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German Pages 244 Year 2014
Christine Baur Schule, Stadtteil, Bildungschancen
Pädagogik
Christine Baur (Dr. phil.) ist abgeordnete Referentin für Ganztagsschulen in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft.
Christine Baur
Schule, Stadtteil, Bildungschancen Wie ethnische und soziale Segregation Schüler/-innen mit Migrationshintergrund benachteiligt
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 7 1
Einleitung | 9
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Wohnortsegregation und Kontexteffekte in ihrer Wirkung auf Bildungserfolg | 21
2.1 2.2 2.3 2.4
Ethnische und soziale Segregation im Stadtteil | 21 Bewertung der ethnischen Segregation | 24 Kontexteffekte des Quartiers | 26 Forschungslücken in der Quartiersforschung | 32
3
Segregation in der Schule – Befunde zu den Wirkungen | 35
3.1 Veranschaulichung der verschärften Segregation in Schulen anhand statistischer Daten von drei Berliner Stadtteilen und ihrer Schulen | 36 3.2 Soziale und ethnische Entmischung geht von der Mitte der Gesellschaft aus | 50 3.3 Auswirkungen schulischer Segregation auf den Schulerfolg | 52 3.4 Die soziale und ethnische Segregation in Schulen beeinflusst den Bildungserfolg – Zwischenfazit | 77 4
Methodische Überlegungen und Forschungsinstrumente | 81
4.1 Präzisierung der forschungsleitenden Fragen | 81 4.2 Methodische Herangehensweise und Durchführung der Untersuchung | 84 5
Fallstudie – Eine Berliner integrierte Hauptund Realschule im Wrangelkiez, einem Gebiet mit besonderem Entwicklungsbedarf | 97 Das Quartier | 97 Die Eberhard-Klein-Schule | 105
5.1 5.2 5.3 Einflussfaktoren in Familie, Schule und Quartier auf den Bildungserfolg | 113 5.4 Benachteiligende Faktoren aus Familie, Schule und Quartier – Zwischenfazit | 168
6
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 7
Veränderungsansätze zur Verbesserung der Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund | 173 Desegregative Ansätze in der Schule | 173
Auflösung der Schuleinzugsbereiche und Bildungsgutscheine | 178 Bildungsreformen und Qualitätsentwicklung von Schulen | 182 Lösungsansätze auf Quartiersebene | 185 Weiterer Handlungsbedarf notwendig – Zwischenfazit | 187 Strategien zur Neutralisierung von Segregationseffekten | 189
7.1 Busing in Frankreich | 191 7.2 Busing und weitere Desegregationsstrategien in den USA | 200 7.3 Französische und US-amerikanische Desegregationsmaßnahmen – übertragbar auf Berliner Verhältnisse? | 207 8
Schulischer Segregation begegnen – Fazit und Handlungsempfehlungen | 213
8.1 Beeinflussende Faktoren der Bildungsbenachteiligung | 213 8.2 Wirkung von Kontexteffekten aus Familie, Schule und Quartier auf den Bildungserfolg | 215 8.3 Konzepte der Bildungs- und Stadtpolitik zur Verbesserung der Bildungschancen | 221 8.4 Desegregationsmaßnahmen als Grundlage der Erhöhung der Bildungschancen | 221 8.5 Handlungsempfehlungen für die Bildungs- und Stadtpolitik | 222 Literatur- und Quellenverzeichnis | 225
Vorwort
Mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrung in der Schulsozialarbeit und der Steuerungstätigkeit in einer Haupt- und Realschule im Wrangelkiez, einem traditionellen Zuzugsgebiet von türkischen Migrant/-innen im Berliner Stadtteil Kreuzberg, bilden den Ausgangspunkt dieser Arbeit. Über diesen Zeitraum habe ich in meiner Funktion als Schulsozialarbeiterin den Schul- und Lebensalltag der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund begleitet. Gestartet Ende der 1980er Jahre mit dem Eifer einer Hochschulabsolventin, in einer neu konzipierten Schule die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund verbessern zu wollen, ist die heutige Bilanz der Erfolge ernüchternd. Nur wenige der Schüler/-innen eines vierzügigen Jahrgangs, die ich bis zu ihrem Schulabschluss im Jahr 2007 begleitet habe, erhielten einen Ausbildungsplatz auf dem ersten Ausbildungsmarkt. Dieser mageren Bilanz gingen Jahre intensiven Bemühens von schulischem Personal und außerschulischen Kooperationspartner/-innen voraus. Spätestens die mangelhaften Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudien, an denen Deutschland seit 2000 teilnimmt, zeigten auf, dass diese Bilanz kein individuelles Problem dieser Schule und seines engagierten Kollegiums ist. Den Ursachen und der Wirkungsweise der Bildungsbenachteiligung und dem geringen Erfolg eigener Bemühungen auf den Grund zu gehen, ist das Motiv dieser Arbeit. Zunächst danke ich meinen Interviewpartner/-innen, den Schüler/-innen und Expert/-innen in Berlin und Oullins und meinen Kolleg/-innen an der ehemaligen Eberhard-Klein-Schule, insbesondere Bernd Böttig und Cornelia Knoll. Meinem leider viel zu früh verstorbenen wissenschaftlichen Betreuer Hartmut Häussermann habe ich zu verdanken, dass er mir als langjähriger Praktikerin wieder den Weg in die Wissenschaft ermöglichte und mich mit meinem Forschungsvorhaben in vielen Beratungsgesprächen unterstützte. Ein besonderer Dank gilt auch Uwe-Jens Walther, der in gemeinsamen Diskussionen wichtige Reflektionsprozesse anstieß.
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Weitere fachliche Beratung erhielt ich von Talja Blokland, Birgit Wiese, Thomas Hartmann, Gundel Schümer, Jens Wurtzbacher, und Wulf Hopf. Ich danke allen Mitpromovend/-innen im Colloquium von Hartmut Häussermann und am Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung, insbesondere Heike Hanhörster, Gesine Bär, Astrid Sundsboe, Gabriele Schmidt, Katharina Steinberg, Heike Oevermann, Florian Wukovitsch und weiteren Freund/-innen mit denen ich über meine Forschung diskutieren, Täler durchschreiten und Berge besteigen konnte. Johanna Eisenbergs Frankreich-Expertise war hilfreich bei der Planung der empirischen Erhebung in Oullins. Der Hans-Böckler-Stiftung habe ich die Förderung meines Forschungsvorhabens mit einem Stipendium zu verdanken. Unterstützt bei der Formatierung und Korrektur haben mich Daniela Kunz und Gisela John. Abschließender Dank gilt meiner Familie: Rolf Wietzer und mein Sohn Leon Baur gaben mir die emotionale Unterstützung und die Freiheit, die ich benötigte. Meine Schwester Susanne Baur nahm meine Berechnungen kritisch in den Blick und meine Eltern, insbesondere meine Mutter Johanna Baur, der eine höhere Schulbildung verwehrt war, unterstützten mich in jeder Hinsicht.
1 Einleitung Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Zusammenhang mit schulischer und sozialräumlicher Segregation
Die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund1 in Deutschland sind ein Thema, das im letzten Jahrzehnt besondere Beachtung gefunden hat. Ausgelöst wurde das starke öffentliche und bildungspolitische Interesse durch die erstmalige Teilnahme Deutschlands an den internationalen Schulleistungsstudien PISA (Programme for International Student Assessment) und IGLU (Internationale Grundschulleseuntersuchung) in den Jahren 2000 und 2001. Ein alarmierendes Ergebnis der ersten Studien war, dass in Deutschland schulischer Erfolg so eng wie in keinem anderen der Teilnehmerländer an die soziale Herkunft geknüpft ist. Als besonders bildungsbenachteiligt stellte sich die Gruppe der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen mit nicht-deutscher Familiensprache heraus. Sie konnten nur ungenügend lesen, schreiben und rechnen, obwohl die meisten entweder in Deutschland geboren sind oder ihre Bildungslaufbahn in Deutschland durchlaufen haben. Zehn Jahre nach dem ersten PISA-Test in Deutschland hat sich daran wenig geändert. Insgesamt nimmt die Anzahl der Kinder mit Migrationshintergrund, die höher qualifizierende Schularten besuchen zwar zu, jedoch steigt auch gleichzeitig ihr Anteil in den niedriger qualifizierenden 1
Migrationshintergrund wird in dieser Arbeit in Anlehnung an die Definition beim Mikrozensus verwendet. Diese umfasst „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil.“ (Statistisches Bundesamt 2007: 6).
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Schularten. Sie besuchen bei gleicher sozioökonomischer Lage doppelt so häufig Hauptschulen wie Schüler/-innen ohne Migrationshintergrund (Konsortium Bildungsberichterstattung 2010). Neben dem Aspekt der Ungleichheit bei den Bildungschancen im allgemeinbildenden Schulsystem wird die volkswirtschaftliche Problematik diskutiert, die sich aus dem Nachwuchsmangel an ausbildungsfähigen bzw. qualifizierten Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt ergibt. Aus bildungsökonomischer Sicht ist bei zurückgehenden Schüler/-innenzahlen und steigendem Fachkräftemangel die Bildung von Kindern aus nichtakademischen Familien verstärkt zu fördern. Sie kommen nur zu 23% an die Hochschule im Vergleich zu 83% der Kinder von Akademiker/-innen (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2007: 111). Im Gegensatz zu den wirtschaftlichen Erfordernissen gelangen Jugendliche mit Migrationshintergrund im Vergleich zu deutschen Jugendlichen überdurchschnittlich oft in das Übergangssystem der außerbetrieblichen Qualifizierung und verbleiben dort über Jahre. Diese Bildungsmisere über die gesamte Schullaufbahn hinweg lässt die, nach den Ergebnissen der PISA-Studien eingerichtete, regelmäßige Berichterstattung bilanzieren, dass trotz jahrzehntelanger Diskussion über Migration und Bildung erfolgreiche institutionelle und pädagogische Strategien zur Unterstützung der Schüler/-innen bisher fehlen (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 179). Neben der sozialen Herkunft stellt also der Migrationshintergrund einen sehr relevanten Einflussfaktor auf die Bildungschancen dar. Diese Ungleichheit in den Bildungschancen wird in der nationalen wie internationalen Bildungsforschung seit langem kritisiert (Solga & Wagner 2007, Schümer 2004, OECD 2008). Als eine der Ursachen wird das mehrgliedrige Schulsystem in Deutschland gesehen, das die Schüler/-innen zu früh in leistungsbezogene Schulformen aufteilt und Hauptschulen entstehen lässt, die von einem hohen Anteil an schulmüden, armen, familiär wenig geförderten und teils gewaltbereiten Schüler/-innen besucht werden. Durch die einseitige Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft entstehen benachteiligende Schulmilieus, die als institutionelle Effekte zusammen mit den Herkunftseffekten verstärkt wirken und eine doppelte Benachteiligung darstellen. Die Folgen zeigen sich in Schulabbrecherquoten, niedrig qualifizierten Schulabschlüssen und einem erschwerten Übergang in Ausbildung und Beruf. Bei einer homogenen Zusammensetzung der Schüler/innenschaft mit schlechten Bildungsvoraussetzungen und -leistungen kann von schulischer Segregation gesprochen werden. Diese stellt eine Gefährdung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags dar, der die Chancengleichheit, die freie Entfaltung der Persönlichkeit und eine auf die Gemeinschaft orientierte Erziehung vorsieht (Kersten 2007).
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Erziehungswissenschaftliche Ansätze der Bildungsforschung konzentrieren sich bei der Suche nach Ursachen und Lösungen bei dieser Problematik meistens auf den sozioökonomischen Status und das Bildungsniveau der Eltern und auf deren kulturelle Orientierungen, sowie seit einigen Jahren im Rahmen der Qualitätsentwicklung von Schulen auch auf Unterrichts- und Organisationsprozesse in den Schulen (Stanat 2006a). Die vielfach kritisierte Schulstruktur und die Folgen der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft bilden jedoch nur eine Seite der Benachteiligung ab. Als weiterer Faktor, der den Bildungserfolg beeinflusst, wird in den letzten Jahren der regionale Kontext der Schulen benannt (Ditton & Krüsken 2007). Bisher wurde eine Koppelung von Arbeitslosigkeitsquoten und Ergebnissen von Schulleistungstests in Schulregionen festgestellt und damit ein Zusammenhang zwischen regionalem Kontext und Bildungsbenachteiligung konstatiert (Baumert, Carstensen & Siegle 2005: 360). Jedoch gibt es bisher wenig qualitative oder quantitative Befunde zu dieser Verbindung. Hier setzt die stadtsoziologische Forschung an und thematisiert Erscheinungsformen und Ursachen sozialer Ungleichheit. Sie erweitert die Bildungsforschung um die Frage nach (sozial-)räumlichen Rahmenbedingungen und gesamtstädtischen Segregationsprozessen, die einen Einfluss auf Bildung haben. Erforscht wird, welche Wirkung ein Quartier als sozialräumlicher Kontext auf seine Bewohner/-innen und welche Bedeutung insbesondere die soziale und ethnische Segregation als Einflussfaktoren haben. Segregation wird dabei verstanden als ungleichmäßige Verteilung von sozialen Gruppen in der Stadt (Häußermann & Siebel 2004). Sozialräumliche Segregationsprozesse bilden damit auch einen relevanten Rahmen für die Bildungschancen derjenigen Kinder und Jugendlichen, die unter den Bedingungen konzentrierter Benachteiligung aufwachsen und beschult werden (Baur & Häußermann 2009). Vor allem einige Quartiere in großstädtischen Ballungsgebieten sind von einem wachsenden Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund geprägt. Hier beträgt ihr Anteil teilweise über 50% bei den Gleichaltrigen; gleichzeitig sind diese Quartiere von einer hohen Armutsquote gekennzeichnet. In den Schulen spiegeln sich die Problemlagen des Quartiers und deren Bewohner/-innen in konzentrierter Form und sie werden daher von mobilen und bildungsbewussten Eltern gemieden. Die Abwanderungsbewegung der bildungsnahen Mittelschicht aus diesen Quartieren, die vielfach vor der Einschulung ihrer Kinder erfolgt, verschärft die soziale und ethnische Segregation in den entsprechenden Quartieren und Schulen. Die lokalen Schulen werden somit überwiegend von jenen Schüler/innen mit Migrationshintergrund aus dem nahen Schulumfeld besucht, die zu Hause wenig oder gar nicht Deutsch sprechen und deren Familien in der Regel
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von staatlichen Transferleistungen abhängig sind. Neben der Wirkung individueller, familiärer und institutioneller Mechanismen spielt also auch die Wohnumgebung beim Bildungserfolg eine zentrale Rolle. Quartiers- bzw. Kontexteffekte können zu einer Verschärfung der Bildungs- und Ausbildungsbenachteiligung führen (Farwick 2001, Häußermann 2003). Bei der Suche nach Lösungsansätzen zur Verbesserung der Bildungschancen sollten demnach Erscheinungsformen und Wirkungen von Segregationsprozessen berücksichtigt werden. Dabei ist es sinnvoll, einen Blick über die Landesgrenzen hinweg auf bereits praktizierte Modelle zu werfen. Forschungsinteresse und Fragestellung Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag zur Bildungs- und Ungleichheitsforschung aus der stadtsoziologischen und erziehungswissenschaftlichen Perspektive heraus leisten. Beobachtungen der bestehenden Benachteiligung trotz schulischer Intervention, die sich auch in der Literatur wiederfinden, sind die Grundlage für die eigene Forschung. Ausmaß und Wirkungen sozialer und ethnischer Segregation an Schulen in Berlin sind bisher wenig erforscht. Diesen Mangel will der empirische Teil der Arbeit verringern. Die Arbeit geht der Fragestellung nach, wie neben den familiären Voraussetzungen sowohl die Schulstruktur als auch die soziale und ethnische Segregation in Schulen und ihren Einzugsbereichen auf den schulischen Erfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wirken und welche Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungschancen ergriffen werden können. Hierzu ergeben sich vier leitende Fragestellungen: 1. Welche Faktoren beeinflussen die Bildungschancen von Kindern und Ju-
gendlichen mit Migrationshintergrund? 2. Wie beeinflussen Kontexteffekte aus Familie, Schule und Quartier den Bil-
dungserfolg der Jugendlichen, und wie wirken sie zusammen? 3. Welche Konzepte gibt es in der Bildungs- und Stadtpolitik, und welche Strukturen müssen entwickelt werden, um die Bildungschancen zu verbessern? 4. Welche realistischen Interventionen lassen sich aus den Ergebnissen ableiten? Den Forschungsfragen liegt die Annahme zugrunde, dass Schüler/-innen in sozial und ethnisch segregierten Schulen in benachteiligten Quartieren bildungsbenachteiligt sind, weil es sich selbst verstärkende Negativeffekte in und außerhalb der Schule gibt. Als benachteiligende Faktoren werden Schule, Quartier und soziale Herkunft (Familie) angenommen, woraus folgende Thesen abgeleitet werden:
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These 1: Die Konzentration von Schüler/-innen mit Defiziten in der deutschen Sprache, einem geringen sozioökonomischen Status, geringen kognitiven Fähigkeiten, Lernschwierigkeiten und Verhaltensproblemen führt zu einer negativen Leistungsentwicklung aller Schüler/-innen einer Klasse bzw. einer Schule und blockiert die Bildungswege sehr früh.
Als benachteiligende Effekte in Schulen sind homogene Lerngruppen mit dem Merkmal leistungsmindernder Faktoren zu sehen. •
These 2: Kontexteffekte durch den Stadtteil und Stigmatisierungen durch ethnische Herkunft und Wohnort sind außerschulische benachteiligende Wirkungsmechanismen, die eine schulische Integration erschweren.
Liegen diese Schulen in Quartieren, in denen eine Überlagerung von ethnischer und sozialer Segregation vorliegt und die den hauptsächlichen Aufenthaltsort der Jugendlichen darstellen, wirken zusätzlich geschlechtsspezifisch zu differenzierende Nachbarschafts- und Quartierseffekte, die in den schulischen Alltag hineinreichen. Nachbarschaft und Quartier als verlängerter Arm der Familie sind für Mädchen Kontrollinstanzen für Verhaltensnormen, deren Konsequenzen sich im Schulalltag zeigen. Die Jungen erfahren eine Straßensozialisation, die eine Peergruppendynamik auslöst, welche schulischen Erfolg eher mindert. •
These 3: Der familiäre Hintergrund der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund wirkt bildungsbenachteiligend. Kulturelle und religiöse Normen schaffen in Verbindung mit geringer Bildung teilweise ein eigenes Wertesystem, das sich der Mehrheitsgesellschaft nicht öffnet. Vor allem Mädchen werden in ihrer schulischen und persönlichen Entwicklung beeinträchtigt.
Der Untersuchungsgegenstand der Arbeit umfasst daher nicht die Unterrichtsqualität und Unterrichtsprozesse, sondern Bildungsbenachteiligungen durch schulische und sozialräumliche Segregation, sowie durch soziale Herkunft. Die Fallstudie Für diese Studie habe ich eine Schule in einem Berliner Quartier gewählt, weil es in Berlin Quartiere mit einem hohen Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund gibt. Außerdem kann eine differenzierte Schul- und Bevölkerungsstatistik genutzt werden. Berlin hat nach der IGLU-E-Studie von 2006 im Ländervergleich mit 49,3 Prozent den höchsten Anteil an Schüler/-innen mit Migrationshintergrund, darunter mit über 40% den größten Anteil an Schüler/-innen türkischer Herkunft aus oftmals sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen (Bos 2008).
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In Berlin kommt jede/r dritte der im Rahmen der PISA- und IGLU-Studien erfassten Schüler/-innen aus einer Einwandererfamilie. 15% der Schüler/-innen sprechen im Alltag vor allem die Herkunftssprache der Eltern. Berlin gehört zu den Ländern, in denen die Disparitäten zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern besonders groß sind. Die im Dezember 2008 veröffentlichten Zahlen des Ländervergleichs der IGLU-Studie 2006 zeigen, dass 24,9% der Berliner Viertklässler/-innen in der Lesekompetenz nicht über die zweitniedrigste Kompetenzstufe hinaus kommen. Die Stadtstaaten haben nach den PISA-Studien in den drei getesteten Kompetenzbereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften den höchsten Anteil an Schüler/-innen im niedrigsten Kompetenzbereich, der für Berlin bei 20,4% liegt. Für sie werden massive Einschränkungen beim Übergang in das Ausbildungs- und Berufsleben vorhergesagt (PISA-Konsortium Deutschland 2008: 11). Gleichzeitig besteht in Berlin neben Hamburg nach der PISA-E-Studie (Ländervergleich) ein überdurchschnittlich hoher Zusammenhang zwischen Herkunft und Kompetenzniveau. Bei einem rasch wachsenden Anteil an Schüler/-innen mit Migrationshintergrund steht Berlin vor der Herausforderung, Instrumente zu entwickeln, die diesen Kindern und Jugendlichen die Perspektive einer beruflichen Integration eröffnen. Besondere mediale Aufmerksamkeit erfuhr die hier untersuchte Schule im Jahr 2004, da sie als erste Schule Berlins zu 100% von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund besucht wurde. Im Vergleich zu benachbarten Schulen oder Schulen in anderen Zuwanderungsquartieren Berlins mit 80 oder 90% Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund war der „Vorsprung“ jedoch nur marginal. An der Schule dokumentiert sich daher ein Prozess, der mit der demographischen Entwicklung und Zunahme von Kindern mit Migrationshintergrund für deutsche Großstädte als stellvertretend gelten kann. Damit ist die Schule exemplarisch für Herausforderungen, denen sich die Bildungs- und Stadtpolitik stellen muss. Auch Schüler/-innen kommen in dieser Arbeit zu Wort und geben einen Einblick in ihre Lebenswelt in Familie, Schule und Quartier, die an ihrer Entwicklung und ihren Bildungschancen beteiligt sind. Die mit ihnen geführten Interviews sind jedoch nur ein Baustein für das Wissen über den schulischen und außerschulischen Alltag, der die Bildungschancen dieser Jugendlichen beeinflusst. Zahlreiche weitere Gespräche mit Schüler/-innen und ihren Eltern sowie Kolleg/-innen erweitern die empirischen Kenntnisse dieser Arbeit. Der Einblick in die Biografien dieser Jugendlichen, die ich größtenteils über vier Jahre hinweg begleiten durfte, bringt das Ringen vor allem der Mädchen um mehr Freiheit und Selbstbestimmung zu Tage, das teilweise mit schweren Konflikten beladen ist. Den Jungen hingegen werden in der Familie oftmals Aufgaben übergeben, die
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sie überfordern und verunsichern. Sei es, die ‚Ehre der Familie‘ zu verteidigen oder frühzeitig zum Familieneinkommen beizutragen. Das Verhalten der Jugendlichen unter diesem Druck ist jedoch sehr unterschiedlich, und die Reaktionen beinhalten ein weites Spektrum: von der angepassten Passivität oder Depression über die Mitgliedschaft in Straßenbanden bis hin zur Flucht. Dass diese Konflikte in die Schule Eingang finden, ist unvermeidlich, da die Schüler/-innen einen Großteil des Tages an diesem Ort zubringen. Für die Schulleistungsforschung hat die Erhebung des konkreten Migrationshintergrunds differenzierte Befunde ergeben. Dabei zeigte bereits die Studie des PISA-Konsortiums zu PISA 2000 auf, dass Jugendliche mit einem Vater aus der Türkei oder aus dem ehemaligen Jugoslawien in den getesteten Kompetenzen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften am schlechtesten abschnitten und weit unterhalb der erreichten Punktzahl der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund lagen (vgl. detaillierte Aufstellung bei Baumert & Schümer 2001: 378). Im Rahmen dieser Arbeit geht es jedoch um strukturelle Benachteiligung, die sich an den Gesamtzahlen zum Bildungsstand von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zeigt. Aufbau der Arbeit Die Arbeit ist in acht Kapitel gegliedert. Nach dem Einführungskapitel beschäftigt sich das zweite Kapitel mit der Wirkung von Segregationsprozessen und der Relevanz der Wohnumgebung für die Lebensbedingungen der Bewohner/-innen. Ausgehend vom Erkenntnisinteresse der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung wird der Einfluss von Kontexteffekten des Quartiers neben der Wirkung individueller, familiärer und institutioneller Mechanismen auf den Bildungserfolg untersucht. Im dritten Kapitel erfolgt die Auseinandersetzung mit der sozialen und ethnischen Segregation in der Schule und deren Auswirkungen auf den Bildungserfolg. Dabei wird zunächst die Annahme geprüft, dass die ethnische und schulische Segregation in den Schulen tatsächlich höher ist als im Schulumfeld. Anschließend werden die Befunde der Schulleistungsstudien PISA und IGLU dargelegt und hinsichtlich der Erklärungsansätze für Bildungsbenachteiligung ausgewertet. Sie weisen auf Forschungslücken in Bezug auf den Einfluss von Kontexteffekten des schulischen Umfeldes und Wohnquartiers auf Bildungserfolg hin. Die Bedeutung der sozialen und ethnischen Segregation zeigt sich in der Schulstruktur, der unter anderem die Schullaufbahnempfehlungen zugrunde liegen. Wie sich die schulische und wohnräumliche Segregation auf die gesellschaftliche Teilhabe auswirken, wird am Übergang in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt untersucht.
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Im vierten Kapitel werden Rahmen und Aufbau der empirischen Untersuchungen dargelegt, die eine Untersuchung in Berlin und bei der Frage nach Lösungsmodellen auch eine Studie in Frankreich beinhalten. Wie Kontexteffekte auf den Bildungserfolg wirken, wird im fünften Kapitel untersucht. Die dazu durchgeführte Fallstudie in einem Berliner Quartier wird mit der Darstellung des Quartiers und der Schule eingeleitet, wobei selbst erhobene und Daten verschiedener Ämter sowie wissenschaftliche Berichterstattungen verwendet werden. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung werden entsprechend der drei am Bildungserfolg beteiligten Kontexte Familie, Schule und Quartier dargestellt. Es zeigt sich ein enges Geflecht von sich gegenseitig beeinflussenden benachteiligenden Faktoren in allen drei Bereichen, die von der Überlagerung von ethnischer und sozialer Segregation gekennzeichnet sind. Ergebnisse bisheriger Studien aus dem Bereich der Schulleistungs- und Kompositionsforschung wie auch der stadtsoziologischen Segregationsforschung scheinen sich zu bestätigen, allerdings ergibt sich ein differenzierteres Bild der benachteiligenden Faktoren. So können Bereiche herausgefiltert werden, die in der bisherigen Forschung zu wenig berücksichtigt wurden. Im sechsten Kapitel wird der Frage nachgegangen, welche Ansätze zur Verbesserung der Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bisher verfolgt worden sind. Die internationalen Schulleistungsstudien haben deutschlandweit eine Reihe von Reformen im Schulwesen angestoßen, die aufgrund des föderalistischen Bildungswesens in jedem Bundesland eine andere Ausprägung haben. Im Rahmen dieser Arbeit werden allgemeine Reformansätze bezüglich der Schulstruktur und Qualitätsentwicklung von Schulen beschrieben. Dabei wird vertiefend auf die Berliner Reformen eingegangen, die gleichzeitig für mehrere andere Bundesländer stehen. Da der Fokus dieser Arbeit auf Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund liegt, wird zwar die Verflechtung von Quartier und Schule thematisiert, Maßnahmen auf Quartiersebene werden jedoch nicht vertiefend behandelt. Grund dafür ist die Annahme, dass die Steuerung der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft eine Voraussetzung für weitere wirksame Maßnahmen ist. Ausgehend von den empirischen Ergebnissen aus der Fallstudie werden die bisherigen Ansätze zur ethnischen und sozialen Desegregation in Berliner Schulen dargestellt. Es folgt eine Auseinandersetzung mit der in einigen Bundesländern diskutierten Auflösung von Schuleinzugsbereichen und der Einführung von Bildungsgutscheinen als bildungsökonomischem Ansatz, der in marktwirtschaftlichen Wettbewerbssystemen die Qualitätsentwicklung von Schulen anzustoßen verspricht.
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Das siebte Kapitel beschäftigt sich mit bildungsfördernden Strategien, die über bisherige Maßnahmen hinausgehen und gegenüber Quartierseffekten neutralisierend wirken sollen. Der Blick in andere Länder zeigt: Eine längere Tradition der Desegregation gibt es in den USA, bekannt unter dem Begriff „Busing“. Dort wurden über Jahrzehnte hinweg vorwiegend afroamerikanische Schüler/innen mit Schulbussen in überwiegend angloamerikanische Schulen transferiert, um die gesetzlich beendete Rassentrennung in der schulischen Praxis zu überwinden. Auch in Frankreich gibt es ein Programm, das vorsieht, Kinder aus Schulen in benachteiligten Quartieren mit einer hohen Problemkonzentration in Quartiere und Schulen mit Schulbussen zu transportieren, die eine bessere soziale Mischung aufweisen. Die Übertragbarkeit beider Ansätze auf deutsche, insbesondere Berliner Verhältnisse wird überprüft und geht in die Vorbereitung von Handlungsempfehlungen ein. Das achte Kapitel fasst die Erkenntnisse zusammen und diskutiert die Ergebnisse im Hinblick auf Handlungsempfehlungen für die Bildungs- und Stadtpolitik und weiteren Forschungsbedarf. Dimensionen der Bildungsbenachteiligung In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Bildungsbenachteiligung setzt sich ein zunehmend erweitertes Verständnis von Bildung durch. Nach dem 12. Kinder- und Jugendbericht (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005) umfasst Bildung die Aneignung von Kompetenzen, die die Führung eines selbständigen Lebens ermöglichen: „Bildung ist [...] die Befähigung zu einer eigenständigen und eigenverantwortlichen Lebensführung in sozialer, politischer und kultureller Eingebundenheit und Verantwortung. Eigenständigkeit zielt dabei auf die individuelle Fähigkeit, auf die Kompetenz, in einer gegebenen komplexen Umwelt kognitiv, physisch und psychisch eigenständig aktiv handeln zu können, aber auch auf die Fähigkeit, sich mit anderen auseinander zu setzen, sich auf sie zu beziehen und sich mit ihnen zu verständigen.“ (Ebd.: 109). Bildungsbenachteiligung lässt sich nicht nur als Abwesenheit von Förderung, als Versagen des Bildungsapparates und als Folge schulischer und residentieller Segregationsprozesse verstehen, vielmehr wird in der Bildungsberichterstattung auf die breite gesellschaftliche und politische Verantwortung für Bildungsprozesse hingewiesen. Die Befähigung zur eigenständigen Lebensführung obliegt damit allen Erziehungsverantwortlichen, angefangen von den Eltern über die schul- und wohnungspolitischen bis hin zu den arbeitsmarktpolitischen Akteur/innen.
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Soziale Herkunft und Ungleichheit Aus dem Artikel 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland kann die Forderung nach gleichen Bildungschancen für alle Schüler/-innen abgeleitet werden. Diese würde sich etwa in der Verteilung der Schüler/-innen aus verschiedenen sozialen Gruppen auf Schulformen und Abschlüsse proportional zu ihrem Anteil in der Gesamtpopulation der Schüler/-innen zeigen (Fend 2009a: 38ff). Ungleichheiten werden jedoch im deutschen Schulsystem zusätzlich verstärkt, da Bewertungen aufgrund von Leistungen geschehen und der freien Wahl von Schulformen und Bildungsgängen ein hoher Stellenwert eingeräumt wird (Hopf 2010: 24). Die Bildungsexpansion mit einer Ausdehnung des Bildungswesens und Veränderungen innerhalb des vielgliedrigen Schulsystems hat dazu geführt, dass sich das durchschnittliche Abschlussniveau der Schüler/-innen erhöht, gleichzeitig der Abstand zwischen Schüler/-innen ohne Schulabschluss und jenen mit Hochschulreife beim Leistungsniveau jedoch vergrößert hat. Damit wurden zwar die Bildungschancen für alle Schichten erhöht, gleichzeitig aber Ungleichheiten in den unteren Schichten verfestigt: „Die Hauptverlierer sind die Arbeiterkinder; trotz besserer Chancen hat sich ihr Abstand zu allen anderen Schichten erheblich vergrößert.“ (Geißler 2011: 286). Erklärungsansätze für herkunftsbedingte Ungleichheiten beziehen sich im Wesentlichen auf die schichtspezifische Sozialisation, die soziale Reproduktion von Klassen und den rational-choice-Ansatz. Die Theorie der schichtspezifischen Sozialisation geht davon aus, dass die familiale Sozialisation Kinder mit unterschiedlichen Ressourcen ausstattet. Die Berufserfahrungen der Eltern beeinflussen über das familiäre Milieu und die sozialen Beziehungen letztlich die schulische Lern- und Leistungsfähigkeit (Hopf 2010: 127f). Die soziale Reproduktion als kulturelle Reproduktion geht auf den Ansatz von Bourdieu und Passeron (1971) zurück, die herkunftsbedinge Unterschiede in der Bildung weniger individuell und eher im Kontext von Institutionen und ihrem Beziehungsgefüge zur Gesellschaft sehen (vgl. Hopf 2010: 132f). Der Rational-Choice-Ansatz betont das schichtspezifische Wahlverhalten an den Schulübergängen und bei den Laufbahnentscheidungen, wodurch sich herkunftsbedingte Ungleichheiten wiederholen und während der Bildungslaufbahn die sozialen Disparitäten verstärken (Hopf 2010: 139ff). Die schulische Selektivität fängt damit längst vor dem Übergang in die Sekundarstufe an. Verschiedene Studien, die sich mit den Schullaufbahnentscheidungen sowohl auf Seiten der Eltern als auch der Lehrer/-innen beschäftigen, legen bei gleichen kognitiven Voraussetzungen eine Benachteiligung der Kinder von Eltern mit niedrigem Bildungsstand dar. Dies kann über die Schullaufbahnempfehlungen durch die Lehrer/-innen geschehen, bei der der Herkunftsstatus der Eltern wirkt, wie auch durch die Umsetzung der Bildungsaspirationen der Eltern. Eltern aus der Ober-
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schicht setzen unabhängig von den kognitiven Voraussetzungen ihrer Kinder ihre Vorstellungen von einer höheren Schullaufbahn durch (Lehmann & Peek 1997, Arnold u.a. 2007). Das Schulwahlverhalten der Eltern ist nach dem Rational Choice-Ansatz abhängig von den Kosten des Schulbesuchs, der Aussicht auf Erfolg und in höheren Schichten gebunden an den Wunsch des Statuserhalts. Nach der US-amerikanischen Studie von Entwisle, Alexander und Olson (1997) zeigen sich bei den verschiedenen lernbeeinflussenden Faktoren die Elternerwartungen als eine der stärksten Prädiktoren. Niedrige Erwartungen an den Lernfortschritt der Kinder haben geringere Ergebnisse zur Folge. Das kulturelle und soziale Kapital der Familie beeinflusst nachhaltig den Bildungserfolg. Weiterhin gehören zur Bewältigung schulischer Anforderungen persönliche Ressourcen wie die psychische und physische Gesundheit. In der ResilienzForschung wird in diesem Zusammenhang auf die unterschiedlichen Fähigkeiten von Jugendlichen, mit Belastungen umzugehen, verwiesen (Elliott u.a. 2006 zitiert nach Oberwittler 2010). Das Beziehungsgefüge in einer Familie und der Umgang miteinander, d.h., innerfamiliäre positive Bindungen als Teil eines größeren Gefüges an sozialem Kapital, sind von Bedeutung für die Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen, sich das kulturelle Kapital der Eltern anzueignen. Bei schweren familiären Konflikten können demnach elterliche Ressourcen nicht ausreichend genutzt werden (vgl. Hopf 2010: 207f). Ethnische Herkunft und Ungleichheit Wie einleitend erwähnt wurde, wächst die Brisanz sozialer Benachteiligung in ihrer Überlappung mit ethnischer Segregation. Auf den besonderen Charakter der Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gehen Alba, Handl und Müller (1994) ein: „Wir sprechen dann von Benachteiligung, wenn sie aufgrund der auf sie wirkenden Einflüsse systematisch geringere Chancen haben, in vorteilhafte Bildungsgänge zu gelangen und dort günstige Abschlüsse zu erreichen als Kinder deutscher Eltern.“ (ebd.: 211). Die heute noch bestehende Benachteiligung der Kinder von ungelernten Eltern oder Arbeiter/-innen traf bereits auf die von Dahrendorf in den 1960er Jahren benannten Arbeiter-, Land- und katholischen Kinder sowie Mädchen zu (Dahrendorf 1966). Heute steht an der Spitze der Benachteiligung der „Migrantensohn aus bildungsschwachen Familien“ (Geißler 2008: 95). Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, die Bildungsbenachteiligung von Schüler/innen mit Migrationshintergrund als ethnisches Problem zu verstehen. Alle bisherigen Untersuchungen deuten darauf hin, dass vor allem die Schichtzugehörigkeit und damit verbunden der Bildungsstand und die Einkommensverhältnisse der Eltern eine zentrale erklärende Rolle spielen. Hinzu kommt, dass Migrant/innen von institutioneller Diskriminierung betroffen sind. Nach der humankapi-
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taltheoretischen Erklärung ist die familiäre Situation für die Anhäufung von Humankapital von Bedeutung, weil Eltern ihren Kindern Wissensbestände, Werte und Gewohnheiten vermitteln, die für schulischen und beruflichen Erfolg notwendig sind (Becker 1993, zitiert nach Diefenbach 2007: 101). Eine erhöhte Geschwisterzahl in einer Familie wird daher als negativ für die Akkumulation von Humankapital gesehen, was durch eine Auswertung der Daten des Integrationssurveys des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zum Bildungserfolg von Jugendlichen aus Migrant/-innenfamilien bestätigt wurde (Diefenbach 2007: 103f, Nauck, Diefenbach & Petri 1998: 716f). Dies gilt nicht in gleicher Weise für einheimische Familien. Dimensionen der Bildungsbenachteiligung bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund lassen sich in unterschiedlichen Phasen der Schullaufbahn dokumentieren: Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudien PISA und IGLU zeigen Defizite von Schüler/-innen mit Migrationshintergrund im Primar- und Sekundarbereich auf. Schullaufbahnempfehlungen von der Grundschule für die Wahl der weiterführenden Schule verweisen Kinder mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig auf niedrigqualifizierende Schulformen wie die Hauptschule. Bildungsabschlüsse, die einen weiteren Indikator der Bildungssituation darstellen, dokumentieren eine mehr als doppelt so hohe Quote an Schulabbrecher/-innen unter den Schüler/-innen mit einem ausländischen Pass und bei den deutschen Schüler/-innen eine mehr als dreifache Chance auf die Hochschulreife. Beim Übergang in Ausbildung und Beruf zeigt sich eine hohe Zahl an Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die ohne Berufsausbildung bleibt und in den berufsvorbereitenden Maßnahmen und außerbetrieblichen Ausbildungsgängen überrepräsentiert ist. Aus diesen Befunden ergibt sich, dass eine Reihe von sozialen Faktoren die Bildungsbenachteiligung erklärt, und dass der Migrationshintergrund eine zusätzliche benachteiligende Wirkung hat.
2 Wohnortsegregation und Kontexteffekte in ihrer Wirkung auf Bildungserfolg
Neben der Benachteiligung im und durch das Bildungssystem stellt sich die Frage der Bedeutung außerschulischer Faktoren. Wie in der Bildungsforschung nachgewiesen, ist der Bildungserfolg in Deutschland stark von der sozialen Herkunft abhängig. Die sozialwissenschaftliche Stadtforschung beschäftigt sich darüber hinaus mit der Frage nach Segregationsprozessen und der Relevanz der Wohnumgebung für die Lebensbedingungen und Lebenschancen der Bewohner/innen. Es besteht die Vermutung, dass neben der Wirkung individueller, familiärer und institutioneller Mechanismen auch die Wohnumgebung für den Bildungserfolg eine Rolle spielt, weil so genannte Quartiers- oder Kontexteffekte auf Individuen wirken. Dabei ist zunächst zu klären, wie Quartiere mit einer hohen Konzentration sozial benachteiligter Bewohner/-innen entstanden sind. Zweitens ist der Forschungsstand zur Frage der Wirkungen von räumlicher Segregation vorwiegend auf die Bildungschancen der in benachteiligten Quartieren beschulten Jugendlichen mit Migrationshintergrund darzulegen. Befunde aus der Quartierseffektforschung und der weitere Forschungsbedarf zur Erklärung von Bildungsbenachteiligung werden hierbei dargestellt.
2.1 E THNISCHE UND IM S TADTTEIL
SOZIALE
S EGREGATION
Als Segregation wird die ungleiche Verteilung von verschiedenen Bevölkerungsgruppen auf die Quartiere in einer Stadt bezeichnet (vgl. Häußermann & Siebel 2004: 139, Dangschat 2007). Merkmale von Bevölkerungsgruppen können z.B. Alter, Einkommen oder die ethnische Zugehörigkeit sein. Im Hinblick auf die
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Ungleichheitsforschung werden vorrangig die soziale und die ethnische Segregation thematisiert, die analytisch sorgfältig unterschieden werden müssen, da sie sich hinsichtlich ihrer Ursachen und ihrer sozialen Folgewirkungen unterscheiden (Häußermann & Siebel 2004: 183f, Häußermann & Siebel 2002). Was kennzeichnet nun die soziale Segregation und was die ethnische? Soziale Segregation zeigt soziale Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft an. Ethnische Segregation dagegen beruht auf kulturellen Differenzen und ist vor allem für die Integrationsfrage relevant (Häußermann & Siebel 2004: 151). 2.1.1 Die Entstehung sozialer Segregation im Stadtteil Die soziale Ungleichheit verschiedener Bevölkerungsgruppen hat sich schon immer in den räumlichen Strukturen der Städte gezeigt, d.h., die residentielle Segregation ist Ausdruck der sozialen Distanz der Bewohner/-innen (Häußermann & Siebel 2004: 140, zur Geschichte der sozialen Segregation vgl. Farwick 2007: 112f). Noch bis Mitte der 1970er Jahre hatten die Kommunen über die Wohnungsbauförderung einen gewissen Einfluss auf die sozialräumliche Struktur einer Stadt. Aufgrund der lange Zeit ausschließlichen Vergabe von Sozialwohnungen an Personen mit einem Wohnberechtigungsschein, d.h. mit niedrigem Einkommen oder staatlichem Transferleistungsbezug, entstand eine Konzentration von Armut in großen Wohnblöcken. In Folge der Deindustrialisierung der Städte seit den 1970er Jahren ergaben sich Arbeitsplatzverluste vor allem für Geringqualifizierte. Die Städte gerieten durch Steuermindereinnahmen und steigende Sozialausgaben in eine finanzielle Notlage und kürzten ihre Ausgaben im Sozialbereich. Die gleichzeitige Verringerung der Zahl von Sozialwohnungen förderte die Konzentration von einkommensschwachen Haushalten. In den Großstädten ist eine zunehmende Spaltung nach Einkommen und sozialer Lage zu beobachten, die zum Beispiel im Berliner Monitoring Soziale Stadtentwicklung deutlich wird (Häußermann 2009). Am stärksten segregiert sind die Bevölkerungsgruppen mit einem niedrigen Bildungsstand, geringem Einkommen und prekären Arbeitsverhältnissen. Soziale Segregation entsteht durch die Ressourcen, die verschiedene Bevölkerungsschichten zur Verfügung haben und damit auch einen entsprechenden Mobilitätsspielraum: „Die Reichen wohnen, wo sie wollen, die Armen dort, wo sie müssen.“ (Häußermann 2007a: 237). Während die soziale Segregation der Reichen allenfalls problematisiert wird, wenn eine starke räumliche und sicherheitsbetonte Abgrenzung wie bei den gated communities wahrzunehmen ist, geschieht dies bei der sozialen Segregation der Armen mit den Begriffen „Armutsviertel“
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UND
KONTEXTEFFEKTE
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und noch stärker bei der ethnischen Segregation mit den Begriffen „Ghetto“ und „Parallelgesellschaft“ (vgl. Häußermann 2007b, Häußermann 2001). Eine sich verfestigende Armut durch die Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt wird als Marginalisierung und Exklusion diskutiert. Exklusion ist geprägt durch materielle Armut, kulturelle Ausgrenzung und soziale Isolation (Kronauer 1996: 55f). Räumliche Segregation und Konzentration von Ausgegrenzten haben weitere eigenständige Effekte auf die Betroffenen (vgl. Abschnitt 2.3 zu Kontexteffekten). 2.1.2 Die Entstehung ethnischer Segregation im Stadtteil Ethnische Segregation im Stadtteil ist das Produkt eines langen Prozesses der Zuwanderung verschiedener Ethnien in das Gebiet und der Abwanderung anderer Gruppen. In Deutschland entstanden ethnische Segregationsprozesse vor allem nach der Anwerbung von sogenannten „Gastarbeiter/-innen“ aus dem Mittelmeerraum in den 1960er Jahren, die mit sanierungsbedürftigen, billigen Wohnungen vorliebnahmen, weil sie ihren Arbeitsaufenthalt als vorübergehend zum Aufbau ökonomischen Kapitals sahen und wieder in ihr Heimatland zurückkehren wollten. Als die Rückkehrabsicht nachließ, verblieben sie dennoch aufgrund der unterstützenden Verwandtschaftsstruktur und der Bildung ethnischer Kolonien in den Wohngebieten (Häußermann & Siebel 2004: 173, Ceylan 2006: 52f., für Berlin: Häußermann & Kapphan 2002). Die größte Gruppe bildeten die türkischen Zuwanderer/-innen, die aufgrund von Familiennachzug und einer höheren Fertilität am raschesten wuchs. Durch die wirtschaftliche Stagnation infolge der Ölkrise und dem daraus folgenden Anwerbestopp im Jahr 1973 änderte sich die soziale Situation der ehemaligen Gastarbeiter/-innen in Deutschland dramatisch. Der Schwund an unqualifizierten Arbeitsplätzen wurde für viele Zuwanderer/-innen aufgrund ihrer niedrigen Qualifikation zum Einschnitt für Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Nach und nach gerieten sie in die Arbeitslosigkeit oder in prekäre Arbeitsverhältnisse. Ausländer/-innen, die 1985 – im Jahr der höchsten Arbeitslosigkeit des Jahrzehnts – zu 70% aus der Gruppe der ehemals angeworbenen Gastarbeiter/innen und deren Familien bestanden, waren zu 14% arbeitslos gemeldet (gegenüber 9% der Erwerbspersonen insgesamt (Statistisches Bundesamt 2011, Bundesagentur für Arbeit 2011, eigene Berechnungen). Der wachsenden Anzahl an Ausländer/-innen stand von 1973 bis 1985 eine sinkende Anzahl an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gegenüber (Bade & Oltmer 2004: 77f). In Wohngebieten mit einem hohen Anteil an multiethnischen Gruppen verfestigten sich Armutslagen. Soziale und ethnische Segregation überlagerten sich daher. Aus
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Arbeiter/-innenquartieren wurden „Arbeitslosenviertel“, in denen zu großen Anteilen ehemals als Gastarbeiter/-innen Angeworbene und deren Nachfahren wohnten (Häußermann & Siebel 2002: 52). Ein Wegzug aus diesen Quartieren war und ist aus verschiedenen Gründen schwierig oder von vielen Migrant/-innen gar nicht erwünscht. Erstens gibt es die freiwillige Entscheidung, in einem Quartier mit Verwandten und einer ethnisch geprägten Infrastruktur leben zu wollen. Zweitens werden Migrant/-innen auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert (vgl. Gestring, Janßen & Polat 2006 und für Berlin Kiliç 2008), und außerdem wird die ethnische Segregation durch einen entspannten Wohnungsmarkt befördert, weil begehrte Wohnlagen für mobile und zahlungskräftige Haushalte zugänglich sind. Gut situierte Haushalte von Einheimischen und zunehmend auch von Migrant/-innen wandern dorthin ab. Weniger begehrte Wohnlagen müssen dagegen von jenen genutzt werden, die durch ihre finanzielle und soziale Lage sowie ethnische Diskriminierung benachteiligt sind.
2.2 B EWERTUNG
DER ETHNISCHEN
S EGREGATION
In Bezug auf die Frage der gesellschaftlichen Integration von Migrant/-innen gibt es unterschiedliche Bewertungen von Stadtteilen mit einem hohen Anteil an Bewohner/-innen mit Migrationshintergrund, auch ethnische Kolonien genannt. Esser (2001) sieht in ihnen die Gefahr der starken Orientierung an der Herkunftskultur und damit eine Behinderung der sozialen Integration. Eine besondere Bedeutung kommt hier dem Spracherwerb zu, der von Gelegenheiten des interethnischen Kontakts abhängig ist, welcher in ethnischen Kolonien eingeschränkt sein kann. Esser spricht von einer „ethnischen Schichtung“, die durch regionale Unterschiede und (ethnische) Differenzierungen des Arbeitsmarktes strukturell bedingt und nachteilig beim Aufstieg und damit der Integration sei (Esser 2001: 33f). In der Stadtsoziologie wird jedoch nicht die ethnische Kolonie an sich, sondern die ethnische Segregation vor allem in der Überlagerung mit sozialer Segregation als problematisch eingestuft. Aufgrund der geringen Ressourcenausstattung von sozialtransferabhängigen oder finanzschwachen Haushalten sind die Mitglieder in ihrer Mobilität stark eingeschränkt und damit stärker auf das lokale Netzwerk angewiesen (Häußermann & Siebel 2007: 108). Befürchtet werden in der Folge so genannte Quartierseffekte bzw. Kontexteffekte, die sich negativ auf die soziale Mobilität und das soziale Milieu der Betroffenen auswirken. Diese Effekte zeigen sich in „Überzeugungen, Werten, Normen, Verhaltensweisen und
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UND
KONTEXTEFFEKTE
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sozialen Positionen von Individuen, die sich nicht aus den üblichen sozialen und kulturellen Merkmalen dieser Individuen erschließen lassen.“ (Häußermann 2007b: 462). Gefragt wird etwa, ob in Armut lebende Arbeitslose in einem überdurchschnittlich von ebenfalls armen Arbeitslosen bewohnten Quartier geringere Chancen auf eine Wiederbeschäftigung haben als Arme in einem sozial gemischten Wohnquartier (Farwick 2004). Im Alltag werden sie in einem überwiegend von Transferleistungsbezieher/-innen bewohnten Quartier wenig Auskunft über freie Arbeitsstellen erhalten. Eine andere Frage ist, ob Kinder und Jugendliche durch ihr Leben in benachteiligten Wohnquartieren zusätzliche Benachteiligungen erfahren, die sich auf ihre Gesundheit, Sozialisation, Bereitschaft zur Delinquenz und letztlich auf ihre Bildungsbiografien auswirken (US Department of Housing and Urban Development 2003, Häußermann 2010a, Oberwittler 2007, Oberwittler 2008, Oberwittler 2010, Burchardt & Tillmann 2007). Sich verfestigende Armutsprozesse in einem zunehmend von Migrant/-innen bewohnten Quartier können eine Negativwirkung auslösen. Die Forschungslage ist jedoch nicht eindeutig, da es verschiedene Ansätze in der Quartiersforschung gibt und der Einfluss der Nachbarschaft auf die Bewohner/-innen indirekt durch die sozialen Institutionen, die Qualität der Schulen, die Polizei, die Peergruppen, den Zustand von Gebäuden u.a. geschieht (Friedrichs, Galster & Musterd 2005b). Eine eindeutige Begriffsverwendung bei der Beschreibung der Wirkung der räumlichen Konzentration von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen in Wohnquartieren ist in den verschiedenen Studien nicht zu erkennen. Bei der Zitation amerikanischer Forschungsergebnisse wird häufiger der Begriff „Nachbarschaftseffekte“ (Neighborhood Effects) in seiner direkten Übersetzung benutzt, ansonsten werden die Begriffe Wohnquartierseffekte, Quartiers- und Kontexteffekte sowie Gebietseffekte aus der deutschen Quartiersforschung parallel innerhalb einzelner Beiträge verwendet (vgl. Friedrichs & Nonnenmacher 2010: 475f, Farwick 2012: 382f, Häußermann 2007: 236, Blasius & Friedrichs 2008: 139). Eine deutliche Abgrenzung gibt es jedoch zu den Prozessen, die auf die soziale Lage der Individuen zurückzuführen sind (Kronauer & Vogel 2004: 235). Methodisch kritisiert Lupton (2003) an der quantitativen Forschung, dass sie oftmals geringe Effekte findet, weil sie eine begrenzte Datenlage und ein enges Forschungsdesign hat und Nachbarschaften oftmals als Gebietseinheiten begriffen werden, für die Daten vorliegen. Hinzu kommt, dass sie eher die Messung von Quartierseffekten in den Vordergrund stellt als nach Erklärungen sucht, wie solche Effekte greifen und wirken. Der qualitativen Forschung dagegen fehlt es häufig an Vergleichsstudien mit nicht benachteiligten Gebieten und es besteht
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eine Überbewertung der Befunde (Lupton 2003: 21). Dementsprechend ist eine Zusammenführung beider Forschungsansätze für differenzierte Befunde notwendig. Für diese Arbeit, in der sich der Fokus auf die Bildungschancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund richtet, stellt sich zunächst die Frage nach den Dimensionen und Wirkungsmechanismen von Kontexteffekten und vorliegenden empirischen Befunden zu Kontexteffekten auf Bildung.
2.3 K ONTEXTEFFEKTE
DES
Q UARTIERS
Inwiefern das Quartier einen benachteiligenden oder förderlichen Einfluss auf die Bildungschancen von Jugendlichen hat, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zunächst ist zu klären, welche Wirkungsdimensionen und Mechanismen von Quartierseffekten bisher in der Forschung dargelegt wurden und welche davon für Bildungsprozesse von Relevanz sein können. Anschließend wird nach Forschungsergebnissen gesucht, die zur Frage des Einflusses des Quartiers auf Jugendliche, insbesondere deren Bildungserfolg, Aufschluss geben. 2.3.1 Mechanismen, über die Kontexteffekte wirksam werden Die meisten theoretischen Annahmen zur Entstehung von Quartierseffekten lassen drei Wirkungsdimensionen erkennen: Erstens die objektiven Ressourcen des Quartiers, zweitens den Bereich sozialer Beziehungen und drittens die Symbolik des Ortes (Farwick 2001, Häußermann 2003, Häußermann 2008c). Objektive Ressourcen Zu den objektiven Ressourcen eines Quartiers zählen die Qualität der Wohnung und des Wohnumfeldes, die Infrastrukturausstattung, sowie die Lage und Verkehrsanbindung. Gibt es genug familiengerechten Wohnraum und ökologische Ressourcen wie öffentliche Erholungsflächen und Freizeitangebote (z.B. Grünflächen)? Ist das Wohngebiet mit Schadstoffen durch industrielle Emissionen oder ein hohes Verkehrsaufkommen belastet? Führt die Wohndichte in Gebäudekomplexen zu sozialen Spannungen? Erzeugt die Verwahrlosung des öffentlichen Raumes Unbehagen und Angst? Entsprechen Institutionen, wie z.B. die Schulen und Betreuungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche, quantitativ und qualitativ dem Bedarf der Zielgruppe? Oder sind die Institutionen mit der Konzentration von Problemen und ihren Aufgaben überfordert und können ihren Bildungsauftrag nicht mehr leisten? Wie umfassend ist die Ausstattung mit so-
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zialer und kultureller Infrastruktur? Gibt es einen Mangel an Sportvereinen, Kinder- und Jugendeinrichtungen, die das kreative Potential fördern, schränkt es besonders diejenigen ein, die weder einen Garten ums Haus noch einen Kanon an privat finanzierter Bildungsförderung zur Verfügung haben. Ist der Bedarf an medizinischer Versorgung gedeckt? Oder wandern Ärzt/-innen in besser gestellte Quartiere ab, in denen sie einen höheren Bestand an Privatpatient/-innen erreichen und damit ein höheres Einkommen erzielen können? Die Verkehrsanbindung vor allem in städtischen Randlagen hat eine hohe Bedeutung für Menschen, die sich kein Auto leisten können oder aus ökologischen und ökonomischen Gründen darauf verzichten. Eine mangelnde Anbindung an kulturelle, ökonomische und soziale Zentren kann den Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe zur Folge haben. Soziale Beziehungen Die Dimension der sozialen Beziehungen umfasst das soziale Kapital im Gebiet als Ressource, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruht (Bourdieu 1983: 190f). Hat das Quartier eine hohe Wohndauer der Bevölkerung aufzuweisen oder ist es durch eine hohe Fluktuation gekennzeichnet? Fliehen bildungsbewusste Eltern vor der Einschulung ihrer Kinder aus den Quartieren, weil sie der Qualität der Schulen misstrauen? Häufig ziehen aufgrund des Wegzugs der zahlungskräftigeren und bildungsbewussten Mittelschicht – wie bereits oben beschrieben – Haushalte mit verfestigten Problemlagen nach und die Bewohner/-innenschaft mit einer erhöhten Problemkonzentration verdichtet sich. Kinder und Jugendliche erleben dauerhafte Armutslagen durch prekäre Arbeitsverhältnisse oder Dauerarbeitslosigkeit nicht nur in der eigenen Familie, sondern auch im öffentlichen Raum. Dadurch sind negative Sozialisationseffekte zu befürchten, die sich in abweichenden Normen und Verhaltensweisen (z.B. Jugenddelinquenz) und fehlenden schulischen Ambitionen wie dem Fernbleiben vom Schulbesuch und mangelnden Schulabschlüssen zeigen. Bandura und Walters (1963) sprechen vom Modelllernen, das die Übernahme erwünschter oder unerwünschter Verhaltensweisen aus dem Umfeld beschreibt (Bandura & Walters 1963 und Wilson 1987, zitiert nach Blasius, Friedrichs & Klöckner 2008). Die Chicagoer Schule Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts sah hinter der zunehmenden Akzeptanz von abweichenden Normen eine delinquente Subkultur, die wenig soziale Kontrolle erfährt. Auf einen Mangel an sozialer Kohäsion und die Akzeptanz sozialer Desorganisation weisen Shaw und McKay (1969) hin. In Bezug auf die Bildungs- und Ausbildungschancen der Jugendlichen sind soziale Netzwerke von Bedeutung. Granovetter (1973) geht mit seiner Theorie „The Strength of Weak Ties“ (Die Stärke schwacher Bindungen) von der unterschiedlichen Funktionalität starker und schwacher Beziehungen aus, wobei
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starke über Freund/-innen und Verwandte bestehen und notwendig für eine psychische Stabilität sind und schwache Beziehungen über Bekanntschaften und Arbeitskolleg/-innen vor allem für die Ausbildungs- bzw. Arbeitssuche wichtig sind. Ein großes und heterogenes Netz an schwachen Beziehungen ist damit für die soziale Mobilität bedeutsam. Sind die ethnisch homogenen Netze in der Unterschicht bei Migrant/-innen z.B. türkischer Herkunft auch sozial homogen, so verfügen sie über ein geringes ökonomisches Potential und wenig Informationen über offene Ausbildungs- oder Arbeitsstellen (Gestring, Janßen & Polat 2006: 35). Insofern kann davon ausgegangen werden, dass ein geringeres soziales Kapital im Gegensatz zu heterogenen Netzwerken vorhanden ist. Gibt es eine starke lokale Orientierung bei den Kommunikationsnetzen und dem Aktionsraum, wie bei Kindern und Hauptschüler/-innen in benachteiligten Quartieren mit hoher Problemkonzentration, können Effekte auf das Bildungsverhalten und die Bildungschancen vermutet werden. In Quartieren mit wenig deutschen Muttersprachler/-innen fehlt oftmals die Gelegenheit und in der Folge die Motivation zum Erlernen der deutschen Sprache (Schönwälder & Söhn 2007). Die symbolische Dimension Die symbolische Dimension von Quartierseffekten zeigt sich in der Stigmatisierung eines Stadtteils samt seiner Bewohner/-innen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Stigmatisierung und Diskriminierung von außen und dem stigmatisierten Selbstbild, das sich letztlich auf die Selbstwirksamkeit der Betroffenen auswirkt (Häußermann & Kronauer 2009). Das Image eines Wohnortes, der als ‚Ausländer-Ghetto‘ oder ‚Arbeitslosenviertel‘ tituliert ist, mindert für die Bewohner/-innen den Erfolg bei Bewerbungen um Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Damit setzen Stigmatisierungsprozesse ein, die sich nachteilig auf die soziale und soziökonomische Teilhabe außerhalb des Quartiers auswirken (Häußermann & Siebel 2004). Der sanierungsbedürftige Zustand eines Quartiers, ausgedrückt durch nicht beseitigte Graffitis an Häuserwänden und Parkmauern bis hin zum Verfall sowie der Vermüllung öffentlicher Anlagen bedeuten eine symbolische Demütigung der Bewohner/-innen (Häußermann 2003). Wohnlagen haben ihr Image für eine lange Zeit und werden zum „Käfig“, wenn es keine Wegzugmöglichkeiten gibt. Lapeyronnie (2009) benennt es treffend: „Le ghetto est à la fois une cage et un cocon.“, das Ghetto – ein Käfig und ein schützender Kokon zugleich (ebd.: 34). Buck (2001) differenziert in seiner Studie in Großbritannien mögliche Mechanismen, die Einfluss auf die Menschen einer Nachbarschaft bzw. eines Quartiers haben können:
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Abgeschiedenheit und Ausschluss von Chancen Homogene und eingeschränkte soziale Netzwerke Qualität der Dienstleistungsangebote Diskriminierung und Stigmatisierung Sozialisation: Normenverbreitung und soziale Kontrolle durch Peergruppeneinflüsse und Fehlen von positiven Rollenmodellen Örtliche Isolation und Aufstiegsbarrieren Sicherheitsprobleme Kampf zwischen Nachbarschaften um knappe Ressourcen (ebd.: 2254f.)
Bei quantitativen Untersuchungen zu Quartierseffekten zeigen die Ergebnisse, dass in erster Linie individuelle Merkmale eine Rolle bei Verhaltensweisen spielen und der Quartierskontext einen geringen, jedoch signifikanten Effekt hat. In Deutschland haben Friedrichs & Blasius (2000) für Köln und Farwick (2004) für Bremen und Bielefeld Kontexteffekte des Wohngebietes nachweisen können, allerdings nur für bestimmte Gruppen und in kleinräumigen Gebietseinheiten. Effekte des Quartiers auf Werte und Normen traten nur bei Personen auf, die sich zu 90% der Zeit im Quartier aufhielten, wovon vor allem Jugendliche und erwerbslose Erwachsene betroffen waren (Friedrichs & Blasius 2000: 183f, Blasius, Friedrichs & Klöckner 2008). In Bezug auf die Dauer von Armutslagen ergab die Untersuchung von Farwick (2004) einen negativen Einfluss des Wohnquartiers mit überdurchschnittlich vielen Sozialhilfeempfänger/-innen. Ähnlich gibt es in der britischen Studie von Atkinson und Kintrea (2001) starke Befunde für Nachbarschaftseffekte im Zusammenhang mit Armut, erstens hinsichtlich der Stigmatisierung von benachteiligten Gebieten und deren Folgen und zweitens auf Beschäftigung und Gesundheit. Demnach ist es besonders benachteiligend, wenn man arm in einem armen Quartier lebt im Vergleich zum Leben in einem gemischten Quartier. So kann die Arbeitslosenzahl eines Wohnorts zur Stigmatisierung führen und die Arbeitslosigkeit in eine Langzeitarbeitslosigkeit überführen (Friedrichs, Galster & Musterd 2005a). Blasius, Friedrichs und Klöckner (2008) schlussfolgern in ihrer Untersuchung zu Kontexteffekten des Quartiers auf Benachteiligte deutscher und türkischer Herkunft eine Stabilisierung von Quartieren durch türkische Bewohner/innen. Dabei wurden in zwei Stadtteilen Kölns mit einem überdurchschnittlichen Anteil an Sozialhilfeempfänger/-innen soziale Normen von Befragten türkischer und deutscher Herkunft verglichen. Angenommen wurde, dass die Bewohner/innen doppelt benachteiligt sind: Erstens durch ihre ökonomische Situation, ihre geringe Qualifikation und der Stigmatisierung von außen, zweitens durch das
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Leben in einem Quartier, in dem weniger positive Rollenvorbilder und Ressourcen angenommen werden als in gut situierten Quartieren (ebd.: 8). Die Befunde ergaben, dass türkische im Vergleich zu deutschen Sozialhilfeempfänger/-innen deviantes bzw. abweichendes Verhalten eher ablehnen und seltener wahrnehmen, zudem mit Armutssituationen besser umgehen können und seltener von sozialer Isolation betroffen sind. Die angenommene doppelte Benachteiligung für Deutsche und Türk/-innen bestätigte sich zwar, sie fällt für letztere Gruppe jedoch geringer aus. Angesichts der unterschiedlichen sozialen Lage von Migrant/-innen wirft die Interpretation allerdings die Frage auf, inwiefern z.B. der aufenthaltsrechtliche Status einen Einfluss auf geäußerte Meinungen hat. So ist zu vermuten, dass sozialhilfeabhängige oder mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus Befragte illegale Praktiken kaum als tolerabel angeben werden. 2.3.2 Der Einfluss des Quartiers auf Jugendliche, insbesondere deren Bildungserfolg Im Rahmen der Jugenddelinquenzforschung weist Oberwittler (2004) in seiner Kölner und Freiburger Untersuchung bei Hauptschüler/-innen auf potentielle sozialräumliche Kontexteffekte in Höhe der US-amerikanischen Studien hin (Überblick bei Oberwittler 2010: 217f). Er betont jedoch, dass der Kontexteffekt der Schule ein höherer sei und Effekte der Familie und des Freundeskreises in einer Längsschnittuntersuchung erforscht werden müssen, um stichhaltigere Ergebnisse zu Kontexteffekten zu erhalten. Der Einfluss der sozialen Umgebung hat Kontexteffekte für Sozialisationsprozesse von Kindern und Jugendlichen insbesondere dann, wenn sich deren Aktions- und Kommunikationsraum stark auf den lokalen Kontext ihrer Wohnumgebung beschränkt. Dies ist vor allem bei männlichen, actionorientierten Hauptschülern der Fall, die nach Oberwittler (2004) den kürzesten Schulweg und den Freundeskreis überwiegend aus der unmittelbaren Schulumgebung haben. Nicht geklärt werden konnte allerdings in der Untersuchung, warum männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht die gleichen Reaktionen auf konzentrierte Benachteiligung zeigen. Der Wohnort bildete hier nicht den entscheidenden Faktor bei der Formung des Verhaltens. Für die Hauptschülerinnen zeigte sich ein differenziertes Bild dahingehend, dass Schülerinnen deutscher Herkunft auf sozialräumliche Benachteiligung – gemessen an der Gewaltneigung – stärker reagieren als Jungen. Entgegengesetzt zeigt sich für Mädchen mit Migrationshintergrund, dass ihre Delinquenzneigung mit der sozialräumlichen Benachteiligung signifikant zurückgeht. Begründet wird dies mit konservativeren Rollenbildern der Mädchen, die mit der
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stärkeren elterlichen Kontrolle und Milieus mit traditionellen religiösen Werthaltungen in benachteiligten Stadtteilen einhergehen (Oberwittler 2008: 80/81). Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Vermittlung sozialer Normen und die soziale Kontrolle über deren Einhaltung durch das konzentrierte Zusammenleben der Ethnien und Familien im Wohngebiet erleichtert werden. Insgesamt ist gegenüber der ethnischen die soziale Segregation ein stärkerer Faktor bei deviantem Verhalten. Je höher der Anteil an sozialhilfeabhängigen Kindern und Jugendlichen im Stadtteil, desto höher ist die Neigung zu schwerer Delinquenz unabhängig von der individuellen sozialen Lage der Jugendlichen. (Oberwittler 2007, Oberwittler 2004). Auf die Schwierigkeit, familiäre Effekte von Nachbarschaftseffekten differenziert unterschieden zu können, weist Pinkster (2007) hin, denn familiäre Werte können in Gebieten mit einer ethnischen Konzentration von Minderheiten durch Gleichgesinnte (Nachbarschaft, religiöse Gemeinde) verstärkt werden (ebd.: 2599). Die im Quartier dominanten Werte können als Mechanismus der Quartierseffekte bezeichnet werden, da über die sozialen Vernetzungen eine Kontrolle über das Sozialverhalten der Quartiersbewohner/-innen möglich ist. Die Straße kann somit zum Ort der Kontrolle durch ihre Bewohner/-innen werden, gleichzeitig aber auch eine Gelegenheitsstruktur für Peergruppendynamiken wie zum Beispiel die Bandenkriminalität bieten. Eine Sekundäranalyse der Daten der von Lehmann und Nikolova (2005) durchgeführten Berliner Schulleistungsstudie ELEMENT1 zur Lese- und Mathematikkompetenz der Grundschüler/-innen kommt zu dem Schluss, dass Kontexteffekte nur in Nachbarschaften mit einer gehobenen Sozialstruktur eine Auswirkung auf die Kompetenzentwicklung haben (Helbig 2010). Begründet werden die Kompetenzvorteile mit der Annahme, dass die Bewohner/-innen in besser gestellten Nachbarschaften überdurchschnittlich gebildet sind, ein besseres Einkommen und ein hohes Sozialkapital haben und über Rollenvorbilder und Sozialkontrolle positiv auf die Bildungsaspiration wirken (Helbig 2010: 676). Andersherum sind für Kinder in benachteiligten Quartieren keine Nachteile auf ihre Kompetenz nachweisbar. Diese Befunde lassen darauf schließen, dass die Quartiersbewohner/-innen keine wehrlosen Objekte sind, sondern durch eigenes Handeln negative Quartierseffekte neutralisieren können. Ein quantitativer Nachweis der Effekte ist dadurch erschwert.
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Mit dem Ergebnis, dass in Berliner sozial benachteiligten Stadtteilen vorwiegend niedrigere Testergebnisse als in sozioökonomisch besser gestellten Stadtteilen erreicht werden (Lehmann & Nikolova 2005: 39f)
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Eine Schwäche in Helbigs Studie liegt allerdings darin, dass zwar schulische Leistungen in Bezug zu den sozialstrukturellen Daten des Umfeldes gesetzt wurden, gleichzeitig aber vorliegende Daten der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung zur sozialen Herkunft der Schüler/-innen nicht in die Untersuchung einbezogen wurden. Dies wäre mit der seit 2003 geltenden Lernmittelverordnung, die sozialtransferabhängigen Eltern die Lernmittelbefreiung bietet, möglich gewesen2.
2.4 FORSCHUNGSLÜCKEN IN DER Q UARTIERSFORSCHUNG Für die Frage nach der Relevanz der referierten Forschungsergebnisse zu Quartierseffekten lassen sich für die Bildungsbenachteiligung der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund folgende Ergebnisse zusammenfassen und weitergehende Fragen aufstellen: Aus den in der Quartiersforschung benannten Forschungslücken lässt sich in Bezug auf die Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine Reihe von wenig geklärten Vermutungen ableiten. Die von Häußermann (2003) benannte Vermutung, dass sich die Konzentration von Benachteiligten zusätzlich benachteiligend auf die Benachteiligten auswirkt, ist ein Hinweis auf quartiersbezogene Faktoren, die sich auf die Bildungssituation der im Quartier lebenden Kinder und Jugendlichen auswirken. Sie stehen neben den bereits bekannten bildungsbenachteiligenden Faktoren durch die soziale Herkunft und die Schule. Die soziale Herkunft, bzw. die sozioökonomische Situation der Familien ist jedoch keine isolierte Größe, sondern wird in dieser Annahme durch Prozesse im Quartier beeinflusst, wobei die Familien sowohl Akteure von Quartiersprozessen wie auch passiv Betroffene sein können. Allgemein werden Forschungslücken in den Wirkungsprozessen von Quartierseffekten wie auch der Bestimmung ihrer Einflussgröße im Verhältnis zu familiären und institutionellen (z.B. Schule) Kontexteffekten gesehen. So stellt sich weitergehender Forschungsbedarf aus der Jugendkriminologie heraus in der Wechselwirkung von individuellen und sozialräumlichen Risikofaktoren im Längsschnitt und in der aktiven Rolle der Jugendlichen bei der Auswahl ihrer
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Nach § 7 der Lernmittel-Verordnung ist festgelegt, dass bei Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt, Arbeitslosengeld II, Wohngeld, BAföG-Leistungen oder Leistungen für Asylbewerber/-innen kein Eigenanteil bezahlt werden muss. Dasselbe gilt für Kinder in Vollzeitpflege und Wiederholer/-innen der Klassenstufe (Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2010).
W OHNORTSEGREGATION
UND
KONTEXTEFFEKTE
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Netzwerke. Oberwittler (2008) sieht die soziale Segregation der Wohngebiete durch eine von den Jugendlichen selbst gesteuerte soziale Segregation ihrer Netzwerke und Aktionsräume ergänzt. Demnach entsteht eine Mischung aus Selbstselektion und Verstärkungseffekten. Er verweist dabei auf Hurrelmanns (2006) Sozialisationsansatz, nach dem Jugendliche nicht passiv sind, sondern aktiv ihr wahrgenommenes Lebensumfeld verarbeiten und dabei unterschiedlich mit sozialräumlichen Voraussetzungen umgehen. Zudem ist die Rolle der Schulen im Verhältnis zu ihrer Umgebung bisher zu wenig belichtet. Oberwittler (2008) vermutet, dass der schulische Kontext relevanter als der Quartierskontext ist und in noch stärkerem Maße individuelle Risikofaktoren eine Rolle spielen. Ein positives Familienklima kann ein Puffer gegen negative Quartierseinflüsse sein, dagegen sind Jugendliche aus problembelasteten Familien in benachteiligten Quartieren besonders gefährdet. Wenn jedoch die Eltern die Freizeitaktivitäten ihrer Kinder kontrollieren und eine „Erziehung gegen das Milieu“ stattfindet, ist die Gefahr bereits abgeschwächt (Straub 2010: 84f). Dies ist ein Hinweis darauf, dass eine vor allem keiner sozialen Kontrolle unterliegende Freizeitgestaltung bei familiär belasteten Jugendlichen nachteilig ist: „Sozialstrukturelle Benachteiligungen wirken sich demnach vor allem über subkulturelle Prozesse auf Jugendkriminalität aus.“ (Oberwittler 2010: 222). Studien, die sich auf Schulen als sozialräumliche Kontexte bezogen, bestätigten, dass Schulklima und - organisation einen eigenständigen Einfluss auf delinquentes Verhalten in und außerhalb der Schule haben (Oberwittler 2010, vgl. in Bezug auf Intensivtäter Ohder 2008). Die Interpretation, Mädchen mit Migrationshintergrund seien – gemessen an der Kriminalitätsrate – in benachteiligten Quartieren von Kontexteffekten nicht betroffen (Oberwittler 2004), wirft die Frage auf, ob sich andere Effekte durch das Quartier zeigen. Die eingangs aufgestellte These 2, dass Kontexteffekte durch den Stadtteil sowohl auf Mädchen wie auch Jungen bildungsbenachteiligend wirken, scheint sich für Mädchen mit Migrationshintergrund in der Literatur nicht zu bestätigen und muss in der empirischen Erhebung neu geprüft werden.
3 Segregation in der Schule – Befunde zu den Wirkungen
In diesem Kapitel wird der Forschungsstand zur Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund unter dem Schwerpunkt der sozialen und ethnischen Segregation in Schulen und deren Auswirkungen auf den Bildungserfolg wieder gegeben. Es besteht die Annahme, dass die ethnische und soziale Segregation in Schulen die Schüler/-innen vielfach benachteiligt, da sowohl inner- wie außerschulische Negativeffekte auf den Bildungserfolg wirken. Als benachteiligende Faktoren werden neben den im zweiten Kapitel bereits beschriebenen Quartierseffekten die Institution Schule und die soziale Herkunft (Familie) angenommen. Zur Beantwortung der Fragestellung wird zunächst anhand von Schulen in drei Berliner Quartieren der Frage nachgegangen, ob überhaupt eine erhöhte soziale und ethnische Segregation der Schulen im Vergleich zu ihrem Umfeld vorliegt und wie solche Segregationsprozesse zustande kommen. Die im Hinblick auf die Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ausgewählten Befunde der Schulleistungsstudien PISA und IGLU zeigen einen Leistungsrückstand auf, der auf eine Bildungsbenachteiligung schließen lässt. PISA hat auf erhebliche Defizite von Jugendlichen und die IGLU-Studie auf den Missstand in der Förderung von Grundschulkindern mit Migrationshintergrund hingewiesen. Die IGLU-Studie und weitere Studien haben zudem auf den diskriminierenden und damit bildungsbenachteiligenden Aspekt bei der Vergabe von Schullaufbahnempfehlungen aufmerksam gemacht. Vor allem Studien, die sich mit der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft beschäftigen, so genannte Kompositionsstudien, thematisieren die soziale und/oder ethnische Segregation in Schulen und Schulklassen als leistungshemmende und bildungsbenachteiligende Komponenten. Schließlich wird nach den Auswirkungen der sozialen und ethnischen Segregation in den Schulen und Einzugsbereichen auf die Anschlussperspektiven nach Beendigung der allgemeinbildenden Schule gefragt.
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3.1 V ERANSCHAULICHUNG DER VERSCHÄRFTEN S EGREGATION IN S CHULEN ANHAND STATISTISCHER D ATEN VON DREI B ERLINER S TADTTEILEN UND IHRER S CHULEN Im folgenden Kapitel soll die These der Verschärfung der sozialen und ethnischen Segregation an Schulen im Vergleich zur Segregation im Umfeld und damit dem Einzugsbereich der Grundschulen am Beispiel mehrerer Schuleinzugsbereiche von Grundschulen geprüft werden. Hierfür eignen sich verschiedene Daten des Berliner Monitoring Soziale Stadtentwicklung 20091 auf Basis der Daten von 2008 zu den Planungsräumen als eine Ebene der lebensweltlich orientierten Räume (LOR)2 sowie Daten der Senatsverwaltung für Bildung und Wissenschaft zu den einzelnen Schulen. Soziale Segregation in den Planungsräumen zeigt sich an der überdurchschnittlichen Konzentration von Empfänger/-innen staatlicher Transferleistungen und ethnische Segregation an der überdurchschnittlichen Zahl von Bewohner/-innen mit ausländischem Pass oder Migrationshintergrund in einzelnen Quartieren. Eine Überlagerung von ethnischer und sozialer Segregation kann schließlich durch einen hohen Anteil an Ausländer/innen und Bewohner/-innen mit Migrationshintergrund und der gleichzeitigen hohen Quote an Transferleistungen dieser Personengruppen ermittelt werden, wobei Transferleistungsdaten nur für Ausländer/-innen, nicht für Bezieher/innen mit Migrationshintergrund vorhanden sind. 3.1.1 Datengrundlage und Auswahl der Quartiere Auswahl der Quartiere Die ausgewählten Quartiere liegen im Ortsteil Kreuzberg des Bezirkes Kreuzberg-Friedrichshain, im Ortsteil Tiergarten des Bezirkes Mitte und Ortsteil Steglitz im Bezirk Steglitz-Zehlendorf. Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg gehören mit Neukölln zu den sozialstrukturell schwächsten Innenstadtbezirken Berlins mit einem hohen Anteil an Kinderarmut, Transferleistungsbezug und Arbeitslosigkeit. Es ist allerdings das Verdienst des seit 2000 erstellten Monitoring Soziale Stadtentwicklung, kleinräumige Untersuchungen zur Sozialstruktur und zu
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Aufgrund des ausführlicheren Tabellenmaterials zum Zeitpunkt des Abschlusses
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Lebensweltlich orientierte Räume sind 2006 von der Senatsverwaltung als neue räum-
dieser Arbeit wurde auf das Monitoring 2009 zurückgegriffen. liche Grundlage für Planung, Prognose und Beobachtung demografischer und sozialer Entwicklungen in Berlin festgelegt worden.
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den Veränderungen im Zeitverlauf durchzuführen. So zeigen sich teilweise erhebliche Unterschiede zwischen den benachbarten Planungsräumen. Das Kreuzberger Quartier bildet die Umgebung der Fallstudienschule ab und ist ein Quartier mit besonderem Entwicklungsbedarf, das nach dem Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2009 und 2010 zwar aufgrund seiner positiven Entwicklungsdynamik von der Gruppe 3 (niedriger Entwicklungsindex) in die Gruppe 2 (mittlerer Entwicklungsindex) im Jahr 2008 aufgestiegen ist (Häußermann 2010b, 2009). Dennoch stellen sich hier nach wie vor Problemlagen, die den Berliner Durchschnitt übertreffen (vgl. Kapitel 5.1). Das Tiergartener Quartier ist ebenfalls von Interventionen der sozialen Stadtentwicklung betroffen und der Planungsraum Beusselkiez gehört zu den großen Verlierern im Monitoring 2010. Er stieg von der Gruppe 3 zur Gruppe 4 („sehr niedriger Entwicklungsindex“) ab. Die Quartiere in Kreuzberg und Tiergarten haben einen im Berliner Vergleich überdurchschnittlichen Anteil an Bewohner/innen mit ausländischem Pass, mit Migrationshintergrund und mit Transferleistungsbezug. Zu letzterem gehört im Wesentlichen der Bezug von ALG II, Sozialhilfe und Wohngeld. Als Kontrastgebiet wurde ein Quartier im Bezirk Steglitz-Zehlendorf gewählt, das im Berliner Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2009 mit einem hohen Entwicklungsindex gekennzeichnet wurde. SteglitzZehlendorf weist keinen Planungsraum mit niedrigem sozialem Status auf. Aussagekraft der Daten Um Aussagen über die soziale und ethnische Struktur von Schuleinzugsbereichen treffen zu können, wurden hier Gebietsgrenzen der Planungsräume auf ihre Übereinstimmung mit Schuleinzugsbereichen geprüft. Diese Kongruenz war nicht immer komplett herzustellen, da die Planungsräume teilweise größer als das jeweilige Einzugsgebiet waren. Bei einer Zusammenfassung mehrerer Einzugsbereiche von Schulen und dementsprechend mehrerer Planungsräume verringerte sich jedoch die statistische Ungenauigkeit. Im Rahmen dieser Untersuchung wird davon ausgegangen, dass von einer erhöhten ethnischen und sozialen Segregation an Schulen dann gesprochen werden kann, wenn die schulischen Werte bezüglich Lernmittelbefreiung (Lmb) und Schüler/-innen „nicht-deutscher Herkunftssprache“ die Werte der Einzugsbereiche und damit der umgebenden Planungsräume übertreffen. D.h., dass in den Planungsräumen die Zahl der Personen mit ausländischem Pass, mit Migrationshintergrund sowie der Bezieher/-innen sozialer Transferleistungen unabhängig der ethnischen Herkunft geringer ist als in den Schulen.
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Die Einzugsbereiche der Grundschulen In Berlin sind weitgehend die Einschulungsbereiche der Grundschulen festgelegt, d.h., dass Eltern je nach Wohnadresse eine Grundschule zugewiesen wird. Einen Sonderweg beschreitet der Bezirk Mitte, der 2008 nach dem ersten Versuch der Einrichtung eines Schulsprengels mit mehreren Grundschulen und der damit verbundenen juristischen Klage von Eltern gegen die Erweiterung der Einzugsbereiche auf Sprengelgröße eine Änderung des Schulrechts abwarten musste. Seit dem Schuljahr 2011/2012 fasst der Bezirk Mitte wieder mehrere Grundschulen zu einem Sprengel zusammen und bietet den Eltern mehr Freiheit bei der Grundschulwahl. Diese Möglichkeit eröffnet sich fortan allen Bezirken. Untersuchungsdesign Für die vorliegende Untersuchung wurden mehrere Schuleinzugsbereiche zusammengefasst, um Folgendem gerecht zu werden: Erstens verlangt die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Berlin die Aggregation einiger brisanter schulischer Daten wie z.B. der Lernmittelbefreiung. Bisher ist es nicht zulässig, Daten – wie die Höhe der Lernmittelbefreiung und bei Oberschulen die Abgänger/-innenzahlen nach erreichten Abschlüssen – schulbezogen zu veröffentlichen, denn Eltern könnten aufgrund dieser Kenntnis Schulen meiden. Zweitens können Eltern trotz der festgelegten Einzugsbereiche eine andere benachbarte Schule, die eher ihren Profilwünschen entspricht, bevorzugt benennen. Eine Entsprechung des Wunsches hängt von einer Reihe weiterer Faktoren, wie etwa der Geschwisterbeschulung, des Arbeitsortes der Eltern und der außerschulischen Betreuungssituation ab. Datengrundlage Zur Feststellung der ethnischen und sozialen Segregation in den Schulsprengeln wurden einige planungsraumbezogene Daten des Monitorings Soziale Stadtentwicklung 2009 verwendet. Diese sind die Staatsbürgerschaft nach Deutsch und Ausländisch getrennt, der Migrationshintergrund und der Transferleistungsbezug in der Größe des Schulsprengels. Transferleistungsdaten liegen nach Staatsangehörigkeit (deutsch und ausländisch) vor, jedoch nicht nach Migrationshintergrund. Für die Feststellung der ethnischen und sozialen Segregation an Schulen wurden Daten der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung herangezogen. Dazu gehören die Lernmittelbefreiung pro Schule (Indikator soziale Segregation) sowie die Anteile an Schüler/-innen nicht-deut-
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scher Herkunftssprache (ndH)3 und an Schüler/-innen mit ausländischem Pass (Indikator ethnische Segregation). 3.1.2 Datenzuschnitt: Moabit West Die künftige Sprengellösung mit einer Zusammenfassung von 5 Grundschulen lässt die Addition folgender Planungsräume zu: Huttenkiez, Beusselkiez, Emdener Straße, Zwinglistraße, Elberfelder Straße, Hansaviertel und Westhafen. Geringe Abweichungen von der Sprengelgröße ergeben sich durch die Planungsräume Westhafen und Hansaviertel. Für die Auswahl des Schulsprengels spricht, dass die Planungsräume Zwinglistraße, Beusselkiez und Huttenkiez in Abstufung zu den Gebieten mit niedrigem sozialem Status beim Monitoring Soziale Stadtentwicklung (2009) gehören. Zu den Gebieten mit sehr niedrigem sozialem Status und negativer Entwicklungsdynamik gehört die Zwinglistraße, mit sehr niedrigem sozialen Status und stabiler Entwicklungsdynamik der Beusselkiez und mit niedrigem sozialen Status und negativer Entwicklungsdynamik der Huttenkiez (zu den Indikatoren vgl. Häußermann 2009). Zusammensetzung der Bewohner/-innen In den sieben zusammengefassten Planungsräumen leben 2008 insgesamt 45.832 Bewohner/-innen. Die Spannweite der Daten in den einzelnen Lebensräumen ist jedoch groß. Den höchsten Anteil an Ausländer/-innen hat der Beusselkiez mit 38,2%, ebenso einen Migrationshintergrund in der Bevölkerung von 55,6%. Am anderen Ende steht die Elberfelder Straße mit 16% Ausländer/-innen und 29,7% Migrationshintergrund. Hinsichtlich des Bezugs von Transferleistungen ergibt sich eine veränderte Polarisierung. Der kleine Planungsraum Westhafen steht mit 40,5% Transferleistungsbezieher/-innen, gefolgt wiederum vom Beusselkiez mit 29,62% den 11,4% Bezieher/-innen von Transferleistungen im Hansaviertel gegenüber. Errechnet man den Durchschnitt der Planungsräume auf Sprengelebene, ergibt sich folgendes Bild:
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Verwendeter Begriff in der Berliner Schulstatistik, der sich auf die bei Eltern erfragte häusliche Kommunikationssprache bezieht.
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Abbildung 1: Moabiter Sprengel, Bevölkerung und Transferleistungsbezug, in %
Quelle: Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2009, eigene Berechnungen
Im Sprengel (vgl. Abb. 1) leben 26,8% Ausländerinnen und 42,74% Menschen mit Migrationshintergrund. Der Transferleistungsbezug beträgt insgesamt 20,73%, wobei 28,5% der Ausländer/-innen im Vergleich zu 18,05% der Deutschen Transferleistungen beziehen. Vergleicht man diese Daten mit der Berliner Situation (vgl. Abb. 2), zeigen sich in dem Schulsprengel im Durchschnitt deutlich höhere Werte in der Anzahl an Bewohner/-innen mit ausländischem Pass und mit Migrationshintergrund. Auch in Bezug auf den Lebensunterhalt ist die Quote an Transferleistungsbezieher/-innen sowohl bei den Ausländer/-innen als auch bei den Deutschen höher als in Berlin gesamt. Abbildung 2: Berlin, Bevölkerung und Transferleistungsbezug, in %
Quelle: Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2009, eigene Berechnungen
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Damit zeigt sich in der Zusammenfassung der Planungsräume im Moabiter Sprengel eine erhöhte ethnische und soziale Segregation. Wie äußert sich diese nun in den Grundschulen des Sprengels? Segregation in den Grundschulen des Sprengels In der Zusammenfassung der Einzugsbereiche der fünf Grundschulen wurden 2009 insgesamt 1599 Grundschüler/-innen beschult. Die Spanne des Anteils an Ausländer/-innen an den Grundschulen liegt zwischen 11% (Schule 5) und 40% (Schule 3) und der Prozentsatz an Kindern nicht-deutscher Herkunftssprache an denselben Schulen zwischen 28% und 89% (vgl. Abb. 3). Die niedrigen Werte in der Schule 5 hängen mit dem besonderen Profil der Schule zusammen, das vor allem Eltern unabhängig vom Einzugsgebiet anzieht, die eine reformpädagogische Einrichtung bevorzugen. Abbildung 3: Grundschulen im Moabiter Sprengel, einzeln; Herkunft, Lmb, in %
Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, eigene Darstellung
Errechnet man die Daten der Grundschulen des Moabiter Sprengels im Durchschnitt, um einen Vergleich zur Zusammensetzung der Grundschüler/-innen Berlins herzustellen, gibt es folgende Auffälligkeiten: Im Sprengel ist der Anteil an Schüler/-innen nicht-deutscher Herkunftssprache mit 67,86% knapp doppelt so hoch wie der Anteil an ausländischen Schüler/-innen (vgl. Abb. 4). Gegenüber Berliner Werten kann ebenfalls von einer Verdoppelung ausgegangen werden: Gibt es landesweit 13,99% Grundschüler/-innen mit ausländischem Pass
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und 34,73% Schüler/-innen nicht-deutscher Herkunftssprache (vgl. Abb. 5), sind es im Sprengel 29,45% bzw. 67,86%. Abbildung 4: Grundschulen im Moabiter Sprengel, im Durchschnitt; Herkunft, Lmb, in %
Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2009, eigene Berechnungen
Abbildung 5: Grundschulen in Berlin; Herkunft, Lmb, in %
Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2009, eigene Berechnungen
Im Berliner Vergleich kann damit von einer ethnischen Segregation in den Grundschulen des Moabiter Schulsprengels ausgegangen werden. Die hohe Lernmittelbefreiung von 61,7% der Grundschüler/-innen im Moabiter Sprengel ist etwas weniger als doppelt so hoch wie im Berliner Vergleich (34,9%). Sie weist auf eine soziale Segregation in den Grundschulen hin.
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Erhöhte Segregation der Grundschulen im Vergleich zum Umfeld Vergleicht man nun die Werte der fünf Moabiter Schulen mit jenen des Einzugsgebietes, gibt es eine relativ geringe Erhöhung des Anteils an Ausländer/-innen und eine um etwa ein Drittel höhere Anzahl an Schüler/-innen nicht-deutscher Herkunftssprache in den Schulen. Besonders auffallend ist jedoch die Verdreifachung der Lernmittelbefreiung im Vergleich zum Transferleistungsbezug im Einzugsgebiet der Grundschulen. Damit kann von einer erhöhten ethnischen Segregation und einer verschärften sozialen Segregation an den Schulen im Vergleich zum Einzugsbereich gesprochen werden. Die hohe Diskrepanz weist auf eine Konzentration von Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen an den Schulen im Sprengel hin. Die überdurchschnittlich hohe Abwanderung in fünf der sieben Planungsräumen vor der Einschulung der Kinder verweist auf die Flucht von bildungsbewussten Mittelschichtsfamilien aus dem Quartier (vgl. Häußermann 2009: 192). Detaillierte Angaben zur Zahl der Kinder, deren Eltern Strategien anwenden, um den Besuch einer Grundschule ihrer Wahl außerhalb des Sprengels oder einer Privatschule zu ermöglichen, können aus den Daten nicht herausgefiltert werden. 3.1.3 Datenzuschnitt: Schulregion VII in Friedrichshain-Kreuzberg Die Schulregion umfasst vier Einzugsbereiche von Grundschulen, die weitgehend deckungsgleich mit den Planungsräumen Wrangelkiez und Reichenberger Straße sind. Zusammensetzung der Bewohner/-innen In den beiden zusammengesetzten Planungsräumen leben 2008 insgesamt 26.283 Bewohner/-innen. Der Vergleich zeigt mit 34,3% für den Wrangelkiez einen höheren Anteil an Ausländer/-innen als in der Reichenberger Straße (30,1) ebenso einen höheren Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund (48% zu 45,6%). Geringe Unterschiede gibt es beim Transferleistungsbezug. Errechnet man einen Durchschnitt der Planungsräume auf Sprengelebene ergibt sich folgendes Bild (vgl. Abb. 6): Im Sprengel leben 31,92% Ausländerinnen und 46,06% Menschen mit Migrationshintergrund. Der Transferleistungsbezug beträgt insgesamt 22,62%, wovon 26,81% der Ausländer/-innen und 20,65% der Deutschen betroffen sind.
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Abbildung 6: Schulregion VII in Friedrichshain-Kreuzberg; Bevölkerung und Transferleistungsbezug, in %
Quelle: Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2009, eigene Berechnungen
Vergleicht man diese Daten wiederum mit der Berliner Situation zeigen sich in dem Kreuzberger Schulsprengel im Durchschnitt deutlich höhere Werte in der Anzahl an Bewohner/-innen mit ausländischem Pass und mit Migrationshintergrund. Bezüglich des Lebensunterhalts können ebenfalls höhere Werte bei der Quote an Transferleistungsbezieher/-innen festgestellt werden (vgl. Abb. 2) Damit zeigt sich in der Zusammenfassung der ausgewählten FriedrichshainKreuzberger Planungsräume bereits wie im Moabiter Schulsprengel eine erhöhte ethnische und soziale Segregation. Wie zeigt sich diese sozialräumliche Segregation nun in den Grundschulen des Sprengels? Segregation in den Grundschulen des Sprengels In der Zusammenfassung der Einzugsbereiche der vier Grundschulen wurden 2009 insgesamt 1235 Grundschüler/-innen beschult. Die Spanne des Anteils an Ausländer/-innen an den Grundschulen liegt zwischen 21,6% (Schule K2) und 39,87 (Schule K4) und der Prozentsatz an Kindern nicht-deutscher Herkunftssprache an denselben Schulen zwischen 63,07 und 95,42% (vgl. Abb. 7).
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Abbildung 7: Grundschulen in der Schulregion VII in Friedrichshain-Kreuzberg, einzeln; Herkunft, Lmb, in %
Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2009, eigene Berechnungen
Errechnet man die Daten des Kreuzberger Sprengels im Durchschnitt, um einen Vergleich zur Zusammensetzung der Grundschüler/-innen Berlins herzustellen, gibt es folgende Auffälligkeiten (vgl. Abb. 8): Im Sprengel ist der Anteil an Schüler/-innen nicht-deutscher Herkunftssprache mit 72,31% mehr als doppelt so hoch wie der Anteil an ausländischen Schüler/-innen. Gegenüber Berliner Werten kann ebenfalls von einer Verdoppelung ausgegangen werden: Gibt es landesweit 13,99% Grundschüler/-innen mit ausländischem Pass und 34,73% Schüler/-innen nicht-deutscher Herkunftssprache, sind es im Sprengel 27,53% und 72,31%. Abbildung 8: Grundschulen in der Schulregion VII in Friedrichshain-Kreuzberg, im Durchschnitt; Herkunft, Lmb, in %
Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2009, eigene Berechnungen
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Im Berliner Vergleich kann damit von einer ethnischen Segregation in den Grundschulen des Kreuzberger Schulsprengels ausgegangen werden. Die hohe Lernmittelbefreiung von 64,05% im Kreuzberger Sprengel ist etwas weniger als doppelt so hoch wie im Berliner Vergleich (34,9%). Damit kann zudem von einer sozialen Segregation in den Schulen gesprochen werden. Erhöhte Segregation der Grundschulen im Vergleich zum Umfeld Vergleicht man nun die Werte der Kreuzberger Schulen mit jenen des Einzugsgebietes, so sind an den Schulen weniger Schüler/-innen mit ausländischem Pass zu finden. Dagegen übertrifft der Anteil an Schüler/-innen nicht-deutscher Herkunftssprache mit 72,53% weit den Anteil von 46,64% Bewohner/-innen mit Migrationshintergrund im Einzugsgebiet. Besonders auffallend ist wiederum die fast dreifach so hohe Lernmittelbefreiung im Vergleich zum Transferleistungsbezug im Einzugsgebiet der Grundschulen (vgl. Abb. 6 und 8). Damit kann von einer erhöhten ethnischen Segregation und einer verschärften sozialen Segregation an den Schulen im Vergleich zum Einzugsbereich gesprochen werden. Auch für Kreuzberg zeigt sich eine hohe Diskrepanz, die auf eine Konzentration von Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen an den Schulen im Sprengel und eine Flucht der Mittelschicht vor der Einschulung hinweist (Häußermann 2009: 193). 3.1.4 Datenzuschnitt: Steglitz Als Kontrastgebiet wurden ein Schuleinzugsgebiet und sich damit überlappende Planungsräume im Bezirk Steglitz-Zehlendorf gewählt. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Schuleinzugsbereichen in Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte differieren die Planungsräume und Schuleinzugsbereiche in diesem Bezirk erheblich. Die Auswahl eines Gebietes musste daher nach der Bezirksgrenze erfolgen, da diese sowohl die Grenze von Planungsraum wie Schuleinzugsbereich darstellt. Die ausgewählte Schulregion umfasst drei Einschulungsbereiche, die weitgehend die Fläche der fünf Planungsräume Munsterdamm, Südende, Bergstraße, Feuerbachstraße und Bismarckstraße umfassen. Zusammensetzung der Bewohner/-innen In den fünf zusammengesetzten Planungsräumen leben 2008 insgesamt 34984 Personen, wobei der Anteil an Ausländer/-innen sich zwischen 10,4% in Südende und 13,5% in der Feuerbachstraße bewegt und der Anteil an Personen mit Migrationshintergrund zwischen 23,5% und 26% liegt. Der Transferleistungsbezug beträgt insgesamt 13,03% mit einer Spanne von 11,87% bis 14,54%, wobei 21,54% der Ausländer/-innen im Vergleich zu 11,88% der Deutschen Transferleistungen beziehen. Die Daten liegen damit bei allen Personengruppen unterhalb des Berliner
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Durchschnitts, und es kann im Vergleich zur gesamten Stadt nicht von einer erhöhten sozialen und ethnischen Segregation in den Planungsräumen ausgegangen werden. Insgesamt zeigt sich ein einheitlicheres Bild zwischen den Planungsräumen im Vergleich zu den bereits beschriebenen Gebieten in Kreuzberg und Moabit. Abbildung 9: Steglitzer Sprengel; Bevölkerung und Transferleistungsbezug, in %
Quelle: Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2009, eigene Berechnungen
Segregation in den Grundschulen des Sprengels Insgesamt besuchten 1132 Schüler/-innen die drei Grundschulen der zusammengefassten Einzugsbereiche, worunter mit 8,13% Kinder mit einem ausländischen Pass zu etwa gleichen Anteilen an den Schulen lernten, der Anteil an Schüler/innen nicht-deutscher Herkunftssprache dagegen zwischen 23,29% und 47,58% variierte (vgl. Abb. 10). Abbildung 10: Grundschulen im Steglitzer Sprengel, einzeln; Herkunft, Lmb, in %
Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2009, eigene Berechnungen
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Die Daten des zusammengefassten Schulsprengels zeigen im Vergleich zu Berliner Daten eine geringfügig höhere Anzahl an Kindern nicht-deutscher Herkunftssprache und eine deutlich geringeren Anteil an ausländischen Kindern. An den Grundschulen lernt ein gutes Drittel Kinder mit Migrationshintergrund. Nimmt man Berlin wieder als Referenz, so ist eine leicht erhöhte ethnische Segregation zu messen. Signifikante Unterschiede gibt es jedoch bei der Lernmittelbefreiung, die mit 24,91% (vgl. Abb. 11) deutlich unter dem Berliner Durchschnitt von 34,9% liegt. Abbildung 11: Grundschulen im Steglitzer Sprengel; Herkunft, Lmb, im Durchschnitt, in %
Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2009, eigene Berechnungen
Es kann demnach im Vergleich zu Gesamtberliner Daten nicht von einer höheren sozialen Segregation in den Grundschulen gesprochen werden. Erhöhte Segregation der Grundschulen im Vergleich zum Umfeld Der Vergleich der Werte der drei Steglitzer Schulen mit jenen des Einzugsgebiets ergibt einen geringeren Anteil an ausländischen Schüler/-innen als Bewohner/-innen, einen höheren Anteil an Schüler/-innen nicht-deutscher Herkunftssprache und mit 24,91% Lernmittelbefreiten weniger als doppelt so viele Transferabhängige als im Sprengel wohnende Personen. Somit gilt auch für den Steglitzer Sprengel eine erhöhte ethnische und soziale Segregation im Vergleich zum Einzugsbereich. Im Gegensatz zu den beiden anderen untersuchten Gebieten ist jedoch die soziale Segregation in den Schulen im Vergleich zu den Einzugsgebieten deutlich geringer.
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3.1.5 Zusammenhang zwischen ethnischer und sozialer Segregation an Grundschulen und der Anzahl an Gymnasialempfehlungen Inwiefern sich die Zusammensetzung der Grundschulklassen auf das Leistungsniveau der Schulen niederschlägt, könnte am Beispiel der Grundschullaufbahnempfehlungen überprüft werden. Beim Vergleich der Gymnasialempfehlungen der einzelnen Grundschulen im Moabiter Sprengel mit dem Anteil an Lernmittelbefreiten und Schüler/-innen mit Migrationshintergrund fällt auf, dass eine Schule nahezu doppelt so viele Gymnasialempfehlungen wie der Durchschnitt des Sprengels hat. Eine weitere Schule hat weniger als die Hälfte der durchschnittlichen Gymnasialempfehlungen im Sprengel. Vergleicht man die beiden Pole hinsichtlich der Lernmittelbefreiung und der Anzahl an Schüler/-innen nicht-deutscher Herkunft, hat wiederum die Schule mit dem höchsten Anteil an Schüler/-innen nicht-deutscher Herkunftssprache und Lernmittelbefreiten (Schule M1) die geringste Quote an Gymnasialempfehlungen, dagegen die Schule mit dem zweitgeringsten Wert in der nicht-deutschen Herkunftssprache und dem geringsten bei der Lernmittelbefreiung die höchste Quote an Gymnasialempfehlungen (Schule M4). Dieser Zusammenhang zeigt sich so deutlich nur in Moabit, jedoch nicht in den ausgewählten Schulen Kreuzbergs und in Steglitz. In Steglitz hat die Schule mit dem höchsten Anteil an Lernmittelbefreiten und Schüler/innen mit Migrationshintergrund die höchste Quote an Gymnasialempfehlungen. Dieser Umstand weist auf weiteren Forschungsbedarf hin, der in größerem Umfang den Zusammenhang zwischen Schullaufbahnempfehlungen, der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft und den Einzugsgebieten beleuchtet. Die Frage nach dem statistischen Zusammenhang zwischen Indikatoren sozialräumlicher Benachteiligung, Schulklassenzusammensetzung und Gymnasialempfehlung wurde bereits in einigen Studien mit unterschiedlichen Befunden verfolgt (Bonsen 2010: 8f). Allerdings gelang es bisher nicht, alle für relevant erachteten Daten zur Erstellung eines Schulindexes, welcher über die Identifizierung und besondere Ressourcenausstattung benachteiligter Schulen die Qualitätsentwicklung von Schulen befördern könnte, in die Analyse einzubeziehen (Bonsen 2010: 10). Für Berlin bieten zumindest die amtlich erhobenen Daten bereits eine gute Grundlage für ein Bildungsmonitoring, das die Situation der einzelnen Schulen im Vergleich realistischer einschätzen ließe und der Schulentwicklung dienen könnte.
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3.1.6 Zusammenfassung In der Untersuchung der ethnischen und sozialen Segregation der Grundschulen im Vergleich zu ihren Einzugsgebieten in den drei Quartieren zeigt sich, dass zwar unabhängig von der sozialen Lage des Quartiers eine höhere ethnische und soziale Segregation an den Schulen im Vergleich zu ihren Einzugsgebieten vorliegt, diese jedoch im besser gestellten Steglitzer Quartier deutlich geringer ausfällt als in Kreuzberg und Moabit, den Interventionsgebieten der Sozialen Stadtentwicklung. Gleichzeitig ist die Schülerdichte in Steglitz geringer als in den beiden anderen Quartieren. Eine höhere Dichte an Grundschüler/-innen kann aufgrund der größeren Wahlmöglichkeit an Grundschulen im engeren Raum Segregation aufgrund des Wahlverhaltens der Eltern befördern. Von einer Polarisierung der untersuchten Schulen hinsichtlich der sozialen und ethnischen Zusammensetzung wie auch bei den Gymnasialempfehlungen kann bei den untersuchten Quartieren deutlich in Moabit und ansatzweise in Kreuzberg (Schulen K2 und K4) gesprochen werden. Die ethnische Herkunft der Schüler/-innen, die bisher in Berlin von der Senatsverwaltung nicht erhoben wird, könnte als eine wesentlich größere Einheit als die Ausländer/-innendaten eine differenziertere Datenlage für Interventionen schaffen.
3.2 S OZIALE
UND ETHNISCHE E NTMISCHUNG GEHT VON DER M ITTE DER G ESELLSCHAFT AUS
Wie sich bereits im Kapitel zur Wohnortsegregation abzeichnete, unterliegen Segregationsprozesse einem komplexen sozialen und marktwirtschaftlichen Geschehen. Die seit dem Jahr 2000 in Berlin erfolgende Berichterstattung „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“ verdeutlicht, dass bildungsbewusste Familien vor der Einschulung ihrer Kinder und unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft Quartiere mit einer hohen Konzentration von sozialen Problemen verlassen. Dadurch polarisiert sich die sozialräumliche Struktur der Stadt. Im Berliner Innenstadtbereich gibt es Gebiete mit hoher Kinderzahl und gleichzeitig hoher sozialer Problemdichte gegenüber gut situierten Randlagen, die Kindern gute Entwicklungschancen bieten. Die Bilanz des Vergleichs der Quartiere lautet: „Man muss wohl von einer gespaltenen Kindheit in der Stadt reden: Immer mehr Kinder in Umgebungen mit immer größeren Problemen gegenüber Kindern in Umgebungen mit immer weniger Problemen.“ (Häußermann 2007c: 78).
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Diese Polarisierung wirkt sich auf die Schulen in doppelter Weise aus. Erstens haben Schulen in benachteiligten Quartieren im Durchschnitt geringere Leistungserfolge vorzuweisen als in gut situierten Quartieren. Auf Bezirksebene zeigt sich dies an der Anzahl der erlangten Mittleren Schulabschlüsse (MSA), die in Bezirken mit einem negativen Sozialindex4 geringer sind als in jenen mit einem positiven Sozialindex. Am Beispiel der Bezirke, in denen die drei Untersuchungsgebiete liegen (vgl. Kapitel 3.1) zeigt sich für 2008, dass bei einem berlinweiten Durchschnitt von 81% erreichten Mittleren Schulabschlüssen die Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg mit 72% und Mitte mit 69% deutlich darunter, dagegen Steglitz-Zehlendorf mit 89% deutlich über diesem Durchschnitt liegen. Vorangegangene Untersuchungen zeigten zudem, dass sich ein hoher Anteil an Schüler/-innen mit Migrationshintergrund negativ auf die Quote der bestandenen MSA an den einzelnen Schulen auswirkte (Wendt 2007: 79). Zweitens entsteht eine Polarisierung der Schulen in benachteiligten Quartieren zwischen jenen, die mit einem mittelschichtsorientierten Profil bildungsbewusste Familien zu halten versuchen, und anderen, deren Schüler/-innenschaft aus weniger mobilen und bildungsarmen, zumeist Familien mit Migrationshintergrund besteht. Eine Koexistenz von benachbarten Schulen mit einer unterschiedlichen ethnischen und sozialen Zusammensetzung ist das Produkt elterlichen Schulwahlverhaltens, der Aufnahme-, Versetzungs- und Empfehlungspraxis der Schulen, sowie der angebotenen Profile (Radtke 2007). Das Schulamt, das die Schuleinzugsbereiche immer wieder nach Bedarf neu anpasst, beteiligt sich an diesem Segregationsprozess über den Zuschnitt und die zahlreichen Ausnahmeregelungen, die die Beschulung außerhalb dieser Bereiche gestatten. Neben der Abwanderungswelle in andere Quartiere vor der Einschulung gibt es also bildungsbewusste Eltern, die bleiben und ihre Schulwahl strategisch umsetzen. Festgelegte Schuleinzugsbereiche können mit Scheinadressen in der Nähe der begehrten Grundschule und Profilwünschen (pädagogisches Konzept, Sprachenfolge, Ganztagsschule), sowie der Anmeldung an Schulen in privater oder freier Trägerschaft umgangen werden. Die Konsequenz ist, dass sich die Schüler/-innenschaft in den einzelnen Schulen sozial stärker entmischt. Damit wird deutlich, dass die Entmischung der Schüler/-innenschaft keine Folge einer ethnischen Vergemeinschaftung, sondern der Flucht von Eltern ist, die sich eine
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Geprägt durch Indikatoren wie Arbeitslosigkeit, Berufsbildung, Armuts- und Einkommenslage, die Anteile von Kindern unter 6 Jahren, die einfache Wohnlage, das Wanderungsvolumen sowie Indikatoren des Gesundheitszustandes (Sterblichkeit, Lebenserwartung).
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begehrtere Wohnlage leisten können oder über zeitliche, kulturelle und materielle Ressourcen für den Zugang zur Wunschschule verfügen (Radtke 2007: 207f). Ähnliche Entwicklungen in anderen Bundesländern haben dazu geführt, dass die Abschaffung von Grundschuleinzugsbereichen diskutiert wird. In einigen Bundesländern wie z.B. Nordrhein-Westfalen und Thüringen sind Schuleinzugsbereiche bereits aufgehoben, obwohl vielfach vor den Folgen, nämlich einer weiteren Beschleunigung von schulischen Segregationsprozessen, gewarnt wird (Hebborn 2006, mit Blick auf die europäischen Nachbarländer van Ackeren 2006, vgl. Kapitel 6.2).
3.3 A USWIRKUNGEN SCHULISCHER S EGREGATION DEN S CHULERFOLG
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3.3.1 Indikatoren für Bildungserfolg Als Indikatoren für die schulische Situation von Schüler/-innengruppen werden häufig die Bildungsbeteiligung, schulische Leistungen und der Bildungserfolg betrachtet. Die Bildungsbeteiligung von Schüler/-innen mit Migrationshintergrund wird erstens mit dem schulformbezogenen Anteilswert, d.h. ihrem prozentualen Anteil in einer Schulform, gemessen. Zweitens mit der Bildungsbeteiligungsquote, die innerhalb der Gruppe der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund die Beteiligung an einer Schulform aufzeigt, d.h. wie stark sie im Gymnasium, der Real- oder Hauptschule vertreten ist. Drittens mit dem Maß der Überoder Unterrepräsentation an bestimmten Schulformen (Diefenbach 2007: 14). Die Schulleistungen zeigen sich in Schulnoten oder in Leistungstests (mit den Indikatoren Kompetenz im Lesen, in Mathematik und in den Naturwissenschaften) und haben eine besondere Brisanz bei der Schullaufbahnempfehlung der Grundschulen, obwohl gerade an dieser Schnittstelle andere Kriterien mitwirken, die in Deutschland aufgrund des mehrgliedrigen Schulsystems den weiteren Bildungsweg determinieren. Hierauf wird in dieser Arbeit in Kapitel 3.3 eingegangen. Die Notengebung ist subjektiv durch die einzelnen Lehrer/-innen gefärbt und vom Gesamtniveau einer Schule abhängig, das wiederum beeinflusst wird durch die Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft und die föderalistischen Bildungspolitik, die bisher keine länderübergreifenden zentralen Prüfungen zulässt. Für den Bildungserfolg sind letztlich formale Bildungsabschlüsse am aussagekräftigsten, weil sie langfristig Berufs- und Lebenschancen stark beeinflussen (Diefenbach 2007: 19). Auf die einzelne Schulform bezogen kann als schulischer
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Erfolg der Erwerb des höchsten schulischen Abschlusses an der besuchten Schulart und der erzielte Notendurchschnitt gemessen werden. Blickt man über den schulischen Abschluss hinaus, wäre ein schulischer Erfolg auch die gelungene Abschlussperspektive in Form einer schulischen oder betrieblichen Ausbildungsstelle oder einer Empfehlung für die gymnasiale Oberstufe. Schulischer Misserfolg ist bereits schwieriger zu messen. So gibt es Länderstatistiken zu Schulabgänger/-innen ohne Hauptschulabschluss, die jedoch nur aussagen, wie viel Schüler/-innen eines Abschlussjahrganges den Schulabschluss erreicht haben oder nicht. Dabei werden auch Schüler/-innen gezählt, die anschließend eine weiterführende Schule besuchen. Betrachtet man die Gruppe der ausländischen Schulabgänger/-innen in Deutschland, so zeigt sich, dass im Jahr 2009 13,8% von ihnen die allgemein bildenden Schulen ohne Abschluss gegenüber 5,8% der deutschen verließen. Insgesamt sind 19,7% aller Absolvent/-innen ohne Hauptschulabschluss Ausländer/-innen5. Die Berliner Datenlage der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung ist differenzierter aufgrund der Erhebung der Schüler/-innenschaft nach „nicht-deutscher Herkunftssprache“ (ndH). Dort erhalten im Schuljahr 2008/2009 14,7% aller Abgängerinnen und -abgänger nicht-deutscher Herkunftssprache keinen Schulabschluss, an öffentlichen Hauptschulen liegt die Zahl bei 31,8%. Auf der individuellen schulischen Ebene können bisher keine sicheren Aussagen über Schüler/-innen getroffen werden, die während ihrer Schullaufbahn mehrfach das Klassenziel nicht erreichen oder oftmals aus disziplinarischen Gründen die Schule wechseln müssen. Misserfolg heißt jedoch auch, dass Schüler/-innen, die eine Realschul- oder gar Gymnasialempfehlung hatten, dieses Schulziel nicht erreichen oder entgegen der Empfehlung der Grundschule eine höhere Schullaufbahn eingeschlagen haben und den Anforderungen nicht gewachsen sind bzw. nicht genug Förderung erfahren haben. Sie erklären das Anschwellen der Hauptschulklassen am Ende der 7. Klasse nach dem Probehalbjahr an Realschulen oder Gymnasien. Schließlich zeigt sich Bildungserfolg am Übergang von der allgemeinbildenden Schule in eine Ausbildung oder in eine weiterführende Schule. Spätestens an dieser Nahtstelle tauchen Schwierigkeiten auf, die in den Statistiken der Arbeitsämter und Jobcenter zu Buche schlagen. Dies zeigt sich besonders an der hohen Zahl Jugendlicher mit Migrationshintergrund mit und ohne Hauptschulabschluss, die zu 48% keine Berufsausbildung absolvieren. Sie unterliegen damit der Gefahr, bei schwindenden niedrig qualifizierten Arbeitsplätzen von prekärer Be-
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Eigene Berechnungen auf Basis der Daten des statistischen Bundesamtes, www. destatis.de
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schäftigung und staatlichen Transferleistungen abhängig zu sein. Im Jahr 2008 verließen 15% der Ausländer/-innen und 6,2% der Deutschen nach Daten des Statistischen Bundesamtes (2010) die Schule ohne einen Hauptschulabschluss. Die Zahl der sogenannten Schulabbrecher/-innen kommt hauptsächlich durch die Abgänger/-innen aus Förderschulen zustande, die zu 76% in ihrer Schulart und zu 55% unter allen Abgänger/-innen und Absolvent/-innen keinen qualifizierten Abschluss erreichen (Klemm 2010: 17f). Dabei werden ausländische Schüler/innen doppelt so häufig an Förderschulen beschult wie Deutsche. Hingegen haben deutsche Schüler/-innen mit 30,5% eine knapp dreifache Chance auf die Hochschulreife im Vergleich zu jenen mit einem ausländischen Pass (10,7%). Damit führt der Migrationshintergrund in allen Stufen des Schulsystems zu Benachteiligungen, die nach der allgemeinbildenden Schulzeit umso mehr wirken, je geringer der erworbene Schulabschluss ist (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 11). 3.3.2 Ergebnisse der Schulleistungsstudien PISA und IGLU Bei allen in Deutschland durchgeführten Schulleistungsstudien wurde immer wieder erkannt, dass ein bestimmter Prozentsatz an Schüler/-innen Grundkompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen nicht beherrscht. Bereits die internationale TIMMS-Studie (Third International Mathematics and Science Study) hat in den 90er Jahren aufgezeigt, dass Deutschland im internationalen Vergleich unterdurchschnittliche Leistungen in Mathematik und in den Naturwissenschaften hervorbringt. Besondere Beachtung fand jedoch erst die größte internationale Schulleistungsuntersuchung PISA-2000, an der Deutschland zum ersten Mal teilnahm. Sie verdeutlichte mit dem Testschwerpunkt „Lesekompetenz“, dass die Lesefähigkeit von 15jährigen Schüler/-innen in Deutschland weit auseinander liegt und Bildungserfolg so eng wie in keinem anderen Testland an die soziale Herkunft geknüpft ist. Ähnliche Ergebnisse erbrachte die Grundschulstudie IGLU (international PIRLS, Progress in International Reading Literacy Study), die seit 2001 im Abstand von 5 Jahren die Lesekompetenz von Neunjährigen im internationalen Vergleich erforscht. Die Auswertungen der inzwischen vierten PISA-Studie aus 2009 und der zweiten IGLU-Studie aus dem Jahr 2006 verdeutlichen trotz positiver Trendmeldungen, dass Bildung und Bildungschancen nach wie vor an die soziale Herkunft geknüpft sind und vor allem Kinder mit Migrationshintergrund besonders benachteiligt sind. Obwohl die Ergebnisse der Studien von Wissenschaftler/-innen unterschiedlich bewertet und die Durchführung der Tests kritisiert werden (Jahnke & Meyerhöfer 2006), wurde doch bei beiden Studien allgemein an-
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erkannt, dass die Testergebnisse auf erhebliche Defizite im deutschen Bildungssystem aufmerksam gemacht haben. Mit ihnen wird deutlich, dass es der Institution Schule nicht gelingt, schulischen Erfolg und soziale Herkunft der Schüler/innen im Bildungsprozess zu entkoppeln. 3.3.2.1 Die IGLU-Studie Die IGLU-Studie untersucht seit 2001 international die Lesekompetenz von Grundschulkindern in der 4. Klasse im Abstand von fünf Jahren. Die im Jahr 2007 veröffentlichten Ergebnisse der IGLU-2006-Studie verzeichneten einen signifikanten Zuwachs an Lesekompetenz bei den Viertklässler/-innen in Deutschland im Vergleich zu 2001. Zudem gab es eine vergleichsweise geringere Koppelung zwischen sozialer und ethnischer Herkunft und den Leseleistungen im Vergleich zu den PISA-Ergebnissen in der Sekundarstufe. Ein Anstieg an Kindern von Facharbeiter/-innen im Gymnasium wurde als Abschwächung sozialer Disparitäten gewertet. Nicht berücksichtigt wurden bei dieser Meldung die Grundschulkinder im untersten Leistungsspektrum, deren Eltern oftmals ohne Berufsausbildung und allenfalls prekär beschäftigt sind. Eltern mit diesen Merkmalen sind überproportional bei Kindern mit Migrationshintergrund zu finden. Der Leistungsrückstand von diesen Kindern wird auch bei der letzten IGLUStudie mit ca. einem Jahr – das entspricht 48 Punkten.-, nach der Kontrolle der sozialen Herkunft mit 27 Punkten angegeben (Schwippert u.a. 2007: 264). Das Punktesystem geht von einer optimal zu erreichenden Punktzahl von 700 aus. Ein Viertel der Kinder mit beiden im Ausland geborenen Elternteilen liegt mit seinen Leseleistungen in den untersten Kompetenzstufen I und II, die nur das Erkennen einfacher Texte bis hin zur Fähigkeit, einfache Schlussfolgerungen ziehen zu können, erlauben. Die höchste Kompetenzstufe liegt bei V und wird von 14,16% der Schüler/-innen ohne und von 3,6% mit Migrationshintergrund erlangt. Die im Dezember 2008 veröffentlichten Daten des Bundesländervergleichs bei IGLU zeigen, dass die drei Stadtstaaten die hinteren Plätze in der Lesekompetenz belegen (Bos 2008). Berlin liegt dabei auf Platz 14 und beschult ein Viertel Kinder, die im Test nicht mehr als angegebene Einzelinformationen in Texten identifizieren konnten. In Berlin liegt der Kompetenzunterschied zwischen Kindern aus bildungsnahen und bildungsfernen Elternhäusern bei 70 Punkten und damit signifikant höher als im deutschen Mittel. Der Unterschied von Kindern mit beiden in Deutschland geborenen Elternteilen zu beiden im Ausland geborenen Elternteilen liegt in Berlin bei durchschnittlich 48 Punkten. Daher sieht der Leiter der IGLU-Studie Wilfried Bos Forschungsbedarf in der Frage, ob der hohe Migrationsanteil in der Berliner Schüler/-innenschaft einen
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leistungsmindernden Effekt auf deutschstämmige Schüler/-innen hat und welche Rolle die Schul- und Unterrichtsqualität spielt (Kühne 2008). Selbst das Erreichen der dritten Kompetenzstufe wird in den Schlussfolgerungen der IGLUStudie als nicht ausreichend für den weiteren schulischen Erfolg angesehen: „Zwei Drittel der Kinder mit Migrationshintergrund verfügen am Ende der vierten Jahrgangsstufe nicht über die Kompetenz im Lesen, die es ihnen erlaubt, sicher und selbstständig mit Texten weiterzulernen und sich eigenständig neue Lernbereiche zu erschließen. [...] Darüber hinaus wird aus diesen Befunden deutlich, dass ein umfassender Förderbedarf für diese Kinder auch in der Sekundarstufe besteht, denn sie werden sonst vermutlich überproportional zu denjenigen gehören, die nicht in der Lage sein werden, einen Beruf zu erlernen.“ (Valtin u.a. 2007: 342). Gemessen am Bildungsstand der Eltern zeigt sich hier eine Tradierung der Bildungsarmut, denn nach der IGLU-Studie gehen in Deutschland mit 38,4% fast viermal so viele Zugewanderte manuellen Tätigkeiten nach, wie im Inland geborene (Schwippert u.a. 2007: 256f). Neben dem Rückstand in der Lesekompetenz hat die IGLU-Studie auf einen weiteren Missstand in der Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund aufmerksam gemacht und damit vorhergehende Analysen (Gomolla & Radtke 2007) bestätigt: Die Benachteiligung ausländischer Kinder bei der Übergangsempfehlung unabhängig von ihrer Kompetenz, wobei allerdings die Benachteiligung vor allem auf die soziale Lage der Kinder zurückzuführen ist. Hierauf wird in Kapitel 3.3 eingegangen. 3.3.2.2 Die PISA-Studie Mit dem PISA-Test sollen Kenntnisse und Fähigkeiten von Schüler/-innen gegen Ende der Pflichtschulzeit ermittelt werden. Längerfristig soll überprüft werden, wie sich die Ergebnisse im Zeitverlauf ändern, wobei vor allem Begleitstudien das Zustandekommen der Ergebnisse und Hinweise auf eine Verbesserung im internationalen Vergleich untersuchen. Die Erweiterung durch nationale Komponenten erlaubt einen Ländervergleich, zu dem in Deutschland eine größere Schüler/-innenschaft und neunte Klassen untersucht wurden. Die erste Erhebung fand im Jahr 2000 statt und testete die Lesekompetenz. 2003 wurde die mathematische und 2006 die naturwissenschaftliche Grundbildung getestet. Mit PISA2009 und demselben Testschwerpunkt wie in 2000 konnten die Fortschritte seit der ersten Erhebung gemessen werden. Die Testergebnisse Die alarmierende Aussage der ersten PISA-Studie im Jahre 2000 war, dass in Deutschland schulischer Erfolg an die soziale Herkunft so eng wie in keinem anderen der getesteten Länder geknüpft ist. Jugendliche mit geringer Lesekompetenz, die sich auf den Wissenserwerb in andern Fächern auswirkt, stammen
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vor allem aus unteren sozialen Schichten. Während sich Jugendliche aus Familien, in denen beide Eltern in Deutschland geboren wurden oder aus national gemischten Familien in der Verteilung auf die Kompetenzstufen beim Lesen nicht unterscheiden, überschreiten fast 50% der Jugendlichen aus zugewanderten Familien nicht die Kompetenzstufe 1 mit 407 Punkten, obwohl 70% von ihnen die deutsche Schule vollständig durchlaufen haben. Dies bedeutet, dass die Jugendlichen lediglich über elementare Lesefähigkeiten verfügen und nur Texte verstehen, die ihnen in Form und Inhalt vertraut sind. Am anderen Ende der Skala stehen Jugendliche der Kompetenzstufe V mit über 625 Punkten, die in der Lage sind, unvertraute und komplexe Texte flexibel zu verwenden. Im extremen Fall liegen damit sechs Jahre Unterschied in der Lesekompetenz von Gleichaltrigen im deutschen Schulsystem. Bei diesen Testleistungen gibt es zwischen 2000 und 2006 eine leichte Verbesserung, d.h., die schwachen Leseleistungen an deutschen Schulen sind von 22,6% im Jahr 2000 auf 20,1% gesunken. Damit lagen in den ab 2007 veröffentlichten Ergebnissen immer noch ein Fünftel aller 15jährigen in Deutschland auf oder unter der Niveaustufe I im Lesen (Drechsel & Artelt 2007: 239). Dieses Defizit in der Sprachentwicklung wirkt sich auf alle getesteten Schwerpunkte aus, sodass auch bei den mathematischen und naturwissenschaftlichen Tests die Kompetenzstufe 1 nicht überwunden wird. Eine mangelnde Beherrschung der Unterrichtssprache scheint die Kompetenzentwicklung generell zu behindern (Ramm u.a. 2004: 270) und bereitet spätestens beim Übergang in Ausbildung und Beruf große Schwierigkeiten (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 153f). Bei der zweiten PISA-Testung im Jahr 2003 wurden regionale, demographische, wirtschaftliche, soziale und ethnisch-kulturelle Rahmenbedingungen der Schulen erfasst. 84% der Leistungsunterschiede sind demnach auf die Schulart zurückzuführen, 3% der Leistungsvarianz zwischen den Schulen auf die regionalen Rahmenbedingungen. Als bedeutender Kontexteffekt wurde der Anstieg der Quote von Sozialhilfeempfänger/-innen oder Arbeitslosen um 1% ermittelt, der eine um 6 Punkte niedrigere mittlere Leistung in Schulen des Gebietes zur Folge hat (Baumert, Carstensen & Siegle 2005: 360). Aufgrund der ungenügenden Forschungslage zum Zusammenhang von sozialräumlichen Kontexteffekten und Schulerfolg schlussfolgert das PISA-Konsortium Deutschland (2005), dass den Schulen und dem Unterricht für die Entwicklung der Kompetenzen der Schüler/innen eine zentrale Rolle zugeschrieben werden muss (ebd.: 37). Dabei werden vor allem die Hauptschulen hervorgehoben, in denen seit PISA 2000 keinerlei Veränderung zu beobachten ist. Mehr als ein Fünftel der Schüler/-innen in Deutschland befindet sich in der so genannten Risikogruppe, die mehrheitlich
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die Hauptschule und die Integrierte Gesamtschule besucht und einen hohen Förderbedarf hat (Blum u.a. 2004: 90). Die Zunahme an Leistungspunkten der deutschen Schüler/-innen bei den PISA-Befunden von 2006 mit dem Schwerpunkt Naturwissenschaften zeigt zwar einen Fortschritt im Haupttestungsfach, in den Teilbereichen Lesen und Mathematik sind jedoch keine signifikanten Zuwächse zu entdecken. Bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund der zweiten Generation, also den hier geborenen Kindern von Einwanderer/-innen, ist bei den Naturwissenschaften im Vergleich zu den einheimischen Kindern ein Leistungsrückstand von etwa zwei Jahren – 95 Punkten – zu vermessen. Dieser Sachverhalt ist dramatisch, da diese Kinder in Deutschland geboren sind und damit komplett das deutsche Schulsystem durchlaufen haben. Auswertungen nach der inzwischen vierten PISA-Studie in 2009 mit denselben Testschwerpunkten wie in der Studie 2000 und damit der Möglichkeit des Vergleichs legen mit 26 Punkten einen signifikanten Anstieg in der Lesekompetenz dar, der vermutlich auf die verstärkte Sprachförderung in den 2000er Jahre zurückzuführen ist. PISA-2009 ermöglicht eine differenzierte Betrachtung der Leistungsergebnisse der verschiedenen Migrant/-innengruppen, die den Rückstand der hier geborenen gegenüber den im Ausland geborenen erklärt. In der ersten Generation (im Ausland geborene Eingewanderte) sind Aussiedler/-innen aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion, die höhere Kompetenzniveaus erzielten, stark repräsentiert, wohingegen bei der zweiten Generation (hier Geborene) Jugendliche türkischer Herkunft mit unterdurchschnittlichen Kompetenzen bei der Testung dominierten. Der Rückstand blieb bei Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund im Vergleich zu anderen Herkunftsgruppen über die Generationen hinweg relativ groß (Segeritz, Walter & Stanat 2010, Stanat, Rauch & Segeritz 2010). Als relevante Faktoren für diesen Sachverhalt werden die mangelnde Verwendung der deutschen Sprache in der Familie, die sozioökonomische Lage der Familien und mangelnde Gelegenheiten zum Praktizieren der deutschen Sprache benannt (Stanat, Rauch & Segeritz 2010: 202). Im Vergleich der Herkunftsgruppen innerhalb Deutschlands zeigt sich, dass die sozioökonomische Lage der Jugendlichen türkischer Herkunft deutlich schlechter ist und kein Trend zur Verbesserung zwischen der ersten und zweiten Generation ausgemacht werden kann (ebd.: 225). Des Weiteren werden Stigmatisierungseffekte bei Heranwachsenden türkischer Herkunft vermutet, die ihr Vorankommen erschweren (ebd.: 227). PISA-Forscher/-innen bilanzieren auch für PISA-2009, dass bisher noch nicht bekannte Faktoren außerhalb des Schulsystems, etwa im familiären und Wohnumfeld, die schwache Lesekompetenz von Jugendlichen türkischer Herkunft beeinflussen. Der Forschungsstand in Bezug auf die Effekte
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gezielter Förderprogramme für Schüler/-innen mit Migrationshintergrund und in Bezug auf die soziostrukturellen Bedingungen der Umgebung von Schulen, die die Kompetenzentwicklungen von Schüler/-innen behindern, war bereits im Hinblick auf die PISA-2003- Studie als unbefriedigend benannt worden (Stanat 2006a). Diese soziostrukturellen Bedingungen sind auch Gegenstand der vorliegenden Arbeit. 3.3.2.3 Bilanzen und Herausforderungen Die Schulleistungsstudien haben im Vergleich zu anderen Studien den Vorteil, dass sie eine große Schüler/-innenpopulation getestet und zudem Daten zum sozialen und Migrationshintergrund erhoben haben. Die Bewertung der Kompetenzen in den verschiedenen Disziplinen weist auf eine deutliche Bildungsbenachteiligung der Kinder mit Migrationshintergrund hin, insbesondere aus bildungsfernen Elternhäusern, in denen nicht Deutsch gesprochen wird. Die PISAErweiterungsstudien zeigen im Bundesländervergleich auf, dass die Bildungsbenachteiligung vor allem in den Ländern hoch ist, in denen ein hoher Anteil an Schüler/-innen aus bildungsfernen Familien mit Migrationshintergrund beschult wird. Berlin liegt hier mit dem höchsten Anteil an Schüler/-innen türkischer Herkunft, die überdurchschnittlich aus bildungsfernen Familien kommen, an der Spitze der Bundesländer, gefolgt von den Stadtstaaten Bremen und Hamburg bei der Koppelung von sozialer Herkunft und schulischer Leistung. Den Befunden nach zeigt sich für Deutschland als wichtige bildungspolitische Herausforderung, die Unterschiede in den Kompetenzen zwischen den sozialen Schichten weiterhin abzusenken. Die leistungsschwächeren Schüler/innen müssen gefördert werden, um ein Grundbildungsniveau zu erreichen (Ehmke & Baumert 2007: 333). Die in den letzten Jahren entwickelte und ausgebaute Förderung der „durchgängigen Sprachbildung“ (Lange & Gogolin 2009, Hawighorst 2009) ist ein Ansatz, der bisher noch zu wenig verbreitet ist und erweiternd zu den verstärkten Anstrengungen in der Primarstufe auch in der Sekundarstufe angeboten werden sollte. Ebenso zeigen sich positive Effekte durch ein gut strukturiertes Förderprogramm an Ganztagsschulen (Klieme u.a. 2010a, Stanat, Rauch & Segeritz 2010). Die Abnahme des Zusammenhangs zwischen der Verwendung einer anderen Familiensprache als Deutsch und der Lesekompetenz im Vergleich von PISA-2000 zu PISA-2009 ist vermutlich als Effekt einer gezielteren Sprachförderung zu werten (Klieme u.a. 2010b: 221). Der Effekt des besonderen Leistungsnachteils der Jugendlichen türkischer Herkunft mit einer hohen Verwendung der Muttersprache als Familiensprache könnte demnach durch eine verstärkte Sprachförderung verbessert werden.
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Die Diskrepanz zwischen der Anzahl der getesteten Schüler/-innen mit Migrationshintergrund (19,4%) und den Angaben des Mikrozensus zur tatsächlichen Anzahl der 15jährigen mit Migrationshintergrund (ca. 25%) zeigt, dass die schwächere Schüler/-innengruppe unterrepräsentiert ist. Dies verzerrt das Leistungsbild der getesteten Schüler/-innenschaft hin zu einer verbesserten Darstellung, und es ist zweifelhaft, ob gerade die Schwächeren in 2006 gegenüber den Vorjahren besser geworden sind (Klemm 2008). Offen bleibt bei den Analysen zu den Daten von PISA und IGLU, welche Maßnahmen getroffen werden können, um die Bildungssituation für Kinder mit Migrationshintergrund zu verbessern. Mit unterschiedlicher Akzentuierung wird die problematische Schulstruktur in Deutschland angesprochen, die früh eine Auslese nach Leistung und anderen Kriterien vornimmt und Schulformen wie die Hauptschule entstehen lässt, die ein leistungsminderndes Lernmilieu bieten. Dabei wird nicht etwa die Mittelschichtsorientierung von Bildungsträgern und Lehrer/-innen thematisiert, sondern vor allem die soziale Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft (Hopf 2010: 162). Obwohl in den deutschen Bundesländern seit den PISA-Studien zahlreiche Debatten über eine Schulstrukturreform angestoßen und die Hauptschulen als alleinige Schulform teilweise abgeschafft wurden, ist die Beschäftigung mit dieser Schulform sinnvoll, da sie nach wie vor, wenn auch in verschiedener Ausprägung existiert. 3.3.3 Folgen der Schulstruktur – Problemkind Hauptschule In der Bildungsforschung gibt es eine besondere Konzentration auf die Hauptschule, in der die Folgen der sozialen und ethnischen Segregation besonders deutlich werden. Jede/r vierte Jugendliche mit Migrationshintergrund besucht eine Schule, in der Migrant/-innen die Mehrheit stellen. Sie bilden zudem häufig die Mehrheit an den Hauptschulen, die zu den 16% der Kategorie „Hauptschulen in schwierigem Milieu“ gehören, an denen die Lernentwicklung der Schüler/innen stark beeinträchtigt ist (Baumert, Stanat & Watermann 2006: 160, Stanat 2006b: 190). Kompositionsprofile dieses Hauptschultyps weisen folgende Häufung von Risiko- und Belastungsfaktoren auf: 40% der Eltern verfügen über keine Berufsausbildung, und ein Drittel ist von Arbeitslosigkeit betroffen. Mehr als die Hälfte der Schüler/-innen stammt aus Familien, in denen zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird. Der Anteil an Wiederholer/-innen und Schüler/-innen, die Gewaltbereitschaft zeigen, ist hoch, und letztendlich ist das Leistungsniveau der Schule niedrig. An diesen Schulen kann von einer Koppelung von sozialer und ethnischer Segregation ausgegangen werden.
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Für PISA-Forscher/-innen wird die Hauptschule zum Problem, wenn in einem viergliederigen Schulsystem der Anteil von Hauptschüler/-innen im Verhältnis zur Gesamtschüler/-innenschaft unter 20% fällt. Dies erklärt sich wie folgt: Schulreformmaßnahmen und die Ausdifferenzierung des Schulsystems haben zu einer Entmischung der Hauptschule als Bildungseinrichtung mit einem gering qualifizierenden Abschluss geführt. Ein Effekt der zunehmenden Differenzierung des Schulsystems und der Bildungsexpansion wird darin gesehen, dass die Hauptschule zur ‚Restschule‘ für leistungsschwache Schüler/-innen wird, vor allem in Gebieten, die „soziale und ethnisch-kulturelle Entmischungsprozesse“ (Baumert, Stanat & Watermann 2006: 164) aufweisen und ein kleines Einzugsgebiet haben: „Steigt der Anteil ausländischer Schüler im Einzugsgebiet um 5 Prozentpunkte, erhöht sich das Risiko der Zugehörigkeit zur Problemgruppe um 50 Prozent.“ (Ebd.: 163). Von dieser Entwicklung sind die Realschulen nicht ausgenommen. Neun Prozent von ihnen befinden sich ebenfalls in schwierigem Milieu, in den Stadtstaaten in höherem Maße. Ein größerer Einzugsbereich von Schulen mit einer geringeren schulischen Ausdifferenzierung und einer stärkeren sozialen Mischung wird als stabilisierend für die Hauptschulen gewertet (ebd.). Vor allem die in 3.3 ausführlich beschriebene zunehmende Übergangsproblematik von der Schule in die Berufsausbildung und die hohe Zahl an Schulabbrecher/-innen haben deutschlandweit die Hauptschule als alleinige Schulform in Frage gestellt. Eine eindeutige Abschaffung der Hauptschule fordern führende PISA-Forscher wie Prenzel und Baumert jedoch nicht und setzen auf differenzierte Lösungswege, die z.B. bei der Verbesserung der Unterrichts- und Lernprozesse ansetzen (Schlicht 2006). Solga und Wagner (2007) bilanzieren dagegen in ihrer Studie mit Daten des Max-Planck-Institutes herkunftsspezifische Chancenungleichheiten beim Zugang zu höheren Schultypen, denn die Formen schulischer Separation „führen damit während der Schulzeit zu einer herkunftsabhängigen Kanalisierung, zu einer subkulturellen Abschottung von Schülerkreisen und infolgedessen zu einer herkunftsspezifischen Differenzierung von sozialen Lernumwelten sowie schulischen Leistungsentwicklungsmilieus.“ (Ebd.: 184). Mit der Ausweitung des Bildungssystems laufen die Hauptschüler/-innen Gefahr, dass ihr Verbleib auf dieser Schulform als individuelles Versagen gesehen wird und damit Stigmatisierungseffekte nach sich zieht. Seit der Veröffentlichung der Ergebnisse von PISA-2000 setzte unter Gewerkschafter/-innen, Politiker/-innen und Praktiker/-innen eine breite Debatte ein, die von der Abschaffung des Schultyps Hauptschule zugunsten einer Gemeinschaftsschule nach skandinavischem Vorbild bis hin zur Stärkung der Hauptschule durch mehr Praxisbezug und Anbindung an die freie Wirtschaft
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geht. Dennoch halten bisher die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen an den Hauptschulen fest, während die anderen Bundesländer diesen Schultyp in seiner Reinform nie eingeführt oder abgeschafft haben, bzw. parallel dazu verbundene Formen anbieten. 3.3.4 Auswirkungen der Schul- und Klassenzusammensetzung auf die Schulleistungen Im folgenden Kapitel wird den in den PISA-Studien thematisierten Kompositionsstudien nachgegangen, die ein zentraler Bestandteil der Schuleffektivitätsforschung sind. Sie beschäftigen sich mit der auch in der vorliegenden Arbeit gestellten Frage, inwiefern die Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft in einer Schule die Schulleistungen beeinflusst. Kompositionsmerkmale können zur Privilegierung oder Benachteiligung von Schüler/-innen führen. Obwohl bereits seit mehreren Jahrzehnten über Schulkomposition geforscht wird, gibt es wenig Konsens über die Beschaffenheit und das Ausmaß von Kompositionseffekten (Thrupp, Lauder & Robinson 2002: 483). Die Kompositionsforschung hat in den Einwanderungsländern USA und Kanada eine lange Tradition. Zudem forderte die gerichtliche Festlegung der Überwindung schulischer Rassentrennung in den USA (vgl. Kapitel 7.2) Wissenschaftler/-innen heraus, die unterschiedliche Umsetzung der juristischen Vorgaben zu verfolgen. Bahnbrechend in der Kompositionsforschung war Colemans Studie „Equality of Educational Opportunity“ (Coleman 1966). Coleman untersuchte den Einfluss von Peergruppen auf die Bildungsaspiration, Motivation und Haltung gegenüber Bildung und zeigte auf, dass die schulischen Leistungen von Merkmalen der Mitschüler/-innen an der jeweiligen Schule, insbesondere ihrem sozioökonomischen Status beeinflusst werden. Der Bildungshintergrund und die Bildungsaspiration der Mitschüler/innen beeinflusst die ethnischen Minderheiten (ausgenommen die asiatischen) stärker als die angloamerikanische Mehrheit und führt im Falle von sozial heterogen zusammengesetzten Schulklassen dazu, dass Kinder aus bildungsfernen Familien sich in ihren Leistungen steigern können: „[...] if a minority pupil from a home without much educational strength is put with schoolmates with strong educational backgrounds, his achievement is likely to increase.“ (Coleman 1966: 22). Abhängig von den jeweiligen Hypothesen, welche Kompositionsmerkmale die Leistungen der Schüler/-innen beeinflussen, werden unterschiedliche Merkmale betrachtet, und es kommt dementsprechend zu unterschiedlichen Ergebnissen. Wie Schul- oder Klasseneffekte auf die Leistungen der Schüler/-innen zustande kommen, ist noch nicht hinreichend geklärt. Schümer (2004: 103) unter-
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scheidet – auf der Basis der vorliegenden Untersuchungen – die folgenden Einflussgrößen, die die Leistungen der Schüler/-innen mit der schul- oder klassenspezifischen Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft vermitteln: • • •
Lehrpläne, Unterrichtsinhalte und -prozesse (Dreeben & Barr 1988) Das intellektuelle und soziale Milieu einer Schule und seine normativen Wirkungen (Burns & Mason 2002) Peergruppen-Effekte, Elternerwartung und Elternunterstützung bei der Bewältigung schulischer Anforderungen (Caldas & Bankston, III 1997).
Schofield (2006) fasst Studien aus den USA zusammen, die auf einen Zusammenhang zwischen dem Anteil an Schüler/-innen aus einkommensschwachen Familien und dem durchschnittlichen Leistungserfolg an einer Schule hinweisen. So zeigen Rumberger und Palardy (2005), dass Viertklässler/-innen aus einkommensschwachen Verhältnissen in Schulen mit unter 50% einkommensschwachen Familien deutlich bessere Leistungen zeigen als vergleichbare Schüler/-innen an Schulen mit über 75% Kindern aus armen Familien. Hanushek, Kain und Rivkin (2004) kommen zu dem Schluss, dass ein höherer Anteil von Afroamerikaner/-innen an einer Schule mit einem verringerten Leistungszuwachs der Leistungsstärkeren unter ihnen korreliert. Auf den Zusammenhang von normativer Umgebung und Schulerfolg am Beispiel katholischer Schulen weisen Thrupp, Lauder und Robinson (2002) in Anlehnung an Bryk, Lee und Holland (1993) hin. Die Autor/-innen führen die besseren Leistungen der katholischen Schulen erstens auf die disziplinierte Unterrichtsumgebung an diesen Schulen zurück, zweitens auf die Selbstauslese der Eltern und damit günstigen Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft. Die geordnete Unterrichtsumgebung, das Curriculum und die Verhaltensnormen in den katholischen Schulen waren gekoppelt an das enge Verhältnis zwischen Schule und Elternschaft. Ho Sui-Chu und Willms (1996) fanden in ihrer kanadischen Studie heraus, dass Schüler/-innen in Mathematik und Lesen bessere Ergebnisse erzielten, wenn sie in einer Schule mit hohem durchschnittlichem sozioökonomischem Status waren, unabhängig von ihrem persönlichen familiären Hintergrund. Den höchsten Einfluss auf die Schulleistungen sehen die Autor/innen in der elterlichen Unterstützung bei der Wissensorganisation ihrer Kinder und betonen dementsprechend die Notwendigkeit verstärkter Elternbildung. Europäische Studien Thrupp, Lauder und Robinson (2002) wiesen darauf hin, dass der soziokulturelle Hintergrund der Peergruppen von der soziokulturellen Zusammensetzung der Schule beeinflusst wird und davon ausgegangen werden kann, dass die Zusam-
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mensetzung der Schüler/-innen nicht nur einen Peergruppenprozess in Gang setzt, sondern auch verändernd auf die Schulentwicklung wirkt. In einer Studie in England hat sich gezeigt, dass ein Zusammenhang zwischen Schulkomposition und Schulorganisation besteht, da in Schulen mit Leistungsgruppierung die Leistungsstarken profitieren, schwächere Schüler/-innen in niedriger eingestuften Kursen dagegen schlechter abschneiden, als zu erwarten wäre (Robertson & Symons 1996, zitiert nach Thrupp, Lauder & Robinson 2002). Hamnett, Ramsden und Butler (2007) befanden in ihrer Studie zu Kompositionseffekten in Ost-Londoner Schulen, dass Schüler/-innen, unabhängig von sozialer und ethnischer Herkunft, bessere Leistungen in Schulen erzielen, in denen ein hoher Anteil an Schüler/-innen aus besser gestellten Wohnvierteln kommt. Schulische Leistungen standen damit in Zusammenhang mit der sozialen Mischung der Schüler/-innenschaft an der Schule. Der Effekt gut mit einem qualifizierten Lehrkörper und materiellen Ressourcen ausgestatteter Schulen zeigte sich darin, dass Schüler/-innen besser abschnitten, als ihre sozialen und ethnischen Voraussetzungen erwarten lassen hätten. Umgekehrt erfüllten Schüler/-innen in Schulen mit einem niedrigen Niveau nicht die von ihren Voraussetzungen her zu erwartenden Leistungen. Die Voraussetzungen für ein erfolgsorientiertes Bildungssystem sehen Hamnett und seine Kollegen weniger im Aufspüren einzelner, wenig erfolgreicher Schulen, wie es in England üblich ist, als in der staatlichen Steuerung des Prozesses der Auswahl der Schüler/-innen an den Schulen mit dem Ziel der Herstellung einer sozialen Mischung und des Ressourcenausgleichs zwischen den Schulen. In der Schweiz zeigte sich beim Vergleich von Schulen mit einer ähnlichen sozioökonomischen Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft, dass der Leistungsstand niedriger ist, wenn der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund groß ist. Die PISA-Analysen von Vellacott u.a. (2003) ergaben, dass in Schulen mit mehr als 20% Schüler/-innen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt 13 Punkte weniger im PISA-Test erzielten wurden als in Schulen mit maximal 5% Schüler/-innen mit Migrationshintergrund. Bei einem Anstieg auf über 30 oder 40% fremdsprachiger Schülerinnen und Schüler stieg die Differenz auf 17 bzw. 40 Punkte an (ebd.: 27). In den Niederlanden konnte ebenfalls ein Effekt des Anteils an Migrant/innen auf schulische Leistungen nachgewiesen werden, der selbst nach Kontrolle der sozialen und leistungsmäßigen Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft bedeutsam blieb. Der negative Leistungseffekt wurde in den Fächern Mathematik und Niederländisch für alle gefunden, sobald viele Schüler/-innen in einer Klasse waren, die noch nicht lange in den Niederlanden waren und kaum Niederländisch sprachen (Stanat 2006b: 196).
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Deutsche Studien In Deutschland haben vor allem die PISA-Studien eine große Datenmenge für die Kompositionsforschung zur Verfügung gestellt. Kompositionsmerkmale bei den vertiefenden Analysen zu PISA 2000 sind nach Baumert, Stanat und Watermann (2006: 125): • • • • • •
der mittlere Sozialstatus der Familien (sozioökonomische Ressourcen einer Schule) der Anteil von Vätern ohne Vollzeiterwerbstätigkeit (familiäre Belastung) Eltern mit Hochschulreife bzw. ohne Berufsabschluss (kulturelle Ressource) Eine andere Verkehrssprache als Deutsch (ethnisch-kultureller Indikator) der Anteil an Wiederholer/-innen (lernbiografische Belastung) die kognitiven Grundfähigkeiten und Lesekompetenz (Leistungsmerkmale und Lernvoraussetzungen)
Die Autor/-innengruppe stellt fest, dass je nach besuchter Schulform und Klassenzusammensetzung nach oben genannten Merkmalen unterschiedliche Lernund Entwicklungsmilieus entstehen, die differenzielle Entwicklungschancen vermitteln. „Die nachweisbaren negativen Kompositionseffekte treten additiv zu den Auswirkungen institutioneller Differenzierung hinzu, die ebenfalls substanziell sind. Die Kumulation von Kompositions- und Institutionseffekten führt zu einer schwer zu rechtfertigenden strukturellen Benachteiligung einer quantitativ nicht zu vernachlässigenden Gruppe von Jugendlichen.“ (Ebd.: 171). Die Befunde von Schümer (2004) aus der Analyse von Daten der PISA-EStudie von 2000 ergaben starke Kompositionseffekte nach Kontrolle der kognitiven und sozioökonomischen Voraussetzungen der Schüler/-innenschaft, wenn die Anteile der Schüler/-innen hoch sind, a) deren Väter nicht vollzeitbeschäftigt sind, b) die aus bildungsfernen Familien oder c) aus Familien mit Migrationshintergrund kommen, in denen nicht Deutsch gesprochen wird. Bezogen auf die Leseleistung kommt es an den Hauptschulen mit wachsendem Anteil von Schüler/-innen aus sozioökonomisch unterprivilegierten Verhältnissen zu einem immer steileren nichtlinearen Anstieg der negativen Effekte auf die Leistung. Schümer kommt zum Schluss, dass es unter den Hauptschulen etliche Problemschulen mit einer ungünstigen Population an Schüler/-innen gibt und die Zusammensetzung der Schüler/-innen dazu führt, dass sie in ihren Leistungen hinter dem zurückbleiben, was sie von ihren Voraussetzungen her leisten könnten. Bisher nicht genügend erforscht ist der Effekt der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft auf das Verhalten der Klassenlehrer/-innen, es gibt jedoch Hinweise, dass das Leistungsniveau an Schulen mit überwiegend sozial benachteiligten Schüler/-innen sinkt und es folglich zu einer doppelten Benachteiligung
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der Schüler/-innenschaft kommt. Ein Indiz hierfür ist der geringere Leistungszuwachs der Hauptschüler/-innen gegenüber Schüler/-innen in soziökonomisch privilegierteren Lerngruppen bei gleicher Lernausgangslage. Eine weitere Erklärung für den mangelnden Schulerfolg von Schüler/-innen in ungünstig zusammengesetzten Klassen bzw. Schulen ist die Annahme negativer Stereotype über die eigene soziale Gruppe, die die schulischen Leistungen der Kinder bereits im frühen Grundschulalter negativ beeinflussen können. Um die Ängste zu verarbeiten, werden kognitive Ressourcen eingesetzt und es sinken die Erwartungen an eigene Leistungen (Schofield 2006). In mehreren Studien wird die institutionelle Leistungsdifferenzierung als benachteiligend für die Schüler/-innen mit Migrationshintergrund beschrieben, da sie zur sozialen Segregation der Schüler/-innenschaft führt. Baumert, Stanat und Watermann (2006) bezeichnen sie als die Kehrseite der sozialen Segregation und Hochschild und Scovronick (2003) sprechen von einem Zweiklassen-System, das kulturelle Diversität vermindert. Von Seiten der Eltern leistungsstarker Kinder gibt es Widerstand, die Differenzierung aufzuheben, obwohl einige Forscher/-innen keine nennenswerten Nachteile für diese Schüler/-innengruppe erkennen konnten (vgl. Schofield 2006, Hochschild & Scovronick 2003). Bei Schulen ohne Leistungsdifferenzierung mit einer vorwiegend sozioökonomisch benachteiligten Schüler/-innenschaft sind starke Beeinträchtigungen durch die Kompositionseffekte festzustellen. Stanat (2006b) untersuchte unter Heranziehung einer Stichprobe von Daten der Erweiterungsstudie PISA-2000-E, inwiefern der Anteil von Schüler/-innen mit Migrationshintergrund in einer Klasse die Lesekompetenz beeinflusst. Sie fand, dass ab einem Anteil von 10 bis 20% Schüler/-innen mit Migrationshintergrund eine zunehmende Reduktion der Leseleistung zu beobachten ist. Die Variable „Familiensprache“ war bei den schulischen Leistungen ausschlaggebend. Bei einem Viertel der Stichprobe wurde zu Hause nicht Deutsch gesprochen. Damit „[...] erzielen Jugendliche in Schulen, in denen mindestens 40% der Schülerinnen und Schüler zu Hause nicht Deutsch sprechen, fast 25 Punkte weniger im PISA-Lesetest als vergleichbare Jugendliche in Schulen mit einem Migrantenanteil von weniger als 5%. Diese Differenz entspricht einem Leistungsrückstand von etwa einem Jahr.“ (Stanat 2006b: 206). Obwohl frühere Studien eine Reduktion der Effekte des Migrationshintergrundes bei Kontrolle der sozialen Zusammensetzung der Schüler/innenschaft ergaben, kann mit den PISA-E-Daten nachgewiesen werden, dass der Leistungsnachteil unter zitierten Bedingungen bedeutsam bleibt. In Stanats Analyse spricht das Befundmuster eher dagegen, dass die Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft in erheblichem Maße die Leistungsbereitschaft und die Leistungserwartungen der Schüler/-innen beeinflusst (ebd.: 211). Mit den Be-
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funden von Baumert, Carstensen und Siegle (2005: 360) zur Koppelung der Quote der Sozialhilfeempfänger/-innen im Umfeld von Schulen und den mittleren Leistungen in Schulen, verweist sie auf die mögliche Bedeutung von Kontextbedingungen aus dem Wohnumfeld: „Möglicherweise handelt es sich bei den [...] Einflüssen der Zusammensetzung der Schülerschaft also weniger um Effekte der Schule, als um Effekte von Einzugsgebieten.“ (Stanat 2006b: 213). Für Ditton und Krüsken (2007) erklären sich Kompositionseffekte in Schulen durch soziale Interaktionen und Merkmale der Lehr- und Lernprozesse: „Je nach (sozialer) Zusammensetzung einer Schule oder Schulklasse entstehen somit unterschiedliche Interaktionsmuster und Wahrscheinlichkeiten für Interaktionen.“ (Ebd.: 25). Die Wirkung auf die Organisation von Schulen und die Lehrund Lernprozesse ist entscheidend, weil davon auszugehen ist, dass sich die Schulen an den Möglichkeiten der Schüler/-innen ausrichten und dadurch entweder ein abgesenktes oder gehobenes Leistungsniveau entsteht. In der Schulqualitäts- und Bildungsforschung wurde der regionale Kontext bisher kaum berücksichtigt. Da die Grundschulen feste Einzugsbereiche haben, spiegeln sie die sozialräumliche Segregation wider. Die Konzentration der Bildungsforschung auf die didaktische Einheiten und damit Reduktion der Handlungsebene auf die schulische finden die Autoren zu kurz gegriffen. „Ob für die Arbeit an einer Grund- oder Hauptschule in Kreuzberg aus den Ergebnissen einer mikrodidaktischen Feinstanalyse sehr viel an wirklich nützlichen Erkenntnissen zu gewinnen ist, darf bezweifelt werden. [...] Die Schulentwicklung steht damit vor erheblichen Herausforderungen, denen nur im Zusammenspiel mit Sozial- und Stadt- bzw. regionaler Entwicklungspolitik zu begegnen ist.“ (Ebd.: 37). Die beiden Autoren greifen damit die in verschiedenen Studien erwähnten Desiderate zu den außerschulischen Kontexteffekten auf und weisen explizit auf die Notwendigkeit eines weiteren Handlungsrahmens als des schulischen hin. Zusammenfassung Kompositionseffekte zeigen sich auf der schulischen Ebene, die durch das Schulmanagement, Unterrichtsprozesse, die Qualifikation des schulischen Personals, Peergruppenprozesse, Ressourcenausstattung und elterliches Engagement beeinflusst wird. Die Kompositionsstudien haben gezeigt, dass es Auswirkungen der unterschiedlichen Schüler/-innenschaft auf die Schulleistungen gibt. Wenn auch die Transmission der Schulkomposition auf den Schulerfolg noch nicht hinreichend erklärt ist, konnten die referierten Studien einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Migrationshintergrund und Schulerfolg aufzeigen. Ein höherer Anteil an Schüler/-innen mit Migrationshintergrund hat selbst bei vergleichbarem sozioökonomischem Hintergrund verschiedener Klassen und Schulen eine negative Auswirkung auf die Leistungsergebnisse aller Schüler/-innen. Ebenso
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hat sich ein überwiegender Anteil an Schüler/-innen aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen in einer Klasse bzw. in einer Schule in den meisten Studien als leistungsbenachteiligend für alle, d.h. auch für die Leistungsstärkeren unter ihnen gezeigt. Allerdings hängt schulischer Erfolg mehr von der sozialen Herkunft der Mitschüler/-innen ab, die in der Studie von Hamnett, Ramsden und Butler (2007) anhand des Wohnortes ermittelt wurde, als von der individuellen Herkunft. Der Wohnort ist vermutlich in Ländern mit einer starken sozialräumlichen Segregation und festgelegten Schuleinzugsbereichen ein härterer Indikator als in Ländern mit sozial gemischten Wohngebieten und freier Schulwahl. Auf Deutschland sind die Kompositionsstudien aus dem Ausland nicht eins zu eins zu übertragen, da es mit seinem gegliederten Schulsystem im internationalen Vergleich eine besondere Rolle einnimmt. Wenn man ähnliche Effekte, wie in den internationalen Studien nachgewiesen, annimmt, dann hinge schulischer Erfolg stärker von der sozialen Herkunft der Mitschüler/-innen ab, als von der eigenen. Die frühe Aufteilung der Schüler/-innen nach Leistung auf verschiedene Schulformen führt zu der Entstehung spezifischer Lernmilieus, die bildungsfördernd oder -benachteiligend wirken können. Der international belegte Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft der Mitschüler/-innen und Schulerfolg könnte auch für Deutschland eine Erklärung für die unterschiedlichen Leistungsergebnisse der Schulklassen sein. Vergleichbar sind die Auswirkungen einer mangelnden sozialen und ethnischen Mischung durch die Konzentration von Schüler/-innen aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen und mit Migrationshintergrund in Klassen, die unabhängig vom Schulsystem für die Schüler/-innenschaft leistungshemmend und bildungsbenachteiligend sind. In diesem Fall entstehen auch für Leistungsstärkere Nachteile. Mehrere Studien weisen auf Forschungsbedarf zu der Bedeutung sozialräumlicher Kontexteffekte aus dem Umfeld der Schulen hin. Dies betrifft vor allem Schulen mit festgelegten oder de facto Einzugsbereichen, was auf Grund- und oftmals Hauptschulen zutrifft. 3.3.5 Diskriminierende Praktiken der Laufbahnempfehlung – Gymnasialpräferenz von Lehrer/-innen und Eltern Die Aufteilung der Schüler/-innen nach der Grundschule auf die einzelnen Schultypen zeigt eine hohe Diskrepanz zwischen deutschen und ausländischen Schüler/-innen auf. So gehen 40,5% der Ausländer/-innen auf die Hauptschule, in noch höherem Maße Schüler/-innen mit türkischem und italienischem Pass (vgl. Deutsche: 20%). Auf das Gymnasium gelangen mehr als doppelt so viele Deutsche wie Ausländer/-innen (Bundesregierung 2007).
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Daher beschäftigt sich das folgende Kapitel mit der Frage, welche Strukturen dazu führen, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund an bestimmten Schulen und Schultypen überdurchschnittlich konzentriert sind. Bereits im Kapitel 3.2. der vorliegenden Arbeit wurde auf den Einfluss der bildungsbewussten Mittelschicht auf diesen Segregationsprozess eingegangen. Zudem haben die Schulleistungs- und Kompositionsstudien die Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund unter dem Aspekt der differenziellen Schulmilieus diskutiert. Zu kurz kommt dabei der Aspekt, nach welchen Kriterien die Kinder auf die einzelnen Schulformen gelangen und ob dies ausschließlich nach Leistungskriterien erfolgt. Die IGLU-Studie hatte bereits auf eine herkunftsabhängige Sortierung der Kinder auf niedrigqualifizierende Schulformen wie die Hauptschule hingewiesen. Neben der Benachteiligung beim Wissenserwerb der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund erforschten Gomolla und Radtke (2007) diskriminierende Praktiken bei den von den Grundschulen angefertigten Schullaufbahnempfehlungen für die weiterführenden Schulen. Die Studie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Ungleichheits- und Grundschulforschung. Die beiden Autor/-innen verdeutlichen, dass die institutionelle Diskriminierung mit zahlreichen Akteur/-innen, die unreflektiert an diesem Diskriminierungsprozess beteiligt sind, zu einer Bildungsbenachteiligung der Kinder mit Migrationshintergrund führt. Sie betrachten in ihrer Bielefelder Studie die Ebene der Schulentscheidung sowohl der Stadt als auch der einzelnen Schulen und legen ihren Schwerpunkt auf die Untersuchung institutioneller Diskriminierungsprozesse. Das Handeln in Organisationen von der Wahrnehmung eines Problems bis zur Begründung seiner Lösung und die Einbettung diskriminierender Praktiken in die organisatorischen und institutionellen Handlungskontexte sind Gegenstand des Erkenntnisinteresses der qualitativen Studie. Die für die vorliegende Arbeit zu betrachtende Bildungsbenachteiligung bei der Übergangsempfehlung zeigt eine Auseinandersetzung und einen Aushandlungsprozess zwischen Lehrer/-innen und Eltern um die Wahl der weiterführenden Schule während der gesamten Grundschulzeit auf. Die Grundschulen stehen vor dem Dilemma, einerseits einem integrativen Bildungsauftrag, andererseits einem Selektionsauftrag für das nachfolgende hierarchisch gegliederte Schulsystem nachzukommen. Handlungsleitend sind die quantitativen und qualitativen Strukturen des Sekundarschulangebotes und seiner geographischen Verteilung über das Stadtgebiet, wie auch die verschiedenen Schulprofile. Die formelle und informelle Vernetzung, Kommunikation und Kooperation zwischen Schulen sowie Schulverwaltung und Schulaufsicht sind weitere Determinanten der Schulwahlentscheidung, die nichts mit der tatsächlichen Eignung eines Kindes für die höhere Schullaufbahn zu tun haben. So zeigt die Pra-
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xis der Übergangsempfehlungen von der Grundschule für die Oberschule zahlreiche indirekte und direkte Diskriminierungshandlungen auf. Beim Übergang in die Sekundarstufe I gibt es eine Reihe von Argumentationen, die den institutionellen Ablauf nicht stören sollen. Aus den von Gomolla und Radtke geführten Interviews mit schulischem Personal geht hervor, dass Sprachprobleme, mögliche Misserfolgserlebnisse und unsichere Prognosen über die Bewältigung von Anforderungen in den höheren Schulen wegen mangelnder häuslicher Unterstützung bei Kindern mit Migrationshintergrund häufig argumentativ benannt werden. Trotz guter Leistungen in der Grundschule wird bei Kindern mit Migrationshintergrund das Scheitern wegen Schwächen im Deutschen vielfach antizipiert, da Deutschdefizite als Ausschlusskriterium für das Gymnasium gelten. Dies kann zu Übergangsempfehlungen führen, die niedriger als den Noten entsprechend angesetzt sind. Der Bildungswunsch der Eltern wird als unrealistisch gesehen und anschließend das Scheitern von zum Beispiel türkischen Kindern auf dem Gymnasium als Gesetzmäßigkeit dargestellt. Gomollas und Radtkes Kritik gilt hier weniger der individuellen Einschätzung der Lehrperson als der unreflektierten Einbettung der Argumentation in das Organisationshandeln: „Es sind nicht die (richtigen oder falschen) Gewohnheiten des Personals, auch nicht die Merkmale der Klienten (Schüler und Eltern), welche die Operationen der Organisation strukturieren, sondern die in der Mitgliedschaftsrolle institutionalisierten Erwartungen an das Personal wie an die Klienten steuern den Prozeß des Organisierens.“ (Gomolla & Radtke 2007: 274). Die Schule beteiligt sich an der Konstruktion ethnischer Differenz, die für mangelnden Schulerfolg von Kindern mit Migrationshintergrund verantwortlich gemacht wird. „Organisationen, nicht nur die Schulen, produzieren durch ihre Distributions- und Selektionsleistungen die bestehende Sozialordnung und die zugehörige Unterordnung/Diskriminierung permanent selbst, um sie anschließend als objektive, äußerliche, quasi naturgegebene ethnische Ordnung zu erfahren, zu deuten und darzustellen.“ (Ebd.: 277). Die Schlussfolgerungen der Autor/-innen sind allerdings dahingehend, dass die Schulen die Angleichung der Bildungsbeteiligung bei genügend Anstrengung schaffen könnten. Es fehlt die Auseinandersetzung mit den Kompositionseffekten in Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund aus benachteiligten sozioökonomischen Verhältnissen. Zwar wird darauf verwiesen, dass ein kommunales Monitoring Schul- und Sozialdaten bewerten muss und Fehlentwicklungen verhindern soll, allerdings entsteht der Eindruck, dass die Schule Benachteiligungen ausgleichen könnte, wenn sie nur selbstreflexiv genug wäre.
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Ditton (2007) sieht vielfältige Ursachen für ungleiche Bildungschancen und Bildungserfolg. Bedeutend ist das Zusammenwirken von individuellen, familialen, schulischen und Kontextbedingungen. Notwendig ist die Unterscheidung zwischen den schulischen Leistungen und der Kosten-Nutzen-Kalkulation (rational-choice) durch Eltern und Lehrkräfte, die einen Einfluss auf Bildungsentscheidungen haben. Höheren sozialen Schichten stehen mehr Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, sodass sie riskantere Bildungsentscheidungen für ihre Kinder treffen können. Diese Tatsache beziehen nach bisherigen Untersuchungen die Lehrkräfte in ihre Empfehlungen mit ein. Ursache scheinen „implizite Persönlichkeits- und Begabungstheorien zu sein, teils in Form stereotyper Erwartungshaltungen, die sich auf die Diagnosekompetenz auswirken und sich in der Notengebung niederschlagen.“ (Ditton 2007: 265). Die Kriterien für die Vergabe der Schullaufbahnempfehlungen sind unklar. Nach den Vorgaben der Kultusministerkonferenz soll nicht allein die Leistung ausschlaggebend sein, weitere Kriterien sind jedoch nicht transparent und schwanken von Lehrer/-in zu Lehrer/-in. In einer von Ditton zitierten Befragung zu den Einflussfaktoren schulischer Leistungsbewertung gaben die Lehrer/-innen an, weniger kognitive Leistungen und eher individuelle Leistungsfortschritte, gute Umgangsformen und positives Sozialverhalten zu bewerten. Auf den Umstand dieser als „Mittelschichtsorientierung der Schule“ zu wertenden Beurteilung weist auch Hopf (2010) hin. Die Hamburger Längsschnittuntersuchung LAU-Studie (Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung) ergab bezüglich der Gymnasialempfehlungen, dass Kinder, deren Väter das Abitur haben, zu 70% und Kinder mit Vätern ohne Schulabschluss zu 15,7% eine Gymnasialempfehlung erhalten (Lehmann & Peek 1997: 86ff zitiert nach Ditton 2007: 258). Zwar werden die Grundschulzensuren vorwiegend nach Leistung beurteilt, es wirken sich jedoch fachfremde Einflüsse wie das mittlere Leistungsniveau der Klasse und die sozial bedingte Bevorzugung der bildungsnahen Eltern aus. Diese Ergebnisse bestätigen, dass die Empfehlungen an den Grundschulen von Faktoren des sozialen Kontextes abhängig sind. Die dieser Überzeugung folgende Empfehlung für einen niedriger qualifizierenden Schulzweig bei Kindern mit Migrationshintergrund aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen hat aufgrund der mangelnden Durchlässigkeit des Schulsystems nach oben weit reichende Wirkungen. Ethnische und soziale Ungleichheit wird dadurch verfestigt, dass der Übergang bei gleichen kognitiven Voraussetzungen an verschiedene Schultypen zu einem unterschiedlichen Lernzuwachs führt (Baumert, Stanat & Watermann 2006, Ditton 2007). Ein Schulplatz am Gymnasium sichert einen deutlich größeren Lernfortschritt des Kindes als an der Hauptschule oder der Realschule bei gleichen kognitiven Vorausset-
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zungen. Auch die IGLU-Studie 2006 (Arnold u.a. 2007) zeigte, dass Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern von ihren Lehrer/-innen erst bei deutlich höheren Leistungswerten eine Gymnasialempfehlung erhalten als Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern. Während bei einer Punktzahl von 580 in der Lesekompetenz eine Schullaufbahnpräferenz der Lehrkräfte für das Gymnasium üblich ist, sind deutliche Unterschiede bei der Vergabe dieser Präferenz nach sozialem Hintergrund der Kinder zu verbuchen. Kindern von un- und angelernten Arbeiter/innen wird erst bei 614 Punkten im Gegensatz zur so genannten „oberen Dienstklasse“ bei 537 Punkten eine Gymnasialpräferenz gegeben. Die Eltern der sozioökonomisch höchsten Stufe verlangen diese Empfehlung bereits bei 498 Punkten, notfalls mit Nachdruck. Entsprechende Forderungen werden bei den ungelernten Arbeitern erst ab 606 Punkten sichtbar. Dieser Befund ist 2006 noch deutlicher als 2001 sichtbar. In der „oberen Dienstklasse“ und in der Gruppe der Selbständigen sind sowohl bei den Lehrkräften als auch bei den Eltern die Anforderungen an die Lesekompetenz für eine Gymnasialpräferenz gesunken. Der Migrationshintergrund wirkt sich auf die Bildungsempfehlung für ein Kind insofern aus, als die Gymnasialempfehlung für Einheimische 2, 3 Mal höher ist als für Kinder mit Migrationshintergrund. Allerdings sehen die Autor/-innen die Differenz vorwiegend durch die kognitiven Fähigkeiten und die Lesekompetenz verursacht. Mit Verweis auf die LAU-Studie ist die Benachteiligung der Kinder mit allein erziehenden Müttern bei der Gymnasialpräferenz höher als beim Merkmal „Migrationshintergrund“. Insgesamt scheint der soziale Hintergrund das ausschlaggebende Merkmal für die dreifache Benachteiligung von Schüler/innen aus bildungsfernen Elternhäusern zu sein: „Diese Kinder verfügen über niedrigere schulische Kompetenzen (primäre Herkunftseffekte), erhalten bei gleichen Leistungen schlechtere Beurteilungen (Noten und Schullaufbahnpräferenzen) von ihren Lehrern und werden bei gleichen Leistungen und gleichen Beurteilungen von ihren Eltern eher auf eine niedrigere Schulform geschickt.“ (Arnold u.a. 2007). Während Gomolla und Radtke den Schwerpunkt ihrer Untersuchung auf die institutionelle Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund legen und dabei die Schichtfrage eher im Zusammenhang mit der Diskrepanz zwischen Mittelschichts-Herkunft der Lehrer/-innen und Eltern aus benachteiligten Verhältnissen thematisieren, liegt bei der IGLU-Studie als Schulleistungsstudie das Interesse mehr bei der Suche nach Zusammenhängen zwischen Schulerfolg (hier Leseleistung) und verschiedenen Variablen und der Frage nach den Schalthebeln zur Veränderung der Bildungsbenachteiligung vor allem im innerschulischen Bereich. Die eindeutige Benachteiligung von Kindern aus sozioökonomisch benachteiligte Verhältnissen und bildungsfernen Elternhäusern trifft nicht auf die
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12% Kinder mit Migrationshintergrund zu, deren Eltern Akademiker/-innen sind, sondern vor allem auf diejenigen, deren Eltern manuellen Tätigkeiten nachgehen (38,4%) und zumeist maximal über einen Haupt- oder Realschluss als höchste Qualifikation verfügen. Die IGLU-Studie weist darauf hin, dass nicht von einer monokausalen Beziehung zwischen Migrationsstatus und Leseverständnis ausgegangen werden. Es ist ein vielschichtiger Zusammenhang zwischen Migrationsgeschichte, den Sprachkenntnissen und Bildungsabschlüssen der Familien. Dementsprechend ist eine differenzierte Betrachtung der Schüler/innen notwendig, um eine gezielte Förderung zu planen. Die Schnittmenge beider Studien ist, dass einer Gruppe von Schüler/-innen der Zugang zu einer höheren Bildung über die Schullaufbahnempfehlung erschwert oder gar verwehrt wird. Kristen (2006) fasst zusammen, dass nach Betrachtung der Mikrozensusdaten bei der Bildungsbeteiligung und der Schulempfehlung nicht pauschal von ethnischer Diskriminierung gesprochen werden kann. Insbesondere sind die einzelnen ethnischen Gruppen getrennt zu betrachten. Bei der Kontrastierung des Gymnasialbesuchs mit dem Realschul- und Hauptschulbesuch ergeben sich für italienische und türkische Kinder die größten Nachteile, während sie für jugoslawische Kinder nur geringfügig sind und für griechische Kinder gar ein deutlicher Vorteil gegenüber deutschen Schüler/-innen sichtbar wird (ebd.: 39). Nach den Analysen zu PISA 2000 zeigt sich auch nach Kontrolle wichtiger Merkmale, dass türkische Jugendliche noch immer um 21 Punkte schlechter abschneiden als gleichaltrige Deutsche. Für die Schüler/-innen kann demzufolge nicht ausgeschlossen werden, dass Diskriminierungen für die verbleibenden Nachteile bei den Leseleistungen verantwortlich sind. Eine abschließende Einschätzung zur ethnischen Diskriminierung im Bildungssystem kann Kristen zufolge aufgrund von Forschungslücken bisher nicht abgegeben werden. Gesichert ist bisher die Tatsache, dass ethnische Ungleichheiten im Bildungssystem in erster Linie auf die sozioökonomische Lage der Familien zurückzuführen sind. Mangelnde Sprachkenntnisse führen vor allem bei türkischem und italienischem Migrationshintergrund eindeutig zu Nachteilen vor allem in der Deutschnote. Kristen benennt daher Forschungsbedarf zur Klärung einer eventuellen ethnischen Diskriminierung über Längsschnittstudien, die bei der Frühpädagogik beginnen und vielfache Einflüsse beobachten, z.B. auch das Lehrer/-innenverhalten im Umgang mit Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Festzuhalten bei der Schullaufbahnpräferenz ist jedenfalls, dass für Lehrer/innen statistisch signifikant die sozioökonomische Herkunft der Schüler/-innen handlungsleitend ist und es eine noch nicht genügend erforschte Überlagerung
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von Migrationshintergrund und sozioökonomischer Herkunft bei der Bildungsbenachteiligung durch die Schullaufbahnpräferenz gibt. 3.3.6 Probleme des Übergangs von der Allgemeinbildenden Schule in das Ausbildungssystem In diesem Kapitel wird nach den Folgen der sozialen und ethnischen Segregation in den Schulen und Einzugsbereichen auf die Anschlussperspektiven nach der allgemeinbildenden Schule gefragt. Nach der BIBB-Studie (Bundesinstitut für Berufsbildung) sind Jugendliche mit Migrationshintergrund von den größten Schwierigkeiten betroffen, im Anschluss an die allgemeinbildende Schule in das Ausbildungssystem zu gelangen (Beicht, Friedrich & Ulrich 2007). Die Hälfte von ihnen bekam erst nach 17 Monaten – ohne Migrationshintergrund nach drei Monaten – einen Ausbildungsplatz. Nach zweieinhalb Jahren lag bei ihnen die Übergangsquote bei 60%, hingegen bei den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund – trotz gleicher Bildungsabschlüsse – bei 77%. Ausländische Jugendliche6 gelangen zu 28% in die duale Ausbildung, zu 11,5% in das Berufsschulsystem und mit gut 60% ins Übergangssystem (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 318). Im voll qualifizierenden Berufsbildungssystem sind sie damit deutlich unter-, im Übergangssystem stark überrepräsentiert. Mit regionalen Unterschieden sind die größten Einmündungsprobleme in großstädtischen Ballungsgebieten zu finden. Dabei weisen verschiedene Studien und Berichte darauf hin, dass nicht nur eine geringere Qualifikation der Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine Rolle bei der Übergangsproblematik spielt (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2008, Bundesministerium für Bildung und Forschung 2008). Die Befragung von 4000 bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Ausbildungssuchenden ergab vielmehr, dass bei steigender Qualifikation die Schere bei der Einmündung in ein Ausbildungsverhältnis zwischen Einheimischen und Jugendlichen mit Migrationshintergrund immer weiter aufgeht. Am Beispiel der gleich guten Mathematiknote bei Bewerber/innen fanden die Einheimischen zu 47% und diejenigen mit Migrationshintergrund nur zu 35% einen betrieblichen Ausbildungsplatz. Der Migrationshintergrund scheint sich damit unabhängig von der Leistung negativ auf die Quote bei der Einmündung in die Berufsausbildung auszuwirken. Als Ursachen werden im Berufsbildungsbericht der Mangel an Ausbildungsplätzen und mutmaßliche
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Nach der Zählweise der statistischen Ämter des Bundes und der Länder (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008:318).
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Vorbehalte bei den Arbeitgeber/-innen genannt. Dagegen zeigen die jährlichen Online-Unternehmensbefragungen des Deutschen Industrie-und Handelskammertages, dass sich der Bedarf der Wirtschaft bereits jetzt nur lückenhaft abdecken lässt, was allerdings mit der mangelnden Ausbildungsreife und Schulqualifikation begründet wird. Damit machen sich zurückgehende Schüler/-innenzahlen, resultierend aus der demografischen Entwicklung, bereits heute auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar. Die Dauerklage der Unternehmen bezieht sich auf mangelnde Grundkenntnisse der Hauptschüler/-innen im Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Konsequenzen für die Schüler/-innen sind lange Schleifen der Ausbildungsbefähigung in Form von Berufsvorbereitungskursen, an die bestenfalls eine überbetriebliche Ausbildung anschließt, die wiederum in noch selteneren Fällen zu einem betrieblichen Beschäftigungsverhältnis führt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008). An der Reihe nicht versorgter Altbewerber/-innen zeigt sich jedoch, dass die Wirtschaft keine Abstriche bei der Ausbildungsreife und Qualifikation macht und eher auf Schüler/-innen mit Fach- oder Hochschulabschluss zurückgreift (Beicht, Friedrich & Ulrich 2007: 8). Zweieinhalb Jahre nach Schulende sind immer noch zwei Fünftel der Jugendlichen mit und ohne Hauptschulabschluss ohne qualifizierende Ausbildung. 6,4% halten sich immer noch im Übergangssystem auf, und ein Viertel ist in unqualifizierter Arbeit, arbeits- oder erwerbslos. Bei den sogenannten Risikogruppen mit geringem Berufseinmündungserfolg handelt es sich um Jugendliche, die in der Türkei geboren sind, und solche, die im März des letzten Pflichtschuljahres noch keinen Berufswunsch hatten. Von ihnen gelangten nur 7% nach der Pflichtschulzeit in eine Ausbildung (Reißig & Gaupp 2007). An dieser Situation hat sich nach dem aktuellen Berufsbildungsbericht (BMBF 2010) wenig geändert. Nach wie vor gibt es viele unversorgte Jugendliche und junge Heranwachsende bei gleichzeitigem Engpass durch den demografischen Wandel. In der ‚Warteschlange‘ auf einen Ausbildungsplatz stehen knapp 10 000 Neubewerber/-innen und über 73 000 Jugendliche die bereits im Jahr 2009 keine Ausbildungsstelle gefunden und eine Alternative begonnen haben. Über weitere 96.189 ehemalige Bewerber/-innen aus der Statistik der Bundesagentur für Arbeit, die keine Vermittlung mehr nachfragten, liegen Hinweise auf einen hohen Anteil an Arbeitslosen vor. Im Übergangssystem befinden sich nicht nur ausbildungsunreife Jugendliche, sondern auch marktbenachteiligte, d.h. Jugendliche die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Insgesamt gestalten sich die Übergangsprozesse in die Ausbildung für Jugendliche mit Migrationshintergrund am langwierigsten. Sie bleiben überdurchschnittlich häufig ohne Berufsabschluss (2007: 39,4% gegenüber 11,8% der Einheimischen).
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Damit sind Jugendliche mit Migrationshintergrund am wenigsten beruflich integriert und befinden sich am längsten im beruflichen Übergangssystem zwischen allgemeinbildender Schule und voll qualifizierender Berufsausbildung. Knapp die Hälfte der Jugendlichen mit Migrationshintergrund findet nicht den Weg in eine Berufsausbildung und hat angesichts des Abbaus von Arbeitsplätzen mit vorwiegend ‚einfachen’ Tätigkeiten keine Chance auf eine gesicherte Berufsperspektive. Die scheiternde Einmündung in ein Ausbildungsverhältnis kann damit einerseits die Folge der durch Bildungsbenachteiligungen verursachten Qualifikationsdefizite sein. Andererseits gibt es Hinweise auf Diskriminierung zuungunsten der Träger/-innen ausländischer Namen (Kaas & Manger 2010, Gestring, Janßen & Polat 2006). Angesichts dieser bereits seit Längerem zu beobachtenden Entwicklung ist zu schlussfolgern, dass Risiken einer sozialen Exklusion vorliegen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 213). Zusammenfassung Die Selektivität des Schulsystems setzt sich mit der mangelnden Anschlussperspektive im Ausbildungssystem fort. Die ethnische Segregation, die in der Kindertagesstätte ihren Anfang nimmt, über die Grundschule fortgesetzt wird und in der Aufteilung in der Sekundarstufe I auf verschiedene Schulformen sich zur kumulativen ethnischen und sozialen Segregation vor allem am Schultyp Hauptschule bildet, zeigt ihren Höhepunkt bei der mangelnden Einmündung in die Ausbildung. Im Übergangssystem mit Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und außerbetrieblichen Ausbildungsgängen als Alternative zum ersten Ausbildungsund Arbeitsmarkt sind Jugendliche mit Migrationshintergrund stark überrepräsentiert. Neben der Problematik von Qualifikationsdefiziten gibt es Hinweise auf diskriminierende Praktiken bei der Ausbildungsplatzsuche. Letztlich bleiben diese Jugendlichen in hohem Maße ohne Berufsabschluss. Die Aufgabe von Bildungseinrichtungen, gesellschaftliche Teilhabe und Chancengleichheit zu fördern und Benachteiligungen sozialer, ethnischer und geschlechtlicher Art entgegenzuwirken, kann offensichtlich nicht erfüllt werden. (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 2). Der hohe Prozentsatz in Deutschland von Menschen ohne beruflichen Abschluss ist problematisch, da die Abschlüsse und Zertifikate eng mit Lebens- und Arbeitschancen verbunden sind. So liegt die Quote der Erwerbstätigen bei Fachhochschul- und Hochschulabsolventen bei 84,2% im Gegensatz zu den Menschen ohne beruflichen Bildungsabschluss mit 48,2% (ebd.: 182).
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3.4 D IE SOZIALE UND ETHNISCHE S EGREGATION IN S CHULEN BEEINFLUSST DEN B ILDUNGSERFOLG – Z WISCHENFAZIT Die Beschäftigung mit ethnischer und sozialer Segregation an Schulen und damit zusammenhängende Bildungsbenachteiligungen hat eine Vielfalt an Ergebnissen aufgezeigt. Insgesamt zeigen sich gesicherte Hinweise auf Einflüsse auf Bildung durch die soziale Herkunft (Familie), die Schulform und das Schulmilieu und als größte Forschungslücke die Beteiligung des Quartierskontextes. Vor allem für den Einfluss der Familie und des Wohnquartiers bzw. der Schulumgebung bestehen Unklarheiten über das Zusammenspiel der benachteiligenden Faktoren. In diesem Kapitel konnte für Berlin nachgewiesen werden, dass eine erhöhte soziale und ethnische Segregation an den untersuchten Schulen im Vergleich zu ihren Einzugsgebieten unabhängig von der Lage der Quartiere und Schulen vorliegt. Der Unterschied liegt im Grad der Ausprägung der Segregation, der vor allem im ausgewählten Quartier, im besser gestellten Steglitz-Zehlendorf, niedriger ist. Diese Besserstellung zeigt sich auch an den Gesamtberliner Vergleichsdaten. Deutlich wird ebenso eine Polarisierung der Grundschulen hinsichtlich der ethnischen und sozialen Zusammensetzung wie auch der Gymnasialempfehlungen in den beiden benachteiligten Quartieren. Das Berliner Monitoring Soziale Stadtentwicklung als Grundlage für die Analyse der Einzugsbereiche der Grundschulen hat bereits die Polarisierung von Planungsräumen auf Gesamtberliner Ebene aufgezeigt. Auf der Ebene der Bezirke lässt sich auch für den Mittleren Schulabschluss eine Abhängigkeit vom Sozialindex nachweisen. Die Entmischung der Schulen geht von der bildungsbewussten Mittelschicht aus, die – wie bereits in Kapitel 2 beschrieben – das Wissen und die Mittel hat, Schulen mit einem mittelschichtsorientierten Profil und einer sozioökonomisch besser gestellten Schüler/-innenschaft auszusuchen. Dies ist kein ausschließliches Berliner Phänomen und Studien haben zudem auf die Rolle der Schulämter und Schulen bei diesem Polarisierungsprozess hingewiesen (Gomolla & Radtke 2007, Radtke 2007, Flitner 2007). Bezüglich der Bildungschancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben auch die Auswertungen der bisherigen PISA- und IGLU-Studien, trotz positiver Trendmeldungen bei den zuletzt veröffentlichten Ergebnissen, die Korrelation zwischen Bildungschancen und der sozialen und ethnischen Herkunft aufgezeigt. Die größeren Kompetenzunterschiede bei den Fünfzehnjährigen (PISA) im Vergleich zu den Grundschüler/-innen (IGLU) weisen bereits auf die Folgen einer frühen Aufteilung der Kinder nach vier Jahren Grundschulzeit auf die leistungsdifferenzierten Schulformen hin. Sie verfestigt und vergrößert
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die Leistungsunterschiede in der Schullaufbahn (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008). Zudem ergeben die Befunde zu PISA-2009 erneut, dass bisher noch nicht bekannte Faktoren außerhalb des Schulsystems – vermutet im familiären und Wohnumfeld – die schwache Lesekompetenz von Jugendlichen mit Migrationshintergrund vorwiegend türkischer Herkunft beeinflussen. Tendenziell kann davon ausgegangen werden, dass Schulen in benachteiligten Quartieren benachteiligende Schulmilieus bieten und vor allem die Kinder mit wenig außerschulischer und häuslicher Förderung noch mehr ins Hintertreffen geraten. Die geschilderte Problematik gibt Hinweise darauf, dass schulischer Erfolg bzw. Misserfolg nicht isoliert von weiteren Faktoren betrachtet werden kann. An Schulen, die vorwiegend von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund besucht werden, konzentrieren sich Armut, Bildungsferne und Sprachprobleme. Dies ist kein ausschließliches Hauptschulproblem, wie die Analyse der Grundschuldaten im Kapitel 3.1 aufgezeigt hat. Die Herkunftsabhängigkeit und diskriminierende Praktiken bei der Schullaufbahnempfehlung verschärfen die Bildungsbenachteiligung, da Hauptschulen aufgrund der ethnischen und sozialen Segregation der Schüler/-innenschaft ein lernminderndes Milieu bilden. Insgesamt kann von einer mehrfachen Benachteiligung dieser Kinder und Jugendlichen gesprochen werden, die sich über die Schulzeit hinaus in der mangelnden Einmündung in das Ausbildungssystem fortsetzt. Die vorliegenden Ergebnisse erhärten die These, dass Schulen für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund Orte der sozialen Exklusion und ethnischen Segregation mit weitreichenden Konsequenzen darstellen können. Die Autor/-innen der referierten Studien haben in Bezug auf ihre Befunde auf einzelne Interventionsmöglichkeiten hingewiesen, die an dieser Stelle kurz zusammengefasst und ausführlicher in Kapitel 6. 3 behandelt werden. Die Kritik an der Schulstruktur hat verschiedene Vorstellungen von Lösungswegen hervorgebracht. In vielen Bundesländern besteht eine Tendenz zum zweigliedrigen Schulsystem mit großen Unterschieden in der Binnendifferenzierung (integrierte Schulform oder getrennte Haupt- und Realschulzweige unter einem Dach) und flächendeckendem Anspruch der Entwicklung von Schul- und Unterrichtsqualität. Weitere Bedeutung wird schulischen und außerschulischen Fördermaßnahmen vor allem im Bereich der durchgängigen Sprachbildung, aber auch im Rahmen einer Ganztagsbetreuung beigemessen. Zudem wird die Notwendigkeit von Kooperation mit Eltern und Unternehmer/-innen als Grundlage für die Bildungsförderung und die Einmündung in die Ausbildung gesehen. Auch die Bedeutung des außerunterrichtlichen Bereichs und der außerschulischen Faktoren beim Bildungserfolg, insbesondere dem Quartier, wurden Gegenstand der Bil-
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dungsforschung. Viele dieser Bereiche stecken sowohl vom Forschungsstand wie auch von der praktischen Umsetzung her noch in den Kinderschuhen. Zu kurz kommt bisher eine Auseinandersetzung mit der Veränderung von Klassen- und Schulmilieus durch eine Steuerung der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft. Weiterhin stellt sich die Frage, wie Benachteiligungsprozesse auf einzelnen Ebenen konkret entstehen und welches Ausmaß sie abseits von den errechneten Durchschnittswerten der quantitativen Studien an einzelnen Schulen einnehmen. Diese Forschungslücken weisen auf die Fragestellung der empirischen Studie dieser Arbeit hin, deren methodischer Ansatz im nächsten Kapitel vorgestellt wird.
4 Methodische Überlegungen und Forschungsinstrumente
4.1 P RÄZISIERUNG
DER FORSCHUNGSLEITENDEN
F RAGEN
Die bisherigen Ausführungen zu den bildungsbenachteiligenden Faktoren vor allem durch schulische und sozialräumliche Segregation haben aufgezeigt, dass Bildungsprozesse durch mehrere Faktoren beeinflusst werden. Für den Bereich der Kompetenzmessung der Schüler/-innen liegen umfangreiche Studien vor, ebenso zu der Koppelung von Hintergrundmerkmalen wie soziale Herkunft und Schulerfolg. Einige Bildungsforscher/-innen verweisen auf die negative Wirkung einer hohen sozialen und ethnischen Segregation an Schulen hin, die vor allem an Hauptschulen zu finden ist (Schümer 2004, Solga & Wagner 2007). Diese lange Zeit wenig beachtete Kritik am Schulsystem gewann im Laufe der Beteiligung Deutschlands an den Schulleistungsstudien PISA und IGLU zunehmend an Bedeutung. Aufgrund des föderalistischen Schulsystems in Deutschland und der verschiedenen wissenschaftlichen Fachdisziplinen (Erziehungswissenschaften, Bildungssoziologie, Stadtsoziologie) werden hieraus jedoch unterschiedliche Bewertungen und Schlüsse gezogen, obwohl sich auf internationaler Ebene zeigt, dass die soziale und ethnische Segregation an Schulen leistungsbenachteiligend ist. Weiterhin wird in einigen Studien auf die Notwendigkeit der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Schule und ihrem Umfeld hingewiesen, da die PISA-Studien und andere Studien, die den sozialräumlichen Kontext der Schüler/-innen mit einbeziehen, einen Zusammenhang zwischen Schule und der sozialen Lage der Bewohner/-innen vermuten oder gar nachweisen können. Auf diesen Umstand weist vor allem die Segregationsforschung der Stadtsoziologie wie auch die Jugendkriminologie hin, die einen Zusammenhang zwischen sozialen und ethnischen Segregationsprozessen in den Quartieren und der erhöhten
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Segregation an Schulen mit der negativen Wirkung der Überlagerung von ethnischer und sozialer Segregation auf den Bildungserfolg herstellen. Doch was bedeutet diese Überlagerung im Alltag der Schüler/-innen in Familie, Schule und Quartier und wie wirkt sie sich auf die Bildungschancen aus? Wie nehmen die Schüler/-innen ihre Lebenszusammenhänge wahr und wie sieht die professionelle Sicht auf ihre Bildungsbedingungen aus? Die Forschungsfrage 1 nach den bildungsbenachteiligenden Faktoren konnte weitgehend anhand bestehender Theorie und vorliegender Studien beantwortet werden. Es zeichnet sich ab, dass am Bildungserfolg förderliche und hinderliche Einflüsse aus den Kontexten Familie, Schule und Quartier beteiligt sind. Die Frage danach, wie Kontexteffekte aus Familie, Schule und Quartier den Bildungserfolg der Jugendlichen beeinflussen (Forschungsfrage 2) ist bisher jedoch noch nicht befriedigend erforscht. Zu dieser Lücke will meine Forschung einen Beitrag leisten, denn die Suche nach Handlungsansätzen zur Verringerung der Bildungsbenachteiligung erfordert eine genaue Analyse der vielen Faktoren, die zur Bildungsbenachteiligung führen und das Auffinden der Schaltstellen, an denen Benachteiligung entsteht. Im Rahmen der Fallstudie als empirische Untersuchung lässt sich die Forschungsfrage 2 wie folgt auffächern: a) Welchen Einfluss üben soziale Herkunft und Migrationshintergrund auf den Bildungserfolg aus? •
•
•
Welche Ressourcen bieten die Familien, die zum Bildungserfolg beitragen können und an welchen Ressourcen mangelt es? Welche Belastungen wirken auf die Familien? Warum ist trotz der in den Schulleistungsstudien immer wieder betonten hohen Bildungsaspirationen der Eltern ein geringerer Erfolg als bei autochthonen Schüler/-innen zu messen? Gibt es Normen und Werte, die diesen Aspirationen entgegenwirken?
b) Welche Rolle spielt die schulische Segregation beim Bildungserfolg? Die in den Befunden der Schulleistungsstudien betonte Koppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg wirft die Frage auf, warum Schule ihrem Bildungsauftrag nicht gerecht wird.
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• •
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Welche Konflikte um Normen und Werte bestehen in Schulen, die nur zu einem geringen Umfang die Bildungsstandards des Mittleren Schulabschlusses erfüllen? Gibt es peergruppenunabhängige Kontakte und Werte, die eine stabilisierende Funktion haben? Können in der Fallstudie Zusammenhänge zwischen sozialer und ethnischer Segregation und Schulerfolg hergestellt werden?
c) Welche Einflüsse des Quartiers wirken wie auf den Bildungserfolg? • • • •
•
Ist das Quartier der hauptsächliche Aktionsraum der befragten Jugendlichen? Wie beeinflusst das Quartier die Jugendlichen? Welche Prozesse beeinflussen ihre Netzwerke? Wie nehmen die Jugendlichen das Quartier wahr und wie bewerten sie es? Zeigen sich geschlechtsspezifisch unterschiedliche Bewertungen des Quartiers und Stadtteils und welche Auswirkung hat das Quartier auf Normen und Werte, die den Bildungserfolg beeinflussen können? Gibt es Anzeichen von Stigmatisierungen, die sich auf den Bildungserfolg auswirken?
Die dritte Forschungsfrage nach den bisherigen Konzepten zur Verbesserung der Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist Gegenstand des sechsten Kapitels und fächert sich folgendermaßen auf: •
•
Welche Konzepte zur Verbesserung der Bildungssituation gibt es in der Bildungs- und Stadtpolitik und wo muss man ansetzen, um die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu verbessern? Welche Erfahrung gibt es mit Maßnahmen, die auf einer Verteilung der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund außerhalb von Schuleinzugsbereichen oder Bezirken basieren und wie werden diese bewertet (Desegregationsmaßnahmen)?
Das siebte Kapitel schließlich beantwortet die vierte Forschungsfrage nach Interventionen zur Verbesserung der Bildungssituation, die direkt an den Wirkungen von Kontexteffekten ansetzen: •
Welche realistischen Interventionen lassen sich aus den Ergebnissen ableiten?
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• • •
Internationaler Ausblick: Welche Strategien wenden andere Länder an und wie ist die Übertragbarkeit auf Berliner/deutsche, großstädtische Verhältnisse? Welche Strategien dienen dazu, die Segregationseffekte zu neutralisieren? Handlungsempfehlungen
Das methodische Vorgehen zur Beantwortung der Fragestellung wird im nächsten Kapitel dargelegt.
4.2 M ETHODISCHE H ERANGEHENSWEISE UND D URCHFÜHRUNG DER U NTERSUCHUNG Die Erforschung der Kontexte Familie, Schule und Quartier in ihrer Wirkung auf die Bildungsbenachteiligung (Phänomen) von Schüler/-innen ist komplex und bezieht verschiedene Daten in die Analyse ein. Sie erfordert eine methodische Herangehensweise, die dieser Komplexität gerecht wird. Aus diesem Grunde wurde mit dem Fallstudienstudienansatz wie auch dem Aktionsforschungsansatz nach Altrichter/Posch (2007) als Methoden der qualitativen Sozialforschung gearbeitet. 4.2.1 Methodische Herangehensweise Der Fallstudienansatz als Forschungsstrategie bietet die Möglichkeit, verschiedene sozialwissenschaftliche Erhebungsmethoden einzubeziehen. Dazu gehören nach Yin (2002) unter anderem das Interview mit Expert/-innen, Akteur/-innen und Betroffenen, verschiedene Beobachtungsformen und der Einbezug von Dokumenten. Er ist geeignet, wenn die Grenzen zwischen dem Phänomen und seinem Kontext nicht klar ersichtlich sind wie im Falle der vorliegenden Studie (Lamnek 1989). Bei meiner Untersuchung habe ich zwei Fallstudien zu unterschiedlichen Zwecken erstellt. Die Eberhard-Klein-Schule (EKO) eignet sich als Fallstudie, da sie nach der Klassifikation der PISA-Studien zu den „Hauptschulen in schwierigem Milieu“ gehört, sie zudem ihre Schüler/-innenschaft aus dem schulischen Umfeld rekrutiert, das zwar in den letzten Jahren einen Aufwertungsprozess nach dem Monitoring Soziale Stadtentwicklung durchlaufen hat, jedoch bis 2007 als Quartier mit multiplen Problemlagen und seit 1999 mit besonderem Interventionsbedarf eingestuft wurde. Die Zahl der Aufstocker/-innen unter den Bewohner/-innen lässt darauf schließen, dass der reine Transferleistungsbezug durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse ersetzt wurde. Als Datengrundlagen
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dienten amtliche und schulinterne Statistiken, soziale Monitorings, Dokumente und eigene Erhebungen. Als weitere Fallstudie ist die von mir durchgeführte Forschung in Oullins/Frankreich zu sehen, die im Hinblick auf mögliche Handlungsansätze zur Erhöhung der Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in benachteiligten Quartieren, das heißt als europäischer Ausblick mit der Frage der Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse durchgeführt wurde. Dort lag der Schwerpunkt der Informationsgewinnung auf der Befragung von Expert/-innen. Des Weiteren wurden amtliche Statistiken und Dokumente ausgewertet. Für die Erhebungsphase bot sich der Aktionsforschungsansatz nach Altrichter (2008) an, denn die Bearbeitung komplexer Problemzusammenhänge – wie im Falle meines Forschungsgegenstandes – erfordert eine interdisziplinäre Herangehensweise, um die Vielschichtigkeit des Kontextes umfassend darzustellen (Altrichter 2008: 275). Die Erhebung versucht dementsprechend der Interdisziplinarität der Fragestellungen aus erziehungswissenschaftlicher und soziologischer Perspektive auf die Bildungschancen, die durch Familie, Schule und Quartier beeinflusst werden, gerecht zu werden. Bei der Aktionsforschung werden die Fragestellungen aus der beruflichen Praxis heraus entwickelt wird, weil eigene Erfahrungen als bedeutsam für die Berufstätigkeit und die Entwicklung der Professionalität angesehen werden. Sie verfolgt ein doppeltes Ziel: Angestrebt wird die Erkenntnis als Ergebnis der Reflexion und die gleichzeitige Entwicklung der praktischen Arbeit als Ergebnis der Aktion (ebd.: 279). Aktionsforschung will sowohl die untersuchte Praxis als auch das praktische und wissenschaftliche Wissen über diese Praxis überprüfen und weiterentwickeln. Dies geschieht in einem längeren Zyklus, der Theorie und Praxis ineinander verwebt und an den wissenschaftlichen Diskurs über das Theorie-Praxisverhältnis anknüpft (ebd.: 276). Der Ansatz der Aktionsforschung ist innerhalb meiner Forschung sinnvoll für den Erkenntnisgewinn, da das Ziel meiner Arbeit nicht auf konkrete Handlungsvorschläge für den Unterricht abzielt, sondern in der Untersuchung des Zusammenspiels mehrerer Faktoren beim mangelnden Schulerfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund liegt. Entsprechend des Aktionsansatzes habe ich auf die eigene Praxis zurückblickend versucht, Erklärungen zu finden, Thesen zu formulieren und Fragestellungen zu entwickeln, die im nächsten Schritt theoretisch untermauert wurden. Dabei steht nicht nur eigenes berufliches Erfahrungswissen sondern auch das von Kolleg/-innen aus der Praxis, jede Art der Dokumentation beruflichen Handelns und gesammelter Daten zur Verfügung. Die Schüler/-innen standen bei der Untersuchung im Mittelpunkt, da ihr
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Erleben und ihre Wahrnehmung eine Verknüpfung zur Außenwelt der Schule darstellen. Sie bewegen sich in der Schule, in der Familie und im Quartier und werden in allen drei Bereichen mit bildungsfördernden und -hemmenden Bedingungen konfrontiert. 4.2.2 Erhebungsmethoden und Datenquellen Der Schwerpunkt der empirischen Forschung lag in 2007 bis 2009. Es wurden verschiedene Erhebungsmethoden und Datenquellen miteinander kombiniert, die im Folgenden dargestellt werden. In Anlehnung an die Vorgehensweise der Aktionsforschung wurde das Gerüst für einen halbstrukturierten Leitfaden für das Interview mit Schüler/-innen entwickelt. Über den schulischen Rahmen hinaus das Forschungsfeld zu erweitern begründet sich daraus, dass entgegen aller innerschulischen Anstrengungen inner- und außerschulische Einflüsse wie die soziale und ethnische Segregation einen Einfluss auf den Schulerfolg und die Lebensperspektiven der Jugendlichen haben. Die Ergänzung und teilweise Kontrastierung verschiedener Datenquellen durch eigene Beratungsnotizen und gedächtnisgestützte Beobachtungen und Erfahrungen aus der beruflichen Praxis erfolgen im Sinne einer teilnehmenden Beobachtung in Anlehnung an die Feldforschung und dort erstellte Tagebücher. Teil des Prozesses war die Reflektion meiner eigenen Rolle als Forscherin und im Feld Professionelle (Mayring 2002: 54f). Die Beschreibung der Entwicklung der Schule seit ihrer Umwandlung von einer Hauptschule in ein Schulprojekt als integrative Haupt-und Realschule und der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft erfolgt mit der Auswertung eigener Erhebungen und schulbezogener Daten und Programme wie auch landesweiter Schuldaten. Dabei wird die bereits in Kapitel 3.1 beschriebene erhöhte soziale und ethnische Segregation in den Schulen in drei Schritten konkretisiert. Als erstes wird die Schule und die Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft beschrieben (Leistungsdaten und Lernmittelbefreiung im Verlauf), zweitens ein vierzügiger Jahrgang (25% der Schüler/-innenschaft), stellvertretend für die gesamte Schüler/-innenpopulation mit erweiterten Daten (Familiengröße, Qualifikationen und Beschäftigung der Eltern) und drittens als vertiefende Befragung eine Gruppe von 19 Schüler/-innen. Zu Aussagen über das schulische Umfeld dienen unter anderem Statistiken, Analysen und Berichte verschiedener Ämter und Einrichtungen, sowie das Monitoring Soziale Stadtentwicklung Berlin. Schüler/-inneninterviews Aus einem Abschlussjahrgang mit vier Klassen und insgesamt 82 Schüler/-innen im Alter von 16–18 Jahren wurden zwölf Mädchen und sieben Jungen mithilfe
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eines halbstrukturierten Leitfadens befragt. Bei der Altersklasse konnte aufgrund der Erfahrungen mit Betriebspraktika und der Auseinandersetzung mit beruflicher Orientierung und beruflichen Perspektiven ein höheres Maß an Reflexionsfähigkeit vorausgesetzt werden als zum Beispiel bei Siebtklässlern. Zu dem ausgewählten Jahrgang hatte ich den besten Feldzugang, da ich die meisten von ihnen von der siebten Klasse an als Sozialpädagogin betreut habe. Aufgrund des Fragekomplexes nach dem Einzugsbereich der Schule und Wohnortbewertung habe ich vorwiegend Schüler/-innen aus den die Schule umgebenden Sozialräumen um ein Interview gebeten. Die beiden Sozialräume sind repräsentativ für die Wohnorte der gesamten Schüler/-innenschaft, die dort zu 62,9% im Jahr 2007 wohnten. Die Bereitschaft der gefragten Schüler/-innen zu einem Interview war nicht immer vorhanden. Vor allem schüchterne Mädchen hatten Vorbehalte, sich dieser unbekannten Situation zu stellen. Letztlich waren jedoch 19 Schüler/innen zu einem Interview bereit und wurden mithilfe eines halbstrukturierten Leitfadens befragt. Obwohl er von der Struktur her eher einem Fragebogen ähnelt, bevorzuge ich diesen Begriff, denn es bestand die Möglichkeit, einzelne Fragen zu vertiefen, auszulassen oder weitere Fragen zu stellen. In der Regel wurde jedoch die Reihenfolge der Fragen eingehalten. Die zwischen 40 und 60minütigen Interviews wurden in der Schule in meinem Büro oder nach Möglichkeit in einem abgelegenen und störungsfreien Raum durchgeführt. Die Interviews mit den Schüler/-innen unterstützen die Überprüfung der Relevanz der Annahmen und bieten eine Grundlage für die Diskussion der Faktoren der Bildungsbenachteiligung und möglicher Interventionen. Sie fördern ihre subjektive Wahrnehmung und ihr Erleben von Schule, Familie und Quartier zutage und bieten ein Gegenüber zur Sicht der Forscher/-innen, wobei der Prozess allerdings durch meine vorgegebene Struktur im Leitfaden inhaltlich gesteuert wurde. Der Leitfaden mit mehr als 100 Fragen bestand aus acht Themenbereichen: • • • • • • • •
Wahrnehmung der eigenen Leistungen und Bewertung der Schule Sprachentwicklung Eltern Vorbilder für den beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg Berufseinstieg und soziale Integration Kultur und Religion Bewertung des Wohnortes Freizeitverhalten
Der Vorteil der Anwendung eines halbstrukturierten Leitfadens im Stil eines Fragebogens ist, dass sprachliche Schwierigkeiten und Hemmungen berücksich-
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tigt und im Einzelkontakt und durch Notizen meinerseits wie auch per Audioaufnahme mehr gesicherte Daten gewonnen werden können. Das Einzelgespräch habe ich im Gegensatz zu einem Gruppengespräch gewählt, um negative und repressive Gruppendynamiken bei sensiblen Themen wie etwa der Einstellung zu Religion oder zum Tragen eines Kopftuches auszuschließen. Abwägung zur Nutzung eines standardisierten Fragebogens Der Gestaltung des Leitfadens waren zwei Pretests mit einer Lerngruppe von dreizehn Schüler/-innen und einer einzelnen Schülerin vorausgegangen. Beabsichtigt war zunächst neben den teilstrukturierten Gesprächen auch eine standardisierte Befragung mehrerer Schüler/-innen. In Anlehnung an den internationalen und nationalen Fragebogen der PISA-Studie sollten Fragen zur sozialen und ethnischen Herkunft, häuslichen Unterstützung beim Lernen und der Schullaufbahn ergänzend zu den leitfadengestützten Einzelgesprächen gestellt werden. Die Lerngruppe sollte in Einzelarbeit und mit meiner Unterstützung den fünfseitigen Fragebogen ausfüllen, bei Bedarf nachfragen und anschließend ihre Meinung zu den Fragen äußern. Es zeigte sich, wie schon oft bei anderen schriftlichen Befragungen, dass es große Verständnisschwierigkeiten bei der Erfassung der Fragen gab. Zudem wurden einige Fragen als unangenehm (z.B. die Frage nach dem Beruf und der Tätigkeit der Eltern), zu direkt (häusliche Gewalt) und überflüssig bzw. als Privatsache (z.B. Frage nach dem Moscheenbesuch) empfunden. Für die Durchführung des ersten teilstrukturierten Einzelinterviews im Pretest bat ich eine reflektierte, gesprächige und sozial kompetente Schülerin um ein Gespräch. Auffallend war, dass bei ihr zunächst Hemmungen bestanden, auf meine gestellten Fragen ausführlicher einzugehen. Im Gegensatz zur alltäglichen Beratungspraxis, die stärker der Bearbeitung von Problemen diente, stand die Schülerin mit ihrer subjektiven Wahrnehmung in vielen Bereichen im Mittelpunkt. Offene Erzählimpulse wurden von ihr wenig aufgegriffen, da sie damit überfordert schien. Das anschließende schriftliche Ausfüllen des Fragebogens war mit Nachfragen von Seiten der Schülerin allerdings schneller zu bewältigen und ich entschied, dass ein Interview mit einem halbstrukturierten, an einen Fragebogen angelehnten Leitfaden die effektivste Methode zur Gewinnung von Informationen wäre. Ich kombinierte die offenen Fragen und den schriftlichen Fragebogen zu einem Leitfaden. Damit wurde die Erhebung an den Sprachstil der Jugendlichen – in kurzen Sätzen im Wechsel sich auszutauschen – angepasst. Fragebogen zur beruflichen Orientierung von Jugendlichen Des Weiteren wurden von mir Daten im Rahmen eines Projektes zur Förderung der beruflichen Orientierung, Vorbereitung und Eingliederung in den Ausbil-
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dungs- und Arbeitsmarkt im bereits benannten Jahrgang mithilfe eines Fragebogens im Einzelgespräch erhoben. Über den Aspekt der Stärken-SchwächenAnalyse und der beruflichen Orientierung und Einmündung hinaus konnte darüber ein größerer Einblick in die soziale Herkunft der Schüler/-innen, die Qualifikationen der Eltern, die momentane Berufstätigkeit und die Familiengröße gewonnen und in Bezug zu den Daten der aus dem Jahrgang stammenden 19 Schüler/-innen gesetzt werden. Expert/-innengespräche Expert/-innen werden in dieser Arbeit als Personen mit einem speziellen Fachwissen begriffen, das sowohl im problemanalysierenden als auch im handlungsorientierten Teil der vorliegenden Arbeit Eingang findet. Nach Gläser/Laudel (2004: 10) sind sie „Menschen, die ein besonderes Wissen über soziale Sachverhalte besitzen und Experteninterviews sind eine Methode, dieses Wissen zu erschließen“ (Herv. im Orig.). Weitergehend definieren Meuser/Nagel (1997) eine Vielschichtigkeit in der Dimension des Expert/-innenwissens, das einerseits institutionalisiertes Wissen, andererseits Dynamik und Handlungsrahmen professionellen Handelns definiert: „Insgesamt handelt es sich um die Erfassung von praxisgesättigtem Expertenwissen, des know how derjenigen, die die Gesetzmäßigkeiten und Routinen, nach denen sich ein soziales System reproduziert, enaktieren und unter Umständen abändern bzw. gerade dieses verhindern, aber auch der Erfahrung derjenigen, die Innovationen konzipiert und realisiert haben.“ (Meuser & Nagel 1997: 481). Expert/-innengespräche wurden sowohl in Berlin wie auch in Frankreich geführt, Zur Klärung der bisherigen Berliner bildungspolitischen Praxis zur Förderung der Kinder mit Migrationshintergrund wurden Expert/-innen aus der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, der kommunalen Ebene und eine ehemalige Vorsitzende des Landeselternausschusses nach den Faktoren der Bildungsbenachteiligung der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und vorausgegangenen Veränderungsansätzen wie mögliche Zukunftsperspektiven befragt. Entsprechend der in der Stadtsoziologie und Bildungsforschung problematisierten und durch Befunde erhärteten negativen Wirkungen segregativer Prozesse in Quartieren und Schulen auf die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund war die Auswahl auf Expert/-innen gerichtet, die sich mit Maßnahmen zur schulischen Verteilung der Schüler/-innen beschäftigt hatten. Für die Untersuchung waren ihr Wissen über einen nicht dokumentierten Sachverhalt und ihr Blick auf die Themen von Bedeutung. Die Auswahl der Personen bezog sich damit auf ihre Kenntnisse der Berliner Schulpolitik im Umgang mit der wachsenden Anzahl an Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und der konkreten Umsetzung von
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Verwaltungsvorschriften, wie z.B. der AV ausländische Kinder (SenBWF 1984) bzw. des kommunalen Handelns. Der offene Leitfaden bestand aus fünf bis sieben Fragen, leicht variiert je nach beruflicher Verankerung oder sonstiger Funktion der Expert/-innen zu folgenden Themen: • • •
•
Bemühungen von Senatsverwaltung und Bezirken in Bezug auf die Bildungsförderung von Kindern mit Migrationshintergrund in der Vergangenheit Schulstrukturdebatte in Berlin in Bezug auf die Ergebnisse der Schulleistungsstudien PISA und IGLU Erfahrung mit und Bewertung von Maßnahmen, die auf einer Verteilung der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund außerhalb von Schuleinzugsbereichen oder Bezirken basierten Zukunftsperspektiven
Zu den vier mit Audioaufnahmen gesicherten Gesprächen (darunter ein DoppelInterview) kamen weitere mit Expert/-innen aus der Verwaltung und lokalen Akteur/-innen hinzu, die sich auf untersuchte Problemlagen, wie etwa dem administrativen Umgang mit Umschulungsanträgen von Eltern und der Festlegung von Schuleinzugsbereichen in einem Bezirk beziehen. Das Erinnerungswissen an die Zeit der Verteilung von Schüler/-innen mit Migrationshintergrund im Berliner Raum wurde auch bei Funktionär/-innen der Berliner Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft erfragt. Diese Gespräche erfolgten bei der Übergabe von mir erbetenen Dokumenten oder telefonisch und die Ergebnisse wurden in Notizen festgehalten. In Frankreich wurden 13 lokale Akteur/-innen aus Schule, Stadtverwaltung und sozialen Einrichtungen und dem Quartiersmanagement befragt. Die leitenden Fragen waren, • • • •
welche Gründe zur Schulschließung führten, welche politischen und praktischen Schritte zur Umsetzung notwendig waren, wie die Akzeptanz der Maßnahme bei allen Beteiligten ist und ob durch die Verteilung der Schüler/-innen auf verschiedene Schulen positive Leistungseffekte belegt werden konnten.
Schriftliche Quellen Als schriftliche Quellen für die Dokumentenanalyse dienten Schüler/-innenakten, das Schulprogramm, Berichte und schulinterne statistische Erhebungen, die die Entwicklung der Schule dokumentieren. Des Weiteren Ausführungsvorschriften
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der Schulverwaltung und statistische Daten zu Schüler/-innen. Für die Darstellung der Quartiere in Berlin und Frankreich wurden Monitorings, Berichte der Quartiersmanager/-innen wie auch amtliche statistische Daten herangezogen. Als Dokumente werden in Anlehnung an Wolff (2007: 502) schriftliche Texte gesehen, die einen Vorgang belegen. Wolff (2007) sieht in amtlichen Dokumenten, worunter in meiner Untersuchung unter anderem die Akten der Schüler/-innen fallen, „institutionalisierte Spuren“, die eine Interpretation der Verfasser/-innen und ihrer Organisationen aufzeigt. Kontrastiert mit Ergebnissen aus anderen Erhebungen wie etwa Interviews bestehe die Gefahr, dass Analyseergebnisse aus beiden Bereichen gegeneinander ausgespielt werden und die Eigenständigkeit des Dokuments mit Widersprüchen und verschiedenen Stellungnahmen verloren geht (ebd.: 511f). Die Dokumentenanalyse bietet in Bezug auf die Verwendung von Schüler/innenakten eine teilbiografische Ergänzung, weil eine auf schulisch relevante Themen bezogene Erfassung von Daten erfolgt. Die Akten wandern von Schule zu Schule mit, d.h. in der Regel von der besuchten Grundschule in die Oberschule und je häufiger ein Schulwechsel stattfindet, desto mehr Institutionen und Personen sind an der Führung beteiligt. Die in der jeweils besuchten Schule aufbewahrten Akten enthalten viele Informationen beginnend mit der Einschulungsuntersuchung, die bereits Hinweise auf Sprachstand, körperliche und motorische Entwicklung und evt. Entwicklungsverzögerungen oder Auffälligkeiten geben. Sämtliche Schulzeugnisse sind hier abgeheftet mit Informationen zum Leistungsstand, zur Teilnahme an Arbeitsgemeinschaften oder an Praktika und einem Zeugniskopf mit lobenden und teilweise rügenden Einträgen und Tadeln. Zu finden sind die Grundschulempfehlung für den weiterführenden Schulzweig, Förderpläne, Protokolle von oder Vermerke zu Elterngesprächen, Hilfe- oder Klassenkonferenzen und eventuellen Ordnungsmaßnahmen. Der Schwerpunkt bei der Untersuchung der Schüler/-innenakten liegt allerdings weniger im Aufdecken der Widersprüchlichkeit in den von vielen Personen geführten Akten der Schüler/-innen, sondern eher auf der Dokumentation von Fehlzeiten, Verhaltensauffälligkeiten und Elternkontakten (vgl. Tabelle 5). Wenngleich diese Daten weniger sensibel für den Interpretationsspielraum der unterschiedlichen Verfasser/-innen erscheinen, ist es notwendig, auf deutliche Widersprüche innerhalb einer Schüler/-innenakte und der unterschiedlichen Aktenführung im Vergleich einzugehen. Die Dokumentenanalyse von Verordnungen und Richtlinien, wie den ‚Ausführungsvorschriften Ausländische Kinder‘ (SenBWF 1984) zeigt auf Berliner Ebene, wie dem wachsenden Zustrom ausländischer Schüler/-innen organisatorisch und pädagogisch begegnet wurde. Dokumente zur Konzeption und Ent-
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wicklung der EKO seit ihrer Umwandlung von einer Hauptschule zu einer integrierten Haupt- und Realschule schließlich lassen die Entwicklung der Schule nachvollziehen. Reflektion der Forscher/-innenrolle Die meisten Schüler/-innen kannte ich bereits seit mehr als drei Jahren, Rückläufer/-innen aus den Gymnasien und Realschulen und Wiederholer/-innen etwas kürzer, und ich stand in unterschiedlich intensivem Kontakt mit ihnen. Darunter fallen unterrichtsähnliche Situationen wie der wöchentliche Klassenrat, als auch Einzelberatungen zu verschiedenen inner- und außerschulischen Themen und Problemlagen. Mit einigen war ich auf einer Jahrgangsfahrt in der Türkei, mit anderen hatte ich Projektwochen durchgeführt, von den meisten kannte ich die Eltern und hatte verschiedentlich und nicht immer in erfreulichen Zusammenhängen (Fehlzeiten, Leistungsabfall, Disziplinarprobleme) Gespräche mit ihnen. Alle Schüler/-innen des Jahrgangs kannten mich als Unterstützerin bei der Suche nach Betriebspraktika und Ausbildungs- oder Schulplätzen und beim Anfertigen von Bewerbungsunterlagen. Der Zugang zu einigen verhaltenen Schüler/-innen war mit Sicherheit nur aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit und in einem Fall durch Zureden der Klassenlehrerin möglich. Um eine Distanz zu dieser durchaus auch konflikthaften Nähe zu schaffen, war es wichtig, bei der Gewinnung der Interviewpartner/-innen und zu Beginn des Interviews zu versichern, dass die Interviews nicht von weiteren Personen angehört und ihre Daten anonymisiert werden. Manche Interviews signalisieren einen starken Hilfebedarf der Schüler/-innen, der an den beruflichen Alltag mit ihnen anknüpft oder sie stellen abrupt Fragen, deren Klärung ich auf die Zeit nach dem Interview schiebe. Daran zeigt sich, dass die Interviewsituation vor allem bei in der Praxis verankerten Forscher/-innen keine objektive, distanzierte Situation ist. Die Schwierigkeit besteht für mich selber darin, die Rolle der Interviewerin mit einem bestimmten Forschungsinteresse beizubehalten und von meiner zugeschriebenen Rolle – der helfenden und beratenden Sozialarbeiterin – im Interviewprozess Abstand zu halten. Noch weitergehend kann unter den oben benannten Aspekten die Frage nach einem Machtungleichgewicht zwischen der Forscherin und den Beforschten gestellt werden, das zu sozial erwünschten oder ausweichenden Antworten führt. Schulsozialarbeit bzw. die Jugendsozialarbeit an Schulen dient der Stärkung der Persönlichkeitsentwicklung mit dem Ziel, positive Lebenslagen für junge Menschen mitzugestalten, sie wieder herzustellen oder zu erhalten. Gesetzlich ist dies im Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfegesetz vereinbart. Dennoch besteht in der Praxis der Schulsozialarbeit keine Unabhängigkeit von den Zielen der Institution Schule, wie z.B. der Sicherung eines Schulabschlusses oder der Vermeidung von Schuldistanz.
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Zu begründen ist daher, warum ich Schüler/-innen, deren Lebensweg ich mehr oder weniger intensiv ein Stück begleitet habe, als Interviewpartner/-innen ausgewählt habe. Sicherlich wäre es möglich gewesen, zu einem neutraleren Feld, d.h. einer Schule, in der mich weder die Schüler/-innen noch die Pädagog/innen kennen, Zugang zu erhalten. Außer unter erschwerten Bedingungen Interviews mit Schüler/-innen und der Schulleitung zu führen, wäre mir allerdings aus Datenschutzgründen kein weiteres Material zur Verfügung gestellt worden. Ich hätte im Rahmen der für eine Forschungsarbeit üblichen Ressourcen weder Kontakt zu den Eltern der Schüler/-innen noch zu den Lehrer/-innen aufbauen können. Die in dieser Arbeit vorliegende Analyse zu den Fehlzeiten der Schüler/-innen (vgl. Kapitel 5.3) wäre ohne den Zugang zu den Akten der Schüler/innen nicht möglich gewesen. Dagegen erlaubt mir die gewählte Vorgehensweise, weitere personenbezogene Daten, die ich selbst erhoben habe (Beratungsgespräche mit Schüler/-innen, Eltern, Lehrer/-innen, dem Jugendamt und anderen außerschulischen Kooperationspartner/-innen) hinzuzuziehen. Abschließend ist die Auswertung der Interviews durch mein Vorwissen über die Schüler/-innen beeinflusst. Besonders deutlich wird dies in den Interviews in der teilweisen Diskrepanz zwischen eigener Wahrnehmung der Schüler/-innen und der Perspektive des schulischen Personals auf die Schüler/-innen, d.h. ihrem im Schulalltag erlebten Verhalten. Die Perspektive der Schüler/-innen wird damit vor dem Hintergrund weiteren Wissens über sie durch die pädagogische Praxis und die Analyse der Schüler/-innenakten erfasst. 4.2.3 Auswertungsmethoden Die in den Schüler/-innen- und Expert/-inneninterviews gewonnenen Informationen wurden transkribiert und in Anlehnung an das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2002, Gläser-Zikuda 2008, Gläser & Laudel 2004) ausgewertet. Die qualitative Inhaltsanalyse wurde ursprünglich als Methode zur theorie- und regelgeleiteten Analyse großer Textmengen entwickelt. Eine zu Mayring modifizierte Form der Auswertung entwickelten Gläser und Laudel (2004), die den auszuwertenden Text grundsätzlich als Material behandeln, dem durch Extraktion systematisch Informationen entnommen werden sollen. Schüler/-inneninterviews Die Dokumentation der ersten vier geführten Interviews erfolgte während des Gesprächs nur schriftlich, da ich anfangs die Zustimmung der Schüler/-innen zu einer Audioaufnahme nicht erwartet hatte. Die grundsätzliche Mitschrift in Stichworten bei allen Interviews erleichterte später die Transkription und Auswertung, da sie eine zusätzliche Sicherung der Daten bot. Die explizite Versiche-
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rung meinerseits, dass niemand außer mir die Aufnahmen anhören werde, erleichterte die Zustimmung zu Audioaufnahmen bei den 15 weiteren Interviews. Die Transkription erfolgte große Strecken wortwörtlich und teilweise zusammenfassend, verwendete Zitate im Text wurden zur besseren Verständlichkeit jedoch sprachlich geglättet. Nach der Transkription und Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte der Interviews erfolgten eine paraphrasierende Grobauswertung jedes einzelnen Interviews und die Benennung der Aussagekraft der Interviews. Die ausschließlich schriftlich fixierten Interviews wurden im Anschluss ausführlich dokumentiert. Theoriegeleitet habe ich die 19 Schüler/-inneninterviews im ersten Schritt auf Hinweise zur Bildungsbenachteiligung untersucht und diese in den Themenfeldern Schule, Quartier, Familie und den Übergang Schule- Beruf im Text gekennzeichnet. Nach dem ersten Durchgang stellte sich erneut die Frage: Was sind die Hinweise für Bildungsbenachteiligung? Bereits in Kapitel 1 wurde benannt, worin Bildungsbenachteiligung bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund deutlich wird: In den Ergebnissen der Schulleistungsstudien, den Schullaufbahnempfehlungen, den Bildungsabschlüssen und dem Übergang Schule – Beruf. Nun mussten konkretere Hinweise auf bildungsbenachteiligende Faktoren in der Familie (soziale Herkunft), der Institution Schule und dem Quartier gesucht werden. Für eine konzentrierte Untersuchung habe ich jedes Interview für jedes Themenfeld neu gelesen, da sich, obwohl es ein halbstrukturiertes Interview mit strukturierten Themenfeldern ist, Hinweise auf benachteiligende Faktoren in einem Bereich an anderer Stelle zeigen können. Bei den Durchgängen stellte sich heraus, dass die eingeengte Auswertung der Interviews auf Bildungsbenachteiligung nur der erste Untersuchungsschritt sein konnte. Viele Sequenzen konnten nicht eindeutig einer Benachteiligung zugeordnet werden, manche schienen nach der Beschreibung der Schüler/-innen eher einen stabilisierenden Charakter zu haben. Konkret traten folgende Schwierigkeiten bei der Suche nach Fundstellen auf: • • • •
Die klare Einordnung, ob ein Sachverhalt als bildungsbenachteiligend per se einzustufen ist (Beispiel häusliche Sprachverwendung). Die Zuordnung mancher Fundstellen zu den Themenfeldern (Beispiel schulische Fehlzeiten der Schüler/-innen). Die Gleichzeitigkeit von positiven und negativen Peergruppeneffekten im Quartier. Geschlechtsspezifische Zuordnungen: Was für Jungen stabilisierend und leistungsfördernd sein kann, mag für Mädchen entwicklungshemmend sein.
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Deutlich wird also, dass mehrere Stufen der Auswertung notwendig sind und neben der deduktiven, theoriegeleiteten Auswertung die induktive Erhebung von relevanten Themenfeldern und Kategorien aus dem Material als Quelle erfolgen muss, um die Fragestellung befriedigend beantworten zu können. Im Laufe der Auswertung wurden die Daten nach Themenbereichen und Kategorien entlang der Leitfadenstruktur in tabellarischer Form verdichtet. Letztlich werden anhand von drei vertiefenden Einzelfallinterpretationen im Rückgriff auf die Theorie und bisherige empirische Studien wenig erforschte Bereiche und Dynamiken in der Überlagerung von sozialer und ethnischer Segregation aufgezeigt. Die Interpretationen eignen sich zudem, weitere theoretische Überlegungen anzustellen (Schmidt 2007: 455). Expert/-inneninterviews Die Auswertung der teiltranskribierten und zusammengefassten Gespräche mit den Expert/-innen erfolgte in der Logik, dass nicht die Person in ihrem Lebenszusammenhang Gegenstand des Interesses ist, sondern ihre Handlungsbedingungen in einem Kontext (Meuser & Nagel 2009: 56). Durch die im Vergleich zu den Schüler/-inneninterviews offenere Fragestellung und von den Expert/-innen teilweise darüber hinaus thematisierten Bereiche wurde in den Interviews gezielt nach Fundstellen gesucht, die zur Fragestellung zurückführten. In der französischen Fallstudie ging es darum, die unterschiedlichen Perspektiven der Expert/innen und Akteur/-innen auf ein Thema – den Schüler/-innentransfer – herauszuarbeiten. Der Ablauf der Auswertung erfolgte im Vergleich zu den Schüler/inneninterviews in einem verkürzten Verfahren. Dokumentenanalyse Nach der mehrschrittigen Auswertung der Interviews erfolgt die Analyse der Akten der Schüler/-innen als weitere Quelle, die eher die institutionalisierte Sicht auf die Schüler/-innen und oftmals auf ihre Familien darstellt. Der Fokus der Aktenanalyse lag nach der Auswertung der Interviews und den in diesem Prozess induktiv erhobenen Kategorien auf (unentschuldigten) Fehlzeiten und Verspätungen und möglichen Begründungszusammenhängen (Beurlaubungsanträge wegen verfrühter oder irregulärer Heimatflüge). Weitere Punkte waren Verhaltensauffälligkeiten wie rügende Einträge, Tadel und weitere Disziplinarmaßnahmen, die zusammen mit den Fehlzeiten einen Einblick in die spontane bis längere Abwesenheit vom Unterricht und damit von Bildungschancen gibt. Weitere Dokumente, wie z.B. die ‚Ausführungsvorschriften über den Unterricht für ausländische Kinder und Jugendliche (SenBWF 1984)‘, die eine Quotenregelung für den Anteil ausländischer Schüler/-innen in den Klassen einführte, dienten als Grundlage für die Erstellung des Interviewleitfadens für die Berli-
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ner Expert/-innen, sowie zur Prüfung der von den Expert/-innen beschriebenen Praxis vor dem Hintergrund dieser Verwaltungsvorschrift. Zusammenfassende Auswertung der Beratungsnotizen und Beobachtungsprotokolle Ergänzend zu der Analyse der Interviews und der Akten wurden meine Beratungsnotizen und gedächtnisgestützten Beobachtungen und Erfahrungen aus der beruflichen Praxis herangezogen, die wie bei der Feldforschung und den dabei angefertigten Protokollen einem Tagebuch entsprechen. Zusammengefasst wurden die Auswertung der Akten und meine Beratungs- und Beobachtungsnotizen in einem Profil, das ich zu jedem/jeder interviewten Schüler/-in anfertigte.
5 Fallstudie – Eine Berliner integrierte Hauptund Realschule im Wrangelkiez, einem Gebiet mit besonderem Entwicklungsbedarf
5.1 D AS Q UARTIER Der Wrangelkiez ist ein innerstädtisches Gründerzeitquartier mit ca. 46ha Fläche und liegt im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg im Ortsteil Kreuzberg. Abbildung 12: Wrangelkiez in den Grenzen des Interventionsgebietes Soziale Stadtentwicklung
Quelle: http://www.quartiersmanagement-berlin.de/Wrangelkiez.98.0.html
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Er ist von mehreren natürlichen Grenzen umgeben: Im Osten dem Landwehrkanal, im Norden der Spree, südlich der an den Görlitzer Park angrenzende Görlitzer Straße und im Westen der Skalitzer Straße. Im und angrenzend an das Quartier gibt es Grünanlagen und begrünte Blockinnenbereiche, wie auch kleine Spiel- und Bolzplätze. Durch die Hauptverkehrsstraßen Skalitzer Straße und Schlesische Straße besteht jedoch eine Belastung durch das hohe Verkehrsaufkommen. Bei einem Gang durch das Quartier zeigt sich eine Vielfalt an Gastronomie und die unterschiedliche Nutzung der Angebote. Wird z.B. das türkische Teehaus ausschließlich von Männern besucht, sitzt in den zahlreichen Cafés und Restaurants eine Mischung aus Tourist/-innen und Anwohner/-innen. Für den täglichen Bedarf gibt es eine Reihe von kleinen Läden mit Lebensmitteln, Haushalts- und Schreibwaren. Die in den letzten Jahren angesiedelte Kreativszene mit Modeateliers, hochwertigen Antiquitäten und der Musikproduktion, sowie die Vielfalt an Clubs und der Ausbau von Hostels machen den Kiez inzwischen zu einem Mekka für Tourist/-innen und Bewohner/-innen anderer Stadtteile. Die Folgen sind eine Verknappung des Angebots an Wohnungen mit niedrigen Mietpreisen (‚Gentrifizierung‘) nächtlicher Lärm und die daraus resultierende Unzufriedenheit der Bewohner/-innen, die in runden Tischen zum Ausdruck kommt (Schneider 2011). 5.1.1 Der Wrangelkiez als Ort der Zuwanderung Im Berlin der 1970er und 1980er Jahre gehörte das Quartier zu den hauptsächlichen Zuwanderungsgebieten von Migrant/-innen türkischer Herkunft. Der überwiegend dicht bebaute Altbaubestand war zur damaligen Zeit stark sanierungsbedürftig, und die geplante Autobahntrasse durch den Stadtteil sowie die Randlage innerhalb von West-Berlin änderten an diesem Zustand wenig. Nach und nach zogen Mieter/-innen aus den Substandard-Wohnungen mit Ofenheizung, mangelhaften Sanitäranlagen und zum Teil Treppentoiletten aus und verließen den Bezirk. In diese durch kostengünstige Mieten und Minimalstandard geprägten Häuser zogen viele Arbeitsmigrant/-innen mit ihren Familien ein, die ihren Aufenthalt in Deutschland zunächst als vorübergehend planten. Aber auch für zugezogene Student/-innen und die Hausbesetzer/-innen-Szene war das Quartier mit bezahlbarem Wohnraum und Leerstand ein beliebter Wohnstandort. Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 1984 wurden große Teile des Quartiers saniert und grüne Flächen geschaffen. Dennoch zählt das Quartier heute zu den laut Berliner Mietspiegel ausgewiesenen „einfachen Wohnlagen“.
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2009 leben auf der Größe des statistischen Gebietes des Planungsraums Wrangelstraße insgesamt 11.238 Einwohner/-innen darunter 32,9% mit einem ausländischen Pass und 47,4% mit Migrationshintergrund.1 Bei den unter18jährigen haben 66,7% einen Migrationshintergrund, ein Indikator im Berliner „Monitoring soziale Stadtentwicklung“ für einen erhöhten Bedarf an Bildungsförderung. 14,9% der Bewohner/-innen haben die türkische Staatsangehörigkeit, d.h. sie bilden inzwischen nicht mehr die Mehrheit, wohl aber noch die größte Gruppe unter den Personen mit einem ausländischen Pass. Der Wrangelkiez wird als junges Quartier eingestuft, da die 18 bis 34jährigen mit 37% die größte Gruppe unter den Bewohner/-innen bilden. 5.1.2 Interventionsgebiet des Bund-Länder-Programms Soziale Stadtentwicklung Nach dem Mauerfall 1989 erfolgten Aufwertungsprozesse im Stadtteil, die jedoch eher den Planungsraum Reichenberger Straße am Paul-Linke-Ufer in der Nähe des Landwehrkanals betrafen. Der Wrangelkiez hingegen wurde aufgrund vielfacher sozialer Problemlagen 1999 als Interventionsgebiet des Programms Soziale Stadtentwicklung ausgewiesen (zum Programm vgl. Walther & Güntner 2007). Nach dem Integrierten Handlungs- und Entwicklungskonzept des eingerichteten Quartiersmanagements gehören Armut und Arbeitslosigkeit, Sprachprobleme und die unzureichende Qualifizierung der Bevölkerung zu den zentralen Schwächen des Quartiers2. Standen am Anfang der Intervention noch stärker bauliche Maßnahmen zur Stadterneuerung und Aufwertung des Quartiers sowie die Wiederbelebung leer stehender Ladenräume im Vordergrund, stellt das Handlungskonzept von 2004 neben einer Reihe von Strategien zur Verbesserung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt, der Sicherheit der Bewohner/-innen, der sozialen Infrastruktur und Partizipation das Thema Bildung als dringendes Handlungsfeld heraus. Ab 2002 wurde als Bildungsoffensive eine Reihe von Projekten gefördert und 2005 in das Netzwerk „Wrangelkiez macht Schule“ in Kooperation mit dem Jugendamt Friedrichshain-Kreuzberg, der Fichtelgebirge-Grund-
1
Im Folgenden werden statistische Daten der Planungsräume als Grundlage genommen, um eine Vergleichbarkeit mit den angrenzenden Planungsräumen als Einzugsgebiete der Fallstudienschule zu gewährleisten. Der Wrangelkiez als Interventionsgebiet des Quartiersmanagements weicht mit seinen Grenzen vom statistischen Gebiet des Planungsraums ab.
2
http://www.quartiersmanagement-berlin.de/fileadmin/content-media/Datenblaetter_ Quartiere/Datenblatt_Wrangelkiez.pdf
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schule und dem Projekt „Kinderwelten“ überführt. Das Netzwerk verfolgt seither das Ziel, über eine Vernetzung von Bildungsakteur/-innen den im Wrangelkiez lebenden Kindern und Jugendlichen optimale Bildungschancen zu bieten. Der Arbeitsansatz ist die vom „Projekt Kinderwelten“ entwickelte vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung unter Einbeziehung vorhandener Kompetenzen im Stadtteil (Kinderwelten 2009). Die Sprachförderung und die aufeinander aufbauenden Bildungsangebote sind auf die Bedürfnisse der im Stadtteil lebenden Zielgruppe zugeschnitten. Ein Schwerpunkt liegt auf früher Bildung, die bereits vor dem Eintritt in die institutionalisierte Betreuung durch die Kindertagesstätte beginnt. Vor allem die Übergänge von einer Institution in die nächste, vom Eintritt in die Kindertagesstätte bis zum Übergang in die Ausbildung werden als unterstützungsbedürftig angesehen und mit Projekten und Kooperationsvereinbarungen begleitet. Dabei kommt der Arbeit mit den Eltern und der Elternpartizipation eine zunehmend größere Bedeutung zu. Als Risiken und Defizite im öffentlichen Raum werden vom Quartiersmanagement die von vielen Bewohner/-innen beklagte Verschmutzung und der stadtbekannte Drogenhandel im angrenzenden Naherholungsgebiet Görlitzer Park wie auch auf den Spielplätzen benannt. Ein besonderes Ärgernis bildet die eingezäunte Ruine des großen Pamukkale-Brunnens im Görlitzer Park, die aufgrund eines jahrelangen Rechtsstreits weder saniert noch abgebaut werden konnte. 5.1.3 Soziale Infrastruktur des Quartiers Die Beschreibung der sozialen Infrastruktur wird hier auf eine Auswahl an kinder- und jugendrelevante Einrichtungen beschränkt. Neben der Fallstudienschule gibt es eine Grundschule und mehrere Kindertageseinrichtungen im Quartier. Als freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe sind der Kinderbauernhof im Görlitzer Park mit seinem offenen Angebot, das FIPP (Fortbildungsinstitut für die Pädagogische Praxis) mit der Qualifizierung von Jugendlichen zu Stadtführer/innen und die Mädchenzentren „Eli isi evi“ und „Alia“ mit gruppenspezifischen Angeboten für Mädchen zu nennen. Die Projekte „Grenzräume“ und „Kreuzer“ bieten in Kooperation mit der Fallstudienschule und anderen Einrichtungen geschlechtsspezifische sozialintegrative Gruppenarbeit an. Das Jugend- und Kulturzentrum „Schlesische 27“ wird stadtweit von Schulklassen für künstlerische Projektwochen in Anspruch genommen. Seit 2007 gibt es das Mehrgenerationenhaus Centrum mit einem vorwiegend an türkische und kurdische Migrant/innen gerichteten Angebot, u.a. Beratung, Kurse und Hausaufgabenhilfe. Mit allen hier aufgezählten Einrichtungen kooperiert die Fallstudienschule in unterschiedlicher Intensität.
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5.1.4 Entwicklung der sozialen und ethnischen Zusammensetzung des Quartiers anhand des Monitoring Soziale Stadtentwicklung Das Quartier entsprach bis 2007 statistisch einer Teilverkehrszelle der Verkehrszelle 0151-Wiener Straße mit insgesamt 27 000 Einwohner/-innen. Die statistischen Grenzen des Wrangelkiezes wurden im Laufe der Arbeit des Quartiersmanagements aufgeweicht und stärker der sozialräumlichen Nutzung der Bewohner/-innen angepasst. Darunter fielen der Einbezug des angrenzenden Görlitzer Parks und des Areals um das Oberstufenzentrum in der Wrangelstraße. Um den Verlauf einiger Sozialdaten des Quartiers über einen mehrjährigen Zeitraum darstellen zu können, wird zunächst auf das Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2008 (Häußermann 2008a: 56f) zurückgegriffen. Für den Zeitraum zwischen 2001 und 2006 zeigt sich ein Rückgang der Arbeitslosigkeit von 20,7% auf 14,1%. Auch die lange Zeit überdurchschnittliche Anzahl an Arbeitslosen unter 25 Jahren sank auf 9,5% und entsprach damit 2006 dem Berliner Durchschnitt. Diesem Aufwärtstrend stehen die Zahlen der erwerbsfähigen Empfänger/-innen von Existenzsicherungsleistungen gegenüber, die von 17,4% im Jahr 2001 auf 23,6% im Jahr 2006 anstiegen. Des Weiteren ist ein starker Anstieg beim Transferleistungsbezug der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren zu beobachten, der bereits vor der Umstellung der Statistik nach Einführung der Sozialgesetzbücher II, III und XII von 32,9% (2001) auf 35% (2004) angestiegen war. 2006 lag der Anteil der unter 15-jährigen Leistungsbezieher/-innen bei fast 60%. Diese Zahlen zeigen einen Anstieg der Armut von Kindern und Jugendlichen bei gleichzeitigem Rückgang der Arbeitslosigkeit an. Aus den Daten kann geschlossen werden, dass vor allem in familiären Gemeinschaften an die Stelle von Arbeitslosigkeit prekäre Arbeitsverhältnisse oder geringe Erwerbseinkommen getreten sind, die das Aufstocken mit Existenzsicherungsleistungen erfordern. Da ein Großteil der Schüler/-innenschaft der Fallstudienschule aus den drei Planungsräumen Wrangelkiez, Reichenberger Straße und Lausitzer Platz stammt, werden hier einige Daten verglichen. Ein Teilgebiet des Planungsraumes Lausitzer Platz ist ebenfalls als Quartiersmanagementgebiet (QM Mariannenplatz) ausgewiesen.
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Abbildung 12: Planungsräume Wrangelkiez, Reichenberger Straße und Lausitzer Platz
Quelle: FIS Broker
Das Monitoring 2010 (Häußermann 2010b) zeigt in Bezug auf die soziale Lage der Bevölkerung (über sog. Statusindikatoren) wie in den Vorjahren eine hohe Belastung auf: Dies zeigt sich (vgl. Tabelle 1) an der im Berliner Vergleich hohen Zahl an Arbeitslosen aller Altersklassen mit Ausnahme der Langzeitarbeitslosen (Spalte 3–5), der Kinderarmut (Spalte 7) und an Aufstocker/-innen (Spalte 6), d.h. Personen, die ihr eigenes Einkommen mit staatlicher Hilfe aufbessern müssen.
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Tabelle 1: Statusindikatoren auf der Ebene der ausgewählten Planungsräume in Friedrichshain-Kreuzberg vom 31.12.2009 8
3.369.67 2
9,9
6,0
3,4
13,8
37,4
43,1
Lausitzer Platz
13.084
12,8
8,0
4,3
26,2
58,8
73,9
Reichenberger Straße
14.799
11,4
7,0
3,9
20,9
53,7
68,2
Wrangelkiez
11.238
10,8
7,4
2,9
19,5
50,2
66,7
Planungsraum
Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren mit MH in % der EW unter 18 Jahren
7
Nicht-erwerbsfähige Empfänger/innen von Existenzsicherungsleistungen unter 15 J. in %
6 Nicht-arbeitslose Empfänger/-innen von Existenzsicherungsleistungen in % der EW
5 Langzeitarbeitslose (SGB II u. III), Bezug über ein Jahr, in % der 15-65-Jährigen
4
Arbeitslose unter 25 Jahren (SGB II u. III) in % der 15-25Jährigen
3
Arbeitslose (SGB II u. III) in % der 15-65-Jährigen
2
Einwohner/-innen (EW)
1
Berlin
Quelle: (Häußermann 2010b); Kopfzahlen 1–8 zur Lesehilfe eingefügt
Die Planungsräume zusammen betrachtet zeigen, dass dort knapp ein Drittel der Bewohner/-innen einen ausländischen Pass, knapp die Hälfte einen Migrationshintergrund und mehr als zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren einen Migrationshintergrund haben. Im Berliner Ranking der Quartiere nach dem Entwicklungsindex liegt der Wrangelkiez auf Rangplatz 340 vor der Reichenberger Straße auf 371 und dem Lausitzer Platz auf Rang 391 der insgesamt 447 Planungsräume. Die vom Monitoring Soziale Stadtentwicklung in Bezug auf seine Sozialdaten festgestellte positive Entwicklung des Wrangelkiezes zwischen 2007 und 2009 zeigt sich an der Minderung der Zahl der Arbeitslosen von 12,1% auf 10,8%. Die Zahl der Personen, die eine finanzielle Aufstockung benötigen, ging von 20,8% auf 19,5% zurück. Auch ist ein Rückgang der Kinderarmut von 53,6% auf 50,2% zu verzeichnen. Ähnliche Tendenzen zeigen sich für
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die beiden anderen Planungsräume. Dennoch liegen alle Werte weit über dem Berliner Durchschnitt und dokumentieren die sozioökonomischen Belastungen der Quartiersbewohner/-innen.
Ausländer/-innen in % der EW
Einwohner/-innen mit Migrationshintergrund in % der EW
Ausländische Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in % der EW unter 18 Jahren
Kinder unter 6 Jahren mit Migrationshintergrund in % der EW unter 6 Jahren
3.369.672
13,7
25,5
10,4
43,1
Lausitzer Platz
13.084
33,6
53,1
19,3
68,5
Reichenberger Straße
14.799
28,9
44,9
18,2
61,7
Wrangelkiez
11.238
32,9
47,4
20,1
56,6
Planungsraum
Einwohner/-innen (EW)
Tabelle 2: Demografische Struktur (Herkunft und Alter) auf der Ebene der ausgewählten Planungsräume in Friedrichshain-Kreuzberg am 31.12.2009
Berlin
Quelle: (Häußermann 2010b)
In Bezug auf die Lebensqualität von Familien und die Situation der Schulen des Quartiers zeigt die Erfassung des Wanderungssaldos der Kinder unter 6 Jahren eine im beschriebenen Zeitraum anhaltend und im Berliner Vergleich überdurchschnittlich negative Tendenz, was darauf hinweist, dass Eltern das Quartier vor der Einschulung ihrer Kinder verlassen. Gründe hierfür werden im Misstrauen in die Qualität der Schulen und dem Wunsch nach einer kindgerechten Umgebung mit gepflegten Grün- und Freiflächen gesehen. Wie bereits im Kapitel „erhöhte Segregation in Schulen“ dargelegt, zeigen sich die Problemlagen an den Schulen im Quartier in konzentrierter Form. Wie sich dies auf die Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen auswirkt, welche Problemlagen ineinander greifen und welche Einflüsse durch Schule und
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Quartier (einschließlich der Herkunftsfamilien) wirken, soll im Folgenden untersucht werden.
5.2 D IE E BERHARD -K LEIN -S CHULE Die Eberhard-Klein Schule ist eine integrierte Haupt- und Realschule besonderer pädagogischer Prägung, wobei die beiden Bildungsgänge pädagogisch und organisatorisch zusammengefasst sind. An der Schule können der Hauptschulabschluss, der Erweiterte Hauptschulabschluss und der Mittlere Schulabschluss (ehemals Realschulabschluss) erreicht werden. 2009/2010 besuchten 277 Schüler/-innen die Schule. Die Schüler/-innen kommen hauptsächlich aus der näheren Umgebung als Wohnort wie auch Grundschulstandort. 5.2.1 Entstehung und Entwicklung der gemeinwesenorientierten Schule Das seit über einem Jahrhundert bestehende Schulgebäude wurde Anfang der 1980er Jahre baulich wie pädagogisch neu konzipiert. Eine interdisziplinäre Planungsgruppe der damaligen Adolf-Damaschke-Hauptschule reagierte unter Einbezug von Stadtplaner/-innen und dem Bezirksamt Kreuzberg mit einem neuen Schulkonzept auf die gestiegenen pädagogischen Anforderungen durch den oben beschriebenen starken Wechsel der Bevölkerungsstruktur im Einzugsbereich. Als hauptsächliche Herausforderung wurde die Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft gesehen, die überwiegend aus Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund und Sprachschwierigkeiten und einer Restgruppe von deutschen Jugendlichen bestand, letztere oftmals aus schwierigen sozialen Verhältnissen und mit Lernschwierigkeiten. Schuldistanz und ein hohes Aggressionspotential erforderten ein Konzept, das unter anderem den Schulalltag lebensnaher gestalten und eine bessere Durchlässigkeit bei den Schulabschlüssen gewährleisten sollte. Die neue Planung beinhaltete Baumaßnahmen im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA), die einem gemeinwesenorientierten und klassenübergreifenden Lernen Rechnung tragen sollte. Beispiele dafür sind die neu gebauten Türme, die jeweils zwei benachbarten Klassen einen gemeinsamen Raum zur Verfügung stellen und die räumliche Öffnung der Schule zur Nachbarschaft hin, die eine öffentliche Nutzung der Gebäude und des Geländes ermöglichen sollte. In den Jahren 1987 bis 1990 entstand eine anspruchsvoll gestaltete Schule mit einer sehr guten Ausstattung an Fach- und Werkräumen, freundlichen Klassenzimmern, einer Bibliothek und einem begrünten Schulge-
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lände. Entsprechend ihres gemeinwesenorientierten Anspruches nannte sich die Schule viele Jahre lang „Kiez-Schule“, bis das Kollegium sich 2001 für den Namen des ehemaligen Schulrates und Förderers Eberhard Klein entschied. Abbildung 14: Eberhard-Klein-Oberschule, Vorderansicht mit Türmen
Quelle: eigenes Foto
Das Schulkonzept setzte auf Sprachförderung und Integration. Die Grundlinien der pädagogischen Arbeit lagen darin, •
• • •
eine attraktive Schule für die im Umfeld der Schule lebenden Kinder und Jugendlichen vorwiegend türkischer Herkunft zu bieten und damit ihrer Abwanderung an andere Schulen entgegen zu wirken, mehr Schüler/-innen zu einem Haupt- oder Realschulabschluss zu führen, „stadtteilspezifische Sozialisationsdefizite“ auszugleichen und die Motivation am Lernen zu erhöhen und Sprachschwierigkeiten und kulturelle Konflikte zu überwinden (Planungsgruppe Schulprojekt 1983: 2, Eberhard-Klein-Schule 2006: 2).
Als notwendig bei der Verfolgung dieser Grundlinien wurde die räumliche Öffnung der Schule („das Leben des Stadtteils in die Schule hinein zu holen“), die
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zeitliche Öffnung (Ganztagsbetrieb), die interne Öffnung (Teamteaching), die Durchlässigkeit (Angebot mehrere Schulabschlüsse) und kulturelle Öffnung gegenüber Schüler/-innen nicht-deutscher Herkunft gesehen (Planungsgruppe Schulprojekt 1983: 3). Die Zusammensetzung des Kollegiums war mit Beginn des Schulprojektes interdisziplinär mit Lehrer/-innen und Sozialpädagog/-innen konzipiert. Ein Team aus beiden Professionen begleitete einen Jahrgang möglichst von der 7. bis zur 10. Klasse. 1995 wurde aus dem ehemaligen Schulversuch eine integrierte Haupt- und Realschule besonderer pädagogischer Prägung in Ganztagsbetrieb, in der auch Schüler/-innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf integrativ beschult wurden. Zehn Jahre später ist das Kollegium erneut mit der Konzeption befasst. Im Rahmen der Qualitätsentwicklung der Berliner Schulen sind alle Schulen aufgefordert, ein Schulprogramm aufzustellen, dabei schulspezifische Grundsätze festzulegen und Entwicklungsziele sowie Planungsschritte zu beschreiben. Ziel ist, unter Mitarbeit aller am Schulleben beteiligten (Pädagog/-innen, Schüler/-innen, Eltern) eine Stärken-Schwäche-Analyse durchzuführen, ein schulisches Profil herauszubilden und ein verbindliches Programm mit eigenen Zielsetzungen festzuschreiben. Durch die interne und externe Evaluation (Schulinspektion) soll die Umsetzung des Schulprogramms überprüft und fortgeschrieben werden (Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2004: 14f). An der EKO wird nach einem einjährigen Prozess der Schulentwicklungsplanung Entwicklungsbedarf gesehen in •
• • • •
der Entwicklung einer neuen Schulordnung als das Ergebnis eines innerschulischen Verständigungsprozesses zwischen Schüler/-innen, Pädagog/-innen und Eltern, der erweiterten Zusammenarbeit mit Eltern im beratenden wie partizipativen Sinne, der Kommunikationskultur innerhalb der Schule und nach außen der Neustrukturierung und Qualität des Unterrichts, und der durchgängigen Sprachförderung in allen Fächern zur Erhöhung der Lesekompetenz (Eberhard-Klein-Schule 2006: 40f).
Mit diesen Entwicklungsvorhaben reflektierte die Schule erneut die an sie gestellten Herausforderungen. Bis heute ist der Schulalltag geprägt von Maßnahmen und Hilfestellungen, die die Unterrichtsfähigkeit der Schüler/-innen herstellen und ihre Persönlichkeitsentwicklung unterstützen sollen. Einige Kooperationen aus den 1980er und
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1990er Jahren mit außerschulischen Partner/-innen sind unterschiedlich intensiv und in Abhängigkeit von Finanzierungsmöglichkeiten erhalten geblieben. Hinzu kamen viele neue Partner/-innen, die die Möglichkeiten fachübergreifender Arbeitsschwerpunkte neben dem Fachunterricht bieten (vgl. Eberhard-KleinSchule 2006: 30f). Vor allem die intensive Förderung der Sprachbildung (zum Konzept der durchgängigen Sprachbildung vgl. Hawighorst 2009, Hawighorst & Knoll 2010) in Kooperation mit dem BLK-Programm FörMig (Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund) und die Anstrengungen in der Berufsvorbereitung und in der Unterstützung beim Übergang in die Berufsausbildung (Duales Lernen) gehören zu den Arbeitsschwerpunkten der Schule. Die Erfolge in Bezug auf die schulischen Abschlüsse und die Einmündung in eine berufliche Ausbildung sind dennoch gering. So konnte sich zwar die Zahl der Mittleren Schulabschlüsse von 16% in 2007 auf 17,9% in 2009 steigern, eine höhere Einmündung in eine duale Ausbildung auf dem ersten Ausbildungsmarkt erfolgte jedoch nicht. 5.2.2 Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft 20 Jahre nach Umwandlung der Schule sind die Auswirkungen des Mauerfalls deutlich zu spüren. Durch den verstärkten Wegzug von Familien ins Umland oder in attraktivere Stadtteile und die schwindende Akzeptanz der Hauptschule als Bildungsgang sind, wie in vielen weiteren Berliner Schulen, sinkende Schülerzahlen an der EKO zu verzeichnen. Der Anteil an Schüler/-innen mit türkischem, kurdischem und arabischem Migrationshintergrund wuchs, zumal die bis Mitte der 90er Jahre bestehenden Quotierungen von ausländischen Kindern (SenBWF 1984).an den Berliner Schulen abgeschafft wurden. Die EberhardKlein-Schule wurde 2004 die erste Schule Deutschlands, die zu 100% von Kindern mit Migrationshintergrund besucht wird. Die ethnische Entmischung im Laufe der Jahre ging mit einer zunehmenden Leistungsentmischung einher, was sich daran bemerkbar machte, dass in den Grundschulgutachten der jährlichen Neuaufnahmen im Jahr 2003 noch ca. 30% Übergangsempfehlungen zur Realschule ausgesprochen wurden, jedoch 2006 bereits keine Anmeldungen mehr mit dieser Präferenz vorlagen. Der Notendurchschnitt aller Neuaufnahmen im Schuljahr 2006/07 war schlechter als „ausreichend“ und ein Sprachstandstest im siebten Jahrgang ergab eine durchschnittliche Punktzahl von 2,93 von maximal 10 Punkten. Obwohl nahezu alle Kinder Bildungsinländer sind, d.h. komplett das deutsche Schulsystem durchlaufen haben, sind die Sprachprobleme virulent. Neben den niedrigen Leistungsvoraussetzungen und großen homogenen Sprachgruppen als Erschwernis bei dem Er-
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werb der deutschen Sprache stellt sich in Anlehnung an die Befunde der Schulleistungsforschung die Frage nach der sozialen Herkunft, an die in Deutschland der Schulerfolg besonders eng gekoppelt ist. 5.2.3 Sozioökonomische Lage der Familien Ein Großteil der Schüler/-innen kommt aus kinderreichen Familien türkischer, kurdischer und arabischer Herkunft. Beschult werden nicht nur Geschwisterkinder, sondern oftmals Cousins und Cousinen größerer Verwandtschaftsnetzwerke im schulischen Umfeld. Die dienstälteren Lehrer/-innen und Sozialpädagog/innen kennen Familien und heranwachsende Geschwisterkinder seit vielen Jahren, und nicht selten verlangen junge Eltern oder ältere Geschwister die Beschulung bei ihren ehemaligen Lieblingslehrer/-innen. Dadurch hat die Schule einen familiären Charakter. Die sozioökonomische Lage der Familien der Schüler/-innen ist als überwiegend desolat einzuschätzen und hat sich sogar in den letzten Jahren verschlechtert, was sich am Anstieg der Lernmittelbefreiung und damit dem Bezug staatlicher Sozialleistungen in den Jahren zwischen 2006 und 2009 von 74% auf 94,58% zeigt (vgl. Tabelle 3). Dieser Trend ist insgesamt an den allgemeinbildenden Schulen Berlins zu verzeichnen, wo die Lernmittelbefreiung aller Schüler/-innen zwar nur knapp ein Drittel so hoch wie an der EKO ist, dennoch von 31,2% in 2007/2008 auf 33,4% in 2009/2010 anstieg. Tabelle 3: Lernmittelbefreiung (Lmb) an der EKO und an Berliner Schulen Schuljahr
Lmb in % der Schüler/innen der EKO
Lmb in % der Schüler/-innen Berlins
2006/07
74
31,2
2007/08
78,8
31,7
2008/09
93,1
33,4
2009/10
94,6
33,4
Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung Berlin; Abgeordnetenhaus Berlin (2010); eigene Berechnungen
Da keine offiziellen Statistiken über die berufliche Qualifikation der Eltern der Schüler/-innen geführt werden, boten die Daten, die von mir und Mitarbeiter/innen im Rahmen eines schulischen Unterstützungsprojektes zur beruflichen Orientierung erhobenen wurden, einen Einblick in die berufliche Situation der Eltern. Im Rahmen des Projekts Jobcoaching wurden im Schuljahr 2006/07 von
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82 Schüler/-innen im Einzelinterview Daten anhand eines standardisierten Fragebogen abgefragt. Das Jobcoaching hatte zum Ziel, möglichst vielen Schüler/innen durch intensive Beratung und Unterstützung die Chance auf einen Ausbildungsplatz auf dem ersten Ausbildungsmarkt zu geben. Dies erfolgte durch Bewerbungstrainings und -beratung, Elternarbeit, die Akquise von Praktikumsplätzen und Ausbildungsstellen, die Organisation von Betriebsbesichtigungen sowie die Zusammenarbeit mit außerschulischen Kooperationspartner/-innen wie dem Quartiersmanagement, lokalen Bildungsinitiativen, dem Netzwerk Berufsbildung, dem Arbeitsamt, außerbetrieblichen Ausbildungsstätten und Jobcoaches, die alle einen Beitrag zur Integration in den ersten Ausbildungsmarkt leisten können. Bei der Erstellung des Einzelprofils mit Fragen zu Stärken und Schwächen, Zeugnisnoten und Berufsinteressen wurde auch nach der Ausbildung und dem momentanen Beschäftigungsverhältnis der Eltern gefragt. Dadurch konnte ermittelt werden, dass 37 Väter in einem Beschäftigungsverhältnis standen, davon fünf in einem 1-Euro-Job3, drei Väter waren Rentner und die restlichen 41 arbeitslos. Von den Müttern waren 16 berufstätig, darunter fünf in 1-Euro-Jobs. 69 Mütter wurden als Hausfrauen benannt und bei wenigen angegeben, dass sie in der Vergangenheit als Reinigungskräfte gearbeitet hätten. Auch wurde über sechs Mütter und einen Vater berichtet, dass sie sich in einem Deutschkurs befinden, der ihnen über das Jobcenter vermittelt wurde. In nur drei Fällen wurde von den Schüler/-innen eine Berufsqualifikation der Eltern benannt. Die Meisten arbeiteten als ungelernte Arbeiter in der Fabrik, im Handwerk oder in der Dienstleistung ohne Qualifikationsvoraussetzungen. Damit hatten 96% der Eltern keine qualifizierte Berufsausbildung, wobei über die Qualifikation weniger gesicherte Aussagen gemacht werden konnten als über die momentane Berufstätigkeit, bzw. die Arbeitslosigkeit oder den Hausfrauenstatus. Die durchschnittliche Anzahl der Kinder lag bei fünf pro Familie, wenige Familien haben zehn und mehr Kinder, die das Armutsrisiko erhöhen. Verschärft wird dieses Risiko bei Familien, die aufgrund eines schwebenden Verfahrens zum Aufenthaltsstatus – das sich über Jahre hinweg ziehen kann – kein Kindergeld erhalten. Die Höhe der Lernmittelbefreiung unter der Schüler/-innenschaft des Jahrgangs – die in etwa dem schulischen Prozentsatz an Lernmittelbefreiten entsprach – zeigt, dass, obwohl in etwa der Hälfte der Familien eine Person erwerbstätig ist, diese die Familie nicht ernähren kann und staatliche Transferleistungen beansprucht wer-
3
Umgangssprachlich für „Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung“ (vgl. www.arbeitsagentur.de)
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den müssen. Zum Teil sind es befristete Tätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten oder Teilzeitjobs und Familienbetriebe, in denen nach Bedarf mitgearbeitet wird. Vergleicht man diese Daten mit den sozialen Daten der Quartiersbewohner/innen, wird deutlich, dass an der EKO nicht nur eine Verschärfung der ethnischen sondern auch der sozialen Segregation vorliegt. Es kann also von einem verfestigten Sozialleistungsbezug ausgegangen werden, der sowohl im Familienals auch im Schulalltag seine Spuren hinterlässt. Neben den durch die Schüler/-innen und Aktenanalyse erhobenen Daten zeigen Gespräche zwischen den Eltern und Pädagog/-innen sowohl in der Schule wie auch bei Hausbesuchen die konkrete Ausprägung dieser belastenden Lebenssituationen auf. Die Kontaktaufnahme von Seiten der Schule erfolgt oftmals mit dem Ziel, Erziehungs- oder Leistungsprobleme mit den Eltern zu besprechen und das häusliche Umfeld der Schüler/-innen kennen zu lernen. Als Beispiele für die Kontaktaufnahme seien hier unentschuldigte Fehlzeiten, Verspätungen und Verstöße gegen die Schulordnung genannt oder aber psychisch auffälliges Verhalten wie große Schüchternheit, Angstverhalten und Lernblockaden. Oftmals zeigt sich bei den Kontakten eine Überforderung der Eltern darin, ihren eigenen Alltag zu meistern und die nötige Fürsorge für ihre Kinder aufzubringen. Der Familienalltag erscheint unstrukturiert, verursacht durch Dauerarbeitslosigkeit und Armut sowie Orientierungsschwierigkeiten wegen geringer Kenntnisse der deutschen Sprache. Viele Eltern beklagen Krankheit und Depressionen, die zur Einschränkung ihrer Handlungsmöglichkeiten führen. Insgesamt sind die Elternhäuser als „bildungsfern“ in Bezug auf die eigene berufliche Qualifikation zu bezeichnen, wobei zwar höhere Bildungsaspirationen vorhanden sind, eine Unterstützung der Kinder im schulischen Alltag jedoch kaum zu erkennen ist. Ältere Geschwister befinden sich zumeist in berufsvorbereitenden Warteschleifen, die sich über Jahre hinweg ziehen können und äußerst demotivierend wirken. Der transferabhängige Familienverband kann die fehlende finanzielle Unterstützung auf Dauer nicht auffangen. 5.2.4 Bildungsaspirationen und Schulerfolg Für die Zufriedenheit und Leistungsbereitschaft von Schüler/-innen ist bedeutsam, ob sie an einer Schule bzw. in einem Bildungsgang ihrer Wahl unterrichtet werden und ob sie zumindest das in der Schullaufbahnempfehlung prognostizierte Ziel erreicht haben. Inwiefern diese Grundlagen auf die Schüler/-innen der EKO zutreffen, wird wieder anhand der erfassten Daten von 82 Schüler/-innen des Jahrgangs 2006/07 geprüft. An dieser Stelle muss betont werden, dass im Berliner Schulsystem die Bildungsgangempfehlung nicht bindend ist und der
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Elternwille Vorrang hat. So besteht die Möglichkeit, bei vorhandenen freien Schulplätzen mit einer Realschulempfehlung einen Platz an einem Gymnasium zu erhalten, ebenso mit einer Hauptschulempfehlung an eine Realschule zu gelangen. Die Analyse der schulischen Laufbahn der Jugendlichen des Jahrgangs anhand der Schüler/-innenakten ergibt, dass nur 28,8% der Schüler/-innen, darunter mehr Jungen als Mädchen, beim Übergang von der Grund- in die Oberschule als Erstwunsch die EKO angegeben hatten. Ein Viertel des Jahrgangs sind Rückläufer/-innen, die eine Abwärtskarriere von den Gymnasien, Realschulen oder Gesamtschulen hinter sich haben, darunter mehr Mädchen als Jungen. Die Schüler/-innen gelangen typischerweise mit einer Realschulempfehlung in ein Gymnasium des Bezirkes, und an das nicht bestandene Probehalbjahr schließt der Übergang in eine Realschule an. Nachdem auch dort die Versetzung am Ende der siebten Klasse nicht gelingt, wird der Übergang an eine Hauptschule oder eine integrierte Haupt- und Realschule empfohlen. Finden die Schüler/innen eigenständig keine aufnehmende Schule, erfolgt die Zuweisung der wohnortnahen Schule, sofern diese freie Plätze bietet. Im Falle der EKO bietet die integrierte Schulform immerhin die Möglichkeit eines Mittleren Schulabschlusses. Von den 26 Schüler/-innen des Jahrgangs, die eine Realschulempfehlung hatten, haben im Jahr 2006 nur sechs den MSA geschafft. Damit sind 20 Schüler/-innen im Vergleich zu ihrem prognostizierten Bildungsziel gescheitert. Im Gegenzug haben sechs Schüler/-innen mit einer Hauptschulprognose den MSA im ersten Durchlauf erreicht und damit die Durchlässigkeit der integrierten Haupt- und Realschule bestätigt. Betrachtet man die 20 Rückläufer/-innen aus den Gymnasien, Realschulen oder Gesamtschulen für sich, die ohne Gymnasialempfehlung ambitioniert gestartet waren, zeigt sich, dass nur vier von ihnen den MSA erreichen konnten. Von den zehn ehemaligen Gymnasiast/-innen haben nur zwei einen MSA erworben. Sie erlitten einen sukzessiven Abstieg vom Gymnasium über die Realschule zur Haupt- und Realschule. Das heißt, es gelang dem Schulsystem bis zum Zeitpunkt der Erhebung nicht, sie an das prognostizierte Bildungsziel heran zu führen. Vielmehr kann angesichts der Zahlen von einem von Frustration begleiteten Abwärtstrend ausgegangen werden, der vielen Schüler/-innen die Motivation zur Anstrengung raubt.4
4
Leider konnte die Gruppe der Rückläufer/-innen nicht gesondert befragt werden, da ihre erreichten Schulabschlüsse erst nach Abschluss der empirischen Erhebung in der Schule feststanden.
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Die Zahlen bestätigen die in der Bildungsberichterstattung festgestellte Diskrepanz zwischen Ab- und Aufstiegen. Es steigen trotz der Durchlässigkeit des Berliner Schulsystems viel mehr Schüler/-innen ab als auf. Dennoch gibt es in geringem Umfang Schüler/-innen, die ohne entsprechende Empfehlung den Mittleren Schulabschluss schaffen. Für die weitere Forschung wäre eine gezielte Untersuchung der Biografien solcher Jugendlichen sinnvoll, um die Gelingensbedingungen ihres Schulerfolgs zu beleuchten. 5.2.5 Zusammenfassung Die Entwicklung der Schule und der Zusammensetzung ihrer Schüler/-innenschaft hat also demographische Gründe (berlinweiter Rückgang der Schüler/innenzahlen), politische Gründe (Mauerfall und gesteigerte Möglichkeit zur Mobilität), schulpolitische Gründe (Aufhebung der Quotierung, Ausdifferenzierung der Schulstruktur) und wirtschaftliche Gründe (geringe Wohnmobilität der Familien durch Transferabhängigkeit). In der Schule zeigen sich die Probleme des Schul- und Wohnumfeldes und deren Auswirkungen auf den Bildungserfolg in konzentrierter Form. Zudem weisen die in der Schule erhobenen Daten für die amtliche Statistik wie auch die intern aus den Akten der Schüler/-innen eines Jahrgangs zusammengestellten Daten darauf hin, dass für die Familien der Schüler/-innen entgegen der amtlichen Statistik (Monitoring-Daten) keine Anzeichen einer Verbesserung ihrer sozioökonomischen Lage durch einen etwaigen Rückgang der Arbeitslosenzahlen oder Transferleistungsbezieher/-innen zu vermerken sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie aufgrund ihrer geringen Bildungsvoraussetzungen und hoher Kinderzahl zu den Ärmsten des Stadtteils gehören. Die Arbeitsmarktentwicklung, die immer höhere Ausgangsqualifikationen für qualifizierende Berufe verlangt, trägt zu einer Verschärfung der Problematik bei, sodass mittelfristig keine Verbesserung der Armutsproblematik in Sicht ist.
5.3 E INFLUSSFAKTOREN IN F AMILIE , S CHULE Q UARTIER AUF DEN B ILDUNGSERFOLG
UND
Nach dem Stand bisheriger Forschung ist davon auszugehen, dass die soziale Herkunft den größten Einfluss auf den Bildungserfolg hat, gefolgt vom schulischen Kontext, und dass letztlich die Einflussgröße des Quartierskontexts vergleichsweise ungeklärt ist. Um ein möglichst differenziertes Bild der Wirkungen des familiären, schulischen und Quartierskontextes auf die Bildungschancen der
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Jugendlichen zu erhalten, werden die drei genannten Kontexte hier im Zusammenhang der empirischen Ergebnisse diskutiert. Als vierter nicht-institutioneller Kontext wird die Religiosität der Jugendlichen als Teil des Wertesystems, das durch die Familie und Peergruppen wirkt, im Hinblick auf ihren Einfluss auf Bildung untersucht. Dabei geht es um die Frage, ob sie eine bildungsfördernde Ressource bildet oder entwicklungshemmende Auswirkungen über ein enges Normen- und Wertekorsett aufweist. In Familie, Schule und Quartier können Normen, Werte und Ressourcen sowohl als Potentiale wie auch als Restriktionen wirken. Bei der Frage nach den Kontexteffekten des Quartiers in ihrer Wirkung auf den Bildungserfolg besteht die Schwierigkeit der Unterscheidung von Nachbarschaftseffekten und familiären Effekten, denn familiäre Werte können durch die Nachbarschaft und das Verwandtschaftsnetz im Quartier verstärkt werden (vgl. Kapitel 2). Gibt es eine starke lokale Orientierung bei den Kommunikationsnetzen und dem Aktionsraum, wie bei Kindern und Hauptschüler/-innen in benachteiligten Quartieren mit hoher Problemkonzentration, können Effekte auf das Bildungsverhalten und die Bildungschancen vermutet werden. Dass der Schulbesuch aufgrund der schärferen sozialen und ethnischen Segregation im Vergleich zum Wohnumfeld der Jugenddelinquenzforschung zufolge einflussreichere Effekte als der Wohnort zu haben scheint (Oberwittler 2008), lässt weiterhin einen negativen Zusammenhang zwischen Delinquenz und Schulerfolg herstellen. Gleichzeitig erschwert der enge Zusammenhang zwischen Schulstandort und Wohnort sowohl bei Grund- wie auch Hauptschüler/innen eine klare Differenzierung zwischen Schuleinfluss und Quartierseinfluss. Die Koppelung von Schule und Quartier verdeutlicht, dass eine lange Zeit am Tag in ähnlichen Netzwerken zugebracht wird. 5.3.1 Der Einfluss des familiären Umfeldes auf die Bildungslaufbahn der Jugendlichen In den bereits referierten Schulleistungsstudien wird immer wieder betont, dass Eltern mit Migrationshintergrund über hohe Bildungsaspirationen verfügen, die als eine Voraussetzung für Bildungserfolg gelten. Warum ist trotz dieser hohen Aspirationen ein geringerer Erfolg als bei autochthonen Schüler/-innen zu messen? Gibt es Normen und Werte, die diesen Aspirationen entgegenwirken? Welche Belastungen wirken auf die Familien? Welche Ressourcen bieten die Familien, die zum Bildungserfolg beitragen können und an welchen Ressourcen mangelt es?
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Eine zentrale Erklärung ist das geringe kulturelle und ökonomische Kapital, mit dem viele Familien ausgestattet sind, das im Rahmen der Schulleistungsforschung über den Bildungsstand und die berufliche Tätigkeit der Eltern, sowie den Bücherbestand in einem Haushalt definiert wurde. Ein Mangel an Sprachbeherrschung im Deutschen, an Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und an beruflichen Vorbildern für die Jugendlichen ist die Folge eines geringen kulturellen und ökonomischen Kapitals. Werden vor allem die Jungen mit Migrationshintergrund als Bildungsverlierer durch ihre vergleichsweise geringeren Schulabschlussquoten gesehen, gibt es auch bei den Mädchen auf längere Sicht Verliererinnen unter den vorübergehend besser Abschneidenden. Bei ihnen können eine übermäßige Kontrolle des Verhaltens und geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen zu einer Hemmung der Persönlichkeitsentwicklung führen, die langfristig zu einer geringeren Einmündung in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt führt (zur Einmündung vgl. Beicht & Granato 2010: 3). Zu den schulischen Anforderungen gehört in der Regel, dass zu Hause Hausaufgaben erledigt und Prüfungsleistungen vorbereitet werden, insbesondere wenn nicht der fördernde Rahmen einer Ganztagsschule gegeben ist. Dabei rechnet die Institution Schule mit einer Unterstützung durch die Eltern in der Grundschulzeit. Der Mangel an familiären Voraussetzungen zur Bildungsförderung wird im Rahmen der Schulleistungsforschung als Bildungsbenachteiligung durch fehlendes Humankapital und Sprachdefizite gewertet. 5.3.1.1 Ethnische Herkunft der Schüler/-innen und soziale Lage der Familien Die zwölf Mädchen und sieben Jungen der empirischen Untersuchung waren zum Zeitpunkt der Befragung 16 Jahre und älter. Drei von ihnen wurden im arabischen und nordafrikanischen Raum geboren, alle anderen in Deutschland und bis auf einen Schüler in Berlin. Bei neun Schüler/-innen kommen beide Eltern, bei zwei weiteren jeweils ein Elternteil aus der Türkei. Sieben Schüler/innen haben Eltern, die im arabischen Raum geboren sind und die Eltern einer Schülerin kommen aus Nordafrika. Damit haben alle Befragten einen Migrationshintergrund. Bei knapp einem Drittel der 19 befragten Schüler/-innen sind die Eltern geschieden oder dauerhaft getrennt. Mit den Eltern von elf Schüler/innen gab es problembezogene Gespräche und sozialpädagogische Interventionen, worunter alle Scheidungskinder fielen. Das häufigste Thema waren unentschuldigte Fehlzeiten, wohinter sich eine Reihe ungelöster familiärer Probleme verbarg. Darunter fielen häusliche Gewalt, die Betreuung von kleinen Geschwistern in der Unterrichtszeit, große familiäre Strenge im Umgang mit der Persönlichkeitsentwicklung und den Freiheitsbedürfnissen einiger Mädchen sowie
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delinquentes Verhalten. Die Eltern sind insgesamt als „bildungsfern“ zu betrachten, da sie nach Angaben der Kinder bis auf zwei keine Ausbildung absolviert haben (vgl. Tabelle 4). Die Herkunftsfamilien der 19 befragten Schüler/-innen leben größtenteils von staatlichen Transferleistungen. Sieben Väter und eine Mutter arbeiten regulär, jedoch nur zwei Familien der Gesamtgruppe können von ihrem Einkommen leben. Da auch in diesen beiden Familien nur eine Person berufstätig ist, und vermutlich wegen des Kindergeldes für mehrere Kinder kein ALG-II-Anspruch besteht, leben alle Familien an der Armutsgrenze. Tabelle 4: Sozioökonomische Herkunft der befragten Schüler/-innen Name
m/ w
Vater
Mutter
Anzahl Kinder
Familienstatus der Eltern
Transferleistungsbezug
Ozan
m
arbeitslos
Kellnerin
5
geschieden
ALG II
Ayúe
w
LKW-Fahrer
Hausfrau, 1€-Job
4
ALG II
Manal
w
arbeitslos
arbeitslos/ Deutschkurs
81
ALG II
Abdul
m
1€-Job, früher Maler ungelernt
Hausfrau
6
ALG II
Cem
m
unbek.2
Hausfrau, 1€-Job
3
geschieden
ALG II
Reyhan
w
Vorarbeiter
Frührentnerin
2
getrennt
ALG II
Gülcan
w
arbeitslos, ehem. Fabrikarbeiter
Hausfrau
6
ALG II
Rabia
w
Lieferant
Hausfrau
6
ALG II
Sinan
m
arbeitslos
Hausfrau
4
ALG II
Tarik
m
Ingenieur, Tät. Erzieher
Hausfrau
7
Melek
w
Rentner (Stiefvater)2
Hausfrau
7
geschieden
ALG II
Pinar
w
arbeitslos
unbek.2
1
geschieden
ALG II
Khaled
m
Servicekraft
Hausfrau
6
Layla
w
Familienbetrieb Gemüse
Hausfrau
5
ALG II
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1
Familienstatus der Eltern
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Transferleistungsbezug
Name
m/ w
Vater
Mutter
Anzahl Kinder
Murat
m
arbeitslos, ehem. Textilfabrik
Hausfrau, Deutschkurs
6
Necla
w
Bauarbeiter
arbeitslos
3
Zeynep
w
1€-Job, früher Maler, ungelernt
Hausfrau
6
ALG II
Zahira
w
arbeitslos
Hausfrau
7
ALG II
Sevda
w
arbeitslos/ Altenpflegerin
8
ALG II
arbeitslos/ Pflegehelfer
ALG II geschieden
ALG II
Teilweise aus früheren Ehen; 2 Es besteht kein Kontakt zum leiblichen Elternteil
Quelle: eigene Erhebung
Die prekäre finanzielle Situation der Familien wird jedoch nur von zwei Schüler/-innen thematisiert. Sinan jobbt seitdem er 14 Jahre alt ist, um die leere Haushaltskasse am Ende des Monats zu füllen und Meleks Stiefvater entzieht sich seinen Verpflichtungen gegenüber sieben Kindern und seiner Frau: „Mein Stiefvater ist weg. Das darf aber nicht bekannt werden, sonst bekommen wir Schwierigkeiten mit dem Amt.“ [...] „Zu Hause gibt es immer Streit wegen Geld.“ (Melek)
In der Fallstudie haben die Schüler/-innen, bedingt durch die hohe Geschwisterzahl und vergleichsweise kleinen Wohnungen, in der Regel kein eigenes Zimmer. Grundsätzlich kann in Berlin zwar ein Wohnberechtigungsschein für Wohnungen mit einer der familiären Personenzahl entsprechenden Zimmeranzahl erworben werden, doch finanzierbare 10-Zimmer-Wohnungen für Familiengrößen wie die der Schüler/-innen Tarik mit sieben, Manal und Sevda mit acht Kindern und einem Elternpaar sind im großstädtischen Raum kaum zu finden. Die gesetzliche Regelung (nach ALG II) sieht bei einem Haushalt dieser Größe im Jahr 2010 im Land Berlin max. 955 Euro Mietkostenleistung vor. Damit kann von beengten Wohnverhältnissen ausgegangen werden, die zu Spannungen unter den Familienmitgliedern führen können und eine ruhige Lernatmosphäre zu Hause kaum ermöglichen (vgl. weiter unten Tarik). In der Regel haben die Kinder keinen eigenen Schreibtisch und müssen mit dem Küchen- oder Couchtisch als Arbeitsplatz vorlieb nehmen neben dem Fernseher, der den ganzen Tag läuft. Bei Hausbesuchen durch Lehrer/-innen und Sozialpädagog/-innen zeigt sich,
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dass außer den Schulbüchern und dem Koran in den wenigsten Haushalten Bücher zu finden sind. Dies ist eine Folge der geringen Bildung vieler Eltern, aber auch des Platzmangels. Dass mangelnde Ressourcen auch Einzelkinder betreffen können, zeigen die Lebensumstände von Pinar, die über Jahre hinweg mit ihrer Großmutter in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebte und ein Bett teilen musste. a) Geringes kulturelles Kapital Der Mangel an kulturellem und sozialem (Bildungs-)kapital der Familienangehörigen und hier insbesondere die eingeschränkte Einbindung in den Arbeitsmarkt beeinflusst die Bildungschancen der Kinder in vielfacher Weise. Dauerarbeitslosigkeit oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse hinterlassen die bereits in Kapitel 5.2 angerissenen Spuren der Langzeitarbeitslosigkeit. Zudem befinden sich ältere Geschwister der befragten Schüler/-innen zumeist weder in Ausbildung noch in einem Einkommen sichernden Arbeitsverhältnis, mit Unterbrechungen allenfalls in Maßnahmen des Jobcenters wie berufsvorbereitenden Kursen oder in außerbetrieblichen Ausbildungsverhältnissen. Daraus resultiert die Gefahr einer unstrukturierten Alltagsgestaltung, da die Befragten die einzigen in der Familie sind, die morgens in die Schule oder zu berufsvorbereitenden Maßnahmen das Haus verlassen müssen. Zumeist fehlen berufstätige Vorbilder sowohl im engen wie weiteren Familienkreis, die in meritokratische Strukturen eingebunden sind, das heißt für Anstrengung angemessen entlohnt zu werden. In ihrem familiären und verwandtschaftlichen Umfeld erleben viele Schüler/-innen weder, dass für die Finanzierung des Lebensunterhalts eine Berufstätigkeit der Normalfall ist, noch, dass Anstrengungen zu einer Belohnung in Form eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes führen würden. Die langfristige Problematik von schulischen Fehlzeiten, nämlich Unterrichtsstoff zu verpassen und Zeugniseinträge zu erhalten, wird nicht erfasst. So fehlt die Konsequenz aus den Aspirationen der Eltern und der Geschwister („mach du es besser als ich“) und die tatsächliche Unterstützung auf dem Weg zu deren Umsetzung. b) Sprachpraxis der Jugendlichen Familiäre Sprachpraxis Die in den Schulleistungsstudien immer wieder hervorgehobenen geringeren Kompetenzen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund hängen in der Regel mit sprachlichen Schwierigkeiten zusammen. Die in den Interviews gestellte Frage nach dem häuslichen Sprachgebrauch ergibt, dass bis auf einen arabischen und einen türkischen Schüler alle Schüler/-innen zu Hause neben der Muttersprache und teilweise einer Amtssprache des Herkunftslandes der Eltern die deutsche Sprache verwenden. Vor allem in Familien mit türkisch-kurdischen
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Wurzeln werden in der Regel drei Sprachen – Deutsch, Kurdisch und Türkisch – gesprochen, bei Verwandtschaftsbesuchen in zeitlich verstärktem Umfang Kurdisch, da vor allem die Älteren oder Nachgezogenen die Muttersprache bevorzugen. Da die meisten Eltern der ersten Generation angehören, d.h. in der Türkei oder einem arabischen Land geboren sind und viele eine nur geringe oder gar keine Schulbildung erfahren konnten, liegen oftmals geringe Lese- und Schreibkenntnisse bis hin zu Fällen von Analphabetismus vor. Die Mehrzahl der Schüler/-innen spricht zuhause unter anderem Deutsch, jedoch weniger als die Hälfte in überwiegendem Maße. Nur zwei Schüler/-innen geben an, dort ausschließlich ihre Muttersprache zu sprechen. Fünf Schüler/innen verwenden zwei und sechs drei Sprachen zuhause, wobei die Verwendung von den jeweiligen Kommunikationspartner/-innen und deren bevorzugte Sprachverwendung abhängen. Vor allem mit den Eltern wird eher die Muttersprache oder die Amtssprache des Herkunftslandes gesprochen. „Meine Eltern sprechen nur Kurdisch miteinander. Wenn ich was frage, dann auf Türkisch und die Antwort von meinen Eltern ist Kurdisch. Wir Kinder reden untereinander Türkisch, so gemischt mit bisschen Deutsch. Meine Eltern sprechen mit uns meistens Kurdisch, manchmal mit Türkisch gemischt.“ (Murat)
Ähnliche Sprachkonstellationen zwischen und unter den Generationen zeigen sich bei den anderen Schüler/-innen, deren elterliche Muttersprache Kurdisch ist. Einige geben an, dass sie die von den Eltern gesprochene kurdische Sprache bestenfalls verstehen, jedoch selber nicht sprechen können. Sie werden von ihnen auf Kurdisch angesprochen und antworten auf Türkisch. Schwierigkeiten in der Kommunikation in Familien, in denen die Eltern die deutsche Sprache kaum, gleichzeitig die Kinder die Muttersprache wenig beherrschen, lässt folgende Schilderung erahnen: „Ich spreche eigentlich Deutsch, ich kann auch nicht so gut Türkisch sprechen. Ich kann mich schon mit einem Türken unterhalten, aber Deutsch kann ich schon besser. [...] Wenn ich mich mit meinem Bruder unterhalte, dann eigentlich auf Deutsch und mit meiner Schwester. [...] Meine Mutter und Oma, die können nicht so gut Deutsch, da muss ich mich auf Türkisch unterhalten.“ (Cem)
Es ist selbstredend, dass der Austausch über die Hürden und Erfolge des Schulalltags unter diesen Umständen erschwert und der Austausch mit den Geschwistern reger als mit den Eltern stattfindet. Unter den Geschwistern wird in den meisten Fällen eine Mischung aus der Amtssprache des Herkunftslandes der
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Eltern (und damit nicht der Muttersprache wie z.B. Kurdisch) und Deutsch gesprochen. Türkisch lernen Kinder kurdischer Herkunft teilweise über das Zusammensein mit Kindern türkischer Muttersprache und bei entsprechender Sprachförderung in Kursen an der Schule, wo bestenfalls Türkisch als zweite Fremdsprache angeboten wird. Da die Geschwister in der Regel die deutsche Schullaufbahn durchlaufen haben, damit das Schulsystem kennen und gleichzeitig einen ähnlichen Wortschatz in den verwendeten Sprachen haben, sind sie eher die Ansprechpartner/-innen für schulische Probleme und Themen der Schüler/-innen. Dies zeigt sich auch an den Elternabenden in der Schule, wenn anstelle der Eltern ältere Geschwister als beauftragte Erziehungsberechtigte auftreten. Sprachverwendung unter Freund/-innen Die Sprachverwendung unter den Freund/-innen dagegen zeigt, dass der Anteil am Deutschen deutlich höher ist als in der Familie und insbesondere in der Kommunikation mit den Eltern. So sprechen acht der befragten Schüler/-innen fast ausschließlich Deutsch, neun Deutsch und ihre Muttersprache und nur zwei Schüler/-innen überwiegend ihre Muttersprache mit Freund/-innen. Vor allem die befragten Schüler/-innen mit arabischem Migrationshintergrund tendieren dazu, in ihrem Freundeskreis Deutsch zu sprechen, was mit der Vielzahl an arabischen Dialekten und der im Vergleich zu türkischstämmigen Familien geringeren ethnischen Konzentration im Wohnumfeld zusammenhängen mag. Die unterschiedliche Sprachverwendung schildert Layla: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, mit denen (Mitschüler/-innen) arabisch zu reden, weil ... ich weiß nicht. Bei den Türken ist es so, die reden voll oft miteinander nur Türkisch. [...] Bei mir, ich weiß nicht, bei manchen Arabern ist es so, die reden nur Deutsch. Es gibt arabische Freunde, die nur arabisch miteinander reden, aber ich rede dann Deutsch mit ihnen.“ (Layla)
Unter den elf Jugendlichen türkischer Herkunft verwendet rund die Hälfte Türkisch und Deutsch im Freundeskreis. Mangel an Sprachgelegenheiten im Deutschen Letztlich gibt etwa die Hälfte der Schüler/-innen die deutsche Sprache als bevorzugte an und kann in ihr am besten Gefühle und Gedanken ausdrücken. Diese Schüler/-innen fühlen sich im Deutschen sicherer als in der Muttersprache Wenige Schüler/-innen sehen das Verhältnis der Sprachverwendung von Deutsch und Muttersprache als ausgewogen an, wobei ein Mädchen problematisiert, dass sie beide Sprachen nicht perfekt könne. Während alle sieben Schüler/innen arabischer Herkunft sich im Deutschen sicherer als in ihrer Mutter- oder
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Familiensprache fühlen, bevorzugen weitere sieben Schüler/-innen die türkische Sprache. Die meisten Schüler/-innen türkischer Herkunft geben an, eine Mischung aus Deutsch und Türkisch zu sprechen, wobei die Sätze aus Sequenzen beider Sprachen zusammengesetzt sind. Die von den Schüler/-innen benannten Sprachgelegenheiten im Deutschen verdeutlichen, dass sich diese häufig auf Behördengänge, Institutionen und den Einzelhandel beziehen, jedoch selten auf Freundschaften oder nachbarschaftliche Kontakte mit Deutschen. Manche hatten in der Grundschule noch deutsche Freund/-innen, nach dem Übergang in die Oberschule jedoch nicht mehr, weil es schlichtweg keine deutschstämmigen Schüler/-innen mehr an den weiterführenden Schulen gab. Einige Schüler/-innen problematisieren zudem, dass es in der Umgebung keine Deutschen gebe. Die Frage nach mehr Kontaktwunsch zu Deutschen wird von den meisten Schüler/-innen bejaht, wobei ein knappes Drittel der Gesamtgruppe bestehende Kontakte angibt, die jedoch weniger aus Freundschaften sondern auf loser Basis bestehen (z.B. Erzieher/-innen und Sozialarbeiter/innen der Jugendhilfe, Verkäufer/-innen) und in wenigen Fällen sich auf verwandtschaftliche Kontakte beziehen. Die Sprachgelegenheiten für Deutsch mit Muttersprachlern sind daher sehr eingeschränkt und bieten sich hauptsächlich im schulischen Rahmen, wo sie auf die Interaktion zwischen Lehrer/-innen und einzelnen Schüler/-innen im Klassenverband beschränkt bleiben. Hinzu kommt die Tendenz, während der unterrichtlichen Gruppen- und Partner/-innenarbeit in der Muttersprache zu kommunizieren, ebenso in den Pausen und bei außerunterrichtlichen, aber schulischen Freizeitaktivitäten. c) Bildungsaspirationen der Eltern Um die familiären Voraussetzungen und Belastungen für den schulischen Erfolg zu untersuchen, wurde bei der Befragung der Schüler/-innen davon ausgegangen, dass über die finanzielle Situation der Familien hinaus folgende Faktoren relevant sind: Das elterliche Interesse an schulischen Themen, die elterliche Fürsorge (persönliche Entwicklung und Wohlbefinden) und weitere Belastungen wie psychische und physische Beeinträchtigungen und Gewalt. Ein Indikator elterlichen Interesses an Schule sind die von den Schüler/innen empfundenen Leistungserwartungen. Hinzu kommt die Teilnahme an Elternabenden und evtl. Mitarbeit in schulischen Gremien und bei Veranstaltungen. Ebenso finden sich Hinweise in den Angaben der Schüler/-innen, ob sie sich unterstützt fühlen und ihren schulischen Belangen Interesse entgegengebracht wird. Dabei zeigte sich, dass an die Hälfte der Schüler/-innen zuhause hohe Erwartungen formuliert werden.
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„Ja, mein Vater interessiert sich sehr dafür. Mein Vater hat hohe Erwartungen. Er sagt: Du könntest mehr aus dir machen, aber es ist nicht mein Leben, es ist dein Leben. Du versaust dir es. Denn er hat selbst studiert und er würde sich freuen, wenn ich auch studieren würde.“ (Tarik)
Gleichzeitig ist Tariks Elternhaus ein Beispiel für die Diskrepanz zwischen Anspruch und geleisteter Unterstützung bei der Umsetzung der Anforderungen. Seine Eltern können aufgrund der Berufstätigkeit des Vaters und der Betreuung mehrerer Kleinkinder durch die Mutter keine Elternabende besuchen. Dennoch zeigt sich ihr hohes Interesse an seiner schulischen Laufbahn (vgl. 5.3). Auch bei einigen anderen Schüler/-innen werden hohe Erwartungen durch die Eltern formuliert, gleichzeitig jedoch keine Elternabende besucht und kein tieferes Interesse geäußert: „Sie (Oma und Vater) sagen zu mir, dass ich eine richtige Ausbildungsstelle finden soll. [...] Die sagen ja, dass ich halt eben Krankenschwester werden soll und ja ... Wenn ich das nicht mache oder so dann muss ich irgendwie Klo putzen, Kino oder so ...“ (Pinar)
Erwartungen werden an das Endergebnis gestellt, ein gutes Zeugnis oder die Einmündung in den Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt, es mangelt jedoch an Zuspruch und einer kontinuierlichen Begleitung auf dem Weg dorthin. Bei sieben Schüler/-innen ist zu erkennen, dass hohe Erwartungen, das Interesse am schulischen Alltag und der Besuch von Elternabenden zusammen fallen. Die Eltern fragen nach dem Schulalltag und den schulischen Leistungen oder stellen die Finanzierung einer Nachhilfe bei Bedarf in Aussicht. Damit unterstützen sie nach ihren Möglichkeiten den Schulbesuch ihrer Kinder. Einige Schüler/-innen fühlen sich jedoch durch hohe Erwartungen unter Druck gesetzt, unabhängig von ihren persönlichen Leistungsvoraussetzungen. Die Auswertung der Interviews bezüglich des Einflusses hoher Erwartungen der Eltern auf den Schulerfolg zeigt auf, dass bei drei erreichten Mittleren Schulabschlüssen der befragten Schüler/-innengruppe zwei auf die Gruppe derjenigen fallen, deren Eltern sowohl hohe Erwartungen haben, als auch am schulischen Alltagsgeschehen interessiert sind und Elternabende besuchen (Sinan, Zeynep). Der dritte bestandene MSA wurde von einem Jungen erlangt, dessen Eltern hohe Erwartungen haben und der Vater einem qualifizierten Beruf nachgeht (Tarik). Es ist zu vermuten, dass diese elterlichen Verhaltensweisen für die Möglichkeit, den Mittleren Schulabschluss an dieser Schulform zu erlangen, eine Rolle spielt. Ein Umkehrschluss ist allerdings nicht möglich, da fünf Schüler/-innen trotz dieser Voraussetzungen keinen MSA erhalten haben. Als einer der Gründe für
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ihr Scheitern können die schulischen Fehlzeiten benannt werden. Bei den Trennungskindern, deren Eltern wenig Fürsorge leisten (können) bzw. nicht alsVertrauenspersonen anerkannt werden, zeigen sich auffällige Leistungsdefizite und/oder schuldistanziertes Verhalten (Pinar, Melek, Ozan). d) Weitere Belastungen – Trennung, Vernachlässigung und Gewalt Die Hälfte der Schüler/-innen benennt familiäre Belastungen, die teilweise komplex sind. Krankheit und Tod in der Familie bzw. in der Verwandtschaft werden von Ozan, Ayúe und Reyhan angeführt, Streitereien und Eheprobleme im engeren wie weiteren Familienkreis von Pinar, Tarik, Reyhan und Zahira. Einige deuten Probleme an, wollen die Details zunächst im Interview nicht benennen. Belastend sind Gefängnisaufenthalte von Geschwistern, Sorgerechtsstreit der Eltern und Scheidungen bzw. Trennungen. Ozan und Pinar wohnen nicht bei den Eltern sondern bei Verwandten und sind dennoch in die Eheprobleme der Elternteile und ihrer neuen Partner/-innen involviert. Die Flucht der Stiefmutter samt Halbgeschwistern in ein Frauenhaus ist auch bei Pinar ein tägliches Thema: „Ja und das mit meinem Vater und meiner Stiefmutter. Der kommt dann zu uns und erzählt das ... Ja es ist dies und das geschehen.“ (Pinar)
Die Enge der Wohnung und die hohe Kinderzahl in vielen Familien führen ebenfalls zu Spannungen wie Tarik, der sechs Geschwister hat, ausführt: „Ja, Streitereien zuhause, meine Geschwister (machen Krach). So ne kleine Wohnung, da gehen wir alle uns auf die Nerven. [...] Mein Vater brüllt uns dann manchmal an. Er kommt von der Arbeit – laut. Wenn er aufsteht – laut. Deswegen.“ (Tarik)
Pinar, Manal und Melek berichten, zu Hause vom Vater bzw. den Erziehungsberechtigten geschlagen werden. Trotz aller Belastungen gibt mehr als die Hälfte der Schüler/-innen an, sich zu Hause wohler als in der Schule zu fühlen. Umgekehrt fühlen sich Melek, Gülcan und Sinan in der Schule wohler als zu Hause und für einige gibt es keine Priorität bis dahin, dass sich Pinar weder zuhause noch in der Schule wohl fühlt. Somit scheinen belastende häusliche Faktoren zum normalen Alltag zu gehören und die Schüler/-innen, die sich in der Schule wohler als zu Hause fühlen, geben an, sich mit ihren Sorgen nicht an ihre Eltern zu wenden. Die Schulakten der Schüler/-innen, die unter anderem die tägliche Beratungspraxis und Elterngespräche dokumentieren, verdeutlichen, dass es wesentlich mehr familiäre Belastungen bzw. Überforderungen gibt, als in den Inter-
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views thematisiert. So fand sich zum Beispiel bei der Durchsicht von Abduls Akte ein Vermerk zur Einschulungsuntersuchung durch die Schulärztin des Bezirksamtes mit dem Hinweis, dass er ein „völlig ungefördertes Kind“ sei und folglich von der Einschulung zurückgestellt wurde. In der Grundschule wurde ein psychomotorischer Entwicklungsrückstand diagnostiziert, und es fand eine Klassenwiederholung statt. Zwei Jahre lang war eine über das Jugendamt eingesetzte Einzelfallhelferin mit ihm befasst. Von der ersten Klasse an fallen in den Zeugnissen Verspätungen auf. In der Schülerakte protokollierte und teilweise von mir selbst geleitete Gespräche mit den Eltern weisen auf eine Überforderung mit der Erziehung von sechs Kindern hin. e) Mangel an beruflichen Vorbildern Die eingangs aufgestellte These des Mangels an beruflichen Vorbildern stützt sich auf die schulstatistischen Erhebungen, die einen hohen staatlichen Transferleistungsbezug (ALG I,II, Grundsicherung, Wohngeld usw.) unter den Eltern der Schüler/-innen belegen, sowie auf das Niveau der beruflichen Qualifikationen, das im Rahmen des Jobcoachings (vgl. Kapitel 5.2) durch die Befragung eines Jahrgangs mit 82 Schüler/-innen erhoben wurde. Die Befragungen und Interviews ergaben, dass der Großteil der Elternschaft arbeitslos und ohne Berufsausbildung bzw. angelernt ist und wie bereits beschrieben, die meisten Familien Transferleistungen erhalten. Die Aufstellung der aktuellen Tätigkeiten der Eltern zeigt, dass zwar mehrere Väter arbeiten, diese Arbeit aber offensichtlich nicht den Lebensunterhalt der Familie sichern kann. Die durchschnittliche Kinderzahl der Familien mit rund fünf Kindern ist sicher auch eine der Ursachen für den notwendigen Transferleistungsbezug (vgl. Tabelle 4). Die langjährige Abhängigkeit von Transferleistungen macht sich zudem beim Übergang von der Schule in die Berufsausbildung bzw. zum Beruf bemerkbar, wie die wenig zielgerichteten Bewerbungsaktivitäten zeigen. Die Berufswünsche der Schüler/-innen orientieren sich an Berufen, mit denen sie im Alltag in Berührung kommen oder in denen Verwandte arbeiten. Die meisten befragten Schüler/-innen benennen als ihnen bekannte Berufe ungelernte oder Lehrberufe aus ihrem sozialen Umfeld. Hinzu kommen akademische, Angestellten- oder Beamtenberufe, zu denen sie im institutionellen Rahmen Kontakt haben wie Lehrer/-innen und Sozialpädagog/-innen oder medizinische Berufe und die Polizei. Die meisten befragten Schüler/-innen haben also am Ende ihrer allgemeinbildenden Schulzeit eine Vorstellung von einer Berufsausbildung oder einer anderen Anschlussperspektive, allerdings sind diese Berufsvorstellungen oftmals nicht verfestigt und auch nicht mit Kenntnissen über die Ausbildungsvoraussetzungen und -bedingungen unterfüttert. Zudem umfassen sie nur wenige
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Segmente des Arbeits- und Ausbildungsmarktes. Bei einigen Berufswünschen wird sofort deutlich, dass die Jugendlichen Schwierigkeiten haben werden, ihr Ziel zu erreichen. So ist die Ausbildung zum/zur KFZ-Mechatroniker/-in oder Erzieher/-in inzwischen kaum von Hauptschüler/-innen mit hohen Defiziten in der deutschen Sprache und in Mathematik zu bewältigen. Vor allem die Mädchen mit einer Rückläufer/-innenkarriere halten an ihrem nicht erreichten Abschlussziel, dem MSA fest und beabsichtigen eine Fortsetzung der schulischen Laufbahn an einem Oberstufenzentrum, teils aus Mangel an Alternativen, teils, um ihre Chancen auf eine schulische Ausbildung zu erhöhen. Fernziele sind hier die „Erzieherin mit einer eigenen Kita“ (Zeynep) oder unspezifisch „Eine gute Arbeit, in der ich mich wohlfühle und gut verdiene.“ (Necla). Berufswünsche wurden auch durch Betriebspraktika und die Berufsorientierung bei außerschulischen Kooperationspartner/-innen geprägt. So bei Sevda, die zwar ein Berufspraktikum bei der Polizei absolviert hatte, ihre Berufswünsche jedoch aufgrund hoher Fehlzeiten und geringer schulischer Leistungen den Ausbildungsmöglichkeiten schrittweise anpassen muss: „Das war mal Polizist gewesen und jetzt eher Krankenschwester. Also erst mal Krankenpflege und dann weitermachen mit der Krankenschwester.“ (Sevda)
Letztlich ist nur etwa ein Drittel der befragten Schüler/-innen bewerbungsaktiv bzw. hat sich bereits auf ein Oberstufenzentrum zur Erlangung des MSA orientiert. Bei einigen Schüler/-innen zeigt sich, dass viele Bewerbungen ausschließlich aus telefonischen Anfragen bestanden, und dass sie den (seltenen) Aufforderungen, sich schriftlich zu bewerben, nicht nachgekommen sind. Einige haben sich trotz Unterstützungsangeboten von Seiten der Schule bis zur Mitte des letzten Schuljahres nirgends beworben. Sicherlich spielen hier die noch ausstehenden Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss eine erschwerende Rolle. Deutlich wird, dass die Mädchen und Jungen in psychischen und sozialen Notlagen und aus schwierigen familiären Verhältnissen keinerlei zielgerichtete Bewerbungen verfolgen können und Termine zur Anfertigung der Unterlagen nicht einhalten (Ozan, Pinar, Melek, Reyhan). Weitere Hindernisse gingen von besorgten Eltern aus, die die im Rahmen des schulischen Jobcoachings an ihre Töchter vermittelten Praktikumsplätze für inakzeptabel hielten. Das angebotene Betriebspraktikum im Bereich der Hotelfachfrau in einem großen Hotel sah den Einsatz im Zimmerservice vor. Mehrere Eltern sahen darin die Gefahr sexueller Übergriffe durch Gäste. Diese Bedenken konnten durch die schulische Vermittlung eines Praktikumsplatzes in einem Konferenzzentrum abgewendet werden:
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„Die dachten erst mal, auch so ein Hotel, da meint ich, ist nicht so nein, das ist nicht so mit Schlafräume wo man so ein Zimmer mieten kann und dann da übernachtet oder so. Da meinten die, was ist denn das? Ich meinte, da kommen so hohe Leute, also wie Frau Merkel und Präsidenten sind ja auch da. Und dann meinten die, ja, das hört sich gut an. Da hab ich mich gefreut. Die dachten immer, ich will Friseur machen, ich werd ... aber nein, das kann ich nebenbei auch machen, das kriegt man doch schnell hin.“ (Layla)
In Bezug auf die Unterstützung bei der Einmündung in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt wird nach den vorliegenden Ergebnissen deutlich, dass der Mangel an beruflichen Vorbildern bildungsbenachteiligend auch bei der Suche nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz wirkt. Es zeigt sich, dass die Familien in Bezug auf ihre Bildungsaspirationen zwar Normen und Werte haben, es jedoch an Umsetzungsmöglichkeiten mangelt, d.h. an sozialen Kompetenzen in einer fremd gebliebenen institutionellen Umwelt. Dies ist eher ein Ressourcen-, denn ein Normenproblem. Die Familien sind nicht in der Lage und haben nicht die ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen, um ihre Aspirationen umzusetzen. 5.3.1.2 Familiarität – Ressource und Hemmnis a) Hürden bei der beruflichen Orientierung Auch wenn es Schüler/-innen gibt, die in ihrer Berufswahl desorientiert sind, können doch viele einen oder mehrere Wünsche benennen. Dies ist vermutlich ein positiver Effekt der schulischen und kooperativen außerschulischen Berufsorientierung. Ein Viertel der Schüler/-innen gibt an, zuhause keinerlei Unterstützung bei der Berufswahl zu erhalten. Ein weiteres Viertel führt an, unter anderem oder ausschließlich durch die Schule und ihre Kooperationspartner/-innen Unterstützung zu erfahren. „Ich kannte vorher voll wenige [Berufe]. Zum Beispiel jetzt hier, ähm was wir schon alles gelernt haben, die eine Seite Arbeitsagentur, da haben wir auch voll viele Berufe kennen gelernt, die ich auch gar nicht kannte. Also von hier, von der Schule habe ich mehr neue Berufe kennen gelernt, von der Familie eigentlich gar nicht.“ (Layla)
Für die meisten Schüler/-innen bieten sich im weiteren Familienkreis Ansprechpartner/-innen, die Unterstützung bezieht sich jedoch weniger auf das Anfertigen der Bewerbungsunterlagen oder eine systematische Suche, sondern auf Tipps durch das große Verwandtschaftsnetz zu Ausbildungsstellen oder Jobs vorwiegend im Einzelhandel des Stadtteils. Kaum einem Schüler/einer Schülerin gelingt es auf Anhieb, den Berufswunsch zu verwirklichen. Hindernisse sind man-
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gelnde schulische Leistungen und zu niedrige Schulabschlüsse, der Mangel an zielgerichteter Aktivität und familiärer Unterstützung. Die geringe Einmündung in ein Ausbildungsverhältnis und der Verbleib an der Schule, um nochmals einen Anlauf zum MSA zu starten, zeigen, dass das familiäre Netzwerk trotz Anstrengung über keine wirkungsvollen Instrumente zur Vermittlung in ein Ausbildungsverhältnis verfügt. Bereits das Suchen eines Praktikumsplatzes außerhalb des Schul- und Wohnquartiers und des Bezirkes ist mit vielen Hürden verbunden. Diese Auflage gibt es beim zweiten Betriebspraktikum in der 10. Klasse, um die Schüler/-innen stadtweit zu orientieren und damit ihre Bereitschaft zur Mobilität und ihre Chancen auf einen späteren Ausbildungsplatz zu erhöhen. Dabei müssen die Schüler/-innen Wege beschreiten, die den geregelten und geschützten Schulalltag verlassen. Sie werden zu Bittsteller/-innen, zumal Schülerpraktikant/-innen in Betrieben aufgrund der kurzen Anwesenheitsdauer wenig effektive Leistung bringen können und eher Personal zur Betreuung abziehen. Es werden Anforderungen an ihr Auftreten gestellt, die sie bei Bewerbungstrainings in der Schule und mit schulischen Kooperationspartner/-innen nur in Grundzügen trainiert haben. Abschlägige Auskunft kann teilweise nicht richtig eingeordnet werden und wird als Missachtung und Schikane interpretiert. Doch auch die Schüler/-innen, die im Praktikum Anerkennung finden und denen sogar ein Schülerjob angeboten wird, können im Nachgang von dieser Erfahrung wenig profitieren. Mehrere Jugendliche erhielten von ihren Eltern nicht die Erlaubnis zu dieser Tätigkeit, da das verdiente Geld vom Einkommen der Bedarfsgemeinschaft (Bezug von ALG II) abgezogen worden wäre. Der erste mögliche Schritt in die Eigenständigkeit wird somit unterlaufen. Die Erfahrung mit der Praktikumssuche und -vermittlung mit zwei Jahrgängen der Schule zeigt, dass ein großer Teil der Eltern Schwierigkeiten hat, die Bedeutung des Praktikums für die weitere berufliche Laufbahn der Kinder einzuschätzen. Unverständnis gab es für die Auflage, außerhalb des Bezirkes einen Praktikumsplatz zu finden. Manche Plätze wurden als nicht attraktiv (Restaurantküche) oder gar gefährlich (für das Ansehen der Mädchen) angesehen, und die Tatsache, dass ein mittlerer oder größerer Betrieb mehr Ausbildungsplatzpotential bietet, als ein kleiner Betrieb in der Nachbarschaft, wurde nicht anerkannt. b) Hohe Familiarität bei Mädchen und Jungen Die höhere Familiarität bei Mädchen türkischer Herkunft im Vergleich zwischen verschiedenen Ethnien haben bereits Boos-Nünning/Karakaúo÷lu (2005) untersucht. In meiner Studie zeigt sich diese Familiarität ebenso bei den Jungen. Insgesamt betonen 17 von 19 Schüler/-innen die hohe Wertschätzung ihrer Familien. Sie erfahren Rückhalt und Konstanz und sehen sich verantwortlich
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gegenüber ihren Eltern. Familienmitglieder werden als die wichtigsten Menschen auf der Welt gesehen, ohne die man nicht leben kann. Den hohen Stellenwert der Herkunftsfamilie, die in ihrer Bedeutung alle anderen Beziehungen überragt, benennt Rabia: „Ne große (Bedeutung), sie sind sozusagen mein ganzer Lebensinhalt. Egal wie viel Freunde ich hab, egal mit wem ich zusammen komme, meine Familie bleibt mein ein und alles, sozusagen. Sie sind die einzigen Menschen, die mir wirklich die Geborgenheit geben können, dass ich mich wohl fühle. Halt mein Rückhalt, auch wenn ich mal versagt habe oder irgendwas nicht geschafft habe. Sie sind immer für mich da.“ (Rabia)
Die beiden gegenüber der Familie distanzierten Mädchen Pinar und Melek sind in ihrer jetzigen Familiensituation unglücklich und sehen Verwandte im Ausland, zu denen sie telefonischen Kontakt halten, als ihre familiären Bezugspersonen an. Tarik benutzt nach der Beschreibung der hohen Bedeutung seiner Familie ein religiöses Motiv für die Verehrung seiner Mutter: „Meine Familie hat eine große Bedeutung für mich, sehr wichtig. [...] Ich kann ein Beispiel sagen: Meine Mutter, sie hat mich neun Monate in ihrem Bauch getragen und sie hat Wehen, alles erlitten, und das kann ich ihr mein ganzes Leben lang nicht zurückzahlen. Im Islam ist es so, man muss gütig sein zu den Eltern, auch wenn ich ein Moslem bin und sie Christ ist, man muss sie hoch ehren. Und wenn ich Probleme habe, dann kann ich immer zu meinen Geschwistern, meinen Eltern. Die helfen einem immer.“ (Tarik)
Vergleicht man diese in Bezug auf die Familiarität weitgehend homogenen Ergebnisse mit den Antworten der Schüler/-innen auf die Fragen zur elterlichen Fürsorge, zeigt sich, dass es themen- oder problembezogene Ansprechpartner/innen im Familienkreis gibt. Der Großteil der befragten Schüler/-innen sieht in seinen Eltern Ansprechpartner/-innen für Konflikte und Sorgen, wobei nicht unbedingt beide Elternteile angesprochen werden, sondern durchaus bevorzugt die Mutter, manchmal auch Geschwister oder andere Verwandte. Deutlich wird bei der hohen Familiarität, dass auf der einen Seite die Familie Schutz und Anerkennung bietet und auf der anderen Seite hohe Erwartungen an die einzelnen Familienmitglieder bestehen, sich familiären Interessen und Wertvorstellungen unterzuordnen. Im Extremfall ist sogar davon auszugehen, dass die hohe Familiarität die Bildungschancen vor allem der Mädchen behindert, da sie sich oftmals familiären Vorstellungen einer arrangierten und frühen Familiengründung unterordnen. So waren drei der befragten Schüler/-innen in der 10.
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Klasse bereits verlobt bzw. „versprochen“, was einem Arrangement entspricht und die Möglichkeit bietet, sich mit einem Jungen zu treffen, ohne in Verruf zu kommen. Die meisten befragten Mädchen und Jungen lehnen arrangierte Ehen ab, sofern sie erzwungen werden. Dennoch werden mehrfach Vorzüge eines akzeptierten Arrangements benannt: „Manchmal ist es nicht gut, aber wenn ich so kucke, bei meiner Verwandtschaft, meine Tante und so, bei der haben den Mann die Eltern gewählt, die sind glücklicher. [...] Zum Beispiel meine Cousine hat einen Jungen geliebt, aber dieser Junge, der ist jetzt ein Kiffer, der geht nicht nach Hause. Aber bei meiner Tante, da hat mein Opa den Mann gewählt, so richtig glücklich. Der Mann hört immer auf meine Tante.“ (Ayúe)
In seltenen Fällen erfährt die Schule von einer Zwangsheirat. Den Verlauf der Vorbereitung zeigt das Schicksal von R., die zum Zeitpunkt der Erhebung bereits die Schule verlassen hatte, um nach dem Willen der Eltern einen berufsvorbereitenden Lehrgang zur Näherin zu absolvieren. Die Eltern hatten die Schülerin mitten im Schuljahr abgemeldet, und sie hatte in ihrer Verzweiflung Mitschüler/innen anvertraut. dass sie gegen ihren Willen mit einem ihr unbekannten Mann aus der Türkei verheiratet werden sollte. Interventionen der Schule in Kooperation mit der Jugendhilfe und der Polizei scheiterten, da sich das Mädchen – vermutlich aus Angst – bei verschiedenen Gesprächen nicht mehr äußerte. c) Familiäre Kontrolle als Behinderung einer freien Entfaltung der Persönlichkeit Familiäre Kontrolle hat viele Gesichter. Sie bezieht sich auf Vorschriften zur Bekleidung, auf die Auswahl der besuchten Orte und die Länge der häuslichen Abwesenheitszeiten. Dabei erhalten alle befragten Schüler/-innen zeitliche Vorgaben von ihren Eltern für die Rückkehr nach Hause. Die Varianz ist sehr groß, da manche Mädchen sofort nach Schulschluss nach Hause müssen und allenfalls in einem kurzen Zeitrahmen eine Freundin in der Nachbarschaft besuchen dürfen, andererseits ein einzelnes Mädchen hin und wieder bis 23 Uhr draußen bleiben darf. Der Großteil der Schüler/-innen muss in einem Zeitraum zwischen 18 und 20 Uhr zuhause sein. Kleidervorschriften erhalten Mädchen wie auch Jungen: „Natürlich darf ich jetzt nicht Ohrpiercing oder was weiß ich, so was halt.“ (Cem.) Einige Mädchen benennen Vorschriften wie „keine engen Hosen“ (Pinar), „keine kurzen Kleider“ (Necla) oder „nicht offen“ (Zahira), womit ein weiter Ausschnitt gemeint ist. Mehrere Mädchen und ein Junge dürfen nicht in die Disko, auf Hochzeiten von Personen, die nicht der Familie angehören und zu
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kurdischen Veranstaltungen. Bei nicht eingehaltenen Heimkehrzeiten werden sie angerufen, und sowohl Mädchen als auch Jungen erhalten Hausarrest oder andere Sanktionen. Einige halten die Zeiten in der Regel ein, um Schlimmeres abzuwenden, wie Pinar, die häusliche Gewalterfahrungen hat und nur selten nachmittags raus darf: „Dann krieg ich Stress zuhause, dann darf ich vielleicht nie wieder raus gehen. [...] Es ist ganz selten, wenn ich mich wehre und so, dann werde ich auch geschlagen.“ (Pinar)
Die Eltern wollen mit ihren Methoden die Kinder erziehen und vor Schaden bewahren und schrecken in einigen Fällen vor drastischen Methoden nicht zurück. Die Rolle solcher Eltern ist ambivalent. Dennoch kann eine übermäßige Kontrolle, die jegliche persönliche Entwicklung lähmt, zu einer Bildungsbenachteiligung führen, wenn die Betroffenen kaum Möglichkeiten haben, Erfahrungen außerhalb der Institutionen Schule und Familie zu machen und Selbständigkeit zu erlernen. Dies führt bei einigen befragten Mädchen dazu, dass sie gedanklich im Unterricht völlig abwesend und mit ihren familiären Problemen beschäftigt sind und zeitweilig gemeinsam dem Unterricht fernbleiben, um Freiräume zu erringen und sich gegenseitig zu trösten. 5.3.2 Der Einfluss des schulischen Kontextes auf die Bildungslaufbahn der Jugendlichen Bereits im vorhergehenden Kapitel zum familiären Kontext wurde ein Ressourcenmangel der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund deutlich. Dass Kinder und Jugendliche jedoch vielfältige Ressourcen für ihren Bildungserfolg benötigen, ist selbstredend. Doch welche können sie nutzen, welche sind überhaupt vorhanden, und an welchen mangelt es? Gibt es Ressourcen, die evtl. geschlechtsspezifisch unterschiedlich wirken, und können manche Ressourcen für die einen Schüler/-innen unterstützend, für die anderen benachteiligend sein? Bietet die Schule kompensatorische Ressourcen oder leidet sie selber unter einem Mangel? Wie sehen die Folgen des Mangels an familiären Ressourcen und unterschiedliche Normen- und Wertevorstellungen im Schulalltag aus? Schule ist ein Ort von Bildungs- und sozialen Prozessen, sie hat einen durch das Schulgesetz geregelten gesellschaftlichen Auftrag der Persönlichkeitsentwicklung der Schüler/-innen zu mündigen Bürger/-innen. Neben materiellen und personellen Ressourcen sind die in der Kompositionsforschung betonten sozioökonomischen Ressourcen, abhängig vom mittleren Sozialstatus der Familien, von Bedeutung (Baumert, Stanat & Watermann 2006). Im Schulalltag zeigt sich
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dies etwa darin, ob die Eltern Spendengelder für den schulischen Förderverein akquirieren oder ihren Sachverstand in allgemeinschulische Belange einbringen können. Ob sie sich aktiv für die schulischen Belange ihrer Kinder einsetzen und Unterrichtsqualität einfordern, dabei zum Beispiel Konflikte mit dem Lehrpersonal nicht scheuen. Letztlich stellen unterschiedliche Schulumwelten differenzielle Lern- und Entwicklungsmilieus dar, wodurch Jugendliche unabhängig von ihren persönlichen Ressourcen je nach besuchter Schulform unterschiedliche Entwicklungschancen erhalten, die schulmilieubedingt sind (Baumert, Stanat & Watermann 2006, vgl. Kapitel 3.3 zur Kompositionsforschung). Die in den Befunden der Schulleistungsstudien betonte Koppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg bezieht sich nicht nur auf primäre Effekte durch die familiäre Herkunft, sondern wirft auch die Frage auf, warum Schule ihrem Bildungsauftrag nicht gerecht wird. Welche Konflikte um Normen und Werte bestehen in Schulen, die – wie in der Fallstudie – nur zu einem geringen Umfang die Bildungsstandards des Mittleren Schulabschlusses erfüllen? Kann mit Fend davon ausgegangen werden, Schulklassen seien ein „(1) sozialer Ort der Abwehr von offiziellen schulischen Lernangeboten, (2) „Brutstätten“ der Einübung in Devianz und Primitivkulturen sowie (3) Orte des Mobbings, der Demütigungen und der Ausstoßungserfahrungen.“ (Fend 2009b: 74)? Oder gibt es peergruppenunabhängige Kontakte und Werte, die eine stabilisierende Funktion haben? Die Schule als eine mittelschichtsorientierte Institution erwartet Verhaltensweisen und Fähigkeiten, die eher dem Instrumentarium der höheren sozialen Gruppen entsprechen (Ditton 2009). Schulen vertreten Normen und Werte, die das Erreichen möglichst guter Noten oder das Erreichen des höchsten Bildungsziels der Schulform ermöglichen sollen. In der Regel wird in Schulordnungen und seit einigen Jahren in Schulprogrammen postuliert, dass die Schule sowohl das soziale Miteinander fördern als auch optimale lernförderliche Bedingungen für die Schüler/-innen bieten soll. Am Einfachsten ist dies an den Gymnasien umzusetzen, an denen ein hoher Prozentsatz der Schüler/-innen herkunftsbedingt mittelschichtsspezifische Haltungen und Erwartungen mitbringt. Wird eine Schule jedoch überwiegend von Jugendlichen aus ‚bildungsfernen‘ Milieus besucht, sieht sich die Schule vor einer Reihe von Schwierigkeiten, die die Erfüllung ihres Bildungsauftrag erschwert5.
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Auf die Unterrichts- und Schulqualität wird im Rahmen dieser Forschungsarbeit nur am Rande eingegangen, die Notwendigkeit ihrer künftigen Erforschung in Deutschland wurde jedoch in den PISA-Studien betont. Handlungsvorgaben zur Qualitätsverbesserung sind die 2003 von der Kultusministerkonferenz Deutschlands herausgege-
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5.3.2.1 Disziplinprobleme Bei einem kleinen Teil der gesamten Schüler/-innenschaft der Fallstudienschule können alle von Fend (2009b) oben benannten Negativkriterien gefunden werden. Viele Pädagog/-innen der Fallstudienschule benennen als Generalprobleme Defizite im kognitiven und im sprachlichen Bereich und teilweise auch Verhaltensdefizite, die sich in Unterrichtsstörungen, Tadeln, Einträgen, Fehlzeiten und Verspätungen zeigen. Der Unterrichtsalltag ist geprägt von zu spät kommenden Schüler/-innen, die den begonnenen Unterricht stören, von nicht vorhandenen Arbeitsmaterialien, die lautstark von Klassenkamerad/-innen zusammengeborgt werden müssen und von notwendigen Disziplinierungsmaßnahmen von Seiten der Lehrkräfte. Teilweise herrschen ein respektloser Ton und distanzloses Verhalten untereinander und den Lehrer/-innen bzw. Sozialpädagog/-innen gegenüber. Außerhalb des Unterrichts sind die Pausenaufsichten im Gebäude und auf dem Schulhof für das schulische Personal kräfteraubend, da oft Konflikte geschlichtet und Regelverstöße geahndet werden müssen. Auch sind verbale Attacken von Seiten einzelner Schüler/-innen gegenüber schulischem Personal an der Tagesordnung. Besonders brisant sind Auseinandersetzungen auf dem Schulhof unter Beteiligung von Personen, die nicht der Schule angehören und die sich Zutritt verschaffen wollen, um Freunde auf dem Hof zu treffen, Drogen zu dealen oder den Kontrahenten einer außerschulischen Fehde zu suchen, um mit ihm abzurechnen. Deutlich zeigt sich hier, dass die externe Sphäre, also das Quartier, in die Schule eindringt und im Extremfall eine Austragung außerschulischer Konflikte in der Schule geschieht (Kopietz & Vorbringer 2006). Solche Vorgänge haben dazu geführt, dass der Berliner Bezirk Neukölln den Schulen in Quartieren, in denen eine hohe Überlagerung von ethnischer und sozialer Segregation besteht, bei Bedarfsmeldung Wachschutzpersonal am Schultor finanziert, das Übergriffe von Schulfremden verhindern und eine Ordnungspräsenz nach innen ausstrahlen soll, um das Sicherheitsgefühl von Schüler/-innen und Personal zu erhöhen (Haruna 2010). Auch wenn ein solcher Bedarf an vielen Schulen in anderen Bezirken ebenfalls besteht, und obwohl die Vorteile im Rückgang der Gewaltmeldungen deutlich zu sehen sind, scheuen sich Schulleiter/-innen und Bezirke oftmals, diesen Weg zu gehen. Gründe dafür sind die hohen Kosten und die Befürchtung der Stigmatisierung von Schulen, an denen außerschulisches Personal für Recht und Ordnung sorgen muss.
benen länderübergreifenden Bildungsstandards und der Orientierungsrahmen für Unterrichts- und Schulqualität durch externe und interne Evaluation, Inspektionssysteme und Qualitätsagenturen (Kultusministerkonferenz 2003).
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Wie die Analyse der Schüler/-innenakten zeigte, haben einige der befragten Schüler/-innen zahlreiche rügende Einträge aufgrund von Regelverstößen gesammelt, die in den Zeugnissen vermerkt wurden (vgl. 5.3). Unter den befragten Schüler/-innen ist jedoch zum Zeitpunkt der Erhebung am Ende ihrer allgemeinbildenden Schulzeit weniger eine peergruppengesteuerte Abwehr festzustellen als eine Situation, diffuse Wünsche und Ziele zu haben, deren Umsetzung jedoch nicht verfolgen zu können. Eine Ausnahme bilden die mehr oder weniger umfangreichen unentschuldigten Fehlzeiten, die bei allen Schüler/-innen vorzufinden sind. Es entsteht der Eindruck einer Normalität von Abwesenheit und Verspätungen, die über die Schulzeit hinaus gravierende Auswirkungen hat. Personalverantwortliche sehen darin ein Signal für Unzuverlässigkeit, was das Finden von Betriebspraktikumsplätzen oder Ausbildungsstellen erschwert. Unentschuldigte Fehlzeiten signalisieren zudem einen Normen- und Wertebruch gegenüber der in Deutschland gesetzlich verankerten Schulpflicht. Im Unterrichtsalltag werden unentschuldigte Fehlzeiten und Verspätungen von den Schüler/-innen als normal empfunden, während Dauerschwänzer/-innen nicht gemocht werden, weil ihr Fernbleiben als ablehnende Haltung der Klassengemeinschaft gegenüber interpretiert wird. Dies führt zu einer emotionalen Belastung der betroffenen Schüler/-innen und verfestigt ihr schuldistanziertes Verhalten (wie z.B. bei Cem und Zahira). Die Schüler/-innenakten verdeutlichen, dass der Umgang von Schulen und einzelnen Lehrer/-innen mit unentschuldigten Fehlzeiten unterschiedlich und die zeitliche Spanne von den ersten Elternbenachrichtigungen bis zum ersten Bußgeld durch das Schulamt groß ist. Letztlich ist es in Berlin nach §45 des Schulgesetzes eine Entscheidung des Schulamtes des jeweiligen Bezirkes, ob gar eine kostenpflichtige polizeiliche Zuführung angeordnet wird (Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2004). Der unterschiedliche Umgang mit Fehlzeiten und die langen Wege von der Elterninformation bis zum Bußgeldbescheid können den Schüler/-innen den Eindruck vermitteln, dass ihre Abwesenheit geduldet bzw. nicht konsequent geahndet wird. 5.3.2.2 Wirkungen der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft Die Äußerungen in den Fallstudien-Interviews zur persönlichen Befindlichkeit an der Schule, zu schulischen Schwierigkeiten und zur Bewertung des Lehrer/innenverhaltens konkretisieren die Faktoren, die auf Bildungsbenachteiligung wirken. In der Selbstwahrnehmung der Schüler/-innen werden Leistungsschwächen überwiegend in Mathematik und nur von wenigen in Deutsch benannt, was
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im Gegensatz zu ihrer offensichtlich mangelhaften Fähigkeit, sich auszudrücken, steht. Hier deutet sich ein Referenzgruppeneffekt an, d.h., wenn alle Klassenkamerad/-innen Sprachdefizite aufweisen, können die Schüler/-innen ihre eigenen Fähigkeiten nur bedingt einschätzen. Weniger als die Hälfte der befragten Schüler/-innen äußert Zufriedenheit mit der Schule und betont die Bedeutung sozialer Kontakte, die nicht nur aus Freundschaften sondern auch aus Verwandtschaftsverhältnissen her rühren. Eine relativ hohe Zahl würde dennoch lieber eine andere Schule besuchen, um in einem förderlicheren Kontext zu lernen. Als Gründe dafür werden Langeweile, Unterrichtsausfall und die große Unruhe in der Klasse, in deren Sog „man“ gerät, genannt: „Diese Schule macht einen wahnsinnig. Die Jungs schreien im Unterricht rum und man macht mit. Es ist einfach zu viel Unruhe.“ (Necla)
Dieses Zitat zeigt eine hilflose Distanzierung gegenüber dem eigenen Handeln und der Ansteckung in der Peergruppe – und gleichzeitig die mangelnde Kraft, der offenbar immer wieder gestörten Arbeitsatmosphäre wirksam entgegen zu treten. Verdeutlicht wird damit zudem die Hilflosigkeit von (einzelnen) Lehrer/innen im Umgang mit massiven Unterrichtsstörungen. Trotz solcher ständig wiederkehrender Situationen betrachten nahezu alle Schüler/-innen die Lehrer/innen als an ihrem Lernfortschritt interessiert. Die hohe Anzahl der in den Klassenbüchern und Schülerakten vermerkten rügenden Einträge oder gar Tadel als schulische Maßregelung (vgl. Tabelle 5) bei einigen Schüler/-innen gibt einen Einblick in den Umfang von Störfaktoren im Unterricht. Manche Peergruppenprozesse äußern sich jedoch nicht durch lautes Stören, sondern durch fortgesetztes Schweigen, wie das folgende Beispiel zeigt: Die mehrfache telefonische Bedrohung einer Lehrerin während einer Projektwoche zum Thema Nationalsozialismus, in der sie mit ihrer Klasse das Tagebuch Anne Franks las, konnte nie aufgeklärt werden. Die Klasse, aus der viele der Befragten stammten, schwieg fortgesetzt trotz Einbezugs externer Gewaltund Mobbing-Expert/-innen. Letztlich konnte nur vermutet werden, dass nicht Schüler/-innen der Klasse, sondern evtl. aus den Parallelklassen oder gar Externe für die Bedrohung verantwortlich waren, und es blieb offen, ob Schüler/innensolidarität oder Angst verhinderte, dass der Name des Anrufers bekannt gegeben wurde. Mehrfach äußerten die Schüler/-innen den Wunsch, eine Schule mit mehr Deutschen oder außerhalb des Ortsteils Kreuzberg zu besuchen:
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„Am liebsten möchte ich auf einer Schule sein, wo nur Deutsche sind.“ (Melek) und „Hier an der Schule hab ich, merk ich auch, ich hab meine Deutschsprache richtig verschlechtert. Die hier an der Schule sprechen auch nicht richtig Deutsch. Da passt man sich richtig an. Ich konnte früher viel besser reden.“ (Tarik).
Die Schüler/-innen sind sich also der bildungsbenachteiligenden Strukturen, die den Kompetenzerwerb im Deutschen schmälern und die Lernatmosphäre stören, durchaus bewusst und bewerten sie kritisch. Selbst Cem als Wiederholer und mit einer hohen Anzahl unentschuldigter Fehlzeiten und Verspätungen auf dem Zeugnis, beklagt das geringe schulische Leistungsniveau und vergleicht es mit befreundeten Schüler/-innen anderer Schulformen. Dabei spricht er Normenkonflikte der Schüler/-innen, aber auch Defizite der Schule im Umgang mit Regelbrüchen an: „Die Schüler könnten besser sein. Die Leistung könnte besser sein, mehr Disziplin. Die Regeln könnten noch verstärkter sein. Weil den Stoff, was wir hier machen, in der 10. Klasse, haben die Gymnasiasten oder Realschüler schon längst hinter sich. Schon in der 9. oder 8. Klasse. [...] Ich hab Freunde, die das Robert-Koch oder die die Borsig-Schule besuchen und da vergleichen wir.“ (Cem)
Einige Schüler/-innen äußern Kritik an der Schule bezüglich der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft, der Unterrichtsorganisation und am Schultyp, streben jedoch einen Wechsel nicht (mehr) an, da sie sich im letzten Jahr der allgemeinbildenden Schule befinden. Die Klassenzusammensetzung mit überwiegend Jugendlichen türkischer Herkunftssprache wird negativ für die eigene Leistungsentwicklung gesehen: „Als ich neu an dieser Schule war, war ich gut, aber jetzt nicht mehr. Hier sind ja alles Türken, deshalb.“ (Ayúe)
Ein hoher Unterrichtsausfall wird zudem als leistungsmindernd wahrgenommen: „Das gefällt mir, aber es fehlen zu viele Lehrer. Wir kommen nicht weiter, was wir gelernt haben, vergessen wir wieder.“ (Sevda)
Betrachtet man die Gruppe der Schüler/-innen, die nicht von Anfang an im Jahrgang waren – die Rückläufer/-innen Reyhan, Ayúe, Zeynep, Necla, Manal, die Wiederholer/-innen Cem, Layla und Melek und der unfreiwillig an die Schule gewechselte Tarik – so fällt auf, dass unter ihnen im Vergleich zur Gesamtgrup-
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pe der Befragten mehr Unzufriedenheit festzustellen ist. Dies entspricht der in der Bildungsforschung oftmals betonten Frustration von Rückläufer/-innen und Wiederholer/-innen; dennoch ist die soziale Einbettung der befragten Schüler/innen überwiegend positiv, indem sich die meisten von ihnen der Schule zugehörig fühlen. Vermutlich kann das Schulklima trotz der beklagten leistungsmindernden Aspekte einen Ausgleich durch die sozialen Prozesse herstellen. Zudem bietet die Möglichkeit, innerschulisch den Mittleren Schulabschuss zu absolvieren, mehr Perspektive als eine reine Hauptschule, wenn auch das Ziel von den meisten nicht erreicht wird. 5.3.2.3 Unentschuldigte Fehlzeiten als Normalfall Die Auswertung der Interviews und Schülerakten zeigt Fehlzeiten und Verspätungen als einen bedeutenden Aspekt der Bildungsbenachteiligung auf (vgl. Tabelle 5). Bei den meisten befragten Schüler/-innen fällt auf, dass sie bereits von der ersten Klasse an unentschuldigte Fehltage und zahlreiche Verspätungen hatten. Die Praxis der einzelnen Schulen im Umgang mit Zeugnisvermerken zu unentschuldigten Fehlzeiten, Tadeln und rügenden Einträgen ist jedoch unterschiedlich. Am Beispiel von Tarik zeigt sich, dass viele Elterngespräche geführt und schriftliche Informationen über z.T. aggressives Fehlverhalten im unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Bereich verschickt wurden, aber dennoch allenfalls eine Bemerkung in die Zeugnis-Kopfnote (Bemerkungen zum Arbeits- und Sozialverhalten) einfließt. Manche Akten enthalten Briefe an Eltern wegen unentschuldigter Fehlzeiten, dennoch tauchen diese Versäumnisse im Zeugnis nicht als solche auf. Diese Praxis im Gegensatz zu der Dokumentation von Fehlzeiten weist darauf hin, dass das Problem eher unterschätzt wird und der Umgang damit von Schule zu Schule und Lehrer/-in zu Lehrer/-in unterschiedlich ist. Hinzu kommt die Regelung, dass im letzten Zeugnis des 10. Schuljahres die Fehlzeiten nicht mehr aufgelistet werden dürfen, was zu massiven Fehlzeiten im letzten Schulhalbjahr führt, die in der folgenden Tabelle nicht enthalten sind.
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Fehltage (FT)
unentschuldigte FT
Fehlstunden (FS)
unentschuldigte FS
verspätet
rügende Einträge
Tadel
Ozan
m
149
62
129
91
56
68
0
Ayúe
w
99
41
92
83
38
0
0
Manal
w
150
49
153
82
195
12
2
Abdul
m
57
5
30
10
50
30
0
Cem
m
135
65
123
90
358
0
4
Reyhan
w
339
103
255
218
142
24
3
Gülcan
w
101
17
10
2
14
0
0
Rabia
w
100
18
11
5
100
32
0
Sinan
m
50
9
8
4
9
3
Name
Geschlecht
Tabelle 5: Fehlzeiten und Einträge der befragten Schüler/-innen in der Schullaufbahn von der 1.- 10.Klasse (eigene Erhebung)
1
0
8
40
36
63
viele
einige1
33
17
18
16
65
24
0
w
106
63
92
75
98
35
0
Murat
m
45
5
16
6
34
0
0
Necla
w
88
14
6
6
17
0
0
Zeynep
w
104
5
14
4
49
0
0
Zahira
w
225
114
102
69
152
0
0
Sevda
w
265
33
94
62
73
0
0
Tarik
m
84
Melek
w
Akte weg
Pinar
w
Akte weg
Khaled
m
Layla
1
aus schriftlichen Protokollen und Elternbriefen, jedoch nicht aus Zeugnissen entnehmbar
Quelle: Schulakten, eigene Erhebung
Die tabellarische Aufstellung zeigt, dass alle Schüler/-innen unentschuldigte Fehlstunden und/oder Fehltage und Verspätungen aufweisen. Ein knappes Drittel
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der Schüler/-innen hat mit einer Spanne von 98 bis 358 eine hohe Anzahl an Verspätungen im Laufe ihrer allgemeinbildenden Schulzeit angesammelt. Acht Schüler/-innen haben zwischen 33 und 114 unentschuldigte Fehltage, fast ebenso viele zwischen 36 und 218 unentschuldigte Stunden. Einige haben insgesamt hohe Fehlzeiten, die sich aus entschuldigten und unentschuldigten Zeiten zusammensetzen. Wenn bei einem Kind wie Rabia bereits in der ersten Klasse von 22 Fehltagen 11 unentschuldigt sind und 9 Verspätungen im Zeugnis vermerkt sind, dann gibt es mehrere Interpretationsmöglichkeiten, die durch konkrete Hinweise in der Schulakte gestützt werden. Unentschuldigte Fehltage entstehen häufig durch vorzeitige Reisen ins Heimatland der Eltern oder einer verspäteten Rückkehr aufgrund günstigerer Flugpreise außerhalb der Ferienzeiten. Da der Familienzusammenhalt eine hohe Bedeutung hat, entstehen auch unentschuldigte Tage durch plötzliche Reisen aufgrund von Unfällen und Krankheiten entfernt lebender Familienmitglieder. So sind in der Schulakte von Reyhan mehrere Beurlaubungsanträge vor Ferienbeginn zu finden, die zum Teil mit der Erkrankung von Familienmitgliedern in der Türkei begründet werden. Sie hatte bereits in den mehrfach gewechselten Grundschulen auffallend viele Fehlzeiten und Verspätungen und kommt im Laufe ihrer Schullaufbahn auf 339 Fehltage und 255 Fehlstunden, davon 103 Tage und 218 Stunden unentschuldigt. Hinzu kommen 142 Verspätungen. Umgerechnet hat sie damit knapp zwei Jahre Unterricht verpasst! Die Pädagog/-innen an der Schule sehen vor allem bei Mädchen immer wieder das Problem, dass sie zu Hause die kleineren Geschwister betreuen müssen, wenn die Mutter krank ist oder Termine hat. Des Weiteren werden Behördenund Arztgänge (Ausländerbehörde, Bürgeramt, Jobcenter), bei denen die Kinder und Jugendlichen als Dolmetscher/-innen für ihre Eltern fungieren, als Ursache von unentschuldigten Fehltagen benannt. Unentschuldigte Tage sind auch ein Zeichen dafür, dass die Eltern nicht in der Lage sind, den Kindern schriftliche Entschuldigungen mitzugeben oder unwissend über die Konsequenzen (Schulversäumnisanzeige, Negativauslese bei Bewerbungen) sind. Zum Teil sind sie auch nicht informiert, wenn Stunden und Tage geschwänzt und außerhalb des Unterrichts zugebracht werden. Verspätungen entstehen im Grundschulalter dadurch, dass die Kinder zu spät geweckt oder von Geschwistern zur Schule begleitet werden, die verspätet sind oder einen anderen Unterrichtsbeginn haben. Insgesamt wird damit vielen Schüler/-innen von zu Hause schon früh der Eindruck vermittelt, dass ihre kontinuierliche und pünktliche Anwesenheit in der Schule nicht so wichtig ist bzw. anderen Prioritäten unterliegt. Dementsprechend ist es dann nicht verwunderlich, dass mit zunehmender Eigenständigkeit der Schüler/-innen die Fehlzeiten in der
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Oberschule zunehmen und sie den Überblick über ihre tatsächlichen Fehlzeiten und Verspätungen verlieren. So ergibt die Nachfrage bei drei Mädchen zur Ursache ihrer aktuellen Fehlzeiten, dass der Kummer der Freundin Anlass war, im nahegelegenen Park und im Café den Tag mit Problembewältigung anstatt mit Unterricht zu verbringen. Sportlehrer/-innen berichten, dass die monatliche Menstruation bei vielen Mädchen als Krankheit empfunden wird, die die Teilnahme am Sportunterricht unmöglich erscheinen lässt und das Unwohlsein eine gefühlte Berechtigung zum Fernbleiben vom gesamten Unterrichtstag erzeugt. Manche Mädchen fühlen sich dauerhaft krank, sie somatisieren Konflikte, die aus dem Spannungsfeld von Rollenzuschreibungen durch die Familie und eigenen Bedürfnissen entstehen. Der heimliche Freund etwa muss außerhalb des Stadtteils und während der offiziellen Abwesenheit von zu Hause getroffen werden, um familiären Restriktionen zumindest vorübergehend zu entgehen. Bei den Jungen sind die Gründe, den Schultag außerhalb der Schule zu verbringen, schwerer zu erkunden. Sichtbar sind sie im öffentlichen Raum jedoch eher als die Mädchen, und die Orte, an denen sie sich aufhalten, sind überwiegend actionorientiert. Internetcafés bieten abenteuerliche Abwechslung, denn sie sind sowohl ein Treffpunkt für schulmüde Jungen, arbeitslose Jungmänner als auch Umschlagplätze für Drogen und Hehlerware und bieten den Zugang zum Internet. Im Kaufhaus lockt die Spielwarenabteilung mit den Spielkonsolen, und Gleichgesinnte leisten Gesellschaft. Schnell verlieren sie den Überblick über den Umfang ihrer stunden- oder tageweise versäumten Unterrichtszeiten. Zum Beispiel behauptet Khaled, ein Schüler mit vergleichsweise geringen Fehlzeiten, gar keine zu haben. Sein Zeugnis, das er kurz vor dem Interview erhalten hatte, enthielt jedoch drei unentschuldigte Tage, zwei unentschuldigte Fehlstunden und vier Verspätungen. Tarik, der behauptete, sich sehr selten zu verspäten und sehr wenige Fehlzeiten zu haben, hatte im Vorjahr 28 unentschuldigte Einzelstunden und 22 Verspätungen und im, nur wenige Wochen vor dem Interview ausgehändigten Zeugnis, je zwei unentschuldigte Tage und Einzelstunden sowie fünf Verspätungen. Tragisch ist, dass die Schüler/-innen sehr wohl wissen, welche Konsequenzen Fehlzeiten auf dem Zeugnis haben. Jede/r der befragten Schüler/-innen konnte mir die Konsequenzen bei Bewerbungen benennen. Diese wurden ihnen während der zahlreichen Betriebsbesichtigungen durch die Ausbildungsleiter/innen ausführlich erläutert. Dennoch hat es keine Konsequenz auf ihr Alltagshandeln.
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5.3.2.4 Mangelnde Ressourcenausstattung der Schule Welche Ressourcen bietet nun die Fallstudienschule? Dort kann zunächst von gleichen materiellen Ressourcen ausgegangen werden, wie sie andere Schulen derselben Schulform im Land Berlin zur Verfügung haben. Durch den hohen Anteil an Schüler/-innen mit Lernmittelbefreiung und „nicht-deutscher Herkunftssprache“ gibt es sogar bessere personelle Ressourcen für die schulische Sprachbildung als an Schulen ohne diese Kompositionsmerkmale. Dennoch können, wie bereits beschrieben, keine landesdurchschnittlichen Leistungen bei den Prüfungen des Mittleren Schulabschlusses im Vergleich mit derselben Schulform erbracht werden. Dies ist ein Zeichen für eine dem Bedarf nicht gerechte, bzw. mangelnde Ressourcenausstattung und der Wirkung der unterdurchschnittlichen sozioökonomischen Ressourcen der Schüler/-innenschaft. So erreichten an der Schule im Jahr 2010 von 82 Schüler/-innen insgesamt und von 43 zur Prüfung Verpflichteten nur elf den Mittleren Schulabschluss. Darüber hinaus zeigen folgende Zahlen, dass die Bestehensquote des MSA mit 24% im Gegensatz zur Jahrgangsnote mit 78% vergleichsweise gering ist (vgl. Tabelle 6).6 Tabelle 6: Bestehensquoten des MSA im Vergleich MSA
Prüfungsteil
Jahrgangsteil
Berlin (alle Schulen)
88%
91%
93%
Berlin (alle Hauptschulen)
45%
49%
79%
Bezirk (alle Hauptschulen)
37%
39%
85%
Fallstudien-Schule (Bestehensquoten)
24%
27%
78%
Quelle: Institut für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg, MSA 2010
Der Berliner Vergleich verdeutlicht, dass das Leistungsniveau der Schule, ausgedrückt in den vergebenen Jahrgangsnoten, niedrig ist. Diese sind wiederum entscheidend über das Anrecht zur Teilnahme an den Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss. Zudem zeigen die Daten in Tabelle 7, dass an der Schule sowohl
6
Der mittlere Schulabschluss besteht aus Jahrgangsnoten (Zeugnisnoten) und zentralen Prüfungen in Deutsch, Englisch, Mathematik sowie einer Präsentationsprüfung. Bestehensquoten beziehen sich auf die Anzahl der prüfungsberechtigten Schüler/-innen.
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der Jungenanteil wie auch der Anteil an Schüler/-innen türkischer Herkunftssprache überdurchschnittlich hoch sind. Der Berliner Vergleich der Schulart zeigt eine fast doppelt so hohe andere Herkunftssprache wie die deutsche an der Fallstudienschule.
Fallstudienschule (Haupt- und Realschule)
Bezirk Schulart (Hauptschule)
Berlin Schulart (Hauptschule)
Berlin gesamt (alle Schularten)
Tabelle 7: Verpflichtete MSA-Teilnehmer/-innen (max. N=45)
45
71
521
16899
Anteil Jungen
64%
51%
58%
49%
Deutsche Herkunftssprache
7%
20%
54%
74%
Türkische Herkunftssprache
51%
39%
23%
11%
Andere Herkunftssprache
42%
41%
23%
15%
Schülerinnen und Schüler Stammdaten
Quelle: Institut für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg, MSA 2010
Kurz gefasst wird mit diesen Zahlen folgendes deutlich: Es besteht eine hohe ethnische Segregation, ein geringes Leistungsniveau und die überwiegend männliche Schülerzahl bestätigt die Konzentration der in anderen Bildungsstudien als Bildungsverlierer befundenen Jungen mit Migrationshintergrund an der Fallstudienschule (vgl. Geißler 2008; Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008; Alba, Handl & Müller 1994). Der von einigen Schüler/-innen beklagte Unterrichtsausfall und die Verminderung des Lernzuwachses durch unterrichtsstörendes Verhalten von Mitschüler/-innen, verweist darauf, dass die Schule nicht genug Ressourcen bietet, mangelnde Aspirationen bzw. peergruppengesteuerte oder aufgrund familiärer Defizite verursachte Verhaltensauffälligkeiten aufzufangen und in Lernerfolg umzuleiten. Dieser Ressourcenmangel ist im Detail nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Auf die grundsätzliche Problematik von großen Klassen und des Mangels
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an z. B. naturwissenschaftlichen Fachkräften in deutschen Haupt- und Realschulen wurde jedoch bereits im Rahmen der PISA-2006-Studie (Senkbeil, Drechsel & Schöps 2007: 187) hingewiesen. Andererseits bieten vor allem Ganztagsschulen wie im Beispiel der Fallstudie Ressourcen über das Unterrichtsgeschehen hinaus. Neben einem Angebot an vielfältiger Beratung und Unterstützung zur Persönlichkeitsentwicklung gibt es einige außerschulische (institutionelle) Kooperationspartner/-innen (vgl. Kapitel 5.1), die in der Schule, im Quartier und über ein stadtweites Netz die Ressourcen stärken. Layla, Mitglied einer sozialintegrativen Gruppe eines freien Trägers der Jugendhilfe im Quartier, stellt die Vorzüge hervor: „Ja, übertrieben, die helfen da richtig mit. Ich meine, Beispiel die sagen sogar, macht jetzt die Hausaufgaben, wenn wir mal keine Lust haben, sagen die zu uns: macht mal jetzt, das müsst Ihr doch machen. Fragen auch nach Ausbildung, ob wir schon einen Platz haben oder Bewerbungen, die wir noch schreiben sollen. Die unterstützen schon einen richtig.“ (Layla)
Diese engmaschige Betreuung ist jedoch nicht der Regelfall, da sie einzelfallbezogen begründet und beim Jugendamt beantragt werden muss, obwohl viele Jugendliche diese verbindliche Betreuung nötig hätten. 5.3.3 Der Einfluss des Quartierskontextes auf die Bildungslaufbahn der Jugendlichen Wie im Kapitel zur Segregationsforschung dargelegt wurde, wird für die Wirkung von Quartierseffekten eine Reihe von Bedingungen vorausgesetzt. Peergruppen können die in einem Quartier dominanten Werte und Normen verbreiten und sich damit soziale Anerkennung sichern (Wilson 1987, Häußermann 2007a). Vor allem die Jungen halten sich häufiger im Straßenraum und auf anderen öffentlichen Flächen auf, da bei den oftmals kinderreichen Familien der Wohnraum sehr beengt ist. Dort besteht die Gefahr, negativen Sozialisationseffekten ausgesetzt zu sein, sofern die Erfahrungs- und Kontaktbereiche vorwiegend lokal orientiert sind. Von Bedeutung ist daher bei der Frage möglicher Quartierseffekte, die sich auf den Schulerfolg auswirken, ob der Aktionsradius der Jugendlichen vorwiegend auf das Quartier begrenzt bleibt, mit wem sie ihre Freizeit verbringen und wie sie ihre Umwelt wahrnehmen. Können oder müssen sie sich vor negativen Einflüssen schützen (Drogen, Gewalt, Rassismus)? Inwiefern können sie den Raum selbstbestimmt nutzen, und sind Areale des öffentlichen Raums zu meiden, weil sie als bedrohlich gelten? Oder versuchen die Jugendli-
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chen, insbesondere Jungen, die Kontrolle auf der Straße (mit Gewalt) zu gewinnen, weil sie ansonsten wenig Kontrolle über ihre Lebenschancen haben? Werden sie – insbesondere die Mädchen – vom außerhäuslichen Raum fern gehalten, um der Gefahr von Übergriffen und Angriffen auf die Ehre der Familie zu entgehen? Jugendliche in benachteiligten Quartieren erleben häufig die Resignation von Heranwachsenden, die nach berufsvorbereitenden Maßnahmen und dem häufigen Gang zum Jobcenter (verbunden mit teilweise drohenden Kürzungen der ALG-II-Leistungen) den Glauben an eine Lebensperspektive inklusive einer qualifizierten Berufstätigkeit verloren haben. Als Überlebensstrategie können Normabweichungen und delinquentes Verhalten entwickelt werden, die wiederum die Symbolik des Ortes prägen und eine Stigmatisierungsgefahr bedeuten. Wie wirkt sich in der Folge der Ruf der Wohn- und Schulorte bei der Suche nach einem Betriebspraktikum oder einem Ausbildungsplatz aus? Der Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen spielt eine Schlüsselrolle bei der Stigmatisierung eines Wohnortes. So kann die Arbeitslosenzahl eines Wohnorts zur Stigmatisierung führen und die Arbeitslosigkeit in eine Langzeitarbeitslosigkeit überführen. Möglich ist auch eine Stigmatisierung der Bewohner/-innen durch ihre ethnische Herkunft und religiöse Orientierung, eine Wohnortstigmatisierung durch Moscheen und eine ethnische Infrastruktur (Häußermann & Siebel 2007). Letztlich können Schwierigkeiten bei der Einmündung in Ausbildung und Beruf entstehen. In den Interviews wurde daher danach gefragt, wie die Schüler/-innen ihre eigene Situation bewerten, wie sie mit Einflüssen umgehen und ob es zutrifft, dass sie sich vorwiegend im Wohnquartier und Umfeld der Schule, die sich in den meisten Fällen überschneiden, aufhalten? Zeigen sich geschlechtsspezifisch unterschiedliche Bewertungen des Quartiers und Stadtteils, und welche Auswirkung hat das Quartier auf Normen und Werte, die den Bildungserfolg beeinflussen können? Erfahrungen der Schüler/-innen bei der Betriebspraktikums- und Ausbildungsplatzsuche und Einblicke in einige Bildungsbiografien über die allgemeinbildende Schulzeit hinaus werfen Fragen nach möglichen Stigmatisierungsprozessen auf. 5.3.3.1 Lokaler Aktionsraum mit geschlechtsspezifischer Differenz Um zu überprüfen, ob die vermutete lokale Orientierung der Schüler/-innen tatsächlich zutrifft, wurden ihre sozialen Netzwerke auf der Ebene der Kontakte mit anderen Jugendlichen, mit dem Wohnort der Freunde und der Örtlichkeit gemeinsamer Unternehmungen erfragt. Wie bereits das Kapitel über die Sprachanwen-
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dung gezeigt hat, ist der Freundeskreis der Jugendlichen überwiegend eigenethnisch orientiert bzw. haben sie aus Mangel an Möglichkeiten wenig Kontakt zu autochthonen Deutschen. Es stellt sich die Frage, ob die Freundschaften gleichzeitig auf das Wohnquartier und die Schulumgebung konzentriert sind und wie der Radius gemeinsamer Unternehmungen festgelegt ist. Während die meisten Jungen Freunde in mehreren Bezirken haben, die allerdings von der Sozialstruktur her ähnlich bewertet werden können – in der Regel sind es die multiethnisch geprägten Ortsteile Kreuzberg, Wedding und Neukölln – sind die Mädchen in ihren Freundschaften stark wohnort- oder bezirksgebunden. Nur fünf von zwölf haben Freund/-innen in einem oder mehreren Stadtteilen außerhalb Kreuzbergs und fünf geben ihre Freundschaften ausschließlich in der Nachbarschaft, d.h. im Haus und in der Straße an. Die Mädchen verbringen ihre Freizeit häufiger nicht nur mit Freund/-innen sondern oftmals mit Cousinen und Cousins, d.h. in verwandtschaftlichen Strukturen. Ihr Aktionsradius konzentriert sich ebenfalls auf die Nachbarschaft abgesehen von einigen Aktivitäten wie Kinobesuche, Einkäufe oder Verwandtschaftsbesuche, die hin und wieder außerhalb stattfinden. Auch wenn die Jungen Freund/-innen in verschiedenen Stadtteilen angeben, ist bei ihnen der Aktionsraum hauptsächlich auf die Wohnortnähe bzw. den Bezirk beschränkt. Die Nennungen der Wohnorte der Freund/-innen und Aktionsradien zeigen damit bei beiden Geschlechtern ein eindeutiges Gewicht im nahen Wohngebiet und im Stadtteil Kreuzberg. Bei den Mädchen hängt die Mobilität aus dem Quartier hinaus von Verwandtschafts- oder Partnerschaftsbeziehungen außerhalb des Bezirkes ab. Dies ist der Fall bei Reyhan, und Ayúe, die jeweils mit einem jungen Mann aus einem anderen Stadtteil verlobt sind. Der überwiegende Verbleib im Wohngebiet wird von einigen befragten Schüler/-innen dahin gehend bewertet, dass sie sich im Quartier und in der Nachbarschaft sicherer fühlen als außerhalb. Rabia interpretiert die lokale Verortung nicht nur von Schüler/-innen sondern von ganzen Familien als Präventivmaßnahme, um Unsicherheiten bis hin zu Anfeindungen außerhalb von Quartier und Bezirk zu entgehen: „Die trauen sich nicht, aus dem Stadtteil raus zu gehen, irgendwas Neues zu sehen. Die haben dann irgendwie Angst, dass man dann vielleicht in einem anderen Bezirk, in einem anderen Stadtteil nicht akzeptiert wird. Weil, dann trauen sie sich auch nicht raus.“ (Rabia)
Auffallend ist, dass viele Jugendliche bei der Frage nach unsicheren Orten im Stadtteil eher auf Orte in der gesamten Stadt eingehen, die sie als unsicher emp-
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finden. Häufiger gab es die sofortige Assoziation mit rechtsradikaler Gefahr in Ostberliner Bezirken, den „Nazibezirken“, vor allem im Ortsteil Marzahn: „Na die hier, Nazibezirke ... Marzahn, Hellersdorf, war ich schon, will ich nicht dahin.“ (Tarik)
Damit überlagert die Furcht vor rechtsradikalen Angriffen die Bewertung lokaler unsicherer Orte, was zeigt, dass Kreuzberg als Wohn- und Schulstandort trotz einiger empfundener Nachteile vor allem den Bezirken im Ostteil der Stadt vorgezogen wird. Allgemeine Sicherheit, aber auch Verhaltenssicherheit wird am ehesten im eigenen Wohnbezirk empfunden. Geschätzt wird die Schutzfunktion eines Stadtteils, in dem eine kulturelle Heterogenität im Gegensatz zu überwiegend deutsch geprägten Stadtteilen, vorhanden ist: „Ich fühl mich sicher hier, weil, ich fühl mich einfach so, wenn ich jetzt woanders wäre, dann würde ich Angst haben, dass jemand mich angreift oder so, aber in Kreuzberg fühle ich mich sicherer.“ (Zahira)
Es bestätigt sich die Annahme, dass eine lokale Orientierung sowohl bei den Freundschaften als auch bei gemeinsamen Aktivitäten vorliegt. In Bezug auf die Möglichkeiten der Sprachverwendung des Deutschen zeigen sich einmal mehr Einschränkungen: Sie resultieren a.) aus dem überwiegenden Verbleib im Wohngebiet, b) einem vorwiegend eigenethnischen Freundeskreis, c) aus mangelnder Gelegenheit zu interethnischen Kontakten mit Autochthonen, d) aus Gründen der physischen Sicherheit und Verhaltenssicherheit und letztlich aus mangelnden materiellen Ressourcen, wie bereits im Kapitel 5.3 dargelegt. 5.3.3.2 Bewertung des Stadtteils a) Mädchen meiden bedrohlich wirkende Orte und Ansammlungen von Männern Bei den Fragen nach bedrohlichen oder unsicheren Orten im Stadtteil und den Nachteilen des Zusammenlebens im Stadtteil äußern vor allem die Mädchen negative Eindrücke. Streit, Gewalt, Drogenhandel und Jugenddelinquenz sind die am häufigsten genannten Themen, die Orte in Verbindung mit männlichen Jugendlichen und Männern als unsicher erscheinen lassen. Als gefährliche und zu meidende Orte werden mehrfach verschiedene Drogenumschlagplätze des Ortsteils Kreuzberg genannt:
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„Kottbusser Tor, da sind doch voll viele arabische und Hermannplatz auch, die ganzen arabischen Drogendealer, die machen einem voll dumm an.“ (Manal)
Ansammlungen männlicher Personen im öffentlichen Raum und in benannten Straßen werden nach Möglichkeit gemieden, um aufdringlichen Blicken oder Belästigung zu entgehen: „Zum Beispiel so gerne alleine würd ich niemals, mag ich nicht durch laufen, hier Schlesische und Wrangel und da rum diese Straßen da mag ich nicht. Weil es immer so voll mit Jungs dort ist und so. Und Ausländer, Araber, Türken, voll mit denen, mag ich dann nicht so hmm ... Sie gucken so. Wenn ich da in die Mädchengruppe gehe und zurück – nur in Begleitung, ich mag es nicht, nur mit Begleitung.“ (Layla)
Ein diffuses Gefühl allgemeiner Unsicherheit im öffentlichen Raum zeigen mehrere Äußerungen auf, die einen Gegensatz zwischen „drinnen“ (zu Hause) und „draußen“ (öffentlicher Raum) herstellen und auf unangenehme Erfahrungen im öffentlichen Raum schließen lassen: „Wenn man weiß, wie es draußen ist, dann will man auf jeden Fall zurück, nach Hause. Also wenn man weiß, wie es in Wirklichkeit ist, wie die Leute auch sein können, jetzt nicht schulische, dann will man wirklich nur zuhause sein. Dann weiß man auch, kann man diesen Wert schätzen.“ (Reyhan)
Medienberichte und Kenntnisse über gewalttätige Handlungen im Berliner Raum verstärken zudem das Unsicherheitsgefühl, selbst wenn keine eigenen Gewalterfahrungen thematisiert werden: „Sicher. Eigentlich, irgendwie in dieser Zeit jetzt kann man sich in gar keinem Stadtteil sicher fühlen. Man hört ja nur noch, man liest in den Nachrichten Missbrauch, Misshandlung, also sicher kann man sich nur zu Hause fühlen, so wirklich sicher.“ (Rabia)
Vor allem die Mädchen sehen sich Gefahren im Quartier und Orten darüber hinaus ausgesetzt. Problematisiert wird zudem die partielle Verwahrlosung des öffentlichen Raumes, die trotz regelmäßiger Reinigung nicht zu verhindern zu sein scheint. b) Peergruppenprozesse Die in der Quartiersforschung untersuchten Peergruppenprozesse mit der Gefahr ansteckenden delinquenten Verhaltens spiegeln sich in den von mehreren Schü-
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lern thematisierten Peergruppenprozessen und der Bandenbildung wider. Die Perspektivlosigkeit für Jugendliche „auf der Straße“ – synonym zu arbeitslos, ohne sinnvolle Beschäftigung und kriminell – spricht Tarik an: „Hab ich Scheiße gebaut, waren ... waren wir auf der Straße, hatten wir nichts zu tun, haben wir Mist gemacht. [...] Die meisten saßen auch im Knast. Ja, nicht mein Freund, also die Älteren.“ (Tarik)
Tarik zeigt inzwischen eine kritische Distanz zu delinquentem Verhalten und beschreibt die Gefahr des langfristigen Ausschlusses von beruflichen Ein- und Aufstiegsperspektiven und damit der Bedrohung durch Marginalisierung (vgl. 5.3, Fall Tarik) Auch Ozan war in der Vergangenheit in die „Schlesies“, eine Jugendbande um den schulnahen U-Bahnhof Schlesisches Tor, involviert, die deutlich delinquentes Verhalten zeigte: „Ah Diebstahl. [...] Laden auch. Einbrüche auch ... Körperverletzung [...] Räuberische Er... äh Abziehen [...]“ (Ozan)
Ozans Strategie, delinquentes Verhalten zu vermeiden, bezieht sich auf die Umgehung von Orten, an denen er bereits in Banden involviert war und darauf, sich von der Bandenkultur zu distanzieren: „Schlesisches Tor. [...] Die Idioten, die einen auf Cool tun, die Gangs und so alle.“ (Ozan)
Khaled dagegen befindet sich im Strudel von Peergruppenprozessen, die seine berufliche Zukunft gefährden. Der Diebstahl eines Handys und eines Notebooks während seines Betriebspraktikums wurde von ihm zwar bereuend kommentiert: „Ich bin da in Verführung gekommen. Ich hätte mich zurückhalten sollen.“ (Khaled)
Die Eltern betonten jedoch im Gespräch, dass Khaled sowohl über ein neues Handy wie auch einen PC verfüge und einen Diebstahl gar nicht nötig hätte. Sie interpretieren sein Fehlverhalten dahingehend, dass er im Auftrag von „schlechten Freunden“ auf der Straße gehandelt habe. Damit zeigt sich bei den Jungen, dass sie sich stärker mit Sozialisationsprozessen und Dynamiken im öffentlichen Raum auseinandersetzen müssen. Sie sind gezwungen, eine Strategie zu finden, um mit Bedrohungen umzugehen: Sie zu meiden oder aktiver Teil des bedrohli-
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chen Systems zu werden. Die Mädchen dagegen sind stärker von sozialer Kontrolle betroffen und meiden, wie bereits beschrieben, bedrohlich wirkende Orte und Menschen. c) Soziale Kontrolle der Mädchen Soziale Kontrolle im Stadtteil hat verschiedene Facetten. Sie besteht aus der eigenethnischen nachbarschaftlichen wie auch verwandtschaftlichen Beobachtung sowie Einmischung in Verhaltensformen. Diese wird von Reyhan eher allgemeiner beschrieben: „Nachteil, es sind zu viele davon [Türken]. Man kennt sich, jeder weiß schon von den anderen.“ (Reyhan)
Manche Mädchen benennen die soziale Kontrolle als Nachteil des Stadtteils und konkretisieren diese vor allem im Umgang mit Jungen: „Nachteil ist, wenn man einen Freund hat, muss man sich verstecken. Man kann sich nicht draußen treffen und muss weiter weg gehen.“ (Zeynep)
Gleichzeitig wird die Konzentration des Verwandtschaftsnetzwerkes auf ein Quartier und einen Stadtteil als vorteilhafter gesehen, als wenn es auf mehrere Stadtteile verteilt wäre: „Wenn die einen [mit einem Jungen] sehen, dann rennen die gleich zu meinem Opa. Aber ist auch gut, dass sie nicht gemischt sind, weil, sonst weiß man nicht, wo man sich [mit dem heimlichen Freund] treffen soll.“ (Zahira)
Es kommt immer wieder vor, dass männliche Familienmitglieder, Verwandte oder der Freund auf dem Schulhof die Anwesenheit eines Mädchens kontrollieren wollen, sofern sie Zweifel an den Angaben der Mädchen über die Länge der Unterrichtstage haben. Häufig betrifft dies abweichende schulische Tagesabläufe aufgrund von Prüfungen, Projekttagen oder Exkursionen. Diese Kontrolle trägt wiederum zu dem bereits im Kapitel 5.3 beschriebenen Eindringen des Quartiers in Schule und Familie bei. Jedoch nicht nur die Mädchen berichten von sozialer Kontrolle, sondern auch einige Jungen. d) Soziale Kontrolle der Jungen „Negativ ist, dass viele meinen Vater kennen.“ Mit diesen Worten leitet Khaled die Klage ein, dass sein Vater im Stadtteil bekannt sei und dieser bei öffentlich
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wahrgenommenem Fehlverhalten informiert werde. Hier zeigt sich die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Wirkungsmöglichkeit von Kontrolle. Bei Jungen wie Khaled wird im Quartier durch die soziale Kontrolle des Verwandtschafts-, Nachbarschafts- und Bekanntenkreises der Eltern delinquentem Verhalten etwas entgegen gesetzt. Dass er dennoch in delinquente Strukturen gerät, mag eine Folge der mangelnden Konsequenz der Eltern sein. Im Beratungsgespräch benennen sie die vorgeschriebene tägliche Heimkehrzeit ihres Sohnes mit 18 Uhr, im Interview dagegen gibt Khaled 22 Uhr an. Auch Sinan erwähnt im Zusammenhang mit dem unterschiedlichen Verhalten von Jugendlichen im familiären und außerfamiliären Kontext (Schule, öffentlicher Raum) die mögliche soziale Kontrolle, die jedoch häufig zu versagen scheint: „Ich benehme mich genauso zu Hause wie in der Schule. Nur weil Schule paar fremde Menschen sind, habe ich kein Recht, mich affenartig zu benehmen, also, machen ja viele hier. Die Leute die sich hier schlecht benehmen, sind zu Hause wie Katzen. ... Er ist zuhause ein guter Junge. Ja, ja kennen wir den guten Jungen. Aber auf der Straße oder in der Schule sind sie halt, wie ... besser gesagt wie Urmenschen. Erlebe ich immer öfter auf der Arbeit. Die Leute, die ich kenne, auch die Familien kenne, also die benehmen sich so krass, also kann man gar nicht vorstellen, wie er zu Hause ist. Also wenn er zu Hause so etwas machen würde, oder wenn sein Vater etwas hören würde, wie er sich draußen so benimmt, oder irgendwo anders, wo andere Menschen sind, wäre es ein großes Problem für ihn.“ (Sinan)
Der Wunsch der Eltern und Familien nach sozialer Kontrolle der Jungen durch Nachbarschafts- und Verwandtschaftsnetze im Stadtteil besteht, dennoch scheinen die Möglichkeiten für Jungen, dieser Kontrolle zu entgehen bzw. ohne Konsequenzen bei Fehlverhalten davon zu kommen, größer als bei den Mädchen zu sein. Andererseits gibt es Vorteile des großen Verwandtschafts- und Nachbarschaftsnetzes, die für den Alltag geschätzt werden. 5.3.3.3 Vor- und Nachteile der Bewohner/-innenstruktur a) Bewertung der Zusammensetzung der Bewohner/-innenschaft Bewertungen zur Zusammensetzung der Bewohner/-innenschaft erfolgten sowohl bei der Frage nach den Vor- und Nachteilen des Stadtteils wie auch bei der Frage, ob viele Migrant/-innen in einem Stadtteil zusammen wohnen sollen. Bei der Abwägung von Vor- und Nachteilen äußerten sich mehr als die Hälfte der Schüler/-innen kritisch, wobei sie unterschiedliche Aspekte beleuchteten. Mehrere beklagen sich, dass es kaum Deutsche im Wohnumfeld wie auch in der Schule gibt und dadurch sprachliche Nachteile entstehen:
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„Weil damals hatte ich noch in Reinickendorf gewohnt, da waren alle Deutsche, ich konnte perfekt Deutsch und hier in Kreuzberg hab ich alles verloren. Ich kann nicht mehr gut sprechen.“ (Ayúe)
Rabia setzt dem Vorteil der Verwendung der Landessprache der Herkunftsländer die „Gewohnheit“ der Migrant/-innen, eher ihre Landessprache als die deutsche Sprache zu verwenden, kritisch gegenüber: „Der Vorteil ist, nee also das gehört zum Vorteil und zum Nachteil. Dass, ich finde hier allgemein in Kreuzberg und Neukölln wird zu wenig Deutsch gesprochen. Jetzt mit der Sprache ja auch. In jeder Ecke hört man Türkisch, Arabisch. Halt war nicht üblich, dass man, dass Freunde, eine Clique unter sich Deutsch spricht. Das ist ähm so ein Nachteil.“ (Rabia)
Die Bewertungen reichen vom Befremden durch den Mangel an Deutschen bis hin zu Interpretationen. Einige Schüler/-innen nehmen eine Außenperspektive ein, indem sie sich in die Situation der „Deutschen“ oder nicht in Kreuzberg ansässigen hinein versetzen: „Ist zwar schön, aber man könnte sich besser auf alle Bezirke aufteilen. Die Deutschen haben doch keine Lust hier zu spazieren, wenn nur Türken und Kurden da sind. Komisch ist, dass auch die Geschäfte nicht Deutsch sind.“ (Zeynep)
Damit zeigt sich eine recht differenzierte Sichtweise der Schüler/-innen auf die Vor- und Nachteile der ethnischen Zusammensetzung der Bewohner/-innenschaft. b) Streit unter verschiedenen Ethnien – Kampf um knappe Ressourcen Die Befunde von Friedrichs und Triemer (2008) ergeben, dass je zahlreicher die ethnischen Gruppen in einem Wohngebiet sind, desto größer der Kampf um knappe Ressourcen wie Wohnungen und Arbeitsplätze ist und mit einem Bedrohungsgefühl bei den Einheimischen einhergeht. In der Fallstudie zeigt sich jedoch ein etwas anderes Bild. Nachteile des Zusammenlebens von vielen Migrant/-innen in einem Stadtteil werden von den Schüler/-innen im Streit unter verschiedenen ethnischen Gruppen gesehen, wobei Konflikte mit Deutschen keine Rolle spielen. Konflikte unter Ethnien werden in Bezug auf den eigenen Stadtteil wie auch auf andere mit einer ähnlichen migrantischen Bevölkerungszusammensetzung thematisiert:
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„Dann zum Beispiel in Kreuzberg, so in manchen Stadtteilen wohnen sehr viele Araber und Kurden. Und manche verstehen sich gar nicht gut und stressen sich.“ (Abdul)
Allerdings wirkt bei den Jungen der Heimvorteil, dass dort, wo sie bekannt sind, sich Konflikte eher regeln lassen. Der in Kreuzberg wohnende Sinan beschreibt dagegen seine Ausflüge ins benachbarte Neukölln als unangenehm und grenzüberschreitend: „Neukölln. Mag ich gar nicht. [...] Teils arabische und teils türkische auch. Also wie sie sich dort benehmen und so, habe ich kein Bock drauf, ehrlich zu sagen. [...] Hier zum Beispiel [Kreuzberg] wenn man auf der Straße rum läuft. O.k. paar Sachen kommen schon vor, also sagen wir mal so hinterher schreien, wat weiß ich. Aber dort [Neukölln] ist es zu hoch, sagen wir mal. Also sogar wenn ein Junge dort hingeht wird hinterher gepfiffen oder geschrien oder irgend so was, keine Ahnung.“ (Sinan)
Die Bewertungen der Jugendlichen geben einen Hinweis darauf, dass Konfliktpotential vor allem unter den verschiedenen ethnischen Gruppen herrscht. c) Vorteile der ethnischen Community Die meisten Schüler/-innen benennen neben einigen Nachteilen Vorteile des Stadtteils, die mit der Infrastruktur der ethnischen Community und verwandtschaftlicher Solidarität zusammenhängen. Große Verwandtschaftsnetze geben Sicherheit im Alltag, wobei einige Schüler/-innen in der dritten Person über die Vorteile des Zusammenlebens im Quartier sprechen. Dies weist weniger auf eine distanzierte Betrachtung als auf die holistische Familienkultur hin, in der die Jugendlichen durchaus eine Außenperspektive einnehmen können, ihre Interessen der familiären Gemeinschaft jedoch unterordnen. „Ja, sie helfen sich gegenseitig. Die unterstützen sich gegenseitig bei vielen Dingen im Alltag.“ (Khaled)
Beispielhaft werden belastende Situationen wie Krankheit, Unfälle und Altern aufgezählt, in denen auf ein Verwandtschaftsnetz im Stadtteil bzw. eine ethnische Infrastruktur gezählt werden kann: „Meine Mutter ist sehr krank und dass wir jetzt dahin umgezogen sind, ist deswegen, dass die Verwandten da sind. Sie soll sich nicht alleine fühlen, sie kann jederzeit hin.“ (Reyhan)
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Auch das Sprachproblem mit Verständigungsschwierigkeiten im Deutschen vieler älterer Arbeitseinwanderer/-innen ist ein Grund, in einem eher eigenethnisch geprägten Umfeld zu wohnen: „Also die Vorteile für die Leute die keine deutsche Sprache beherrschen, für die ist es ganz gut, weil sich zu verteidigen oder sich zu äußern also, zum Reden einfach ist es ganz leicht, weil viele Ausländer sind ja auch, zum Teil sind viele Türken. [...] Die Leute sagen immer, sie sind 60 Jahre alt, die nicht mehr lernen können oder nicht mehr lernen möchten. Für die ist es ganz gut, also die, für die alten Leute.“ (Sinan)
Mehrere Schüler/-innen äußern ihr Wohlbefinden dahin gehend, dass sie im Stadtteil oder am Wohnort viele Bewohner/-innen kennen: „Also dass meine Freunde da alle wohnen. Man kennt sich überall. Auch da wo man einkaufen geht, dann kennt man sich. [...] Nachteile? Gibt’s keine. [...] Ich mag einfach die Gegend.“ (Tarik)
Manche differenzieren stark zwischen der Bewertung des Stadtteils und des Quartiers bis hin zum Wohnhaus: „Die meisten denken, na ja Kreuzberg und dann irgendwie kannste vergessen. Ich find’s eigentlich nicht so schlimm. Kommt darauf an, wo in Kreuzberg, also hier in die Naunynritze würde ich auch nicht so, würd ich auch nicht wohnen oder genau am Kotti oder so. Aber Moritzplatz oder so ist eigentlich ganz o.k. Da sind nicht so viele Jugendliche, ich versteh mich fast mit allen, ich kenn dort jeden fast. Ist o.k. Und da ist auch alles sehr, alles sehr nah. Einkaufszentrum, U-Bahn, Bus ... meine Schule ist hier.“ (Cem)
Die Identifikation mit dem Wohnort über verwandtschaftliche, ethnische und nachbarschaftliche Strukturen zeigt die Ressourcenstärke dieser Strukturen vor allem in familiären und nachbarschaftlichen Unterstützungsleistungen an. Sie sind die Kehrseite der Nachteile in Bezug auf den Spracherwerb, soziale Kontrolle und Peergruppenprozesse. 5.3.3.4 Symbolik des Quartiers a) Stigmatisierung des Quartiers und seiner Bewohner/-innen Die Frage ist nun, ob der in der Quartiersforschung beschriebene Aspekt der Stigmatisierung als stärksten der möglichen Kontexteffekte in der Fallstudie wieder zu finden ist und welche Bedeutung er hat. Dabei zeigt sich die Schwie-
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rigkeit, zwischen ethnischer Diskriminierung und Wohnortdiskriminierung zu unterscheiden. Die mangelnde Einmündung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in ein Ausbildungsverhältnis kann die Folge der durch Bildungsbenachteiligungen verursachten Qualifikationsdefizite sein. Erfahrungen bei der Bewerbung um einen Platz für ein Betriebspraktikum während der Schulzeit, das der Berufsorientierung dienen und Einblick in die Erfordernisse einer Berufstätigkeit gewähren soll, zeigen jedoch, dass weitere Kräfte wirksam sind. Studien, die sich mit den Übergängen von der Schule in die Ausbildung beschäftigen, gelangen zu der Erkenntnis, dass im Vergleich zu deutschen Schüler/-innen gleich qualifizierte mit einem ausländischen Namen seltener in eine duale Ausbildung gelangen. Die bestimmenden Faktoren ausbildungsbezogener und beruflicher Integration erforscht das Deutsche Jugendinstitut im Rahmen seines Übergangspanels und hat dabei 700 türkischstämmige und russlanddeutsche Jugendliche in Deutschland unter anderem nach ihren subjektiven Erfahrungen hinsichtlich Diskriminierung befragt. Dabei gibt es Hinweise, dass Jugendliche ihre mangelnde Eingliederung als Diskriminierung interpretieren und die Wahrscheinlichkeit eines Rückzuges auf die Herkunftsgruppe steigt. Schwieriger als das subjektive Empfinden von Diskriminierung ist die tatsächliche Diskriminierung durch Personalverantwortliche zu untersuchen. Für die Einmündung nach der Ausbildung in den Beruf wurden Hinweise auf Diskriminierung zuungunsten der Träger/-innen ausländischer Namen bereits veröffentlicht (Kaas & Manger 2010, Gestring, Janßen & Polat 2006). Dass dieser Prozess der Diskriminierung und Stigmatisierung bereits in der Schulzeit beginnt, zeigen die Schwierigkeiten bei der Suche nach einem Platz für die dreiwöchigen Betriebspraktika in der 9. und 10. Klasse. In der Fallstudie treten vor allem bei mittelständischen Betrieben mit regulären Ausbildungsplätzen zahlreiche Schwierigkeiten auf. Besondere Hemmnisse entstehen dabei für Mädchen mit Kopftuch und Jungen muslimischer Herkunft. Ein türkisch oder arabisch klingender Name, der Schultyp und der Wohnort stellen bereits Negativkriterien bei der Auswahl dar. Die im Rahmen des Jobcoaching bei der Akquise von Praktikumsplätzen erfolgten Nachfragen unter zahlreichen mittelständischen Unternehmen ergaben, dass viele kleinere Betriebe vor allem Jungen mit muslimischem Hintergrund als Praktikanten ablehnen, weil diese ‚Disziplinprobleme’ hätten und Schwierigkeiten, sich in den Betriebsablauf einzuordnen. Bereits der Wohnort Kreuzberg wurde bei manchen Personalverantwortlichen als Ausschlusskriterium bei Bewerbungen um einen Praktikums- oder Ausbildungsplatz benannt. Kopftuchtragende Mädchen werden in Unternehmen mit Kund/-innenkontakt nur
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selten als Auszubildende genommen, da eine negative Reaktion der Kundschaft befürchtet wird (Baur & Wiese 2007). Welche Hinweise geben nun die Schüler/-innen auf Stigmatisierung? Ist es überhaupt ein Thema? Wird Stigmatisierung bzw. Diskriminierung vermutet? b) Frustrationen bei der Praktikumssuche Vor allem das zweite Betriebspraktikum gestaltete sich schwierig, denn es war mit der Auflage verbunden, außerhalb des Bezirkes eine Betriebspraktikumsstelle zu finden. Die meisten Schüler/-innen berichten über Frustrationserlebnisse durch Wartezeiten bei spontanen Vorstellungen, Absagen und mangelnden Erfolg: „Ich habe mindestens 30-mal telefoniert. Manche haben mich zur Vorstellung eingeladen. Und als ich da war, dann bin ich immer abgelehnt worden. [...] Die haben gesagt, ich soll da woanders hingehen, weil der entscheiden muss. Dann hab ich da lange gewartet und der hat mich doch nicht genommen.“ (Khaled).
Besonders die Jungen hatten Schwierigkeiten, einen Platz zu finden und profitierten von Kontakten, die die Schule mit Betrieben aufgebaut hatte. Wartezeiten im Bewerbungsprozess werden von ihnen demütigend und ärgerlich empfunden, die Anforderungen durch die Personalverantwortlichen als Hürde gesehen: „Ja, man dachte, man wird dann angenommen. Die Firmen halten einen auf und am Ende kriegt man eine Absage, das hat mich am Meisten geärgert. [...] Man muss sich hier, man muss sich bei mehreren Stellen bewerben und das geht nicht beim ersten Mal. Man muss auch einen guten Eindruck bei den Gesprächen machen. Und die haben auch meist gesagt, dass Fehlzeiten und äh, hier Fehltage nicht sein dürfen.“ (Tarik)
Manche Schüler/-innen bemühten sich erst sehr spät um einen Praktikumsplatz und standen vor der Hürde, einer spontanen persönlichen Nachfrage eine schriftliche Bewerbung folgen zu lassen: „Manche meinten, dass die schon einen anderen angenommen haben und so. Ja, dass ich Bewerbung schreiben muss. Und es würde lange dauern, das mit dem Bewerben und so und wir mussten innerhalb von zwei Wochen eine Stelle finden und wir waren spät dran und ja ...“ (Pinar)
Damit zeichnet sich ab, dass neben Aspekten der schulischen Qualifikation und den bereits im Kapitel 5.3 beschriebenen Einschränkungen vor allem bei Mäd-
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chen durch die Eltern bei der Praktikums- und Berufswahl weitere Hindernisse und Vorbehalte auf Arbeitgeberseite vorliegen. c) Schwierigkeiten bei der Einmündung in Ausbildung und Beruf Bei der erneuten Kontaktaufnahme mit den befragten Schüler/-innen drei Jahre nach Verlassen der Schule gibt es zunächst die Schwierigkeit, dass 10 von 19 Festnetznummern nicht mehr gültig sind. Dennoch gelingt es mir, mit acht Schüler/-innen zu telefonieren und dabei über den Werdegang weiterer Klassenkamerad/-innen Informationen zu erhalten. Die Fragen beziehen sich auf die momentane Tätigkeit, vorausgegangene, laufende oder anstehende Qualifizierungen seit dem drei Jahre zurück liegenden Schulabschluss und auf den Familienstand. Außerdem wurde nach dem Kontakt mit ehemaligen Mitschüler/-innen und dem Wissen über deren weiteren Lebensweg gefragt. Es zeigt sich, dass nur Sinan eine Ausbildung auf dem ersten Ausbildungsmarkt absolviert und nun ins dritte Lehrjahr kommt. Wenige haben im Anschluss an die Allgemeinbildende Schulzeit den Mittleren Schulabschluss in der Fallstudienschule oder an einem Oberstufenzentrum nachgeholt und konnten damit – oftmals nach einem Leerlauf, Praktika, oder berufsvorbereitenden Maßnahmen – dennoch nur eine außerbetriebliche Ausbildung finden. Das Gros der erneut befragten Schüler/-innen kommt nun ins zweite außerbetriebliche Ausbildungsjahr und einige warten noch auf eine Zusage für das kommende Ausbildungsjahr. Damit wird deutlich, dass sie drei Jahre nach Schulabschluss erst am Anfang der nächsten weiterqualifizierenden Stufe stehen. Einige Mädchen (Melek, Gülcan, Sevda, Zahira) haben bisher keine Ausbildung begonnen, manche sind verheiratet oder verlobt und gelegenheitsbeschäftigt. Es zeigt sich, dass selbst bei einigen Fällen, in denen der MSA erworben oder nachgeholt wurde, eine Einmündung in den ersten Ausbildungsmarkt nicht erfolgt ist (Khaled, Rabia, Tarik). Für Mädchen mit Kopftuch scheinen überhaupt nur außerbetriebliche oder schulische Ausbildungsstätten eine Chance zu bieten, da sie aufgrund von Vorbehalten, wie an anderer Stelle bereits beschrieben, nicht in ein Ausbildungsverhältnis gelangen. Zu einer möglichen Einmündung in den Arbeitsmarkt und damit einer Grundlage für ein eigenständiges Leben kann nur die Prognose in Anlehnung an die Aussage eines Geschäftsführers einer großen außerbetrieblichen Ausbildungseinrichtung Berlins gestellt werden: Ca. 60% der Absolvent/-innen finden anschließend einen ihrer Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatz. Übrig bleiben werden dem zufolge Jugendliche wie in der Fallstudie, die bis zu sechs Jahre mit Berufsvorbereitung und -orientierung, Praktika und außerbetrieblicher Ausbildung zugebracht haben und am Ende mit einem Ausbildungszertifikat erneut auf einer längeren Suche nach
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Anstellung sein werden. Auf der anderen Seite stehen die wenigen Jugendlichen, die es durch Ehrgeiz, eine hohe Anpassungsfähigkeit und besonders freundliches Auftreten in eine Ausbildung schaffen, wie z.B. Sinan, dessen Übernahme im Betrieb noch nicht absehbar ist. Vergleicht man die in der 10. Klasse geäußerten Berufswünsche und die tatsächliche begonnene oder anstehende Ausbildung, kann nur bei einer der nachträglich befragten Schüler/-innen eine Deckung festgestellt werden. Gründe hierfür können weitere berufsorientierende Maßnahmen oder die Nichterfüllung des Ausbildungswunsches sein. 5.3.4 Religiöse Praktiken als bildungsfördernde Ressource oder Hemmung der Entwicklung? Die zunehmende Bedeutung der Religion unter Jugendlichen islamischen Glaubens und mit Migrationshintergrund bescheinigt die jüngste Shell-Studie (Albert 2010): „Während Religion für junge Menschen in den neuen Bundesländern zumeist bedeutungslos geworden ist, spielt sie in den alten Bundesländern noch eine mäßige Rolle. Mittlerweile ist Gott nur noch für 44 Prozent der katholischen Jugendlichen wichtig. Ganz anders sieht es hingegen bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus: Sie haben einen starken Bezug zur Religion, der in diesem Jahrzehnt sogar noch zugenommen hat.“ (Ebd.: 204f). Am Beispiel Tariks zeigt sich sowohl, was seine eigene Wahrnehmung betrifft als auch aus Sicht der Fallstudienschule (keine Schulregelverletzung oder Auffälligkeit) eine positive Wende weg von der Jugenddelinquenz zu einem an religiösen Werten ausgerichteten Leben (vgl. 5.3). Diese Trendwende stellt die in der Öffentlichkeit oftmals diskutierte Parallelgesellschaft mit kulturellen und religiösen Abschottungstendenzen in Frage, da religiöse Bekenntnis hier eher integrierend wirkt. Die Religiosität ist für alle muslimischen befragten Schüler/innen ein Thema, das ihren Alltag bestimmt, aber können daraus Schlussfolgerungen für die Bildungschancen gezogen werden? Im Folgenden soll die eingangs aufgestellte These diskutiert werden, dass kulturelle und religiöse Normen in Verbindung mit geringer Bildung teilweise ein eigenes Wertesystem schaffen, das vor allem Mädchen in ihrer Entwicklung behindert, weil es mit einem ausgeweiteten Kontrollsystem verbunden ist, das bis in die Schule hineinreicht. Befragte Schüler/-innen sind überwiegend religiös Bei der Frage nach der subjektiven Bedeutung von Religion geben 17 von 19 Schüler/-innen an, religiös zu sein. Bei den beiden Mädchen, die sich als „nicht so gläubig“ sehen, sind religiöse Praktiken wie der Verzicht auf Schweinefleisch dennoch alltagsrelevant. Insgesamt 16 von 19 Schüler/-innen leben nach religiö-
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sen Geboten, jedoch mit großen Unterschieden bezüglich der Praktizierung von Ritualen wie dem regelmäßigen Gebet, Moscheenbesuch, der Einhaltung der Fastenzeit (Ramadan), dem Zelebrieren religiöser Feiertage und Studieren des Korans. Mehr als die Hälfte gibt an, dass sie ihr Leben nach islamischen Vorschriften ausrichtet, Religion damit ihr Alltagshandeln bestimmt. Einige Jugendliche beten nicht täglich, besuchen selten Moscheen, stützen sich aber in ihrem alltäglichen moralischen Handeln und in ihrer Wertehaltung auf die Religion, wie Cem beschreibt: „Hat ne Bedeutung, aber ... Bedeutung, was soll ich da jetzt sagen ... Dass ich keine Scheiße bau, dass ich mich gut mit meinen Kumpels unterhalte und verstehe, dass ich auch zuhause nicht so frech bin, keine Scheiße bau. Es sind so die normalen Sachen, was ein normaler Mensch machen sollte.“ (Cem)
Layla formuliert im Zusammenhang mit der Fragestellung nach der Bedeutung der Religion einen Gegensatz zwischen drinnen und draußen – ihren Freiheiten innerhalb der Familie und Restriktionen, die sie für die außerfamiliäre Sphäre erhält: „Also zuhause ist schon mal klar. Und wo noch? ... So anziehen auch, wenn man sich anzieht, so verdeckt und so aber Kopftuch müssen wir nicht tragen, bei uns ist es nicht so, meine Mutter trägt selber kein Kopftuch. ähm ... also zuhause können wir tun und machen, was wir wollen, wenn wir unter uns sind, aber dann ... Benehmen muss ja jeder haben, wie man sich verhaltet oder so. Und so mit Jungs reden und so dürfen wir auch eigentlich nicht, nur wenn es so Schulfreunde sind aber so draußen nach der Schule sich mit denen treffen und so: Tabu! Gar nicht! Oder von denen die Nummer haben, die uns anrufen, wir die von Haustelefon anrufen, ist auch nicht.“ (Layla)
Die Betrachtung von außen, der ethnisch-religiösen Community, thematisiert auch Gülcan, die sich bei der Glaubensfrage zu ihrem Kopftuch äußert. Sie trägt es aus Gründen der besonderen Anerkennung und ihrer Interpretation der Bedeckungspassagen im Koran: „Es hat eine Bedeutung, ja. Zum Beispiel meine Kopftuch ... Bei uns, bei uns ist es so, dass wenn man Kopftuch tragt, ist besser, ja. Die Leute sagen dann was zu denen.“ [...] „Noch mehr wichtig ist, dass im Koran steht, dass man Kopftuch tragen muss.“ (Gülcan)
Die Frage nach der Definition eines guten Moslems bot eine breite Palette an Antworten, die sich auf notwendige Praktiken, die Vermeidung bestimmter
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Lebensweisen und den Ausdruck von Werten bezog. Die meisten Schüler/-innen benannten das Beten, aber nur wenige erwähnten, an Allah zu glauben, nach Mekka zu fahren und nach dem Koran zu leben. Der wöchentlich mehrfache Moscheenbesuch wurde nur einmal genannt. Überwiegend thematisiert wurden positive Verhaltensweisen im Alltag wie „ein gutes Herz haben“, „höflich sein“, „anderen Menschen helfen“ und „tolerant sein“. Auf der Seite der Vermeidungen wurden „Lügen“, „Alkohol trinken“ und „Ausdrücke sagen“ neben einer Reihe selbst- und fremd schädigender Verhaltensweisen, z.B. delinquentem Verhalten benannt. Eine Differenzierung zwischen Religion und Kultur nimmt Zeynep vor: „Ob jemand ein guter Moslem ist, hängt nicht vom Beten ab. Man soll an Gott und die Propheten glauben, nicht lügen, Frauen und Männer sollen gleichberechtigt sein. [...] Kultur und Religion werden oft vermischt. Zum Beispiel wenn ein Junge seine Schwester umbringt, ist das nicht wegen der Religion.“ (Zeynep)
Einen direkten Einfluss der Religiosität auf die Eigenschaften eines Menschen sehen jedoch die wenigsten Schüler/-innen. Vielmehr werden für die Verhaltensweisen der Charakter, die Familie und die Erziehung verantwortlich gemacht. Nur zwei Schüler äußern sich eindeutig dahingehend, dass sie einen Zusammenhang zwischen Religiosität und einem „guten Menschen“ sehen. Tarik differenziert hierbei zwischen dem echten Moslem und den Lippenbekenntnissen und distanziert sich damit indirekt von der eigenen delinquenten Vergangenheit: „Ja, glaube ich schon. Aber die meisten Jugendlichen heutzutage, die in Deutschland leben, sind ein schlechtes Vorbild hier für den Islam. Die praktizieren nicht, die sagen, die sind im Wort Moslem, aber die praktizieren es nicht. Die leben ganz anders. Die sind Moslem geboren, und des war's. Schlechte Vorbilder sind es, die machen Überfälle, Einbrüche, schlagen Leute, ist nicht gut. Da haben die anderen Menschen ein schlechtes Bild vom Islam. Darum wird er ja auch kritisiert und verneint von den Menschen, die haben gleich Angst, wenn man das Wort Islam hört.“ (Tarik)
Insgesamt zeigt sich unter den Schüler/-innen eine hohe Religiosität mit unterschiedlicher Ausprägung, die darauf hinweist, dass weniger die Religion als die Kultur für das Handeln im Alltag verantwortlich ist. Religiöses Handeln kann das Verhalten im Alltag bestimmen und es gibt einzelne Hinweise darauf, dass (groß)familiäre und in Quartier und Nachbarschaft geäußerte Bestätigungen von religiösen Symbolen, wie z.B. dem Tragen eines Kopftuches, handlungsrelevant sind. Es vermittelt sich das Bild, dass Religion zunächst eine stabilisierende
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Ressource ist, deren Normen- und Wertesystem Mädchen wie Jungen stabilisiert. Im Rückgriff auf das Kapitel familiäre Kontrolle und die quartiersbezogene soziale Kontrolle wird jedoch deutlich, dass die Folgen der religiösen Normen und Werte durchaus negative Auswirkungen auf die selbstbestimmte Entwicklung der Betroffenen haben können. Dabei fällt es schwer, religiöse und kulturelle Normen und Werte auseinander zu halten. Der Verstoß eines religiösen Gebots kann deutlich benannt werden, der Umgang damit scheint jedoch kulturell und geschlechtsspezifisch geprägt zu sein. 5.3.5 Förderliche und hinderliche Prozesse – drei Einzelfallstudien Nach dem Versuch, die bildungsbeeinflussenden Bereiche möglichst getrennt darzustellen, soll mit den folgenden drei Fallbeispielen aufgezeigt werden, welche Dynamiken ineinander greifen und bildungsbeeinflussende Prozesse sollen besser verständlich gemacht werden. Bereits bei der Darstellung der Einflussfaktoren auf Bildung aus den Bereichen Familie, Schule und Quartier zeigten sich Konfundierungen, die generelle Aussagen erschweren. So steht der erste Fall Tarik für Bildungsaspirationen der Eltern, die vermutlich zu seinen überdurchschnittlichen Schulleistungen einen Beitrag leisten. Gleichzeitig werden seine Potentiale nicht ausgeschöpft. Es zeigen sich nur wenige Eingriffsmöglichkeiten der Eltern auf seine phasenweise delinquente Entwicklung, die wiederum mit der Peergruppensozialisation im Quartier zusammen hängt. Die Ambivalenz der Straßensozialisation in Verbindung mit der Suche nach Halt in religiösen Praktiken wird am Beispiel Tariks besonders deutlich. Auch zeigt sich, dass ein durch disziplinarische Maßnahmen erzwungener Bruch in seiner schulischen Laufbahn eine positive Wirkung auf sein delinquentes Handeln hatte. Der Fall Sinan steht für ein stark kontrollierendes Elternhaus und hohe Bildungsaspirationen des Vaters, angetrieben durch seine eigene berufliche Laufbahn, die in der Dauerarbeitslosigkeit endete. Sinan kennt „die Straße“ als Ort von Gefahren und hält sich privat von ihr fern. Seine Milieukenntnisse, gepaart mit Ehrgeiz und beruflichen Aspirationen, verschaffen ihm Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe durch die Einbindung in ein Polizeiprojekt. Er ist einer, der es schafft, im Anschluss an die allgemeinbildende Schulzeit einen Ausbildungsplatz in einem großen Unternehmen zu bekommen. Der Fall Layla steht für ein strenges Elternhaus und familiär verursachte unklare Lebensplanung als Bremse der beruflichen Eingliederung. Wie bei vielen Schüler/-innen ist Laylas Selbstverortung (deutsch oder arabisch) unklar und sie sieht einer elterngesteuerten Zukunft entgegen, die letztlich ihre berufliche Lauf-
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bahn bestimmt. Ihre Schilderungen sind aussagekräftig zu den negativen wie positiven Aspekten des Quartiers. a) Tarik „Wollen sich an was halten, die Jugendlichen ...“
Tariks sozioökonomische Herkunft ist im Vergleich zu den meisten familiären Verhältnissen der Gesamtschüler/-innenschaft und der interviewten Schüler/innen als überdurchschnittlich einzustufen. Sein Vater hat im Heimatland studiert und ist in Deutschland berufsfremd in einem erziehenden Beruf angestellt. Er sorgt für das Familieneinkommen und Tarik ist ein Bezug staatlicher Transferleistungen in der Familie nicht bekannt. Möglich ist dennoch aufgrund der sechs Geschwister Tariks und dem alleinverdienenden Vater ein aufstockender Bezug von ALG II. Da der Vater gute Deutschkenntnisse hat, ist Tarik nicht, wie viele andere Schüler/-innen, in Ämtergänge und die notwendige Korrespondenz als „Dolmetscher“ einbezogen. Er hat dadurch weniger Einblick in die familiären Finanzen, und seine Angaben zur finanziellen Situation der Familie sind vage. Anzeichen einer sozialen Segregation zeigen sich hier in der Wohn- und Arbeitssituation: Die neunköpfige Familie wohnt in beengten Wohnverhältnissen, worunter nach Tarik vor allem der Vater leidet, der vor und nach der Arbeit aufgrund des hohen Lärmpegels durch die Kleinkinder in der Familie in der Wohnung keine Ruhe findet. Eine der Familiengröße entsprechend große Wohnung zu finden ist schwer, außerdem mit einem Alleinernährer nicht zu bezahlen. Dass der Vater in einem berufsfremden Bereich arbeitet, bedeutet in der Regel eine untertarifliche Bezahlung. Ihn trifft hier das Schicksal vieler Migrant/innen in Deutschland, deren im Ausland erworbene Abschlüsse nicht oder nur mit bürokratischen Hindernissen anerkannt werden. Andererseits hat der Vater über seine jetzige Anstellung ein berufliches Netzwerk aufgebaut, auf das Tarik bei Bedarf zurückgreifen könnte, was im Falle der längeren Suche nach einem Betriebspraktikum von Tarik selber jedoch abgelehnt wurde. Der Zuzug von einer westdeutschen Stadt nach Berlin erfolgte aus dem starken Bedürfnis der Mutter heraus, nach der Geburt ihres ersten Kindes Tarik engeren Kontakt zu ihrer bereits in einem Kreuzberger Quartier wohnenden großen Verwandtschaft zu haben. Der Vater gab diesem Bedürfnis der Mutter zuliebe nach, obwohl er eine zufriedenstellende Arbeitsstelle in F. hatte und selber keine Verwandtschaftsbezüge nach Berlin. Tarik beschreibt das verwandtschaftliche Netz einbettend:
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„Also meine Großeltern, die wohnen hier und drei Tanten mit ihren Kindern. Und noch mein Onkel wohnt auch im Stadtteil. Also wir wohnen quasi in einem Dreieck. Meine Oma wohnt auch in der Straße wo wir wohnen und gleich um die Ecke meine Tante. [...] Und bei meiner Oma wohnt noch mein Onkel und meine andere Tante.“ (Tarik)
Zudem kehrt der die Vorteile von Freundschaftsbeziehungen vor Ort hervor, die sein Wohlbefinden steigern (vgl. 5.3). Gleichzeitig wird die Straße zum Synonym für Hoffnungslosigkeit und Gefahr. Die Wohnstraßen von Tarik und seinen Freunden wirken offenbar wie ein Sog, der die Jugendlichen auf die schiefe Bahn bringt. Langeweile, Druck und die empfundene Aussichtslosigkeit, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu erhalten, finden in kriminellem Handeln ein Ventil. Tarik zählt eine Liste an Straftaten auf, die er oftmals in Gemeinschaft begangen hat, „Fahrerflucht, Körperverletzung, Landfriedensbruch und Waffenbesitz“ (Tarik), erwähnt den Gefängnisaufenthalt älterer Jugendlicher aus dem Quartier und seine eigene Mitgliedschaft in Jugendbanden. Dennoch gibt es gegenläufige Bewegungen, die durch ein erneutes religiöses Bekenntnis entstehen: „Früher war das mit Banden und so. Aber der ganze Kiez, die gehen jetzt in die Moschee. Das hat sich irgendwie verbreitet, weiß auch nicht. Ist jetzt harmlos geworden. [...] Das war früher, die Mittenwalder Straße, kennen Sie die? [...] Da war es früher echt schlimm, ging’s ab und jetzt ruhig, sehr ruhig geworden. Deswegen, weil alle jetzt in die Moschee gehen. [...] Machen keine Scheiße mehr. [...] Einer hat angefangen zu beten, er ist zu einem Freund gegangen, er hat’s gut gefunden, dann haben alle kapiert, dass es der richtige Weg ist.“ [...]) „Also, ich weiß nicht, das hat so angefangen, einfach, ist einfach das Interesse, wollen sich an was halten, die Jugendlichen. Was suchen, ... finden. Und auf der Straße, da wird nichts aus ihnen, sie erreichen nichts im Leben, die Meisten sind arbeitslos. Und die sehen dann im Islam, wie schön es ist und dann bleiben sie dabei.“ (Tarik)
Aus Tarik Ausführungen wird die Peergruppendynamik in beide Dimensionen deutlich: die Delinquenz fördernde und die stabilisierende. Die wiedergewonnene Gläubigkeit und die religiösen Rituale gemeinsam mit den Peers vermitteln eine Verhaltenssicherheit. Rückblickend beschreibt er sich im Kindesalter als praktizierend gläubig mit einem Bruch etwa zum Zeitpunkt des Übergangs an die Oberschule und dem neu entstandenen Freundeskreis: „Ja. Also wo ich so ungefähr acht Jahre war, bin ich fünf Jahre bestimmt zur Moschee gegangen. Dann mit der Schule, mit den Freunden ist es verloren gegangen. Hab ich Scheiße gebaut. [...]“ (Tarik)
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Mit Hilfe der Dokumentenanalyse können dennoch bereits frühe Regelverletzungen festgestellt werden, z.B., dass er schon in der dritten Klasse körperliche Auseinandersetzungen nicht scheute. Alljährlich wiederholen sich in den Kopfnoten der Grundschulzeugnisse Bemerkungen über Regelverstöße und heftige Auseinandersetzungen, den Mangel an Teamgeist und Verspätungen. Dem gegenüber stehen jährliche Leistungssteigerungen bis zum Zeitpunkt des Übergangs von der Grundschule in eine integrierte Haupt- und Realschule, die offensichtlich zugewiesen wurde und nicht den ersten drei Wünschen Tariks entsprach. Hier häuften sich von Lehrer/-innen vermerkte Elterngespräche und Briefe an die Erziehungsberechtigten. Neben Regelverstößen nehmen nun gegenüber Schüler/-innen und Lehrer/-innen Provokationen, Streitigkeiten, Selbst- und Fremdgefährdung zu, bis hin zu gewaltsamem Mobbing gegenüber einem Mitschüler zusammen mit anderen Mitschülern. Als letzte Maßnahme wurde in der 9. Klasse durch die Schulleitung der Wechsel an eine andere Schule nahegelegt, um eine aktenrelevante Strafversetzung zu verhindern. Obwohl die Sozialstruktur der Fallstudienschule derjenigen der alten Schule ähnelt, gelang in diesem Fall ein Durchbrechen der sich abzeichnenden delinquenten Karriere. Der Schulwechsel bedeutete gleichzeitig einen Quartierswechsel, zumindest für die Länge des Schultages und reduzierte die Kontaktmöglichkeiten mit den damaligen Peers. Auslöser für das religiöse Bekenntnis war die Bekanntschaft mit einem gläubigen Jungen im Rahmen des Betriebspraktikums in der 9. Klasse: „Und zwar hier im Reisebüro. Das waren Arabische und der Sohn hat immer gebetet. Er hat mich gefragt, willst du nicht mit mir beten und dann habe ich mit ihm gebetet. Dann habe ich mich irgendwie besser gefühlt. [...] Dann bin ich da geblieben, dabei. Hab mich dann wieder für meine Religion interessiert, und dann habe ich meinem Bruder erzählt und meinen Freunden und mehrere Freunde waren schon davor immer in der Moschee, dann meine ganzen Freunde sind so jetzt ...“ (Tarik)
Spielten im Falle der delinquenten Entwicklung Freundesbeziehungen in Schule und Quartier eine prägende Rolle, erfolgte die Umkehr mithilfe des religiösen Bekenntnisses wohl vorwiegend im lokalen Freundeskreis außerhalb des Schulkontextes. Diese erfolgte Stabilisierung hatte jedoch im Nachgang bisher keine sichtbare Auswirkung auf Tariks Eingliederung in den Ausbildungsmarkt, obwohl er zu den wenigen gehörte, die den Mittleren Schulabschluss auf Anhieb erlangen konnten und er frühzeitig in das die Berufswahl und -ausbildung unterstützende „Netzwerk Berufsausbildung“ eingebunden wurde. Drei Jahre nach Schulabschluss befindet er sich im zweiten Lehrjahr einer außerbetrieblichen Ausbildung zum Kaufmann für Bürokommunikation – weit entfernt vom früher
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benannten Ausbildungswunsch des Anlagenmechanikers, allerdings näher bei seinem Wunsch, sich mit einem eigenen kleinen Laden selbständig zu machen. Von den Leistungsvoraussetzungen her könnte Tarik in eine reguläre Ausbildung gelangen, zu vermuten ist jedoch eine Parallele zu den bereits während der Praktikumssuche gemachten Erfahrungen der Stigmatisierung durch ethnische Herkunft und Wohnort. Tariks Fall lässt auf die mangelnde Akzeptanz islamischer Schüler/-innen bei Ausbildungsbetrieben schließen, gleichzeitig bedient seine Biografie das Klischee des gewaltbereiten muslimischen Jungen. b) Sinan „Ich will auch arbeiten, ich will nicht vom Arbeitsamt leben. Dazu habe ich einfach keinen Bock.“
Sinans soziale Herkunft in Bezug auf das Familieneinkommen und den Bildungsstand der Eltern entspricht dem Durchschnitt der Schüler/-innenschaft der Fallstudienschule. Der in den 60er Jahren aus der Türkei immigrierte Vater, ein angelernter, ehemaliger Bauarbeiter, ist seit vielen Jahren arbeitslos und die Mutter Hausfrau, wodurch die Familie in einer transferabhängigen Bedarfsgemeinschaft wohnt. Sinan nimmt als Einzelkind in der jetzigen Familienkonstellation verglichen mit seinen Mitschüler/-innen eine Sonderrolle ein, da die durchschnittliche Kinderzahl in den Familien bei über fünf liegt. Abgemildert wird die prekäre finanzielle Situation durch Sinans Zusatzverdienst im Security-Bereich, den er überwiegend in die Haushaltskasse einbringt: „Es klingt vielleicht ganz klassisch, aber die Familie hat für mich gesorgt, als ich klein war, haben sie für mich gesorgt. Und jetzt bin ich alt geworden und jetzt kann ich auch arbeiten gehen jetzt bin ich halt dran. Denen geb ich auch was ab.“ (Sinan)
Weitere Ursachen für familiäre Belastungen liegen außerhalb der Kernfamilie und betreffen Kinder aus früheren Ehen des Vaters, wie z.B. der Gefängnisaufenthalt eines Halbbruders. Sinans Schullaufbahn verlief relativ unauffällig, mit Ausnahme einiger Einträge in den Grundschulzeugnisköpfen zu aufbrausendem Verhalten und vergleichsweise unterdurchschnittlichen unentschuldigten Fehlzeiten mit neun Fehltagen und neun Verspätungen in der ganzen Schulzeit. Dass Sinan jedoch bis zu 20 Stunden in der Woche jobbt, zeigt sich in Zeugniseinträgen in der 9. und 10. Klasse zu fortgesetzt fehlenden Hausaufgaben. Das Erlangen des Mittleren Schulabschlusses am Ende der Schulzeit ist angesichts der Hauptschulpro-
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gnose der Grundschullehrer/-innen erfreulich, dennoch wäre mit Sicherheit ein besserer Notendurchschnitt erreichbar gewesen, wenn Sinan nicht im benannten Umfang das Familieneinkommen hätte aufstocken müssen. Die familiäre Armut schlägt sich damit in den Schulleistungen nieder. Im Falle von Sinan werden die stärksten Kontexteffekte in der Stigmatisierung durch Wohnort und ethnische Herkunft bei der Suche eines Ausbildungsplatzes offenbar. Thematisiert wurden in Vorstellungsgesprächen seine ethnische Herkunft und die Sprachkenntnisse der Eltern, die er in einem Gedächtnisprotokoll festgehalten hat: Personalbüro: „In deiner Bewerbung steht, dass du Deutscher bist, aber du bist Türke.“ Sinan: „Ich bin doch Deutscher.“ Personalbüro: „Aber man sieht doch, dass du Türke bist. Da hat unsere Kundschaft ein Problem, wenn wir mit Türken zur Reinigung ins Hotel kommen. [...] Wie gut kann denn deine Mutter Deutsch?“
Auf eine weitere Bewerbung hin erhält er die Antwort, dass nur Deutsche gesucht werden. Inwiefern der Wohnort eine exkludierende Rolle spielt, wird mit diesen Beispielen nicht belegt, der Ausschluss von Bewerber/-innen beim Bewerbungsverfahren nach Wohnort und ethnischer Herkunft wurde jedoch bereits im Zusammenhang mit der Akquise von Betriebspraktikums- und Ausbildungsstellen durch Jobcoaches beschrieben (vgl. 5.3). Dass Sinan den Einstieg in eine reguläre Ausbildung trotz dieser Erfahrungen schafft, liegt vermutlich an seinem starken Willen, eine Ausbildungsstelle jenseits aller Traumvorstellungen zu erringen. Hinzu kommt die Unterstützung durch das schulische Jobcoaching und außerschulische Partner/-innen wie z.B. das „Netzwerk Berufsausbildung“, das ambitionierten Jugendlichen verstärkt Kontakte mit und Erfahrungen in Betrieben vermittelt. Drei Jahre nach seinem allgemeinbildenden Schulabschluss kommt Sinan in das dritte Lehrjahr mit vorausgegangenem Praktikumsjahr in einem renommierten Großbetrieb, bei dem er zudem als Ausbildungsvertreter kandidiert. Was ist nun besonders am Fall Sinan, welche Gelingensbedingungen können zu der bisherigen beruflichen Laufbahn beigetragen haben? Sinan kennt „die Straße“ sowohl aus dem privaten, wie auch aus dem professionellen Bereich. Sein im Gefängnis langfristig einsitzender Halbbruder ist das Schreckensbild einer kriminellen Karriere und Sinan hält sich offensichtlich von der Straße als Freizeitort fern. Dabei spielt die strenge, kontrollierende Erziehung des Vaters eine wichtige Rolle. Leidet Sinan einerseits unter der ständigen
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Maßregelung und dem „Reizen“ des Vaters, bietet dieser ihm andererseits ein moralisches Gerüst, an dem er sich orientiert: „Er [Vater] sagt immer, geh zu deiner Freundin oder spazier nicht alleine, geh nicht leer [unbewaffnet] raus.“ [...] „Man kann gar nicht wissen, was sofort passieren könnte. Weil, hab auch schlechte Erfahrungen damit gemacht. Aber nur so zur Notwehr. Weil die Gesetze kenn ich alle.“ (Sinan)
Freunde darf er nach Hause einladen, wenn er sie vorher den Eltern vorstellt. Als Einzelkind hat Sinan, wenn auch in reglementiertem Maße, mehr Platz zu Hause und ist auf die Straße als Aufenthaltsort nicht angewiesen. Er organisiert Kinoabende, zu denen er seine beste Freundin, seine ‚Blutsschwester‘ und andere einlädt, damit finden seine geschlechtsgemischten Peergruppentreffen im privaten Raum statt. Wenn auch die Nebenjobs im Security-Bereich die Schulnoten beeinträchtigen, so bieten sie Sinan neben dem finanziellen Verdienst eine erhebliche Mobilität und einen professionellen, aktiven Umgang mit den Gefahren der Straße. Schulungen zum professionellen Umgang mit Gewalt in dem Security-Projekt eines Jugendhilfeträgers in Kooperation mit der Polizei unterstützen seine Positionierung. Sinans Einsatzorte sind stadtweite Veranstaltungen, seine deutschstämmigen Kollegen sind teilweise nationalsozialistisch orientiert. Damit verlässt Sinan nicht nur den lokalen Rahmen, sondern steht auch vor der Herausforderung, sich mit ausländerfeindlichen Kollegen auseinanderzusetzen, bzw. sich ihnen gegenüber behaupten zu müssen. Der Kreuzberger Straßensituation entgeht er mit einer vorwiegend häuslichen Freizeitgestaltung, gleichzeitig wird diese lokale Orientierung durchbrochen mit dem Job, in dem er in der Regel auf Deutsch kommunizieren muss. c) Layla „Und so mit Jungs reden und so dürfen wir auch eigentlich nicht.“
Laylas Eltern sind Einwanderer/-innen aus dem arabischen Raum ohne Berufsausbildung und besitzen einen kleinen familiengeführten Einzelhandelsbetrieb. Dennoch befinden sie sich in einer transferabhängigen Bedarfsgemeinschaft, da der Betrieb die siebenköpfige Familie nicht ernähren kann. Obwohl die Familie seit mehr als zwei Jahrzehnten in Deutschland lebt und Layla die deutsche Staatsbürgerschaft hat, ist der dauerhafte Wohnsitz in Deutschland ungewiss. Layla trägt kein Kopftuch, ist selbstbewusst und betont, dass sie in schulischen Dingen
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selbständig sei und keine Unterstützung von ihren Eltern erwarte. Gleichzeitig ist sie stark familienorientiert, d.h., sie hält sich weitgehend an vorgegebene Regeln und es besteht eine starke Bindung ans Haus. Im Alltag bedeutet dies, keinen Kontakt mit Jungen zu haben (außer den Klassenkameraden) und sich nicht spontan zu verabreden, weil sie die strengen Fragen der Eltern fürchtet. Dennoch erlaubt sie sich kleine Notlügen: „Kontrolle, aber auch irgendwie Fürsorge, weil sie auch gerne wissen will, was für Freunde ich habe. Ich meine, eine Mutter macht sich ja immer volle Sorgen. Manchmal versteh ich’s, aber manchmal ist es auch übertrieben. [...] Manchmal sag ich nicht die Wahrheit, ich sag, ja ich geh da hin, das ist nur mit Mädchen, aber ich sag nicht, dass auch Jungen dabei sind. Manchmal ist auch mein Cousin dabei.“ (Layla)
Somit verbringt sie die Nachmittage überwiegend zu Hause mit Ausnahme der Teilnahme an sozialintegrativen Mädchengruppen-Nachmittagen bei einem außerschulischen Kooperationspartner. Dieses Angebot kann als positiver Quartierseffekt gewertet werden, denn es eröffnet ihr im geschützten Rahmen einen Freiraum, der sie fördert (Unterstützung bei den MSA-Vorbereitungen, bei der Berufsorientierung, Betriebspraktikumssuche und Suche nach einem Ausbildungsplatz) und ihre Persönlichkeitsentwicklung stärkt. Layla entwickelte durch diese Unterstützung Vorstellungen zu einer beruflichen Ausbildung, akzeptiert letztendlich jedoch den durch die Familie vorgegebenen Weg. Dass Layla in Bezug auf ihre Zukunft wenig Steuerungsmöglichkeiten in der Hand hat zeigt sich in der Unsicherheit, wie lange sie noch in Deutschland bleiben wird, ob die Familie eventuell in ihr Herkunftsland zurückkehren wird, wann dieser Zeitpunkt sein wird und welche Auswirkungen dies auf eine begonnene Ausbildung hätte. „Es ist ja so, dass wir bald mal nach S. verreisen werden, aber das ist erst vielleicht in vier Jahren oder so. Da bin ich ja schon fertig und vielleicht schon auch verheiratet in diesen 10 Jahren hmm ... vielleicht auch ein Kind oder so. Ja aber trotzdem dann nebenbei dann ein Job vielleicht in S.. In S. werd ich dann bestimmt leben, aber hier würd ich auch gern leben, aber ich weiß es nicht, keine Ahnung, wie es jetzt noch alles gemacht werden wird. Ob wir jetzt hier bleiben oder doch noch nach unten verreisen.“ [...]„Keine Ahnung. Weiß ich gar nicht. Weil es noch gar nicht so ... da war kein richtiges Wort ob wir wirklich nach unten verreisen werden, nach S.. Deswegen habe ich mir gesagt, vielleicht wird da trotzdem nichts, vielleicht reden die ja nur.“ [...]„Also wenigstens will ich noch drei Jahre hier bleiben wegen meiner Ausbildung, das ist schon mal sehr wichtig.
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Und was dann kommt weiß ich nicht ... Wäre schön, wenn ich hier bleibe, aber ich weiß es nicht.“ (Layla)
Die im Betriebspraktikum erlebte Anerkennung ihres Könnens bestärkte sie in ihrem Wunsch, im Gastgewerbe eine Ausbildung zu absolvieren. Dass sie die ihr mündlich in Aussicht gestellte Ausbildungsstelle nicht bekam, hatte vermutlich mit der geringen Unterstützung durch die Familie zu tun. Dabei ging es nicht um die Anfertigung von Bewerbungsunterlagen, für die es genug schulische und außerschulische Unterstützung gab. Tatsächlich zögerte Layla das Einreichen der Bewerbung hinaus, denn die Familie gab ihr und dem Unternehmen keine gewünschte Planungssicherheit im Sinne der Zusage, dass eine begonnene Ausbildung nicht durch die plötzliche Rückkehr ins Heimatland oder eine Eheschließung unterbrochen werde. Bei Layla wird die Wirkung von positiven Quartierseffekten (neben den bereits beschriebenen negativen Effekten vgl. Layla) durch die soziale Infrastruktur des Quartiers und der Schule deutlich: Die schulische und außerschulische Intervention und Förderung brachte Layla auf den „richtigen“ Weg, nachdem ihr Verhalten in der Schule in den ersten Jahren sehr impulsiv und aufbrausend war und die Dokumentenanalyse zahlreiche Tadel wegen Beleidigungen und verschiedene Einträge aufwiesen. Notiert waren mehrere Hausbesuche und Elterngespräche wegen respektlosen Verhaltens und fortgesetzter Unterrichtsstörungen, zudem hohe unentschuldigte Fehlzeiten und die Vorankündigung einer Schulversäumnisanzeige. Auch im Jahr der Wiederholung der 8. Klasse und damit dem Wechsel des Jahrganges und der Klassengemeinschaft, sowie des Lehrer/-innenteams, kam es zu eskalierenden Vorfällen und Autoritätskonflikten mit dem Lehrpersonal und der Androhung des Wechsels in die Parallelklasse bis hin zum Anraten des Schulwechsels nach einer Klassenkonferenz. Layla beschreibt ihr Elternhaus als beschützend und um ihr Wohl besorgt, deutet jedoch Probleme in größerem Umfang an, die von ihr nicht näher erläutert werden. Auffallend ist bei ihr, wie bei vielen anderen, dass bereits in der ersten und zweiten Klasse zahlreiche Verspätungen und mehrere unentschuldigte Tage auf den Zeugnissen zu finden sind. In der Grundschulzeit gibt es bereits 18 unentschuldigte Tage und 41 Verspätungen. Diese lassen auf Versäumnisse und Unkenntnis der Eltern beim Umgang mit der Schulpflicht schließen. Unentschuldigte Fehltage entstanden bei ihr teilweise durch verfrühte Urlaubsreisen ohne Antrag auf Bewilligung. Die Nacherhebung hat für Layla ergeben, dass sie mit dem Beginn einer Ausbildung als Friseurin dem familiären Wunsch entgegen gekommen ist, jedoch nur im außerbetrieblichen Ausbildungssystem einen Platz gefunden hat.
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5.4 B ENACHTEILIGENDE F AKTOREN AUS F AMILIE , S CHULE UND Q UARTIER – Z WISCHENFAZIT Für die Fallstudienschule hat sich gezeigt, dass sich die Probleme des Schulumfeldes und Wohnquartiers der Schüler/-innen in konzentrierter Form in der Schule wiederfinden und Auswirkungen auf den Bildungserfolg haben. Belastung und Ressourcen durch die soziale Herkunft In der Studie wurde deutlich, dass das geringe ökonomische und kulturelle Kapital der Familien zu einer hohen Armut und vielfachen Belastungen führt. Hierzu gehören Wohnraumenge, Trennungsprozesse zwischen den Eltern, Delinquenz und Gewaltanwendung von Familienmitgliedern. Den in den Schulleistungsstudien betonten und auch in der Untersuchung bestätigten hohen Bildungsaspirationen von Eltern steht ein Mangel an zielgerichteter Umsetzung gegenüber. Die Eltern sind selten berufliche Vorbilder und können sich als Gesprächspartner/innen weder für die Orientierung noch für die Hürden des Alltags anbieten. Im Extremfall verhindern sie gar die berufliche Ausbildung ihrer Töchter, da sie den langfristigen Wert von Betriebspraktika und einer Ausbildung nicht erkennen können, Ängste in Bezug auf Ehrverletzungen und Gefahren haben und kurzfristige Ziele in den Vordergrund stellen. Sprachliche Schwierigkeiten der Schüler/innen basieren einerseits auf der bruchstückartigen Verwendung verschiedener Sprachen in der Familie und deuten gleichzeitig auf vor allem generationsübergreifende Kommunikationsprobleme in der Familie hin. Andererseits wird deutlich, dass es den Schüler/-innen auch außerfamiliär an Sprachgelegenheiten zur Verwendung und Entwicklung der deutschen Sprache mangelt. Die hohe Familiarität bietet sowohl Halt als auch Schutz und ist damit eine wichtige emotionale Ressource, ihre Kehrseite ist jedoch die Unterordnung der Jugendlichen unter die familiären Belange. Die vor allem bei Mädchen ausgeprägte familiäre Kontrolle und eine vergleichsweise frühe elterlich gesteuerte Orientierung auf Familiengründung bestätigt ein enges Normenkorsett, das ihre Schwierigkeiten verstärkt, neben der familiären Verbundenheit individuelle Bildungsziele zu verfolgen. Der schulische Kontext – lernmindernde Milieus Die Untersuchung der schulischen Normen- und Wertekonflikte im Hinblick auf ihre Auswirkung auf die Bildungserfolge der Schüler/-innen zeigt Verletzungen der Normen und Werte, die eine lernförderliche Umgebung bieten sollten, in mehr oder weniger großem Umfange durch alle am Bildungsprozess Beteiligten auf. Die innerschulischen Ressourcen führen nicht zu ausreichendem Bildungserfolg, d.h., dem überwiegenden Erlangen des maximalen Zertifikates der Schulform „Haupt- und Realschule“, dem Mittleren Schulabschluss.
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Fends provokante These, die Schule sei ein „sozialer Ort der Abwehr von offiziellen schulischen Lernangeboten“ (Fend 2009b: 74), kann damit für das Verhalten vieler Schüler/-innen bestätigt werden. Darunter fällt eine Unterrichtsatmosphäre, die durch ein hohes Störpotential den Lernprozess beeinträchtigt und eine leistungsmindernde Gruppendynamik auslöst. Hinzu kommt die hohe Anzahl an unentschuldigten Fehlzeiten der Schüler/-innen, die sowohl die Schulpflicht, als auch das Recht auf Bildung verletzen. Auf der anderen Seite steht das Schulsystem, das zwar Normen und Werte gesetzlich und programmatisch verankert hat, jedoch Zuwiderhandlungen zu wenig entgegen setzt, was die Dokumentenanalyse deutlich zeigt. Die mangelhafte bzw. unterschiedliche Reaktion von Schulen, Lehrer/-innen und Verwaltungen auf Fehlzeiten kann zugespitzt als Normbruch der Institution Schule formuliert werden. Die Bildungsbenachteiligung durch den schulischen Kontext ist vielen Schüler/-innen bewusst, da sie sich über die sprachliche Benachteiligung durch die ethnisch weitgehend homogene Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft, über Unterrichtsstörungen oder Organisationsmängel wie Unterrichtsausfall beklagen und Nachteile in ihrer Leistungsentwicklung sehen. Verschärft werden diese Nachteile durch das Eindringen des außerschulischen Lebens in die Schule. Stabilisierende Faktoren sind jedoch darin wahrzunehmen, dass sich mehr als zwei Drittel der Schüler/-innen der Schule zugehörig fühlen und die meisten von ihnen Bemühungen der Lehrer/-innen um ihre Lernfortschritte und die Umsetzung schulischer Ziele wahrnehmen. Quartierseffekte In der Kontexteffekt-Forschung ist der überwiegende Verbleib im durch benachteiligende Effekte gekennzeichneten Quartier eine Voraussetzung, dass Quartierseffekte überhaupt relevant sind. In der Fallstudie wird deutlich, • •
•
dass die Hälfte der Schüler/-innen ausschließlich einen Freundeskreis im Stadtteil hat dass sich vorhandene Freundschaften außerhalb des Bezirks vorwiegend in Stadtteilen mit einer ähnlichen Sozialstruktur befinden und meistens der eigenen Ethnie und sozialen Schicht entsprechen und dass der Aktionsradius der Jugendlichen vorwiegend auf Wohnort und Stadtteil begrenzt bleibt.
Selbst wenn es Freundschaften wie bei einigen Jungen außerhalb des Wohnbezirkes gibt, werden gemeinsame Aktivitäten überwiegend in Wohnortnähe bzw. in Kreuzberg unternommen. Eine Erklärung hierfür könnte die Zusammensetzung der Cliquen sein, wenn nur in geringerem Maße Jugendliche aus anderen
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Stadtteilen dabei sind. Damit sind die Voraussetzungen für die mögliche Wirkung von Kontexteffekten erfüllt, wenn auch nicht geklärt ist, ob und in welcher Weise diese wirken. Die Aussagen der Jugendlichen zeigen jedoch, dass sie neben der Wertschätzung von Familiarität im Stadtteil Nachteile in Bezug auf ihre Zukunft sehen. Schilderungen eigenen devianten Verhaltens in Peergruppen von mehreren befragten Jungen und weitere Einschätzungen, dass es in Kreuzberg „zu viele verrückte Jugendliche“ gebe, können ein Hinweis auf verstärkte Dynamiken durch die Konzentration von Jugendlichen in Problemlagen sein. Jungen wie Mädchen erfahren soziale Kontrolle im öffentlichen Raum, die bis in die Schule hineinreicht bzw. benennen sie diese als Nachteil des Lebens im Quartier. Allerdings zeigt sich vor allem bei den Jungen, dass die soziale Kontrolle nicht ausreichend wirkt, zumindest was ihr delinquentes Verhalten betrifft. Die meisten Schüler/-innen benennen Vorteile des Stadtteils, die mit dem Leben in einer ethnischen Community zusammenhängen. Die Argumentation bezieht sich dabei • • • •
auf verwandtschaftliche Solidarleistungen wie gegenseitige Unterstützung bei Krankheit und unvorhersehbaren Ereignissen, auf Freundschaftsnetzwerke, auf das Wohlfühlen durch dorfähnliche Strukturen, in denen die Anonymität herabgesetzt ist und auf Schutzräume für Migrant/-innen, die die deutsche Sprache nicht beherrschen oder Sicherheit gegen Bedrohung und rechtsradikale Gefahr bieten.
Die durch die Schüler/-innen geschilderten Vorteile beinhalten oftmals die Familienperspektive, was wiederum einen Hinweis auf ihre starke Familienorientierung gibt. Die Antworten der Jungen und Mädchen unterscheiden sich hierbei inhaltlich nicht, wohingegen es eine geschlechtsspezifische Differenz bei den beschriebenen Nachteilen des Stadtteils gibt. Vor allem den Mädchen erscheint das Zuhause sicherer als das Quartier. Die Jungen beschreiben ebenfalls das Wohnumfeld als beeinträchtigend, allerdings sind sie Akteure in diesem Geschehen. Die Straße, die die Gefahren eines für sie bedrohlichen oder perspektivlosen Lebens in sich birgt, ist sowohl beängstigend als auch der Alltag, mit dem sie sich täglich auseinander setzen müssen. Der von ihnen thematisierte Streit unter verschiedenen Ethnien kann als Kampf um knappe Ressourcen durch die beengte Wohnsituation und ein Zusammenleben in einem Quartier mit hoher Bevölkerungsdichte gewertet werden. Strategien im Umgang mit diesen Herausforderungen sind sowohl, in der Jugendphase eine Zeit lang Mitglied einer Bande zu sein (Ozan, Tarik, Khaled), als
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auch gemeinsam neue Perspektiven zu entwickeln (Tarik) bis hin, sich im ‚Milieu‘ auszukennen und sich gegen entsprechende Gefährdung mit Waffen zu schützen (Sinan). Die spezifischen Milieukenntnisse in Verbindung mit guten Sprachkenntnissen und einer Resilienz gegenüber delinquentem Verhalten eröffnen im Fall von Sinan berufliche Chancen. Dagegen ist die langwierige Einmündung der Jugendlichen in den Ausbildungsmarkt neben der Ursache in qualifikatorischen Defiziten und häuslichen Restriktionen bei der Berufswahl auch im stigmatisierten Quartier zu suchen. Tariks Entwicklung vom peergruppengesteuerten delinquenten zum peergruppensteuernden religiösen Jugendlichen verdient im Zusammenhang mit der Bedeutung kultureller Aspekte bei der Bildungsbenachteiligung besondere Beachtung. Im seinem Fall gelang durch den Schulwechsel und das religiöse Bekenntnis die Stabilisierung im Bildungsverlauf. Die Sinnhaftigkeit der Entwicklung von Bildungspartnerschaften zwischen Schulen, Eltern und Organisationen von Migrant/-innen (vor allem Moscheevereinen), wie sie seit Kurzem im Rahmen eines Projektes in Berlin aufgebaut werden (vgl. Stiftung Brandenburger Tor 2011) wird durch Tariks Entwicklungsverlauf bestärkt. In seinem Fall wird deutlich, dass elterliche Bildungsaspirationen und ein höheres kulturelles Kapital durch die Berufsausbildung des Vaters zwar seine Bereitschaft, schulische Leistungen zu erbringen, positiv beeinflusst. Es fehlt jedoch eine elterliche Kontrolle der außerhäuslichen Aktivitäten des Sohnes, der zwischendurch in eine delinquente Karriere abstürzt. Im Gegensatz dazu zeigt Sinans Schul- und Ausbildungsbiografie, dass häusliche Strenge und Zuwendung einer Erziehung ‚gegen das Milieu‘ entspricht. Die Förderung des Selbstbewusstseins über eine sinnvolle Tätigkeit mit Gratifikation wirkt stabilisierend und stärkt zudem die Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft. Wichtig ist die aktive Positionierung, die im Falle Sinans durch seine Beteiligung bei den Wahlen zu Jugend- und Ausbildungsvertreter/-innen im zweiten Ausbildungsjahr gestärkt wird. Laylas Situation wiederum zeigt eine häufige Situation von Mädchen auf, die ihre Wünsche nach einer bestimmten Berufsausbildung nicht verwirklichen können oder dürfen und sich den Vorgaben der Eltern unterordnen. Schulische Unterstützung und berufliche Orientierung erfolgen hier vor allem durch Schule und außerschulische Partner/-innen.
6 Veränderungsansätze zur Verbesserung der Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund
Die bisherigen Ausführungen haben aufgezeigt, dass die Überlagerung von ethnischer und sozialer Segregation an Schulen und in den Quartieren multiple Problemlagen hervorbringt, die Bildungsbenachteiligungen verursachen. Dieses Kapitel fragt daher nach den bisherigen Konzepten zur Verbesserung der Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Bildungs- und in Ansätzen der Stadtpolitik. Betrachtet werden rückblickend Konzepte von Maßnahmen und Erfahrungen, die auf einer Verteilung der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund außerhalb von Schuleinzugsbereichen oder Bezirken basierten und deren heutige Bewertung durch Expert/-innen. Diese Verfahrensweise gab es in Berlin und anderen Städten Deutschlands, die einen besonderen Zustrom an minderjährigen Migrant/-innen in den 1980er Jahren hatten. Gegenstand der weiteren Betrachtung ist die in einzelnen Bundesländern stattfindende Diskussion um die Auflösung von Schuleinzugsbereichen, die manche Bildungsexpert/-innen als Wettbewerbsmodell zur Erhöhung von Schulqualität und als Grundrecht der Eltern auf freie Schulwahl für ihre Kinder sehen. Hierzu gibt es Befunde aus anderen Ländern, die eine verstärkte soziale und ethnische Segregation durch diese Auflösung belegen. Schließlich folgt eine Auseinandersetzung mit Schulstrukturreformen und Ansätzen zur Qualitätsentwicklung von Schulen.
6.1 D ESEGREGATIVE A NSÄTZE IN
DER
S CHULE
Der wachsende Anteil an Schüler/-innen mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem stellte dieses vor eine Reihe von Herausforderungen. Nach
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dem Anwerbestopp im Jahre 1973 erfolgte der Zuwachs an Ausländer/-innen aus den visumspflichtigen Staaten über die Familienzusammenführung, d.h. dem Nachzug von Ehepartner/-innen und den Kindern der Migrant/-innen aus dem Heimatland. Ein Herabsetzen des Nachzugsalters von ausländischen Kindern vor der Vollendung des 16. Lebensjahres im Dezember 1981 führte zum verstärkten Nachholen der im Heimatland verbliebenen Kinder. In Berlin erfolgte ein großer Zustrom vor allem türkischer Kinder und Jugendlicher aller Altersklassen, die aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse in den Grund- und Hauptschulen eingeschult wurden. Die Vorstellung, dass vor allem die Jüngeren in das Schulsystem hineinwachsen und sich der Sprachstand automatisch verbessert, erfüllte sich nicht. Nach Angaben der Expert/-innen war dies eher die Ausnahme als die Regel, und es erfolgte eine Reihe von neuen Beschulungsformen, die den sprachlichen Schwierigkeiten Abhilfe schaffen sollten. Neben den Regelklassen, in denen nach der „AV ausländische Schüler“ im 7. Jahrgang maximal 30% Ausländer/-innen beschult werden durften – bei guten Sprachkenntnissen bis zu 50% – wurden Ausländer-Regelklassen, Vorbereitungsklassen und Eingliederungslehrgänge eingerichtet. In den Eingliederungslehrgängen wurden vor allem die frisch nach Deutschland eingereisten 14–15jährigen beschult mit einer Reihe von altersbedingten Schwierigkeiten, die ein Experte aus der Senatsverwaltung für Bildung beschreibt: „Dann die Eingliederungslehrgänge: Man wusste nichts mehr mit den Kindern anzufangen, die mit 14 und 15 hier her kamen. Die waren im Heimatland nicht mehr schulpflichtig gewesen und hatten teilweise schon gearbeitet. Sie kamen nach Berlin und waren schulpflichtig bis 16, so ist unser Gesetz, und dann mussten die mehr oder weniger freiwillig noch mal eingeschult werden, aber wie? In die bestehenden 9. oder 10. Klassen hätte man sie nicht einschulen können, und so entstanden die Eingliederungskurse. Der Name war gut gemeint, in den seltensten Fällen hat es funktioniert, denn eine Eingliederung innerhalb von zwei Jahren vom Sprachstand Null bis zur Mitarbeit in einer Abschlussklasse, das hat nicht funktioniert. Der Name war dafür eigentlich falsch, aber man wollte ihnen die Möglichkeit geben, auf diesem Weg die Schulpflicht zu erfüllen und soweit Deutsch zu lernen, dass man sich zurecht findet.“ (Sen)
Ausländer-Regelklassen waren das Produkt der Quotenregelung. Sie konnten eingerichtet werden, wenn an einer Schule aufgrund einer hohen Anzahl an ausländischen Schüler/-innen die Quoten in den gemischten Klassen nicht mehr herzustellen waren und – nach der ‚AV ausländische Schüler‘ – andere Ausgleichsmaßnahmen nicht zumutbar waren. Im Fall der Überschreitung der Quoten musste von der Senatsverwaltung eine Ausnahmegenehmigung erbeten werden.
V ERÄNDERUNGSANSÄTZE
ZUR
V ERBESSERUNG
DER
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6.1.1 Die Ausgleichsmaßnahmen – Schüler/-innen werden auf andere Bezirke verteilt Die ‚AV ausländische Schüler‘ regelte bis 1995 den Umgang mit Schüler/-innen mit ausländischem Pass unabhängig von der Dauer des Aufenthalts in Deutschland über so genannte Ausgleichsmaßnahmen: „Ist zu erwarten, daß in den Klassenstufen 1 und 7 bei Beginn des Schuljahres die Zahl der ausländischen Schüler die in Nummer 3 genannten Anteile übersteigt, soll durch geeignete organisatorische Maßnahmen eine gleichmäßige Verteilung dieser Schüler erreicht werden. Wenn Verteilungsmaßnahmen an der einzelnen Schule nicht möglich sind, sollen ausländische Schüler den Schulen des Wohnbezirks oder eines anderen Bezirks zugewiesen werden, die einen geringeren Anteil an ausländischen Schülern haben. Dabei soll durch geeignete organisatorische Maßnahmen darauf hingewirkt werden, daß soziale Kontakte zwischen Schülern desselben Wohngebietes durch den Besuch derselben Schule nach Möglichkeit aufrechterhalten werden können. Unzumutbare Schulwege sind zu vermeiden, hierbei ist gegebenenfalls auf möglichst günstige Verkehrsverbindungen zu achten. Durch geeignete Verteilungsmaßnahmen soll auch in den übrigen Klassenstufen ein Übersteigen des Anteiles ausländischer Schüler von 50 von Hundert vermieden werden. Vorschriften, die den Zugang zu bestimmten Schularten, Schulzweigen oder Schulformen regeln, bleiben unberührt.“ (SenBWF 1984: 3/4). Deutlich wird an der Ausführung der Ausgleichsmaßnahmen, dass sie nicht vordergründig zur Verbesserung der Bildungschancen der betroffenen Jugendlichen mit Migrationshintergrund eingeführt wurden, sondern um eine Quotenregelung aufrecht zu erhalten. Betroffen von der Regelung waren auch Schüler/innen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren waren. Der wachsende Anteil an Kindern und Jugendlichen mit geringen Deutschkenntnissen in den Schulen wurde als Last empfunden, die in den Schulen der Wohnbezirke mit einem hohen Anteil an Migrant/-innen kaum zu bewältigen erschien: „Man sagte, wenn die Schulen ohnehin schon so viel Lasten haben, die Ausländer zu integrieren, dann werden wir ihnen nicht noch die Eingliederungsklassen aufbürden. Es wurde ein Lastenausgleich geplant, man hat wirklich mit diesen Begriffen in der Senatsverwaltung gearbeitet. Dass je nach U-Bahnanbindung im Wohngebiet die Schüler zwar im Wohngebiet erfasst wurden, die Meldeämter haben die Nachrichten an das bezirkliche Schulamt geschickt. Dieses hatte meistens eine Aufnahmeschule beauftragt, das waren die Erfassungsschulen. [...] Also die Neuköllner Schüler wurden nach Spandau geschickt, weil die U-Bahnlinie durchging. Kreuzberger Schüler wurden nach Zehlendorf geschickt oder
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Schöneberg. In Reinickendorf waren die, die aus dem Wedding kamen. [...] Damals waren die Schulen auch noch voll, weil die Jahrgänge stark waren, noch dazu in den Bezirken, wo die Ausländerprozente hoch waren. Nochmal zusätzliche Klassen hätten die Schulen auch arbeitstechnisch kaum verkraftet. Da haben wir gesagt, dann macht ihr das da draußen an den Randgebieten, Blumestraße hier in Spandau, das waren die, die Platz hatten in ihren Schulen und die haben gesagt, gut wir nehmen uns der Klassen an und sie hatten in der Regel ein bis drei Eingliederungsklassen an ihrer Schule.“ (Sen.)
Als Erschwernis wurde zudem die mangelnde Erfahrung der Lehrer/-innen vor allem in den Bezirken mit einem niedrigen Anteil an Migrant/-innen gesehen, die Eingliederungslehrgänge zugewiesen bekamen. Die Abschaffung der Eingliederungslehrgänge Mitte der 90er Jahre wurde jedoch als neue Bürde für die Hauptschulen empfunden, die nun neu zugezogene und überalterte Schüler/-innen in den 7. und 8. Klassen aufnehmen mussten. In Schulen mit einem hohen Anteil an Schüler/-innen türkischer Herkunft zeigte sich das Sprachproblem verschärft: „In dem Moment wo man eine reine türkische Population in der Schule hat, ist das Türkisch auf dem Schulhof nicht mehr rauszubekommen und womöglich aus dem Unterricht auch nicht bei der Stillarbeit oder Gruppenarbeit. Das habe ich selbst erlebt bei Unterrichtsbesuchen, dass im Deutschunterricht in der Gruppenarbeit Türkisch geredet wurde, nicht nur hier sondern an anderen Schulen auch.“ (Sen.)
Die hohe Attraktivität der in den 70er Jahren gegründeten Gesamtschulen führte insgesamt zu einem starken Rückgang der Schüler/-innen an Hauptschulen und zur sozialen und, je nach Quartier, ethnischen Entmischung der Schüler/-innenschaft. Begegnet wurde den wachsenden Aufgaben, die aus Sicht der Schulaufsicht im Umgang mit großen Lernausfällen bestand, mit der Aufhebung des leistungsdifferenzierten Unterrichts in den Klassen 7 und 8, der Verringerung des fakultativen Unterrichts und der dadurch möglichen Absenkung der Schüler/innenfrequenzen. Der Unterricht fand nun in kleineren Gruppen statt, die nochmals mit einem so genannten „Ausländerbonus“ verkleinert werden konnten. Auf Berliner Ebene bestätigt sich hiermit der deutschlandweite Trend, dass eine zunehmende Vielgliedrigkeit des Schulsystems zu einer sozialen Entmischung und Schrumpfung des niedrigqualifizierenden Schultyps Hauptschule führte. 6.1.2 Soziale und ethnische Mischung aus kommunaler Sicht Auf der Ebene der Bezirke zeigten sich verschiedene Motoren für die Ergreifung von Maßnahmen zur Verteilung der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund
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ab Ende der 70er Jahre. Im größten Bezirk Berlins, Neukölln mit seiner NordSüdteilung – im Norden ein hoher und im Süden ein geringer Anteil an Migrant/innen – bedeutete nicht nur die Umsetzung der Quotenregelung eine Herausforderung, sondern auch der Druck, der durch die Eltern der Kinder mit Migrationshintergrund ausgeübt wurde. Nach Angaben des Neuköllner Bildungsstadtrates und Schulrates a.D. verlangten Eltern zunehmend nach Schulplätzen, in denen ihre Kinder neben deutschen Kindern sitzen und keinesfalls in einer Ausländerregelklasse beschult werden sollten. Es erfolgte ein Verschicken der Kinder als Einzelfälle auf Antrag der Eltern oder Empfehlung des Schulamtes, bzw. wie bereits oben beschrieben als ganze Klassen in Schulen im Süden Neuköllns. Im Laufe der 80er Jahre stießen diese Maßnahmen aus verschiedenen Gründen an ihre Grenzen: „Die [ausländischen Schüler/-innen] haben wir dann nach dem Süden verbracht. Aber irgendwann war dann die Kapazität im Süden auch erreicht, weil es zusätzliche Klassen waren und ich hätte ja sonst die anderen zurückschulen müssen oder deutsche Kinder wegnehmen müssen aus dem Süden und nach Norden schicken. Das war politisch nicht durchsetzbar. [...] Das wurde von mir als Schulrat und anderen Schulräten im Auftrag der Politik vorgeschlagen und systematisch gemacht. Für mehrere Jahre, bis es dann letztlich nicht mehr ging. Erstens haben die Eltern Schwierigkeiten gemacht. Teilweise wegen der Kosten, dem Fahrgeld, und einfach teilweise, weil die Schulen zu weit weg waren. Also ein Busing mit der BVG, das hat auch ganz gut funktioniert. Aber die Quantität, es waren inzwischen so viele, dass die räumlichen Kapazitäten auch im Süden erschöpft waren, es sei denn, man hätte die so genannten Süd-Schüler wieder zurück nach dem Norden gekarrt und das war undenkbar.“ (Bildungsstadtrat)
Neben den Grenzen in der demografischen Entwicklung und durch die Akzeptanz der Elternschaft gab es Grenzen bei den personellen und materiellen Ressourcen. Die Verteilung der Schüler/-innen außerhalb der schulischen Einzugsgebiete oder Bezirke und ein höherer Förderbedarf wurden nicht durch eine bessere Ressourcenausstattung der aufnehmenden Schulen begleitet: „Wir haben keine zusätzlichen Gelder für die Kinder zur Verfügung gestellt, sondern nur, dass die Schulen das übliche Geld bekommen haben, wenn sie mehr Schüler haben, das war klar. Die Lehrerstunden, das war auch klar, aber es gab keine zusätzliche individuelle, finanzielle Zuwendung von unserer Seite aus. Weil, da waren keine Mittel vorgesehen, das haben wir nicht gemacht.“ (Bildungsstadtrat)
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An den Ausführungen wird deutlich, dass die Verteilung der Schüler/-innen an andere Standorte sowohl die Quotenregelung bediente, als auch vom Fördergedanken begleitet war und gleichzeitig keine Kosten verursachen sollte. Die Maßnahmen der Verteilung wurden nicht evaluiert und systematisch gefördert, was sich zum Beispiel an der Übernahme der Fahrtkosten der Schüler/-innen gezeigt hätte. Der Handlungsrahmen blieb bis auf die Eingliederungskurse eng auf den Bezirk beschränkt. Die 2009 bestehende Situation in Süd-Neukölln mit 39% und im Norden mit 80% Kindern nicht-deutscher Herkunftssprache an den Schulen zeigt aus Sicht der Schulverwaltung die Grenzen weiterer Verteilungsmaßnahmen von Nord nach Süd auf. Als Berliner Maßnahme zur Desegregation blieben sie auf die ethnische Herkunft bzw. den Ausländer/-innenstatus der Schüler/innen beschränkt und bezogen nicht die sozioökonomische Herkunft in die Verteilung ein. An diesen Rückblick auf Maßnahmen zur Verteilung von Schüler/-innen mit Migrationshintergrund und sprachlichen Schwierigkeiten schließt die Diskussion um eine andere Form des Überschreitens von Einschulungsbereichen, nämlich ihrer Auflösung an. Wie bereits das Kapitel 3.2 aufgezeigt hat, werden Schuleinzugsbereiche von Eltern umgangen und die Folgen langfristiger Segregation zeigen sich in Schulen wie der Eberhard-Klein-Schule, in der ausschließlich Jugendliche mit Migrationshintergrund und aus benachteiligten Verhältnissen mit letztlich geringem Erfolg beschult werden. Inwiefern die Abschaffung der Schuleinzugsbereiche von Grundschulen die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund erhöhen würde, wird im Folgenden untersucht.
6.2 A UFLÖSUNG DER S CHULEINZUGSBEREICHE UND B ILDUNGSGUTSCHEINE 6.2.1 Auflösung der Schuleinzugsbereiche Wie bereits im bisherigen Argumentationsstrang aufgezeigt, ist die Koppelung von Wohnortsegregation und Schulsegregation ein bildungsbenachteiligender Faktor für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Halten sich die Eltern an den offiziell vorgesehenen Grundschuleinzugsbereich und suchen keine Umgehungsstrategien, so finden sie in den Grundschulen in verschärfter Form die benachteiligenden Faktoren des Einzugsgebietes wieder: Armut, hoher Transfermittelbezug und Sprachschwierigkeiten im Deutschen. Vor diesem Hintergrund scheint die Aufhebung von Schuleinzugsbereichen und die freie
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Schulwahl eine Lösung, um die Abwanderung von Eltern aus benachteiligten Quartieren zu stoppen und eine freie Schulwahl zu ermöglichen. Befürworter/innen der freien Schulwahl argumentieren, dass die Schüler/-innen entsprechend ihrer Neigungen eine geeignete Schule aussuchen können und auch benachteiligte Schüler/-innen in eine Schule in besser gestellten Stadtteilen gelangen könnten. Einen Überblick über den Umgang mit Schuleinzugsbereichen und die Folgen ihrer Aufhebung oder Lockerung der Schulwahl in einigen europäischen Ländern gibt van Ackeren (2006). Demnach haben in England die Aufhebung der Schulbezirke seit 1988 und öffentliche Rankings im Sinne eines wettbewerbsorientierten Bildungsmarktes zu einer sozioökonomischen Polarisierung und verstärkten Segregation in leistungsmäßiger, sozialer und ethnischer Hinsicht geführt (van Ackeren 2006: 303f). Frankreich hat weiterhin festgelegte Schulbezirke, die „carte scolaire“, es gibt jedoch inzwischen eine begrenzte Schulwahlmöglichkeit innerhalb eines Gebietes. Die Schulen sind bemüht, sich die gewünschte leistungsstarke Schüler/-innenschaft auszusuchen und mit Eliteklassen und Niveaustufen anzuziehen. Ähnlich wie in Deutschland versuchen die Eltern mit Strategien wie Deckadressen, Profilwünschen und durch Privatschulen an die gewünschte Schule zu kommen. In benachteiligten Stadtteilen ist auch hier die Segregation sehr stark (vgl. Kapitel 7.1). In Schweden zeigt die freie Schulwahl zwar positive Wettbewerbsergebnisse (Steigerung der Schulabschlüsse), denn die freie Schulwahl wird als demokratisches Recht und nicht als ein Privileg der Reichen angesehen. Dennoch zeigen sich dort vor allem im urbanen Raum Segregationseffekte durch die sozial und ethnisch homogene Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft (Oelkers 2007). Auf die Risiken der Abschaffung von Schuleinzugsbereichen in Bezug auf die soziale Entmischung von Schulen weist auch die OECD in ihrem Equity-Bericht hin, da Eltern mit einer höheren Bildung ihre Schulwahl durch gezielte Recherchen treffen und ihren Kindern dadurch Vorteile verschaffen (Field, Kuczera & Pont 2007: 64f). 6.2.2 Bildungsgutscheine und Bürgerschulen Bürgerschulen in den USA Die in Deutschland seit einigen Jahren vor allem von Bildungsökonomen und der Wirtschaft diskutierte „Bürgerschule“ hat ihre Wurzeln in den USA, wo es eine Reihe verschiedener Versuche zur Steigerung der Bildungseffizienz mit so genannten school vouchers (Bildungsgutscheine) gibt. Um die Idee der in Deutschland vielfach geforderten Bürgerschule zu prüfen, werden zunächst einige empirische Ergebnisse aus den USA vorgestellt, wo bereits seit zwei
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Jahrzehnten Erfahrungen vorliegen. Die Grundidee ist, Eltern eine Wahlfreiheit zuzugestehen und über das Mittel des Wettbewerbs die Qualität der Schulen und damit der Schülerleistungen zu erhöhen und sozialpolitische Ziele zu verfolgen (Dohmen 2007: 37). Es wird davon ausgegangen, dass Eltern ihre Wahlfreiheit nutzen und gezielt Schulen mit einem guten Ruf etwa bezüglich ihrer Leistungserfolge aussuchen und dadurch einen Wettbewerb unter den Schulen in Gang setzen, der insgesamt eine Qualitätssteigerung nach sich zieht. In den USA werden die Bildungsgutscheine seit den 90er Jahren überwiegend an einkommensschwache Familien vergeben, die damit die Möglichkeit erhalten, von staatlichen Schulen an kostenpflichtige Privatschulen zu wechseln. Es erfolgt jedoch keine systematische Abgabe, sondern es sind vereinzelte Projekte, zum Teil abhängig von Stiftungsstipendien und auch von Staat zu Staat unterschiedlich organisiert (zum Überblick vgl. Dohmen 2005). Der Wettbewerb zwischen Schulen wird zum Beispiel im Bundesstaat Florida dadurch entfacht, dass Schüler/-innen einer Schule, an der wiederholt niedrige Leistungsergebnisse gemessen werden, Bildungsgutscheine für den Besuch von Privatschulen erhalten. Allerdings gibt es auch Befunde, dass sich das Leistungsniveau an öffentlichen Schulen einer Kommune unter einem zu hohen Wettbewerb verschlechtert. Teilweise wird der Empfang von Bildungsgutscheinen an die obligatorische Teilnahme an Veranstaltungen für Eltern geknüpft. Das grundsätzliche Problem der Bewertung der Qualität einer Schule liegt jedoch darin, dass in der Regel nicht der Leistungszuwachs von Schüler/-innen, sondern über Leistungsvergleiche gemessen wird. Dadurch sind Schulen mit einer Schüler/-innenschaft aus sozioökonomisch besser gestellten Familien automatisch im Vorteil. Zu den Effekten der Bildungsgutscheine auf die individuelle Leistungsentwicklung gibt es widersprüchliche Befunde. In den USA zeigte sich, dass gerade von bildungsfernen Eltern und sozialhilfeabhängigen Müttern die Gutscheine nicht angenommen wurden oder nach wenigen Schuljahren an einer Privatschule der Anteil der ehemals mit Bildungsgutscheinen Ausgestatteten stark geschrumpft war. Die nicht abgerufenen Bildungsgutscheine gingen so teilweise an Schüler/-innen über, die sich bereits an einer Privatschule befanden und nicht die eigentliche Zielgruppe waren (Dohmen 2007: 49f). Damit zeigen sich sozialpolitische Effekte, die auf einen Mangel an Aufklärung der Elternschaft aber auch begleitenden Maßnahmen wie etwa die Übernahme von Fahrtkosten bei einem weiteren Schulweg oder eines Differenzbetrags zur Deckung sämtlicher Schulkosten schließen lassen. Eltern mit einem Bildungsgutschein erhalten zudem nicht automatisch einen Schulplatz ihrer Wahl, weil vor allem die übernachgefragten Schulen sich ihre Schüler/-innen aussuchen können, solange keine staatliche Regulierung vorgesehen ist. Dies
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befördert wiederum die soziale Segregation an Schulen, da vor allem Eltern mit einem höheren Bildungsgrad Mittel und Wege haben, ihre Schulwahl durchzusetzen und eine Gymnasialempfehlung notfalls mit Nachdruck erwirken können (vgl. 3.3). Bildungsgutscheine als Subjektförderung erfordern einen individuellen Zuschnitt auf den Förderbedarf des einzelnen Kindes, damit sozioökonomisch benachteiligte und kognitiv wenig geförderte Kinder überhaupt eine Chance auf dem Wettbewerbsmarkt um attraktive Schulplätze haben. In diesem Sinne verweist Dohmen (2005) auf die Notwendigkeit einer ressourcengerechten Ausstattung von Schulen (ebd.: 45). Bürgerschulen in der deutschen Diskussion Das Konzept der Bürgerschulen wird in Berlin seit 2007 von Kritiker/-innen des staatlichen Schulsystems infolge der hohen Schulabbrecherquoten als Lösung zur Erhöhung der Bildungschancen diskutiert. Treibende Kraft ist der Paritätische Wohlfahrtsverband, der bereits organisatorische Erfahrungen seit der Einführung der Bildungsgutscheine im Bereich der Kindertagesstätten vorweisen kann, in Kooperation mit Vertreter/-innen der Wirtschaft. Für den Schulbereich wird der marktwirtschaftliche Aspekt des Wettbewerbs als qualitätsfördernd gesehen mit der Forderung: „Die Schulen müssen aus der Gängelung staatlicher Bürokratie herausgelöst werden um ihrem Bildungsauftrag gerecht zu werden.“ (Der Paritätische Berlin 2007: 3). Eine gleichwertige Finanzierung privater und staatlicher Schulen soll allen Eltern unabhängig von persönlichen finanziellen Ressourcen die Möglichkeit eröffnen, eine Schule auszusuchen, deren Profil den Neigungen und Interessen ihrer Kinder entspricht. Realisiert werden soll dieser Wettbewerb über einen einheitlichen Kostensatz pro Schüler/-in und Zuschläge für besonderen Förderbedarf. Damit sei die Möglichkeit der sozialen Durchmischung der Schüler/-innenschaft befördert. Unklar bleibt bei der Umsetzung, wie mit einer Übernachfrage an Schulen mit begehrten Profilen umgegangen wird und wie die Auswahlkriterien für die Aufnahme festgelegt werden, denn das Modell wird damit beworben, dass keine Kinder abgelehnt werden dürfen. Ob Kinder mit niedrigen schulischen Leistungen oder Sprachdefiziten Eingang in Bürgerschulen finden, ist fraglich, da das Modell Bürgerschulen von Interessensvertreter/-innen der kostenpflichtigen Privatschulen vertreten wird, in die bisher Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund wenig Eingang gefunden haben. Die freie Wahl einer Bürgerschule würde immerhin bedeuten, dass alle Eltern über das Angebot informiert und sie darin unterstützt werden sollten, einen Vergleich anzustellen, außerdem Mittel zur Erreichbarkeit (ÖPNV-Monatskarten) der entfernter liegenden Schulen zur Verfügung stehen müssten.
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6.3 B ILDUNGSREFORMEN UND Q UALITÄTSENTWICKLUNG VON S CHULEN Die Debatte über den durch die demografische Entwicklung zunehmenden Arbeitskräftemangel in Deutschland und die gleichzeitige Bildungsmisere hat auf dem Nationalen Integrationsgipfel im November 2010 einen Aktionsplan hervorgebracht, der die Quote der deutschen und ausländischen Schulabbrecher/innen bis zum Jahr 2015 nivellieren soll. In vielen Bundesländern werden Reformansätze diskutiert, die nicht nur an einer Schulstrukturreform und der Entwicklung der Unterrichtsqualität und –organisation ansetzen, sondern auch den Einbezug lokaler und kommunaler Kooperationspartner/-innen vorsehen. Vorausgegangen war die Verpflichtung aller Schulen zur Schulentwicklungsplanung und Evaluation zur Qualitätssteigerung. Die Einführung der Ressourcenzuteilung an den Schulen einiger Bundesländer nicht nur nach der Anzahl an Kindern nicht-deutscher Herkunftssprache, sondern zudem nach dem Anteil an Lernmittelbefreiungen ist der Erkenntnis geschuldet, dass der sozioökonomische vor dem ethnischen Hintergrund den Schulerfolg beeinflusst. 6.3.1 Förderung der Bildungssprache Die zentrale Erkenntnis der Bundesländer in den letzten Jahren besteht darin, dass Bildungsprogramme im frühen Kindesalter beginnen und die Eltern als Partner/-innen gewonnen werden müssen. Der Sprachförderung der Kinder im vorschulischen Alter kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Übereinstimmung besteht darin, dass der Bedarf mit Sprachtests ermittelt und ein entsprechendes Förderangebot bereitgestellt werden muss, da Sprachkenntnisse eine Schlüsselkompetenz für Bildung und für eine langfristige Integration sind. Die Festlegung von Bildungsstandards bezieht damit bereits die Kindertagesstätten ein. Dementsprechend setzen Hessen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Berlin die frühe Sprachförderung vor der Einschulung als Pflichtangebot für die Kinder um, welche die durchgeführten Sprachtests bzw. Sprachstandsfeststellungen nicht bestehen. In den alten Bundesländern gibt es inzwischen Sprachstandstests für alle Kinder vor der Einschulung, wobei Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein standardisierte Verfahren zur Sprachstandsfeststellung anwenden und Baden-Württemberg nur Kinder testet, deren beide Elternteile einen Migrationshintergrund haben (einen Überblick geben Dietz & Lisker 2008). In den neuen Bundesländern wird die Feststellung oftmals mit der Einschulungsuntersuchung verbunden und von den Schulärzt/-innen abgedeckt. In Bezug auf
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die Folgen mangelnder Sprachkompetenzen gibt es ebenfalls keine einheitlichen Regelungen in Deutschland, denn eine gezielte oder gar für die Kinder verpflichtende Teilnahme an Sprachförderungsprogrammen gibt es nicht überall. Dass dringender Handlungsbedarf besteht, zeigen wiederum die von Gogolin (2009) zusammengefassten Ergebnisse aus den PISA-Studien: „Obwohl mithin beinahe 90% der getesteten Jugendlichen mit Migrationshintergrund auch – oder sogar überwiegend – Deutsch zur Verständigung außerhalb der Schule benutzen, reichten ihre durchschnittlichen Kompetenzen in keinem gemessenen Leistungsbereich an die der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund heran. Besonders deutlich sind die Abstände in den Leistungen derjenigen, die ihre familiale Sprachpraxis als überwiegend herkunftssprachlich klassifizieren. Aber auch die Jugendlichen, die angeben, in ihrem Alltag überwiegend Deutsch zu sprechen, erreichen weder in den Lesefähigkeiten noch in Mathematik das durchschnittliche Kompetenzniveau der Jugendlichen in den jeweiligen Bundesländern.“ (Ebd.: 266/267). Zur Förderung der schulischen Kompetenzen reicht somit ein vermehrter Sprachgebrauch im Deutschen nicht aus, wenn nicht gleichzeitig der Erwerb einer „Bildungssprache“ damit verbunden wird, wie Gogolin (2009) ausführt. Im Anschluss an die englischsprachige Forschung wird Bildungssprache als Sprachregister, das in allen anspruchsvollen Schriften oder Verlautbarungen gebräuchlich ist, verstanden. Charakteristisch dafür sind ein ausdifferenzierter Wortschatz und die Fähigkeit der Verwender/-innen, eigene und fremde Standpunkte, Sachverhalte zu differenzieren und zu explizieren. Die empirische Forschung in England und Australien hat jedoch ergeben, dass für den verfestigenden Erwerb der Bildungssprache kontinuierlich und systematisch ein Vergleich von Alltags- und Bildungssprache notwendig ist, was einen Hinweis auf ein Desiderat in der deutschen Unterrichtsforschung gibt (ebd.: 272f). 6.3.2 Elternpartizipation und Elternbildung Die Rolle der Eltern bei der Qualitätsentwicklung von Schulen ist ambivalent. Eltern werden zunehmend als Partner/-innen gesehen, deren Erziehungskompetenz durch die Förderung partizipativer Strukturen in den Schulalltag mehr Eingang finden soll. In diesem Sinne bieten aktive Schulen themenzentrierte Elterncafés, Elternschulen, Vätergruppen und Workshops zur Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern an und bilden diese z.B. als Mentor/-innen aus. Eltern haben zunehmend Mitspracherechte in schulischen Gremien, wodurch allerdings die Tendenz befördert wird, dass vor allem bildungsnahe Elterngruppen ihre Interessen durchsetzen (Fürstenau & Gomolla 2009: 14). Aus Sicht der
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Eltern mit Migrationshintergrund gibt es oftmals Kommunikationsprobleme mit den Lehrer/-innen und es mangelt an Wertschätzung ihnen gegenüber (Gomolla 2009: 29f). Vor allem der Umgang mit Eltern aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen scheint bisher wenig befriedigend zu gelingen. Es mangelt demnach an Strategien, eine zunehmend soziale und ethnisch heterogene Elternschaft als Bildungspartner/-innen zu integrieren. 6.3.3 Veränderungen der Schulstruktur Die deutschlandweite Tendenz der Schulstrukturentwicklung geht zu einem Zwei-Säulen-Modell, das mehr Durchlässigkeit und damit die Chance bietet, einen hochwertigen Schulabschluss zu erreichen. Die Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin stellten bereits ab dem Schuljahr 2010/2011 auf ein ZweiSäulen-Modell unter Beibehaltung des Gymnasiums um. Die bisherige Hauptschule als bei Eltern und Kindern nicht mehr akzeptierte, wie auch von Bildungsforscher/-innen kritisierte Schulform (vgl. Kapitel 3.3) wird als alleinige Schulform abgeschafft. Weitere Länder folgen, wobei viele verschiedene Bezeichnungen für neue, meist mehrere Bildungsgänge zusammenfassende, in ihrer Organisation und ihrem Bildungsziel durchaus unterschiedliche Schulformen existieren: Stadtteilschule (Hamburg), Realschule+ (Rheinland-Pfalz), Sekundarschule (Berlin), Oberschule (Brandenburg), Regionalschule (MecklenburgVorpommern) usw. In den Stadtstaaten bietet die zweite Säule eine dem Gymnasium gleichwertige Hochschulreife an. Mit der Umstellung auf Ganztagsschulen wird eine umfassendere Förderung möglich, die besonders für Kinder ohne finanzielle Ressourcen für eine private Bildungsförderung wichtig ist. Beispiel: Reformierte Schullandschaft in Berlin Die Sekundarschule als zweite Säule wird am Beispiel Berlins, deren Bildungsverwaltung mit Beginn des Schuljahres 2010/2011 eine neue Schulstruktur eingeführt hat, dargestellt. Im Schuljahr 2010/2011 wurde die Sekundarschule als Zusammenfassung von Haupt-, Real- und Gesamtschule mit der Möglichkeit, das Abitur zu erlangen, neben dem Gymnasium eingeführt. Daneben existiert das Sondermodell „Gemeinschaftsschule“ mit einer gemeinsamen Beschulung von der ersten bis zur 10. Klasse. Mit der Einrichtung von Sekundarschulen werden verschiedene Ziele verfolgt: Die Erweiterung auf 13 Schuljahre bietet eine höhere Durchlässigkeit und Attraktivität als die bisherigen Haupt- und Realschulen und die Möglichkeit, einen höherwertigen Schulabschluss zu erreichen. In der Umwandlung zu Ganztagsschulen liegt die Hoffnung, die Bildungschancen aller Schüler/-innen durch
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eine lernförderliche Umgebung zu erhöhen. Erwartet wird eine stärkere soziale und Leistungsmischung in den Klassen, somit kann das Modell als eine Maßnahme gegen Segregation bewertet werden. Verbunden ist mit diesen Änderungen nicht nur die Erwartung geringerer Schulabbruchquoten, sondern auch einer höheren Zahl von Abiturient/-innen. Die Verzahnung an den Übergängen von der Kindertagesstätte in die Grundschule, von dort in die Sekundarstufe I der Sekundarschule oder des Gymnasiums wird durch einen fachlichen Austausch angestrebt. Lehrer/-innen aus der Grundschule sind aufgefordert, an Sekundarschulen bzw. Gymnasien und umgekehrt zu unterrichten. Duales Lernen soll an allen Schularten verstärkt werden, um die berufliche Orientierung frühzeitig zu ermöglichen. Die Spanne reicht von der Einrichtung von Praxisklassen als Regelangebot für abschlussgefährdete Jugendliche bis hin zu Kursen an der Universität zum Erwerb eines Bachelor-Moduls für leistungsstarke Schüler/-innen ab 16 Jahre. Das Vergabeverfahren für übernachgefragte Sekundarschulen und Gymnasien wurde dahin gehend verändert, dass nicht mehr der Wohnort, sondern ein Auswahlverfahren maßgebend ist. Dabei kann die Schulleitung 70% der Schüler/-innenschaft nach festgelegten Kriterien aussuchen und muss 30% der Plätze verlosen. Als Hauptkriterium der Auswahl wurden bisher die schulischen Leistungen gewählt. Auch wenn bei diesem Verfahren die Gefahr besteht, dass Leistungseliten an Schulen gruppiert werden, so ist doch immerhin die Koppelung zwischen Wohnort und Schulstandort unterbrochen, d.h. ein Kind aus einem benachteiligten Quartier kann fortan bei entsprechenden Leistungen in eine Schule in einem gut situierten Quartier gelangen. Vor der Schulreform galt bei übernachgefragten Schulen das Kriterium der Erreichbarkeit mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Je schneller die Schüler/innen in der Schule sein konnten, desto höher war ihre Chance, einen begehrten Schulplatz zu erhalten. Diese Vergabepraxis beförderte die ethnische und soziale Segregation an Schulen. Kritik am Sekundarschulmodell kommt vor allem aus den umgewandelten Hauptschulen, die bisher mit niedrigeren Klassenfrequenzen arbeiten konnten und nun, bei vorerst gleicher Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft, hohe Bildungsziele anstreben sollen.
6.4 L ÖSUNGSANSÄTZE
AUF
Q UARTIERSEBENE
Bereits im Kapitel 5.1 wurden Quartiersinterventionen im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ vorgestellt. Das Programm wurde 1999 gestartet, um der zunehmenden sozialen und räumlichen Spaltung in den Städten Deutschlands
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entgegenzuwirken. Dazu gehörten zunächst Maßnahmen zur Aufwertung von benachteiligten Gebieten, die Vernetzung der lokalen Akteur/-innen und die Aktivierung der Bevölkerung dahingehend, sich für ihre Belange im Quartier zu engagieren. Das Thema Bildung gewann in einigen Programmgebieten sehr früh eine prioritäre Stellung und führte zu einer Vernetzung von Quartiersmanagement, Schulen, Einrichtungen der Jugendhilfe und weiteren Bildungsakteur/innen zu Bildungsverbünden (Bundesministerium für Verkehr 2010). Insgesamt bestand der Anspruch, Ansätze zur Verbesserung der Ressourcenausstattung in benachteiligten Quartieren aus unterschiedlichen Politikbereichen wie etwa der Jugend, der Berufsbildung und der Gesundheit zu bündeln. Basierend auf den Ergebnissen des Berliner Monitorings Soziale Stadtentwicklung 2008 und 2009 wurden fünf Gebiete, genannt „Aktionsräume plus“, herausgefiltert, die in besonders hohem Maße komplexe Problemlagen darstellen (Häußermann 2008a, Häußermann 2009). In diesen fünf Gebieten wohnt ein Viertel der Berliner Bevölkerung, die in hohem Maße von Arbeitslosigkeit und verfestigtem Transferleistungsbezug betroffen sind. Sowohl die Senatsverwaltungen als auch die Bezirke zielen mit dem quartiers- und ressortübergreifenden Ansatz darauf hin, den sozialen Zusammenhalt in Berlin zu bewahren (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin 2011). Die soziale Spaltung in den deutschen Städten ist in den letzten Jahren gewachsen und es besteht die Gefahr der sozialen Exklusion von Kindern, die in benachteiligten Quartieren leben. Wenngleich diese Exklusionsgefahr nicht vollständig auf der Ebene des Quartiers gebannt werden kann, da z.B. die gesamtwirtschaftliche Lage Deutschlands und die Arbeitsmarkt- und Ausbildungspolitik auf die Beschäftigungslage der Bevölkerung einen großen Einfluss haben, sind weitere Interventionen hinsichtlich einer sozialen Inklusion dringend notwendig. Auf diesen Umstand weisen Häussermann u.a. (2010) in ihrer Studie zur sozialen Inklusion in der Wohnumgebung hin. Bisherige Anstrengungen des Berliner Senats und der Bezirke, ihre Aktivitäten zu bündeln und insbesondere über Bildungsförderung und die Unterstützung von Bildungsverbünden jungen Menschen eine Perspektive auf gesellschaftliche Teilhabe zu eröffnen, werden auch in Zukunft notwendig sein. Im Berliner Wrangelkiez als Interventionsgebiet konnte aufgrund der Bildungsoffensive und zahlreicher Maßnahmen zur Verbesserung der Schulqualität an der benachbarten Grundschule eine Erhöhung der Gymnasialempfehlungen und eine wieder zunehmende Akzeptanz der Schule von einheimischen Eltern festgestellt werden. Damit zeigen sich positive Effekte der Anstrengungen auf Quartiers- und Schulebene.
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Die von den befragten Expert/-innen beschriebenen und in der Verordnung „AVausländische Schüler“ festgelegten Quotierungen zeigen auf, dass Maßnahmen zur Verteilung der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund sich nach ethnischer bzw. staatsbürgerlicher Herkunft richteten. Die sozioökonomische Lage der Schüler/-innen wurde bei der Verteilung nicht berücksichtigt. Die Bildung von Ausländer-Regelklassen, Vorbereitungsklassen und Eingliederungslehrgängen beförderte eher die Segregation und führte nicht dazu, die deutsche Sprache zügig zu lernen und dem allgemeinen Unterricht auf Deutsch folgen zu können. Zentraler Kernpunkt von Verteilungsmaßnahmen war die Notwendigkeit, schulorganisatorische Probleme, entstanden durch die hohe Anzahl an Schüler/-innen durch Zuzüge aus den ehemaligen Anwerbeländern nach Berlin, zu lösen. Lösungsmodelle beinhalteten durchaus auch den Fördergedanken, allerdings waren Maßnahmen zur Verteilung der Schüler/-innen bis in die 90er Jahre wohl auch aufgrund der geografischen Lage Neuköllns und der damals noch vorhandenen Berliner Mauer begrenzt. Kreuzberg als westlicher Nachbarbezirk stand vor denselben Herausforderungen bezüglich der Beschulung der Kinder und Jugendlichen. Der Handlungsrahmen der Verteilung blieb somit bis auf die Eingliederungskurse und einzelne Maßnahmen zur Beschulung in entfernter gelegenen Schulen auf den Bezirk beschränkt. An der für Neukölln dargestellten Verteilung der Kinder zeigt sich die Notwendigkeit eines bezirksübergreifenden bzw. stadtweiten Handlungsrahmens. Die Diskussion um die Auflösung der Schuleinzugsbereiche zeigt im internationalen Rahmen auf, dass sie die ethnische und soziale sowie leistungsbezogene Segregation der Schüler/-innen befördert. Vor allem in den USA als Druckmittel gegenüber Schulen mit wiederholt schwachen Leistungsergebnissen eingesetzt, besteht bei deutschen Bildungsökonom/-innen die Vorstellung, dass Bildungsgutscheine und damit verbunden die öffentliche Förderung aller staatlichen wie privaten Schulen die Qualität der Schulen über den marktwirtschaftlichen Wettbewerb befördern würde. Dabei bleibt vor allem bei dem in Deutschland diskutierten Modell unklar, wie mit der Übernachfrage bei Schulen umgegangen und wie Eltern über die Profile der frei wählbaren Schulen informiert werden würden. So kann in Anlehnung an internationale Erfahrungen angenommen werden, dass Bildungsgutscheine und die gleichwertige Finanzierung staatlicher wie privater Schulen vor allem den mobilen und ressourcenstarken Kindern aus der Mittelschicht nützen würden. Notwendig wäre daher bei der Einführung einer Bürgerschule, dass die Beratung in der Kita in mehreren Sprachen stattfindet und
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die Bildungsgutscheine für Familien, die von staatlichen Transferleistungen leben, mit freien Monatskarten gekoppelt sind. Ein Monitoring der Entwicklung von Schulen bezüglich ihrer sozialen und ethnischen Zusammensetzung wäre in diesem Fall unumgänglich. Die in den letzten Jahren angestoßenen Reformen zur Qualitätsentwicklung von Schulen zeigen eine Schwerpunktsetzung in der Frühförderung anhand der Bildungspläne im Kindergartenalter und der Sprachstandsfeststellung sowie dem Angebot der Sprachförderung bei Bedarf. Der Förderung der Bildungssprache kommt hier wie auch später in der allgemeinschulischen Bildung eine besondere Bedeutung beim Spracherwerb zu. Die PISA-Ergebnisse zeigen jedoch auf, dass die bisherige Sprachförderung den durchschnittlichen Kompetenzrückstand der Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht aufheben kann, obwohl viele Jugendliche einen vermehrten Sprachgebrauch des Deutschen angeben. Bei den 15jährigen greifen die erst vor einigen Jahren begonnenen Fördermaßnahmen noch nicht. Mit Rückgriff auf die Fallstudie in dieser Arbeit kann als weitere Erklärung die überwiegende Verwendung der deutschen Sprache mit NichtMuttersprachler/-innen gelten. Die Kommunikation in der Familie und an den meisten Orten, an denen sich die Schüler/-innen aufhalten, erfolgt offenbar mit Personen, die ebenfalls die deutsche Sprache nur lückenhaft beherrschen (Jugendzentren, Lebensmittelhandel, Internetcafés, vorwiegend ethnisch geprägte Infra- und Sozialstruktur). Die Effekte der Reformen der Schulstruktur können noch nicht benannt werden, da die Umstellung auf das Zweisäulenmodell erst in den Anfängen steckt. Bei einer Evaluation wäre es sinnvoll, zu ermitteln, ob a) alle Schulen von einer besseren sozialen Mischung profitieren, b) dadurch die Quote der höheren Schulabschlüsse an den Schulen steigt und c), ob mit der Entkoppelung von Wohn- und Schulstandort bei der Übernachfrage weiterführender Schulen tatsächlich mehr Jugendliche mit Migrationshintergrund in Schulen in besser gestellte Bezirken gelangen. Auf der Ebene der Quartiersintervention und der Ausweitung von Bildungsverbünden zeigt sich, dass dies notwendige Maßnahmen sind, die auch in Zukunft fortgeführt werden müssen, zumal die soziale Spaltung der Stadt zunimmt. Dennoch ist zu bilanzieren, dass, obwohl alle beschriebenen Maßnahmen zur Erhöhung der Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund einen sinnvollen Beitrag leisten, sie nicht ausreichen, um tiefgreifende Änderungen in der Bildungsbenachteiligung zu bewirken. Dieser Umstand weist darauf hin, dass Schulen und ihre Partner/-innen stärker gegen Kontexteffekte wirken müssen und die Notwendigkeit besteht, die ethnische und vor allem soziale Segregation als zentrale Bestandteile der Bildungsbenachteiligung zu verringern.
7 Strategien zur Neutralisierung von Segregationseffekten
Die vorausgegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass bis jetzt erfolgte Strategien zur Verbesserung der Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht ausreichen. Als ein zentraler Punkt der Bildungsbenachteiligung hat sich die soziale und ethnische Segregation der Schüler/-innen in Bildungseinrichtungen von Anfang an, d.h., von dem Eintritt in die Kindertagesstätte bis zum Übergang von der allgemeinbildenden Schule in die Berufsausbildung, gezeigt. In diesem Kapitel soll daher die vierte Forschungsfrage nach Interventionen, die über die bisherigen Maßnahmen hinausgehen und Strategien, die direkt gegen den Einfluss von Kontexteffekten wirken, beantwortet werden. Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, hat die soziale Mischung in Schulklassen und Schulen einen erheblichen Einfluss auf die Leistungsentwicklung der Schüler/-innen. Diese Mischung wird durch die Koppelung von Wohnort der Schüler/-innen und Schulstandort beeinflusst. Neben dem Einfluss der Schuleinzugsbereiche bestehen bei vielen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund nur eingeschränkte Möglichkeiten bei der Schulwahl, bedingt durch mangelnde Mobilität, Information und das stratifizierte Schulsystem (wie bereits dargelegt). Naheliegend ist es, zu prüfen, wie eine lernförderliche soziale Mischung unter den gegebenen Bedingungen von Wohnortsegregation und Schulsegregation hergestellt werden könnte. Bisherige Strategien in Berlin waren nicht bewusst auf eine soziale Mischung ausgerichtet, sondern darauf, organisatorische Probleme in Zusammenhang mit der Beschulung von zunächst ausländischen Schüler/-innen, später Schüler/-innen mit Migrationshintergrund bzw. nicht-deutscher Herkunftssprache zu lösen (vgl. Kapitel 6.1). Internationale schulische Desegregationsbemühungen haben unterschiedliche Ausgangslagen. Aufgrund der demographischen Entwicklung (starke Zunahme der Zahl von Kindern mit Migrationshintergrund) und weltweiten Wanderungsbewegungen wird ethnische Segregation an Schulen ein zunehmendes Thema,
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dem in den einzelnen Ländern unterschiedlich begegnet wird. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Desegregationsmaßnahmen in Ländern mit einer längeren Erfahrung. Hier sind zunächst die USA zu nennen, wo es jahrzehntelange Erfahrungen mit dem ‚Busing‘, einer vorwiegend ethnischen Desegregationsmaßnahme, gibt. Die mangelnde Umsetzung der 1954 aufgehobenen Rassentrennung an Schulen und die enge Koppelung von Wohnort- und schulischer Segregation führte in den 70er Jahren zu einer umfassenden Umverteilung der schwarzen und weißen Schüler/-innen im staatlichen Schulsystem. Diese Maßnahmen erfolgten ausschließlich nach der Hautfarbe (race). Des Weiteren ist als benachbartes Ausland Frankreich zu betrachten, das im Gegensatz zu den USA ein mit Deutschland besser vergleichbares Sozialsystem hat. Dort hat die Regierung ebenfalls Desegregationsmaßnahmen ergriffen. Im Zusammenhang mit einer mehrphasigen Quartierspolitik werden zum einen Desegregationsstrategien über die Verpflichtung der Städte, 20% ihres Wohnbestandes als Sozialen Wohnungsbau anzubieten, verfolgt (Häußermann 2008b). Zum anderen fließen in die Schulen der Vororte und benachteiligten Quartiere verstärkt finanzielle Mittel zur Verringerung der Quoten der Schulabbrecher/innen und Erhöhung der Anzahl der Abschlüsse. Gleichzeitig jedoch wird die soziale und ethnische Spaltung der Schulen und Stadtteile sehr stark durch ein starres System der Zuteilung der Schüler/-innen nach Wohnstandort vorangetrieben. In Frankreich haben Desegregationsbemühungen eine verfassungsrechtliche Grundlage, nach der alle französischen Staatsbürger/-innen ein Recht auf gleiche Bildungschancen haben. An einigen Schulen wird das Busing erprobt (vgl. 7.1). Insgesamt weisen einige westeuropäische Studien darauf hin, dass Diskrepanzen beim Bildungserfolg zwischen Schüler/-innen mit und ohne Migrationshintergrund überwiegend durch sozioökonomische Variablen bedingt sind und der Effekt ethnischer Segregation im Vergleich dazu relativ gering ist. Zu diesem Schluss kommt auch die Vergleichsstudie von Paasche, Fangen und Sarin (2011), die Estland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Norwegen, Schweden und Spanien einbezieht. Dennoch wird die ethnische Segregation an Schulen als ein Integrationshindernis gesehen (ebd.: 4). In Deutschland spielt im internationalen Vergleich zu diesen Ländern die frühe leistungsbezogene Aufteilung auf verschiedene Schulformen eine erhebliche Rolle bei der Bildungsbenachteiligung. Unter den genannten Staaten führt Italien als einziges Land ab dem Schuljahr 2011/2012 als Desegregationsmaßnahme eine ethnische Quotierung von 30% pro Klasse ein, um die Abwanderung der Einheimischen an Privatschulen zu vermindern und die Integration zu erhöhen.
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F RANKREICH 1
Mit dem im März 2008 von der Staatssekretärin für Stadtpolitik, Fadela Amara, vorgestellten Programm „Espoir Banlieues“ (Hoffnung für die Vorstädte) leitete Frankreich eine neue Politik für benachteiligte Stadtteile ein. In dem von Staatspräsident Sarkozy unterzeichneten Regierungsprogramm sollten zur Herstellung einer sozialen Mischung unter anderem 50 freiwillige Modellschulen in ein „Busing-System“ einbezogen werden, das Kinder aus Schulen in benachteiligten Stadtteilen, so genannten ZUS („Zone d’ Urbanisation Sensible“), an Einrichtungen in besser gestellten Stadtteilen transferiert (Portail du Gouvernement 2011). Die Hoffnung Amaras war, dieses System vor allem auf großstädtische Quartiere mit hoher Problemverdichtung zu übertragen (Géraud 2008). Das republikanische Prinzip der gleichen Bildungschancen für alle mit dem Ziel des gesellschaftlichen Zusammenhalts war hier ebenso eine treibende Kraft wie die Furcht vor neuen Unruhen in den Banlieues (Vororten) der Großstädte durch Jugendliche ohne berufliche Perspektiven (Veil 2002, Lagrange & Oberti 2006). Anregungen zu diesem System hatte Fadela Amara bereits im Vorjahr in Oullins, einer Stadt in der Agglomeration Lyons, erhalten. Dort wird seit 2003 ein durch die Presse als „Busing“ bekannt gewordener Schüler/-innentransfer praktiziert, der sich allerdings in einigen Punkten vom ursprünglichen USamerikanischen Konzept des „Cross Town School Busing“ unterscheidet. Wurde das Busing in den 1970ern in den USA mit einer Umverteilung afro- und angloamerikanischer Schüler/-innen zur Bekämpfung der Rassentrennung in Schulen eingesetzt, ging es in Oullins um die Aufteilung von Schüler/-innen einer benachteiligten Schule auf mehrere besser gestellte Schulen. Französische Debatten und Handlungsansätze konzentrieren sich in erster Linie auf die Bekämpfung der sozialen Segregation, da das Gleichheitsprinzip in der französischen Verfassung eine statistische Erfassung des Migrationshintergrundes französischer Staatsbürger/-innen nicht zulässt. Trotz schwieriger Datenlage beziehen einige Wissenschaftler/-innen dennoch die ethnische Ebene in ihre Studien mit ein und belegen die Situation in manchen Quartieren mit dem Begriff „schulische Apartheid“ (Felouzis, Liot & Perroton 2005). Vor diesem Hintergrund der in der vorliegenden Arbeit beschriebenen Segregationsproblematik an Schulen sind Maßnahmen zur Desegregation, wie sie in Frankreich beschlossen sind und in Oullins bereits seit längerer Zeit praktiziert werden, auch für die deutsche Debatte von Interesse.
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Kapitel 7.1 wurde in leicht veränderter Form als Zeitschriftenaufsatz bereits veröffentlicht (vgl. Baur 2010).
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Der vorliegende Beitrag stellt die Ergebnisse einer empirischen Studie zum Busing-Modell in Oullins vor, in der die lokalen Akteur/-innen aus Schule, Stadtverwaltung und sozialen Einrichtungen sowie die Leiterin des „Pôle Initiatives Ville d'Oullins“ (PIVO), – vergleichbar mit dem Quartiersmanagement in Deutschland – befragt wurden. Die leitenden Fragen waren, • • • •
welche Gründe zur Schulschließung führten, welche politischen und praktischen Schritte zur Umsetzung notwendig waren, wie die Akzeptanz der Maßnahme bei allen Beteiligten ist und ob durch die Verteilung der Schüler/-innen auf verschiedene Schulen positive Leistungseffekte belegt werden konnten.
Von weiterem Interesse waren langfristige Strategien zur Herstellung einer sozialen Mischung an Schulen. Entsprechend der beruflichen Funktion der Befragten variierte der Interviewleitfaden. Hinzu kamen Kurzinterviews mit einigen Eltern und mehreren Schüler/-innen zu ihrer Bewertung der Maßnahme. Die Ergebnisse werden hier vorgestellt. 7.1.1 Die Fallstudie – La Saulaie, ein benachteiligtes Quartier in Oullins Oullins liegt mit seinen ca. 26.000 Einwohner/-innen in der südwestlichen Agglomeration von Lyon und verfügt über eine mäßig ausgestattete öffentliche Verkehrsanbindung an das Lyoner Stadtzentrum. Die sozialstrukturellen Daten zeigen in vieler Hinsicht eine höhere Stabilität im Vergleich zum Lyoner Großraum auf. Dazu gehören geringere Werte bei der Arbeitslosenquote, der Zahl der Alleinerziehenden und der staatlichen Krankenversicherung für Bürger/-innen ohne Einkommen sowie ein höheres Qualifikationsniveau der erwerbsfähigen Bevölkerung. Der Ortsteil La Saulaie liegt östlich des Zentrums von Oullins zwischen der Autobahn und den Bahngleisen der SNCF (Staatsbahn Frankreichs). Viele Wohngebäude befinden sich in einem sanierungsbedürftigen Zustand, obwohl das Quartier bereits seit 1994 als „Zone de Redynamisation Urbaine“ (Stadterneuerungsgebiet) eingestuft ist. La Saulaie ist ein „sensibles“ Quartier (ZUS – „Zone d’Urbanisation Sensible“) mit Interventionsmaßnahmen in Bildung, Gesundheit, Stadtplanung zur Lösung sozialer Problemstellungen. Dennoch hat es in den letzten Jahren einen massiven Schrumpfungsprozess durchlaufen. Obwohl die Bewohner/-innenzahl in Oullins insgesamt gewachsen ist, verzeichnet La
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Saulaie eine Schrumpfung um 15% auf 1.244 Personen im Jahr 2006. Ein Drittel der Wohnungen ist im Bestand des sozialen Wohnungsbaus. Im Vergleich mit Oullins weist das Quartier La Saulaie in seinen sozialstrukturellen Daten eine doppelt so hohe Arbeitslosenquote und eine Verdreifachung verschiedener staatlicher Transferleistungen auf (Insee 2011). Die Aufstellung der Bildungsabschlüsse der Jugendlichen in La Saulaie im Jahresbericht des PIVO in 2009 verdeutlicht, dass sich fast die Hälfte von ihnen in berufsvorbereitenden Lehrgängen befindet oder nach der Beendigung des Collège, der Mittelschule, keinen weiterqualifizierenden oder beruflichen Anschluss gefunden hat. Bilanziert wird eine starke Prekarität und wirtschaftliche Abhängigkeit aufgrund der Brüche in Ausbildung und Berufstätigkeit. Die Quartiersmanagerin fasst im Interview die heutigen Probleme in La Saulaie zusammen: Bevölkerungsverlust durch Flucht aus dem Quartier, eine sozioökonomisch homogene Bevölkerung, Armut, Arbeitslosigkeit und ein Mangel an sozialer Mischung und Entwicklungsdynamik. Es gibt geografische Brüche und Barrieren, wodurch das Quartier abgegrenzt, randständig und eingeschlossen ist. Für Kinder und Jugendliche gibt es wenig attraktive Aufenthaltsorte und Freizeitbeschäftigungen. Immigrant/-innen und Leistungsberechtigte der sozialen Krankenversicherung für Beschäftigungslose stellen den Großteil der Bewohner/innen. Tragische Unfälle und Familiendramen, wie der Mord an einer jungen Frau aus verletztem Ehrgefühl des Bruders, werden von Bewohner/-innen als Indiz dafür gesehen, dass das Quartier aufgegeben wurde; sie fühlen sich mit ihren Schwierigkeiten alleingelassen. Ein Motiv für Wegzug ist die Flucht vor der sozialen Kontrolle durch Familie und Nachbarschaft. Mit einem geringen Einkommen eine Alternative zum sozialen Wohnungsbau zu finden ist kaum realisierbar und manche Bewohner/-innen äußern das Gefühl, im Quartier gefangen zu sein. Die Interviewpartnerin betont die soziale Labilität des Quartiers und sieht den Erfolg von Maßnahmen durch viele Variablen beeinflusst. Daher unterstützt das PIVO Strategien zur Verbesserung der Lebensbedingungenin den Bereichen Bebauung, Gesundheit, Bildung, Qualifizierung und Bewohner/-innenpartizipation. Die interviewten Akteur/-innen aus Schule, Politik und Verwaltung heben kommunale Bemühungen zur Verbesserung der Infrastruktur, wie die Verlängerung der Lyoner Metro bis an das Quartier La Saulaie und den Baubeginn einer Mediathek, hervor. Die geplante Neubebauung des lange brach liegenden Eisenbahngeländes bedeutet eine Öffnung zur Innenstadt von Oullins und damit Überwindung der geografischen Barriere. Eine weitere Maßnahme war das „Busing“ als Transfer von Schüler/-innen in Schulen außerhalb des Quartiers.
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7.1.2 Die Vorgeschichte – Schließung einer Schule ohne Bildungserfolg Im Jahr 2002 schlug die neu eingesetzte Schulleiterin der „Grundschule Jean Jaurès“ Alarm. Sie wandte sich an das Rathaus von Oullins und die Inspektion des Bildungsministeriums und wies darauf hin, dass die Grundschule im Ortsteil Saulaie unter den gegebenen Umständen nicht mehr weiter bestehen könne. Zu diesem Zeitpunkt gab es einen hohen Schüler/-innenschwund durch Ummeldungen an andere Grund- und Privatschulen. Die verbliebenen Schüler/-innen kamen überwiegend aus sozial deprivierten Haushalten und stellten die Lehrer/innenschaft vor besondere Herausforderungen, die nach der Pensionierung und erbetenen Versetzung berufserfahrener Kolleg/-innen vorwiegend aus jungen, unerfahrenen Pädagog/-innen bestand. Diese blieben nach dem ersten Berufsschock allenfalls ein Jahr an der Schule, womit ein ständiger Personalwechsel und mangelnde pädagogische wie personelle Kontinuität verbunden waren. Die schulischen Leistungen der Kinder lagen nach den in der Stufe CM2 (letztes Grundschuljahr) durchgeführten nationalen Tests in Mathematik und Französisch signifikant unter dem nationalen Niveau und der Kontakt mit den Eltern, deren Alltag von Arbeitslosigkeit oder prekärer Beschäftigung gezeichnet war, gestaltete sich zäh. Im Umfeld der fast ausschließlich von Kindern mit Migrationshintergrund aus dem nordafrikanischen Raum besuchten Schule boten nach Angaben der Stadtverwaltung Drogendealer bereits zehnjährigen Kindern ihre Ware an. Die Schulverwaltung und der damalige Bildungsstadtrat nahmen die geschilderten Missstände ernst und sahen unter Einbezug der Inspektion der Nationalen Bildungsakademie die Schließung der Schule und eine Verteilung der Kinder des „Cycle 3“ – der dritten bis fünften Klasse – auf andere Grundschulen als möglich Lösung. Die erste und zweite Klasse sollten räumlich der „Maternelle“ (Vorschule ab drei Jahren) angegliedert werden, um einen frühen Einschnitt in der Schullaufbahn zu vermeiden. 7.1.3 Der Schüler/-innentransfer – Vorbereitung und Organisation Vorbereitung des Transfers Bevor der Bildungsstadtrat mit seinem Vorschlag an die Schulen und das Bildungsministerium herantrat, musste die Verwaltung überzeugt werden, die eine Verlagerung der Probleme, Widerstand der Eltern aus La Saulaie und hohe Kosten befürchtete. Es folgten Versammlungen der Grundschulleiter/-innen und Vertreter/-innen des Schulamtes sowie Beratungen über die sinnvolle Auswahl
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der aufnehmenden Schulen (Erreichbarkeit, sozial stabile Schüler/-innenschaft) und die Organisation der Verteilung. Das schulische Personal wurde in die weitere Planung einbezogen, nach zahlreichen Besprechungen im Laufe eines Jahres war die Organisation ausgereift. Kurz vor den Sommerferien wurden den eingeladenen Eltern aus La Saulaie die Hintergründe der Schulschließung und die Verteilungsmodalitäten erklärt. Die 40 betroffenen Kinder sollten mit zwei Bussen, die jeweils zwei Schulen ansteuerten, morgens in La Saulaie abgeholt und am frühen Abend wieder zurück gebracht werden. Die Kosten für den Transport würde die Stadtverwaltung zahlen. Erste Reaktionen der Eltern aus La Saulaie Von den betroffenen Eltern wurden im Rückblick der Bildungsstadträtin und der Leiterin des städtischen Schulamtes zahlreiche Bedenken geäußert. Eine Beschulung außerhalb des Quartiers bedeutete, dass die zweistündige Mittagspause nicht mehr zum gemeinsamen Essen genutzt werden konnte und die Kinder sich in der Schulkantine verpflegen mussten. Die Stadtverwaltung kam daher den bedürftigen Familien mit einer Reduzierung des Mittagessenspreises entgegen. Ein größeres Problem stellte vor allem bei streng religiösen Familien die Sorge dar, dass die Speisen nicht „halal“ – nach islamischen Grundsätzen – zubereitet würden. Schließlich wurden auch die langen Schultage von acht bis ca. 18 Uhr beklagt und der Umstand, dass die Kontaktaufnahme zu den Lehrer/-innen durch die Entfernung erschwert sei. Einige Eltern äußerten sich dahingehend, dass das Quartier von der Kommune wohl aufgegeben worden sei, wenn es dort nicht einmal mehr eine Schule gebe. Andererseits hatten schon zuvor die bis 2003 sinkenden Anmeldezahlen an der Schule Jean-Jaurès und steigende Ummeldeanträge gezeigt, dass bereits ein Teil der Elternschaft die Beschulung außerhalb des Quartiers vorzog. Organisation des Transfers Die Schüler/-innen aus La Saulaie sammeln sich morgens auf einem eingezäunten Hof und werden in etwa 15 Minuten Fahrzeit zu jeweils zwei Schulen gebracht. Die Busbegleiter/-innen haben die Aufsichtspflicht bis zur Übergabe der Kinder am Schultor der zweiten Schule und führen eine Anwesenheitsliste für das Schulamt, das bei im Bus auftretenden Disziplinproblemen Kontakt mit den Eltern aufnimmt. Die Kosten der Busfahrten belaufen sich auf ca. 60.000 Euro pro Jahr, die inzwischen von der französischen Regierung übernommen werden, zusätzlich 10.000 Euro Personalkosten für die Begleiter/-innen. Sie betonen, dass es strenge Sicherheitsregeln vor und während des Transports gebe. Im Rückblick der Mitarbeiter/-innen des Schulamtes gab es in den ersten Jahren häufiger Konflikte zwischen Eltern und Begleiter/-innen, da diese als direktes
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Bindeglied zur Schule gesehen und zur Projektionsfläche für Unzufriedenheit wurden. Die daraus resultierende hohe Fluktuation des Begleitpersonals erschwerte die Organisation. 7.1.4 Bewertung der Maßnahme, Herausforderungen und Perspektiven Erfolg der Maßnahme und Bedingungen für ihr Gelingen Der Schüler/-innentransfer – der von den Akteur/-innen bevorzugte Begriff anstelle des in der Presse und in Regierungsprogrammen verwendeten „Busing“ – bietet den betroffenen Kindern aus Sicht der Schulamtsleiterin und der Bildungsstadträtin gute Konditionen für ihre schulische Bildung. Sie sehen darin die Eröffnung der Chance, aus dem benachteiligten Wohnquartier herauszukommen und Freundschaften mit Klassenkamerad/-innen an den aufnehmenden Schulen zu knüpfen. Er ist gleichzeitig eine Prävention von Ummeldeanträgen der Eltern an bevorzugte Grundschulen aus Gründen, die eine verwaltungsintensive Einzelfallprüfung und -entscheidung (Stromrechnungen, Mietverträge usw.) erfordern würden. Nach sechsjähriger Praxis wird der Transfer von den Schulleiter/-innen durchweg als gelungen betrachtet, da die Kinder in der Schule als integriert gelten. Indikatoren hierfür sind Einladungen zu Geburtstagen, Klassensprecher/innenfunktionen und die Teilnahme an Schulfeiern, die im ersten Jahr noch nicht besucht wurden. Bedeutend sei die geringe Anzahl von zwei bis drei Kindern pro Klasse, die eine zunächst befürchtete Cliquenbildung nicht befördere. Von den schulischen Leistungen her decken die Kinder aus La Saulaie das gleiche Spektrum ab wie jene aus dem regulären Einzugsgebiet der Schule. Es falle allerdings auf, dass die meisten Kinder mit anfänglichen Leistungsdefiziten oder Verhaltensauffälligkeiten im neuen Umfeld einen Leistungszuwachs und eine höhere Konzentrationsfähigkeit aufgrund – so die Vermutung – der ruhigen schulischen Atmosphäre entwickelten. Zahlreiche Anstrengungen durch das Pädagogische Personal der „École Maternelle“ und der „Élémentaire“ (Eingangsstufe) in La Saulaie, die Drei- bis Siebenjährige betreuen und beschulen, haben nach Angaben der Schulleiter/-innen inzwischen schulischen Defiziten entgegengewirkt. Mit ortsansässigen Initiativen wie dem „Centre Social“, der „Association Culturelle Franco-Tunisienne d’Oullins et du Grand Lyon“, dem PIVO und schulischen Projekten werde die generationsübergreifende Bildungsförderung vorangetrieben. Die Eltern nutzten inzwischen die Schule und das daneben liegende Centre Social als Anlaufstelle für ihren Beratungsbedarf über den Schulbesuch hinaus.
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Die Gespräche mit Schüler/-innen in der Wartezeit vor der morgendlichen Busabfahrt geben Hinweise darauf, dass sie ihre Schulsituation positiv bewerten. Manche werden von ihren Eltern mittags abgeholt oder besuchen nur die halbe Woche die Kantine. Ein Mädchen berichtet stolz, dass sie als Interessensvertreterin im Kinderparlament von Oullins sitzt. Die befragten Eltern äußern sich überwiegend positiv über die außerhalb von La Saulaie besuchten Schulen und haben kein Problem mit der jetzige Schullösung: „Sie kommen hier raus“, „Sie haben neue Klassenkameradinnen“, „Es ist eine gute Schule“ und „Der Transport ist kein Problem, weil er sicher ist“, sind beispielhafte Aussagen. Eine Mutter wünscht sich jedoch ausdrücklich wieder einen dritten Zyklus (3.–5.Klasse) im Quartier und sieht den schulischen Transfer als Maßnahme, die ihr keine Wahlmöglichkeit lässt. Dass dies keine Einzelmeinung ist, bestätigen andere Interviewpartner/-innen. Hindernisse und Ambivalenzen Auch wenn die positiven Effekte in Bezug auf die Leistungsförderung der transferierten Schüler/-innen von den Akteur/-innen nicht bezweifelt werden, gibt es dennoch verschiedene Sorgen in der Elternschaft sowie den symbolischen Gehalt, das Stigma des Quartiers ohne Schule. Elternorientierte Akteur/-innen wie die Quartiersmanagerin und die Vorsitzende des französisch-tunesischen Kulturvereins schildern Sicherheitssorgen der Eltern über die Busfahrten, insbesondere jedoch eine Kränkung durch das Gefühl, dass La Saulaie kein Quartier wie die anderen sei und die als vorübergehend angekündigte Schulschließung ein Dauerzustand wird. Bestätigt wird durch die Grundschulleiter/-innen, dass die Mittagsverköstigung nicht immer beliebt ist und manche Eltern aus La Saulaie mehrere Kinder mit dem Auto abholen, um ihnen die Mittagszeit zuhause zu ermöglichen. Problematisiert werden die durch die Busfahrt verkürzte Hausaufgabenbetreuung und die seltenere Beteiligung der Eltern aus La Saulaie an Elternabenden, was sowohl mit der räumlichen Entfernung wie auch der relativen Bildungsferne zusammenhängen könne. An einer Schule gab es in der Elternschaft Bedenken, dass durch die Maßnahme die Probleme des Quartiers La Saulaie in die Schule hineingetragen werden könnten. Schließlich musste die aufnehmende Schule aus dem Quartier Le Golf wieder aus dem Programm genommen werden, da sie trotz guter Leistungsergebnisse den Eltern aus La Saulaie aufgrund der Entfernung und des Rufs des Quartiers unattraktiv erschien. „Ein Quartier behält immer seinen Ruf!“, kommentiert die betroffene Schulleiterin.
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Keine Fortführung des Transfers am Collège Durch den Wechsel der Verwaltungszuständigkeit von der Grundschule zum Collège gelten für die Verteilung der Kinder aus La Saulaie wieder die alten Regeln. Entsprechend ihrer Wohnstraßen werden sie alle demselben Collège zugewiesen, dessen Konrektorin im Schüler/-innentransfer die Gefahr sieht, dass Eltern durch die Leistungs- oder Verhaltensprobleme mancher Klassenkamerad/innen aus La Saulaie noch stärker zu einer Flucht in Privatschulen oder zu Ummeldungen an das andere Collège tendieren. Diese Befürchtung scheint durch eine in die Maßnahme involvierte Grundschule mit einem Übergang von 80% der Schüler/-innenschaft an das katholische Collège bestätigt. Die Folge ist, dass ein Drittel der im neuen Schuljahr erwarteten Schüler/-innen des Einzugsgebietes des staatlichen Collèges dort nicht angemeldet wurden. „Es gibt Eltern, die dem Collège entfliehen, weil sie der [sozialen] Mischung entfliehen wollen“ (Konrektorin). Das Collège hat im Laufe der letzten Jahre einerseits einen starken Schüler/-innenrückgang, andererseits einen Anstieg auf 70% Schüler/-innen mit dem Status „socioprofessionellement défavorisé“ (sozioökonomisch benachteiligt) mit Anspruch auf Lernmittelbeihilfe und einen Zuschuss zum Mittagessen zu verzeichnen. Diese Indikatoren weisen auf eine zunehmende soziale Entmischung hin. Die mangelnde Fortführung des Schüler/-innentransfers am weiterführenden Collège wird von allen Expert/-innen als Rückschritt mit dringendem Handlungsbedarf bei der Zusammenarbeit mit anderen Kommunen gesehen. Zukunftsperspektive und Handlungsbedarf – soziale Mischung in Schule und Quartier Und wie sieht die Zukunft aus? „Verändern kann man schulisch erst etwas, wenn sich im Quartier etwas verändert, wenn eine neue Bevölkerung hinzukommt“, kommentiert die Schulamtsleiterin. Dies deckt sich mit den Aussagen der anderen Akteur/-innen, die betonen, dass eine soziale Mischung im Quartier die einzig sinnvolle Lösung sei, um in den Schulen wieder eine soziale Mischung herzustellen. Die Bedeutung einer Schule für das Wohlbefinden der Familien zeigte sich darin, dass bei der Neueröffnung der „Maternelle“ zwei Jahre zuvor sehr viel Zufriedenheit geäußert wurde. Die Quartiersmanagerin problematisiert, dass es weder auf der lokalen noch auf der nationalen Ebene eine Evaluation zu der schulischen und persönlichen Entwicklung der vom Transfer betroffenen Kinder aus La Saulaie gibt. Der Notwendigkeit der Maßnahme standen in der Anfangszeit Äußerungen von Eltern gegenüber, man hätte ihnen ihre Schule weggenommen. Inzwischen habe sich die schulische Situation („Maternelle“ und Eingangsstufe) im Quartier verbessert, die Eltern haben wieder Vertrauen in ihre Schule und das pädagogische Team gewonnen. Immer noch gebe es Unruhe über
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die fehlende Grundschule, da ohne sie mit keinem Zuzug von Familien gerechnet werden kann. Sobald das Quartier neu belebt sei, müsse wieder eine Schule eröffnet werden, was aber realistischerweise eine sehr langfristige Perspektive (10–15 Jahre) sei. Die Quartiersmanagerin sieht die Verantwortung der Stadtverwaltung für das Collège genauso wie für die Grundschule. Daher sei es eine Willensfrage, ob der Schüler/-innentransfer auf das Collège ausgedehnt werde. Es gehe darum, für alle Kinder und Jugendlichen von Oullins die Verantwortung zu übernehmen. Bisherige Maßnahmen und Projekte konnten nach ihrer Einschätzung das Quartier noch nicht stabilisieren, es bestehe Bedarf an der Einigung der politisch Verantwortlichen, um tief greifende Projekte zur Quartiersumwandlung voranzubringen. 7.1.5 Zusammenfassung der Ergebnisse aus der Fallstudie Der in Oullins durchgeführte Schüler/-innentransfer ist die Folge einer Misslage, durch die eine Handlungsnotwendigkeit entstanden war: Eine Schule, die in absehbarer Zeit geschlossen worden wäre, weil sie immer weniger Schüler/innen beschulte, eine hohe Schulflucht im Kollegium hatte, und die so eine Reaktion der für das Lehrpersonal zuständigen Inspektion des Bildungsministeriums erzwungen hätte. Folgende Faktoren waren ausschlaggebend, um dieser schwierigen Situation entgegen zu wirken: zum einen die sozialräumlichen Voraussetzungen in Oullins. Zehn Schulen mit einer von der sozialen Herkunft her überwiegend ausgewogenen Schüler/-innenschaft in stabilen Quartieren und kooperativ handelnde Schulleiter/-innen boten den Spielraum für Lösungen. Des Weiteren wurde Abstimmungsprozessen genug Zeit zum Reifen gegeben. Die überschaubare Anzahl der zu verteilenden Schüler/-innen erleichtert die schulische Integration und erhöht die Bildungschancen der Kinder. Die Vorteile für die Schüler/-innen zeigen sich in Leistungsverbesserungen und der Entkoppelung des Rufs der Schule und des Wohnortes, die einer Stigmatisierung entgegenwirkt. Die jetzige Situation ist eine über einen längeren Zeitraum angelegte Maßnahme, von der darüber hinaus die aufnehmenden Schulen profitieren. Auch wenn in der nationalen Statistik nur ein geringer Schüler/-innenrückgang zu erkennen ist, so differiert dieser lokal. Eine Schulschließung und Aufteilung der Schüler/-innen kann somit den Erhalt anderer Schulen mit sichern. Andererseits stellt die Schließung nach Ansicht der Akteur/-innen vor Ort eine Kränkung für die Eltern in La Saulaie dar, da ihr Quartier als einziges in Oullins keine vollständige Grundschule mehr hat und – womöglich begünstigt
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durch die weitgehend staatliche Finanzierung des Transfers – kein definitiver Termin für eine Wiedereröffnung einberaumt wird. Der starke Einbruch der Schüler/-innenzahl am Übergang ins öffentliche Collège und die dortige soziale Entmischung lässt auf den Übergang in Einrichtungen außerhalb des Einzugsgebiets und Privatschulen sowie auf die zunehmende ethnische und soziale Segregation mit steigendem Schulalter schließen. Das hohe Sicherheitsbedürfnis der Eltern in Bezug auf Schulwege befördert die Wahl des privaten Collège umso mehr, wenn es im Gegensatz zum staatlichen im Quartier liegt. Die Rekonstruktion eines Quartiers nach Qualitätsmaßstäben mit einer bewussten Steuerung der sozialen Mischung scheint die Grundvoraussetzung für eine Veränderung der schulischen Situation zu sein. Alle befragten Akteur/-innen stellen einen engen Zusammenhang zwischen der Lebensqualität des Quartiers und der schulischen Situation her. Der Bau und die Einrichtung einer neuen Schule durch die Gemeinde werden erst nach der Neubelebung des Quartiers La Saulaie als realistisch angesehen. Offen bleibt, ob die großen Wohnungsbauvorhaben mit der geografischen Öffnung des Quartiers zur Gesamtstadt hin, die Erhöhung der Attraktivität öffentlicher Plätze und Grünanlagen und die Verkehrsanbindung an Lyon die gewünschte Bewohner/-innenschaft aus der Mittelschicht anziehen werden, solange es keine Schule im Quartier gibt. Dieses Problem sehen vor allem die lokalen Initiativen, die sich mit den Interessen der Bewohner/-innen auseinandersetzen. Der Bau einer neuen Schule müsste somit zeitlich eng mit der Umsetzung der Wohnungsbauvorhaben verknüpft sein. Die Übertragung des Modells auf französische großstädtische Problemquartiere stellt die Akteur/-innen vor große Herausforderungen, da hier oftmals mehrere Schulen im Quartier und Département unter derselben sozialen Segregation leiden. Das eingangs erwähnte, ambitionierte 50-Modellschulen-Projekt von Sarkozy musste so bereits auf sieben Schulen zurückgefahren werden.
7.2 B USING UND WEITERE D ESEGREGATIONSSTRATEGIEN
IN DEN
USA
7.2.1 Entstehung der Maßnahme zur schulischen Desegregation Einen entscheidenden Anstoß zur Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen der USA gab das 1954 gesprochene Gerichtsurteil „Brown v. Board of Education“ des Höchsten Gerichtshofes, nach dem das Schulsystem schwarze Kinder ohne diskriminierende Praxis zulassen müsse. Bis dahin galt die Doktrin „sepa-
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rate but equal“ (getrennt, aber gleich), die zu einer getrennten Beschulung von Afroamerikaner/-innen und Angloamerikaner/-innen führte. Von einer Egalität konnte schon allein deswegen nicht die Rede sein, da die Schulen in den teilweise von Armut und Arbeitslosigkeit geprägten Quartieren der Angloafrikaner/innen mit erheblich weniger materiellen und personellen Ressourcen arbeiten mussten. Die Folgen waren erhebliche Bildungsdefizite dieser Schüler/-innen im Vergleich zu angloamerikanischen Schüler/-innen. Der Widerstand gegen den staatlich verordneten Zugang zu ehemals weißen Schulen war zunächst groß. In einzelnen Distrikten mussten teils mit Polizeischutz und unter großem Protest der weißen Bevölkerung afroamerikanische Schüler/-innen mit Bussen zu Schulen gebracht werden, in denen sie die Minderheit stellten. In den zehn folgenden Jahren nach dem Gerichtsspruch gab es in den Südstaaten kaum Bewegung in der schulischen Desegregation (3%), bis über den Erlass des 6. Titels des Bürgerrechts 1964 der Kongress und die Exekutive aktiv wurden. Schulen, die sich weigerten, bekamen Verordnungen oder die Finanzen wurden gekürzt. Dies hatte zwischen 1964 und 1969 eine Steigerung der Schuldesegregation in den Südstaaten auf 30–40% zur Folge (U.S. Commission on Civil Rights 1971). An der faktisch getrennten Beschulung aufgrund der ethnischen Segregation in den Wohngebieten änderte sich wenig, bis 1971 durch die Klage von Swann v. Charlotte-Mecklenburg Board of Education (gegen die Schulbehörde) schulische Desegregation im ganzen Land mit dem Transport von schwarzen und weißen Kindern per Bus behoben werden sollte. Wenige Jahre später wurden die Desegregationsmaßnahmen stark eingeschränkt, als im Fall Milliken v. Bradley (1974) geurteilt wurde, dass Desegregation per Schulbus nicht auf das Umland von Städten ausgedehnt werden dürfe, wie es einige Städte bereits eingeführt hatten. „Milliken shut off effective school desegregation for most northern cities, where more and more African Americans and Latinos were living.“ (Hochschild & Scovronick 2003: 34). Einen deutlichen Rückschritt gab es, als ein weiteres Gerichtsurteil die Beschulung in der Nachbarschaft wieder erlaubte und der Anteil an afroamerikanischen in überwiegend von angloamerikanischen Schüler/-innen besuchten Schulen von 43,5% in 1988 auf 34,7% im Jahr 1991 sank, so dass hier von einem Resegregationsprozess gesprochen wird. Die Tendenz zur Nachbarschaftsbeschulung auf Antrag bestätigt die Harvard-Studie von Orfield u.a. (1997), die bilanzierte, dass in den USA die meisten farbigen und weißen Schüler/-innen unter sich bleiben. Hinzu kommt die Tatsache, dass viele weiße Familien in vorwiegend weißer Nachbarschaft leben wollen oder es sich leisten können, ihre Kinder in vorwiegend weiße Schulen zu schicken. Die Bereitschaft der Mittelschicht, die Desegregation mitzutragen, wird als gering
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eingeschätzt und Regierungsversprechen auf Chancengleichheit werden nicht ausreichend umgesetzt. „The American dream promises equality of opportunity to poor people and to people of color and provides legitimacy to those who prefer to keep most of their resources to help their own children.“ (Hochschild & Scovronick 2003: 193). Die Notwendigkeit der gemeinsamen Erziehung liegt jedoch neben den Vorteilen für die Leistungsentwicklung in der Erfahrung von Diversität und demokratischem Handeln. „Few people outside the black community wanted it [school desegregation] badly and districts sometimes did it poorly, but done well Desegregation was always and still is the policy best suited to help all students pursue success and learn how to live in the multiracial and multiethnic future that will be theirs. Integration is not guaranteed to follow desegregation, but it is impossible without it.“ (Ebd.: 51). Die Desegregationspolitik war kein Garant für die Integration der afroamerikanischen Schüler/-innen, zumal kein Weg vorgegeben war, nach welchen Kriterien und über welche Distanzen sie stattfinden sollte. Die unterschiedlichen Entscheidungen bei den verschiedenen Gerichtsklagen erklären sich aus diesem Umstand. Im Norden und Westen der USA schien die schulische Segregation nicht kontrollierbar zu sein. In zahlreichen Gerichtsurteilen wurde zudem nachgewiesen, dass die kommunale oder staatliche Regierung über die Förderung von segregierten Wohngegenden für schulische Segregation verantwortlich war (U.S. Commission on Civil Rights 1971). 2007, und damit 53 Jahre nach dem ersten Gerichturteil zur Bekämpfung der Rassentrennung, erklärte es der Supreme Court mit einer knappen 5:4-Mehrheit für unzulässig, Schüler/-innen auf Grund ihrer ethnischen Herkunft (race) öffentlichen Schulen zuzuteilen. Schulbezirke mussten fortan andere Wege suchen, um die Segregation zu mindern. 7.2.2 Effekte der Desegregation Bereits im Kapitel Schulkomposition wurde auf amerikanische Studien zum Zusammenhang zwischen der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft in Klassen und Schulen und dem Bildungserfolg hingewiesen. Es bestand ein hohes wissenschaftliches und politisches Interesse daran, welche Effekte die schulische Segregation und Desegregationsbemühungen, zum Teil im Zusammenhang mit Fragen nach den Effekten der Wohnquartiere, auf Bildung haben. Hochschild und Scovronick (2003: 39f) fassen als Ergebnisse zusammen, dass Desegregationsmaßnahmen den weißen Schüler/-innen von der Leistungsentwicklung her nicht geschadet haben, außer dann, wenn wenige weiße Schüler/-innen in über-
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wiegend schwarze Schulen geschickt wurden. Dort war eine Benachteiligung aller zu vermessen. Ein Leistungsvergleich von Schüler/-innen, die in überwiegend weiße Schulen geschickt wurden, mit jenen, die in gut ausgestatteten, überwiegend von Schwarzen besuchten Charter Schools beschult wurden, ergab bessere Ergebnisse für die erste Gruppe. In vielen Untersuchungen zeigt sich, dass in Schulen mit einer hohen Armutsrate (High Poverty mit 50% und mehr Befreiung von der Zahlung der Schulspeisung) – im Gegensatz zu Schulen mit einer niedrigen Armutsrate – Disziplinprobleme und die schulische Fluktuation hoch sind und die Wortschatzgröße der Schüler/-innen gering ist (Low Poverty, 20% und weniger) (Kahlenberg 2009: 2). Auch beim Gautreaux-Programm, bei dem arme, in der Innenstadt lebende schwarze Schüler/-innen in das vorwiegend durch die Mittelschicht dominierte weiße Umland von Chicago gefahren wurden, bevorzugten viele schwarze Eltern trotz vorkommender Rassismen für ihre Kinder diese Schulen, da diese bessere Abschlüsse und Berufsaussichten hatten als die Schüler/-innen in den innerstädtischen, vorwiegend schwarzen (Magnet-)Schulen (Hochschild & Scovronick 2003). Dagegen zeigte das später durchgeführte MTO-Programm (Moving to Opportunity) zu wenig Unterstützung der Familien hinsichtlich der Schulwahl bei einem geförderten Umzug in ein besser gestelltes Quartier, was zu einem Verbleib an der alten Schule im Armutsgebiet führte (Ferryman u.a. 2008, zitiert nach Häußermann 2010a: 54f). Nach der Abschaffung der Möglichkeit der Schulen, die Ethnie (race) als Integrationskriterium zu verwenden, stiegen viele auf die sozioökonomische Integration um. Die freie Schulspeisung als Indikator für Armut wurde zu einem wichtigen Kriterium von Quotierungen an Schulen zur Verhinderung von Armutskonzentrationen. Die Integration nach race war in der Vergangenheit unterschiedlich erfolgreich und der Erfolg war größer, wenn benachteiligte Afroamerikaner/-innen die Gelegenheit erhielten, in Klassen mit überwiegend sozioökonomisch besser gestellten Mitschüler/-innen zu lernen. Befürworter/-innen der Desegregation sehen darin die einzige Chance zur Integration: Da die Bildung der Kinder stark von der sozialen oder ökonomischen Schicht ihrer Peergruppe abhängt, ist es wichtig, sie nicht wie Mittelschichtskinder zu erziehen sondern mit Mittelschichtskindern (Hochschild & Scovronick 2003: 201). Dabei geht es nicht nur um das Peergruppenlernen, sondern den Effekt der besser und anspruchsvoller ausgestatteten Schulen durch eine finanzkräftige und bildungsbewusste Elternschaft in einem Schulsystem, das erheblich durch kommunale Steuern finanziert ist. Letztlich zeigte sich die soziale Segregation als der gewichtigere Faktor als die ethnische Segregation.
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Erfolgreiche Desegregationsmaßnahmen gingen mit dem Einsatz von qualifiziertem Lehrpersonal, einer auf dem Curriculum basierten Personalentwicklung und der gezielten Vorbereitung der Lehrer/-innen auf ihre Tätigkeit einher. 7.2.3 Busing versus Nachbarschaftsschulen Die Diskriminierung auf dem nordamerikanischen Wohnungsmarkt befördert, dass sich vor allem afroamerikanische und lateinamerikanische Schüler/-innen in Armutsschulen befinden, denn die Konzentration der Armut im Quartier zeigt sich -ähnlich wie bereits im Kapitel Segregation Schule für Berlin aufgezeigt – in einer erhöhten Armut in der Schule. 64,4% der afroamerikanischen, 63,3% der lateinamerikanischen und 20,9% der weißen Schüler/-innen besuchen Schulen, in denen über 50% der Schüler/-innen einen Anspruch auf freie Schulspeisung wegen geringen Einkommens haben (Kahlenberg 2009: 11). 1971 wurde noch stark für den Schulbesuch außerhalb von Armutsquartieren geworben: „[...] the trend of modern-day educational thought is away from the neighborhood school – a self-contained unit serving a relatively small student population – in favor of larger school units where economies of scale frequently make possible a broader curriculum, provision of new educational equipment, and special services not financially possible in schools which serve small numbers of students.“ (U.S. Commission on Civil Rights 1971: keine Seitenangaben). Der inzwischen – trotz vieler positiver Ergebnisse in Bezug auf untersuchte Effekte des Busing – zunehmende Trend zur Nachbarschaftsschule hat verschiedene Gründe. Einige Aspekte beim Busing waren in der Vergangenheit problematisch. So konnten z.B. die Eltern nicht mitbestimmen, an welche Schulen ihre Kinder gebracht wurden. Die Schwäche bei den Desegregationsmaßnahmen sehen Hochschild und Scovronick (2003) in der Quotierung nach Ethnien (race), die zu einer Flucht der weißen und schwarzen Mittelschicht ins Umland der Städte führte. Es kann von einem Ermüdungsprozess bei den Befürworter/-innen des Busings als Desegregationsmaßnahme gesprochen werden, da der Widerstand der Betroffenen groß ist. Letztlich wollen viele Eltern ihre Kinder in einer Schule sehen, in der die Mitschüler/-innen denselben oder höheren sozioökonomischen Status haben und realisieren dies mit einem Umzug in das Umland der Städte oder der Anmeldung an einer Privatschule. Anglo- wie afroamerikanische Eltern argumentieren, dass die Nachbarschaftsschulen mehr Identifikationsmöglichkeiten bieten, mehr Gemeinschaftsgeist in ihnen entstehen könne und sie kommunale Zentren mit dem Effekt der Stärkung des schwarzen Selbstbewusstseins und des Erfolges werden können (Hochschild & Scovronick 2003: 50). Nachbarschaftsschulen bieten jedoch aufgrund ihrer geringen Größe oftmals eine
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geringere Auswahl an Kursen, Fachpersonal und außerunterrichtlichem Angebot und werden von Teilen der Elternschaft nicht akzeptiert. Bezüglich der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft wiesen Bankston und Caldas (1996) für den Südstaat Louisiana – unabhängig von der soziökonomischen Lage der Schüler/-innen – einen negativen Effekt auf Schulleistungen durch den Grad an ethnischer Segregation von Afroamerikaner/-innen nach und sehen in der Folge Nachbarschaftsschulen oder Minoritätenschulen als bildungsbenachteiligend an. Städteplanerische Bemühungen, benachteiligte Quartiere zu erneuern und daraus folgende Gentrifizierungsprozesse zwingen arme Haushalte, in noch ärmere Quartiere zu ziehen. Befürworter/-innen des Busing sehen, mit Blick auf diesen nur wenig beeinflussbaren Prozess, im Schüler/-innentransport die einzige Möglichkeit, Kindern unabhängig ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ökonomischen Möglichkeiten Bildungschancen zu bieten (Welch 2007: 59). 7.2.4 Marktwirtschaftlicher Wettbewerb – die Charter Schulen Charter Schulen sind kleine Schulen, die in der Regel durch den Staat, das Land und die Kommune mischfinanziert sind, unterliegen aber zunehmend einem privatwirtschaftlichen Sponsoring. Die bereits in Kapitel 6.2 beschriebenen Bürgerschulen lehnen sich konzeptionell an dieses Modell an. Charter-Schulen schließen in regelmäßigen Abständen Verträge mit den Kommunen über ihre Leistungen ab. Der Grundgedanke der Charter-Schulen ist der einer marktnahen Schulform, denn sie setzt an der Wettbewerbsfähigkeit und der damit verbundenen Leistungssteigerung der Schulen an. Als Vorteile gegenüber rein staatlichen Schulen werden von den Initiator/-innen innovative Lehr- und Lernmethoden, eine größere Autonomie in der Personalrekrutierung und bessere Leistungsergebnisse, die in zahlreichen Tests überprüft werden, benannt (U.S. Charter Schools 2011). Zudem beziehen sie in stärkerem Maße gesellschaftliche Akteur/-innen und Eltern in das Schulleben ein und können auf deren Initiative hin ein gewünschtes Profil erhalten. Kritiker/-innen an den Charter-Schulen dagegen bezweifeln das Image der Leuchtturmschulen, da sie sich ihre Schüler/innenschaft nach eigenen Kriterien aussuchen und im Gegensatz zu den MagnetSchools keine sozioökonomische Integration, d.h. soziale Mischung anstreben. Vor allem die Umwandlung ehemaliger „Armutsschulen“ in Charter-Schulen und der von Bildungsminister Arne Duncan propagierte Austausch von Schulleitung und Lehrkörper als Mittel zur Steigerung des Erfolgs von Schüler/-innen wird von Kahlenberg (2009) als unzureichend benannt. So zeigt sich am Beispiel der KIPP-Schulen (Knowledge-is-Power-Program) und den HCZ Promise Academies (Harlem Children’s Zone), dass Vorteile in der Personalausstattung
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durch den hohen Schwund an Schüler/-innen im Laufe ihrer Schulzeit (60%) bei gleichbleibenden materiellen und personellen Ressourcen entstanden. Lange Unterrichtstage und strenge Reglements führen dazu, dass sie sich oftmals zu Mädchenschulen entwickeln, und Eltern sich zudem durch Pflichtprogramme überfordert fühlen. Die durch die Sponsoren vorgeschriebenen zahlreichen Tests in Mathematik und Lesen führen zu einer starken Einengung des Curriculums und entfernen die Schulen von einer Bildungsinstitution hin zu einer Testanstalt (Ravitch 2010). Letztlich haben nur 17% der Charter-Schulen höhere Erfolge als staatliche Schulen vorzuweisen. Diese Erfolge beruhen auf einer selbst ausgesuchten Schüler/-innenschaft (und damit Elternschaft), einem hohen Schwund an Schüler/-innen, einer guten Ausstattung durch private Financiers und dem überdurchschnittlichen Engagement einer jungen Lehrer/-innenschaft ohne gewerkschaftliche Anbindung (Kahlenberg 2009: 17f). 7.2.5 Magnet-Schools – Integration über den sozioökonomischen Ansatz und Profilbildung Als ein Ansatz, staatliche Schulen wieder erfolgreich werden zu lassen (turnaround schools), wird die Entwicklung von personell und materiell gut ausgestatteten Magnet-Schools gesehen. Im Schuljahr 2005/06 gab es in den USA insgesamt 2736 Magnetschulen mit ca. 2 Mio. Schüler/-innen. Ihr Ziel ist es, mit einem besonderen Profil Schüler/-innen aus einer weiteren Schulumgebung anzuziehen und Diversität an Schulen über den Desegregationsansatz zu fördern. Magnet-Schools sollen – wie ihr Name ausdrückt – die Schüler/-innen über ihre Attraktivität anziehen und somit eine Alternative zum erzwungenen Busing sein. Die Idee der Magnet-Schools setzt an der Integration über den sozioökonomischen Ansatz an. In Schulen mit einer hohen Abbrecher/-innenquote und geringen Leistungen bei Vergleichstests sowie einem hohen Anteil an armen Schüler/-innen werden nicht nur der Lehrkörper und die Schulleitung ausgetauscht, sondern die soziale Mischung der Schüler/-innenschaft gefördert. Mit dem Austausch sollen verfestigte niedrige Leistungsanforderungen durchbrochen und höher qualifizierte Lehrer/-innen eingesetzt werden. Die erfolgreichen Schulen unter ihnen zeichneten sich dadurch aus, dass sie frühzeitig Elternwünsche erfragten und Profile entwickelten. Eine stärkere Nachfrage von bildungsbewussten Mittelschichtseltern konnte beispielsweise über Montessori-Pädagogik, Leistungsprofile und eine internationale Ausrichtung erreicht werden. Entscheidend für die Akzeptanz der Schulen ist das Versprechen, dass sich an keiner Magnetschule mehr als 40% Schüler/-innen mit freier Schulspeisung befinden. Dies erfordert gegebenenfalls eine Umsetzung von
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Schüler/-innen mit niedrigem sozioökonomischem Status an andere Schulen bzw. die frühzeitige Steuerung der Aufnahmen. Distrikte, die nach der Abschaffung der Desegregation nach race neue Wege suchten, sicherten den Eltern zu, dass an keiner Schule des Distrikts mehr als 10% vom Mittelwert der von der Zuzahlung der Schulspeisen befreiten Schüler/-innen abgewichen wird. Eine Verfeinerung des Verfahrens wurde mit dem ‚Diversity Index‘ in der Schulverwaltung San Franciscos (Kalifornien) erreicht: Ausschlaggebend für die Steuerung der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft sind im Wesentlichen der sozioökonomische Hintergrund, der Bildungsstand der Mutter, die Schulleistungen, die zuhause gesprochene Sprache und das Niveau der Sprachkenntnisse im Englischen (McKoy & Vincent 2008: 136). Teilweise werden bei einer Übernachfrage Losverfahren praktiziert, die mit einer Quotierung der sozialen Herkunft gekoppelt sind. Beispielsweise werden bei der Neuaufnahme aus zwei Töpfen 65% Schüler/-innen aus stabilen sozioökonomischen Verhältnissen und 35% Kinder aus benachteiligten Verhältnissen gelost. Vergleichsstudien haben gezeigt, dass die Schüler/-innen, die über die Verlosung nicht an den Magnetschulen aufgenommen werden konnten, an den staatlichen Schulen mit einer höheren Armutsquote schlechter abschnitten, selbst wenn diese über besondere Ausstattungsmerkmale verfügten (Schwartz 2010: 24).
7.3 F RANZÖSISCHE UND US- AMERIKANISCHE D ESEGREGATIONSMASSNAHMEN – ÜBERTRAGBAR AUF B ERLINER V ERHÄLTNISSE ? Für die Frage der Übertragbarkeit internationaler Desegregationsansätze auf die deutsche Situation zeigt sich, dass die US-amerikanische Variante mit einer langen Erfahrung in der Umsetzung und dem Umgang mit Widerstand, sowie der guten Forschungslage einen Beitrag zur systematischen Umsetzung desegregativer Maßnahmen liefern kann. Die Untersuchung der französischen Variante hingegen bot einen Einblick in detaillierte Entscheidungsprozesse von der Idee bis zur Umsetzung einer Desegregationsmaßnahme mit dem Vorteil der stärkeren Vergleichbarkeit der Sozialsysteme und der Dynamiken in Schule und Quartier. 7.3.1 Übertragbarkeit der französischen Maßnahme zur Desegregation Die Studie in Oullins bietet einige Ansätze, die für Deutschland – insbesondere Berlin mit einem hohen Handlungsdruck in schulischen Fragen – reflektiert
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werden können. Strukturell besteht in beiden Ländern an Schulen eine im Vergleich zum Umfeld höhere ethnische und soziale Segregation und die Kommunen stehen unter dem Druck, Abgaben für abgewanderte Schüler/-innen an die empfangende Kommune leisten zu müssen. Trägt in Deutschland die frühe Aufteilung der Schüler/-innen im mehrgliedrigen Schulsystem zur Verschärfung der Segregation bei, ist es in Frankreich die in der Sekundarstufe I fortgesetzte „Carte Scolaire“ (Schuleinzugsbereich) die zu einer stärkeren sozialen Entmischung führt. Das Collège in sozial gemischten Gebieten wird eher gemieden, weil Eltern eine negative Beeinflussung durch Peers befürchten (Felouzis, Liot & Perroton 2005: 124, van Zanten 2009: 27). Die Leistungsverbesserung der Schüler/-innen nach ihrer Umsetzung in leistungsstärkere und sozioökonomisch durchmischte Schulen außerhalb des benachteiligenden Quartiers bestätigt den Erfolg der Maßnahme. Des Weiteren ist die Entkoppelung des Rufs der Schule und des Wohnorts ein Vorteil, von dem stigmatisierte Schulen profitieren können. Der Schüler/-innentransfer als Desegregationsmaßnahme im Falle Oullins wurde durch die Schulschließung begünstigt, dies wäre eine mögliche Lösung für geringer nachgefragte und stigmatisierte Schulen beim demographisch bedingten Schüler/-innenrückgang in Deutschland. Kinder aus einem überwiegend sozial benachteiligenden Schulmilieu könnten dadurch in Schulen mit mehr Sozialkapital, d.h. ressourcenreicheren sozialen Netzen, gelangen. Dieser Weg erscheint realistischer, als die soziale Zusammensetzung des Quartiers zu steuern, zumal der soziale Wohnungsbau in Deutschland im Gegensatz zu Frankreich rückläufig ist. Die kleinschrittige Vorgehensweise bei der Einführung der Desegregationsmaßnahme unter Berücksichtigung von Schwierigkeiten bei der Akzeptanz aller Beteiligten und Betroffenen kann für Deutschland handlungsweisend sein. Wie die Studie in Frankreich gezeigt hat, benötigen Entscheidungs- und Organisationsprozesse viel Zeit und ein partizipatives Vorgehen, das im Bereich der Elternarbeit und -partizipation im Vergleich zur französischen Vorgehensweise ausbaufähig wäre. 7.3.2 Übertragbarkeit US-amerikanischer Maßnahmen zur Desegregation Die USA wie auch Deutschland haben in ihrer Verfassung das Recht auf gleiche Bildungschancen festgelegt. Die Einwanderungsgeschichte beider Länder ist durch die lange Tradition der USA als Einwanderungsland und Deutschland als ehemaligem Anwerberland jedoch unterschiedlich. Für Deutschland und andere westeuropäische Länder gilt, dass es im Vergleich zu den USA große Unterschiede im Sozialsystem gibt.
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Gemeinsamkeiten zwischen der schulischen Situation in den USA und in Deutschland sind in der Koppelung von Quartier und Schule zu sehen. Desegregationsmaßnahmen, die in den USA zunächst nach race und später (auf freiwilliger Basis) nach sozioökonomischen Kriterien durchgeführt wurden, sind für die deutsche Diskussion interessant, weil sie forschungsbasiert sind und Erfahrungen mit ihrer Umsetzung über einen längeren Zeitraum vorhanden sind. Radikale Maßnahmen wie Schulschließungen oder die Vergabe von Bildungsgutscheinen an Schüler/-innen bei unterdurchschnittlichen Leistungsergebnissen von Schulen könnten ebenfalls in die deutsche Diskussion mit einbezogen werden. Der Handlungsdruck ist in den USA allerdings höher als in Deutschland, denn es gibt aufgrund der geringeren Sozialstaatlichkeit eine erhebliche Verschärfung der Situation. In Armut zu leben bedeutet in den USA zumindest für die großstädtische Situation, in Quartieren zu leben, die durch öffentliche Verwahrlosung, sichtbare Arbeitslosigkeit und kriminelle Gefahren gekennzeichnet sind. Das Quartier beeinflusst die Lebensqualität erheblich – eine Erkenntnis, die zu Programmen wie Gautreaux oder MTO mit der Förderung des Umzugs in weniger benachteiligte Quartiere geführt hat. Die Abhängigkeit der Schulen von kommunalen Steuerinnnahmen – trotz Mischfinanzierung – führt dazu, dass sich die Armut der Bevölkerung in der personellen wie materiellen Ausstattung der Schule direkt widerspiegelt. „Arme Schulen“, wie sie von US-amerikanischen Forscher/-innen genannt werden, haben in den Vereinigten Staaten oft schlecht ausgebildete Lehrer/-innen, eine hohe Fluktuation des Personals und wenig materielle Ressourcen. Dieser Missstand bietet den Handlungsspielraum für eine private Förderung durch Sponsor/-innen. Die auf diese Weise geförderten Schulen müssen Mindeststandards in den Leistungsergebnissen erfüllen, was in der Regel über die selektive Selbstauswahl ihrer Schüler/-innenschaft geschieht. Damit gibt es große Unterschiede in finanzieller und personeller Ausstattung von Schulen mit armen Kindern in den USA im Vergleich zu den Schulen Deutschlands, sofern man von Charter- und Magnet-Schools absieht, die nur einen geringen Teil der Schüler/-innenschaft beschulen. In Deutschland gibt es je nach Länderpolitik eine Ressourcenbemessung an Schulen nach der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft (Sozialindikatorenmodell), das zum Beispiel in Berlin zu einer Erhöhung der Fördermittel (Zumessung an Lehrer/-innenstunden) für Schulen mit mehr als 40% Schüler/-innen nicht-deutscher Herkunftssprache und/oder 40% mit Lernmittelbefreiung führt. Des Weiteren haben Schulen in Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf immerhin die Chance, sich um Drittmittel (Programm Soziale Stadtentwicklung, Europäischer Sozialfonds u.ä.) zu bemühen, um ihre außerunterrichtliche Bildungsarbeit zu stärken oder bauliche Verbesserungen vornehmen zu können. Damit können sie einen teilweisen
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Ausgleich zu Schulen in Stadtteilen mit finanzkräftigeren Eltern schaffen, die über Spenden und bildungsbezogene Elternkompetenz die schulische Ausstattung verbessern. Dennoch gibt es auch in Deutschland Unterschiede zwischen Schulen mit Kindern aus armen und gut situierten Elternhäusern. Dies zeigt sich bei der Realisierung von Projekten, Klassenfahrten, Ausflügen und anderen kostenpflichtigen Bildungsangeboten, die von den Eltern mitgetragen werden müssen und an Schulen mit finanzschwachen Eltern in geringerem Umfange nur stattfinden können. 7.3.3 Erhöhung der Bildungschancen durch sozioökonomische Integration – mögliche Umsetzungsschritte Profitieren könnte Deutschland und konkret die Berliner Bildungs- und Stadtpolitik aus der Erfahrung mit der sozioökonomischen Integration über Magnetschulen. Schulen, die aufgrund ihrer geografischen Lage und der Konzentration von benachteiligten Schüler/-innen einem negativen Stigma unterliegen, und zudem eine hohe Zahl an Schulabbrecher/-innen aufweisen, könnten geschlossen und neu bzw. an einem anderen Standort mit einem attraktiven Profil eröffnet werden. Mit der Zusicherung eines Limits an Lernmittelbefreiten an den Schulen würden sozioökonomische und nicht ethnische Kriterien bei einer Verteilung der Schüler/-innenschaft wirksam werden. Die sozioökonomische Herkunft als Grundlage sowohl für eine affirmative Aktion (besondere materielle und personelle Ausstattung für Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern aus benachteiligten Verhältnissen) wie auch für die begrenzte Aufnahme von Kindern mit Lernmittelbefreiung kann trotz der formalen Weiterleitung von benachteiligten Kindern im Zusammenhang mit einem Losverfahren als ein gleichberechtigtes Verfahren angesehen werden. In diesem Zuge werden bei Übernachfrage von Schulen entsprechend der Quotierung aus zwei unterschiedlichen „sozioökonomischen Töpfen“ Schüler/-innen gezogen und die restlichen Schüler/-innen an die Zweitwunschschule überwiesen. Dass dies kein einfaches Verfahren ist, und evtl. auch die Zweitwunschschule bereits übernachgefragt ist, zeigt, dass • • •
die Schulen eines größeren Einzugsbereiches ein vergleichbares Niveau aufweisen sollten, dementsprechend Kooperationen und ein Austausch über das Curriculum und Lehrmethoden notwendig sind, Eltern und Schüler/-innen bereits in die Entwicklung der Profile mit einbezogen werden müssen (wie bei erfolgreichen Magnet Schools geschehen) und
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eine „controlled choice“ stattfinden muss, d.h. dass Wünsche der Eltern bezüglich der Schulwahl berücksichtigt werden, aber dennoch die sozioökonomische Balance in der Zusammensetzung der Schüler/-innenschaft einen hohen Stellenwert hat.
Die Umformung der Schullandschaft wird die Schließung von Schulen und die Neueröffnung mit einem neuen Profil erfordern, denn das Stigma, das einer Schule anhaftet, hält sich wie das Stigma eines Quartiers für lange Zeit. Dies erfordert unter Umständen die Verteilung von Schüler/-innen auf andere Schulen. Damit liegen die Grenzen der Klassenzusammensetzung nach sozioökonomischer Herkunft in der Daten- und zu prüfenden Rechtslage. Elf der 16 Bundesländer in Deutschland, darunter Berlin, haben die Lernmittelfreiheit aufgehoben und über die Anträge zur Lernmittelbefreiung eine Datenlage über den Transferleistungsbezug der Eltern hergestellt. In Berlin ist damit die Lernmittelbefreiung ein Indikator für Armut und Bildungsbenachteiligung. In den anderen Bundesländern müssten Möglichkeiten gefunden werden, die sozioökonomische Lage der Eltern von Schüler/-innen zu erfassen, wobei datenschutzrechtliche Hürden zu überwinden wären. Juristische Bedenken eines im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit befragten Schulrechtsexperten, nach denen die Lernmittelbefreiung in Deutschland als Indikator für Bildungsarmut problematisch und die Quotierung nach dieser Befreiung daher für nicht durchsetzbar erscheint, können Forschungsergebnisse eine neue Diskussionsgrundlage bieten: Nach der belgischen IGLU-Studie von 2007 (bezogen auf 2006 und den deutschsprachigen Bereich) hat Armutsgefährdung einen negativen Einfluss auf die mittlere Lesekompetenz auch bei bildungsnahen Eltern (Bos, Stubbe & Buddeberg 2010). Armut, gemessen am Bezug von staatlichen Sozialleistungen, hat damit unabhängig vom Bildungsstand der Eltern einen negativen Einfluss auf den Bildungserfolg.
8 Schulischer Segregation begegnen – Fazit und Handlungsempfehlungen
Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die in den Studien zu den internationalen Schulleistungsstudien PISA und IGLU seit 2000 deutlich wurde. Es zeigte sich für Deutschland eine enge Koppelung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Erklärungsansätze in der Bildungsforschung konzentrieren sich auf Bildungs- und Unterrichtsprozesse sowie die Schulstruktur in Deutschland, die eine frühe Aufteilung der Schüler/-innen auf leistungsdifferenzierte Schulformen bewirkt. Diese Thematisierung zeigte sich jedoch als zu kurz gegriffen. In dieser Arbeit wurde eine interdisziplinäre Herangehensweise gewählt. In den erziehungswissenschaftlichen und bildungssoziologischen Erklärungsansätzen wurde auf Forschungslücken bei den bildungsbenachteiligenden außerschulischen Faktoren verwiesen. Für deren Untersuchung wurde aus stadtsoziologischen Studien die Analyse von Segregationsprozessen und der Wirkungen von Quartierseffekten herangezogen. Im Laufe des Forschungsprozesses zeigte sich die hohe Bedeutung dieser Perspektive, da die Entstehung von Bildungsbenachteiligung und lernmindernden schulischen Milieus sehr stark mit städtischen Wanderungs- und Segregationsprozessen zusammen hängt. Wohnquartiere und Schuleinzugsbereiche haben vielfache Effekte auf Bildungschancen.
8.1 B EEINFLUSSENDE F AKTOREN DER B ILDUNGSBENACHTEILIGUNG Die erste Forschungsfrage danach, welche Faktoren Bildungsbenachteiligung beeinflussen, führte anhand der Literatur und der eigenen Praxiserfahrung zu den Bereichen Familie, Schule und Quartier. Der Forschungsliteratur zu Segrega-
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tionsprozessen und Quartierseffekten konnte zunächst entnommen werden, dass vor allem die eingeschränkten Ressourcen vieler Familien mit Migrationshintergrund, die sich aus einem niedrigen Bildungsstand, geringem Einkommen und prekären Arbeitsverhältnissen ergeben, zur sozialen Segregation in Quartieren führen. Als problematisch zeigt sich somit nicht die Bildung ethnischer Kolonien an sich, sondern die Überlagerung der ethnischen mit der sozialen Segregation, die durch einen eingeschränkten Zugang zum Wohnungsmarkt durch Diskriminierung und ihre sozialen Lagen entsteht. Auswirkungen auf die Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen zeigen sich deutlich an den Schulen in den Quartieren, deren Anteil von Schüler/-innen mit Migrationshintergrund, Sprachschwierigkeiten und Anzeichen von Armut kontinuierlich wuchs. In ihnen spiegelt sich das Quartier mit seinen Problemlagen in potenzierter Form. Beschleunigt wird der Prozess der sozialen und ethnischen Entmischung von Schulen durch den Wegzug der bildungsbewussten, finanzkräftigen und damit mobilen Mittelschicht, der der stadtweite Wohnungsmarkt offen steht. In der Stadtsoziologie und annähernd auch in der Bildungsforschung stellt sich also die Frage, welche Auswirkungen ein Quartier, in dem überwiegend Menschen mit einer geringen Ressourcenausstattung und mangelndem Mobilitätsspielraum leben, auf die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen hat. Ergebnisse gab es hierzu vorwiegend aus der Jugendkriminologie und der Segregationsforschung, deren Befunde teilweise die eingangs aufgestellten Annahmen in Frage stellen und die in der empirischen Untersuchung aufgenommen wurden. Für die Koppelung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg besteht Einigkeit in der Erkenntnis, dass das kulturelle und soziale Kapital der Familie nachhaltig den Bildungserfolg beeinflusst. In der Fallstudie wurde deutlich, dass die Eltern der befragten Schüler/-innen zwar über Bildungsaspirationen verfügen, die konkrete Umsetzung jedoch an vielen Hürden scheitert. Diese sind bedingt durch die soziale Lage, Sprachprobleme, mangelnde Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem und die Priorität familiärer Erfordernisse und Wertvorstellungen. Darunter fallen die mangelnde Förderung und übermäßige Kontrolle der Mädchen, andererseits die zu geringe Kontrolle der Jungen. Bildungsaspirationen der Jugendlichen, die sich in der Wahl einer höheren und längeren Schulbildung und damit in einem längeren Verbleib in schulischen Institutionen zeigen, werden auch durch Diskriminierungserfahrungen und die großen Schwierigkeiten gedämpft, in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu gelangen. Für den schulischen Bereich kann die Verstärkung der erhöhten ethnischen und sozialen Segregation als bildungsbenachteiligend identifiziert werden, die durch die frühe Aufteilung der Kinder auf leistungsdifferenzierte Schulformen und die Flucht der Mittelschicht aus diesen Schulen bedingt ist. Die erhöhte
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soziale und ethnische Segregation im Vergleich zum Schul- und Wohnumfeld zeigt sich bereits in den Grundschulen, wie für einige Berliner Quartiere im Rahmen dieser Arbeit aufgezeigt wurde. Dort konnte innerhalb der einzelnen Quartiere eine Polarisierung in Bezug auf die ethnische und soziale Zusammensetzung sowie den Anteil an Gymnasialempfehlungen festgestellt werden. Schulen können für Schüler/-innen mit Migrationshintergrund Orte der sozialen Exklusion mit Benachteiligungen über die allgemeinbildende Schulzeit hinaus darstellen, wenn sich dort Armut, Sprachprobleme und Bildungsferne konzentrieren. Die Thesen zu bildungsbenachteiligenden Faktoren in den drei Bereichen Familie, Schule und Quartier bestätigten sich größtenteils durch bisherige Studien, konnten jedoch durch die vorliegende Fallstudie differenziert werden. Die These, dass die Konzentration von Schüler/-innen aus benachteiligten Verhältnissen und mit Sprachproblemen in einer Klasse zur negativen Leistungsentwicklung aller Schüler/-innen führt, hat sich sowohl in den internationalen Studien als auch in der Fallstudienschule bestätigt. Als zentrale Aussage der empirischen Ergebnisse zur Bildungsbenachteiligung durch den schulischen Kontext kann benannt werden, dass Normen und Werte, die eine lernförderliche Umgebung bieten sollten, durch alle am Bildungsprozess Beteiligten verletzt werden und die innerschulischen Ressourcen nicht zu ausreichendem Bildungserfolg führen. Die Schule setzt Normbrüchen zu wenig entgegen und verantwortet diese mit. Zudem gelingt es ihr nicht, zu verhindern, dass das außerschulische Leben als negative Dynamik in die Schule hineinwirkt.
8.2 W IRKUNG VON K ONTEXTEFFEKTEN AUS F AMILIE , S CHULE UND Q UARTIER AUF DEN B ILDUNGSERFOLG In der vorliegenden Arbeit ist die Frage danach gestellt worden, wie Kontexteffekte aus Familie, Schule und Quartier den Bildungserfolg der Jugendlichen beeinflussen und wie sie zusammen wirken. Um die Dimensionen der Bildungsbenachteiligung zu erfassen und letztlich notwendige Interventionen vorschlagen zu können, wurde in der Fallstudie versucht, Effekte der Familie, der Schule und des Quartiers zu trennen. Als Fazit kann zusammengefasst werden, dass Bildungserfolg mit der Verfügung über familiäre, schulische und quartiersbezogene Ressourcen zusammenhängt und sich die Bildungsbenachteiligungen auf den drei Ebenen gegenseitig beeinflussen und verstärken. Dies ist der Grund dafür, warum trotz vielseitiger Bemühungen der Akteur/-innen in Bezug auf Familie, Schule und Quartier wenig Erfolg zu verzeichnen ist. Für alle drei Bereiche
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können widersprüchliche Befunde aus der Befragung der Schüler/-innen benannt werden. Dabei gibt es Konfundierungen. Es gibt enge Verknüpfungen, die die Hartnäckigkeit der Benachteiligung erklären können. Hierzu gehören a) die Koppelung von hoher Familiarität und der erzwungenen oder freiwilligen Unterordnung schulischer oder individueller Ziele, b) mangelnde Sprachgelegenheiten in Schule und Quartier zur Verwendung der deutschen Sprache mit Muttersprachler/-innen und eine geringe Mobilität, die den lokalen Verbleib fördert und c) die hohe soziale Kontrolle, die in der Familie, im Quartier durch Verwandtschaft und Nachbarschaft sowie in Ansätzen auch in der Schule vor allem die Mädchen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung einschränkt. 8.2.1 Wirkungen familiärer Kontexteffekte Die eingangs aufgestellte These zur Rolle der Familie auf den Bildungserfolg lautete: Der familiäre Hintergrund der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund wirkt bildungsbenachteiligend. Kulturelle und religiöse Normen schaffen in Verbindung mit geringer Bildung ein eigenes Wertesystem, das sich der Mehrheitsgesellschaft nicht öffnet. Vor allem Mädchen werden in ihrer schulischen und persönlichen Entwicklung beeinträchtigt. Diese Annahme bestätigte sich dahingehend, dass – analog zu den Erkenntnissen der Bildungsforschung – Bildungserfolg an die soziale Herkunft gekoppelt ist und nahezu alle Schüler/-innen der Fallstudie aus den unteren sozialen Schichten stammen. In Bezug auf ethnisch-kulturelle und religiöse Normen zeigt sich allerdings im Gegensatz zur ursprünglichen Annahme ein differenziertes Bild. Die Öffnung des Wertesystems zur Mehrheitsgesellschaft hin wird weniger durch kulturelle und religiöse Werte blockiert, als durch mangelnde Möglichkeiten, sich mit einem anderen Wertesystem überhaupt auseinander zu setzen. Bildungsarmut, Arbeitslosigkeit, Diskriminierungserfahrungen und Sprachschwierigkeiten der Eltern und als Folge eine mangelnde soziale, physische und räumliche Mobilität engen die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe und damit den Zugang zur Mehrheitsgesellschaft ein. Hohe Familiarität Die hohe Familiarität bedeutet für die Jugendlichen in positiver Weise Schutz und Verlässlichkeit und ist damit eine wichtige Ressource für ihr Wohlbefinden. Die gleichzeitige Unterordnung und Kontrolle wird teilweise als lästig empfunden, dennoch als systemimmanent akzeptiert und nur in geringem Maße unterlaufen. Bei der Bildungsförderung der Jugendlichen insgesamt wird wenig gezielte Unterstützung durch die Familien erkennbar, obwohl Bildungsaspirationen vorhanden sind. Gründe hierfür liegen in den oben benannten Belastungen der
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Familien und einer daraus folgenden mangelnden Strukturierung des Alltags. Die hohe Familiarität ist ein wichtiger Ansatzpunkt für Interventionen, da deutlich wird, dass ohne den Einbezug der Familie in Bildungs- und Aufklärungsarbeit und ohne partizipative Strukturen sich wenig ändern wird. 8.2.2 Wirkungen schulischer Kontexteffekte auf den Bildungserfolg Die Wirkungen der sozialen und ethnischen Segregation in der Schule auf den Unterrichtsalltag und das Schulklima erlegen allen in der Schule befindlichen Personen große Anstrengungen auf. Obwohl die Fallstudienschule mit ihrer besonderen Schulform einer integrierten Haupt- und Realschule von einer reinen Hauptschule abweicht, kann sie den Katalog der bereits in den PISA-Studien ermittelten Kriterien der „Hauptschulen in schwierigem Milieu“ um einige Punkte anschaulich erweitern. So sind massive Sprachdefizite und Disziplinprobleme trotz vielfacher Anstrengungen des Personals und außerschulischer Partner/innen und trotz der Einbindung in Modellprojekte der Sprachförderung, Gewaltprävention u.v.m. allgegenwärtig und durchdringend wirksam. Letztlich reichen die schulischen Ressourcen bisher nicht aus, um die lernmindernden Milieus in lernförderliche umzuwandeln. Schulische Fehlzeiten als konfundierter Effekt von Schule, Familie und Quartier In der Darstellung der verschiedenen Kontexte, die auf die Schüler/-innen wirken, zeigt sich eine Vielfalt an Mechanismen. Nicht immer kann unterschieden werden, welcher Mechanismus welchem Kontext genau zuzuordnen ist und die Dynamiken eines Bereichs wirken sich in anderen Bereichen aus. Deutlich wird dies bei den schulischen Fehlzeiten und Verspätungen der Schüler/-innen, die familiär verursacht sind, in der Schule jedoch eine direkte Auswirkung auf den Bildungserfolg haben, da verpasster Unterricht Bildungschancen mindert und Fehlzeiten in Zeugnissen Personalbeauftragte z.B. bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz abschrecken. Die ‚Normalität‘ von unentschuldigten schulischen Fehlzeiten und Verspätungen hat auch einen Einfluss auf die Unterrichtsqualität und den Ruf der Schule. Wird eine Schule nicht mehr Herr über Unterrichtsstörungen, vermittelt die gehäufte An- und Abwesenheit von Schüler/innen den Eindruck der Beliebigkeit. Hier kann von einer Verzahnung familiärer und schulischer Problematiken gesprochen werden, die den Jugendlichen, aber auch dem Ruf der Schule und ihrer Organisationsfähigkeit schaden. Es gibt zudem eine Verzahnung mit dem Quartier, denn dort zeigen sich die Fehlzeiten ebenfalls. Wer spricht Kinder und Jugendliche an, die sich zu Unterrichtszeiten
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auf der Straße, den Spielplätzen, im Park, in den Cafés und Spielwarenabteilungen der Kaufhäuser befinden? Für die Ebene der Intervention scheint es daher sinnvoll, nicht nur an einem Ort, sondern an allen drei Orten zu agieren. 8.2.3 Wirkungen der Quartierseffekte Die Annahme, dass Kontexteffekte durch den Stadtteil und Stigmatisierungen durch ethnische Herkunft und Wohnort außerschulische benachteiligende Wirkungsmechanismen sind, die eine schulische Integration erschweren und dabei geschlechtsspezifisch zu differenzierende Nachbarschaftseffekte auftreten, hat sich ebenfalls bestätigt. In Bezug auf das Quartier hat sich gezeigt, dass bei beiden Geschlechtern und in verstärktem Maße bei den Mädchen überwiegend lokale, meist eigenethnische Freundschaften bestehen und der Aktionsraum vorwiegend lokal (Straße, Quartier, Bezirk) begrenzt ist. Gegenüber Befunden der Jugendkriminologie (Oberwittler 2008), dass die Jugendlichen sich ihre lokal verhafteten Freunde selber aussuchen und damit ihren eigenen Beitrag zur lokalen Verhaftung und Beförderung der Segregation leisten, zeigt sich in den vorliegenden empirischen Ergebnissen eine andere Problematik. Erstens beklagt der überwiegende Teil der Jugendlichen, dass weder am Wohnort noch in der Schule die Gelegenheit besteht, Freundschaften mit einheimischen Jugendlichen zu knüpfen, weil diese faktisch nicht existent sind. Zweitens weist die dargestellte Armutsproblematik der Familien auf eine Einschränkung der Mobilität hin, die Aktivitäten auf die lokalen Gelegenheitsstrukturen beschränkt. Daraus ergibt sich ein Teufelskreis: mangelnde Sprachgelegenheiten mit deutschen Muttersprachler/-innen und dadurch verfestigte Sprachdefizite, daraus folgende Unsicherheiten, das Quartier zu verlassen. Die Angst vor rassistisch motivierten Übergriffen befördert, dass selbst beim Verlassen des Wohngebietes nur bestimmte, als sicher erscheinende Wohngegenden aufgesucht werden. Vor allem die Jungen sind daher gezwungen, sich mit Peergruppendynamiken im Quartier auseinander zu setzen.
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Abbildung 15: Zirkel der Bildungsbenachteiligung im Quartier
Quelle: eigene Darstellung
Kontexteffekte des Quartiers in ihrer Wirkung auf Jungen und Mädchen mit Migrationshintergrund Die Jungen zeigen sich mit unterschiedlichen Strategien als Akteure des Geschehens im Quartier. Ihre Auseinandersetzung mit möglichen Konflikten im öffentlichen Raum zeigt sich als Spagat zwischen delinquentem Handeln und Vermeidung, bzw. defensivem Umgang mit Gefahrensituationen. Insbesondere bei den Jungen kann von der Wirkung des stigmatisierten Quartiers auf die Einmündung in den Ausbildungsmarkt ausgegangen werden. Die Befunde der Jugenddelinquenzforschung (Oberwittler 2008), dass Mädchen negativen Kontexteffekten in der Wohnumgebung weniger ausgesetzt sind, weil sie stärkeren häuslichen Restriktionen unterliegen, mag für delinquentes Verhalten zutreffen. In der vorliegenden Arbeit konnte dieser Befund nicht ganz bestätigt werden. Die Mädchen sind den negativen Quartierseffekten zwar teilweise entzogen, dafür jedoch den familiären, z.T. für ihre Persönlichkeitsentwicklung hemmenden Kontexteffekten umso stärker ausgesetzt. Dies bestätigt
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zunächst Oberwittlers Befunde, wenngleich die daraus folgende Benachteiligung deutlich wird: Stärker familialen Wertvorstellungen und in großem Umfang häuslicher Mitarbeit ausgesetzt zu sein, bedeutet langfristig eine Anpassung an die von außen gestellten Erwartungen und das Zurückstellen eigener Bedürfnisse. Die Mädchen äußern in stärkerem Maße als die Jungen Unsicherheitsgefühle und Vermeidungsverhalten im öffentlichen Raum und können elterliche Sorgen um ihre Sicherheit durchaus nachvollziehen. Die stärkere (freiwillige oder unfreiwillige) Anbindung an die Wohnung bzw. in verwandtschaftliche Kreise und die hohe soziale Kontrolle deuten darauf hin, dass diese Effekte durch den als bedrohlich wahrgenommenen Zustand des Quartiers befördert werden. Quartierseffekte werden dadurch indirekt durch das Quartier und direkt durch die häusliche Sozialisation wirksam. Das Quartier ist der Ort sozialer Kontrolle durch Nachbar/-innen und das lokal ansässige große Verwandtschaftsnetz. 8.2.4 Kulturelle und religiöse Orientierung als Quartierseffekt Die Beschäftigung mit der religiösen Orientierung der Jugendlichen und insbesondere in der Einzelfallstudie zu Tarik zeigt die Bedeutung von Religiosität als handlungsleitende Ressource. Die bisherige Kontexteffektforschung berücksichtigt die religiöse Orientierung der Jugendlichen als Antwort auf unsichere Lebensumstände zu wenig, ebenso die starke familiäre Orientierung, die aufgrund der lokalen Konzentration von Familienmitgliedern sowie kulturell und religiös ähnlich Gesinnten zu einer Quartiersdimension wird. In Bezug auf eine als kulturelle Distanz wahrgenommene Verhaltensweise von Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird in der Fallstudie deutlich, dass die Ursache distanzierter Verhaltensweisen in ihrer unfreiwilligen Konzentration in Schule und Quartier zu liegen scheint, die vor allem für den Lernort Schule von den Jugendlichen selber problematisiert wird. In der deutschen Segregationsforschung wird davon ausgegangen, dass es im Vergleich zu den USA wenig Gebiete mit ethnisch segregierten Bevölkerungsgruppen einer bestimmten Ethnie gibt (Häußermann & Siebel 2007). Allerdings gibt es in den Großstädten durchaus Quartiere, in denen die Mehrheit der Bevölkerung – bei den Jugendlichen unter 18 Jahren immer häufiger – einen Migrationshintergrund hat, und daher stellt sich durch die dargestellte Bedeutung kultureller und religiöser Werte im Alltag der Jugendlichen die Frage, ob unabhängig von der ethnischen Herkunft die religiöse Zugehörigkeit eine Rolle bei den Quartierseffekten spielt, und wenn ja, ob Religiosität einen die ethnische Zugehörigkeit übergreifenden Einfluss hat. Quartierseffekte müssten dann nicht nur bezüglich der Konzentration ethnischer Bevölkerungsgruppen, sondern auch hinsichtlich der religiösen und kulturellen Zugehörigkeit diskutiert werden.
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8.3 K ONZEPTE DER B ILDUNGS - UND S TADTPOLITIK V ERBESSERUNG DER B ILDUNGSCHANCEN
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ZUR
Die Untersuchung bisheriger Konzepte und Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungschancen von Schüler/-innen mit Migrationshintergrund mit dem Blick auf Segregationsprozesse zeigt, dass diese zu wenig thematisiert werden. Der in Deutschland favorisierte bildungsökonomische Ansatz mit der Forderung nach mehr Eigenverantwortung der Schulen, der Auflösung von Schuleinzugsbereichen und der Vergabe von Bildungsgutscheinen wirkt nach bisherigen internationalen Erfahrungen eher segregationsfördernd. Werden staatliche oder kommunale Vorgaben bei der Steuerung der Schüler/-innenströme zurückgefahren, steigt die Gefahr der Segregation, da Schulen tendenziell Schüler/-innen mit einer aktiven, bildungsnahen Elternschaft bevorzugen. Reformen zur Qualitätsentwicklung von Schulen haben für den Bereich der Förderung der Bildungssprache noch viel Forschungs- und Handlungsbedarf aufgezeigt. Die begonnenen Schulstrukturreformen haben eine wichtige Voraussetzung für die Verringerung von schulischer Segregation gelegt, weil das in den meisten Bundesländern eingeführte Zweisäulen-Modell integrativer ist als das vielgliedrige Schulsystem. Inwiefern diese Reformen die ethnische und soziale Segregation an Schulen tatsächlich verringern, oder erst- und zweitklassige Sekundarschulen neben den Gymnasien entstehen, sollte im Rahmen eines Bildungsmonitorings verfolgt werden. Die Schulstruktur wird ein grundsätzlicher Baustein bei der Erhöhung der Bildungschancen sein, als alleinige Reform wird sie bisherige Defizite in der Bildungslaufbahn aber nicht ausgleichen können. Daher sind weitere Maßnahmen gefragt, auf der Ebene der sozialen Herkunft (Familienbildung und Elternpartizipation), der Schule (Qualitätsentwicklung von Schulen), des Quartiers (Förderung von Intervention und Partizipation) – und letztlich auf der übergeordneten Ebene mit Bildungsverbünden und der Arbeitsmarkt- und Wohnungspolitik.
8.4 D ESEGREGATIONSMASSNAHMEN ALS G RUNDLAGE DER E RHÖHUNG DER B ILDUNGSCHANCEN Zwar liegen eindeutige Ergebnisse zur Bildungsbenachteiligung durch die ethnische und soziale Segregation in Schulen und Quartieren in der internationalen Forschung vor, diese finden in der Bildungspolitik und Schulplanung jedoch bisher kaum Eingang. Die Frage nach realistischen Interventionen, die sich aus
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den bisherigen Ergebnissen ableiten lassen und Bildungsbenachteiligung direkt entgegen wirken, ist also von höchster Aktualität und Dringlichkeit. Die bisherigen Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungschancen lassen eine tiefgreifende Änderung vermissen, die das Zustandekommen der Benachteiligung durch Segregationsprozesse verhindert. Daher zeigen die untersuchten Desegregationsmaßnahmen in Frankreich und in den USA, bekannt unter dem Begriff ‚Busing‘, auf: Die dort erfolgten Maßnahmen bringen deutlich verbesserte Ergebnisse für den schulischen Erfolg der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund mit sich, weil sie zu einer stärkeren sozialen Mischung der Schüler/innenschaft führen. Beide Ansätze wurden daher auf ihre Übertragbarkeit auf deutsche und insbesondere Berliner Verhältnisse überprüft. Kerngedanke ist die Erhöhung der Bildungschancen durch eine Steuerung der Schüler/-innenschaft über sozioökonomische Integration (vgl. ausführlich unter 7.3). Dabei sollte die Zahl der lernmittelbefreiten Schüler/-innen an Schulen begrenzt werden. Außerdem wären weitere Kriterien festzulegen, die eine soziale Mischung an Schulen befördern, wie z.B. – in Anlehnung an das Verfahren in einigen Staaten in den USA – der Sprachstand in der Landessprache, der Bildungsstand der Mutter, die zu Hause gesprochene Sprache und die Schulleistungen. Getragen werden kann solch eine Steuerung nur unter Einbezug der Elternschaft und einer Qualitätsgarantie bezüglich der Förderung der Schüler/-innen und damit der Qualitätsentwicklung der Schulen. Schließlich würden Quartierseffekte in ihrer Wirkung auf die Bildungschancen reduziert, wenn die enge Koppelung zwischen Schule und Quartier aufgehoben wird, wofür Ganztagsschulen ein probates Mittel sind. Die erhöhte Mobilität, verbunden mit einer Beschulung außerhalb des Quartiers, würde den Lernraum Schule ausweiten auf den Lernraum Stadt.
8.5 H ANDLUNGSEMPFEHLUNGEN FÜR DIE B ILDUNGS - UND S TADTPOLITIK Bildungspolitik braucht Bündnispartner aus vielen Politikbereichen, vorwiegend aus der Stadt- und Familienpolitik. Nur unter Einbezug der ganzen Stadt und besser noch, des Umlandes, kann eine Verteilung der Schüler/-innen im Sinne einer sozialen Mischung nach oben benannten Kriterien gelingen. Unter dieser Voraussetzung kann dem Anspruch der Sozialen Stadtentwicklung entsprochen werden, den sozialen Zusammenhalt der Stadt zu stärken und die Ungleichheit der Bildungschancen bei Kindern und Jugendlichen abzubauen. Die Koppelung sozialer Herkunft an den Bildungserfolg verweist auf die Schnittstelle zur Fami-
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lienpolitik. Aus den Erkenntnissen dieser Arbeit lassen sich folgende Einzelforderungen ableiten: (1)
Schulische Desegregationsmaßnahmen in Anlehnung an die US-amerikanische und französische Vorgehensweise Die Zusammensetzung der Schüler/-innen in Klassen und Schulen sollte einem Steuerungsprozess nach sozioökonomischen und weiteren festzulegenden Kriterien unterliegen, der eine soziale Mischung an den Schulen befördert und die Bildung von stigmatisierten und benachteiligenden Schulen verhindert. (2) Weitere Qualitätsentwicklung von Schulen Die Schulstrukturentwicklung ist unter dem Aspekt der Reduzierung von ethnischer und sozialer Segregation voranzutreiben und sollte die grundsätzliche Umwandlung in Ganztageseinrichtungen vorsehen. Dazu gehören die Qualifizierung des schulischen Personals, Kooperationen mit außerschulischen Partner/innen, eine den Erfordernissen entsprechende Ressourcenausstattung, die früh einsetzende Förderung der Bildungssprache und die intensivierte Elternarbeit und -partizipation. (3) Schulische Fehlzeiten reduzieren Hierfür sind schulinterne und schulübergreifende Regeln auf bildungspolitischer Ebene zu entwickeln und in Kooperation mit den Eltern, der Jugendhilfe und den Akteur/-innen im Quartier umzusetzen. (4) Schließung von stigmatisierten Schulen Eine stigmatisierte Schule behält ihren Ruf, wenn sie nicht durch außergewöhnlichen Mitteleinsatz (vgl. Campus Rütli CR2 2011) quasi neu gegründet werden kann. Deshalb sollten Schulen mit überdurchschnittlichen Gewaltvorfällen, niedrigen Leistungsergebnissen und hohen Quoten an Schulabbrecher/-innen, letztlich einer homogen benachteiligten Schüler/-innenschaft, geschlossen und unter neuem Profil aufgebaut werden. Im Sinne einer zu erzielenden sozialen Mischung müsste diese von vornherein mit einem Leistungsprofil glänzen, das nicht die Förderung benachteiligter Schüler/-innen in den Vordergrund stellt, sondern ein attraktives, leistungsförderndes unterrichtliches und außerunterrichtliches Angebot in Ganztagesbetrieb für Kinder aus allen Schichten bereit halten kann. (5) Vom Lernraum Schule zum Lernraum Stadt Der Lernraum für Schüler/-innen sollte von der Schule über das Quartier hinaus in die Stadt erfolgen. Über diese Erweiterung des Aktionsradius können Sprach-
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gelegenheiten und Sprechanlässe zum Erlernen der deutschen Sprache hergestellt und Fremdheitsgefühle abgebaut werden. (6) Eltern- und Familienbildung in Schule und Quartier An der hohen familiären Orientierung der Schüler/-innen und ihrer Familien muss angesetzt werden. Bildungsarbeit mit Eltern sollte die Elternpartizipation und insgesamt die gesellschaftliche Teilhabe stärken. Voraussetzung für die Umsetzung der Bildungsaspirationen der Eltern sind deren Kenntnisse des Bildungssystems und der Bedeutung von Abschlüssen und Praktika für die Chancen auf dem Ausbildungsmarkt. Die Entwicklungsmöglichkeiten vieler Mädchen können nur über diesen Weg gestärkt werden, da ihre Familienbindung sehr hoch ist und nur in seltenen Fällen eine Ablösung von den Eltern und der Herkunftsfamilie insgesamt gelingt. (7) Kultur und Religion als Ansatzpunkte für Bildungsförderung Bildungspartnerschaften zwischen Schulen und Kooperationspartner/-innen sollten um Organisationen von Migrant/-innen (wie z.B. Moscheevereinen) erweitert werden, da diese als Bildungsinstitutionen mit einem vielfältigen Beratungs- und Unterstützungsangebot von Eltern akzeptiert werden. (8) Stigmatisierung entgegenwirken Vor allem bei der Berufsorientierung (z.B. Praktikumssuche) und der Einmündung in die Berufsausbildung wirken Stigmatisierungen aufgrund des Wohnorts und der ethnischen Herkunft der Schüler/-innen. Zur Überwindung sind verbindliche Kooperationen mit der Wirtschaft gefordert. Hierzu bedarf es an Aufklärung, aber auch an der Anwendung des Antidiskriminierungsgesetzes. Den Einstieg könnte eine positive Diskriminierung in Form von zu erzielenden Quoten an Ausbildungsverträgen mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund in großen Betrieben bieten. (9)
Weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Quartieren Die soziale Spaltung in den Städten erfordert Bildungsverbünde und weitere Maßnahmen zur sozialen Stadtentwicklung. Hier gilt es, ein integriertes Handlungskonzept zur Verbesserung der Lebens- und Wohnbedingungen und der Bildungschancen der Bevölkerung in den Quartieren zu entwickeln.
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Pädagogik Markus Dederich, Martin W. Schnell (Hg.) Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin Auf dem Weg zu einer nichtexklusiven Ethik 2011, 264 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1549-4
Johannes Giesinger Autonomie und Verletzlichkeit Der moralische Status von Kindern und die Rechtfertigung von Erziehung 2007, 218 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-795-0
Ghodsi Hejazi Pluralismus und Zivilgesellschaft Interkulturelle Pädagogik in modernen Einwanderungsgesellschaften. Kanada – Frankreich – Deutschland 2009, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1198-4
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Pädagogik Barbara Keddi Wie wir dieselben bleiben Doing continuity als biopsychosoziale Praxis 2011, 318 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1736-8
Antje Langer Disziplinieren und entspannen Körper in der Schule – eine diskursanalytische Ethnographie 2008, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-932-9
Christiane Thompson, Gabriele Weiss (Hg.) Bildende Widerstände – widerständige Bildung Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie 2008, 228 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-859-9
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Pädagogik Kathrin Audehm Erziehung bei Tisch Zur sozialen Magie eines Familienrituals 2007, 226 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-617-5
Thorsten Fuchs Bildung und Biographie Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung 2011, 444 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1791-7
Wiltrud Gieseke, Steffi Robak, Ming-Lieh Wu (Hg.) Transkulturelle Perspektiven auf Kulturen des Lernens 2009, 266 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1056-7
Kerstin Jergus Liebe ist ... Artikulationen der Unbestimmtheit im Sprechen über Liebe. Eine Diskursanalyse 2011, 276 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-8376-1883-9
Ulla Klingovsky Schöne Neue Lernkultur Transformationen der Macht in der Weiterbildung. Eine gouvernementalitätstheoretische Analyse 2009, 234 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1162-5
Dominik Krinninger Freundschaft, Intersubjektivität und Erfahrung Empirische und begriffliche Untersuchungen zu einer sozialen Theorie der Bildung 2009, 278 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-8376-1287-5
Tobias Künkler Lernen in Beziehung Zum Verhältnis von Subjektivität und Relationalität in Lernprozessen 2011, 612 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1807-5
Fabian Lamp Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis 2007, 258 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-662-5
Claudia Lemke Ethnographie nach der »Krise der Repräsentation« Versuche in Anlehnung an Paul Rabinow und Bruno Latour. Skizzen einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen 2011, 300 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1727-6
Elisabeth Sattler Die riskierte Souveränität Erziehungswissenschaftliche Studien zur modernen Subjektivität 2009, 176 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1323-0
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