied"; in: DLBl 8 (1885/86), S. 42f., 9 (1886/ 87), S. 65f. Im Felde. Bilder und Erinnerungen aus dem Jahre 1870/71, Friedberg 1886 Philipp Jakob Spener in seiner Bedeutung für die Geschichte der Seelsorge; in: HWDH 9 (1886), S. 97-115 Professor und Pfarrer Dr. H. A. Köstlin; in: Gustav Diegel (ed.), Denkschrift des evangeüschen Prediger-Seminars ^uFriedherg für äe Jahre 1869 bis 1885, Friedberg 1886, S. 214-230 Deutsche Musiker IV: Der Uhland-Sänger; in: Daheim 22 (1886), S. 749f. 4. Advent (1. Joh. 1 , 1 - t ) ; in: HWDH 9 (1886), S. 32 4. Sonntag nach Epiphanias (Rom. 2, 4-11); in: HWDH 9 (1886), S. 79-83 4. Sonntag nach Trinitatis (Apg. 9,1-20); in: HWDH 9 (1886), S. 374-377 Rez. „Geschichte des Tanzes in Deutschland"; in: DLBl 9 (1886/87), S. 70f. Wissen und Glauben; in: DLBl9 (1886/87), S. 93f. 299
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Aus dem Reichsland; in: DLBI 9 (1886/87), S. 187f. Geschichte des christächen Gottesdienstes. Ein Handbuch für Vorlesungen und Übungen im Seminar, Freiburg i. B. 1887 Philipp Jacob Spener als Lehrer der Jugend; in: Gustav Diegel (ed.), Denkschrift des evangelischen Predigerseminars Friedberg für das Jahr 1886 und bis Frühjahr 1887, Friedberg 1887, S. 139-153 Palmarum (Abschnitt 3 der Leidensgeschichte); in: HWDH 10 (1887), S. 275278 Rogate Ooh. 16, 23-33); in: HWDH 10 (1887), S. 349-351 1. Sonntag nach Trinitatis (Luk. 16,19-31); in: HWDH 10 (1887), S. 407-409 Zur geistlichen Hausmusik; in: DLBI 10 (1887/88), S. 177f. Rez. „G. Hammon, Einiges aus dem Tagebuche eines Feldgeistlichen im Kriege 1870/71 /W. Bussler, Aus meinen Kriegsleben/J. Wöllwarth, Unter den Verwundeten von 1870/71"; in: ThLZ 13 (1888), Sp. 100 Rez. „O. Wächter, Bengel und Oetinger"; in: ThLZ 13 (1888), Sp. 199-202 Rez. „K. Sartorius, Die Leichenverbrennung innerhalb der christlichen Kirche"; in: ThLZ 13 (1888), Sp. 337-339 Rez. „B. Riggenbach j o h a n n Tobias Beck"; in: ThLZ 13 (1888), Sp. 378-382 Rez. „G. v. Zezschwitz, Die Christenlehre im Zusammenhang"; in: ThLZ 13 (1888), Sp. 457^61 Rez. „H. Bassermann, Entwurf eines Systems evangelischer Liturgik"; in: ThLZ 13 (1888), Sp. 475-477 Ludwig von Beethoven; in: DLBI 11 (1888/89), S. 129f. Der seelsorgerliche Krankenbesuch; in: HWDH 12 (1889), S. 17-32 Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis; in: ChW 3 (1889), Sp. 260-262, 291-294, 327-329 Rez. „Möller, Das ausseramtliche Leben des Geistlichen"; in: ZprTh 11 (1889), S. 93-96 Rez. „Bedenken, christliche, über modern christliches Wesen"; in: ThLZ 14 (1889), Sp. 382-385 Septuagesimä (Matth. 20, 1-16); in: HWDH 12 (1889), S. 193-196 Judica (Matth. 27, 22); in: HWDH 12 (1889), S. 269-272 Himmelfahrt (Hebr. 4, 14-16); in: HWDH 12 (1889), S. 371-374 12. Sonntag nach Trinitatis Qoh. 8, 31^5); in: HWDH 12 (1889), S. 507-512 17. Sonntag nach Trinitatis (Matth. 7, 7-11); in: HWDH 12 (1889), S. 567-572 Über das Kirchliche in der Musik; in: Corresponden^blatt des evangelischen Kirchengesangvereinsfür Deutschland 4 (1890), S. 1-5,13-18 Die kirchliche Seelsorge an den Gefangenen; in: HWDH 13 (1890), S. 105-121 Eine Eßlinger Erinnerung vom Neujahrstag 1803. Mitgeteilt aus Familienpapieren von Pfr. K. in R.; in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 5 (1890), S. 46f. 12. Sonntag nach Trinitatis (2. Kor. 3, 4—9); in: HWDH 13 (1890), S. 240f. Rez. „K. Buchrucker, Grundlinien der kirchlichen Katechetik"; in: ThLZ 15 (1890), Sp. 312-314 Rez. „Fr. Oehmke, Die fünf Hauptstücke des lutherischen Katechismus"; in: ThLZ 15 (1890), Sp. 338f. Rez. „K. Euler, Handbuch zum kleinen Katechismus Luthers/Fr. Wild, Der kleine Katechismus D. Martin Luthers"; in: ThLZ 15 (1890), Sp. 336-338 Rez. „Th. Hardeland, Der kleine Katechismus D. Martini Lutheri"; in: ThLZ 15 (1890), Sp. 362f. Rez. „Edm. Pfleiderer, Erlebnisse eines Feldgeistlichen im Kriege 1870/71"; in: ThLZ 15 (1890), Sp. 459f.
Friede sei mit euch! Abschiedspreägt am Sonntag Quasimodogeneti (1891) in der Stadtkirche Friedberg, Friedberg [1891] Antrittspreägt über das Evangelium des ^weiten Pfingsrfeiertages, in der Stadtkirche Darmstadt am 18. Mai 1891 gehalten, Dannstadt 1891 Zur pastoraltheologischen Litteratur; in: HWDH 14 (1891), S. 19-27 Art „Antiphon"; in: CKLBd. I, Calw/Stuttgart 1891, S. 91 Art. „Gesangbuch"; in: CKLBd. I, Calw/Stuttgart 1891, S. 618f. Art. „Gottesdienst"; in: CKLBd. I, Calw/Stuttgart 1891, S. 650-653 Art. „Händel"; in: CKLBd. I, Calw/Stuttgart 1891, S. 704f. Art. „Hymnologie"; in: CKLBd. I, Calw/Stuttgart 1891, S. 805 Art. „Katechese, Katechet, Katechetik, Katechumenat"; in: CKL Bd. I, Calw/Stuttgart 1891, S. 908-911 Art. „Katechismus"; in: CKLBd. I, Calw/Stuttgart 1891, S. 911-913 Art. „Kirchengesangverein"; in: CKLBd. I, Calw/Stuttgart 1891, S. 932f. Art. „Kirchenjahr"; in: CKLBd. I, Calw/Stuttgart 1891, S. 936f. Art. „Kirchenlied"; in: CKLBd. I, Calw/Stuttgart 1891, S. 938-941 Art. „Kirchenmusik"; in: CKLBd. I, Calw/Stuttgart 1891, S. 941-945 Weihnachten (Hebr. 2, 14.15); in: HWDH 14 (1891), S. 85-87 Rez. „Fricke, Aus dem Feldzuge 1866"; in: ThLZ 16 (1891), Sp. 483f. Rez. „A. Krauss, Lehrbuch der praktischen Theologie, Bd. I"; in: ThLZ 16 (1891), Sp. 629-634 3. Advent (Luk. 3, 2-18); in: HWDH 15 (1892), S. 57f. Estomihi (Matth. 16, 21-23); in: HWDH 15 (1892), S. 263-266 Bittgottesdienst für den in schwerer Todesgefahr schwebenden Landesherrn; in: HWDH 15 (1892), S. 506f. Trauerfeier zum Gedächtnis Sr. K. Hoheit des Großherzogs Ludwig IV. von Hessen und bei Rhein; in: HWDH 15 (1892), S. 507-510 Drei Predigten am 3. Epiphaniensonntag, Karfreitag und Osterfest, Darmstadt 1893 Grundsätze über die Behandlung des kleinen lutherischen Katechismus im Religions-Unterricht; in: HWDH 16 (1893), S. 1-10, 89-98 Art. „Liturgie"; in: CKLBd. II, Calw/Stuttgart 1893, S. 55-59 Art. „Seelsorge"; in: CKLBd. II, Calw/Stuttgart 1893, S. 686-688 2. Advent (Rom. 14, 7-12); in: HWDH 16 (1893), S. 50-53 Gründonnerstag (Vorbereitung); in: HWDH 16 (1893), S. 259-262 Exaudi (Kol. 3,1-10); in: HWDH 16 (1893), S. 390f. 7. Sonntag nach Trinitatis (Hebr. 12, 5-11); in: HWDH 16 (1893), S. 488-490 22. Sonntag nach Trinitatis (2. Kor. 4,11-18); in: HWDH 16 (1893), S. 622f. Rez. „J. Schubring, Briefwechsel zwischen Felix Mendelssohn Bartholdy und Julius Schubring"; in: ThLZ 18 (1893), Sp. 26-28 Rez. „E. Blech, Pfarramtsideal"; in: ThLZ 18 (1893), Sp. 59f. Rez. „Th. Kaftan, Auslegung des lutherischen Katechismus"; in: ThLZ 18 (1893), Sp. 595f. Die Wandlungen im Begriff der Seelsorge. Erster Artikel; in: HWDH 17 (1894), S. 1-12, 57-66,108-117 Die Wandlungen im Begriff der Seelsorge. Zweiter Artikel; in: HWDH 17 (1894), S. 297-322 Rede (Skizze) zur Feier des 25jährigen Bestandes der freiwilligen Sonntagsschule in Darmstadt; in: HWDH 17 (1894), S. 95-98 Weihrede bei der Einweihung der neuerbauten Kirche des Diakonissenhauses Elisabethenstift in Darmstadt; in: HWDH 17 (1894), S. 348-351 Kircheinweihung; in: HWDH 17 (1894), S. 391-394 301
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Rez. „Ed. Meuss, Die gottesdienstlichen Handlungen"; in: ThLZ 19 (1894), Sp. 118-120 Rez. „A. Krauss, Lehrbuch der praktischen Theologie, Bd. 2"; in: ThLZ 19 (1894), Sp. 224-228 Die Lehre von der Seelsorge nach evangelischen Grundsätzen (Sammlung von Lehrbüchern der praktischen Theologie in gedrängter Darstellung Bd. V), Berlin 1895 (21907) Von der Armen Achtum und der Reichen Armut. Von der Vereinsamung. Zwei Predigten, Darmstadt 1895 Nach fünfundzwanzig Jahren! Predigt am 1. September 1895 in der Stadtkirche Darmstadt gehalten, Darmstadt 1895 Adventszeit (Luk. 1, 68.69); in: HWDH 18 (1895), S. 37^10 1. Advent (Matth. 21,1-9); in: HWDH 19 (1896), S. 34-37 14. Sonntag nach Trinitatis (2. Kor. 4, 5-10); in: HWDH 19 (1896), S. 478-480 Rez. „F. A. Gevaert, La Mélopée antique dans le chant de l'église latine"; in: ThLZ 21 (1896), Sp. 140-145 Rez. Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst, 1. Jahrgang"; in: ThLZ 21 (1896), Sp. 434f. Predigt am Vorabend des G.-A.-Festes 28. September 1897; in: Neun Predigten bei der 50. Hauptversammlung des EvangeL [ischen] Vereins der GustavA doIf Stiftung in Berlin am 28. und 29. September 1897, Leipzig 1897, S. 3-10 Melanchton und das Lehramt; in: ChW 11 (1897), Sp. 139 Zum Gedächtnis Melanchtons; in: HWDH 20 (1897), S. 293-303 Die deutsche Tonkunst; in: Hans Meyer (ed.), Das deutsche Volkstum, Leipzig/Wien 1898, S. 525-568 (21903, Teilband 2, S. 137-186) Rez. „K. Knoke (Hg.), Die Passion Christi von Thomas Mancinus"; in: ChW 12 (1898), Sp. 258f. Rez. „Albert Flein, Ein Wort über volkstümliche Kunst"; in: ChW 12 (1898), Sp. 427f. Die Mission auf der Kanzel; in: HWDH 22 (1899), S. 357-368 Estomihi (Mark. 10, 35-45); in: HWDH 22 (1899), S. 151-153 Predigt am Missionsfest (Joh. 4, 34-38); in: HWDH 22 (1899), S. 584-587 Rez. „J. Freisen, Liber Agendarum ecclesie et diocesis Sleszwicensis/Manuale Curatorum secundum usum ecclesie Rosckildensis"; in: ThLZ 24 (1899), Sp. 614-616 Eine bisher unbekannte Kirchenordnung aus dem XVI. Jahrhundert; in: HWDH 23 (1900), S. 401-415 Karfreitag; in: HWDH 23 (1900), S. 309-312 Rez. „G. Rietschel, Lehrbuch der Liturgik, I. Band"; in: ZprTh 22 (1900), S. 265274 Rez. „Ph. Dietz, Dr. August Friedrich Christian Vilmar, weil. ord. Professor der Theologie zu Marburg, als Hymnolog"; in: ZprTh 22 (1900), S. 377f. Predigten und Reden, Gießen 1901 Konrad Durplatz aus Friedberg; in: HWDH 24 (1901), S. 67-79 1. Joh. 4, 9; in: HWDH 24 (1901), S. 36-39 Konfirmationsfeier (der Söhne); in: HWDH 24 (1901), S. 298-303 Art. „Kirchengesangvereine, evangelische"; in: RE3 Bd. 10, Leipzig 1901, S. 367-376; Ergänzungen: a. a. O., S. 882; Bd. 13, Leipzig 1903, S. 803 [Bd. 23, Leipzig 1913, S. 755f.] Art. „Kirchenmusik"; in: RE 3 Bd. 10, Leipzig 1901, S. 443-458
Das Magnificat Lc I, 46-55. Lobgesang der Maria oder der Elisabeth?; in: ZNW 3 (1902), S. 142-145 Zur Evangelisierung alt-liturgischer Stücke; in: MGKK 1 (1902), S. 119-122, 224-230, 252-256; 9 (1904), S. 215-221 Trinitatisfest; in: HWDH 25 (1902), S. 390-392 /RICHARD LAUXMANN f , Art. „Lobwasser, Ambrosius"; in: RE 3 Bd. 11, Leipzig
1902, S. 568-570 Art. „Magnifikat"; in: RE3 Bd. 12, Leipzig 1903, S. 71-75 Art. „Miserere"; in: RE 3 Bd. 13, Leipzig 1903, S. 87-89 Entwurf zur Konfirmationsfeier; in: MGKK 8 (1903), S. 52-56, 98-100 Joh. 17, 20-21 (Erster Adventssonntag); in: HWDH 26 (1903), S. 34-37 Zur Liturgik; in: HWDH 27 (1904), S. 593-600 Art. „Orgel"; in: RE 3 Bd. 14, Leipzig 1904, S. 428-436 Erster Weihnachtstag. 1. Joh. 4, 9; in: HWDH 27 (1904), S. 94-96 Joh. 2,1-11 (Epiphanias); in: HWDH 27 (1904), S. 153-156 Estomihi. Psalm 95, 7b. 8a; in: HWDH 27 (1904), S. 209-212 1. Osterfeiertag. Joh. 20, 29; in: HWDH 27 (1904), S. 307-310 Pastoraltheologische Betrachtungen; in: MPTh 1 (1904/05), S. 1-3, 43-46, 8587,129-131,169-171, 211-213, 251-253, 295-297, 335-337, 377-380, 417-419 Zur Verständigung über das Wesen des evangelischen Gottesdienstes; in: MPTh 1 (1904/05), S. 69-71 Zum Gedächtnis von D. J. Gustav Diegel; in: MPTh 1 (1904/05), S. 140-154 Religion und Bildung; in: MPTh 1 (1904/05), S. 199-201 Wirksamkeit der Predigt; in: MPTh 1 (1904/05), S. 208 Was schulden wir dem Alter?; in: MPTh 1 (1904/05), S. 333f. Zur Pflege des persönlichen Lebens; in: MPTh 1 (1904/05), S. 388-395 Das Neue Testament im Licht der modernen Theologie; in: MPTh 1 (1904/05), S. 452-459 Nochmals das neue Kirchenbuch für das Großherzogtum Hessen; in: MGKK 10 (1905), S. 16-18 Art. „Psalmodie"; in: RE 3 Bd. 16, Leipzig 1905, S. 218-226 Art. „Requiem"; in: RE 3 Bd. 16, Leipzig 1905, S. 665-669 Uebersicht über die Entwicklung der evangelischen Kirchengesang-Vereine in Deutschland; in: MPTh 2 (1905/06), S. 80-87 Rez. „A. l'Houet, Zur Psychologie des Bauerntums"; in: MPTh 2 (1905/06), S. 149f. Zur Theologenerziehung, in: MPTh 2 (1905/06), S. 305-308 Lernen wir aus der Vergangenheit?; in: MPTh 2 (1905/06), S. 425-428 Art. „Köstlin: Josefine Caroline K (Josefine Lang)"; in: ADB 51 [1906], Neudruck Berlin 1971, S. 345-350 Zur Gesangbuchfrage; in: EKSW67 (1906), S. 105-108 Pastoraltheologische Betrachtungen; in: MPTh 3 (1906/07), S. 1-6, 49-52, 141— 143, 201-203, 383-385 Zur Standesseelsorge der Pfarrer; in: MPTh 3 (1906/07), S. 112-118 Ein Vermächtnis; in: MPTh 3 (1906/07), S. 181-188 Musikalisches zum Paul Gerhardt-Jubiläum; in: MPTh 3 (1906/07), S. 251-253 D.Johannes Gottschick; in: MPTh 3 (1906/07), S. 280-282 Art. „Te Deum"; in: RE 3 Bd. 18, Leipzig 1907, S. 465-469 Aus einem Pariser Tagebuch Heinrich Adolf Köstlins; in: Staats-Anzeiger für Württemberg 1910/ Literarische (Besondere) Beilage, S. 24-32, 43-48, 59-62
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Aus meinem Feldpredigerleben. 1870-1871; in: Staats-Anzeiger für Württemberg 1910/ Literarische (Besondere) Beilage, S. 209-219, 225-235, 241-247, 257-264, 273-278, 289-298, 305-314, 321-328
5.3. Veröffentlichungen Otto Baumgartens -
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Herders Bruch mit Goethe, eine Abrechnung zwischen klassisch-ästhetischer und christlich-moralistischer Weltanschauung; in: ChW 1 (1887), S. 353f., 363365, 373-375, 383-385 (503-505) Herder 's Anlage und Bitdungsgang %um Prediger, Halle 1888 Laienpredigt; in: ChW 2 (1888), S. 418-421 Der Protestantentag zu Bremen, ein Jubiläum; in: ChW2 (1888), S. 440-444 Ueber praktische Auslegung; in: ZprTh 11 (1889), S. 297-311 Der Seelsorger unsrerTage (Evangelisch-soziale Zeitfragen 1/3), Leipzig 1891 Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens" in der praktischen Theologie; in: ZprTh 14 (1892), S. 50-68 D. Sulze's Evangelische Gemeinde; in: ZprTh 14 (1892), S. 256-277, 345-359 Die Bedeutung des englischen Einflusses für die deutsche praktische Theologie; in: ZprTh 15 (1893), S. 241-249 Der Ertrag der neuesten kirchenrechtlichen Werke für die praktische Theologie; in: ZprTh 16 (1894), S. 329-358; 17 (1895), S. 97-122; 18 (1896), S. 138-168 Grundzüge einer psychologischen Seelsorge am sündigen Menschen; in: ZprTh 18 (1896), S. 1-23 Art. „Herder, Joh. Gottfried"; in: EHP Bd. III, Langensalza 1897, S. 601-675 Neuer und alter Glaube; in: ChW 12 (1898), Sp. 771-778, 795-799 Leitfaden der Homiletik, Kiel 1899 Über die Bedeutung des wissenschaftlichen Betriebs der pädagogischen Kunst; in: ZprTh 21 (1899), S. 157-171 Bismarcks Stellung Religion und Kirche zumeist nach eigenen Aeußerungen (HCW Nr. 44), Tübingen/Freiburg i. B./Leipzig 1900 Der protestantische Lehrprozess; in: ZprTh 22 (1900), S. 53-76 Moderne Ideale; in: Schleswig-Holsteinisches Kirchenblatt 1 (1900), H. 2, S. lf. Der feste Grund unseres geschichtlichen Glaubens; in: Schleswig-Holsteinisches Kirchenblatt 1 (1900), H. 7, S. 3 Entstehungsgeschichte einer Predigt; in: MKP1 (1901), S. 21-28 Kirchliche Chronik (13. XII. 1900); in: MKP 1 (1901), S. 35-40 Kirchliche Chronik (5. 1. 1901); in: MKP 1 (1901), S. 68-74 Der Todesgedanke Jesu; in: MKP 1 (1901), S. 80-89 Die Osterthatsache und unsere Osterpredigt; in: MKP 1 (1901), S. 123-127 Kirchliche Chronik (21. Mai 1901); in: MKP 1 (1901), S. 212-220 Kirchliche Chronik (3. Juli 1901); in: MKP 1 (1901), S. 249-256 Kirchliche Chronik (7. August 1901); in: MKP 1 (1901), S. 285-294 Über die Behandlung des Katechismus; in: Schleswig-Holsteinisches Kirchenblatt 2 (1901), H. 19, S. 1-3; H. 20, S. lf.; H. 21, S. 5f.; H. 22, S. lf.; H. 23, S. lf. D. Kaftans Auslegung des lutherischen Katechismus; in: Schleswig-Holsteinisches Kirchenblatt 2 (1901), H. 38, S. lf.; H. 39, S. lf.; H. 40, S. lf.; H. 41, S. lf.; H. 42, S. lf.; H. 43, S. 1-3; H. 44, S. 1-3; H. 45, S. 1-3; H. 46, S. 1-3; H. 47, S. lf.; H. 48, S. 1-3; H. 49, S. lf.; H. 50, S. lf., H. 51, S. 2-4; H. 52, S. 1-3 Kirchliche Chronik (4. Januar 1902); in: MKP 2 (1902), S. 36-42 Kirchliche Chronik (5. Februar 1902); in: MKP 2 (1902), S. 72-81
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341
6. Namen- und Autorenregister
Abeljulius 159 Achelis, Ernst Christian 10, 42, 46f., 53, 88, l l l f f . , 128,136, 140, 142, 145,160f., 192,199, 202, 261 Ackermann, Wilhelm 58 Ancillon, Friedrich 15 Arndt, Theodor 40f., 43f. Baerwald, Richard 75 Baldensperger, Wilhelm 161 Bassermann, Heinrich 80, 91ff., 98f., 108ff., 136,159, 220f. Bassi, Hasko von 93, 96f., 143, 206, 209ff., 236, 245f., 258, 261, 265f. Baumann, Eugen 119 Baumgarten, Hermann 206, 209 Bechtoldsheimer, Heinrich 65f., 91 Beck, Johann Tobias 37, 84,121,137, 147,149,150,156ff., 181,184, 266 Beck, Lewis White 144 Becker, Edwin 157f. Becker, Theophil 156 Behrens, Franz 119 Benjamin, Walter 15f., 64, 151 Benser, Hermann 212 Bernet, Walter 77 Besser, Max 109 Beth, Karl 11,47,82,136,239 Beyschlag, Willibald 94, 210, 218 Biedermann, Alois Emanuel 208, 231 Birkner, Hans-Joachim 34 Birnbaum, Walter 101,130 Bittlinger, Ernst 31 Blaschke, Olaf 28 Bloth, Peter Constantin 47, 220 Blumhardt, Christoph 11 Blumhardt, Johann Christoph 11 Bodelschwingh, Friedrich von 11 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 28
342
Boehmer, Julius 95, 119 Börner, Wilhelm 76f. Boisen, Anton T. 205 Bonhoff, Karl 48 Bonus, Arthur 54, 69f., 80 Borée, Wilhelm 118 Born, Karl Erich 16 Bornemann, Wilhelm 22, 76, 78, 108f., 114f., 223, 238 Bousset, Wilhelm 238, 240, 249 Brakelmann, Günter 66, 224 Breda, Franz 238 Brieger, Theodor 27 Bruch, Rüdiger vom 25, 73 Bruder, Klaus-Jürgen 122 Büttner, Friedrich 195 Bunke, Ernst 91,220 Burger, Karl 131 Burk, Carl 37 Burk, Philipp David 82 Carneri, Bartholomäus 76 Caspari, Walter 105, 253f. Christ, Paul 56, 129 Christaller, Helene 59 Christlieb, Max 227,239 Christlieb, Theodor 129 Ciasen, Ludwig 253 Classen, Walter F. 67,119 Ciernen, Carl 50,76,114 Conze, Werner 16 Cremer, Hermann 137 Danz, Johann Traugott Leberecht 106 Delitzsch, Franz 236f. Dessoir, Max 73 Dibelius, Otto 65 Diegel, Gustav 116,144,158ff.
Dienst, Karl 146,159 Dobschütz, Ernst von 22 Doerry, Martin 73 Domansky, Walther 79 Drehsen, Volker 11, 33f., 94, 99, 101f., 106,120,122, 131, 215 Drews, Paul 40, 45, 52, 57, 62, 93f., 104f., 111,113,116ff., 161, 261, 291 Dunkmann, Karl 18,240 Duntze, Hermann 32 Durand-Pallot, Charles 245 Dürkheim, Emile 29 Eck, Samuel 37,247,272 Eckart, Wolfgang 75 Ecke, Gustav 121,237 Eckert, Alfred 88f., 111,118, 239 Eger, Karl 62f., 116 Ehlers, Rudolf 22, 91, 93 Ehrenfeuchter, Friedrich A. E. 106f. Eichhorn, Albert 210, 217, 253 Eiert, Werner 73 Elwert, Eduard 149 Erb, Wilhelm 75 Erikson, Erik H. 270 Ermel, Horst Dieter 31 Eucken, Rudolf 16, 25f., 69f. Falk, Johannes 217 Faut, Samuel 245 Fendt, Leonhard 12f., 105 Fertsch, Ferdinand Friedrich 159 Ficker, Gerhard 217 Ficker, Theodor 130 Fleck, Wilhelm 173 Foerster, Erich 53, 64f., 70, 76, 91, 121,162, 225, 238 Foerster, Friedrich Wilhelm 124 Fornelli, Niccolo 71 Frank, G. 209 Freud, Sigmund 75ff., 294 Freytag, Hermann 65 Frobenius, Friedrich August 196 Frommel, Max 191, 200f. Frühauf, Walter 111,140 Fuchs, Konrad 117 Füllkrug, Gerhard 36,120, 250
Gallwitz, Hans 81,119 Gatz, Erwin 135 Gebhardt, Hermann 118 Geffcken, Heinrich 59f., 97 Gennrich, Paul 165 Gerbracht, Diether 199 Gerkin, Charles V. 205 Gerok, Gustav Adolf 154,162 Gerok, Karl 154 Geyer, Christian 65 Girgensohn, Karl 239 Glaue, Paul 121 Gmelin, Albert 159 Gmelin, Julius 96 Gnauck, Elisabeth 119 Göbell, Walter 218, 236 Göhre, Paul 32, 66f., 119 Gottschick, Johannes 80f., 161 Gottschick, Wilhelm 161 Grab, Wilhelm 34, 62, 81, 294 Graf, Friedrich Wilhelm 24ff., 61, 66, 73,101,107, 143, 207, 211, 215, 246 Graue, Paul 32,44 Greschat, Martin 16, 215 Grethlein, Christian 116 Grünberg, Paul 40,52,65 Grützmacher, Richard Heinrich 63, 239f., 258f. Gumbrecht, Hans Ulrich 15 Günther, Rudolf 160 Gunkel, Hermann 277f. Guth, Heinrich 79 Habermas, Jürgen 17, 19f. Haeckel, Ernst 69 Häring, Theodor 19, 79, 161 Hagenbach, Karl Rudolf 209f. Hardeland, August Wilhelm 9ff., 125, 128, 256 Harms, Claus 103,120 Harnack, Adolf (von) 28,56,68,113, 210, 223, 267 Harnack, Theodosius 131,137 Harsch, Helmut Ludwig 159,168, 172 Hartmann, Eduard von 22f., 70,113, 214 Haupt, Erich 108,132 343
Hauschildt, Eberhard 129,132, 296 Haym, Rudolf 209, 227 Heitmann, Ludwig 24, 72 Hellpach, Willy 73,75 Herder, Johann Gottfried 7,106,115, 209f., 214f., 226ff., 258, 260, 268f., 289 Hering, Hermann 88, 141 Hermand,Jost 73 Herrmann, Wilhelm 167f., 184, 242 Hesekiel, Johannes 141 Hesselbacher, Karl 118 Heyck, Eduard 68 Hobbing, Ubbo Gerhard 214 Hölscher, Lucian 15, 27, 68 Hönig, Wilhelm 37, 43, 213f., 237 Hoepel, Gustav 51 Hoerschelmann, Ferdinand 131 Hofmann, Rudolph 104 Holtzmann, Heinrich Julius 22f., 28, 91, 103, 208 Homann, Harald 28f. Homrichshausen, Christian 57 Hopf, Reinhold 177 Huber, Wolfgang 56 Hübinger, Gangolf 24ff., 37, 40, 69, 73, 75, 95, 209 Hüffell, Ludwig 106 Hunzinger, August Wilhelm 33 Jaeger, Johannes 132 James, William 122,243 Janz, Oliver 57,62,138 Jatho, Carl 96, 222f., 238 Jochheim, Martin 294 Jülicher, Adolf 214 Jüngst, Johannes 94,121 Kabisch, Richard 189, 261, 291 Kaftan, Julius 39 Kaftan, Theodor 65,160, 218ff., 236ff. Kaiser, Gottlieb Philipp Christian 127,199 Kaiser, Jochen-Christoph 32 Kappstein, Theodor 59 Karle, Isolde 295 344
Kattenbusch, Ferdinand 161 Katzer, Ernst 45, 58 Kaufmann, Franz-Xaver 15, 26, 28 Kawerau, Gustav 89,132, 216 Keller, Adolf 124f. Kind, August 103 Kirmss, Paul 93,104 Klein, Ernst 50 Kleinert, Paul 10, 47, 86f., 100,105, 159, 257 Kleinpaul, Bernhard 199 Knapp, Joseph 24, 82 Knoke, Karl 88f., 135f. Kober, Reinhard 201 Koch, Georg 70 Köhler, Karl 88,158 Köstlin, Christian Reinhold 146f. Köstlin, Heinrich Gotthilf 147 Köstlin, Julius 147 Köstlin, Karl von 150f. Köstlin, Nathanael 146f. Kohli, Martin 20 Koselleck, Reinhart 14f., 21, 28 Krause, Gerhard 96, 113, 116,137 Krauss, Alfred 138ff., 172 Krech, Volkhard 29 Kroeger, Matthias 5, 54, 56 Krüger, Gustav 161 Krüggeier, Michael 19 Kübel, Johannes 56 Kübel, Robert 37,128f., 147,149, 166, 184, 237, 266, 274 Kuhlemann, Frank-Michael 28 Kupisch, Karl 68 Lamprecht, Karl 15, 69, 75 Lange, Friedrich Albert 251 Langewiesche, Dieter 24 Lang-Köstlin, Josefine Caroline 146ff. Lasch, Gustav 71 Lembert, R. 72 Lempp, Otto 29 Lepp, Claudia 211 Lepsius, M. Rainer 21, 27 Lhotzky, Heinrich 69 Liebermann, Bernhard 197, 201 Liebner, Theodor Albert 127f.
Liliencron, Rochus von 74,155 Lipsius, Richard Adelbert 215f., 249 Loebell, Georg von 41 Löber, Richard 61,79 Löhe, Wilhelm 11 Luckmann, Thomas 20, 28, 30 Ludwig, Albert 121,209 Lübbe, Hermann 15,76 Lüdemann, Hermann 78 Lülmann, Christian 38, 201 Lüpke, Hans von 118f. Lütgert, Wilhelm 98 Luhmann, Niklas 17, 19f., 27 Luther, Henning 19, 291, 295 Luther, Hermann 236 Luther, Martin 147, 160, 230, 245, 249 Mahling, Friedrich 36, 47, 50, 73f., 195 Mahrenholz, Christhard 156,158 Makropoulos, Michael 16, 64 Mandel, Hermann 217 Marcinowski, Jaroslaw 78 Marheineke, Philipp 101 Markgraf, Bruno 65f. Martini, Fritz 16f. Matthes, Heinrich 39, 55 Matthes, Joachim 33 Matzerath, Horst 64 Mayer, K. 58 Merk, Otto 22 Merten, Gotthold 12 Mertens, Lothar 208 Mette, Norbert 100 Misch, Georg 72 Mix, Gustav 116,118 Möller, Christian 10, 40, 124, 167, 295 Molden, Berthold 28,30 Moll, Carl Bernhard 102 Moszeik, Carl 49 Mühlau, Ferdinand 216 Müller, Eberhard 13 Müller, Friedrich 58 Müller, Hans Martin 94 Müller, Johannes 11,37,70,87 Münch, Richard 16
Mulert, Hermann 28, 31, 53, 76, 95f., 146, 217, 238 Murrmann-Kahl, Michael 12, 73 Nase, Eckard 124f., 192 Nathusius, Martin von 54, 66,102, 137ff., 159 Naumann, Johannes 78, 201, 264 Niebergall, Friedrich 50ff., 60, 69, 72, 75, 77, 80, 82, 90, 93, 95, 99,105, 111,121,123,142,192, 220, 225, 250, 261, 291, 294 Nipperdey, Thomas 16,18, 69, 81 Nitzsch, Carl Immanuel 11,102,128, 136f., 192,199ff., 261, 263ff., 278, 282, 292 Nitzsch, Friedrich August 216 Nottebohm, Theodor 201 Nowak, Kurt 68 Oehler, Gustav Friedrich 82 Oehler, Victor Friedrich 82ff., 154f. (Dettingen, Alexander von 117f., 239 Ohly, Emil 155 Oosterzee, Johannes Jakob van 85, 199 Otto, Gert 100 Otto, Wilhelm 102,129 Palmer, Christian 24f., 101,118,138, 149,196 Petermann, Theodor 63, 68 Peters, Martin 117 Pfennigsdorf, Emil 123 Planck, Gottlieb Jakob lOOf. Pollmann, Klaus Erich 66, 215 Probst, Ferdinand 135 Quandt, Emil 34f., 128f. Rade, Martin 41, 62, 70,114,120, 211,213 Rau, Gerhard 120,137 Reich, Eduard 18 Rein, Wilhelm 257 Reischle, Max 160 Rendtorff, Franz 225,242 345
Rendtorff, Heinrich 224 Rendtorff, Trutz 1 2 , 1 6 , 3 0 Resasade, Hadi 21 Reville, Jean 238 Ribbe, Wolfgang 41 Riehl, Wilhelm Heinrich 117f. Riemann, Otto 48 Rietschel, Georg 88, 115,157,187 Riggenbach, Bernhard 137, 147, 150, 199 Ritsehl, Albrecht 167f., 184, 208, 231, 237f., 257f. Rittelmeyer, Friedrich 145, 243, 250, 259 Rössler, Dietrich 101, 103,107,147, 181, 277, 294 Rogge, Christian 220 Rohde, Franz 65 Rolffs, Ernst 95, 121, 259, 267 Rosenberg, Hans 18 Rosenius, Martin Gabriel 135 Rothe, Richard 25 Ruddies, Hartmut 211 Rümelin, Gustav 196 Sabatier, Auguste 25 Sachsse, Eugen 86ff., 159 Schaeder, Erich 82, 216, 242 Schäfer, Theodor 36, 103 Schär, Hans 205 Scharfenberg, Joachim 125,270, 281 f , 294f. Schian, Martin 30, 37, 48ff., 70, 81, 9 1 , 1 0 4 , 1 1 1 , 116, 120f., 161,179, 224, 238ff. Schiele, Friedrich Michael 71, 94ff., 189, 242, 247f., 258, 291 Schillerjulius 192 Schinkel, Gottlieb Wilhelm 57 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 11, 24, 80,101f., 105,120, 126,130,137ff., 165, 234, 268f., 273, 279, 291 Schluchter, Wolfgang 17 Schmeidler, Johannes 47f., 53 Schmerl, Karl 2 2 , 1 6 5 Schmidt, Hermann 38 346
Schmidt, Wilhelm 8 1 , 2 4 0 Schmidt-Rost, Reinhard 4 6 , 1 2 4 , 127f., 2 0 1 , 2 1 1 , 2 6 4 , 2 9 5 Schnädelbach, Herbert 12,107,113f. Schneemelcher, Wilhelm 31 Schnelle, Udo 116 Schott, Sigmund 119 Schott, Theodor 79 Schrenk, Elias 11 Schubert, Hans von 216 Schulz, Johannes 57 Schulze, Winfried 17f. Schwabe, Franz Alexander 158f. Schweizer, Alexander 23, 67, 103, 124,127,129f., 138,164, 199, 205, 208, 292 Sedlmayr, Hans 75 Seeberg, Reinhold 65, 90,117, 239 Seil, Karl 146,156f., 160, 226, 239 Sellin, Ernst 216 Semler, Johann Salomo 186 Seyerlen, Rudolf 127,215 Siegmund-Schultze, Friedrich 52 Silcher, Friedrich 147 Simmel, Georg 17, 29f., 64, 68, 284 Simons, Eduard 10, 42, 49, 53f., 88, 103,165, 207, 220 Smend, Julius 1 4 1 , 1 5 6 , 1 5 8 , 1 6 0 f . Soden, Hermann von 38f. Sohm, Rudolf 245 Sohnrey, Heinrich 119 Spaeth, Richard 60 Spitta, Friedrich 159,162 Stade, Bernhard 161 Stange, Carl 241 Steck, Wolfgang 61 f., 80, 89, 96, 99, 1 0 2 , 1 1 3 , 1 3 7 , 1 4 3 , 211, 220, 236, 245, 249, 270, 277f. Steinbach, Peter 117 Steinmeyer, Franz Ludwig 131ff., 200 Stephan, Horst 69, 71, 75, 209, 226 Stock, August 54f. Stoecker, Adolf 90, 215, 261 Stollberg, Dietrich 205 Stoodt, Dieter 6 4 , 9 9 Stoodt, Hans Christoph 41 Studt, Konrad 219
Sülze, Emil 31, 39ff., 172,177ff., 260, 272, 275 Suphan, Bernhard 209 Tanner, Klaus 18, 24, 33, 62, 73, 239 Tegow, Hermann 25 Teichmann, Karl 34f., 39, 41, 93f. Teuteberg, Hans-Jürgen 63 Thieme, Paul Martin 58 Thurneysen, Eduard 11,172, 292ff. Titius, Arthur 216 Todt, Rudolf 33 Tönnies, Ferdinand 27, 66 Traub, Gottfried 35, 94, 96f., 223, 238 Tribukait, Hans 98,238 Troeltsch, Ernst 11 ff., 16f., 33f., 38, 68,110, 112f., 122, 250, 256f., 291 Tyrell, Hartmann 29 Uckeley, Alfred 55 Uhlhorn, Gerhard 44 Veit, Willy 41,238 Wächtler, August 89, 138 Wagenmann, Julius August 52, 106 Wagner, Falk 18,101 Wagner, Peter 18 Wagner, Richard 72,150f., 189 Weber, Ludwig 98 Weber, Max 17, 29, 61, 67f., 207, 215
Weber, S. 77 Websky, Julius 97 Wehler, Hans-Ulrich 16,21 Weichelt, Hans 78 Wendland, Johannes 32 Werner, Roberta (O. S. B.) 146 Wesseling, Klaus-Gunther 30, 37, 47, 80, 95,160f. Wichern, Johann Hinrich 36, 261 Wielandt, Rudolf 80, 91,123,192f. Wiener, Wilhelm 57f., 74, 85 Wilhelm, Otto 61f. Wimmer, Richard 251 Windel, Carl 188,196f. Winkler, Eberhard 57 Wintzer, Friedrich 5, 80,102,108, 168,172,197, 266, 291, 293f. Wobbermin, Georg 89,122 Wohlrab-Sahr, Monika 20, 295 Wrede, William 79f. Wurster, Paul 36, 88ff., 103,121,145 Zeller, Albert 148 Zeller, Paul 160 Zezschwitz, Carl Adolf Gerhard von 102,130f., 160 Ziegeler, August 254 Ziegler, Theobald 59 Zillessen, Alfred 221, 253 Zimmer, Friedrich 130,156 Zittel, Emil 22,38
347
Seelsorge in Geschichte und Praxis Christian Möller (Hg.) Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts Band 1: Von Hiob bis Thomas von Kempen 1994. 359 Seiten mit 18 Abbildungen, kartoniert. ISBN 3-525-62339-9
Band 2: Von Martin Luther bis Matthias Claudius 1995. 430 Seiten mit 22 Abbildungen, Leinen. ISBN 3-525-62340-2 kartoniert. ISBN 3-525-62341-0
Band 3: Von Friedrich Schleiermacher bis Karl Rahner 1996. 398 Seiten mit 23 Abbildungen, Leinen. ISBN 3-525-62342-9 kartoniert. ISBN 3-525-62343-7
„Die Porträts sind daher eine Bereicherung, sie bedeuten einen Gewinn für die eigene Erfahrung und geben eine unverzichtbare Orientierungshilfe. Hier wurden Schätze wieder ans Licht gebracht, die allzu lange unbeachtet waren." Katholische Nachrichtenagentur Ökumenische Information (zu Band 1)
Hans-Christoph Piper Einladung zum Gespräch Themen der Seelsorge.1998. Ca. 200 Seiten mit 4 Abbildungen, kartoniert. ISBN 3-525-60400-9
Diese ökumenisch orientierte „Geschichte der Seelsorge" erschließt Geschichte anschaulich und wirkungsvoll anhand von Einzelporträts. Jeder Beitrag stellt zunächst die Biographie und das seelsorgerliche Wirken der Person heraus; in einem zweiten Teil folgen exemplarische Texte, in denen Seelsorge in Theorie und Praxis zur Sprache kommt. Schließlich wird jeweils eine Vergegenwärtigung für heutige Seelsorge versucht.
In dieses Buch sind die reichen Erfahrungen des Verfassers aus seiner Praxis, aus seiner Vortragstätigkeit, seinen Gesprächen und Diskussionen in den letzten 15 Jahren eingeflossen. Es wird aus zahlreichen seelsorgerlichen Kontakten zitiert oder Seelsorgegespräche als ganze wiedergegeben und dann reflektiert. Der theologischen Reflexion kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Die Seelsorge an Kranken und Krankenhausmitarbeitern steht hier exemplarisch für die allgemeine Seelsorge der Kirche.
„Die Begegnung mit den frühen Seelsorgerinnen und Seelsorgern ist spannend und bereichernd, nicht nur unter kirchengeschichtlichem Gesichtspunkt; sie vermag manche Impulse für die persönliche und berufliche Kompetenz zu geben." die katholische aktion (zu Band 1)
Vandenhoeck &. Ruprecht
V&R