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German Pages 242 [259] Year 2021
Stefan Wellgraf Ausgrenzungsapparat Schule
X-Texte zu Kultur und Gesellschaft
Stefan Wellgraf
Ausgrenzungsapparat Schule Wie unser Bildungssystem soziale Spaltungen verschärft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Adobe Stock / cfarmer (Detail, bearbeitet) Lektorat: Anne Dorowski Korrektorat: Luisa Bott, Bielefeld Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Print-ISBN 978-3-8376-5307-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5307-0 https://doi.org/10.14361/9783839453070 Buchreihen-ISSN: 2364-6616 Buchreihen-eISSN: 2747-3775 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/ vorschau-download
Inhalt Einleitung � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7 Institution Schule � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 8 Ausgrenzungsapparat. Bildung und soziale Ungleichheiten � � � � � � � � � � � � � � � � � � 16
Stigmatisierung. Islam als oppositionelle Schulkultur � � � � � � � � � � � � � 23 Doppelte Stigmatisierung. Niedrigqualifizierte und Muslime � � � � � � � � � � � � � � � � Attraktivität und Tragik der Counter School Culture � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � Alternatives Curriculum. Die Hinwendung zum Islam � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � Auf Konfrontationskurs. Religiös aufgeladene schulische Konflikte � � � � � � Kopftuch. Machtvolle Zuschreibungen und divergierende Praktiken � � � � � � Ethnische Identifikationen. Palästina-Berlin � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � Gelungene Integration? Zur Abkehr vom Islam in der Post-Adoleszenz � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �
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Rechtfertigung. Alltagsmoral und berufliche Dilemmata im pädagogischen Bereich � � � � � � � � � � � � � � 75 Am Abgrund. Abstiegsnarrative und Anpassungsversuche � � � � � � � � � � � � � � � � � � 77 Selbstheroisierung. Helden des Chaos � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 84 Am Limit. Überlastung und Burnout � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 88 Rechtfertigungsordnungen. Meritokratie und kulturalisierende Zuschreibungen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 96 Sozialarbeit in der Krise � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 108 Richtige Rezepte? Psychologisierung und Pathologisierung � � � � � � � � � � � � � � � � 112
Problematisierung. Mediale Skandalisierung und politische Reformrhetorik � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 123 Moral Panics. Von »Brandbriefen« und »Totschlägern« � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 127 Politische Agenden. Die Berliner Schulreform � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 136 Kritik der Schulreform. Bildungspolitische Interessensverbände � � � � � � � � 143 Stille Transformationen. Privatisierung und Vermarktlichung � � � � � � � � � � � � � 148 Politische Rhetorik. Zeremonielle Fassaden und leere Signifikanten � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 158
Positivierung. Ambivalenzen des sozialen Engagements an »Problemschulen« � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 169 Bildungsprojekte. Teach First, Rock your Life! und School Turnaround � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 173 Empowerment und Coaching � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 183 Auswirkungen. Impulse im Schulalltag � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 192 Aneignungen und (Selbst-)Kritik � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 202 Politische Projekte � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 210
Literatur � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 217
Einleitung
Dass eine ausgrenzende Schule die Gräben unserer Gesellschaft weiter vertiefen soll, ist eine Position, die öffentlich niemand vertritt. Gleichwohl geschieht in der schulischen Praxis genau dies, trotz der wohlfeilen Rhetorik von Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Wieso werden Ungleichheitsverhältnisse, die von gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe ausschließen, selbst von jenen reproduziert, die sie eigentlich überwinden wollen? Basierend auf langjährigen ethnografischen Feldforschungen nehme ich verschiedene schulbezogene Personengruppen – Schüler*innen, Lehrer*innen, Bildungspolitiker*innen und Sozialreformer*innen – in den Blick. Dabei frage ich nach den institutionellen Mechanismen sowie den sozialpolitischen Konstellationen, die diese Akteure ungewollt zu Komplizen der Ausgrenzung machen. Bestimmte Dynamiken des Kippens von vermeintlich inklusiven Programmatiken in ausgrenzende Praktiken werden auf pointierte Weise untersucht: Muslimische Jugendliche sollen »integriert« werden. Doch die institutionelle Art und Weise des Umgangs mit Differenz führt zu neuen Verwerfungen, zu einer verstärkten Hinwendung zum Islam als einer oppositionellen Schulkultur. Lehrer*innen müssen Bildungshierarchien durchsetzen, ohne emanzipative pädagogische Ideale zu verraten. Um diesem in die pädagogische Praxis eingelassenen moralischen Dilemma zu entkommen, suchen sie die Schuld vermehrt bei Schüler*innen und deren Eltern. Diese werden auch von Medien und Politik an den Pranger gestellt, womit gleichsam die wiederholt scheiternden Reformen im Schulbereich, dessen mangelhafte Ausstattung und zunehmende Wettbewerbsorientierung aus dem Blick geraten. Schließlich entstehen neue projektartige Formen des sozialen Engagements an »Problemschulen«, die sich jedoch in grundlegenden Widersprüchen verfangen. Dadurch wird verdeutlicht, dass es nicht
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die einzelnen Personen sind, sondern der »Ausgrenzungsapparat« Schule selbst, der soziale Schranken aufrechterhält und gesellschaftliche Spaltungen verschärft – obwohl als vorgebliches Ziel gerade deren Überwindung propagiert wird. Dieses Buch basiert auf Feldforschungen an Berliner Haupt- und Sekundarschulen, deren Namen hier ebenso wie die der auftretenden Personen anonymisiert sind. An einer Hauptschule im Stadtteil Wedding, die ich Anna-Seghers-Schule nenne, forschte ich im Schuljahr 2008/09 in den beiden Abschlussklassen, an der Neuköllner Galilei-Schule im Schuljahr 2012/13 in der gleichen Altersgruppe der etwa 16-17-Jährigen. In den daraus entstandenen Ethnografien Hauptschüler. Zur gesellschaf tlichen Produktion von Verachtung (2012) und Schule der Gefühle. Zur emotionalen Erfahrung von Minderwertigkeit in neoliberalen Zeiten (2018) habe ich vor allem die Erfahrungen der Schüler*innen stark gemacht. Im vorliegenden Buch weite ich die Perspektive und nehme die Institution Schule auf verschiedenen Ebenen in den Blick. Neben den Jugendlichen gilt meine Aufmerksamkeit verstärkt denjenigen institutionellen Akteuren, die auf verschiedenen politischen Ebenen den Schulbetrieb steuern, ihn vor Ort organisieren und durch ihren täglichen Einsatz am Laufen halten. Dabei gehe ich der Frage nach, wie der Ausgrenzungsapparat Schule vor Ort gemacht und zugleich herausgefordert wird, wie er von den Beteiligten erlebt und kritisiert und schließlich auch wie er öffentlich verhandelt und reformiert wird.
Institution Schule Bildung ist in Deutschland institutionell organisiert, seit dem 19. Jahrhundert durch das Modell des für die Heranwachsenden verpf lichtenden grundständigen Schulbesuchs. Dabei wurde von Beginn an zwischen einem »höheren« und »niederen« Schulwesen unterschieden. Das grundlegende Prinzip der sozialen Spaltung hat seitdem alle Reformbemühungen überstanden. Dies ist einer der paradoxen Effekte der Bildungsexpansionen seit den 1970er Jahren, dass sie zwar den Zugang zu Bildung erleichterten, die relative Bildungsbenachteiligung jedoch nicht verringerten, sondern sie im Endeffekt sogar weiter ver-
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stärkten.1 Die schulische Bildungshierarchie ist keine neutrale Einteilung, sondern reproduziert eine sozialmoralisch aufgeladene Hierarchie zwischen »oben« und »unten«, mit der gleichsam das Etikett des Höher- bzw. Minderwertigen verbunden wird. Bildungshierarchien reproduzieren somit auch soziale Klassifizierungen und Klassenlagen. So spiegelte die lange übliche Trennung zwischen Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen auch die sozialen Spaltungen zwischen bundesdeutscher Ober-, Mittel- und Unterschicht wider. Im gegenwärtigen Siegeszug des Gymnasiums und der Tendenz zur Fusion von Haupt- und Realschulen lassen sich ebenfalls gesellschaftliche Entwicklungen wiedererkennen: die kulturelle Führungsrolle der akademischen Klasse, der Bedeutungsverlust der alten, nichtakademischen Mittelschicht und die zunehmende Polarisierung der Sozialstruktur.2 Die enge Kopplung von Bildungsgrad und sozialem Status führt zu einer »Bildungspanik«, die von der Angst genährt wird, ohne adäquate Bildungsabschlüsse ins gesellschaftliche Abseits zu geraten.3 Der übliche Ruf nach »mehr Bildung« greift demnach zu kurz. Die Institution Schule ist nicht einfach die Lösung für zunehmende gesellschaftliche Spaltungen, sondern selbst Teil des Problems. Dies wurde bei meinen Feldforschungen an Berliner Schulen offensichtlich und lässt sich auch theoretisch unter Bezugnahme auf die grundlegende Institutionenkritik der 1970er Jahre und den sich im gleichen Zeitraum in den Sozialwissenschaften herausbildenden Neo-Institutionalismus entfalten. Während neomarxistische Autor*innen damals die Frage stellten, welche Funktion die Schule in einer kapitalistischen Gesellschaftsformation erfüllt, gingen eher von Max Weber und Emile Durkheim inspirierte Sozialwissenschaftler*innen der Frage nach, wie Institutionen entstehen, sich stabilisieren und transformieren. Beide Perspektiven sollen hier auf der Grundlage umfangreicher ethnografischer Forschungen miteinander verbunden werden. Die moralischen und affektiven Dimensionen des schulischen Feldes spielen dabei eine herausgehobene Rolle, da sich mit ihnen der Frage nach den Begründungen und den Wirkungsweisen von Ungleichheitsverhältnissen besonders gut nachgehen lässt. In der folgenden institutionellen 1 Vgl. Geißler: Mehr Bildungschancen, aber weniger Bildungsgerechtigkeit – ein Paradox der Bildungsexpansion. 2 Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, S. 342-370. 3 Vgl. Bude: Bildungspanik.
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Ethnografie gehe ich jeweils von konkreten Akteuren in alltäglichen Situationen aus, von Praktiken, Positionierungen und Problemen, und verbinde diese Schilderungen mit den Diskussionen von gesellschaftlichen Kontexten und relevanten theoretischen Bezügen.4 Seit den späten 1960er Jahren entwickelte sich eine Kritik an modernen Institutionen, im Zuge derer auch der Beitrag der Institution Schule zur Aufrechterhaltung der Klassenverhältnisse hinterfragt wurde. Die damals betriebene radikale Schulkritik ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, was unter anderem mit dem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust marxistischer Erklärungsmodelle zusammenhängt. Auch wenn der Ton der damals verfassten Schriften mitunter etwas apodiktisch wirkt, sind die darin aufgeworfenen Fragen für das Nachdenken über Schule auch heute noch relevant.5 Dabei lassen sich verschiedene Kritikstränge unterscheiden, in denen historische, kultursoziologische, politökonomische und pädagogische Blickweisen eingenommen wurden. Aus der historischen Lesart von Ludwig von Friedeburg wird die Entstehung der modernen Schule um 1800 weniger in einer idealisierten Auf klärungsbewegung zur »Befreiung aus der Unmündigkeit« verortet, auf die Schulleitungen und politische Sonntagsreden heute gerne Bezug nehmen, sondern als Ausdruck der damaligen feudalen Herrschaftsverhältnisse verstanden. Die staatliche Elementarschule in Preußen, welche als Prototyp des modernen Schulsystems gelten kann, entstand demnach aus einem Machtkampf zwischen den preußischen Herrschern und den Kirchen, die bis dahin die Bildungshoheit innehatten und noch bis weit ins 20. Jahrhundert die Schulbildung maßgeblich mitprägen sollten. Mit dem Aufstieg des Bürgertums im Verlauf des 19. Jahrhunderts und dem steigenden Bedarf an geschultem staatlichem Verwaltungspersonal etablierten sich bald auch die Gymnasien und modernen Universitäten. Mit denen sicherten sich gleichsam das männliche Bürgertum und die Aristokratie Privilegien, während der Arbeiterklasse, den Frauen und bestimmten ethnischen Minderheiten weiterhin zunächst nur eine einfache Schulbildung vorbehalten blieb. Auch in den später folgenden Bildungsreformen blieb das gegliederte Schulsystem mit seinen nach Ständen und Schichten, nach Nationalität und Geschlecht ausgerichteten
4 Vgl. Smith: Institutional Ethnography. 5 Vgl. Clasen: Bildung als Statussymbol.
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Zugangsrechten in seinen Grundzügen erhalten.6 Nach wie vor nimmt mit steigendem Bildungsgrad die soziale Selektivität immer weiter zu: 79 Prozent des Akademikernachwuchses absolvieren selbst eine akademische Ausbildung, aber nur 12 Prozent aus der einfachen Arbeiterschicht, bei Promotionsabschlüssen liegt dieses Ungleichverhältnis sogar bei Zehn zu Eins.7 Dies hat maßgeblich mit der langen Geschichte unserer Bildungsinstitutionen als Vehikel zur Aufrechterhaltung der Herrschaftsverhältnisse zu tun. Mechanismen der sozialen Selektion zwischen verschiedenen Milieus und Klassen wurden seit den 1960er Jahren von Soziologen wie Pierre Bourdieu und Claude Passeron am Beispiel Frankreichs untersucht.8 Dabei zeigten sie, dass vor allem das soziale und kulturelle Kapital den aus privilegierten Verhältnissen stammenden Schüler*innen einen entscheidenden Vorteil im schulischen Wettbewerb ermöglichte, da die im Bildungswettbewerb als relevant erachteten Leistungskriterien weitgehend den sich aus den dominanten Kapitalstrukturen ergebenden Dispositionen entsprachen. Die objektiv ungleich verteilten Startbedingungen wurden gleichsam von den Heranwachsenden in subjektive Erwartungshaltungen übersetzt, vermittelt über Prozesse der Habitusbildung kam es zu einer weitgehenden Verinnerlichung des sozialen Schicksals. Während sich das Bildungssystem offiziell universalistischen Bildungsidealen und meritokratischen Leistungsprinzipien verpf lichtet sah, reproduzierte es in der Praxis vor allem die bestehenden Ungleichheitsverhältnisse, die es durch Schulabschlüsse zudem institutionell zertifizierte. Mechanismen dieser Art finden sich auch im heutigen deutschen Schulsystem, in dem Heranwachsende aus benachteiligten Lagen immer wieder die demütigende Erfahrung machen, dass ihre Herkunft, ihre Fähigkeiten und ihre Orientierungen entwertet werden.9 Aus einer politökonomischen Perspektive wurde dem Bildungssystem von Autoren wie Heinz-Joachim Heydorn, Herbert Gintis und Freerk Huisken vorgehalten, zu einem Selektionssystem zu verkommen, das einseitig an den Interessen der herrschenden Klassen sowie den Anforderungen des kapitalistischen Arbeitsmarktes ausgerichtet 6 Vgl. Friedeburg: Bildungsreform in Deutschland; Hunter: Rethinking the School. 7 Vgl. El-Mafaalani: Mythos Bildung, S. 66f. 8 Vgl. Bourdieu: Bildung; Bourdieu/Passeron: Die Erben. 9 Vgl. Helsper/Kramer/Thiersch (Hg): Schülerhabitus.
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ist.10 Eine solche Schule produziere demnach bevorzugt jene Bewertungen und Einstellungen, die der Aufrechterhaltung des Status quo entsprechen. Damit gerieten andere, emanzipative und gesellschaftskritische Bildungsideale ins Hintertreffen, Heydorn sprach damals in einem programmatischen Buchtitel sogar Über den Widerspruch von Herrschaf t und Bildung. Ihm zufolge sei der schulisch Bildungsauftrag in mehrfacher Hinsicht widersprüchlich, da in ihm widerstreitende pädagogische und ökonomische Interessen verbunden würden. Bildung solle zwar mündige Bürger*innen hervorbringen, diese aber wiederum die etablierten Herrschaftsmechanismen nicht in Frage stellen. Der doppelte institutionelle Auftrag von sozialer Selektion und Persönlichkeitsentwicklung war an den von mir untersuchten Schulen besonders stark ausgeprägt, er stellte Pädagog*innen unter einen enormen Rechtfertigungsdruck und trieb das Schulsystem in eine Legitimationskrise. Da die politökonomische Kritik eng mit pädagogischen Fragen verbunden war, kam es in diesem Zusammenhang überdies zu zahlreichen reformpädagogischen Initiativen. Dabei wurde auch die Schule als solche in Frage gestellt, teilweise sogar eine Entschulung der Gesellschaft gefordert.11 Die Forderung nach einer Abschaffung der Schule wirkt heute völlig aus der Zeit gefallen, derzeit wird ja gerade die Ausweitung der Schulpf licht hin zu einer Ganztagsschule als Heilmittel für gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse angepriesen. Indem ich zeige, dass schulische Institutionen gesellschaftliche Ungleichverhältnisse auch selbst hervorbringen und verstärken, stellt sich noch einmal die grundlegende Frage, ob es sich um eine gute, um eine im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung wirkende Institution handelt. Hinzu kommt noch die Frage, ob sie als etablierte Institution überhaupt noch funktioniert.12 Mit Blick auf Haupt- und Sekundarschulen argumentiere ich, dass diese bei den direkt daran Beteiligten vor allem Entfremdung produzieren und selbst in ökonomischer Hinsicht mittlerweile dysfunktional geworden sind. Dieses grundlegende Nachdenken über die Institution Schule findet nicht losgelöst von den Verhältnissen vor Ort
10 V gl. Heydorn: Über den Widerspruch von Herrschaft und Bildung; Huisken: Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie; Bowles/Gintis: Schooling in Capitalist America; Dale/Esland/MacDonald (Hg.): Schooling and Capitalism. 11 Vgl. Illich: Deschooling Society. 12 Vgl. Jaeggi: Was ist eine (gute) Institution?
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statt, sondern wird angeregt über ethnografische Nahaufnahmen und mittels anschaulicher Fallstudien vertieft. Damit lässt sich an die Studien des Neo-Institutionalismus anschließen, einer Forschungsrichtung, die sich gegen den Funktionalismus und Rationalismus des klassischen modernen Institutionenverständnisses richtet, wobei auch Schulen schon früh untersucht wurden.13 Institutionen müssen demnach zu ihrer Legitimierung nicht unbedingt effizient funktionieren oder von rational agierenden Akteuren gesteuert werden, sondern vor allem gesellschaftliche Konformität und Passfähigkeit signalisieren.14 Als selbstverständlicher Ausdruck der vorherrschenden Kultur können sie selbst dann noch als angemessene soziale Organisationsform gelten, wenn sie Handlungsmöglichkeiten eher einschränken oder ihr Selbstbild nicht mit ihrer institutionellen Praxis übereinstimmt. Über institutionelle Rollenzuschreibungen vermitteln sie Handlungssicherheit und dienen gleichsam als Instrument der sozialen Kontrolle.15 Sobald Institutionen nun jedoch an Bindungs- und Überzeugungskraft verlieren, provozieren sie unter anderem Devianz. Die damit verbundenen Formen der Kritik traten an Berliner Hauptund Sekundarschulen besonders deutlich zutage. Der neue Institutionalismus fragt auch nach den Verbindungen zwischen institutionellen Mechanismen und sozialen Strukturen, betrachtet den politischen Charakter von Schulen aber als weniger vorbestimmt. Bildungsinstitutionen vermitteln demnach zwar durchaus Zugangsrechte, doch in einer Gesellschaft, in der Status wesentlich über Bildung vermittelt wird, formen sie zugleich selbst sozial erstrebenswerte Inhalte und beeinf lussen andere gesellschaftliche Subsysteme.16 Pierre Bourdieu spricht deshalb von einer »Abhängigkeit der Unabhängigkeit« sowie von einer »relativen gesellschaftlichen Autonomie« des Bildungswesens, das niemals einfach nur ein Diener der Ökonomie sei.17 Bildungsinstitutionen folgen zwar gesellschaftlichen Reproduktionsaufträgen, haben aber auch einen eigenen Gestaltungsspielraum, 13 V gl. Maggio/Powell (Hg.): The New Institutionalism in Organizational Analysis; Rowan/Meyer (Hg.): The New Institutionalism in Education. 14 Vgl. Hasse/Krüger (Hg.): Neo-Institutionalismus. 15 Vgl. Berger/Luckmann: The Social Construction of Reality, S. 65-109. 16 Vgl. Meyer: The Effects of Education as an Institution. 17 Vgl. Bourdieu: Bildung, S. 301-343.
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wobei sie ihre reproduzierenden Funktionen umso effektiver erfüllen können, je mehr sie die Illusion von institutioneller Autonomie vermitteln. Sie entwickeln häufig ein Eigenleben, das über politische Vorgaben ebenso hinausgeht wie über die Motive und Handlungen der direkt Beteiligten. Deshalb können an der Schule auch Personen arbeiten, welche der Institution kritisch gegenüberstehen, in ihren Handlungsvollzügen aber dennoch maßgeblich von dieser geprägt werden. Solche institutionellen Logiken – wie die schulischen Notensysteme und Disziplinarmechanismen – müssen weder besonders funktional noch pädagogisch überzeugend sein, sie dienen vielmehr in erster Linie der Selbsterhaltung der Institution Schule. Fragt man nach den organisatorischen Vorgangsweisen in der Schule, gelangt man zu Praktiken des Klassifizierens und Einteilens, die nach außen jedoch weitgehend unsichtbar bleiben.18 Die auf diese Art entstehenden Klassifikationen sind immer auch Simplifizierungen und Verzerrungen, in welche die Machtverhältnisse im Klassenzimmer ebenso hineinspielen wie kulturelle Zuschreibungen und persönliche Vorlieben. In den aggregierten Standardgrößen, wie Zeugnissen und Abschlussquoten, werden diese Entstehungsbedingungen jedoch unsichtbar. In den Augen des Staates entstehen Gruppen von Bildungsverweigerern, die als »unbeschulbar« und »nicht ausbildungsfähig« konstruiert werden.19 Auf diese Weise kommt es zu einer Institutionalisierung sozialer Ausgrenzung, die Schule ist demnach sowohl eine normalisierende als auch eine »exkludierende Maschine«.20 Ein solcher Blick in die »Black Box« von Institutionen verlangte nach ethnografischen Zugängen, erfordert das Hinterfragen von schulischen Selbstbildern und bildungspolitischen Rhetoriken. Dabei zeigt sich, dass selbst wohlmeinende Akteure und gutgemeinte Initiativen zur Legitimierung ungleicher Verhältnisse beitragen können. So schildert Sara Ahmed am Beispiel der Implementierung von universitären Diversity-Programmen, wie diese zu individualisierten Verantwortungszuschreibungen führen und somit den Blick von den in die Institutionen eingeschriebenen Diskriminierungen eher ablenken.21 Auf eine ähnlich kontraintuitive Weise wirken auch jüngere Reforminitiativen im Berliner Bildungs18 Vgl. Bowker/Star: Sorting Things Out. 19 Vgl. Scott: Seeing like a State. 20 Vgl. Ball: Foucault, Education, Power, S. 118. 21 Vgl. Ahmed: On Being Included.
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bereich, mit denen fälschlicherweise der Eindruck suggeriert wird, es werde nun endlich etwas gegen soziale Ungleichheiten unternommen. Bürokratisch organisierte Bildungsinstitutionen wie die Schule sind keineswegs indifferent gegenüber symbolischen Anderen, was sich an deren vehementer Ablehnung des Islams besonders deutlich zeigt.22 Statt vermeintlicher Neutralität spielen moralische Erwägungen und affektive Dynamiken eine entscheidende Rolle in der institutionellen Produktion von Ungleichheiten.23 Vor allem Schüler*innen aus Migrantenfamilien werden, wie zu sehen sein wird, als amoralisch und anormal betrachtet, sie somit außerhalb der moralischen Gemeinschaft verortet. Die implizite Leitvorstellung einer gelingenden Schule folgt immer noch dem realitätsfernen Ideal einer möglichst homogenen, möglichst herkunftsdeutschen und bildungsbürgerlichen Schule. Sprache spielt dabei eine entscheidende Rolle, der historisch bedingte »monolinguale Habitus« von Schulen in Deutschland fungiert dabei als ein wirksames Mittel zur Ausgrenzung (post-)migrantischer Bevölkerungsgruppen.24 Die moralische Dimension von Institutionen umfasst sowohl die dominanten Einstellungsmuster gegenüber gewissen Themen oder Gruppen als auch die Art und Weise, in denen sich die institutionellen Akteure zu diesen in Beziehung setzen, sie durch ihr alltägliches Handeln affirmieren, adaptieren oder unterlaufen.25 Dabei kann es auch zu Spannungen kommen: So standen sich an den von mir untersuchten Schulen beim Thema Islam zwar muslimische Elternhäuser und Schulen äußerst misstrauisch gegenüber, gleichzeitig waren sich die Lehrer*innen in ihrer Haltung gegenüber dem Islam keineswegs einig und auch die religiösen Bezüge aufseiten der Schüler*innen erwiesen sich als ziemlich wechselhaft. Moralische Fragen sind affektiv aufgeladen. Schulen reproduzieren gesellschaftliche Spannungsverhältnisse, jedoch auf eine spezifische Art und Weise. Sie bringen über organisatorische Arrangements institutionelle Affekte hervor. Das für die jeweiligen Schulen charakteristische Zusammenwirken von Vorschriften, Akteurskonstellationen und sozialräumlichen Gegebenheiten kann somit auch als ein affektives Ar-
22 Vgl. Herzfeld: The Social Production of Indifference; Gupta: Red Tape. 23 Vgl. Eckert (Hg.): The Bureaucratic Production of Difference. 24 Vgl. Gogolin: Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. 25 Vgl. Fassin (Hg.): At the Heart of the State.
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rangement betrachtet werden.26 Neben einer Reihe eher defensiver institutioneller Affizierungen, wie Misstrauen gegenüber der Schule und oppositionellen Bezügen auf den Islam, Entfremdung und Überforderung im Bereich der pädagogischen Professionen sowie Zynismus und resignative Haltungen im Kontext von Bildungspolitik, schildere ich auch Versuche der affektiven Mobilmachung, die auf eine positive und optimistische Stimmung an »Problemschulen« zielen. Daran zeigt sich, dass der Umgang mit der sozialen Frage auch mit spezifischen Formen der affektiven Adressierung zusammenhängt, wobei sich im Umgang mit marginalisierten Jugendlichen eine eigentümliche Mischung aus Abwertung und Empowerment, aus Disziplinierung und Aktivierung etabliert hat.27 Im Ausgrenzungsapparat Schule werden demnach verschiedene Register der sozialen Kontrolle gezogen.
Ausgrenzungsapparat. Bildung und soziale Ungleichheiten Die Bezeichnung »Ausgrenzungsapparat« könnte zunächst in Bezug auf Schule etwas irritieren, gilt diese im politischen Diskurs doch als der »great equalizer«, als eine überparteiliche Ausgleichsinstanz. Mit diesem und ähnlichen Begriffen sollen solche etablierten Denkweisen herausgefordert, neue Blickweisen provoziert werden. Mit einem strukturalistisch anmutenden Vokabular weise ich auf das enorme Ausmaß und die ungebrochene Persistenz sozialer Ungleichheiten im Bildungsbereich hin und hebe den institutionellen Beitrag der Schule zur Reproduktion dieser Ungleichheitsverhältnisse hervor. Mechanistische Metaphern wie »Maschinen« und »Apparate« stehen in einer langen Tradition kritischer Gesellschaftsanalyse, mit ihnen wurden die entfremdenden und inhumanen Seiten der kapitalistischen Gesellschaftsformation ebenso betont wie der sich wiederholende und verfestigte Charakter der darin wirksamen Ungleichheitsstrukturen. Schon in den Grundrissen von Karl Marx taucht der Maschinenbegriff prominent auf, dabei wird in Bezug auf die politische Ökonomie von »einem automatischen System« gesprochen, das als eine »fremde
26 V gl. Seyfert: Das Leben der Institutionen; Lordon: Institutionen in der Gesellschaft der Affekte; Slaby: Affective Arrangements; Wellgraf: Schule der Gefühle. 27 Vgl. Hertel: Entziffern und Strafen.
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rangement betrachtet werden.26 Neben einer Reihe eher defensiver institutioneller Affizierungen, wie Misstrauen gegenüber der Schule und oppositionellen Bezügen auf den Islam, Entfremdung und Überforderung im Bereich der pädagogischen Professionen sowie Zynismus und resignative Haltungen im Kontext von Bildungspolitik, schildere ich auch Versuche der affektiven Mobilmachung, die auf eine positive und optimistische Stimmung an »Problemschulen« zielen. Daran zeigt sich, dass der Umgang mit der sozialen Frage auch mit spezifischen Formen der affektiven Adressierung zusammenhängt, wobei sich im Umgang mit marginalisierten Jugendlichen eine eigentümliche Mischung aus Abwertung und Empowerment, aus Disziplinierung und Aktivierung etabliert hat.27 Im Ausgrenzungsapparat Schule werden demnach verschiedene Register der sozialen Kontrolle gezogen.
Ausgrenzungsapparat. Bildung und soziale Ungleichheiten Die Bezeichnung »Ausgrenzungsapparat« könnte zunächst in Bezug auf Schule etwas irritieren, gilt diese im politischen Diskurs doch als der »great equalizer«, als eine überparteiliche Ausgleichsinstanz. Mit diesem und ähnlichen Begriffen sollen solche etablierten Denkweisen herausgefordert, neue Blickweisen provoziert werden. Mit einem strukturalistisch anmutenden Vokabular weise ich auf das enorme Ausmaß und die ungebrochene Persistenz sozialer Ungleichheiten im Bildungsbereich hin und hebe den institutionellen Beitrag der Schule zur Reproduktion dieser Ungleichheitsverhältnisse hervor. Mechanistische Metaphern wie »Maschinen« und »Apparate« stehen in einer langen Tradition kritischer Gesellschaftsanalyse, mit ihnen wurden die entfremdenden und inhumanen Seiten der kapitalistischen Gesellschaftsformation ebenso betont wie der sich wiederholende und verfestigte Charakter der darin wirksamen Ungleichheitsstrukturen. Schon in den Grundrissen von Karl Marx taucht der Maschinenbegriff prominent auf, dabei wird in Bezug auf die politische Ökonomie von »einem automatischen System« gesprochen, das als eine »fremde
26 V gl. Seyfert: Das Leben der Institutionen; Lordon: Institutionen in der Gesellschaft der Affekte; Slaby: Affective Arrangements; Wellgraf: Schule der Gefühle. 27 Vgl. Hertel: Entziffern und Strafen.
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Macht« verstanden wird.28 Diesem unterwirft sich der Mensch, er wird zu ihrem Mittel und somit Teil einer größeren »Maschinerie«. Poststrukturalistisch orientierte Autoren wie Michel Foucault, Gilles Deleuze und Felix Guattari ging es später nicht mehr darum Mensch und Maschine zu konfrontieren, sie zeichneten vielmehr ihre vielfältigen Verbindungen nach. In Überwachen und Strafen bezeichnet Foucault die modernen Schulgebäude als eine »pädagogische Maschine«, ihm zufolge habe die serielle Neuorganisation des Elementarunterrichts im Zuge der Auf klärung den »Schulraum zu einer Lernmaschine umgebaut – aber auch zu einer Überwachungs-, Hierarchisierungs-, Belohnungsmaschine«.29 Die gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen nun nicht mehr dem Menschen äußerlich, sondern dieser wird gewissermaßen selbst zur Maschine. Diese werden nun allerdings in einem erweiterten, dynamischen Sinne als von Körpern, Imaginationen und Techniken durchzogene »Wunschmaschinen« verstanden.30 Gegenwärtige Konturen solcher »Mensch-Maschinen« zeigt Maurizio Lazzarato mit Blick auf den digitalen Kapitalismus der Gegenwart auf.31 Die Widersprüche und Krisenphänomene unserer Gesellschaftsordnung führen ihm zufolge auch zu Krisen der Subjektivierung, ein Problem, dass sich angesichts der Missstände an Berliner Schulen für die Beteiligten ebenfalls mit Nachdruck stellt. Eine Schwäche des gegenwärtigen Schulsystems besteht demnach darin, dass es unterhalb des Gymnasiums kaum noch erstrebenswerte Subjektivierungsmodelle anbietet. Trotz dieser Weiterentwicklungen und Anschlussmöglichkeiten hängt dem Maschinenbegriff immer noch eine Verengung auf technisch-mechanistische Bedeutungen nach, die sich seit dem 17. Jahrhundert semantisch durchgesetzt haben.32 Stattdessen bietet sich der verwandte Begriff des »Apparats« für die Bezeichnung von institutionellen Settings im Bildungsbereich an, zumal mit der von Louis Althusser entwickelten Konzeption von »Staatsapparaten« bereits ein anschlussfähiges Modell für eine kritische Ana-
28 Vgl. Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, S. 590-605. 29 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 223, 189. 30 Vgl. Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, S. 497-521. 31 Vgl. Lazzarato: Signs and Machines. 32 Vgl. Raunig: Tausend Maschinen.
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lyse der Institution Schule vorliegt.33 Althusser unterscheidet in seiner fragmentarischen, doch enorm einf lussreichen Schrift über »Ideologie und ideologische Staatapparate« zwischen »repressiven« Staatsapparaten wie Militär und Polizei sowie den »ideologischen« Staatsapparaten wie Medien und Bildungseinrichtungen. Während alle Staatsapparate sowohl repressive als auch ideologische Facetten aufweisen, geht Althusser doch von einer gewissen Arbeitsteilung aus. Zudem sind sie jeweils der Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung verpf lichtet. Mit ihrem Einf luss auf breite Bevölkerungskreise verstärken sie den Einf luss des Staates, während dieser gleichzeitig mit Verordnungen wie der Schulpf licht den Staatsapparaten die entsprechenden Zugriffsrechte sichert. Die ideologische Wirkung der Schule besteht darin, Schüler*innen durch Anrufungen eine Position im gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang zuzuweisen, die vornehmlich der weiteren Kapitalverwertung dient. Dem schulischen ideologischen Staatsapparat schreibt Althusser in der modernen kapitalistischen Gesellschaft aufgrund seiner Wirkung auf alle Bevölkerungsschichten eine vorherrschende Position zur Aufrechterhaltung der Klassenstrukturen zu, wobei seine Selektionsfunktion so weit wie möglich verschleiert wird. Durch den Begriff des Apparats werden Ideologien nicht nur als ein Set von abstrakten Ideen oder Überzeugungen verstanden, sondern auch deren Materialisierung in institutionellen Infrastrukturen in den Blick genommen.34 Allerdings erscheinen die Apparate bei Althusser noch als relativ geschlossen, als wären sie homogene und widerspruchsfreie Gebilde. Demgegenüber arbeite ich die internen Konf liktlagen und inhärenten Widersprüche innerhalb des als ein Kräftefeld verstandenen schulischen Staatsapparates heraus. Zudem sind die schulischen Platzzuweisungen zwar enorm wirkmächtig, sie verlaufen jedoch selten ohne Kritik und Widerstand, was sich am aufsässigen Verhalten vieler Schüler*innen zeigt. Die Heterogenität von Apparaten und die Dynamiken der sich darin entfaltenden Machtbeziehungen lassen sich besser mithilfe der von Michel Foucault entwickelten Konzeption von Dispositiven begreifen. Die von Foucault im Französischen verwendete Bezeichnung »dispositif« wird im Englischen oft als »apparatus«, also als »Apparat«, übersetzt, 33 V gl. Althusser: Ideologie und Ideologische Staatsapparate; Althusser: Über die Reproduktion. 34 Vgl. Montag: Althusser and his Contemporaries.
Einleitung
während im Deutschen zumeist von »Dispositiven« oder »Gefügen« gesprochen wird. Dieses Verständnis von Apparaten geht weit über ein enges, funktionalistisches Verständnis von Institutionen hinaus, indem es gesellschaftliche Formationen und Institutionalisierungsprozesse in den Blick nimmt, die sich aus dem Zusammenwirken disparater Elemente bilden.35 Apparate oder Dispositive sind demnach historisch gewachsene Ensemble von Diskursen, Praktiken, räumlich-materiellen Arrangements und Subjektivierungsweisen, die miteinander in Beziehung stehen und einer gewissen kulturellen Logik folgen, ohne dass dies den involvierten Akteuren unmittelbar bewusst wäre. Mit einem solchen, transversalen Verständnis von Apparaten – demzufolge Schulinstitutionen nicht aus sich selbst, sondern als materialisierte Effekte gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse zu begreifen sind – lenke ich den Fokus auf die diskursiven Weisen der Problematisierung von Schule und damit zusammenhängende sozialmoralische Zuschreibungen, auf praktische Regelungen und alltägliche pädagogische Routinen sowie auf gegenwärtige gesellschaftliche Konstellationen und die mit ihnen einhergehenden Subjektivierungsweisen im schulischen Feld. Während Foucault »Dispositive der Macht« aus einer historisch-genealogischen Perspektive rekonstruierte, untersuche ich die Institution Schule aus einer ethnografischen Perspektive stärker als ein situatives, affektives und lokal zusammenhängendes Wirkungsgefüge.36 Der schulische ideologische Staatsapparat ist ein Ausgrenzungsapparat, denn durch ihn werden signifikanten Teilen der Bevölkerung systematisch angemessene Formen der gesellschaftlichen Teilhabe verwehrt. Die Herkunft der Eltern und deren sozialer Status bestimmen noch immer maßgeblich über die Bildungslauf bahn ihrer Kinder. Selbst bei gleichen Kompetenzen und Fähigkeiten haben Kinder aus dem untersten Viertel der Sozialstruktur eine achtmal schlechtere Chance auf den Besuch eines Gymnasiums wie jene aus dem oberen Viertel.37 Auch migrantisch positionierte Schüler*innen werden in ähnlichem Ausmaß diskriminiert: Sie haben eine fünfmal geringere 35 V gl. Foucault: Der Wille zum Wissen; Foucault: Das Spiel des Michel Foucault; Bührmann/Schneider: Vom Diskurs zum Dispositiv. 36 V gl. Foucault: Dispositive der Macht; Hertel: Entziffern und Strafen; Anderson: Encountering Affect; Mühlhoff: Immersive Macht. 37 Vgl. Solga/Powell: Gebildet – Ungebildet.
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Chance eine Übergangsempfehlung zum Gymnasium zu erhalten und ein mehr als doppelt so hohes Risiko auf eine Sonderschule für Lernbehinderte überwiesen zu werden.38 Die soziale Selektivität in Bezug auf Klasse und Herkunft ist zudem, wie die PISA-Studien verdeutlicht haben, in Deutschland deutlich stärker ausgeprägt als in vergleichbaren europäischen Ländern.39 Alles deutet zudem darauf hin, dass sich die Ungleichheiten im Bildungsbereich durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie weiter verschärft haben. Unser Bildungssystem trägt somit maßgeblich zu einer gespaltenen Gesellschaft bei.40 Auf den folgenden Seiten schildere ich, wie Ungleichheit sich in der Schule herausbildet und wie sie begründet wird, auf welche Weise das Thema in der medialen Öffentlichkeit aufgegriffen und politisch bearbeitet wird und wie es dazu kommen kann, dass letztlich keine wirksamen Mittel gegen das zunehmende Auseinanderfallen der Gesellschaft eingesetzt werden. Die Spaltungen im Bildungsbereich werden weitgehend hingenommen, obwohl sie von kaum jemand gutgeheißen werden. Die damit verbundenen sozialen Herabsetzungen bündeln sich nicht mehr zu kollektiven Forderungen, es gibt keine Interessenvertretung für jugendliche Arbeitslose, kaum Klassenbewusstsein im marxistischen Sinne bei Geringqualifizierten und prekär Beschäftigen. Dieses Buch kann also auch zur Ref lektion über die Bedingungen der politischen Mobilisierung gelesen werden. Im ersten Kapitel widme ich mich den rassistischen Strukturen des deutschen Schulsystems, die vor allem im Umgang mit dem Islam deutlich hervortreten, der von einigen Jugendlichen migrantischer Herkunft als identifikatorische Ressource genutzt wird. Im zweiten Kapitel rekonstruiere ich Rechtfertigungsordnungen im pädagogischen Bereich, in denen eine individualisierte, meritokratisch interpretierte Verantwortungszuschreibung dominiert. Neben persönlichen Zwiespälten sowie Spannungen innerhalb der Schulkollegien werden dabei auch Ressourcen- und Deutungskonf likte zwischen Lehrer*in38 V gl. Allemann-Ghionda/Auernheimer/Grabbe: Beobachtung und Beurteilung in soziokulturell und sprachlich heterogenen Klassen; Stanat/Rauch/Segeritz: Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. 39 V gl. Geißler: Die Illusion der Chancengleichheit im Bildungssystem – von PISA gestört; Baumert/Stanat/Watermann (Hg.): Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen. gl. Lessenich/Nullmeier (Hg.): Deutschland – Eine gespaltene Gesellschaft; 40 V Butterwegge: Die zerrissene Republik.
Einleitung
nen, Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen angedeutet. Im dritten Kapitel schildere ich am Beispiel der Berliner Schulreform von 2010 das Scheitern von politischen Reformvorhaben im Bildungsbereich. Wie kommt es, dass selbst ambitionierte, auf grundlegende strukturelle Verbesserungen zielende Vorhaben letztlich weitgehend wirkungslos bleiben, während hinter den Kulissen die Spaltung des Bildungsbereichs weiter vorangetrieben wird? Im abschließenden vierten Kapitel beschreibe ich Formen des sozialen Engagements an »Problemschulen« und argumentiere am Beispiel einiger neuer Bildungsprojekte, wie Teach First, Rock your Life! und Schoolturnaround, dass neoliberal ausgerichtete Hilfsprogramme die angespannte Situation an den Schulen sogar noch weiter verschärfen können. Die angedeuteten Ungleichheiten im Bildungssystem betreffen auch Fragen von sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Unser Schulsystem ist nicht nur ungleich, sondern auch ungerecht.41 Wenn Chancengleichheit bedeutet, dass alle Heranwachsenden unabhängig von ihrer Herkunft mit der gleichen Erfolgswahrscheinlichkeit ihre Bildungswege beginnen, dann muss unserem Schulsystem eine Pervertierung des Gleichheitsprinzips attestiert werden. Schüler*innen werden weder im formalen, im proportionalen noch im moralischen Sinne gleichbehandelt: Sie werden kategorisch nach Schultypen unterschieden, wobei unterbürgerliche Schichten und Migrant*innen auf niederen Schultypen deutlich überrepräsentiert sind, was wiederum mit Demütigungen und Stigmatisierungen einhergeht. Diese enorme Ungleichbehandlung kann moralisch nicht gerechtfertigt werden, auch die meritokratische Annahme, der zufolge Schulerfolg maßgeblich das Ergebnis von individuellen Eignungen und erbrachten Leistungen sei, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Tarnmantel für institutionelle Diskriminierungen. Diese entfalten vor allem in der Übergangsphase von der Grundschule auf die Sekundarschule ihre nachhaltige Wirkung, wenn wegweisende Entscheidungen über die künftigen Bildungskarrieren der Heranwachsenden maßgeblich auf der Basis kulturalistischer Vorannahmen und sozialer Stereotype getroffen werden.42 Eine solche Ungleichverteilung ohne angemessene Gründe ist ungerechtfertigt. Auf dieser von Willkür ge41 V gl. Meyer: Bildung; Gosepath: Verteidigung egalitärer Gerechtigkeit; Brighouse: Educational Equality and Justice. 42 Vgl. Gomolla/Radtke: Institutionelle Diskriminierung.
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prägten institutionellen Basis kann kein Sozialvertrag geschlossen, kein Gemeinwesen etabliert werden. Wenn sich das Gefühl verbreitet, dass unsere Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet, sich die sozialen Gräben vertiefen und die politischen Konf likte verhärten, dann hat dies maßgeblich auch mit einem zutiefst ungerechten Bildungssystem zu tun. Das Buch basiert auf einer längeren Beschäftigung mit Berliner Hauptund Sekundarschulen. Ich bedanke mich bei allen, die mir bei meinen Forschungen die Türen geöffnet und sich für Gespräche bereiterklärt haben. Die einzelnen Kapitel wurden in von der Corona-Pandemie überschatteten Monaten ausgearbeitet. Für aufmerksame Lektüren in widrigen Zeiten bedanke ich mich bei Jens Adam, Christoph Burmeister, Thorsten Hertel, Anna Pultar, Werner Schiffauer, Jan Slaby, Hauke Straehler-Pohl und Anke Voßberg. Für das Lektorat danke ich Anne Dorowski, für den Satz und die Betreuung dem transcript-Verlag.
Stigmatisierung Islam als oppositionelle Schulkultur Schüler*innen aus benachteiligten Schultypen und Schulstandorten werden kollektiv auf einem niedrigen Rang in der Bildungshierarchie verortet, sie gelten gleichsam als Personen von minderem Wert, als Menschen mit einem sozialen Makel. Die Schulzugehörigkeit wird zu einem Negativstempel, der Selbstbilder ruinieren, Lebenswege versperren und Zukunftsaussichten verdüstern kann – also zu einem Stigma.1 Stigma-Zuschreibungen beruhen nicht auf feststehenden Eigenschaften von Personen oder Gruppen, sie werden gesellschaftlich konstruiert und dienen der Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen. Stigmatisierung steht in einem engen Zusammenhang mit anderen Formen der sozialen Markierung und Wertung, etwa mit Prozessen der Kategorisierung, Stereotypisierung und Diskriminierung: Gruppen werden zunächst kategorisch voneinander unterschieden und einigen dann negative Eigenschaften zugeschrieben, auf deren Basis sie benachteiligt werden, was wiederum mit einem massiven Ansehensund Statusverlust einhergeht.2 Stigmatisierung kann deshalb als eine »Maschine der Ungleichheit« verstanden werden.3 Wenn sich Stigma-Zuschreibungen etabliert haben, sie durch schulische Institutionen verfestigt und beglaubigt werden, prägen sie auch die Selbstwahrnehmung und das Selbstwertgefühl der betroffenen Personen – allerdings auf sehr unterschiedliche Weisen. Neben individualpsychologischen und situativen Faktoren spielt dabei auch die Frage eine Rolle, inwieweit Stigmata thematisiert, kritisiert und zumindest teilweise revidiert werden können. Schüler*innen von Haupt1 Vgl. Goffman: Stigma. 2 Vgl. Link/Phelan: Conceptualizing Stigma. 3 Vgl. Tyler: Stigma.
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und Sekundarschulen wenden sich auf unterschiedliche Weisen gegen statusbedingte Benachteiligungen und sozialmoralische Herabwürdigungen, sie haben innerhalb des schulischen Staatsapparats aber nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, ihre Positionen auf eine Weise zu artikulieren, die ihnen mehr Anerkennung verschaffen würde. Auch von politisch linksgerichteten sozialen Bewegungen brauchen sie derzeit nicht auf Unterstützung zu hoffen, ein niedriger Klassenstatus gilt dort bestenfalls als bedauernswert. So gibt es auch keinerlei Anzeichen, dass die mit Labels wie »Hauptschüler« oder »Problemschüler« verbundene Abwertung umkodiert und positiv besetzt werden würde. Ich schildere zunächst die mehrfache Stigmatisierung von Hauptund Sekundarschüler*innen aus Einwandererfamilien und hebe die aktive Rolle der Schule in diesem Prozess hervor. Dabei argumentiere ich, dass sich schuloppositionelle Haltungen unter den Schüler*innen in erster Linie aufgrund von gesellschaftlichen Abwertungen und institutionellen Konf likten herausbilden – und nicht, wie vonseiten der Schule behauptet, aufgrund herkunftsbedingter kultureller Prägungen. Ich frage nach den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und nach den gegenwärtig besonders markanten Konf liktlinien der Schulkultur unterhalb des Gymnasiums.4 In diesem Zusammenhang schildere ich sich neu entwickelnde inhaltliche Stoßrichtungen von schulkritischen Verhaltensweisen, die sich in den letzten Jahren aus einer ethnischen Unterschichtung und einer Kulturalisierung von Fragen sozialer Ungleichheit ergeben haben. Eine widerständige Haltung, die ich im Verlauf dieses Kapitels besonders hervorhebe, nutzt den Islam als Sinnressource und ethnische Identifikationsangebote zur kulturellen Selbstaufwertung und wendet sich damit teilweise demonstrativ gegen die Institution Schule. Diese Konf liktlinie bildet sich im Kontext von aufgeheizten Debatten um Zuwanderung und islamistischen Terror sowie einer bereits etablierten schulischen Gegenkultur, deren ideologische Ausrichtung jedoch modifiziert wird. Indem der Islam und Fragen von ethnischer Zugehörigkeit zunehmend in das Zentrum schulischer Konf likte rücken, wird ein verdeckter Klassenkonf likt zunehmend als ein offener Kulturkampf ausgetragen, gleichsam treten auch die rassistischen Grundstrukturen des deutschen Schulsystems offen zutage. 4 Z um Begriff der Schulkultur vgl. Helsper: Schulkulturen; Böhme/Hummrich/Kramer (Hg.): Schulkultur.
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Die unter Hauptschüler*innen im Jugendalter zu beobachtende Zuwendung zur Religion und Ethnizität der Elterngeneration ist kein kulturelles Relikt von vermeintlich Fremdgebliebenen, sondern eine Suche nach außerschulischen Formen der Anerkennung und somit auch eine Reaktion auf die hierzulande erfahrenen institutionellen Abwertungen. Der Islam wird im Kontext von Missachtungserfahrungen von den Jugendlichen als eine Ressource für die Lebensführung entdeckt, von den Lehrer*innen wird diese religiös konnotierte Suchbewegung jedoch eher als schuloppositionelles Verhalten gedeutet. In einem ohnehin angespannten Schulklima schaukeln sich dadurch Konf likte hoch und aus dem Islam wird eine spezifische Art von Oppositionskultur gemacht: Er wird zu einem Vehikel des Auf begehrens aufseiten der Schüler*innen und zu einem Symbol für antischulische Haltungen aus Sicht der Lehrer*innen. Gleichzeitig verändern sich Religionen wie der Islam im Kontext von Migration. Dieser wird nun eher individuell angeeignet und als alternatives Bildungsprogramm verstanden und nicht als kollektives Brauchtum unhinterfragt von Generation zu Generation weitergegeben.5 Auch die ethnischen Selbstbezüge unterscheiden sich von denen der Eltern oder Großeltern, es kommt dadurch zu Irritationen innerhalb von Familien, aber auch zu unterschiedlichen Ausprägungen innerhalb jugendlicher Freundesgruppen. Religion und Ethnizität werden somit als dynamische Konstruktionsprozesse verstanden, als etwas Gemachtes und nicht als etwas Vererbtes. Überschattet werden diese vielschichtigen Aushandlungen von Zugehörigkeit von einem einengenden, nationalstaatlich ausgerichteten Verständnis von Kultur und Bildung innerhalb der Institution Schule. Diese begegnet (post-)migrantischen Schüler*innen mit Misstrauen und verlangt nach eindeutigen kulturellen Bekenntnissen, ein einseitiger Integrationszwang der letztlich vor allem zu Frontenbildungen, Lagerdenken und gegenseitigen Vorwürfen – und somit zu Spannungen innerhalb der Schule führt. Die in diesem Kapitel geschilderten jugendlichen Zuwendungs- und Abgrenzungsprozesse von der Institution Schule und der Herkunftskultur der Eltern sind dabei keineswegs immer eindeutig, sie variieren stark und können im Lebensverlauf mehrfach revidiert werden, sie öffnen Wege und verschließen andere, vor allem irritieren sie schulische Autoritären und stellen institutionelle Bildungsverständnisse in Frage. Die hier geschilderten Suchbe5 Vgl. Schiffauer: Migration und Religion.
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wegungen von Heranwachsenden können somit auch als Kommentare zu grundlegenden Fragen von Bildung und Ungleichheit verstanden werden.
Doppelte Stigmatisierung. Niedrigqualifizierte und Muslime Die (post-)proletarischen und (post-)migrantischen Bevölkerungsteile, die sich deutlich überproportional an Haupt- und Sekundarschulen in benachteiligten Stadtbezirken versammeln, werden sowohl als »Hauptschüler« als auch als »Ausländer« abgestempelt. Sie sind somit doppelt diskriminiert, sie werden beispielsweise bei einem Vorstellungsgespräch gleichzeitig wegen ihres Schulabschlusses und/oder wegen ihres Kopftuchs nicht für die ausgeschriebene Stelle berücksichtigt. Dahinter stehen wirkmächtige, miteinander verf lochtene Formen von Klassismus und Rassismus, die in den letzten Jahrzehnten – in Verbindung mit Sexismus, Islamfeindlichkeit und anderen Diskriminierungsformen – neue Ausprägungen angenommen haben: von einer kollektivistischen zu einer individualistischen Lesart von soziostrukturell bedingten Lebenslagen und von einem biologisch begründeten hin zu einem kulturellen (Neo)Rassismus. In Bezug auf Klassismus deuten Stichworte wie Deindustrialisierung und Neoliberalisierung auf veränderte Rahmenbedingungen hin, unter denen schulische Ausgrenzung stattfindet und interpretiert wird. Anfangs boten die ab den 1960er Jahren aus den Volksschulen hervorgegangenen Hauptschulen noch einen gangbaren Weg in halbwegs stabile Beschäftigungsverhältnisse. Durch die Deindustrialisierung fielen seit den 1980er und -90er Jahren jedoch zahlreiche Arbeitsplätze in der industriellen Produktion weg. Massenarbeitslosigkeit war die Folge, zudem verschob sich die Struktur der Arbeitsverhältnisse in Richtung prekärer Beschäftigungen, also zu unsicheren und instabilen Arbeitsverhältnissen im Niedriglohnsektor.6 Die »einfachen« Jobs in der Industrie stehen den Schüler*innen heute also nicht mehr zur Verfügung, statt in die Fabrik führen vergleichbare Schulen systematisch in die Arbeitslosigkeit und in prekäre Beschäftigungen. Dies wird als umso schmerzlicher empfunden, da sich gleichsam die kulturellen 6 Vgl. Castel/Dörre (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung.
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Wertordnungen verschoben haben. Während frühere Generationen von rebellischen Arbeiterkindern den Maßstäben der bürgerlichen Kultur noch stolz gegenüberstanden und sich auf die in Gewerkschaften und Arbeiterbewegung tradierte Arbeiterkultur beziehen konnten, zeigt sich bei der jetzigen Generation von Jugendlichen, dass diese die schulischen Bildungshierarchien bereits weitgehend internalisiert haben, mit negativen Folgen für ihr Selbstwertgefühl. Hier spielt auch die Inf lation von Bildungsabschlüssen eine wichtige Rolle, da sie dazu beitrug, dass Hauptschulen ihren Status als Normalschule verloren haben. Die steigende Bedeutungszuschreibung gegenüber Bildung und Bildungszertifikaten hat weniger erfolgreich verlaufende Bildungsverläufe zu einem Makel werden lassen. Die Normalitätserwartungen haben sich verschoben und die Grenzen zwischen den Schultypen wurden umkämpfter. Unter diesen Bedingungen wurden Hauptschulen zunehmend als ein Ort der negativen Auslese betrachtet und ihre Absolventen zu einer sozial stigmatisierten Bevölkerungsgruppe.7 Dadurch verschärften sich soziale Spaltungen – die Kluft zwischen Hauptschulen, die spätestens ab den 2000er Jahren als »Restschulen« galten, und anderen Schultypen wurde sichtbarer und markanter. Auch die Schulreformen der 2010er Jahre haben diese Konstellation, wie im dritten Kapitel gezeigt wird, nicht grundlegend verändert. Die Polarisierungstendenzen werden von Prozessen der Neoliberalisierung verstärkt, die nicht nur Veränderungen im Verhältnis von Staat und Ökonomie, sondern auch die damit einhergehenden Transformationen von kulturellen Bewertungsweisen umfassen.8 Unter Neoliberalisierung wird zumeist eine Reihe von verschiedenen politisch-ökonomischen Entwicklungstendenzen wie die Liberalisierung von Arbeitsmärkten, die Deregulierung der Finanzmärkte und der Rückbau von sozialen Sicherungssystemen verstanden. Mit diesen Umwandlungen werden gleichsam auch die grundlegenden Vorstellungen von Gesellschaft auf unmerkliche Weise in Richtung ökonomischer Bewertungsmaßstäbe verschoben. Dabei kommt es, wie wir in späteren Kapiteln noch genauer sehen werden, zu einer Ausbreitung von Wettbewerbsverhältnissen auf Gesellschaftsbereiche wie die Schu7 V gl. Solga: Ausbildungslose und die Radikalisierung ihrer sozialen Ausgrenzung; Solga: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher an den Normalisierungspflichten moderner Bildungsgesellschaften. 8 Vgl. Wellgraf: Schule der Gefühle, S. 397-399.
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le. Die Bildungslauf bahn fällt dadurch zunehmend in den Bereich der Selbstverantwortung und der Selbstoptimierung. Mit der Dominanz von Marktlogiken geht eine moralische Neukodierung sozialer Ungleichheit einher, in deren Folge Bildungsverlierern zunehmend selbst die Schuld an ihrer misslichen Lage zugeschrieben wird. Ihnen wird nun vermehrt Versagen und Unwillen attestiert, ihre schulische Karriere erscheint nicht mehr als Ausdruck sozialer Strukturen, sondern als persönliches Defizit. Die negativ markierte Schulkarriere wird gleichsam zu einer zentralen Referenz von Selbst- und Fremdwahrnehmungen, sie wird zu einem negativen Identitätsmerkmal, zu einem sozialen Stigma. Unter Stigmatisierung lässt sich im Anschluss an den US-amerikanischen Soziologen Erving Goffman die Diskreditierung von Personen oder Gruppen aufgrund einzelner, negativ hervorgehobener Attribute verstehen, die als nicht den gesellschaftlichen Normalitätsstandards entsprechend betrachtet werden.9 Goffman unterschied verschiedene Formen von Stigmata: körperbezogene, charakterbezogene und »tribale«, also die Gruppe oder die Familie betreffende Merkmalszuschreibungen.10 Schulbezogene Stigmatisierungen würden eher in diese letzte Kategorie fallen, wobei an (post-)migrantisch geprägten Schulstandorten die Zusammensetzung der Schülerschaft nicht nur über den Klassenstatus, sondern in der Regel auch von ethnischen und religiösen Verortungen mitbestimmt wird. Goffman blendet diese machtbedingte (Mehrfach)Positionierung aus, er sah das Selbst zwar als ein soziales Produkt, doch hatte er dabei eher Szenen und Situationen als die dahinterliegenden Strukturen und Machtverhältnisse im Blick. Diese spielen jedoch für das Verständnis von Stigmatisierungsprozessen in hierarchisierten Bildungssystemen eine entscheidende Rolle, zumal wenn der niedrige Bildungsstatus selbst zu einem Stigma wird.11 Über Stigmatisierungen werden kapitalistische, (post-)koloniale und patriarchale Macht- und Ungleichheitsverhältnisse auf eine Weise produziert, die direkt auf die Köper- und Selbstverhältnisse der Stigmatisierten abzielt.12 Dabei wird gleichsam ganzen Bevölkerungsgruppen der Anspruch auf vollwertige gesellschaftliche Teilhabe abgesprochen. 9 Vgl. Goffman: Stigma. 10 Ebd, S. 4. 11 Vgl. Völcker: »Und dann bin ich auch noch auf die Hauptschule gekommen…«. 12 Vgl. Tyler: Stigma.
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Der Staat ist einer der wichtigsten Stigma-Produzenten, über Straf-, Korrektur- und Erziehungseinrichtungen institutionalisiert er wirkmächtige Unterscheidungen zwischen »Normalen« und »Anormalen«.13 Das Schulsystem kann man deshalb auch als einen staatlichen Ausgrenzungsapparat verstehen, als eine Art »Stigma-Maschine«14, in der gesellschaftliche Teilhabechancen manchen Gruppen zugeteilt und anderen verweigert werden, etwa indem Abiturient*innen nach dem Schulabschluss die Universitäten besuchen können und Hauptschulabsolvent*innen größtenteils zum Jobcenter geleitet werden. Die Auswirkung der Stigmatisierung von Niedrigqualifizierten reicht weit über den Bereich der Schule hinaus. Sie führt zunächst zu stark verminderten Chancen auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt. Von den Abschlussklassen der Anna-Seghers- und der Galilei-Schule fanden direkt nach dem Schulabschluss jeweils nur zwei bis drei Schüler*innen einen Ausbildungsplatz. Darüber hinaus haben Stigmatisierungsprozesse auch eine starke emotionale und moralische Dimension, sie gehen häufig mit Scham- und Schuldgefühlen sowie einer öffentlichen Infragestellung des sozialmoralischen Status einher.15 Die alltäglichen Folgen der dadurch produzierten sozialen Minderwertigkeit zeigen sich beispielsweise daran, dass Hauptschüler*innen bei Zusammenkünften mit anderen Jugendlichen häufig versuchen ihre Schulzugehörigkeit zu verheimlichen. Der spezifische Beitrag der Schule zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung liegt darin, soziale Ungleichheiten auf nachhaltige Weise zu institutionalisieren und zu legitimieren.16 Neben sozialstrukturellen spielen dabei auch kulturelle Zuschreibungen eine entscheidende Rolle. Hier lassen sich zwei Formen der »institutionellen Diskriminierung«17 unterscheiden: zum einen die vor allem in Phasen des Schulwechsels wirksame negative Rangzuweisung von Einwandererkindern aufgrund von für diese nachteiligen Regelungen oder Einschätzungen, etwa zu Sprachkenntnissen. Zum anderen die eher versteckteren Formen des Ausschließens und Marginalisierens innerhalb der jeweiligen 13 Vgl. Foucault: Die Anormalen. 14 Vgl. Tyler: Stigma, S. 159-210. 15 Vgl. Röttger-Rössler/Stodulka: Feelings at the Margin. 16 Vgl. Bourdieu: Bildung. 17 Vgl. Gomolla/Radtke: Institutionelle Diskriminierung.
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Schule, die eher auf pädagogischen Gewohnheiten und gesellschaftlich dominanten Wertvorstellungen beruhen. Die Institution Schule erzieht demnach nicht nur, sie diskriminiert auch auf eine aktive Weise, wie es Mechthild Gomolla und Frank Olaf Radtke in ihrer Studie über Institutionelle Diskriminierung herausgearbeitet haben: »Ein nicht unbedeutender Teil der Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung von deutschen im Vergleich zu nicht-deutschen Schülern lässt sich – so lautet die These – nicht auf die Eigenschaften der Kinder und ihre migrationsbedingten Startnachteile zurechnen, sondern wird in der Organisation Schule selbst erzeugt.« (Hervorhebung im Original)18 Die Institution Schule mindert demnach nicht vorhandene gesellschaftliche Spaltungen, sie akzentuiert und verschärft diese. Diese Ungleichbehandlung setzt sich nach der Schule fort, wenn vor allem männliche Jugendliche aus migrantischen Familien auch bei gleichen Abschlüssen, Wunschberufen und Sprachkenntnissen deutlich geringere Chancen auf einen Ausbildungsplatz erhalten.19 Die Benachteiligungen kumulieren sich dabei im Verlauf der Bildungs- und Berufswege. Grundlegend für ein Verständnis dieser in Übergangsphasen besonders wirksam werdenden Ausschlussmechanismen sind Überlegungen zu indirekten Diskriminierungen, denen zufolge in modernen Institutionen Ausgrenzungen eher unbewusst und häufig ohne böswillige Absichten erfolgen. Institutionelle Strukturen können demnach diskriminierende Effekte haben, welche weder den moralischen Prinzipien der Beteiligten noch den für die Institution geltenden Normen entsprechen. Joe und Clairece Feagin sprechen in diesem Zusammenhang von indirekter institutioneller Diskriminierung, die sich sowohl aus historisch tradierten Unterscheidungsmustern als auch aus unberücksichtigten Nebenwirkungen von als neutral oder gerecht geltenden Regelungen ergeben können, z.B. wenn Deutschkenntnisse von Zugewanderten als Bewertungsmaßstab für ihre sprachlich-intellektuellen Fähigkeiten und ihre Bildungsaussichten dienen.20 Bildungsbenachteiligungen sind demnach ein Resultat organisatorischen Handelns, sie wirken Gomolla und Radtke zufolge weitgehend unabhängig von den 18 Ebd., S. 20f. 19 V gl. Diehl/Friedrich/Hull: Jugendliche ausländischer Herkunft beim Übergang in die Berufsausbildung. gl. Feagin/Feagin: Discrimination American Style; Flam: Migranten in Deutsch20 V land.
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Eigenschaften und Leistungen der Schüler*innen. Es sind gerade diese statistisch nur schwer nachweisbaren indirekten Mechanismen, die das Modell der institutionellen Diskriminierung angreif bar gemacht haben. Wenn man etwa wie Cornelia Kristen von einem sehr engen, aus den Wirtschaftswissenschaften importierten Diskriminierungsmodell ausgeht, bei dem die Ausgrenzung sich explizit auf die ethnische Herkunft beziehen müsste und nicht über indirekte Variablen wie Sprachkenntnisse operieren könnte, kann man zu dem Schluss kommen, es gäbe »keine Hinweise auf systematische Diskriminierungen von Kindern aus Zuwandererfamilien«, diese würden vielmehr »sogar etwas besser beurteilt«.21 Ob und wie viel Diskriminierung vonseiten der Wissenschaft gesehen wird, hängt also immer auch von den verwendeten Messmethoden und den zugrunde liegenden Diskriminierungskonzepten ab. Wer jedoch glaubt, schulische Leistungswerte und Beurteilungsweisen aus ihren von Klassismus, Rassismus und Nationalismus geprägten institutionellen Entstehungskontexten herauslösen zu können, arbeitet selbst an der Verschleierung von Machtverhältnissen mit.22 Die institutionelle Problematisierung von nicht-deutscher Herkunft ist eine besondere Erbschaft des deutschen Bildungswesens, das im 19. Jahrhundert nicht nur als Garant eines hierarchischen Gesellschaftsgefüges, sondern auch im Fahrtwasser des damaligen Nationalismus etabliert wurde. Das sich damals formierende allgemeine Schulwesen sollte einen wichtigen Beitrag zur nationalen Einigung der zersplitterten deutschen Einzelstaaten unter der Führung Preußens leisten. Die institutionelle Betonung der deutschen »Muttersprache« spielte dabei eine entscheidende Rolle, wie Ingrid Gogolin in ihrer wegweisenden Studie über den »monolingualen Habitus der multilingualen Schule« herausgearbeitet hat.23 Die monolinguale deutsche Schule wurde zu einem zentralen Instrument der nationalstaatlichen Homogenisierung. Die aus politischen Gründen favorisierte Einsprachigkeit avancierte auf diesem Wege auch bildungstheoretisch zur als natürlich und angemessen angesehenen Weise des Spracherwerbs. Deutschkenntnisse werden seitdem als Maßstab für Sprachkompetenz und Bildungsstand betrachtet. Dieses historisch gewachsene Sprach- und 21 Vgl. Kristen: Ethnische Diskriminierung im deutschen Schulsystem?, S. 35. 22 Vgl. Gilborn: The colour of numbers. 23 Vgl. Gogolin: Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule.
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Bildungsverständnis, bei dem Schüler*innen nicht-deutscher Herkunft systematisch diskriminiert werden, prägt die Institution Schule bis heute. Während Gogolin in ihrer Studie sowohl historisch-genealogisch arbeitete als auch Grundschullehrer*innen zum Thema Zweisprachigkeit interviewte, konzentrierten sich Gomolla und Radtke in Institutionelle Diskriminierung auf die Entscheidungsprozesse in der Organisation der Grundschule. Vor allem bei der Einschulung und Kategorisierung neu hinzukommender Kinder sowie dem Übergang auf weiterführende Schulen entdeckten sie jeweils versteckte Formen von Diskriminierung. Ich schaue auf alltägliche Zuschreibungen von (Nicht-)Zugehörigkeit in den zehnten Klassen zweier Berliner Oberschulen, in denen die ethnisch-soziale Auslese bereits stattgefunden hatte und Kinder aus Arbeitslosen- und Einwandererfamilien folglich weitgehend unter sich blieben. Kaum ein Lehrer bezog sich dabei noch auf das alte, nationalsozialistisch kontaminierte »Rassen«-Denken, auch wenn dies über den Erfolg der Schriften von Thilo Sarrazin zur Zeit meiner Forschungen in Teilen der Öffentlichkeit wieder salonfähig wurde.24 Statt von »Rassen« wird heute von »nichtdeutscher Herkunft« gesprochen und mit »mangelnden Deutschkenntnissen« argumentiert, wenn Kindern aus Familien mit Migrationsgeschichte auf niedere Schultypen verwiesen werden. Statt mit »Genen« wird zudem eher mit »Mentalitäten« argumentiert, wobei auch in diesen neuen Formen des kulturellen Rassismus der biologische begründete Rassismus weiterhin mitschwingt, da implizit von einer Art kulturalisierten Natur des Anderen ausgegangen wird.25 Dabei werden kulturelle Merkmale wie das Kopftuch mit dauerhaften Dispositionen verbunden, die als schwer veränderlich gelten. Diese Herausstellung des Fremdartigen korrespondiert wiederum mit einem exklusiven Verständnis von »deutscher« Kultur. Im Rahmen eines international vergleichenden ethnografischen Forschungsprojekts zum Verhältnis von Staat, Schule und Ethnizität hat Sabine Mannitz anhand ethnografischer Forschungen an Berliner Schulen gezeigt, wie migrantisch verortete Schüler*innen zunächst aus einer kulturalistischen »Brille« betrachtet werden und ihre da24 Vgl. Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. 25 V gl. Mecheril: Einführung in die Migrationspädagogik; Balibar/Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation.
Stigmatisierung
durch in den Fokus gerückte Kultur und Religion anschließend als das eigentliche Problem herausgestellt wird.26 Kultur wird dabei als eine tief verankerte kollektive Mentalität verstanden, die sich klar von anderen unterscheiden lässt. Binnenunterscheidungen geraten dabei genauso aus dem Blick wie Mehrfachidentitäten und Nicht-Identifikationen. Verschiedene kulturelle Ausprägungen – wie die christliche Religion, die Emanzipation der Frauen und die Ablehnung von Antisemitismus – werden dabei als Ausdruck einer demokratisch geprägten deutschen »Leitkultur« verstanden und gleichsam als Waffe gegen Einwanderer*innen in Stellung gebracht, denen genau diese kulturellen Attribute abgesprochen werden. In der Schule wird von den Schüler*innen verlangt, sich demonstrativ zu dieser »deutschen Kultur« zu bekennen. Sie spüren jedoch die Scheinheiligkeit dieses auf negativen Vorannahmen beruhenden Integrationsangebots und antworten teilweise trotzig mit ethnisch oder religiös begründeten Abgrenzungen. Der Islam wird dabei vonseiten der Schüler*innen zu einem Vehikel des Protests und der Selbstbehauptung, vonseiten der Schule hingegen zu einem Symbol für Nicht-Zugehörigkeit und somit zu einem kulturalistischen Argument für soziale Ausgrenzung.
Attraktivität und Tragik der Counter School Culture Die von Stigmatisierung betroffenen Jugendlichen sind keine passiven Opfer erdrückender Strukturen, sie wenden sich aktiv gegen den Ausgrenzungsapparat Schule und suchen nach alternativen Formen der Selbstermächtigung. Dieses Auf begehren sollte jedoch nicht aus Sympathie mit den Unterdrückten romantisiert werden, stattdessen gilt es dessen eigentümliche Formen und Merkmale, seine mitunter tragischen Ambivalenzen und Widersprüche herauszuarbeiten. Die Ethnologin Lila Abu-Lughod hat in diesem Sinne hervorgehoben, dass viele der gegenwärtigen Widerstandsformen nicht mehr dem tradierten Bild einer organisierten Widerstandsbewegung entsprechen, man sie sich eher als situationsbedingte subversive Akte vorstellen sollte, deren Untersuchung uns mehr über die Wirkungsweisen als den Zu-
26 V gl. Schiffauer/Baumann/Kastoryano/Vertovec (Hg.): Staat – Schule – Ethnizität, S. 67-138.
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Stigmatisierung
durch in den Fokus gerückte Kultur und Religion anschließend als das eigentliche Problem herausgestellt wird.26 Kultur wird dabei als eine tief verankerte kollektive Mentalität verstanden, die sich klar von anderen unterscheiden lässt. Binnenunterscheidungen geraten dabei genauso aus dem Blick wie Mehrfachidentitäten und Nicht-Identifikationen. Verschiedene kulturelle Ausprägungen – wie die christliche Religion, die Emanzipation der Frauen und die Ablehnung von Antisemitismus – werden dabei als Ausdruck einer demokratisch geprägten deutschen »Leitkultur« verstanden und gleichsam als Waffe gegen Einwanderer*innen in Stellung gebracht, denen genau diese kulturellen Attribute abgesprochen werden. In der Schule wird von den Schüler*innen verlangt, sich demonstrativ zu dieser »deutschen Kultur« zu bekennen. Sie spüren jedoch die Scheinheiligkeit dieses auf negativen Vorannahmen beruhenden Integrationsangebots und antworten teilweise trotzig mit ethnisch oder religiös begründeten Abgrenzungen. Der Islam wird dabei vonseiten der Schüler*innen zu einem Vehikel des Protests und der Selbstbehauptung, vonseiten der Schule hingegen zu einem Symbol für Nicht-Zugehörigkeit und somit zu einem kulturalistischen Argument für soziale Ausgrenzung.
Attraktivität und Tragik der Counter School Culture Die von Stigmatisierung betroffenen Jugendlichen sind keine passiven Opfer erdrückender Strukturen, sie wenden sich aktiv gegen den Ausgrenzungsapparat Schule und suchen nach alternativen Formen der Selbstermächtigung. Dieses Auf begehren sollte jedoch nicht aus Sympathie mit den Unterdrückten romantisiert werden, stattdessen gilt es dessen eigentümliche Formen und Merkmale, seine mitunter tragischen Ambivalenzen und Widersprüche herauszuarbeiten. Die Ethnologin Lila Abu-Lughod hat in diesem Sinne hervorgehoben, dass viele der gegenwärtigen Widerstandsformen nicht mehr dem tradierten Bild einer organisierten Widerstandsbewegung entsprechen, man sie sich eher als situationsbedingte subversive Akte vorstellen sollte, deren Untersuchung uns mehr über die Wirkungsweisen als den Zu-
26 V gl. Schiffauer/Baumann/Kastoryano/Vertovec (Hg.): Staat – Schule – Ethnizität, S. 67-138.
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sammenbruch von Machtstrukturen verraten kann.27 Ihre Kollegin Sherry Ortner argumentiert in eine ähnliche Richtung, wenn sie den Mangel einer ethnografischen Perspektiven vieler Widerstands-Studien bemängelt, die seit den 1970er Jahren im Fahrtwasser der Gegenkulturen in Mode gekommenen waren.28 Die blinden Flecken dieses ethnografischen Subgenres liegen demnach bei den häufig übergangenen internen Machtstrukturen subalterner Gruppen sowie den von ihnen selbst wiederum ausgehenden Formen der Unterdrückung, vor allem in Bezug auf Geschlecht. Ortner empfiehlt die Heterogenität und internen Spaltungen der Unterdrückten in den Blick zu nehmen, ihren Reichtum an kulturellen Bezügen aufzuzeigen und Subjektivierungen nicht mechanisch auf Machteffekte zu reduzieren. Als ein gelungenes Beispiel hebt sie Paul Willis’ Studie Learning to Labor aus den 1970er Jahren hervor, in der dieser am englischen Beispiel die Selbstwidersprüche von aufmüpfig auftretenden männlichen Schülern herausstellt. Willis beschreibt die jugendkulturelle Attraktivität aber auch die statusbezogene Tragik dieser Counter School Culture, deren grundlegende Mechanismen sich auch hierzulande noch an Haupt- und Sekundarschulen beobachten lassen. Die sich im Kontext dieser schulischen Gegenkultur unter den Jugendlichen herausbildenden anti-schulischen Haltungen zeichnen sich durch eine Ablehnung institutioneller Verhaltensnormen sowie eine symbolische Prämierung schuloppositioneller Verhaltensweisen aus. Dabei handelt es sich keineswegs nur um ein Randphänomen des schulischen »Normalbetriebs«, sondern um ein wirkmächtiges Element der Schulkultur unterhalb des Gymnasiums. Doch in diesem Gestus der Auf lehnung besteht gleichsam die Gefahr, dass rangniedrige Statuspositionen perpetuiert und sozialmoralische Vorurteile bestätigt werden. Willis untersuchte den Übergang von der Schule in die Arbeitswelt anhand einer im Industriegebiet der britischen Midlands gelegenen Schule. Die Arbeiterklasse jener Zeit wurde keineswegs in die dortigen Fabriken gezwungen, sondern orientierte sich eher aus kulturellen Gründen in Richtung des Bereichs der manuellen Arbeit. Vor allem eine von Willis hervorgehobene Gruppe von aufsässigen Jugendlichen – die lads – verband ihre Opposition gegenüber der Schule mit proletarischer Männlichkeit und jugendlicher Coolness. Ihre oppositionelle Haltung 27 Vgl. Abu-Lughod: The Romance of Resistance. 28 Vgl. Ortner: Resistance and the Problem of Ethnographic Refusal.
Stigmatisierung
gegenüber den als bevormundend erlebten Bildungsinstitutionen ging einher mit einem Verzicht auf Bildungsambitionen. Die Heranwachsenden reproduzierten dabei die tradierte Unterscheidung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, ihr Auf begehren war also auch eine Form der sozialen Reproduktion der Arbeiterklasse. In dieser Dialektik aus jugendlicher Rebellion und statusbezogener Selbstlimitierung lag die Attraktivität und die Tragik der Counter School Culture. Die schuloppositionelle Haltung war dabei stets nur eine mögliche Reaktion, so unterschied Willis die lads von konformistischen Schülergruppen (den ear’oles). Antischulisches Verhalten geht zudem in der Regel auch mit Ausgrenzungen von solchen eher strebsamen Schüler*innen einher. Die bis heute anhaltende Attraktivität der Counter School Culture besteht darin, auf selbstbewusste Weise eine demütigende Opferhaltung zu vermeiden und Anerkennung in der jugendlichen Peer Group zu gewinnen. Ihre sich verschärfende Tragik hängt mit der bereits erwähnten ökonomischen Marginalisierung und kulturellen Entwertung der ehemaligen Arbeiterklasse zusammen. Durch den Verlust stabiler industrieller Beschäftigungsverhältnisse und das Zerbröseln der alten Arbeiterkultur einerseits sowie die kulturelle Entwertung einfacher Bildungsabschlüsse andererseits hat die traditionelle Counter School Culture weitgehend ihre kulturelle Referenz und zum Teil auch ihren Stolz verloren.29 Dass sie dennoch weiterhin f loriert, hat mit ihrer ethnischen und religiösen Neuausrichtung zu tun. Zwar beobachtete auch Paul Willis an der von ihm untersuchten Schule bereits Gruppen von Einwandererkindern, doch die von ihm dargestellten lads entsprachen noch weitgehend dem Idealbild einer weißen männlichen Arbeiterjugend.30 Mehr noch, ihre Dominanz beruhte zu wesentlichen Teilen auf ihrem Rassismus und Sexismus, etwa indem sie Migrant*innen als »konformistisch« oder »dumm« abwerteten und gleichzeitig geistige Arbeit als feminin verspotteten.31 Im Zuge von Zuwanderung und ethnischer Unterschichtung hat sich diese Konstellation hierzulande zumindest an großstädtischen Schulen mittlerweile grundlegend verändert. Im Norden Neuköllns hatte zur Zeit meiner Forschung mehr als die Hälfte der Bevölkerung einen so29 V gl. Dolby/Dimitriadis (Hg.): Learning to Labor in New Times; Cohen: Rethinking the Youth Question. 30 Vgl. Willis: Learning to Labor, S. 4. 31 Ebd., S. 49 und 148.
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genannten »Migrationshintergrund«, bei den Jugendlichen unter 18 Jahren lag ihr Anteil sogar bei 80 Prozent.32 Die Trägerschicht der Counter School Culture hat sich dadurch ebenfalls gewandelt, sie ist sowohl postproletarisch als auch postmigrantisch geprägt. Die sich daraus ergebenden Spannungen zeigten sich exemplarisch in einer Diskussion im Geschichtsunterricht der zehnten Klasse der Weddinger Anna-Seghers-Schule. Feldtagebuch: Nationalsozialismus steht auf dem Programm, wie schon die gesamten letzten Wochen. Der Lehrer tritt belehrend und autoritär auf, eigene Fehler versucht er zu kaschieren. Als eine Schülerin ihn darauf aufmerksam macht, dass er fälschlicherweise »1903« statt »1933« an die Tafel geschrieben hat, stellt er sich schnell vor die entsprechende Stelle an der Tafel, so dass niemand sehen kann, wie er die Zahl heimlich korrigiert. Anschließend verneint er seinen kleinen Lapsus und weist als Beweis auf die nun richtige Jahreszahl hin. In der Folgezeit kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen, was auch daran liegt, dass der Lehrer immer das letzte Wort für sich reklamiert, was wiederum einige Schüler zu immer neuen Repliken provoziert. Als er die Klasse fragt, was das Gegenteil von einem »Arier« ist, antwortet ein Schüler mit »Ausländer«. Schließlich kommt die Frage auf, was für einen Schulabschluss Hitler hatte, die anwesende zweite Lehrerin schaut in einem Buch nach und liest vor, dass Hitler die Realschule ohne Schulabschluss verließ. Daraufhin bricht Gelächter aus und folgende Wortmeldungen fliegen durch den Raum: »Ein Abgänger, er ist noch schlimmer als wir!« »Hitler war richtig dumm.« »Aber er war auf Realschule.« »Vielleicht gab es damals noch keine Hauptschule.« Ein Schüler fragt den Lehrer schließlich, ob er ein Nazi ist, was dieser verneint. Ein anderer meint: »Merkel will jetzt auch alle Ausländer rausschmeißen.« Der Lehrer bricht die Diskussion bald darauf ab, den Rest der Stunde wird die Spiegel-TV-Reportage »Feuersturm – der Bombenkrieg gegen Nazideutschland« angeschaut, was einige Schüler als willkommenen Anlass für einen Mittagsschlaf nehmen. 32 Vgl. Bezirksamt Neukölln: Integrationspolitik in Neukölln, Berlin, 2009.
Stigmatisierung
An dieser Geschichtsstunde ist sowohl der Inhalt als auch die Form der Vermittlung des Unterrichtsstoffes bemerkenswert. Dem bei den Schüler*innen äußerst unbeliebten Geschichtslehrer geht es anscheinend weniger darum, die Jugendlichen für Bildungsinhalte zu begeistern, sondern primär um die Demonstration seine Vorrangstellung. Eingeständnisse von Fehlern oder das Eingehen auf Impulse der Schüler*innen würden diesem Lehrverständnis nach als Zeichen der Schwäche gelten. Der pädagogische Dialog wird dadurch zu einem Machtspiel. In diesem wird der Lehrer von einem Teil der Schüler*innen immer wieder provoziert, etwa indem sein Auftreten mit dem der Nationalsozialisten in Verbindung gebracht wird. Der andere Teil reagiert desinteressiert, sie bilden die stumme Kulisse der hier beschriebenen Szene. In einer absurd anmutenden Konstruktion versuchen die sich zu Wort meldenden Schüler*innen Hitler in der Bildungshierarchie unterhalb der von ihnen besuchten Hauptschule einzuordnen. Dabei wird eine Differenz zwischen der Hauptschule, die hier implizit als schlimm und dumm gilt, und Schulabgänger*innen ohne Abschluss (= »noch schlimmer« und »richtig dumm«) aufgemacht, womit jedoch gleichsam die Assoziierung von niedrigem Bildungsstatus mit defizitärer Intelligenz und negativen Persönlichkeitseigenschaften reproduziert wird. Erstaunlich daran ist auch, dass überhaupt das Bedürfnis der Markierung von Höher- bzw. Minderwertigkeit auf kommt und dass die dadurch entstehenden Rankings so stark am Bildungsstatus ausrichtet sind. Eine solche selektive Konstruktion von Vergleichen, mit deren Hilfe die eigene Negativpositionierung ein Stück weit relativiert werden kann, gehört zu den typischen Umgangsweisen mit Stigmatisierung.33 Die bei diesem Lehrformat dominierende Mischung aus aggressiven Provokationen des Lehrpersonals und demonstrativer Schuldistanz war an den von mir untersuchen Schulen weit verbreitet. Dies hatte auch damit zu tun, dass die Unterrichtsinhalte auf die Schüler wenig einladend wirkten. Der Geschichtsunterricht der zehnten Klasse kreiste fast ausschließlich um die Zeit des Nationalsozialismus, er endete kurz nach 1945 mit der Vertreibung der »Sudetendeutschen« und der Gründung der Bundesrepublik. Alles was danach folgte, wurde demnach nicht mehr als schulrelevant eingestuft. Die Arbeitsmigration der 1960er und -70er Jahre aber auch die Wendezeit um 1989 fand im Geschichtsunterricht dieser Schule, die nach einem Widerstandskämpfer gegen den 33 Vgl. Miller/Major: Coping with Stigma and Prejudice.
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Nationalsozialismus benannt war, nicht mehr statt. Dies war kein Zufall, sondern deckt sich mit vergleichenden Untersuchungen zu den an deutschen Oberschulen eingesetzten Geschichtsbüchern.34 Die neuere deutsche Nationalerzählung beruht demnach vor allem auf der erfolgreichen Abkehr vom Nationalsozialismus, dessen Außergewöhnlichkeit auch dadurch betont wird, indem rechtsextreme Tendenzen nach 1945 ausgeblendet werden. Die vollständige Abkehr vom Nationalsozialismus hat demnach eine von der Verantwortung für die Geschichte gezeichnete deutsche Schicksalsgemeinschaft entstehen lassen und zu einer besonders demokratischen, toleranten und aufgeklärten Gesellschaft geführt. Dieses schmeichelhafte Narrativ hat für die Mehrheit der anwesenden Hauptschüler*innen jedoch einen Haken – sie spielen in dieser Geschichte keine Rolle, da die mit ihnen verbundene Zuwanderung erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte. Und wenn ihnen doch eine Rolle zugeschrieben wird, dann am ehesten die des negativen – also des unaufgeklärten und antisemitischen – Gegenpols zu dieser bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte. Die Hinweise der Schüler auf gegenwärtige Formen von Rassismus deuten auf die Lücken und die Scheinheiligkeit dieses Geschichtsbildes hin.
Alternatives Curriculum. Die Hinwendung zum Islam Da die Institution Schule keine attraktiven Bildungs- und Identitätsangebote offeriert, entstehen neue Formen des Gegenwissens und traditionelle Gegenkulturen revitalisieren sich. In diesem Kontext wird der Islam von einigen Schüler*innen als eine alternative Form der Bildung entdeckt, als eine Anleitung zur persönlichen und intellektuellen Weiterentwicklung. Der Islam gilt sowohl im akademischen Bereich als auch unter Pädagog*innen eher nicht als widerständig, da entweder noch das marxistische Verständnis von Religion als ein entpolitisierendes »Opium des Volkes« dominiert oder Religion im auf klärerischen Sinne als Zeichen für Unmündigkeit und Rückständigkeit begriffen wird.35 Dabei gibt es vor allem seit den 1980er Jahren zahlreiche Beispiele, in denen Religion eine zentrale Rolle in sozialen und politi34 V gl. Schiffauer/Baumann/Kastoryano/Vertovec (Hg): Staat-Schule-Ethnizität, S. 3765. 35 Vgl. Asad/Brown/Butler/Mahmood: Is Critique Secular?
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Nationalsozialismus benannt war, nicht mehr statt. Dies war kein Zufall, sondern deckt sich mit vergleichenden Untersuchungen zu den an deutschen Oberschulen eingesetzten Geschichtsbüchern.34 Die neuere deutsche Nationalerzählung beruht demnach vor allem auf der erfolgreichen Abkehr vom Nationalsozialismus, dessen Außergewöhnlichkeit auch dadurch betont wird, indem rechtsextreme Tendenzen nach 1945 ausgeblendet werden. Die vollständige Abkehr vom Nationalsozialismus hat demnach eine von der Verantwortung für die Geschichte gezeichnete deutsche Schicksalsgemeinschaft entstehen lassen und zu einer besonders demokratischen, toleranten und aufgeklärten Gesellschaft geführt. Dieses schmeichelhafte Narrativ hat für die Mehrheit der anwesenden Hauptschüler*innen jedoch einen Haken – sie spielen in dieser Geschichte keine Rolle, da die mit ihnen verbundene Zuwanderung erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte. Und wenn ihnen doch eine Rolle zugeschrieben wird, dann am ehesten die des negativen – also des unaufgeklärten und antisemitischen – Gegenpols zu dieser bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte. Die Hinweise der Schüler auf gegenwärtige Formen von Rassismus deuten auf die Lücken und die Scheinheiligkeit dieses Geschichtsbildes hin.
Alternatives Curriculum. Die Hinwendung zum Islam Da die Institution Schule keine attraktiven Bildungs- und Identitätsangebote offeriert, entstehen neue Formen des Gegenwissens und traditionelle Gegenkulturen revitalisieren sich. In diesem Kontext wird der Islam von einigen Schüler*innen als eine alternative Form der Bildung entdeckt, als eine Anleitung zur persönlichen und intellektuellen Weiterentwicklung. Der Islam gilt sowohl im akademischen Bereich als auch unter Pädagog*innen eher nicht als widerständig, da entweder noch das marxistische Verständnis von Religion als ein entpolitisierendes »Opium des Volkes« dominiert oder Religion im auf klärerischen Sinne als Zeichen für Unmündigkeit und Rückständigkeit begriffen wird.35 Dabei gibt es vor allem seit den 1980er Jahren zahlreiche Beispiele, in denen Religion eine zentrale Rolle in sozialen und politi34 V gl. Schiffauer/Baumann/Kastoryano/Vertovec (Hg): Staat-Schule-Ethnizität, S. 3765. 35 Vgl. Asad/Brown/Butler/Mahmood: Is Critique Secular?
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schen Emanzipationsbewegungen gespielt hat.36 Religion eignet sich für Sozialkritik, weil sie normative Standards und einen moralischen Kompass bereitstellt, alternative Identitätsentwürfe und gemeinschaftsstiftende Rituale anbietet sowie eigene Infrastrukturen und organisatorische Ressourcen zur Verfügung stellen kann. So waren vor allem die von der ersten Generation der ehemaligen »Gastarbeiter« aufgebauten »Hinterhof-Moscheen« nicht nur Orte der religiösen und sozialmoralischen Selbstverständigung, sondern auch des informellen Austauschs und der praktischen Hilfe. In der kemalistisch geprägten Türkei, aus welcher die größte Gruppe der damaligen Einwander*innen stammte, war der Islam bis zur Machtergreifung Erdogans zudem ein einf lussreiches oppositionelles Kraftzentrum. Die Nachfahren dieser Einwander*innengeneration an den Berliner Haupt- und Sekundarschulen knüpfen an die Religiosität der Elterngeneration an, sie gehen jedoch aus der Defensive heraus, indem sie den Islam gleichzeitig auf selbstbewusste Weise in die Schule tragen. Das Religionsverständnis transformiert sich dabei von einem traditionellen kollektiven Brauchtum einer zugewanderten Minderheit zu einem Instrument der individuellen Sinnsuche und der kritischen Auseinandersetzung mit der Schule. Ali: In der Grundschule war ich auch Moslem, aber ich wusste nicht, was Islam ist. Das ist jetzt anders und das hat mir geholfen. Ich bete fünfmal am Tag. Wir haben da eine Vorbildfunktion. Unser Prophet Mohamad wurde von den Menschen schlecht behandelt, er wurde geschlagen, angespuckt und gefoltert, aber er hat den Leuten verziehen und sie besser behandelt. Da habe ich mir gesagt, warum sollte ich das nicht auch machen und besser werden. Im Koran steht, Bildung ist wichtig und jeder Mensch sollte gebildet sein. Warum sollte ich dem nicht folgen? Ich habe gebetet, ich habe gefastet und durch Geschichten unserer Imams in den Moscheen bin ich weitergekommen und erwachsener geworden. Auch durch andere Erfahrungen im Leben, so was wie Freundschaft und für die Familie sorgen. Das alles bringt dich weiter im Leben, ob das jetzt positiv oder negativ ist. Khaled: Meine Religion ist das erste bei mir. Alles was ich früher gemacht habe, hatte nichts mit meiner Religion zu tun. Islam – überhaupt 36 Vgl. Smith (Hg.): Disruptive Religion.
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das Wort Islam, es bedeutet Frieden. Aber was denken die meisten: Islam ist Terrorismus. Ich kannte mal Leute, die hatten diese Krankheit Islamismus. Das sind Leute, die vor dem Islam Angst haben. Ich habe denen gesagt, du musst keine Angst vor dem Islam haben. Die wirklichen Muslime sind eigentlich sehr friedlich. Momo und Jamil aus meiner Klasse, das sind auch Jungs, die so religiös sind. Ich bin ja sogar in einem muslimischen Land geboren und da lernt man das schon in der Schule. Islam ist da wie ein zusätzliches Hauptfach. Ich war auch hier mal im Koranunterricht, aber ich kannte das meiste schon. Gehe aber noch in die Moschee in meiner Freizeit. Ich bin für jeden da, egal ob Moslem, Christ oder Jude, der etwas über den Islam erfahren will. Was ich weiß, teile ich gerne mit und ich interessiere mich auch für andere Religionen. Auffallend ist, wie sehr sich diese Narrative der religiösen Selbstfindung ähneln. Die Hinwendung zum Islam hat in den Geschichten dieser Zehntklässler einen direkten Bezug zum eigenen Leben, sie wird als eine bewusste biografische Entwicklungsstufe verstanden, als ein Reifungsprozess auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen. Deshalb wird auch bewusst zwischen einer oberf lächlichen und kindlich-naiven sowie einer ernsthaften und transformativen Religiosität unterschieden. Der Verweis auf weitere männliche Klassenkameraden deutet an, dass es sich dabei um eine gemeinsame Erfahrung innerhalb der migrantisch geprägten Peer Group handelt. Ali galt lange Zeit als »Problemschüler« und Khaled hatte nicht nur einen Schulrausschmiss hinter sich, sondern war zu dieser Zeit auch wegen Gewalttaten angeklagt. An den von mir untersuchten Schulen waren die als besonders deviant geltenden Jugendlichen häufig auch gleichzeitig diejenigen, die mit einer demonstrativen Religiosität hervortraten. Die Betonung des friedlichen Charakters der Religion erscheint unter diesen Vorzeichen als unmittelbar verhaltensrelevant und kann auch als eine Art biografische Selbsterzählung gelesen werden. Die von Ali hervorgehobenen Demütigungen des Propheten und dessen gewaltlose Reaktionen erscheinen vorbildhaft für den Umgang mit Demütigungen als migrantischer Hauptschüler in Deutschland. Die geschilderte religiöse Bindung wirkt transformativ im Sinne einer Neuorientierung des Verhältnisses zu sich und zu anderen. Die damit verbundene Ausrichtung am moralisch Guten bedeutet jedoch nicht, dass die gleichen Schüler nicht auch weiterhin gewalttätig und beleidigend auftraten, wenn auch
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nach eigenen Angaben deutlich weniger als in früheren Jahren. Auf diesen Widerspruch angesprochen, räumte Khaled die noch mangelnde Festigkeit und Verinnerlichung des Glaubens ein, während Ali auf den parallelen Einf luss von Jugendcliquen verwies, in denen eher die Moral der Straße zählte. Von beiden Schülern wird der Islam als eine Form der (Selbst-)Bildung verstanden. Die religiöse Wissensvermittlung in Moscheen sowie auf den Koran bezogene Bildungsinhalte werden mit jener pädagogischen Autorität und inhaltsbezogenen Begeisterung verbunden, die das staatliche Bildungssystem bereits weitgehend verspielt hat. Auch das Sorgen um Familienangehörige wird als eine Art Lebens- und Bildungserfahrung verstanden, während sie vonseiten der Schule eher als unwillkommene Ablenkung gilt. Hier deuten sich Anleihen eines weiten islamischen Bildungsverständnisses an, das weniger auf das Individuum ausgerichtet ist als in der deutschen neuhumanistischen Tradition, sondern stärker an die soziale Gemeinschaft und die Familie gebunden bleibt. Moralische Grundwerte wie Respekt und Toleranz werden von den Schülern ebenfalls betont, indem ein islamisch gebildeter Mensch auch als ein moralisch und sozial handelnder Mensch verstanden wird. Die sich in dieser Altersstufe zunehmend dem Islam zuwendenden Schüler sind also weder bildungsfeindlich eingestellt noch sozialmoralisch verwahrlost, wie es in Medienberichten über »Problemschulen« in migrantisch geprägten Stadtvierteln immer wieder suggeriert wird.37 Auch Alkohol und Drogen werden von Ali, Khaled und ihren Freunden während ihrer Schuljahre aus religiösen Gründen strikt abgelehnt. Dies führte bei schulbezogenen Feierlichkeiten mitunter zu der paradoxen Situation, dass die Schüler*innen komplett auf Alkohol verzichteten, während die Lehrer*innen nebenbei Bier tranken. Die Erzählungen von Ali und Khaled sind zunächst nicht gegen die Schule gerichtet, vielmehr sind es Geschichten des Erwachsenwerdens, der Aneignung von Bildung und des Empowerments, die vor dem Hintergrund der geschilderten Stigmatisierungserfahrungen besonders eindringlich wirken. Auch die dabei hervortretenden Wertvorstellungen – die Betonung von Respekt, Toleranz und Frieden sowie eine starke Bildungs- und Familienorientierung – stehen ebenfalls nicht im Widerspruch zu den Leitbildern der schulischen Sozialisation. Im Gegenteil, ihre Bildungseinstellungen passen durchaus in den deut37 Vgl. Wellgraf: Migration und Medien.
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schen Bildungshorizont, sowohl zum Erziehungsverständnis von Immanuel Kant im Sinne eines zukunftsoffenen Prozesses der moralischen Vervollkommnung als auch zum ganzheitlichen, über die Schule hinausweisenden Bildungsbegriff von Wilhelm von Humboldt, der sich explizit auf die Vielfalt und Verschiedenheit der Menschen bezieht.38 Ob kulturelle Orientierungen jedoch als passend gelten, ob die entsprechenden kulturellen Kapitalien anerkannt und für die schulische Karriere gewinnbringend aktiviert werden können, hängt stark vom institutionellen Setting ab.39 Im Berliner Sekundarschulkontext wirken solche demonstrativen religiösen Bekenntnisse von Jugendlichen aus Sicht der Institution eher als eine Provokation, denn sie stehen zum einen im Zusammenhang mit bereits laufenden Disziplinarkonf likten und werden zum anderen im Kontext eines rassistisch geprägten schulischen Selbstverständnisses gedeutet. In der Hinwendung zum Islam werden einige Motive der Counter School Culture übernommen, etwa die Trennung eines inneren Selbst vom Bereich des Schulischen sowie die ähnlich gelagerte Unterscheidung zwischen der hochgeschätzten Freizeit im Freundeskreis und der entfremdend wirkenden Welt der Schule.40 Gleichzeitig findet durch die religiöse Kodierung auch ein Wandel der schulischen Oppositionskultur statt. Die gegenwärtige Variante der innerstädtischen Counter School Culture führt zu neuen Konf liktlagen und Allianzen. Sie wird in ihren religiösen Bezügen sowohl von jungen Männern als auch von jungen Frauen getragen, allerdings in geschlechtlich unterschiedlich konnotierten Weisen. Die Jugendlichen können dabei auf ein reiches Reservoir an kulturellen Bezügen und Symbolen zurückgreifen, wie es ihnen nach dem Verblassen der sozialistischen Arbeiterbewegung nicht mehr zur Verfügung gestanden hat. Die religiöse Ausrichtung geht mit einem affirmativen und häufig auch ambitionierten Bildungsprogramm einher, dass sich aber auf ein religiöses Curriculum und ein damit verbundenes ethisches Programm bezieht. Die dadurch entstehenden alternativen Bildungslauf bahnen stehen häufig in einem diametralen Verhältnis zu den von Misserfolgen geprägten Bildungswegen innerhalb des Schulsystems. Die Hinwendung zu einem religiösen 38 V gl. Koller: Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft, S. 27-48 und 70-92. 39 Vgl. Lareau/Horvat: Moments of Social Inclusion and Exclusion. 40 Vgl. Willis: Learning to Labor, S. 102.
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Bildungsprogramm muss vor dem Hintergrund eines vom staatlichen Schulsystem aufgekündigten Bildungsversprechens betrachtet werden. Wenn Hauptschüler*innen keine erstrebenwerten Zukunftsaussichten mehr angeboten werden, verliert das Versprechen, dass sich durch schulische Bildung ein Horizont an Möglichkeiten eröffnet, seine ideologische Grundlage. Die Schule durch freiwillige Koranlektüren mit ihrem eigenen Bildungsversagen zu konfrontieren, erscheint mir unter gegenwärtigen Bedingungen als eine deutlich wirkmächtigere »Waffe der Schwachen«41 als die alte proletarische Identifikation mit »einfacher« und »ehrlicher« Arbeit. Für die religiös konnotierten Formen des Lernens und Lebens gibt es vonseiten der Schule jedoch wenig Verständnis, die staatlich ungebundene islamische Lehre gilt vielmehr als Gegenmodell zum sich als säkular verstehenden schulischen Staatsapparat. Werner Schiffauer und seine Mitarbeiter*innen beschreiben das komplexe Spannungsverhältnis zwischen Schule, Moschee und Elternhaus als ein von gegenseitigen Vorhaltungen geprägtes Spannungsgefüge.42 Die ältere Einwanderer*innengeneration fürchtet durch die Schule eine kulturelle Entfremdung ihrer Kinder. Sie misst zwar Schulabschlüssen einen hohen Wert bei, wird aber gleichsam durch offene oder subtile Ausgrenzungsmechanismen vom Einf luss auf die Schule abgehalten. Der Umgang mit dem föderal organisierten und institutionell mehrfach untergliederten deutschen Schulsystem verlangt erhebliche kulturelle und sprachliche Kompetenzen, so fühlen sich vor allem migrantische Eltern etwa bei Fragen der Schulwahl häufig nicht ausreichend informiert oder können Informationen nur schwer einordnen. Ihre Kinder und Enkel, die Schüler*innen der zweiten und dritten Migrant*innengeneration, kämpfen gegen Rassismus und kulturelle Abwertungen, welche sie besonders schmerzhaft treffen, da sie sich bereits selbstverständlich in Deutschland verorten. Viele wenden sich darauf hin demonstrativ wieder der Herkunftskultur ihrer Eltern und Großeltern zu und entdecken auf diesem Weg den Islam als identifikatorische Ressource. Dieses sichtbare Bekenntnis zum Islam wird wiederum vonseiten der Schule als Bestätigung kulturalistischer Annahmen über die Bildungsferne und Rückständigkeit ihrer Schüler*innenschaft gedeutet.
41 Vgl. Scott: Weapons of the Weak. 42 Vgl. Schiffauer: Schule, Moschee, Elternhaus.
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Zahlreiche weitere Arbeiten haben sich dem Themenfeld Migration und Schule in letzter Zeit gewidmet, wobei ich hier lediglich zwei ergänzende Befunde exemplarisch hervorheben möchte. In ihrer Studie zum Verhältnis von Eltern-Schule-Migrationsgesellschaf t zeigt Ellen Kollender, wie sich rassistische Zuschreibungen im Kontext von Neoliberalisierungsprozessen zuletzt weiter verschärft haben, wie die Implementierung von auf Aktivierung, Verwertbarkeit und Responsibilisierung setzenden Steuerungsmodellen neue Formen des Ausschlusses produziert, der sich abzeichnende neoliberale Rassismus aber von migrantischer Seite deutlich schwerer zu kritisieren ist.43 Isabell Dean bezieht in ihrer Untersuchung zu rassistischen Differenz- und Diskriminierungsverhältnissen in Kita und Grundschule auch die Perspektive jener schulwahlambitionierten Eltern in Berlin-Neukölln ein, die sich überwiegend politisch links verorten.44 Diese sehen Diversität zwar prinzipiell als Bereicherung an, wünschen sich mit dem Schuleintritt ihrer Kinder aber häufig dennoch möglichst homogene herkunftsdeutsche Schulklassen. Mit ihrem Schulwahlverhalten, etwa dem Meiden der vorgesehenen Einzugsschulen oder mit Gruppenanmeldungen von Gleichgesinnten, fördern sie letztlich eine segregierende Schulpraxis, was wiederum Widerstände aufseiten migrantischer Elternhäuser hervorruft. Das sich in solchen Studien abzeichnende komplexe Gemengelage aus versteckten Ausgrenzungen, demonstrativen Zuschreibungen und Misstrauen führt im Schulalltag immer wieder zu Spannungen.
Auf Konfrontationskurs. Religiös aufgeladene schulische Konflikte Die daraus resultierenden Konf likte drehten sich an der Weddinger und Neuköllner Schule vor allem um islamfeindlich auftretende Lehrer*innen, um die Frage eines Gebetsraums innerhalb der Schule und um das Kopftuch. In anderen Schulen sind typischerweise noch die Teilnahme am Schwimmunterricht und an Klassenfahrten mögliche Streitthemen, beides wurde jedoch in den von mir untersuchten Schulen ohnehin nicht mehr angeboten. In meinem Buch Schule der Gefühle habe ich einen Unterrichtsboykott von Neuköllner Schüler*innen 43 Vgl. Kollender: Eltern – Schule – Migrationsgesellschaft. 44 Vgl. Dean: Bildung – Heterogenität – Sprache.
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Zahlreiche weitere Arbeiten haben sich dem Themenfeld Migration und Schule in letzter Zeit gewidmet, wobei ich hier lediglich zwei ergänzende Befunde exemplarisch hervorheben möchte. In ihrer Studie zum Verhältnis von Eltern-Schule-Migrationsgesellschaf t zeigt Ellen Kollender, wie sich rassistische Zuschreibungen im Kontext von Neoliberalisierungsprozessen zuletzt weiter verschärft haben, wie die Implementierung von auf Aktivierung, Verwertbarkeit und Responsibilisierung setzenden Steuerungsmodellen neue Formen des Ausschlusses produziert, der sich abzeichnende neoliberale Rassismus aber von migrantischer Seite deutlich schwerer zu kritisieren ist.43 Isabell Dean bezieht in ihrer Untersuchung zu rassistischen Differenz- und Diskriminierungsverhältnissen in Kita und Grundschule auch die Perspektive jener schulwahlambitionierten Eltern in Berlin-Neukölln ein, die sich überwiegend politisch links verorten.44 Diese sehen Diversität zwar prinzipiell als Bereicherung an, wünschen sich mit dem Schuleintritt ihrer Kinder aber häufig dennoch möglichst homogene herkunftsdeutsche Schulklassen. Mit ihrem Schulwahlverhalten, etwa dem Meiden der vorgesehenen Einzugsschulen oder mit Gruppenanmeldungen von Gleichgesinnten, fördern sie letztlich eine segregierende Schulpraxis, was wiederum Widerstände aufseiten migrantischer Elternhäuser hervorruft. Das sich in solchen Studien abzeichnende komplexe Gemengelage aus versteckten Ausgrenzungen, demonstrativen Zuschreibungen und Misstrauen führt im Schulalltag immer wieder zu Spannungen.
Auf Konfrontationskurs. Religiös aufgeladene schulische Konflikte Die daraus resultierenden Konf likte drehten sich an der Weddinger und Neuköllner Schule vor allem um islamfeindlich auftretende Lehrer*innen, um die Frage eines Gebetsraums innerhalb der Schule und um das Kopftuch. In anderen Schulen sind typischerweise noch die Teilnahme am Schwimmunterricht und an Klassenfahrten mögliche Streitthemen, beides wurde jedoch in den von mir untersuchten Schulen ohnehin nicht mehr angeboten. In meinem Buch Schule der Gefühle habe ich einen Unterrichtsboykott von Neuköllner Schüler*innen 43 Vgl. Kollender: Eltern – Schule – Migrationsgesellschaft. 44 Vgl. Dean: Bildung – Heterogenität – Sprache.
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gegenüber einer offen rassistisch eingestellten Lehrerin beschrieben.45 Diese hatte vor der Klasse behauptet, Kinder aus Verwandtenehen seien aus genetischen Gründen »behindert«, was eine wütende Reaktion einer aus einer solchen Beziehung hervorgegangenen Schülerin provozierte. Dieses Auf begehren führte zu einer Solidaraktion der gesamten restlichen Schulklasse, die den Unterricht dieser Lehrerin fortan boykottierte. Die Fronten verfestigten sich, gegenseitige Schuldvorwürfe waren die Folge. Die Autorität der Lehrerin wurde vom zu Hilfe gerufenen Direktor gegenüber der Klasse demonstrativ verteidigt, obwohl dieser die Lehrerin intern bereits mehrfach wegen ähnlicher Vorfälle ermahnt hatte. Auch die Klassenlehrerin intervenierte und drängte die Schüler in einem »Stuhlkreis« zu deren Verblüffung dazu, sich bei der Lehrerin mit einem selbstgebackenen Kuchen zu entschuldigen. Die meisten Schüler*innen verweigerten dies und forderten ihrerseits eine Entschuldigung. Zwei nicht-muslimische Schüler übergaben schließlich einen Kuchen, mit dem nahen Schuljahresende endete der Konf likt, ohne dass es eine wirkliche Lösung gegeben hätte. Konf likte um einzelne Lehrpersonen zogen sich an den Schulen durch das gesamte Schuljahr. Manche Lehrer*innen artikulierten wiederholt ihre Geringschätzung des Islams, von der erwähnten Lehrerin wurde weiter berichtet, sie habe die Schüler*innen mit »Euer Scheiß Allah« beleidigt, ein anderer Lehrer sprach im Interview mit mir von einem »profan-dümmlichen Islamismus« innerhalb der Schüler*innenschaft. Die Jugendlichen verteidigten sich ihrerseits mit einem ganzen Bündel an Gegenmaßnahmen, dieses beinhaltete neben dem erwähnten Unterrichtsboykott auch eine Anklage der entsprechenden Lehrerin auf der turnusmäßigen Schulkonferenz vonseiten des gewählten Schulsprechers. Diese wurde dort zwar zurückgewiesen, dennoch kam es zu einer gewissen Spaltung innerhalb des Kollegiums. Im Schulalltag griffen die Schüler*innen vor allem auf das taktische Arsenal von Provokationen und Beleidigungen zurück. Die Autorität der Lehrpersonen wurde konstant durch ironisch-aggressive Zwischenrufe unterlaufen, ihr Unterricht dadurch teilweise komplett lahmgelegt. Hinzu kamen Drohungen und Verf luchungen, so wurden entsprechende Lehrer*innen auf dem Schulhof zumindest verbal totgeschlagen und ihnen eine vernichtende Strafe Gottes prophezeit. An der Weddinger Schule hatten die Schüler*innen einer ähnlich auftretenden Lehrerin 45 Vgl. Wellgraf: Schule der Gefühle, S. 243-283.
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die Autoreifen zerstochen, auch ihre Privatadresse hatten sie für mögliche Racheaktionen ausfindig gemacht. Diese offenen oder versteckten Auseinandersetzungen wurden begleitet von sichtbaren Bekenntnissen zum Islam, die ich sowohl in Berlin-Neukölln als auch in Wedding wiederholt beobachtete. Ein Neuköllner Schüler reagierte beispielsweise auf das pädagogische Totschlagargument, er bekäme »keine Extrawurst«, indem er antwortete »Ich bin Moslem, ich will keine Wurst«, womit er trotzig seine Würde verteidigte und gleichsam seine Differenz betonte. An den (post-)migrantisch geprägten Schulen war am Tag des muslimischen Opferfests die Schule fast komplett ausgestorben, nur eine Handvoll nicht-muslimischer Schüler*innen wurde noch von den weitgehend beschäftigungslosen Lehrer*innen betreut. Ob nun religiös motiviert oder eher ein willkommener Anlass der Schule einmal jährlich entschuldigt fernzubleiben, war diese Abstinenz ein deutliches Zeichen, wie die religiösen Mehrheitsverhältnisse an der Schule lagen und wie diese folglich ohne Muslime aussehen würde. Wie schwierig und aufreizend sich der Umgang mit dem Islam in der Schule gestaltete, zeigte sich besonders, als terroristische Gruppierungen wie der »Islamische Staat« durch ihre Gewalttaten in den Fokus der Öffentlichkeit rückten und versuchten, junge Muslime in Europa über populärkulturelle Angebote für ihre Anliegen zu gewinnen. Fundamentalistische Ausprägungen des Islams können auch in Westeuropa für marginalisierte Jugendliche aus Einwandererfamilien eine Rolle im Auf bau von »Widerstands-Identitäten« spielen, worunter der Soziologe Manuel Castells identitätspolitische Formen des kollektiven Widerstands versteht, mit denen sich die Exkludierten gegen die sie dominierenden Institutionen wenden.46 Auch wenn islamischer Fundamentalismus hierzulande das öffentliche Bild des Islams mittlerweile stark prägt, so handelt es sich letztlich um eine Minderheitenposition – sowohl in der islamischen Welt als auch in der muslimischen Diaspora in Europa. Den sich in Deutschland dem Islam zuwendenden Schüler*innen eröffnen sich idealtypisch drei Optionen: erstens ein individualistisch-spirituelles Bekenntnis zum Islam, zweitens ein kollektivistischer Einsatz für das religiöse Recht auf Differenz und
46 Vgl. Castells: The Power of Identitiy.
Stigmatisierung
drittens die islamistische Fundamentalopposition.47 An den von mir untersuchten Schulen in Berlin-Neukölln und Wedding dominierte eine Mischung aus dem ersten und zweiten Typus des religiösen Bekenntnisses, die dritte Variante wurde von keinem der mir bekannten Jugendlichen ernsthaft vertreten. Einige wenige Schüler nutzten allerdings gelegentlich das zu dieser Zeit mit dem »Islamischen Staat« verbundene Einschüchterungspotenzial, um Lehrer*innen zu provozieren. So spielte der bereits erwähnte Khaled im Schuljahr 2012/13 in der Schule auf seinem Handy einige Male auf demonstrative Weise a capella vorgetragene Koranrezitationen vor, sogenannte Naschid-Musik, die in deutschen Leitmedien und Teilen der Forschung als Propagandawaffe des »Islamischen Staats« gebrandmarkt wurde.48 Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien hatte kurz zuvor, im März 2012, erstmals einiger solcher sogenannter »Dschihad-Lieder« verboten – eine autoritative Geste, die bekanntlich die Popularität solcher über das Internet weiterhin leicht zugänglicher Musik unter aufmüpfigen Jugendlichen eher verstärkt. Zudem ließe sich gegen diese Maßnahme einwenden, dass die musikalische Koranrezitation in verschiedenen Ausprägungen des Islams als wichtiger Bestandteil der religiösen Überlieferung gilt. Navid Kermani sieht darin sogar einen Schlüssel zum islamischen Religionsverständnis. In seiner Studie über die ästhetische Dimension des Korans hat er eindrucksvoll herausgearbeitet, dass dieser in seiner Anlage primär ein mündlicher, auf gesangliche Rezitation angelegter Text ist.49 Die Lehrer*innen reagierten angesichts der fremd wirkenden Klänge irritiert und hilf los, statt sich auf religiöse Debatten einzulassen, verwiesen sie eher auf das allgemeine Handyverbot an der Schule oder ließen den Schüler einfach gewähren, solange er den Unterricht nicht zu sehr damit störte. Dieses Beispiel zeigt einige Überschneidungen zu sozialwissenschaftlichen Forschungen, die hierzulande die Hinwendung zum Salafismus bei Heranwachsenden vor allem auf Motive einer jugendkulturellen Provokation zurückführen, wobei das damit einhergehende Versprechen
47 Vgl. Schiffauer: From Exile to Diaspora. 48 V gl. Yassin Musharbash: Der Soundtrack des Dschihad, In: DIE ZEIT, Nr. 28/2016, 30. Juni 2016; Said: Hymnen des Jihads. 49 Vgl. Kermani: Gott ist schön.
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von Autonomie, Selbstwirksamkeit und Zugehörigkeit besonders für benachteiligte Jugendliche attraktiv wirke.50 Ein weiteres Konf liktfeld ergab sich beim Kampf um einen muslimischen Gebetsraum innerhalb der Galilei-Schule in Berlin-Neukölln. Die mehrheitlich nicht-religiös gebundenen Lehrer*innen waren diesem Anliegen gegenüber äußerst skeptisch eingestellt, sie wollten ihr Bild der säkularen Schule gegen aus ihrer Sicht rückständige religiöse Vereinnahmungen verteidigen. Gleichzeitig betonten sie stets ihre Toleranz und Offenheit, was es ihnen wiederum schwermachte, das entsprechende Gesuch der Schüler*innen zu verweigern. Diese wiederum sahen in ihrem Eintreten für das ihnen zustehende Recht auf einen Gebetsraum nicht nur die Möglichkeit, ein wichtiges rituelles Gebot des Islams zu erfüllen. Das Reklamieren von eigenen Räumen war zugleich Teil ihrer andauernden Auseinandersetzungen mit der Institution Schule, vor allem ein weiterer gezielter Schlag gegenüber den offen islamfeindlich auftretenden Teilen der Lehrerschaft. Die letztlich zur Verfügung gestellten Gebetsräume im Schulkeller wurden übrigens anschließend kaum genutzt, die religiös eingestellten Jugendlichen beteten lieber außerhalb der Schule in Privat- oder Moscheeräumen. Dafür verwendeten sie teilweise eine »Muslimpro-App«, die ihnen die Gebetszeiten und die Richtung nach Mekka anzeigte. Die geringe Nutzung des hart erkämpften Gebetsraums ist ein Indiz dafür, dass es sich beim Kampf darum in erster Linie um einen religiös aufgeladenen schulischen Konf likt handelte. Wie häufig bei solchen Konf likten ging es dabei nicht nur um das eigentliche Anliegen, sondern auch um seine symbolische Wirkung und um das Selbstverständnis der jeweiligen Konf liktparteien. Darin zeigen sich Ähnlichkeiten zu dem von Laura Weißköppel in einer ethnisch gemischten Realschulklasse beobachteten Streit um die Teilnahme am Sexualkundeunterricht.51 Die Konf liktlinien zwischen Befürworter*innen und Kritiker*innen einer Teilnahmepf licht verliefen dabei quer durch die Schüler*innenschaft und durch das Lehrer*in50 V gl. El-Mafaalani: Salafismus als jugendkulturelle Provokation; Toprak/Weitzel (Hg.): Salafismus in Deutschland. 51 V gl. Weißköppel, Laura: Ausländer und Kartoffeldeutsche; Hormel: Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem.
Stigmatisierung
nenkollegium. Im Lehrer*innenzimmer standen sich Pädagog*innen gegenüber, welche die Weigerung der muslimischen Schüler*innen eher als eine pubertäre Provokation verstanden und solche, die sie als ein gefährliches Anzeichen für religiösen Fundamentalismus deuteten. Die jeweiligen Akteure verteidigten mit ihren Haltungen jeweils auch ein Bild ihrer Selbst: Die teilnahmewilligen Schüler*innen zeigten gleichsam ihre Bereitschaft zur regelkonformen Erfüllung des »Schülerjobs«.52 Die Unterrichtsverweigerer stellten ihre besondere Religiosität hervor und sahen sich als Verteidiger des Rechts auf freie Religionsausübung. Bei den Lehrer*innen vertraten diejenigen mit Verständnis für den Boykott programmatisch zugleich einen gemäßigten Säkularismus, während die auf harte Disziplinarmaßnahmen setzenden Lehrer*innen einem radikalen Säkularismus zuneigten. Ähnliche Positionsverteilungen ließen sich auch an der Galilei-Schule beobachten, wobei sich aufgrund der Konf liktdynamiken Schüler*innen und Lehrer*innen tendenziell stärker als gegenseitig geschlossene Blöcke gegenübertraten. Der Islam kann im Kontext von Stigmatisierung und Ausgrenzung zu einem Vehikel des Protests werden.53 Das damit verbundene Auf begehren hat weder einen militanten politischen noch einen fundamentalistisch-religiösen Charakter, es richtet sich in erster Linie gegen alltägliche Erfahrungen von Diskriminierung, die aus dem schulischen Selbstverständnis als Hort der Auf klärung und als Reproduktionsinstanz von deutscher Nationalkultur resultieren. Die religiös angeleitete Sinnsuche und das Reklamieren eines Rechts auf Differenz vonseiten (post-)migrantischer Schüler und Schülerinnen wird jedoch systematisch missverstanden, denn die selbsternannten Verfechter der Auf klärung verstehen sich in der Regel selbst als Inbegriff kritischer Rationalität und tendieren dazu, andere Sprachen und Anliegen von Kritik, etwa religiös begründete, als rückständig abzuqualifizieren.54 Diese normative Rahmung, bei der eine säkulare Haltung mit Kritik und eine religiöse mit Aberglauben gleichgesetzt wird, limitiert unsere Vorstellung dessen, was überhaupt als legitime Form von Kritik verstanden werden kann. Gegenüber diesen Einengungen des westlich-aufgeklär52 Vgl. Breidenstein: Teilnahme am Unterricht. 53 Vgl. Waardenburg: Islam as Vehicle of Protest. 54 Vgl. Asad/Brown/Butler/Mahmood: Is Critique Secular?
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ten Kritikbegriffs gilt es das kritische Potenzial von religiös kodierten subalternen Formen von Selbstbildung und symbolischem Protest überhaupt erst wieder kenntlich zu machen. Dieses zeigt sich in den ausgewählten Beispielen sowohl im moralischen Widerstand gegen krasse Formen der Demütigung als auch in der Herausforderung des schulischen Verständnisses von Bildung und Zugehörigkeit. Mit dem säkularen Bildungsbegriff wird durch die Institution Schule auch immer wieder eine Spaltung zwischen aufgeklärter Schule und noch aufzuklärenden muslimischen Schüler*innen postuliert. Die Asymmetrie und Wirklichkeitsferne dieser ideologischen Konstruktion zeigt sich bei den Auseinandersetzungen um das Kopftuch auf besonders deutliche Weise.
Kopftuch. Machtvolle Zuschreibungen und divergierende Praktiken Zwar sind Kopftücher auf Schulhöfen in Deutschland längst zum Alltag geworden, doch wurden sie seit den 1990er Jahren zunehmend zu einem Politikum, zu einem umstrittenen Symbol für die Präsenz des Islams im öffentlichen Raum.55 Auch wenn das Tragen von Kopftüchern hierzulande an Schulen – anders als etwa in Frankreich – weitgehend toleriert wird, werden Kopftuchträgerinnen immer wieder mit negativen Vorhaltungen konfrontiert. Das kulturelle Stigma »Kopftuch« kommt so zur sich ohnehin verschärfenden sozialen Ausgrenzung aufgrund niedriger Bildungsabschlüsse hinzu.56 Der prekäre Status von Kopftuchträgerinnen hat auch mit rechtlicher Unsicherheit zu tun, denn in Deutschland gibt es in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedliche Regelungen zur Verschleierung. Das Spektrum reicht von weitgehende Freiheiten gewährenden liberalen oder in dieser Frage nicht festgelegten Regulationsmodellen wie in Hamburg über christlich dominierte Vorschriften wie etwa in Bayern bis hin zu säkularen Auslegungen wie in Berlin, wo Staatsvertreter prinzipiell keine religiösen Symbole tragen dürfen, gleichzeitig Schülerinnen in dieser Hinsicht jedoch Religionsfreiheit genießen.57 An den von mir unter55 Vgl. Göle: Islam and Secularity. 56 Vgl. Kreutzer: Stigma »Kopftuch«. 57 Vgl. Korteweg/Yurdakul: The Headscarf Debates.
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ten Kritikbegriffs gilt es das kritische Potenzial von religiös kodierten subalternen Formen von Selbstbildung und symbolischem Protest überhaupt erst wieder kenntlich zu machen. Dieses zeigt sich in den ausgewählten Beispielen sowohl im moralischen Widerstand gegen krasse Formen der Demütigung als auch in der Herausforderung des schulischen Verständnisses von Bildung und Zugehörigkeit. Mit dem säkularen Bildungsbegriff wird durch die Institution Schule auch immer wieder eine Spaltung zwischen aufgeklärter Schule und noch aufzuklärenden muslimischen Schüler*innen postuliert. Die Asymmetrie und Wirklichkeitsferne dieser ideologischen Konstruktion zeigt sich bei den Auseinandersetzungen um das Kopftuch auf besonders deutliche Weise.
Kopftuch. Machtvolle Zuschreibungen und divergierende Praktiken Zwar sind Kopftücher auf Schulhöfen in Deutschland längst zum Alltag geworden, doch wurden sie seit den 1990er Jahren zunehmend zu einem Politikum, zu einem umstrittenen Symbol für die Präsenz des Islams im öffentlichen Raum.55 Auch wenn das Tragen von Kopftüchern hierzulande an Schulen – anders als etwa in Frankreich – weitgehend toleriert wird, werden Kopftuchträgerinnen immer wieder mit negativen Vorhaltungen konfrontiert. Das kulturelle Stigma »Kopftuch« kommt so zur sich ohnehin verschärfenden sozialen Ausgrenzung aufgrund niedriger Bildungsabschlüsse hinzu.56 Der prekäre Status von Kopftuchträgerinnen hat auch mit rechtlicher Unsicherheit zu tun, denn in Deutschland gibt es in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedliche Regelungen zur Verschleierung. Das Spektrum reicht von weitgehende Freiheiten gewährenden liberalen oder in dieser Frage nicht festgelegten Regulationsmodellen wie in Hamburg über christlich dominierte Vorschriften wie etwa in Bayern bis hin zu säkularen Auslegungen wie in Berlin, wo Staatsvertreter prinzipiell keine religiösen Symbole tragen dürfen, gleichzeitig Schülerinnen in dieser Hinsicht jedoch Religionsfreiheit genießen.57 An den von mir unter55 Vgl. Göle: Islam and Secularity. 56 Vgl. Kreutzer: Stigma »Kopftuch«. 57 Vgl. Korteweg/Yurdakul: The Headscarf Debates.
Stigmatisierung
suchten Schulen in Berlin-Neukölln und Wedding trugen in den höheren Jahrgängen etwa die Hälfte der jungen Frauen ein Kopftuch. Solche sichtbaren Zeichen der religiösen Zugehörigkeit zum Islam führen immer wieder zu Konf likten, da mit ihnen die politischen Konturen der säkularen Ordnung und des öffentlichen Raums hervortreten. Dabei zeigt sich, dass auch in Westeuropa die Trennung von Staat und Religion keineswegs vollständig vollzogen wurde, sondern es sich eher um eine staatliche Einhegung der Religion handelt. Das in Deutschland implizit vorherrschende Religionsideal der »Zivilreligion«, einer staatlich gebändigten institutionellen Körperschaft, macht das sich in den letzten Jahrhunderten etablierte Verhältnis des deutschen Staates zu den christlichen Kirchen zum Bewertungsmaßstab und grenzt somit andere Religionen systematisch aus.58 Auch wenn in Berlin zuletzt mit der Ausbildung muslimischer Religionslehrer*innen an staatlichen Universitäten begonnen wurde, betrachteten die meisten Lehrer*innen den Islam an der Schule weiterhin als einen missliebigen Fremdkörper. Staatliche Institutionen wie die Schule sind demnach in der Religionsfrage viel parteiischer, als es ihrem aufgeklärten Selbstbild entspricht. Vor diesem Hintergrund bleibt das christliche Kreuz in bayerischen Schulen weiterhin unangetastet, während das Kopftuch immer wieder zur Zielscheibe von behördlichen Regulierungen und negativen Zuschreibungen wird. Die Politisierung des weiblichen Körpers im Kontext von Debatten um Migration und Zugehörigkeit kulminierte zuletzt im Programm des »Sexularismus«, der weitverbreiteten Vorstellung, dass der Dreiklang aus Modernisierung, Demokratisierung und Säkularisierung auf scheinbar natürliche Weise geschlechtliche Gleichberechtigung und sexuelle Emanzipation von Frauen hervorbringen würde.59 Kopftuchtragende Schülerinnen erscheinen aus dieser Perspektive als kulturell rückständig und als nicht emanzipiert. Im Schulalltag artikulierten sich solche Ansichten vor allem über negative Kommentare, etwa wenn Kopftuchträgerinnen im Unterricht eine Zukunft als »Gebärmaschine« prognostiziert wurde. Besonders weibliche Pädagoginnen zeigten sich demonstrativ »besorgt« über das in der Schule verbreitete Tragen von Kopftüchern, eine pädagogische Form der Fürsorge, in der kulturelle 58 Vgl. Schiffauer: Fremde in der Stadt, S. 50-70. 59 V gl. Scott: Sexularism; Cady/Fessenden (Hg.): Religion, the Secular, and the Politics of Sexual Difference.
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Vorurteile, Rettungsfantasien und Bevormundung eng beieinander liegen.60 Wie stark Schülerinnen mit solchen Vorhaltungen konfrontiert waren, zeigte sich auch daran, dass sie im Interview oft von vornherein betonten, dass sie das Kopftuch freiwillig trugen. Hinter dieser offensiven Verteidigungshaltung verbargen sich, wie die folgenden Beispiele aus Berlin-Neukölln zeigen, sehr unterschiedliche, auch wechselnde Umgangsformen mit dem Kopftuch. Amira, deren Eltern in den 1980er Jahren aus dem Libanon f lüchteten, fühlte sich während ihrer Neuköllner Schulzeit von abschätzigen Bemerkungen in Bezug auf den Schleier verletzt, erst später gelang ihr ein selbstbewusster Umgang mit dem Kopftuch. Dieser wurde von einem Prozess der religiösen (Selbst-)Bildung und Aktivitäten in einer Moscheegemeinde begleitet. Beim Interview hatte sie das Buch Die glücklichste Frau der Welt. Eine Schatzkiste voller Weisheiten von Aid alQarni bei sich, dass Musliminnen auf dem Weg der religiösen Selbstfindung anleitet. Das Kopftuch spielt in der darin vertretenen Version muslimischer Weiblichkeit eine wichtige Rolle: Es wird betont, dass die »weise, würdevolle Frau« auf »ihren Hijab achtet«, dass dieser »von Allah vorgeschrieben worden ist« und den Zweck habe, »dich selbst zu schützen«.61 Gleichzeitig ging sie im Alltag mit den muslimischen Bekleidungsvorschriften eher f lexibel um, sie schminkte sich und lackierte ihre Fingernägel, beklagte darüber hinaus auch die zu starke Kontrolle von muslimischen Frauen durch Familienangehörige. Ihre Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz scheiterten mehrfach, wohl auch am Kopftuch. Sie wurde nicht nur von ihrem Elternhaus, sondern auch vonseiten der Mehrheitsgesellschaft immer wieder auf die häusliche Sphäre zurückverwiesen. Zuletzt kam sie im Rahmen einer Qualifizierungsmaßnahmen der Agentur für Arbeit als Auszubildende an ihre alte Neuköllner Schule zurück. Cigdem wurde während der Schulzeit von ihren aus der Türkei eingewanderten Eltern gedrängt das Kopftuch zu tragen, verweigerte sich jedoch den elterlichen Vorgaben. Nachdem sie als Teenager dezidiert kein Kopftuch getragen hatte, ging sie damit in den Jahren nach der 60 Vgl. Abu-Lughod: Do Muslim Women Need Saving? 61 V gl. al-Qarni: Die glücklichste Frau der Welt, S. 31f.; vgl. Wellgraf: Schule der Gefühle, S. 233-235.
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Schule eher pragmatisch um. In familiären Kontexten, vor allem bei den sommerlichen Besuchen in der Türkei, trug sie mit Blick auf die konservative Verwandtschaft das Kopftuch, im öffentlichen Raum in Berlin verzichtete sie dagegen zunächst darauf. Während der Schule litt sie unter Magersucht und verpasste knapp den mittleren Schulabschluss. Die ersten Jahre nach der Schule verbrachte sie in diversen Ausund Weiterbildungsmaßnahmen, ohne dass ihr die angestrebte Verbesserung des Hauptschulabschlusses gelang. Später begann sie zwei Ausbildungen – eine als Bürokauffrau und eine als Altenpf legerin – die sie jedoch beide aufgrund familiärer Probleme und eines krank geborenen Kindes nicht beenden konnte, was sie im Nachhinein sehr bedauert. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes entschied sie sich mit Mitte 20 dafür, das Kopftuch dauerhaft zu tragen, vor allem um die ohnehin schweren Konf likte mit ihrem gewalttätigen Ehemann und deren Schwiegereltern nicht weiter zu belasten. Durch ihr Engagement in der Elternarbeit eines Berliner Kindergartens fand sie ein positives Rollenmodell, indem sich familiäre Pf lichten und gesellschaftliches Engagement verbinden ließen. Safa begann mit dem Übergang an die Hauptschule das Kopftuch zu tragen, wo sie ihre Eltern nach der Grundschule trotz einer Realschulempfehlung angemeldet hatten. Sie folgte dabei unhinterfragt dem Vorbild ihrer Mutter und Cousinen und setzte somit die tradierte familiäre Bekleidungspraxis auf selbstverständliche Weise fort. Ihr palästinensischer Vater war etwa 40 Jahre zuvor als Gastarbeiter nach Berlin gezogen, die Mutter einige Jahre später nachgekommen. Zwischendurch lebte Safa in den 1990er Jahren mit ihrer Familie für sieben Jahre in Jordanien. Ihre religiöse Orientierung vertrat sie mit großem Selbstbewusstsein: »Viele reden über das Kopftuch, aber es stimmt nicht. Das interessiert mich nicht. Ich bin ich!« In der 7. Klasse wurde ihr aufgrund des Kopftuchs vonseiten der Schule zunächst die Teilnahme am Sportunterricht verweigert, später fand man einen Kompromiss, indem sie eine kleinere Kopf bedeckung trug. Anfangs strebte Safa noch das Fachabitur an und träumte von einer Tätigkeit als Architektin oder Modedesignern. Letztlich verpasste sie den mittleren Schulabschluss aufgrund einer schlechten Mathematik-Note und verbrachte das Jahr vor der geplanten Heirat in einem Oberstufenzentrum für »Hauswirtschaft und Ernährung«. Nach der Heirat ging sie in den Libanon, zerstritt sich jedoch mit der dortigen Schwiegermutter und kam zurück
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nach Deutschland, wohin später auch ihr Ehemann nachfolgte. Zuletzt machte sie – mit Kopftuch – eine Ausbildung als zahnmedizinische Fachangestellte im Ostberliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Auch Hayats Familiengeschichte war von Pendelmigration sowie sich daraus ergebenden transnationalen Bezügen gekennzeichnet. Ihre Eltern waren in den 1980er Jahren als Flüchtlinge aus dem Libanon nach Berlin gekommen und, ähnlich wie bei Safa, in den 1990er Jahren für einige Jahre dorthin zurückgekehrt. An die zum Zeitpunkt des Interviews während des zehnten Schuljahres etwa ein Jahr zurückliegende Entscheidung, das Kopftuch aufzusetzen, konnte sie sich noch auf den Tag genau erinnern. Sie hatte sich nach eigenständigen Koranlektüren bewusst dafür entschieden. Safa und Hayat waren befreundet und ähnelten sich nicht nur in ihren Migrationsbiografien. Beide hatten noch fünf Geschwister und beide verfolgten zunächst ambitionierte Bildungspläne, die ihnen mit Blick auf die geltenden Zugangsbeschränkungen jedoch nach und nach nicht mehr realisierbar erschienen. Hayat wollte zunächst Psychologin und später Hotelfachfrau werden. Sie war mit einer Gymnasialempfehlung an die Hauptschule gekommen und strebte das Abitur an. Stattdessen heiratete sie nach der Schule einen Mann in Jordanien und zog mit diesem der Arbeit wegen weiter nach Dubai. Doch auch diese Ehe war von Konf likten gekennzeichnet. Zuletzt lebte Hayat als alleinerziehende Mutter wieder in Berlin und arbeitete in einem deutsch-arabischen Juweliergeschäft. Diese jungen Frauen trugen das Kopftuch aus sehr unterschiedlichen Gründen, Amira und Hayat in Folge von Prozessen der religiösen Selbstfindung, Safa als selbstverständliche Übernahme familiärer Bräuche, während Cigdems Haltung sich als eine Mischung aus anfänglichem Widerstand und späterem Pragmatismus umschreiben lässt. Bei diesen Hauptschülerinnen vermischten sich Misserfolge in der Schule und Ausgrenzungserfahrungen auf dem Arbeitsmarkt mit familiären Spannungen und wenig elterlichem Zutrauen in weibliche Bildungskarrieren. Hier zeigen sich die Auswirkungen dessen, was in der Bildungssoziologie als sekundäre Herkunftseffekte bezeichnet wird. Während unter primären Herkunftseffekten die direkten Einf lüsse der sozialen Herkunft auf die schulische Entwicklung und Bewertung gefasst werden, beziehen sich sekundäre Effekte auf jene Einf lüsse des sozialen Hintergrunds, die eher aus divergierenden Ein-
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stellungen und Bildungserwartungen resultieren.62 Inwieweit bei den Entscheidungen zur Bildungslauf bahn neben Abwägungen über die zu erwartenden Kosten und den möglichen Nutzen von weiteren Bildungsinvestitionen auch kulturelle Einf lussfaktoren eine Rolle spielen, wird innerhalb dieses Forschungszweigs kontrovers diskutiert.63 Bei den hier vorgestellten jungen Frauen deutet sich der Einf luss migrationsbedingter familiärer Erwartungen und ethnisch orientierter Heiratsmuster an. Gleichzeitig versperren ihnen institutionelle Zugangsbarrieren den Weg zu ihren Wunschberufen. Sie werden demnach von zwei Seiten – von ihren migrantischen Eltern und von der Mehrheitsgesellschaft – auf einen häuslichen Platz verwiesen. Sie nahmen die damit verbundenen traditionellen Rollenvorgaben teilweise auf, suchten aber auch immer wieder nach Wegen in den Arbeitsmarkt. Das Aufsetzen des Kopftuchs wurde weitgehend als eine freiwillige, oft auch als eine bewusste persönliche Entscheidung erlebt. Elterlicher Zwang zur Verschleierung erscheint dagegen als wenig erfolgreiche Strategie, genau wie schulische Verbote auch kein Absetzen des Kopftuchs bewirkten. Das Kopftuch wurde von keiner der Schülerinnen im direkten Sinne als gegen die Institution Schule gerichtet verstanden, doch in der deutlich sichtbaren Zuwendung zu einer öffentlich stigmatisierten und vonseiten des Lehrerkollegiums größtenteils abgelehnten Kleidungspraxis lässt sich dennoch eine oppositionelle Position oder zumindest eine divergierende Haltung erkennen, zumal wenn diese – wie bei Safa – auch gegen den Widerstand der Schule durchgesetzt wurde. Es handelt sich also eher um eine Form von »kultureller Widerständigkeit«, bei der auch vestimentären Versatzstücken eine politische Bedeutung zukommen kann.64 Das Kopftuch steht für ein öffentliches Bekenntnis zu jenen familiären und religiösen Traditionen, denen vonseiten der Schule mit Misstrauen oder gar offener Ablehnung begegnet wird. Im schulöffentlichen Eintreten für Minderheitenrechte werden die institutionell markierten Grenzen von kultureller Zugehörigkeit in Frage gestellt, diese im Falle des Sportunterrichts zumindest um ein
62 V gl. Boudon: Education, Opportunity and Social Inequality; Breen/Goldthorpe: Explaining Educational Differentials. 63 Vgl. Vermeulen/Perlmann (Hg.): Immigrants, Schooling and Social Mobility. 64 Vgl. Duncombe (Hg.): Cultural Resistance Reader.
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paar Zentimeter Stoff erweitert.65 Die Komplexität der dahinterliegenden Selbstfindungsprozesse wird von pädagogischer Seite kaum wahrgenommen, stattdessen wird die politische Symbolik des Kopftuchs in den Vordergrund gerückt. Die positive Neukodierung einer im dominanten Diskurs geächteten Kleidungspraxis kann einen selbstermächtigenden Effekt haben, die mit der Verschleierung verbundene Respektabilität als eine Antwort auf Stigmatisierung und Diskriminierung verstanden werden. Diese Deutung deckt sich weitgehend mit empirischen Studien zur Rolle des Kopftuchs in (post-)migrantisch geprägten Milieus. Diese heben die zumeist bewusste Entscheidung für das Kopftuch hervor, verweisen auf einen Kontext von schulischen Missachtungserfahrungen und gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen und interpretieren die damit verbundene Hinwendung zum Islam als eine Form der Selbstermächtigung.66 Doch die Schülerinnen berichten auch von Drucksituationen, sie deuten familiäre Konf likte und persönliche Krisen an. Das Kopftuch geht demnach auch mit neuen Erwartungen und Limitierungen einher. Indem sie das Kopftuch aufsetzen, fügen sie sich zumindest ein Stück weit in ein muslimisches Geschlechterrollenmodell ein, das traditionell vom Ausschluss der Frauen von Entscheidungspositionen im öffentlichen Raum, von der Konzentration auf Hausfrauenarbeit, von Bescheidenheit und Passivität, von einer klaren Geschlechtersegregation und vom weitgehenden Verzicht auf Bildung gekennzeichnet ist.67 Gleichzeitig transformieren sie das traditionelle muslimische Frauenbild durch ihre Alltagspraxis zumindest ein Stück weit, indem sie mehr Freiheiten von ihren Eltern fordern, das Kopftuch mit anderen modischen Versatzstücken kombinieren, sie eine höhere Bildung anstreben und sich eigenständig religiös bilden. Insgesamt wird die Zuwendung zum Islam stärker als persönliche Entscheidung statt als kollektives Brauchtum verstanden, der »europäische Islam« der zweiten und dritten Migrant*innengeneration unterscheidet sich dadurch vom traditionalistischen Islam der Einwanderer*innengeneration.68 Die Tragik der Schülerinnen besteht darin, in ihrem Streben nach Bildung und ge65 Vgl. Benhabib: The Rights of Others. 66 V gl. Mühe: Managing the Stigma – Islamophobia in German Schools; Amir-Moazami: Politisierte Religion; Nökel: Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam. 67 Vgl. Nökel: Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam. 68 Vgl. Göle: Europäischer Islam; Roy: Globalised Islam.
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sellschaftlicher Partizipation sowohl von der Schule als auch von ihren Eltern ausgebremst zu werden. Das Kopftuch ist nicht der Grund für schulischen Misserfolg. Die vonseiten der Schule postulierte Unvereinbarkeit der mit dem Kopftuch verbundenen religiösen Orientierungen mit den in Deutschland vertretenen pädagogischen Programmen wird auch von anderen Forschungen zum Verhältnis von Migration, Religion und Bildung nicht bestätigt. Yasemin Karakaşoğlu bringt in ihrer Studie über angehenden Lehrerinnen eine Reihe von Argumenten zum Zusammenhang von muslimischer Religiosität und Erziehungsvorstellungen vor, die vor allem für die Frage relevant sind, ob auch Lehrerinnen das Tragen des Kopftuchs erlaubt werden sollte.69 Demnach trennt die Mehrzahl von ihnen zwischen Religiosität im privaten Alltag und pädagogischen Handeln im Berufsleben, die Interviewten befürworten selbst einen dialogischen, wenig hierarchischen Erziehungsstil gegenüber ihren Kindern sowie eine Gleichberechtigung der Geschlechter. Das Kopftuch steht demnach nicht im Zusammenhang mit fundamentalistischen Ideen und der Ablehnung demokratischer Prinzipien, vielmehr wird der Wunsch nach Akzeptanz durch die Mehrheitsgesellschaft betont. Während Karakaşoğlu gegen die vermeintliche Unvereinbarkeit zwischen Kopftuch und fortschrittlichen Erziehungsidealen anschreibt, stellt Sophie Reimers die hierzulande gängige institutionelle Konturierung des Bildungsbegriffs selbst in Frage. In ihrer Ethnografie einer deutsch-türkischen Großfamilie in Berlin-Neukölln arbeitet sie divergierende Bildungsverständnisse im Kontext von Migration heraus und versucht somit die Vereinnahmung des Bildungsbegriffs durch integrations- und arbeitsmarktpolitische Agenden zu unterlaufen.70 Was sich dabei abzeichnet, ist ein weiter, weder auf schulische Integration noch auf ökonomische Verwertbarkeit reduzierbarer, sondern auf die Auseinandersetzung mit Selbst- und Weltverhältnissen zielender transformatorischer Bildungsbegriff.71 Die mit der Hinwendung zum Islam und zum Kopftuch verbundene (Selbst-)Bildung kann somit auch
69 V gl. Karakaşoğlu: Muslimische Religiosität und Erziehungsvorstellungen; BoosNünning/Karakaşoğlu: Viele Welten leben. 70 Vgl. Reimers: Migration, Bildung und Familie. 71 Vgl. Koller: Bildung anders denken.
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als eine produktive Herausforderung des von der Institution Schule vertretenen Bildungsbegriffs verstanden werden.
Ethnische Identifikationen. Palästina-Berlin Die religiöse Selbstvergewisserung als Antwort auf Erfahrungen von Diskriminierung und Stigmatisierung geht in der Regel auch mit einer Aufwertung der ethnischen Herkunft der Elterngeneration einher. Der vonseiten der Schule als problematisch behandelte »Ausländerstatus« wird dabei kulturell aufgewertet, er gilt nun als cool und attraktiv und wird sowohl gegen die autochthonen Schüler als auch gegen die Institution Schule als Distinktionsmarker eingesetzt. Gleichsam handelt es sich auch hier nicht um ein Nationalbewusstsein im traditionellen Sinne, sondern um eine neu zusammengesetzte und imaginierte Ethnizität, die unter sehr spezifischen sozialen und biografischen Vorzeichen steht.72 Unter den Schülern gibt es dabei verschiedene ethnische Loyalitäten und Identifikationen, etwa zwischen »Türken«, »Kurden«, »Arabern«, »Albanern« usw., was zu internen Gruppenbildungen führt, die zumindest teilweise ethnischen Mustern folgen. Daraus können sich mitunter Spannungen ergeben, gleichzeitig lässt sich in manchen Konf liktsituationen auch eine übergreifende »Ausländersolidarität« beobachten, etwa wenn es, wie bereits geschildert, gegen rassistisch auftretende Lehrer*innen geht. Ethnische Identifikationen haben in mancher Hinsicht die frühere Rolle des Klassenbewusstseins übernommen, sie werden vor allem für Jugendliche aus Einwanderer*innenfamilien zur primären Achse von Differenz, entlang derer sie ihr politisches Bewusstsein ausbilden und sich im sozialen Gefüge auf relationale Weise positionieren.73 Die damit verbundene Selbst-Ethnisierung korrespondiert wiederum mit einer Kulturalisierung sozialer Problemlagen im medialen Diskurs, demnach schulische Problemlagen hauptsächlich auf ethnisch-kulturelle Prägungen zurückzuführen sind. An der Neuköllner Galilei-Schule waren, neben den Nachfahren türkischer Gastarbeiter*innen, deutsch-palästinensische Jugendliche zahlenmäßig besonders stark vertreten, da vor dem Krieg im Libanon 72 Vgl. Anderson: Imagined Communities. 73 Vgl. Gilroy: ›There Ain’t No Black in the Union Jack‹, S. 1-40.
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als eine produktive Herausforderung des von der Institution Schule vertretenen Bildungsbegriffs verstanden werden.
Ethnische Identifikationen. Palästina-Berlin Die religiöse Selbstvergewisserung als Antwort auf Erfahrungen von Diskriminierung und Stigmatisierung geht in der Regel auch mit einer Aufwertung der ethnischen Herkunft der Elterngeneration einher. Der vonseiten der Schule als problematisch behandelte »Ausländerstatus« wird dabei kulturell aufgewertet, er gilt nun als cool und attraktiv und wird sowohl gegen die autochthonen Schüler als auch gegen die Institution Schule als Distinktionsmarker eingesetzt. Gleichsam handelt es sich auch hier nicht um ein Nationalbewusstsein im traditionellen Sinne, sondern um eine neu zusammengesetzte und imaginierte Ethnizität, die unter sehr spezifischen sozialen und biografischen Vorzeichen steht.72 Unter den Schülern gibt es dabei verschiedene ethnische Loyalitäten und Identifikationen, etwa zwischen »Türken«, »Kurden«, »Arabern«, »Albanern« usw., was zu internen Gruppenbildungen führt, die zumindest teilweise ethnischen Mustern folgen. Daraus können sich mitunter Spannungen ergeben, gleichzeitig lässt sich in manchen Konf liktsituationen auch eine übergreifende »Ausländersolidarität« beobachten, etwa wenn es, wie bereits geschildert, gegen rassistisch auftretende Lehrer*innen geht. Ethnische Identifikationen haben in mancher Hinsicht die frühere Rolle des Klassenbewusstseins übernommen, sie werden vor allem für Jugendliche aus Einwanderer*innenfamilien zur primären Achse von Differenz, entlang derer sie ihr politisches Bewusstsein ausbilden und sich im sozialen Gefüge auf relationale Weise positionieren.73 Die damit verbundene Selbst-Ethnisierung korrespondiert wiederum mit einer Kulturalisierung sozialer Problemlagen im medialen Diskurs, demnach schulische Problemlagen hauptsächlich auf ethnisch-kulturelle Prägungen zurückzuführen sind. An der Neuköllner Galilei-Schule waren, neben den Nachfahren türkischer Gastarbeiter*innen, deutsch-palästinensische Jugendliche zahlenmäßig besonders stark vertreten, da vor dem Krieg im Libanon 72 Vgl. Anderson: Imagined Communities. 73 Vgl. Gilroy: ›There Ain’t No Black in the Union Jack‹, S. 1-40.
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f lüchtende palästinensische Familien sich seit den 1980er Jahren verstärkt im Neuköllner Norden angesiedelt hatten. Da in der deutschsprachigen Forschungsliteratur die deutsch-palästinensische Migrationsgeschichte bisher verhältnismäßig wenig beachtet wurde, möchte ich diese hier als ein Beispiel für den jugendlichen Umgang mit migrantischer Herkunft und ethnischen Zuschreibungen hervorheben. Die Jugendlichen aus palästinensischen Einwanderer*innenfamilien lebten zumeist rund um die Sonnenallee in unmittelbarer räumlicher Nähe, auch ihre Familien kannten sich häufig untereinander. Sie waren auf eine Art miteinander befreundet, bei der die gemeinsame palästinensische Herkunft ein unsichtbares Band zwischen ihnen knüpfte, welches eine gewisse Vertrautheit schuf und nach außen gleichsam eine grundsätzliche Solidarität verlangte. In ihren diasporischen Bezügen zeigten sich gleichsam markante Unterschiede, deren typische Ausprägungen sich am Beispiel von Ali, Khaled und Yussuf veranschaulichen lassen. Ali: Mein Vater ist 1947 in Palästina geboren, also zu Beginn der Nakba. Er wohnte mit seiner Familie in der Nähe von Akkon, im Norden Palästinas. Das war die Zeit, als die Israelis einmarschiert sind und das Land erobert haben. Meine Großeltern saßen mit meinem Vater im Haus – mein Opa war Nationalkrieger für Palästina, auch schon vorher gegen die Engländer, später dann gegen die Zionisten. Mein Opa und sechs andere aus der Familie wurden ermordet. Nicht im Krieg, sondern entführt und mit Augenbinde hingerichtet. Ich war schon drei Mal in Palästina, da wurde mir das erzählt. Als das meine Oma erfahren hat, hat sie meinen Vater genommen und ist barfuß mit ihm über die Grenze nach Libanon gelaufen. Mein Vater war ja damals noch ein Baby. Meine Oma ist dann weiter nach Sabra-Schatila, in das Flüchtlingslager, wo dann Ariel Scharon später einen Massenmord gemacht hat. Dort wuchs mein Vater auf. Die Familiengeschichte wird in einer bildreichen Sprache mit Bezug auf dramatische politische Umstände erzählt. Die Biografie des Vaters erscheint als eine Art personifizierte Geschichte der Nakba, der 1948 einsetzenden blutigen Vertreibung von etwa 80 Prozent der palästinensischen Bevölkerung aus dem Staatsgebiet des heutigen Israel, die durch eine Reihe von traumatischen Episoden von Krieg und Gewalt
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gekennzeichnet ist.74 Die Nakba ist das Schlüsselmotiv der modernen palästinensischen Nationalerzählung, die weitgehende Vertreibung aus Palästina bildet den Referenzrahmen, in dem sowohl die jüngere Geschichte konstruiert als auch die Gegenwart interpretiert wird. Diese palästinensische Nationalerzählung ist nach wie vor umkämpft. Sie hat bisher kein Happy End gefunden und jeder Bezug auf sie ist gleichzeitig ein politisches Statement zur gegenwärtigen Lage im »Nahen Osten«. Die Leidensgeschichte der Palästinenser hat es zudem schwer, Gehör zu finden – besonders in Deutschland, das aufgrund der Shoah in einer besonderen historischen Verantwortung gegenüber Israel steht. Zu welchen Irritationen der Zusammenprall dieser unterschiedlichen Geschichtsbilder führen kann, habe ich in meinem Buch Schule der Gefühle am Beispiel eines Antisemitismusworkshops beschrieben, der aufgrund gegenseitiger Vorbehalte und falscher pädagogischer Maßnahmen aus dem Ruder gelaufen war.75 Dabei zeigte sich, dass die Erinnerungen an Gewalt und Vertreibung von palästinensischer Seite in der Schule keinen Ort haben, an dem sie sich legitim äußern können. Ali selbst hatte während seiner Schulzeit eine sehr klare und differenzierte Meinung zu Israel und zur Antisemitismusproblematik, die stark von den Fluchterfahrungen seiner Familie geprägt war: Ali: Ich bin nicht gegen Juden. Ich bin gegen Zionismus. Ich werde gereizt, wenn man mir sagt, dass Israel ein legaler Staat ist. Für mich ist das ein Kolonialstaat. Man darf auch die Religion nicht mit kriegerischen Dingen vermischen. Mein politisches Bewusstsein war schon immer da. Mein Vater hat immer die Nachrichten geschaut und dann sieht man schon als Kind die Panzer und die Vertreibungen. Manchmal gibt es aber auch Meinungsverschiedenheiten. Meinem Vater würde es schwerfallen, mit einem Juden am gleichen Tisch zu sitzen. Er ist noch zu sehr verletzt. Sein Vater wurde ermordetet, das sitzt zu tief in ihm drin. Ich bin da offener, ich würde mich mit denen an einen Tisch setzen und unterhalten, wie auch mit jedem anderen. Die anderen Palästinenser aus der Klasse sind da auch sehr klar positioniert. Keiner würde sagen, das interessiert einen nicht mehr. Wenn es eine Demonstration gegen Israel geben würde, würden wir alle sofort aufstehen und mitmachen. 74 Vgl. Sa’di/Abu-Lughod (Hg.): Nakba. Palestine, 1948, and the Claims for Memory. 75 Vgl. Wellgraf: Schule der Gefühle, S. 73-86.
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Ali ist ein wortmächtiger Redner, der emotional und gleichsam pointiert argumentieren kann. Als Schulsprecher hatte er sich deutlich gegen islamfeindlich auftretende Lehrer positioniert, die den Islam als unvereinbar mit der »westlichen« Kultur ansahen. Gleichsam verwehrt er sich mit seiner politischen Lesart des Konf likts zwischen Israel und den Palästinensern gegen den Vorwurf des Antisemitismus, mit dem arabische Jugendliche in Deutschland immer wieder konfrontiert werden.76 Es stellt sich jedoch die Frage, ob er mit seiner grundsätzlichen Infragestellung der Legitimität des Staates Israel die Grenze zum Antisemitismus gleichzeitig ungewollt überschreitet. Alis Vater war nach den Angriffen auf das Flüchtlingslager in Sabra-Schatila zunächst weiter in den Norden des Libanons gef lüchtet und von dort wiederum nach Deutschland ausgewandert, wohin ihm seine Frau später nachfolgte. Die Eltern erhielten über die mehreren Jahrzehnte ihres Aufenthalts hinweg keine Arbeitserlaubnis, sie zogen in dieser Zeit dennoch sechs Kinder groß. Von Alis fünf Schwestern sind mittlerweile vier mit arabischen Männern verheiratet und als Hausfrauen tätig. Gewissermaßen führte Ali den politischen Kampf seines Vaters weiter, indem er die Mitschüler für die palästinensische Sache mobilisierte. Seine Auseinandersetzung mit der palästinensischen Herkunft wurde auch maßgeblich durch Reisen zu Verwandten im heutigen Israel angeregt. Ali: Die erste Reise war 2013. Mein Vater wollte unbedingt, dass ich seine Geschwister, also meine Onkel, kennenlerne. Der Familienbesuch war spannend, es ist zwar Familie, aber eigentlich kenne ich die ja gar nicht. Wir saßen bei denen und wurden sehr herzlich aufgenommen, sehr gastfreundlich. Mich hat aber verwundert, dass die sich für die Palästina-Sache gar nicht mehr interessieren. Denen ist das scheißegal, die sprechen Hebräisch und haben sich integriert, auch wenn sie natürlich von den Israelis trotzdem nicht anerkannt werden. Das Schönste an der ganzen Reise war der Ausflug zur Al-Quds-Moschee, ich habe Tränen bekommen. Da kam wieder meine ganze Wut raus, auf die Israelis, die ganzen Soldaten, die da herumstehen und die Kinder und Frauen nicht reinlassen. Aber als ich in der Moschee war, habe ich Gänsehaut bekommen. Ich dachte nur: »Oh mein Gott, wie schön«. Nicht nur, weil ich Palästinenser bin, auch weil ich Muslim bin. […] Die zweite Reise 76 Vgl. Bunzl: Anti-Semitism and Islamophobia.
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2014 war anders, ich kannte ja schon die Städte und den Ablauf. Das war sehr schön, da war grad Fußball-WM. Deutschland hat gewonnen und ich bin ja eigentlich auch Deutscher, auf eine gewisse Weise. Am Tag des Endspiels war ich so stolz, dass ich von oben bis unten nur Deutschlandsachen anhatte. Als wir das in der Familie im Fernsehen angesehen haben, waren manche für Deutschland und mache für Argentinien. Nach dem Sieg bin ich ausgeflippt und jubelnd auf die Straße gerannt. Das war eine witzige Sache. Ich habe bei der Reise gemerkt, ich darf nicht so aggressiv gegen die Israelis sein. Besieg das Böse durch das Gute, wie es in der Bibel steht. Aber ich habe auch gemerkt, wir hätten da in der Familie nicht über Politik reden können, da wäre der Konflikt wieder hochgekommen. Die Reisen nach Israel waren für Ali einschneidende Erlebnisse, die mit starken Emotionen und nachhaltigen Irritationen verbunden waren. Schon bei der Ankunft am Flughafen stellte sich die brisante Frage, wie man die Fahrt deklariert, dabei führte die bloße Erwähnung des Wortes »Palästina« durch die mitreisende Schwester zu einem mehrstündigen Polizeiverhör. Für Edward Said offenbart sich die palästinensische Frage bereits anhand solcher Begriff lichkeiten: »Palestine itself is a much debated, even contested, notion. The very mention of the name on the one hand constitutes for the Palestinian and his partisans an act of important and positive political assertion, and on the other, for the Palestinian’s enemies, it is an act of equally assertive but much more negative and threatening denial.«77 Durch die Familienbesuche wurde Ali klar, dass sich die von ihm in der Diaspora imaginierte politische Gemeinschaft der Palästinenser signifikant von der alltagspragmatisch ausgerichteten Variante seiner Verwandten in Israel unterscheidet. Statt einem Zurück in die verlorene Gemeinschaft entstand somit durch die Besuche eher ein gesteigertes Bewusstsein für Differenzen. Alis ethnischen Loyalitäten erscheinen nicht statisch, sie bleiben offen für Mehrfachzugehörigkeiten und sind gekennzeichnet von ambivalenten Gefühlslagen. Stuart Hall bezeichnet solche situativen und selbstbewussten Formen von ethnischen Identifikationen am Beispiel Großbritanniens als »Neo-Ethnizität«, womit er sie von einem exklusiven nationalstaatlichen Verständnis von Ethnizität einerseits sowie von den defensiven Kollektividentitäten der ersten Einwande77 Said: The Question of Palestine, S. 4.
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rergeneration andererseits abgrenzt.78 Alis Familie werden grundlegende Teilhaberechte in Deutschland verweigert, dennoch fühlt er sich »eigentlich« auch seinem Geburtsland verbunden, zumindest »auf eine gewisse Weise«. So feiert er in Israel den Sieg bei der Fußball-WM euphorisch mit Deutschlandfahnen. Die Kontingenz von ethnischen Zugehörigkeiten sollte nicht mit postmoderner Beliebigkeit verwechselt werden. Diasporische Netzwerke bilden sich, wie im palästinensischen Falle, zumeist durch erzwungene Zerstreuung, also in Folge von Krieg und Vertreibung. Diasporische Bezüge können sowohl ein rückwärtsgewandtes als auch ein utopisches Element haben, sie verbinden eine kulturelle Orientierung zu »den Wurzeln« mit der Suche nach neuen Wegen.79 Die besondere emotionale Wirkung des Besuchs der Al-Quds-Moschee in Jerusalem, eine der wichtigsten religiösen Stätten des Islams, deutet darauf hin, dass für Ali der palästinensische Befreiungskampf und die religiöse Sinnsuche biografisch miteinander verbunden sind. Die Verbindung von Ethnizität und Religion wird zudem dadurch befördert, dass mit der Unterdrückung des Islams im Herkunftsland der Eltern dieser auch zu einem Symbol des Widerstands wurde. Solche ethnisch und religiös gefärbten Suchbewegung verliefen unterschiedlich. Manche Schüler, wie Khaled, setzten andere Schwerpunkte oder zeigten, wie Jussuf, unterschiedliche Grade an diasporischer Identifikation. Khaled wurde in Ramallah, in der palästinensischen Westbank, geboren und f lüchtete mit seiner Familie während der zweiten Intifada Anfang der 2000er Jahre über Jordanien nach Berlin. Khaled hatte wie Ali noch fünf Geschwister und auch seine Eltern gehörten zu jener lediglich geduldeten Kategorie von Flüchtlingen, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt und die somit systematisch in die »Schwarzarbeit« gedrängt wurden. Khaled war offensiver religiös ausgerichtet als Ali und unerbittlicher in seinen Haltungen. Auch war sein Status prekärer, seine Familie stand mehrfach kurz vor der Abschiebung, er selbst musste alle drei Monate seinen Aufenthaltsstatus verlängern. Khaled: Mein Vater war mit im Krieg, im Befreiungskrieg, der Intifada. Er war bei der Fatah, noch zu Arafats Zeiten, war zwischendurch auch 78 V gl. Hall: Old and New Identities, Old and New Ethnicities; Hall: The Fateful Triangle; Back: New Ethnicities and Urban Culture. 79 Vgl. Clifford: Routes, S. 244-278; Gilroy: The Black Atlantic.
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deswegen im Gefängnis. Er ist da ein hohes Tier bei der Fatah-Gruppe in Berlin und hat auch noch Kontakte nach Palästina und zur Botschaft. Die organisieren viele Veranstaltungen, zum Beispiel diesen großen Kongress am Treptower Park. […] In Palästina ist seit über 60 Jahren Krieg. Palästina ist ein heiliges Land, aber es hat keine Waffen. Doch Israel wird niemals siegen, es wird niemals Palästina beherrschen. Die Ungläubigen werden besiegt werden, wie es im Koran steht. So nehme ich es war. Ich wünschte von Herzen für jeden Christen oder Juden, das er rechtgeleitet wird und zur richtigen Religion konvertiert. Also ich bin davon überzeugt, dass der Islam die richtige Religion ist. Wenn man den Islam, den Koran versteht, ändert man sich automatisch. Bei Khaled kippte eine vehemente Israel-Kritik deutlich stärker in Richtung Antisemitismus, wobei die Positionierungen teilweise auch variierten und widersprüchlich waren. Seine feindselige Haltung gegenüber Israel wurde gerade nicht auf staatliches Handeln und militärische Interventionen beschränkt, sondern immer wieder um kulturalistische und religiöse Bezüge erweitert. Khaled vertrat zudem einen dezidierten Anti-Amerikanismus, da er deren Politik durch jüdische Lobbygruppen gesteuert sah. Er befürwortete Boykottaufrufe gegen vermeintliche Unterstützer Israels, wie jenen gegen die Supermarktkette Lidl, und begründete die palästinensischen Autonomieansprüche in religiöser Weise, wobei er nicht nur Juden den rechtmäßigen Glauben absprach, sondern auch Christen, Schiiten und Nichtgläubige den »wahren« Weg zu Gott weisen wollte. Mit der von seinem Vater mit-organisierten Veranstaltung am Treptower Park war die »Konferenz der Palästinenser in Europa« vom April 2015 gemeint, eine regelmäßig an wechselnden Orten stattfindende Veranstaltung, die zuletzt vom Berliner Innenministerium als »Propagandaveranstaltung« der Hamas und von jüdischer Seite als »Judenhasser-Konferenz« kritisiert wurde.80 Neben seiner bereits erwähnten demonstrativen Vorliebe für Al-Naschid-Musik lieferte er sich im Unterricht einmal einen Streit mit einer feministisch eingestellten Ethiklehrerin: Als diese den Schüler*innen beweisen wollte, dass der Islam den Frauen kein Kopftuch vorschreibe, reagierte Khaled lautstark mit Koranzitaten, die eine gegenteilige 80 V gl. Süddeutsche Zeitung/dpa: Palästinenser-Treffen: Innensenator warnt vor Antisemitismus, 6.12.2019; Jüdische Allgemeine: Proteste gegen Judenhasser-Konferenz, 5.12.2019.
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Interpretation nahelegen. Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung ging es ihm wohl auch darum, sich nicht von einer deutschen Lehrerin über den Islam belehren lassen zu wollen. Yussuf versuchte im Gegensatz zu seinen deutsch-palästinensischen Freunden politische und religiöse Fragen eher auszublenden, da er diese als zu belastend empfand. Sein Vater war in den 1970er Jahren als palästinensischer Flüchtling aus Syrien ins damalige West-Berlin gekommen. Später war er für einige Jahre nach Syrien zurückgekehrt, heiratete dort eine Exil-Palästinenserin und kam mit dieser wieder zurück nach Deutschland. Als wir uns kennenlernten, waren von Yussufs fünf Geschwistern bereits drei ältere Schwestern mit palästinensischen Männern verheiratet, auch Yussuf selbst sollte später noch eine Frau aus einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie ehelichen. Diese auffallenden ethnischen Ehe-Bündnisse ergaben sich vermutlich aus einer elterlich gesteuerten Heiratspolitik. Familiäre Unterstützungsnetzwerke spielen aufgrund der prekären sozio-ökonomischen und rechtlichen Lage palästinensischer Flüchtlinge sowohl im Nahen Osten als auch hierzulande eine besonders große Rolle – etwa für die schwierige Suche nach Wohnungen und Arbeit. Es handelt sich also nicht um vermeintlich archaische Bräuche, sondern um pragmatische Reaktionen auf gegenwärtige soziale, ökonomische und rechtliche Bedingungen. Yussuf selbst beschränkte seine ethnischen und religiösen Bezüge auf ein Mindestmaß an grundlegender Loyalität, welches ihm aufgrund seiner Herkunft als selbstverständlich erschien. Yussuf: In meinem Zimmer habe ich deutsches Fernsehen, mein Vater schaut nebenan über Satellit arabisches, vor allem NBC und Al Jazeera. Wenn man da sieht, was in Palästina passiert, dann fragt man sich schon, warum die das eigentlich nicht in den deutschen Nachrichten zeigen. Manchmal setze ich mich mit ihm hin ins Wohnzimmer und gucke mir das an. Aber eigentlich mag ich das gar nicht. Mich macht das depressiv, wenn ich sehe, wie da blutbeschmierte Kinder tot auf dem Boden liegen. Facebook habe ich nicht. Palästina ist politisch wichtig, und man sollte seine Leute da so gut wie möglich unterstützen. Meine Familie schickt ja immer auch Lebensmittel und Spenden hin, mal direkt an Verwandte, mal über Organisationen und die Moscheen hier, in denen viele Palästinenser sind. Die organisieren manchmal auch Demonstrationen. Mein Vater hat natürlich sehr viel mehr Wissen da-
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rüber. Ich beschäftige mich nicht so sehr damit, diese ganzen Konflikte – Christen gegen Muslime, Schiiten gegen Sunniten, Hamas gegen Fatah – da kenne ich mich auch gar nicht so genau aus. Ich lebe mein Leben hier, war auch noch nie da drüben. Meine Eltern haben sich jetzt hier ihr Leben aufgebaut und wollen auch nicht mehr zurück. Sein Hauptaugenmerk galt dem Leben in Deutschland und den alltäglichen Problemen, die sich einem Heranwachsenden unter prekären Bedingungen stellen. Aus Alis Sicht hatte Yussuf »nur Familie und Arbeit« im Kopf habe, während Yussuf über Ali meinte, dieser »war schon immer politischer«. Eine Reise nach Syrien kam bei Yussuf nicht zustande. Als die Mutter endlich eine Genehmigung dafür erhielt, fehlte das Geld für zusätzliche Flugtickets, später machte der Syrienkrieg weitere Reisepläne zunichte. Stattdessen nahm die Familie ab 2015 zahlreiche aus Syrien gef lüchtete Verwandte bei sich auf, auch hier engagierte sich Yussuf auf selbstverständliche Weise. Zudem fand er über Khaled eine Arbeit im Security-Bereich, bei der er zeitweise auch im Objektschutz von Flüchtlingsheimen eingesetzt war und dort auch mit Übersetzungen aus dem Arabischen half. Die Bedeutung des Heimatbezugs hat sich in der palästinensischen Diaspora in den letzten Jahrzehnten aufgrund von Entwicklungen des Palästinakonf likts und der prekären Lage palästinensischer Flüchtlinge in Ländern wie Syrien, Jordanien und dem Libanon immer wieder verändert.81 Palästinenser, die wie Yussufs Vater bereits in den 1960er und 70er Jahren als Flüchtlinge kamen, erhielten – anders als die Eltern von Ali und Khaled – in der Regel noch einen unbegrenzten Aufenthaltsstatus, weshalb auch Yussuf und seine Geschwister Anspruch auf einen deutschen Pass hatten. Der diasporische Nationalbezug zeigte sich unter den Schüler*innen über ethnisch markierte Freundesgruppen hinaus auch anhand alltäglicher Loyalitätsbezüge, etwa durch Palästina-Flaggen auf ihren Facebookseiten oder das Tragen von »Palästina-Ketten«, mit den Umrissen Palästinas in den Grenzen von 1947 als Emblem. In der Forschungsliteratur wird immer wieder betont, dass sich in der zweiten und dritten Migrantengeneration eine auffällige Renaissance religiöser und ethnischer Identifikationen beobachten lasse und die damit verbundene Betonung von Differenz eine mögli81 V gl. Said: The Question of Palestine; Dorai: The Meaning of Homeland for the Palastininan Diaspora.
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che Antwort auf rassistische Ausgrenzung sei.82 Durch die enge Verbindung mit dem Nahost-Konf likt stellt sich im palästinensischen Fall unweigerlich auch das Problem des Antisemitismus. In Bezug auf palästinensische Migrant*innen zeigt Nikola Tietze, dass antisemitisch gefärbte Narrative dazu dienen können, die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe zu markieren und gleichzeitig verwendet werden, um auf eigene Exklusionserfahrungen hinzuweisen.83 Simona Pagano hebt in diesem Zusammenhang starke individuelle Unterschiede hervor und interpretiert antisemitische Äußerungen als ein konstitutives Element von maskulinen Selbstinszenierungen.84 Barbara Schäuble und Albert Scherr verweisen wiederum auf die widersprüchlichen und fragmentarischen Formen des jugendlichen Antisemitismus, statt von geschlossenen Ideologien gehen sie dabei eher von unterschiedlichen Stufen und Schattierungen aus.85 Diese Facetten – der Bezug auf die ethnische Zugehörigkeit und die kollektive Leidensgeschichte, die unterschiedlichen individuellen Auslegungen im Kontext männlicher Adoleszenz sowie die heterogenen, manchmal auch widersprüchlichen ideologischen Verweise – finden sich auch bei den hier vorgestellten Berliner Jugendlichen wieder. Die Beispiele von Ali, Khaled und Yussuf zeigen, dass das Spektrum an möglichen Bezugnahmen unter den Heranwachsenden aus palästinensischen Flüchtlingsfamilien vom politischen Aktivismus über antisemitisch konnotierten religiösen Nationalismus bis hin zu familiärem Privatismus und Traditionalismus reicht. Diese beträchtliche Varianz verdeutlicht noch einmal, dass Ethnizität keine feststehende kulturelle Disposition, sondern ein kulturelles Konstrukt ist, eine variable Form der Selbstverortung und der Grenzziehung.86 Dies bedeutet, dass kulturelle Selbstbezüge unter wechselnden Umständen auch wieder in den Hintergrund treten können.
82 V gl. Nökel: Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam; Bozkurt: Conceptualizing »Home«. 83 Vgl. Tietze: Zugehörigkeiten rechtfertigen und von Juden und Israel sprechen. 84 Vgl. Pagano: »Also der Körper is da, die Seele nich«. 85 Vgl. Schäuble/Scherr: »Ich habe nichts gegen Juden, aber…«. 86 Vgl. Barth (Hg.): Ethnic Groups and Boundaries; Wimmer: Ethnic Boundary Making.
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Gelungene Integration? Zur Abkehr vom Islam in der Post-Adoleszenz Ali: Ich gehe nicht mehr so zu diesen Palästina-Demos, auch wenn ich natürlich weiter gegen die israelischen Siedlungen bin und auch gegen diese Jerusalem-Politik von Trump. Jerusalem soll die Hauptstadt Palästinas sein, aber auch die Hauptstadt der Welt. Da treffen sich die drei großen Weltreligionen an einem Punkt. Niemand soll sagen, das ist meins. Aber bei diesen Demos werden dann immer irgendwann Israel-Fahnen verbrannt, damit kann ich mich nicht identifizieren. Ich bin eher für Frieden. Früher war ich auch so ein aggressiver Typ, jetzt nicht mehr. Ich habe das durch, jeder hat so seine Phasen. Leider habe ich auch mit dem Beten wieder aufgehört, obwohl ich immer noch ein stolzer Moslem bin. Manchmal bete ich noch, manchmal nicht – ich bin sowieso nicht der religiöseste Mensch. Jamil ist auch komplett von der Islamschiene runter. Früher hat er immer gebetet. Jetzt ist er das komplette Gegenteil, nur noch Mädchen und Alkohol. Khaled: Ich habe zwar jetzt einen Bart, aber eigentlich nichts mehr so richtig mit dem Islam zu tun. Wie soll ich es sagen, es gibt so Phasen im Leben, manchmal bin ich da richtig drin und manchmal komplett raus. Damals in der Schulzeit war ich jeden Tag beten, war voll dabei. Aber wenn man Freunde hat, die einen eher zur Disko mitnehmen – wenn man Security arbeitet, kennt man natürlich die Türsteher und kommt fast überall rein. Das sind meist so Ausländer- oder Hartz-IV-Diskos, aber alle meine Freunde gehen dahin. Da hat man seinen Spaß, auch wenn es eigentlich alles Sünden sind. Politik interessiert mich auch nicht mehr so. Politik ist ein Hurensohn, das gibt nur Kopfschmerzen und Stress. Erst sind alle friedlich zusammen in der Shisha-Bar und sobald das Thema hochkommt, gibt es Streit oder sogar eine Schlägerei. Schluss damit! Die da oben sitzen, interessieren mich sowieso nicht. Ich hoffe, in Palästina wird es sich irgendwann bessern, aber ich sehe das nicht. Das hatte einen Anfang, aber nimmt kein Ende mehr. So auffallend ähnlich Alis und Khaleds ethnisch-religiöse Bekenntnisse noch während der Schulzeit im Alter von etwa 16, 17 Jahren klangen, so gleichen sich die Jugendlichen nun in ihrem temporären Abschied vom Islam und dem politischen Engagement für Palästina. Sie sprechen beide von Lebensphasen, erwähnen andere Freunde und ehema-
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lige Mitschüler, was darauf schließen lässt, dass es sich auch bei der Ent-Dramatisierung von Religion und Ethnizität um ein generationelles Muster handelt, also relativ typisch für ehemalige Haupt- und Sekundarschüler*innen aus Einwandererfamilien in ihren 20er Jahren ist. Der Abschied ist jedoch nicht komplett und endgültig, die religiöse Bindung wird prinzipiell immer noch affirmiert, sie tritt jedoch wieder in den Hintergrund. Deshalb bleibt es vorstellbar, dass die Religion in späteren Lebensphasen und unter anderen Umständen auch wieder stärker hervortritt. Überträgt man die von Gritt Klinkhammer entworfene Typologie moderner islamischer Lebensführung auf unser Beispiel, kann man eine »traditionalisierende« islamische Lebensführung der Elterngeneration von »exklusivistischen« Islambezügen bei Heranwachsenden während der Adoleszenz und Schulzeit unterscheiden, bei der die Hinwendung zum Islam als eine persönliche Entscheidung sowie eine prägende Erfahrung wahrgenommen wird und die neu gewonnene islamische Perspektive andere Lebensbereiche dominiert. In der Post-Adoleszenz zeigt sich dann bei Ali und Khaled bestenfalls noch das, was Klinkhammer eine »universalisierende« Religiosität nennt, in welcher der Islam eher eine ergänzende ethische oder spirituelle Dimension auf dem weiteren Lebensweg bereitstellt.87 Die Bedeutung von Religion besteht demnach darin, für die sich wandelnden sozialen und biografischen Bedürfnisse der Heranwachsenden passende Antworten bereitzustellen. Auch der Palästina-Bezug ist nicht vollständig verschwunden. So reagierte Ali wütend auf die Entscheidung der Trump-Regierung im Jahr 2019, Jerusalem offiziell als Hauptstadt Israels anzuerkennen und die US-amerikanische Botschaft dorthin zu verlegen. Er nimmt aber nicht mehr, wie er es wohl früher getan hätte, an den damit verbundenen palästinensischen Protesten in Berlin teil. Khaled zeigt sich in Bezug auf die politische Lage in den palästinensischen Gebieten mittlerweile eher desinteressiert und resigniert. Diese Abkehrbewegungen haben unterschiedliche Ursachen, neben generationellen und biografischen Einf lüssen spielt dabei auch die Schule eine entscheidende Rolle. In dieser wurden die Schüler einerseits institutionell diskriminiert und andererseits von den Lehrer*innen immer wieder auf ihre kulturelle Herkunft zurückverwiesen. Dadurch wurden religiöse und ethnische Bezugnahmen provoziert, die den Schülern sowohl als 87 Vgl. Klinkhammer: Moderne Formen islamischer Lebensführung, S. 283-290.
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Mittel der individuellen Selbstbehauptung als auch der kollektiven Selbstverteidigung dienten. Nach der Schule nehmen die kulturalistischen Bekenntniszwänge wieder ab, die Heranwachsenden erweitern ihre Bekanntenkreise und müssen sich neuen, vor allem ökonomischen Problemlagen stellen, für die Religion und Ethnizität kaum Lösungsangebote bereitstellen. Man könnte auch sagen, die jungen Erwachsenen haben sich »integriert«. Die Integrationsdebatte der letzten Jahre wurde allerdings zu Recht für ihre Schief lagen kritisiert. Integration ist demnach ein ordnungspolitischer Herrschaftsbegriff, denn in der Regel werden Integrationsbemühungen nur von der migrantischen Seite gefordert, während staatliche Institutionen wie die Schule ihr Selbstverständnis kaum hinterfragen. Gleichzeitig wird implizit vorausgesetzt, als wäre es völlig selbstverständlich, wohin man sich integrieren müsse. Der Integrationsforderung liegt letztlich ein »Leitkultur«-Verständnis zugrunde, die normative Vorstellung einer tief verwurzelten, klar konturierten Kultur und eines homogenen Gesellschaftscontainers, die angesichts der Komplexität der Alltagswirklichkeit in einer spätmodernen, postmigrantischen Gesellschaft hoffnungslos anachronistisch erscheint.88 Ellen Kollender hat mit Blick auf Berliner Schulen die Neuformierung eines neo-assimilatorischen Integrationsverständnisses hervorgehoben, in dessen Rahmen sich integrationspolitische Forderungen zuletzt weniger direkt über nationalkulturelle Zuschreibungen sondern mehr über freiheitlich-demokratische Gesinnungen artikulierten und zudem stärker mit neoliberalen Appellen zu mehr Selbstverantwortung verbanden.89 Paul Mecheril betont, dass Integrationsforderungen gerade im Kontext von Bildungsprozessen keinen angemessenen Bezugspunkt pädagogischen Handelns darstellen, da es in diesen ja besonders um individuelle Selbstentfaltung und nicht einseitig um gesellschaftliche Passfähigkeit und Nützlichkeit gehen sollte.90 Bei der lokalen Ausgestaltung des gesellschaftspolitischen Integrationsimperativ ergeben sich durchaus Spielräume, wie der Stadtforscher Stephan Lanz anhand der diskursiven Formation der »Einwanderungsstadt Berlin« gezeigt hat.91 Demnach leitete zur Zeit meiner 88 Vgl. Hess/Binder/Moser: No Integration? 89 Vgl. Kollender: Eltern – Schule – Migrationsgesellschaft. 90 Vgl. Mecheril: Wirklichkeit schaffen. 91 Vgl. Lanz: Berlin aufgemischt.
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Forschung in Berlin-Neukölln ein »Differenzblock« die Lokalpolitik an, bei der kulturell »Eigenes« und »Fremdes« als zwei fundamental unterschiedliche Einheiten angesehen und entsprechender Assimilationsdruck erzeugt wurde. Migration galt demnach als Störfaktor, wobei besonders die Zugehörigkeit zum Islam als problematisch angesehen wurde. Im benachbarten Kreuzberger Rathaus dominierte dagegen ein »Diversitätsblock«, der nicht mehr auf einem essentialistischen Verständnis von Nationalität und Kultur basierte, sondern eher einem prozessualen, dynamischen Kulturverständnis folgte. Wo die einen Verfall beklagten, sahen die anderen eher Vielfalt – wobei keine der beiden Perspektiven die andere komplett verdrängen konnte. Differenz- und Diversitätsdenken existieren daher in der Berliner Lokalpolitik weiterhin nebeneinander. Wo jeweils die Schwerpunkte gesetzt und wie diese ausgestaltet werden, kann von Bezirk zu Bezirk, teilweise auch von Schule zu Schule sehr unterschiedlich ausfallen. Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, das besonders Neuköllner Hauptschulen in den frühen 2000er Jahren im politischen und medialen Diskurs zum Sinnbild für »gescheiterte Integration« avancierten, den dortigen Jugendlichen in den öffentlich-rechtlichen Medien teilweise sogar eine »verweigerte Integration« attestiert wurde.92 Aus diesem Blickwinkel würde die Abkehr der Jugendlichen von kulturellen Bezügen als ein Fortschritt, als ein Schritt auf dem Weg zu »ganz normalen« Heranwachsenden in Berlin erscheinen. Doch schaut man sich die neuen Koordinaten der Lebenswelten der zuletzt erwähnten jungen Männer genauer an, fällt die Bilanz vielleicht etwas nüchterner aus: Diskos, Frauen und Alkohol statt Gebet, Drogen-Abstinenz und religiöser Moral. Einige ehemalige Hauptschüler berichteten mir, sie kiffen nun gemeinsam mit Studierenden in Neuköllner Bars, amüsieren sich in »Koks-Diskos« in Berlin-Schöneberg oder dealen selbst mit Drogen auf den Straßen der Hauptstadt. Die Jahre nach der Hauptschulzeit sind zudem von Arbeitslosigkeit, prekären Beschäftigungen und biografischen Krisenerfahrungen geprägt. Letztlich integrieren sich diese Jugendlichen nach der Schule also vor allem in das hedonistische Berliner Nachtleben und in die »Prekarisierungsgesellschaft«.93 Für die Zeit der Post-Adoleszenz, den ersten Jahren nach dem Verlassen der Hauptschule, lässt sich also konstatieren, dass jene ethni92 Vgl. Wellgraf: Migration und Medien. 93 Vgl. Marchart: Die Prekarisierungsgesellschaft.
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schen und religiösen Identifikationen, die während der Schulzeit noch so vehement betont wurden, wieder an Bedeutung und Bindungskraft verlieren. Jugendliche, die einst den Islam gegen die Schule verteidigten, haben das Praktizieren ihrer Religion weitgehend wieder aufgegeben, auch demonstrative ethnische Affiliationen werden seltener. Diese Des-Identifizierung hat eine geschlechtliche Dimension, die Diskrepanz fiel bei jungen Männern deutlich stärker auf, während umgekehrt manche junge Frauen – wie Cigdem – erst mit der Familiengründung in ihren 20er Jahren das Kopftuch annahmen. Gleichzeitig wird von beiden Geschlechtern in der Rückschau häufig das einstmals schuldeviante Verhalten und die ruinierte Schullauf bahn bedauert. Diese gegenläufigen Tendenzen in der Post-Adoleszenz verdeutlichen, dass nicht tiefsitzende kulturelle Prägungen, sondern die schulische Ordnung selbst Schulverweigerung und ethnisch-religiöse Bekenntnisse hervorgebracht hat. Um schuloppositionelle Verhaltensweisen zu verstehen, müssen sowohl historische Prägungen und strukturelle Bedingungen als auch lokale Konstellationen, situative Dynamiken und biografische Entwicklungsverläufe berücksichtigt werden.94 Wenn Schülergruppen nicht davon überzeugt werden können, dass sich ihr Engagement in der Schule auszahlen werde, wenden sie sich tendenziell von der Schule ab, attackieren diese von einer minoritären Position aus und suchen nach alternativen Sinnressourcen. Im schuldistanzierten Verhalten zeigen sich auffällige Ähnlichkeiten zwischen Berliner Sekundarschüler*innen mit türkischer, kurdischer oder palästinensischer Migrationsgeschichte sowie ethnischen Minderheiten in anderen Ländern, etwa einem ebenfalls stark von Diskriminierung betroffenem afro-amerikanischem und hispanischem Schülerklientel in den USA. Junge AfroAmerikaner*innen begegnen dem von Rassismus geprägten US-amerikanischen Bildungssystem ebenfalls mit großem Misstrauen, wobei ihre Hinweise auf möglichen Rassismus in der Regel als unpassender oder gar feindseliger Angriff auf die Institution Schule aufgefasst werden.95 Mexikanische Einwanderer*innen leiden darüber hinaus häufig an einem unsicheren Aufenthaltsstatus, ihre Sprachkenntnisse gelten 94 V gl. D’Amato: Resistance and compliance in minority classrooms; Gibson: Situational and structural rationales for the school performance of immigrant youth. 95 Vgl. Lareau/Horvat: Moments of Social Inclusion and Exclusion.
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als minderwertig und ihre kulturellen Prägungen als suspekt.96 Bei beiden Gruppen verstärkt eine sozialräumlich segregierende Schulpraxis die Tendenz zu vergleichsweise geringerem Schulerfolg. Zu den erwähnten situativen Faktoren gehört auch die Art und Weise, in der Lehrer*innen mit strukturell bedingten Ungleichheiten vor Ort umgehen. Die beschriebenen gesellschaftlichen Bruchlinien können durch pädagogisches Handeln zumindest teilweise aufgefangen oder – wie sich im kommenden Kapitel zeigen wird – noch weiter verschärft werden.
96 Vgl. Portes/Hao: The schooling of children of immigrants.
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Rechtfertigung Alltagsmoral und berufliche Dilemmata im pädagogischen Bereich Wie nehmen Lehrer*innen die Schule und ihre Rolle darin wahr? Welche Gefühle und Bewertungen ruft die schulische Misere bei ihnen hervor? Um ein Schulwesen aufrechtzuerhalten, das nachweislich diskriminierend ist, bedarf es eines beträchtlichen moralischen Begründungsaufwandes, sowohl vonseiten der Bildungspolitik als auch innerhalb des schulischen Staatsapparates selbst. In diesem Kapitel diskutiere ich Rechtfertigungsversuche und beruf liche Dilemmata im pädagogischen Bereich sowie in den angrenzenden Berufsfeldern der sozialarbeiterischen und psychologischen Betreuung. Dabei zeigt sich das Paradox, dass selbst diejenigen, die an einer Verbesserung der Verhältnisse interessiert sind, häufig unweigerlich zur weiteren Zementierung der Ungleichheitsverhältnisse beitragen. Damit kommt unweigerlich die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten oder der Ideologieverdacht auf. Wer trägt die Verantwortung für die Misere im Bildungswesen, wenn nicht das direkt beteiligte professionelle Personal? Diese Frage ist naheliegend, führt aber in die falsche Richtung, denn die beteiligten Akteure sind in der Regel weder böswillig noch verblendet. Das gegenwärtige Schulsystem ist ein Ausdruck unserer gesellschaftlichen Ordnung, für deren fortwährende Ungleichheiten wir alle die Verantwortung mittragen. Zudem wissen Pädagog*innen an innerstädtischen Haupt- und Sekundarschulen nur allzu gut um die miserablen beruf lichen Aussichten ihrer Klientel. Der Frage, warum sie dennoch den Ausgrenzungsbetrieb am Laufen halten und auf welche Weisen sie ihr Handeln begründen, soll in diesem Kapitel nachgegangen werden. Dies geschieht nicht über eine philosophische Ref lektion zur Verbindung des Bildungsbegriffs mit Vorstellungen vom guten Leben, wie
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sie Kirsten Meyer vorgelegt hat, sondern mittels einer ethnografischen Untersuchung der pädagogischen Alltagsmoral an besonders problembelasteten Schulstandorten.1 Moralische Prinzipien vollziehen sich aus der Perspektive der moral anthropology weniger in programmatischen Verheißungen, sondern primär in alltäglichen Praktiken und Interpretationen, mit denen die Akteure ihrem Handeln Sinn verleihen.2 Diese moralische Ordnung der Schule ist nicht getrennt von medialen, politischen und sozialen Themen, vielmehr steht sie im Kontext einer ReMoralisierung der sozialen Frage, der Rückkehr von sozialmoralischen Unterscheidungen zwischen deserving und undeserving poor seit den 2000er Jahren im Kontext der »Hartz-IV«-Reformen sowie der sie begleitenden medialen Diskussionen um »Unterschichten«.3 Moralische Zuschreibungen bleiben nicht folgenlos, weder im lebenspraktischen noch im identifikatorischen Sinne. Während sich die Stigmatisierung von Niedrigqualifizierten bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz negativ auswirkt, schreiben sich Lehrer*innen in der Regel selbst einen besonderen Berufsethos zu. Indem moralische Positionierungen nachgezeichnet werden, gehe ich der Frage nach, wie sich hierarchische Machtverhältnisse und Herrschaftsbeziehungen auch dann reproduzieren können, wenn die maßgeblich daran beteiligten Personen sich als vorbildhafte Akteure verstehen. Wenn es um den Umgang mit Ungleichheiten in staatlichen Institutionen wie der Schule geht, stellt sich die besondere Herausforderung, staatliche Kategorien wie die »Ausbildungsreife« mitsamt ihrer sozialmoralischen Auf ladung nicht unhinterfragt zu übernehmen, sondern sie selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen.4 Welche Grundannahmen und Begriff lichkeiten liegen den professionellen Rechtfertigungen zugrunde, welche Interessen werden durch sie gestützt und wie werden ausgrenzende Praktiken im Schulalltag begründet? Die Schule erscheint aus dieser Perspektive nicht als soziale Nivellierungsinstanz, sondern als staatlich legitimiertes Instrument der sozialen Hierarchisierung, mit dem die sozialen Einteilungen zwischen »oben« und »unten«, »zugehörig« und »fremd«, »passend« und »unpassend« durchgesetzt und institutionell beglaubigt werden. Die dem Schulsy1 Vgl. Meyer: Bildung. 2 Vgl. Fassin (Hg.): Moral Anthropology. 3 Vgl. Lindner/Musner (Hg.): Unterschicht; Morano: Moralising Poverty. 4 Vgl. Bourdieu: Staatsgeist.
Rechtfertigung
stem zugrunde liegenden Kategorisierungen mitsamt ihren impliziten Vorannahmen und Wertmaßstäben werden im schulischen Alltag kaum hinterfragt, sondern teilweise von den sozial Marginalisierten selbst verinnerlicht. Die machtvollen Setzungen, denen zufolge an manchen Schulstandorten etwa die Hälfte der Schüler*innenpopulation als »unbeschulbar« oder als »nicht ausbildungsfähig« markiert wird, sind in erster Linie pädagogisch äußerst fragwürdige Legitimierungsversuche sozialer Exklusion. Mit dem ebenso gängigen pädagogischen Vorwurf, migrantische Elternhäuser seien »bildungsfeindlich« eingestellt, wird vor allem die alltägliche schulische Ausgrenzung mithilfe rassistischer Stereotype begründet. Gleichzeitig trägt das Bildungssystem das Versprechen von sozialer Emanzipation mit sich, auch die pädagogischen Professionen sind von ihrer Ausbildung her maßgeblich darauf ausgerichtet, Potenziale zu stärken, Kompetenzen zu vermitteln und Zukunftsmöglichkeiten zu eröffnen. Die in diesem Kapitel vorgestellten Akteure gehen mit diesem Dilemma auf unterschiedliche Weise um, ohne ihm damit jedoch zu entkommen. Im Ausgrenzungsapparat Schule offenbaren sich somit für unsere Gesellschaft grundlegende Widersprüche. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass der schulische Staatsapparat kein monolithischer Block ist, sondern als ein Kräftefeld verstanden werden sollte, in dem pädagogische Akteure sich zueinander positionieren und unterschiedliche Berufsgruppen miteinander konkurrieren.
Am Abgrund. Abstiegsnarrative und Anpassungsversuche Lehrer*innen an Haupt- und Sekundarschulen geraten immer wieder in einen unauf lösbar wirkenden moralischen Konf likt: Ihre persönlichen Überzeugungen und ihre pädagogische Ausbildung haben sie zumeist darauf ausgerichtet, den ihnen anvertrauten Jugendlichen wertvolles Wissen zu vermitteln und sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung bestmöglich zu fördern. In der alltäglichen beruf lichen Praxis können sie diese basalen pädagogischen Ideale jedoch kaum verwirklichen. Der Schulalltag ist häufig mehr von Konf likten als von der Vermittlung von Lehrinhalten geprägt, das pädagogische Programm ist von stark abgesenkten Leistungsstandards und harten Disziplinarmaßnahmen gekennzeichnet. Wie kommt es zu diesem Paradox, bei
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dem selbst gutmeinende Pädagog*innen ein hierarchisches und autoritäres Schulsystem reproduzieren? Um sich dieser Fragestellung anzunähern, muss zunächst daran erinnert werden, dass pädagogisches Handeln im staatlichen Schulsystem grundsätzlich von einer Reihe von Widersprüchen gekennzeichnet ist. Werner Helsper stellt die Antinomien des modernen Bildungsauftrags heraus: Zwischen Autonomie und Zwang, zwischen Allgemeinbildung und sozialer Brauchbarkeit, zwischen bürokratischer Organisation der Schule und persönlicher Interaktion im Unterricht sowie zwischen persönlicher Nähe und der gebotenen beruf lichen Distanz unter den schulischen Akteuren.5 Die eigentümliche Aufgabe der Schule besteht demnach darin, selbstverantwortliche und eigenständige Individuen hervorzubringen, die gleichsam gesellschaftlich passfähig und ökonomisch verwertbar sind. Anke Clasen sieht ähnliche Spannungsverhältnisse, in Bezug auf die Institution Hauptschule hat sie mehrere Widersprüche herausgestellt: zwischen der Betonung individueller Leistung und den nachweisbaren Wirkungen sozialer Schranken, zwischen einem pädagogisch integrierenden Bildungsverständnis und einer sozial ausgrenzenden Schulrealität sowie zwischen dem beständig hervorgehobenen Ziel der Berufsvorbereitung und der tatsächlichen Hinführung in die Arbeitslosigkeit.6 Daneben gilt es das negativ gefärbte Bild von Lehrer*innen zu berücksichtigen, die geringe Reputation dieses Berufsstandes zumindest in Teilen der Öffentlichkeit. Das abfällige Reden über den Lehrer*innenberuf ist selbst noch einmal sozial differenziert, da im Fall von Haupt- und Sekundarschullehrer*innen noch die Geringschätzung von Kolleg*innen höherer Schultypen hinzukommt. Dieses Unbehagen gegenüber dem Lehrer*innenberuf ist eng mit den eben angedeuteten moralischen Dilemmata verbunden. Norbert Ricken sieht in der »Verachtung der Pädagogik« ein Hilfsmittel, um gesellschaftliche Widersprüche zu personalisieren und somit die Verantwortung für sozialstrukturelle Probleme weiterzureichen.7 Die weit verbreitete »Lehrerschelte«, auch innerhalb des schulischen Feldes, hat somit eine entlastende Funktion. Die angeprangerte Schulpädagogik steht dabei stellvertretend für das Unbehagen mit der Verfasstheit unserer Gesell5 Vgl. Helsper: Pädagogisches Handeln in den Antinomien der Moderne. 6 Vgl. Clasen: Bildung als Statussymbol. 7 Vgl. Ricken (Hg.): Über die Verachtung der Pädagogik.
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schaft. Dieses latent schlechte Gewissen ist bereits in die pädagogische Arbeit selbst eingeschrieben: Schule hat zwar die Macht mittels kategorialer Abwertungen über die Schicksale von Heranwachsenden zu richten, gleichsam muss sie diesen Operationsmodus aus pädagogischen Gründen auch immer wieder verschleiern, ihn aufwendig begründen oder durch positivere Zielvorstellungen kaschieren. Die doppelte schulische Ausrichtung auf Erziehung und Selektion geht mit einem ständigen Betrug an emanzipativen pädagogischen Idealen einher. Es handelt sich folglich um ein strukturell angelegtes Unbehagen, denn es wäre eine Illusion zu glauben, dass »die Schulen einer Gesellschaft freier, demokratischer und menschlicher sein könnten als die gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge, in die sie notwendig eingebettet sind«.8 Die negativen Fremdzuschreibungen gegenüber dem Lehrer*innenberuf wirken sich massiv auf die Selbsteinschätzungen aus, wobei sich die eben beschriebenen professionellen Widersprüche auf individueller Ebene in einer Doppelbewertung aus beruf licher Selbstabwertung bei gleichzeitiger prinzipieller Idealisierung des eigenen Berufs widerspiegeln. Damit verbunden ist ein Drang zur Selbstrechtfertigung, ein großes Bedürfnis der Legitimierung des eigenen pädagogischen Handelns. Dabei lassen sich eine Reihe von typischen Umgangsweisen unterscheiden, die von Selbstdistanzierung gegenüber dem gängigen Bild des Lehrer*innenberufs, über Schuldzuweisungen an andere, vermeintlich schlechtere Pädagog*innen bis hin zu ironischen Auseinandersetzungen und der Forderung nach differenzierteren Beschreibungen reichen.9 Wie verhalten sich nun Lehrkräfte in BerlinNeukölln und Wedding zu diesen grundlegenden, an ihren Schulen jedoch besonders ausgeprägten Dilemmata ihres Berufsstandes? Wie sehen sie die Institution Schule und ihre pädagogische Aufgabe darin? Um diesen Fragen nachzugehen, lohnt es sich, sie zunächst nach ihrem ersten Eindruck von der Schule zu fragen. Herr Steiß: Als ich hier 1980 in Neukölln ankam, das ist jetzt auch schon 33 Jahre her, war ich vom ersten Tag an schockiert. Schockiert über das Verhalten der Schüler und über ihren geringen Leistungsstandard. Eine 8 V gl. Bellenberg/Brahm: Verachtung der Pädagogik und gesellschaftliche Selektion, S. 234. 9 Vgl. Paseka: Selbstthematisierungen von Lehrerinnen und Lehrern.
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solche Schule wäre in Rheinland-Pfalz, wo ich damals herkam, wahrscheinlich sofort geschlossen worden. Dann habe ich mich irgendwie auf die Situation eingestellt, versucht mich mit den ganzen Defiziten der Schüler mehr oder weniger abzufinden, sie pädagogisch anzunehmen und bestmöglich mit ihnen zu arbeiten. Sie also auf ihrem niedrigen Niveau abzuholen, damit hatte ich mal mehr, mal weniger Erfolg. Frau Schnur: Angefangen hier im Wedding habe ich 1981. Mein erster Eindruck war – schon damals – ganz fürchterlich. Also ich hatte das Gefühl, ich komme nach der Ausbildung an einer Grundschule nun in eine komplett andere Welt. Das war ganz, ganz schrecklich für mich. Vor allem der Leistungsstand der Schüler hat mich schockiert. Wenn man von der Uni kommt, dann hat man ganz bestimmte Ideen und Vorstellungen im Kopf, aber die konnte man hier gar nicht umsetzen, da die Schüler schon damals sehr wenig konnten, sehr wenig wussten und auch sehr wenig Hausaufgaben machten, sie auf neue Methoden, die man an der Uni gelernt hatte, auch überhaupt nicht ansprachen. Damals ging eigentlich nur Frontalunterricht und Klassenarbeiten, sonst konnte man die gar nicht bewerten. Die Erzählmuster dieser beiden älteren Lehrkräfte ähneln sich auffallend, es sind in erster Linie eindringliche Problem- und Defizitdiagnosen. Aus beschaulicheren Verhältnissen kommend hinterlassen die Hauptschulen in städtischen Armutsquartieren bei ihnen einen nachhaltigen Negativeindruck. Im Anschluss daran entspannen sich häufig Geschichten des Durchhaltens: Es wird eingeräumt, dass man »schon längst den Absprung« schaffen wollte und »auf keinen Fall länger als zehn Jahre an einer solchen Schule« bleiben sollte, aber auch berichtet, wie man sich dem Kollegium verbunden und den Schüler*innen gegenüber verantwortlich fühlte. Erstaunlicherweise wird die Situation nach dem desaströsen Start in der Regel nur noch schlimmer, trotz aller Bemühungen ergeben sich keine Verbesserungen, dem anfänglichen Schock folgt also der weitere Abstieg der Schule. So resümierte Frau Schnur in Bezug auf die Anna-Seghers-Schule: »Es ist eher schlechter geworden, ich fand es zwar damals schon furchtbar, aber in den letzten 30 Jahren ist der Leistungsabfall hier im Wedding einfach weitergegangen, die können noch weniger als damals.« Herr Steiß argumentierte in eine ähnliche Richtung und begründete dies damit, dass im Verlauf seiner Berufskarriere in Neukölln der Anteil von Schülern »nicht-
Rechtfertigung
deutscher Herkunft« und von »Hartz-IV-Familien« auf zuletzt jeweils über 90 Prozent angestiegen sei. Unter diesen Bedingungen prophezeit er, dass alle pädagogischen Bemühungen weiterhin am »niedrigen Sprachniveau« und der »sozialen Zusammensetzung« scheitern würden. Ohne die beschriebenen Problemlagen in Abrede stellen zu wollen, hat diese Argumentationsrichtung dennoch einen Beigeschmack. In die Klagen über das fehlende Niveau und die ungünstige Zusammensetzung der Schulklassen ist bereits ein Negativblick eingeschrieben. Die Defizite werden zudem einseitig bei den Schülern und Schülerinnen sowie deren Familien gesehen, während demgegenüber die Lehrer*innen eher an ihren zu hohen Ansprüchen scheitern. Die von mir interviewten Lehrer*innen reagierten auf die schwierigen Unterrichtsverhältnisse mittels unkonventioneller, von üblichen Unterrichtsmodellen deutlich abweichenden pädagogischen Methoden, etwa in Bezug auf das Disziplinarverhalten und die Notengebung. Die Anpassungsversuche an widrige Bedingungen waren selbst von Widersprüchen geprägt, etwa von Diskrepanzen zwischen dem offiziell geltenden Handyverbot und dem im Unterricht gelegentlich geforderten Einsatz von Smartphones als Stoppuhren oder Nachschlageinstrumente. Außerdem ergaben sich durch unterschiedliche Benotungspraktiken innerhalb des Lehrer*innenkollegiums immer wieder Kontroversen um eine angemessene pädagogische Einschätzung. So beharrte Herr Stiehl als Mathematiklehrer auf einem strikten und messbaren Objektivitätsprinzip, das er mit dem Argument verteidigte, er würde »den Schülern keinen Gefallen tun«, wenn sie später mit ihren mangelnden Kenntnissen in der Berufsausbildung scheitern würden. Frau Schnur berücksichtigte dagegen stärker den familiären Hintergrund und das soziale Verhalten der Heranwachsenden, sie vergab nach eigenen Angaben »eher Sozialnoten«. Doch auch diese unterschiedlichen Benotungsphilosophien selbst waren nicht widerspruchsfrei durchsetzbar. So stellte sich im ungeliebten Mathematikunterricht die Frage, wie »objektiv« Noten angesichts eines von den Schüler*innen weitgehend boykottierten Unterrichts überhaupt noch erhoben werden können. Bei »Sozialnoten« stellte sich das Problem einer angemessenen Einschätzung der sozialen Umstände, zudem spielten persönliche Neigungen hier eine besonders große Rolle. Schulunterricht ist ein komplexes sozio-materielles Gefüge, wobei die vorgeschriebenen pädagogischen Ordnungen und die tatsächlichen Unterrichtspraktiken der Lehrenden an keiner Schulform vollständig
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deckungsgleich sind.10 So wurde beispielsweise auch an Neuköllner Gymnasien beklagt, dass dort Unterricht im herkömmlichen Sinne angesichts der sozialen Umstände kaum umsetzbar sei.11 An der Weddinger Anna-Seghers- und der Neuköllner Galilei-Schule entwickelte sich jedoch über dieses Verfehlen pädagogischer Ideale hinaus eine Form des Unterrichtens, die man eher als eine Anti-Pädagogik bezeichnen könnte. Wissensvermittlung wurde dabei fast vollständig durch soziale Regulation ersetzt, eine am Ausnahmezustand ausgerichtete pädagogische Form wurde somit zur gängigen Unterrichtsstruktur dieses Schultyps.12 In dieser pathologischen Struktur zeigten sich gleichsam gewisse Muster und implizite Erwartungshaltungen. Diese hat der Erziehungswissenschaftler Hauke Straehler-Pohl herausgearbeitet, der kurz nach mir im Jahr 2009 an der Weddinger Anna-Seghers geforscht und sich dabei besonders auf das Vorgehen der Lehrer*innen fokussiert hatte.13 Dadurch konnte er zeigen, dass mittels eines massiven Herunterschraubens der Bildungsstandards – in dessen Folge beispielsweise die ausgeteilten Mathematik-Arbeitsblätter nicht mehr inhaltlich ausgefüllt, sondern lediglich farbig ausgemalt werden sollten – die Schüler*innen in eine Pädagogik des Scheiterns hineinsozialisiert wurden. Damit wurden einerseits die negativen Vorannahmen über ihre kognitiven Fähigkeiten bestätigt und gleichzeitig die weitgehende Auf kündigung des Bildungsauftrags pädagogisch gerechtfertigt. Das Problem bestand nun vor allem darin, die Schüler*innen zum angemessenen Umgang mit einer solchen, weitgehend inhaltsleeren Pädagogik anzuleiten. Die Heranwachsenden sollten dabei weder die Arbeitsblätter einfach f leißig ausmalen, denn durch eine völlig problemlose Aufgabenerfüllung würde lediglich die Absurdität des pädagogischen Auftrags hervortreten, noch sollten sie die Aufgabe widerspruchslos hinnehmen, da sonst der gegen sie in Stellung gebrachte Disziplinarapparat völlig unverhältnismäßig erscheinen würde. Eine solche Hauptschulpädagogik »verlangt von den Schülerinnen und Schülern zum einen genau das richtige Maß an oppositionellem Verhalten, um eine Pädagogik zu rechtfertigen, die eher auf Disziplinierung denn auf Bemächtigung zielt, und zum anderen verlangt sie genau das richtige 10 Vgl. Franken: Unterrichten als Beruf. 11 Vgl. Rogg: Nordneukölln. S. 55. 12 Vgl. Straehler-Pohl/Gellert: Pathologie oder Struktur? 13 Ebd.
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Maß zwischen Erfolg und Scheitern an den Mathematikaufgaben, um eine Didaktik zu rechtfertigen, die von exzessiv verminderten Erwartungen geprägt ist.«14 Eine solche Unterrichtspraxis ging mit einer allmählichen Neuausrichtung des pädagogischen Selbstbildes einher. Viele Pädagog*innen verstanden ihre Arbeit aufgrund des Verzichts auf Bildungsambitionen sowie aufgrund der zahlreichen Kontakte mit Jugendämtern, Einzelfallhelfer*innen, Familienbetreuer*innen und Psychotherapeut*innen letztlich eher als eine didaktisch angereicherte Form der Sozialarbeit. Der Aspekt der Wissensvermittlung und der pädagogischen Erziehung im engeren Sinne geriet dadurch in den Hintergrund, disziplinarische Aspekte rückten in den Vordergrund und die Lehrer*innenrolle wurde mehr und mehr zu der eines Krisenmanagers umgedeutet. Gleichzeitig musste diese Auf kündigung des schulkonstitutiven Bildungsauftrages eher im Stillen vollzogen werden, um die Bildungsfassade des schulischen Staatsapparats weiterhin aufrechtzuerhalten. Aus diesem neuen Berufsverständnis ergaben sich Spannungen, so wurde das Zeitmanagement zwischen pädagogischen und betreuerischen Aufgaben zu einer der größten alltäglichen Herausforderungen. Zugleich ergab sich eine Konkurrenzsituation mit den Sozialarbeiter*innen, die an den neugeschaffenen Sekundarschulen zumeist nur noch auf Projektbasis beschäftigt und somit in ihren Handlungsmöglichkeiten massiv eingeschränkt waren. Angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung des pädagogischen Handlungsfelds gewinnt die Frage nach der Zusammenarbeit unterschiedlicher pädagogischer Berufsgruppen vor allem in sogenannten »Problemschulen« an Bedeutung. Katharina Kunze zeigt in diesem Zusammenhang, dass sich die Zuständigkeiten von Sozialarbeiter*innen und Lehrer*innen nicht eindeutig voneinander trennen lassen, sich in der schulischen Praxis vielmehr uneindeutige, nicht klar voneinander abgrenzbare Teilzuständigkeiten ausmachen lassen.15
14 Ebd., S. 236. 15 Vgl. Kunze: Kooperation, Kollegialität und funktionale Differenzierung.
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Selbstheroisierung. Helden des Chaos Fragt man danach, welches Bild Lehrer*innen in urbanen Ballungsräumen von sich selbst in der Öffentlichkeit gerne zeichnen, lohnt sich ein Blick auf das populäre Buchgenre des zumeist autobiografisch verfassten Schulreports. In diesen publizistischen Erfahrungsberichten von Lehrer*innen aus sogenannten »Problemschulen« taucht immer wieder das Motiv des Helden inmitten des Chaos auf, der selbst auf verlorenem Posten weiter heroisch die Stellung hält. So heißt es in einer typischen Buchankündigung: »Zum Glück hat Frau Freitag den Überblick und lotst ihre Klasse durch das Chaos«. Dieses Sachbuchgenre, bei dem Lehrer*innen auf unterhaltsame Weise vom Schulalltag unter schwierigen Bedingungen berichten, hatte zur Zeit meiner Forschung eine besondere Blütezeit, das Buch Chill mal, Frau Freitag landete 2011 sogar auf Platz Eins der Spiegel-Bestsellerliste. Allein in der Zeit meiner Feldforschungen um 2010 herum kamen noch mindestens ein halbes Dutzend weiterer populärer Bücher heraus, in denen in sozial benachteiligten Stadteilen tätige Pädagog*innen von den Zumutungen ihres Berufsstandes berichteten: Kopfschüsse. Wer PISA nicht versteht, muss mit RÜTLI rechnen von Brigitte Pick (2007), Nordneukölln. Frontbericht aus dem Klassenzimmer von Ursula Rogg (2008), Voll streng, Frau Freitag. Neues aus dem Schulalltag von Frau Freitag (2012), Manchmal schauen sie so Aggro. Geschichten aus dem Schulalltag – eine Lehrerin erzählt von Hildegard Monheim (2012) sowie Schab nix gemacht! Geschichten aus der Hauptschule von Kai Lange (2013). Bereits um 1900 hatte es, einem ersten Professionalisierungsschub folgend, einen ähnlichen Boom von Lehrer*innenbüchern gegeben, in welchen vorwiegend geglückte beruf liche Lebensläufe geschildert wurden.16 In der Neuauf lage dieser professionellen Selbstbeschreibungen um die Jahrtausendwende wird das Ideal des Lehrer*innenberufs zwar immer noch angepriesen, doch dominiert nun die Ohnmacht angesichts als unhaltbar empfundener pädagogischer Rahmenbedingungen. Die Bücher schwanken zwischen Idealismus, Alarmismus und »Galgenhumor«. Sie zeichnen ein düsteres Bild der deutschen Bildungslandschaft und führen die drastischen Folgen von sozialen Spaltungen vor Augen. So wird beispielsweise der Schauplatz Neukölln wie 16 V gl. Reh/Scholz: Verachtungserfahrungen in der Selbstthematisierung der Profession und der Professionellen.
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folgt beschrieben: »Bildung in Neukölln, das heißt, dass ein Drittel aller Schulabgänger ohne Abschluss geht, dass 40 Prozent der Nordneuköllner ohne Berufsabschluss sind und es unter jungen Erwachsenen bis 26 Jahren derzeit eine Arbeitslosenquote von 47 Prozent gibt«.17 Diese Sozialindikatoren korrespondieren zumeist mit negativen schulischen Verhaltensweisen, denen die Lehrer*innen mit einem besonderen beruf lichen Ethos begegnen – so zumindest in der Selbstbeschreibung von Hildegard Monheim: Es wird gelogen und zu spät gekommen, was das Zeug hält. Es werden Aufgaben nicht erledigt und Absprachen nicht eingehalten, dass man an der Welt verzweifeln könnte. Aber wir Lehrer tun etwas dagegen. Wir werden nicht müde, zu Pünktlichkeit, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit zu erziehen. Wir zeigen auf, dass das (Zusammen-)Leben besser funktioniert, wenn man sich auf das Wort des anderen verlassen kann und man den anderen nicht warten lässt. Wir erzählen gebetsmühlenartig, wie wichtig gewisse Verhaltensweisen am Arbeitsplatz sind. Und wir gehen mit gutem Beispiel voran.18 Beschworen wird hier ein verzweifelter, doch niemals ermüdender Kampf für das Gute, für die moralische Erziehung einer weitgehend degenerierten Schüler*innenklientel. Der einzige Lichtblick sind dabei die Lehrer*innen selbst, die als moralisch reine Tugendlotsen, als die letzten Streiter für ein gelingendes Zusammenleben erscheinen. Doch trotz ihrer fast unendlichen Geduld und Ausdauer drohen auch sie zunehmend von der Last ihrer Aufgabe erdrückt zu werden. Gleichzeitig sollen diese Bücher unterhalten, charakteristisch sind deshalb zudem absurd-amüsante Berichte von total verpeilten, zumeist aber doch irgendwie liebenswerten Schüler*innen. Besonders bekannt für diesen Schreibstil wurde Frau Freitag, die in pointierten Szenen wie dieser den Schulalltag in Berlin-Neukölln darstellt: »Hat sich eigentlich schon jemand von Euch irgendwo beworben?« Stille Dann gezielte Anfrage an Elif: »Elif, was willst Du werden?« »Beim Arzt.« 17 Vgl. Rogg: Nordneukölln, S. 122. 18 Mohnheim: Manchmal schauen sie so Aggro, S. 89.
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»Gut, und warum hast du noch keine Bewerbung abgeschickt?« »Wer nimmt denn mit Kopftuch, Frau Freitag?« »Na, vielleicht ein türkischer oder arabischer Arzt.« »Aboo, bei türkischer Arzt wissen Sie, was da immer los ist? Da kommen immer so viele Leute.« Kann ich mir vorstellen, wenn ich mir allein die gesammelten Krankschreibungen meiner Schüler anschaue.19 Symptomatisch an diesen Schilderungen ist, dass die Witze vornehmlich auf Kosten der Schüler*innen gemacht werden, indem deren Desorientierung und sprachliche Limitierung auf süffisante Weise vorgeführt werden. Angesichts des plauderhaften Tons und der vorgeblichen Sympathie für die Jugendlichen kann dabei leicht aus dem Blick geraten, dass es sich um eine für die Lehrerin äußerst schmeichelhafte Darstellung handelt. So heißt es mit Bezug auf die eben zitierte Szene: »Außer Frau Freitag macht sich keiner Sorgen um die Zukunft«, womit gleichsam die erhebliche Diskrepanz zwischen einem besonders abgesicherten Berufsstand und mit Prekarität konfrontierten Schüler*innen leichthändig übergangen wird. Auch die in der Passage angedeutete rassistische Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt wird heruntergespielt, indem fälschlicherweise davon ausgegangen wird, die Probleme auf dem Arbeitsmarkt ließen sich mit mehr Einsatz bei den Bewerbungen beheben. In der Regel scheiterten die von mir begleiteten Absolvent*innen trotz zahlreicher Bewerbungsversuche bei der Ausbildungsplatzsuche, was für diese mit enormen emotionalen Belastungen verbunden war. Statt auf die Rassismuserfahrungen der kopftuchtragenden Schülerin einzugehen, wird ihr zudem empfohlen, sich bei Bewerbungen auf die eigene migrantische Community zu fokussieren. Damit werden rassistische Strukturen implizit legitimiert, die dominante nationalkulturelle Ordnung im Unterrichtsgespräch reifiziert. Noch bedenklicher als das Sich-lustig-Machen über die eigenen Schüler*innen ist deren mehr oder minder offene Abwertung, die sich in vielen dieser Berichte findet und gewissermaßen die notwendige Kehrseite der eigenen Heldensaga bildet. So schildert Kai Lange in der Eingangspassage von »Schab nix gemacht!« seinen Eindruck der Heranwachsenden und sein Selbstverständnis als Autor mit folgenden Worten: 19 Frau Freitag: Voll streng Frau Freitag, S. 54.
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Das Leben unserer Schüler ist geprägt von chaotischen Familienverhältnissen, überforderten oder desinteressierten Eltern oder dürftigen Deutschkenntnissen. Es liegt mir fern, diese Kinder und Jugendliche bloßzustellen. Aber es sind – man kann es drehen, wie man will – im Großen und Ganzen schlichte Gemüter, mit denen wir es zu tun haben. Und diese Tragik hat immer wieder amüsante Anekdoten im Gepäck, nicht zuletzt deshalb, weil auch wir Lehrer unter diesen erschwerten Bedingungen Tag für Tag zu bestehen haben. Wer heute in städtischen Hauptschulen unterrichtet, wird sich zwischen Lachen und Weinen entscheiden müssen. Letzteres ist vielleicht besser für das pädagogische Gewissen, aber auf die Dauer ungesund.20 Nachdem das pädagogische Gewissen gleich zu Anfang des Buches verabschiedet wurde, heißt es auf den folgenden Seiten unter anderem, seine Schüler hätten »ziemlich viel Matsch im Kopf« (S. 8), zwei besonders »missratenen Söhne« werden für ihr »dummdreistes, distanzloses und dämliches Paschatum« (104) kritisiert. Das Buch ist voll von Klassismus, Rassismus und Sexismus, so wird ein ethnisch deutscher Schüler als »dieses etwas pummelige Frittenkind« vorgestellt. Auf den vonseiten migrantischer Eltern gemachten Vorwurf der »Ausländerfeindlichkeit« reagiert der Autor mit einem empörten Gegenangriff: »In der Tat: Was ich an vielen mir bekannten Türken kritisiere, ist, dass sie ständig denken, jemand hätte etwas gegen sie, weil sie Türken sind. Sie sind permanent beleidigt.« (123f.) Gutaussehende weibliche Schülerinnen werden dagegen als »anmutige Mädchen« (53) beschrieben, in Bezug auf ein Flüchtlingsmädchen, dem Kai Lange besonders »nahe« gekommen war, heißt es: »Ich war der erste Mann, der sich ihrer angenommen hatte.« (58) Bedenklich erscheint auch, dass selbst in solchen biografischen Berichten, die bekanntlich immer ein Stück weit der Imagepf lege dienen, verachtende pädagogische Verhaltensweisen an der Tagesordnung sind, was für deren weitreichende Normalisierung im Schulalltag spricht. So beschimpft Kai Lange einen Schüler mit »Ey, du Arschloch« und »Halt die Schnauze!« (141), um sich danach selbst dafür zu beglückwünschen, er hätte »genau die Sprache gesprochen, die er in diesem Moment verstand.« (142) Auch die mehrfach angewendete Methode, aufmüpfigen Schülern mit einer Versetzung auf die Sonderschule zu drohen, um sie gefügig zu machen, wird als eine Art päd20 L ange: Schab nix gemacht!, S. 8.
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agogisches Geheimrezept für Hauptschullehrer*innen empfohlen. An der von mir untersuchten Weddinger Anna-Seghers-Schule diente der Verweis auf die »Sonderschule« ebenfalls als ein mögliches Instrument, um besonders missliebige Schüler*innen loszuwerden, wofür man diese als »nicht schulreif« oder »nicht beschulbar« kategorisierte. Am Ende lobt Lange sich und seine Lehrer*innenkollegien an verschiedenen Hauptschulen im Ruhrgebiet noch für ihren großen »Idealismus« (247). In einem Literaturessay in der ZEIT mit dem Titel »Lehrer am Rande des Zusammenbruchs« verwies Ulrich Rüdenauer im Jahr 2012 auf eine erstaunliche Renaissance des Lehrer*innenromans, welche etwa parallel zur eben beschriebenen Inf lation von Lehrer*innenberichten im Sachbuchgenre verlief. Auch in diesen Romanen, die häufig ebenfalls autobiografische Züge tragen, taucht das Helden-Motiv wieder auf: »Aus den Zuchtmeistern und Klassenzimmertyrannen von einst werden Opfer: Die jüngste deutsche Literatur entdeckt den Lehrer als tragischen Helden.«21 Die Tragik des Lehrer*innenberufs besteht dabei darin, immer wieder an den widrigen sozialen Umständen zu scheitern, das Heldenhafte zeigt sich im Versuch, es trotzdem immer wieder zu versuchen. Hauptschullehrer*innen treten in den Büchern als Spezialisten für die besonders hoffnungslosen Fälle auf. Über die so konstruierten Heldenfiguren werden letztlich Abwertungen normalisiert. Die Schüler*innen nehmen dabei die Rolle eines ambivalenten Gegenübers ein, sie sind sowohl die zu Beschützenden als auch die Gegner. Doch im Motiv des tragischen Helden ist bereits angelegt, dass auch dessen Kräfte irgendwann erlahmen werden.
Am Limit. Überlastung und Burnout Die Versuche, sich in einem von Armut und Zukunftslosigkeit geprägten pädagogischen Umfeld zu behaupten, können nur bis zu einem gewissen Grad gelingen, Lehrer*innen stoßen dabei immer wieder an ihre motivationalen, körperlichen und psychischen Grenzen. Die damit verbundenen Belastungen werden individuell sehr unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet, doch nach mehreren Berufsjahren an einer Haupt- oder Sekundarschule klagen viele über starke Erschöp21 V gl. Ulrich Rüdenauer: Lehrer am Rande des Nervenzusammenbruchs, In: DIE ZEIT, 25.4.2012.
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agogisches Geheimrezept für Hauptschullehrer*innen empfohlen. An der von mir untersuchten Weddinger Anna-Seghers-Schule diente der Verweis auf die »Sonderschule« ebenfalls als ein mögliches Instrument, um besonders missliebige Schüler*innen loszuwerden, wofür man diese als »nicht schulreif« oder »nicht beschulbar« kategorisierte. Am Ende lobt Lange sich und seine Lehrer*innenkollegien an verschiedenen Hauptschulen im Ruhrgebiet noch für ihren großen »Idealismus« (247). In einem Literaturessay in der ZEIT mit dem Titel »Lehrer am Rande des Zusammenbruchs« verwies Ulrich Rüdenauer im Jahr 2012 auf eine erstaunliche Renaissance des Lehrer*innenromans, welche etwa parallel zur eben beschriebenen Inf lation von Lehrer*innenberichten im Sachbuchgenre verlief. Auch in diesen Romanen, die häufig ebenfalls autobiografische Züge tragen, taucht das Helden-Motiv wieder auf: »Aus den Zuchtmeistern und Klassenzimmertyrannen von einst werden Opfer: Die jüngste deutsche Literatur entdeckt den Lehrer als tragischen Helden.«21 Die Tragik des Lehrer*innenberufs besteht dabei darin, immer wieder an den widrigen sozialen Umständen zu scheitern, das Heldenhafte zeigt sich im Versuch, es trotzdem immer wieder zu versuchen. Hauptschullehrer*innen treten in den Büchern als Spezialisten für die besonders hoffnungslosen Fälle auf. Über die so konstruierten Heldenfiguren werden letztlich Abwertungen normalisiert. Die Schüler*innen nehmen dabei die Rolle eines ambivalenten Gegenübers ein, sie sind sowohl die zu Beschützenden als auch die Gegner. Doch im Motiv des tragischen Helden ist bereits angelegt, dass auch dessen Kräfte irgendwann erlahmen werden.
Am Limit. Überlastung und Burnout Die Versuche, sich in einem von Armut und Zukunftslosigkeit geprägten pädagogischen Umfeld zu behaupten, können nur bis zu einem gewissen Grad gelingen, Lehrer*innen stoßen dabei immer wieder an ihre motivationalen, körperlichen und psychischen Grenzen. Die damit verbundenen Belastungen werden individuell sehr unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet, doch nach mehreren Berufsjahren an einer Haupt- oder Sekundarschule klagen viele über starke Erschöp21 V gl. Ulrich Rüdenauer: Lehrer am Rande des Nervenzusammenbruchs, In: DIE ZEIT, 25.4.2012.
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fung und berufsbedingte gesundheitliche Beschwerden. In Berlin lag der Anteil der Ausscheidungen aus dem Lehrer*innenberuf aufgrund von Dienstunfähigkeit im Jahr 2018 bei etwa 30 Prozent und somit etwa gleichauf mit der Zahl der regulären Pensionierungen.22 An der Weddinger Anna-Seghers-Schule hatte zur Zeit meiner Forschung ein Großteil der Lehrer*innen einen Versetzungsantrag gestellt, sie unterrichteten also eher widerwillig an dieser als besonders problembelastet geltenden Schule. An die Neuköllner Galilei-Schule waren ebenfalls eine ganze Reihe von Pädagog*innen nicht freiwillig gekommen, einige waren aus anderen Schulen (straf)versetzt worden, andere versuchten sich der täglichen Arbeit möglichst häufig zu entziehen. Der Direktor der Galilei-Schule unterschied bei der schwankenden Zahl der mehr oder minder »dauerkranken« Pädagog*innen zwischen drei Fallgruppen: Von den älteren, mittlerweile ausgelaugten Lehrkräften waren viele den enormen alltäglichen Belastungen aus seiner Sicht nicht mehr gewachsen. Dann gab es ihm zufolge die »normalen« Krankheitsfälle von kürzerer oder längerer Dauer, wie Grippe- oder Krebserkrankungen. Und schließlich kamen noch diejenigen hinzu, die »aus anderen Gründen« nicht in der Schule erschienen: Alkoholabhängige, sogenannte »Montagskranke« und solche, die einfach ohne ärztliches Attest zu Hause blieben. Die Folge war ein erheblicher Unterrichtsausfall. Im Schuljahr 2012/13 fiel an der Neuköllner Schule eine der beiden Sportlehrerinnen und mit ihr auch die Hälfte des Sportunterrichts während des gesamten zehnten Schuljahres aus. Auch im Fach Biologie klaffte eine große Lücke, da seit Jahren keine pädagogisch qualifizierte Lehrkraft für diesen Schulstandort gewonnen werden konnte. Insgesamt fielen im Schuljahr 2012/13 im Bezirk Neukölln offiziell 6.270 Unterrichtsstunden aus, das waren 13 Prozent des gesamten Unterrichtsangebots.23 Die Mehrheit der Lehrer*innen arbeitete an den untersuchten Schulen unter schwierigen Bedingungen mit großem persönlichem Einsatz. Auch für sie war die hohe Zahl der abwesenden Kolleg*innen eine Zumutung, die mit enormen zusätzlichen Belastungen einherging. Sie beklagten, dass der kollegiale Zusam22 V gl. Abgeordnetenhaus Berlin: Entwicklung der Anzahl der Lehramtsstudenten, Lehramtsabsolventen, Referendariatsplätze, Lehrereinstellungen seit der Umstellung auf den Masterabschluss im Jahr 2004, Drucksache 18/16075, 4.9.2018. 23 V gl. Abgeordnetenhaus Berlin: Unterrichtsausfall in Berliner Schulen, Drucksache 17/14650, 25.9.2014.
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menhalt darunter leide und ihre eigenen Unterrichtsziele kaum mehr zu verwirklichen seien, wenn ständig kurzfristig Vertretungsstunden übernommen, Gruppen zusammengelegt oder fachfremder Unterricht erteilt werden müsse. Auch die mühsamen Versuche, die ebenfalls dürftige Anwesenheitsquote der Schüler*innen zu verbessern, würden dadurch unterminiert. Schon Gilles Deleuze hat in seiner Diskussion der berühmt gewordenen Arbeitsverweigerung von Hermann Melvilles literarischer Figur des Schreibgehilfen »Bartleby« auf den ansteckenden Charakter der Lustlosigkeit anderer hingewiesen.24 Die klare Trennung der Fallgruppen durch den Direktor kann auch als institutionelle Verteidigungsstrategie verstanden werden, denn die Motive und Gründe des Nichterscheinens waren keineswegs immer so eindeutig auszumachen, wie damit suggeriert wird. Durch die eindeutige Unterscheidung zwischen Erschöpfung, Krankheit und Antriebslosigkeit mitsamt der damit verbundenen moralischen Bewertung sollte wohl eher verhindert werden, dass es zu einer Ununterscheidbarkeit von verwerf licher Lustlosigkeit und legitimer Arbeitsverhinderung kommt, denn mit dieser würde gleichsam der innere Zusammenbruch der Institution drohen. Ähnlich wie bei mancher Lehrkraft gab es auch bei Bartleby häufig keine wirkliche Begründung für das arbeitsbezogene »I would prefer not to« und auch der Direktor hatte nur sehr beschränkte Möglichkeiten, um wirkungsvoll darauf zu reagieren. So verloren verbeamtete Lehrer*innen im Gegensatz zum sozial ausgestoßenen Bartleby durch ihre Schulabstinenz keineswegs ihre gesellschaftliche Stellung, vielmehr hatten sie beträchtlichen Spielraum, ihre Arbeit zu verweigern ohne Einkommens- oder Statusverluste befürchten zu müssen. Als einer der Hauptgründe für nachlassende beruf liche Motivation wurde immer wieder das unglückliche Verhältnis von pädagogischem Aufwand und schulischem Ertrag hervorgehoben. Eine Neuköllner Lehrerin brachte dieses Grundproblem auf den Punkt: »Was mich eigentlich am meisten nervt, ist, dass man so viel Arbeit reinsteckt und so wenig bei rauskommt – das ist so frustrierend!« Einerseits wuchs aus ihrer Sicht der Berg an pädagogischen und administrativen Aufgaben: Mit der Berliner Schulstrukturreform erhöhte sich für viele die zu unterrichtende Stundenzahl, während sich gleichzeitig der Betreuungsschlüssel verschlechterte, auch die Dokumentationspf lichten 24 Vgl. Deleuze: Bartleby oder die Formel.
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und Leistungsstandmessungen hatten in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Hinzu kam noch die bereits erwähnte Übernahme von sozialpädagogischen Betreuungs- und Vermittlungsaufgaben, die sich auch durch den Wegfall der festangestellten schulischen Sozialarbeiter*innen ergaben. Andererseits führten diese Bemühungen kaum zu sichtbaren Erträgen: Die Erfolgsaussichten der Schüler*innen auf dem Arbeitsmarkt blieben auch nach der Schulreform miserabel. Viele Jugendliche reagierten darauf mit Schuldistanz und wütenden Angriffen auf das Lehrpersonal. Die Folge war ein angespanntes, von ständigen Disziplinarkonf likten geprägtes Schulklima. Hinzu kam die bereits erwähnte geringe gesellschaftliche Anerkennung und die weitgehende inhaltliche Entleerung des Unterrichts. Dass Lehrer*innen die Lust an der Arbeit verloren, hatte also vor allem strukturell bedingte Gründe. Auch in körperlicher Hinsicht gelangten viele von ihnen an die Grenzen des Machbaren. In kulturanthropologischen Studien wurde der Körper zuletzt verstärkt als ein expressives Medium verstanden, in das soziale Normen und gesellschaftliche Bedingungen eingeschrieben, diese jedoch auf kontingente Weise verarbeitet werden.25 Viele körperliche Beschwerden hingen eng mit den hohen beruf lichen Belastungen zusammen, auch wenn die Umgangsweisen damit stark divergierten. Herr Busch: Meine körperlichen Beschwerden haben in den letzten Jahren leider zugenommen. Auf dem rechten Ohr höre ich kaum noch was, hatte vor einer Weile einen Hörsturz aufgrund der enormen Geräuschbelastung hier. Die Schule ist für diese hohe Schülerzahl nicht ausgerichtet, hier wurden kürzlich im Treppenhaus zwischen 80 und 120 Dezibel gemessen. Da müsste man eigentlich einen Ohrschutz tragen. Ich muss mir jetzt mehr Freiräume schaffen, sonst hält man diese Belastung nicht durch. Hinzu kommen ja auch diese ständigen Reformen, immer wieder kommen kurzfristig neue Anforderungen hinzu und wir können einfach nicht in Ruhe unsere Arbeit machen. Mittlerweile habe ich auch schon Herzrhythmusstörungen, wahrscheinlich durch den hohen Pulsschlag hier bei der Arbeit. Diese Beschwerden sammeln sich allmählich an. Vor allem jetzt, wo ich älter werde – bin ja mittlerweile auch schon 55 – steckt man das nicht mehr so leicht weg. Wenn man engagiert ist und ein guter Lehrer sein will, vielleicht auch mal ein Ex25 V gl. Van Wolputte: Hang on to your Self; Mascia-Lees (Hg.): A Companion to the Anthropology of the Body and Embodiment.
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tra-Angebot auf die Beine stellt, dann arbeitet man stets am Limit. Also ich bin einfach schon ziemlich fertig, bis zur Rente halte ich das nicht mehr durch. Der als engagiert und beliebt geltende Sportlehrer stellt selbst eine direkte Verbindung zwischen kontextuellen Bedingungen, wie der unzureichenden sozialräumlichen Ausstattung, sowie den durch die Schulreformen entstandenen Mehrbelastungen und seinen somatischen Reaktionen her. Andere Lehrer*innen beklagten ebenfalls die Lärmbelastung als besonderen Stressfaktor, auch Hörprobleme gehörten zu den üblichen Symptomen. Bei manchen war das Hörvermögen durch die Lärmbelastung bereits so weit abgesunken, dass sie frühpensioniert werden mussten. Andere überlegten, sich ein Hörgerät zuzulegen, sahen aber auch die dadurch bedingten Risiken angesichts der schwer kontrollierbaren, durch Schreie und knallende Türen bestimmten schulischen Geräuschkulisse. Übrigens wird eine Geräuschkulisse ab 80 Dezibel ansonsten üblicherweise auf Hauptverkehrsstraßen gemessen, während 120 Dezibel dem Lärmpegel einer Kettensäge oder eines Presslufthammers entsprechen. Ermüdung und Erschöpfung waren die Folge. Einige Lehrer*innen berichteten, dass sie nach Dienstschluss gegen 16 Uhr zu Hause erst einmal schlafen mussten, andere verwiesen auf chronische Verstimmungen und Verdauungsprobleme. Die körperlichen Belastungen hatten auch psychische Folgen, sie schränkten das Wohlbefinden mitunter massiv ein. Der Übergang von Ermüdungserscheinungen, von den ausgezehrten Kräften besonders zum Schuljahresende zu psychischen Symptomen und Erkrankungen war f ließend. Vor allem die Gefahr eines Burnouts erschien allgegenwärtig, dieser galt im Kollegium als ein typisches Berufsrisiko. So meinte Herr Busch: »Wenn man im Lehrerzimmer sitzt und sich die Leute anschaut, dann weiß man schon, wer kurz davorsteht. Sie werden dann immer blasser, Lachen nicht mehr, haben keine Zeit mehr zum Reden.« Zu diesen Anzeichen ließen sich durch die Fachliteratur zum Burnout noch weitere hinzufügen, mit Blick auf die körperlichen Symptome etwa Müdigkeit, Kopfschmerzen, Herzrasen, Schweißausbrüche und Schlaf losigkeit, hinsichtlich der Arbeitsweise eine leichte Reizbarkeit, zurückgehende Flexibilität sowie zunehmend misstrauische, paranoide und zynische Haltungen.26 Eine Burnout-Diagnose 26 Vgl. Freudenberger: Staff Burn-Out.
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umfasst daran anschließend in der Regel das Zusammenfallen von emotionaler Erschöpfung und Gefühlen der Überforderung, eine abgesunkene Leistungsfähigkeit sowie eine negative Grundhaltung den Mitmenschen und dem Beruf gegenüber.27 Trotz mitunter deutlicher Anzeichen mangelte es an einem kollegialen Austausch über psychische Erkrankungen. Auch von den Betroffenen selbst wurden die Symptome häufig zunächst nicht thematisiert, wie der erschütternde Erfahrungsbericht eines langgedienten Lehrers veranschaulicht: Herr Dombrowski: Nach zehn Jahren hatte ich eigentlich schon wechseln wollen. Das habe ich dann doch nicht gemacht, denn wir hatten da grad so ein sehr gut eingespieltes Team aufgebaut, das sich auch privat super verstand. Aber dann hat sich dieses Team irgendwann aus verschiedenen Gründen, die teilweise auch über die Schule hinausgingen, aufgebraucht und ist Stück für Stück auseinandergebrochen. Dann habe ich eben vor ein paar Jahren zwei Mal solche Sternchenklassen mit besonderem Förderbedarf gemacht. Weiß eigentlich auch nicht, warum das so kam. Und dann ging es vor anderthalb Jahren ziemlich bergab. Bei mir wurde zufällig bei einer Magen-Darm-Infektion ein starker Bluthochdruck festgestellt – 210 zu 110 – der Arzt wollte eigentlich gleich die Feuerwehr holen. Ist ja auch so eine typische Lehrer-Geschichte, das haben jetzt teilweise auch schon die Jüngeren. Tinnitus ist auch so ein ganz typisches Lehrerproblem, das hat hier im Kollegium mindestens ein Drittel. Das ist natürlich auch stressbedingt, vor allem wenn noch persönliche Konflikte dazukommen. Die eine aus meiner Sternchengruppe ist zum Beispiel in der Schulküche mit einem Messer auf ihre Mitschüler losgegangen, andere standen heftig unter Drogen. Das war wirklich immer eine Gratwanderung, vor allem wenn man selbst gesundheitlich schon etwas angeschlagen ist. Zu allem Überfluss kam noch eine Kollegin aus dem Osten dazu, die mit den ausländischen Schülern hier überhaupt nicht klarkam. Die saß neben mir und meinte nur: »Diese Schule würde ich abfackeln!« Da kam also einiges zusammen und am Ende war nichts mehr, was mir Spaß gemacht hat. Ich bin dann zur Schulleitung und wollte einen Antrag auf Dienstwechsel stellen, aber andere waren vorher schon wegen Burnout ausgefallen und wir hatten da grad einen extremen Personalmangel. Das ging dann so hin und her, bis dieser hohe Blutdruck herauskam. Ich habe mich erst 27 Vgl. Freudenberger/Richelson: Ausgebrannt.
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noch geweigert, ins Krankenhaus zu gehen, habe diese ganzen Anzeichen – ich hatte auch ständiges Augenflimmern – irgendwie verdrängt. Irgendwann kam ich dann trotzdem auf die Kardiologie. Habe in dieser Zeit kaum noch etwas geregelt gekriegt, war wie gelähmt. Ich hatte einfach das Gefühl, den Anforderungen nicht mehr zu genügen, natürlich auch wegen der katastrophalen Umstände hier. So ein Burnout hat ja auch depressive Züge – keine Kraft, kein Antrieb mehr, die Freunde kommen einem abhanden. Man sitzt einfach nur zu Hause, macht nichts mehr und fühlt sich auch noch schlecht dabei. Das war schon extrem. Irgendwann war mir klar, ich muss etwas grundlegend ändern, um wieder Kraft zu finden. Heute gehe ich an Sachen anders ran, habe meine Ernährung umgestellt, mich wieder mit Dingen außerhalb der Schule beschäftigt, auch mit Buddhismus und Astrologie. Es war ein ganzes Bündel von Ursachen, das zum Zusammenbruch dieses Lehrers führte: Erst verhindert die Solidarität im Kollegium den eigentlich geplanten Abschied, dann macht der allmählich abnehmende Zusammenhalt ihm das Leben zunehmend schwerer. Besonders belastete Klassenkollektive werden aus einer organisatorischen Logik heraus wieder an diejenigen delegiert, welche sich dieser Herausforderung bereits ohne Widerspruch gestellt haben. Schulischer Personalmangel trifft auf hohes Verantwortungsbewusstsein bei den Übriggebliebenen. Magenschmerzen gesellen sich zu Hörschäden und Bluthochdruck, doch werden diese körperlichen Warnsignale im Alltagsstress weitgehend verdrängt. Hinzu kommen noch zunehmendes Alter, fehlende Ablenkung und eine tendenziell ungesunde Ernährung. In der Zusammenschau ergibt sich eine gewisse Zwangsläufigkeit, der Burnout erscheint unter diesen Rahmenbedingungen unausweichlich, sein Eintreten lediglich eine Frage der Zeit. Auch wenn individuelle Faktoren hineinspielen, so sind es doch maßgeblich die in dieser Rückschau angedeuteten institutionellen Bedingungen, welche die Erkrankung hervorbringen. Demnach handelt es sich bei solchen Depressionserscheinungen um gesellschaftlich produzierte, um politische Gefühle, wie Ann Cvetkovich in ihrem Buch Depression. A Public Feeling argumentiert. Seit den 1970er Jahren wurden Burnout-Erscheinungen zunächst primär im medizinischen, pädagogischen und therapeutischen Be-
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reich beobachtet.28 In diesen sogenannten Helfermilieus gab es einerseits viel Engagement und Idealismus, gleichzeitig war aber auch die Gefahr von beruf lichen Überlastungen und enttäuschten Erwartungen besonders groß. Seitdem haben sich berufsbedingte Depressionserscheinungen wie der Burnout auf weitere Berufsgruppen ausgeweitet. Medizinischen Statistiken zufolge hatte sich der Anteil psychischer Erkrankungen an der Arbeitsunfähigkeit vom Jahr 2000 bis zu meinen Feldforschungen um 2010 um 75 Prozent gesteigert, vor allem die Burnout-bedingten Ausfallzeiten waren in diesem Zeitraum um ein Vielfaches gestiegen.29 Die vor allem bei akuten stressbedingten Erschöpfungssymptomen angewandte Burnout-Diagnose hat sich auf diesem Weg mittlerweile zu einer Art Volkskrankheit entwickelt. Sie steht somit in einer Reihe anderer zeittypischer Krankheitsmuster, wie etwa der Neurasthenie des ausgehenden 19. Jahrhunderts.30 Depressive Erscheinungen wie der Burnout gelten als symptomatische Leiden für unsere gegenwärtige Gesellschaftsformation, sie erscheinen als psychische Reaktion auf gesellschaftliche Spannungsverhältnisse. Alain Ehrenberg spricht in seiner Studie über Das erschöpf te Selbst. Depression und Gesellschaf t in der Gegenwart von einer »Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht«.31 Das Motiv der Verantwortlichkeit verweist auf die enormen Erwartungen an Selbstinitiative, Flexibilität und Eigenverantwortung in neoliberalen Zeiten, die Gefühle der Minderwertigkeit ergeben sich daraus, diesem übermäßigen Anforderungskatalog kaum genügen zu können. Es handelt sich demnach auch um ein Leiden an einem einseitig unternehmerisch ausgerichteten Subjektivierungsmodell, ein Unbehagen am gesellschaftlichen Leistungsdruck. So verstanden bildet der Anstieg an Depressionen eine Kehrseite des wettbewerbsorientierten Kapitalismus.32 Gleichzeitig bietet unsere Gesellschaft kaum noch Wege, um mit Leidenserfahrungen und Leistungsausfall umzugehen. Die von Ann 28 Vgl. Neckel/Wagner (Hg.): Leistung und Erschöpfung. 29 V gl. Bundespsychotherapeutenkammer: BPtK-Studie zur Arbeitsunfähigkeit. Psychische Erkrankungen und Burnout, 2012. Zur Kritik an medizinischen Statistiken und Modellen vgl. Cvetkovich: Depression, S. 90ff. 30 Vgl. Kury: Von der Neurasthenie zum Burnout. 31 Vgl. Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst, S 15. 32 V gl. Menke/Rebentisch (Hg.): Kreation und Depression; Bröckling: Das unternehmerische Selbst.
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Cvetkovich rekonstruierte Geschichte der Acedia und Melancholie sowie die Ref lektionen von Sigmund Freud zu Trauer und Melancholie deuten an, was damit verloren gegangen ist. Cvetkovich wendet sich gegen Pathologisierungen des Motivationsverlusts, indem sie an historische Gefühlszustände erinnert, die Depressionserscheinungen ähneln, jedoch nicht den heute gängigen medizinischen Kategorisierungen entsprechen, die weder auf Krankheitsdiagnosen reduzierbar sind noch einer medikamentösen Behandlung überlassen werden sollten.33 Freud unterschied zwischen Trauer und Melancholie. Während erstere auf eine konkrete Verlusterfahrung wie den Tod einer geliebten Person verweist, zeichnet sich Melancholie eher durch Verstimmungen und Hemmungen, durch eine Herabsetzung der Leistungsfähigkeit sowie ein Absinken des Interesses an der Außenwelt aus.34 Depressionserscheinungen ähneln eher diesem Verständnis von Melancholie ohne komplett darin aufzugehen, zumal es in beiden Fällen zu einer Kränkung des Selbstwertgefühls kommt. In Freuds Lesart sind die damit verbundenen Selbstvorwürfe jedoch immer auch an andere gerichtet. Seinem Beispiel nach verbirgt sich etwa hinter dem Bedauern einer Frau, dass ihr Mann an eine so untüchtige Partnerin gebunden sei, auch eine kritische Einschätzung bezüglich der Untüchtigkeit ihres Mannes. Die hier geschilderten körperlichen Klagen und psychischen Leiden von Lehrer*innen sind so verstanden gleichzeitig auch Anklagen gegen die sie bedingenden schulischen Verhältnisse.
Rechtfertigungsordnungen. Meritokratie und kulturalisierende Zuschreibungen Gesellschaftliche Ordnungen bedürfen, vor allem wenn sie dauerhaft soziale Spaltungen hervorbringen, einer Legitimierung, einer moralischen Begründung, um anerkennungswürdig zu sein. Für den Philosophen Jürgen Habermas ergeben sich in der spätkapitalistischen Gesellschaft Krisentendenzen, wenn die Komplementarität zwischen den Anforderungen der Staatsapparate und des Beschäftigungssystems einerseits sowie den interpretativen Bedürfnissen und legitimen
33 Vgl. Cvetkovich: Depression, S. 85-114. 34 Vgl. Freud: Trauer und Melancholie.
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Cvetkovich rekonstruierte Geschichte der Acedia und Melancholie sowie die Ref lektionen von Sigmund Freud zu Trauer und Melancholie deuten an, was damit verloren gegangen ist. Cvetkovich wendet sich gegen Pathologisierungen des Motivationsverlusts, indem sie an historische Gefühlszustände erinnert, die Depressionserscheinungen ähneln, jedoch nicht den heute gängigen medizinischen Kategorisierungen entsprechen, die weder auf Krankheitsdiagnosen reduzierbar sind noch einer medikamentösen Behandlung überlassen werden sollten.33 Freud unterschied zwischen Trauer und Melancholie. Während erstere auf eine konkrete Verlusterfahrung wie den Tod einer geliebten Person verweist, zeichnet sich Melancholie eher durch Verstimmungen und Hemmungen, durch eine Herabsetzung der Leistungsfähigkeit sowie ein Absinken des Interesses an der Außenwelt aus.34 Depressionserscheinungen ähneln eher diesem Verständnis von Melancholie ohne komplett darin aufzugehen, zumal es in beiden Fällen zu einer Kränkung des Selbstwertgefühls kommt. In Freuds Lesart sind die damit verbundenen Selbstvorwürfe jedoch immer auch an andere gerichtet. Seinem Beispiel nach verbirgt sich etwa hinter dem Bedauern einer Frau, dass ihr Mann an eine so untüchtige Partnerin gebunden sei, auch eine kritische Einschätzung bezüglich der Untüchtigkeit ihres Mannes. Die hier geschilderten körperlichen Klagen und psychischen Leiden von Lehrer*innen sind so verstanden gleichzeitig auch Anklagen gegen die sie bedingenden schulischen Verhältnisse.
Rechtfertigungsordnungen. Meritokratie und kulturalisierende Zuschreibungen Gesellschaftliche Ordnungen bedürfen, vor allem wenn sie dauerhaft soziale Spaltungen hervorbringen, einer Legitimierung, einer moralischen Begründung, um anerkennungswürdig zu sein. Für den Philosophen Jürgen Habermas ergeben sich in der spätkapitalistischen Gesellschaft Krisentendenzen, wenn die Komplementarität zwischen den Anforderungen der Staatsapparate und des Beschäftigungssystems einerseits sowie den interpretativen Bedürfnissen und legitimen
33 Vgl. Cvetkovich: Depression, S. 85-114. 34 Vgl. Freud: Trauer und Melancholie.
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Erwartungen der Gesellschaftsmitglieder andererseits gestört wird.35 Spätestens mit den von PISA und anderen Bildungsstudien nachgewiesenen extremen Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem ist auch dieses in eine Legitimationskrise geraten.36 Die zunehmende Diskrepanz zwischen dem emanzipatorischen Selbstbild des auf klärerischen Bildungsverständnis und der exkludierenden Schulpraxis erzeugt für die im Schulsystem Beschäftigten einen enormen Rechtfertigungsdruck. Besonders für Lehrer*innen an Haupt- und Sekundarschulen ergibt sich daraus, wie bereits ausgeführt, ein beruf licher Zielkonf likt: Sie müssen einerseits den gesellschaftlich auferlegten Selektionsdruck auf eine für sich legitimierbare und gleichsam pragmatische Weise umsetzen, andererseits sollen sie unter den Bedingungen der schulischen Selektion wertschätzende pädagogische Beziehungen auf bauen und aufrechterhalten. Wie kann eine solche Verbindung des Unvereinbaren gelingen? Und wie kann sie gerechtfertigt werden? Die französischen Soziologen Luc Boltanski und Laurent Thévenot gehen in ihrem Buch Über die Rechtfertigung davon aus, dass Rechtfertigungsordnungen ein übergreifendes gemeinsames Prinzip erfüllen, einer Art moralischem Kompass folgen müssen, nachdem Bewertungen vorgenommen, verteidigt und kritisiert werden können.37 Demnach existieren in unserer Gesellschaft diverse gesellschaftliche Sphären oder Felder, in denen sich jeweils unterschiedliche normative Ordnungen mit dementsprechenden Gerechtigkeitsvorstellungen etabliert haben. Überträgt man diese plurale Konzeption von Rechtfertigungsordnungen auf schulische Kontexte, so zeigt sich, dass diese zwar die Klassenverhältnisse aufrechterhalten, doch zugleich den übergreifenden Idealen eines gemeinsamen Menschseins folgen sollen, sie sowohl den Geboten des Kapitalismus als auch des Humanismus verpf lichtet sind.38 An Berliner Hauptschulen war diese ohnehin kaum mögliche Balance spätestens seit den 1990er Jahren einseitig in Richtung Ausgrenzung und Ver35 V gl. Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus; Dammayr/Groß/ Rothmüller (Hg.) Legitimität. 36 V gl. Geißler: Die Illusion der Chancengleichheit im Bildungssystem – von PISA gestört. gl. Boltanski/Thévenot: Über die Rechtfertigung, Boltanski: Soziologie und So37 V zialkritik. gl. Imdorf: Rechtfertigungsordnungen der schulischen Selektion; Straehler-Pohl: 38 V Konventionen auf schwindendem Grund.
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achtung gekippt, die dort Heranwachsenden erhielten nicht nur keine Ausbildungsplätze mehr, sie wurden auch systematisch gedemütigt und sozialmoralisch abgewertet. Doch auch mit der Abschaffung der Hauptschule wurde dieser moralische Grundkonf likt nicht gelöst, weshalb sich auch weiterhin das Bedürfnis nach einer symbolischen Legitimierung sowie nach praktisch umsetzbaren Regelungen ergibt. Fragt man danach, welche Gerechtigkeitsprinzipien in der Institution Schule wirksam werden, fallen zwei eng miteinander verbundene Rechtfertigungsordnungen besonders auf, die zum einen meritokratischen Prinzipien folgen und zum anderen an kulturalistischen Zuschreibungen orientiert sind. Lehrer*innen sahen demnach sowohl im mangelnden Leistungsvermögen und der fehlenden Motivation ihrer Schüler*innen als auch in deren sozialem Umfeld und ihrer kulturellen Herkunft die hauptsächlichen Gründe für die offensichtliche Bildungsmisere. Beide Verantwortungszuschreibungen hatten für sie einen entlastenden Effekt: Sie rehabilitierten sich dadurch in moralischer Hinsicht, da die hauptsächlichen Problemursachen weiterdelegiert wurden, zugleich wurde dadurch weder das institutionelle Selbstverständnis noch die eigene Lehrpraxis grundlegend in Frage gestellt. Die Idee der Meritokratie, demnach Bildungserfolg aus besonderen Leistungen und persönlichen Verdiensten resultiere, beruht auf der realitätsfernen Vorannahme eines freien und fairen Bildungswettbewerbs.39 Im ideologischen Rahmen der Meritokratie gilt Schulerfolg als ein Ausdruck von Fleiß und Begabung, Misserfolg verweist dementsprechend auf persönliche und intellektuelle Defizite. Die damit verbundenen Verantwortungszuschreibungen verleihen den aus schulischen Hierarchisierungen entstehenden sozialen Bruchlinien einen vermeintlich gerechten Anstrich. Die aus unterschiedlich verlaufenden Schullauf bahnen resultierenden Statusunterschiede werden dadurch naturalisiert und individualisiert, letztlich also soziale Ungleichheiten legitimiert. Was dabei außer Acht gelassen wird, sind zum einen die äußerst ungleich verteilten außerschulischen Voraussetzungen für erfolgreiche Bildungsverläufe und zum anderen die besonders in schulischen Übergangsphasen wirksamen Diskriminierungen innerhalb des Schulsystems selbst. Neben der falschen Annahme eines fairen Wettbewerbs wurde zuletzt auch das Leistungsprinzip der Meritokratie aus 39 Vgl. Solga: Meritokratie; Becker/Hadjar: Meritokratie.
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moralphilosophischer Sicht in Zweifel gezogen. Michael Sandel zufolge verschärft die Meritokratie nicht nur die Trennung zwischen Gewinnern und Verlierern, sie ist auch schädlich für das Gemeinwohl, indem sie bei den Gewinnern zu Arroganz und Egoismus und bei den Verlierern zu Schamgefühlen und Ressentiments führe.40 Zudem verbinden sich meritokratische Zuschreibungen mit neoliberalen Imperativen zu einer Politik der Demütigung von sozial geächteten Gruppen. Das Prinzip der Meritokratie, die Annahme einer leistungsgerechten Verteilung gesellschaftlicher Güter, dient in diesem Kontext vor allem als ein ideologisch verschleiertes Herrschaftsinstrument. Damit Misserfolge in Schule und Beruf nicht den entsprechenden Institutionen angelastet werden, gelten viele Jugendliche offiziell als »unbeschulbar« oder als »nicht ausbildungsreif«. Schulverweise gelten dieser Logik nach als eine pädagogische Notwendigkeit und Jugendarbeitslosigkeit als natürliche Folge der mangelnden Reife der Heranwachsenden. Diese Argumentation wird f lankiert von mahnenden Hinweisen auf die »vielen ungenutzten Möglichkeiten«, bei denen stets auch eine sozialmoralische Anklage mitschwingt. In Bezug auf den »Entwicklungsstand« verweisen wohlmeinenden Pädagog*innen zumeist noch auf eine »besonders schwierige Altersphase«, vor allem bei männlichen Jugendlichen in der Postpubertät, während die weniger wohlmeinenden ihre Klientel pauschal als »Idioten« oder »Sonderschüler« abqualifizieren. Zur Beglaubigung dieser negativen Einschätzung dienen in den Rechtfertigungsnarrativen der interviewten Lehrer*innen immer wieder anschauliche Anekdoten aus dem Schulalltag, welche auf die mangelnden Einstellungen der Schüler*innenschaft oder gar deren kriminelle Neigungen verweisen. Solche Storys handeln etwa von besonders nachlässigen Schüler*innen, die morgens nur mit einem Kugelschreiber in der Hosentasche in den Unterricht kommen, oder von Extremfällen, wie dem nach einem Banküberfall von der Kriminalpolizei aus dem Unterricht gezerrten jungen Mann. Diese Geschichten mögen im Einzelfall durchaus stimmen, sie lenken den Blick jedoch systematisch von der Mitverantwortung der Schule für die Problemlagen ab. Am Beispiel der von Lehrer*innen immer wieder beklagten Schuldistanz und Schulabstinenz lässt sich dieser Beitrag der Institution Schule veranschaulichen. Die ablehnende Haltung gegenüber vielen 40 Vgl. Sandel: The Tyranny of Merit.
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schulischen Angeboten und die extrem hohen Fehlzeiten der Schüler*innen gelten immer wieder als ein Hauptindikator für deren mangelnde Verantwortungsübernahme. An der Neuköllner Galilei-Schule summierten sich die unentschuldigten Fehltage der älteren Jahrgänge offiziell auf durchschnittlich etwa einen Monat pro Schulhalbjahr, die tatsächliche Quote lag nach meiner Einschätzung noch einmal deutlich darüber. Neben den Schüler*innen wurden dafür auch deren Eltern in Haftung genommen: »Es liegt ganz viel am Elternhaus, wenn das nicht mitzieht, sind die Schüler meist schon verloren«, schilderte eine Neuköllner Lehrerin ihre Sichtweise des Problems. Die hohe Schulabstinenz hatte jedoch offensichtlich auch strukturelle Gründe, sie hatte wesentlich damit zu tun, dass die betroffenen schulischen Einrichtungen weder einen attraktiven Unterricht noch eine glaubhafte Zukunftsperspektive anbieten konnte und der Schulbesuch dadurch vielen als sinnlos erschien. Neben den mangelnden Zukunftsaussichten hatten auch die Beziehungen zu den jeweiligen Lehrpersonen einen großen Einf luss auf das Ausmaß der Schulabstinenz. Die Schüler*innen stellten die institutionelle Rechtfertigungsordnung durchaus in Frage, etwa indem sie im Unterricht den an sie gerichteten sozialmoralischen Vorwürfe offen widersprachen. Sie übten dabei zum Teil vehemente Kritik an einzelnen Lehrpersonen und der Institution Schule, übernahmen teilweise aber auch dominante Deutungsmuster. Dieses ambivalente Verhältnis aus Affirmation und Rebellion zeigte sich besonders deutlich beim Mathematikunterricht in der Neuköllner Galilei-Schule. Mariam: »Kann ich ein Geodreieck haben?« Herr Steiß: »Nein, die Arbeitsunterlagen musst Du schon selber mitbringen.« Mariam: »Ich hasse Schule. Dann mache ich einfach nichts. Ich kriege sowieso eine Sechs.« Theo: »Sie wird einfach nur Hartz IV, 20 Kinder und das war’s.« Mariam: »Ich hasse Schule!« Theo: »Sie haben Schuld wegen unserem Abschluss.« Herr Steiß: »Natürlich. Und dass ihr keine Geodreiecke mitbringt, daran bin ich auch schuld.« Zeinab: »Was, das ist benotet? Können Sie mir noch eine Chance geben. Ich dachte, wir machen das einfach so, ohne Note.«
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Herr Steiß: »Du hattest so viele Chancen, seit Du hier an der Schule bist. Andere in deinem Alter machen schon längst eine Ausbildung.« Theo: »Sitzenbleiber!« Herr Steiß: »Die Quoten sind so schlecht an dieser Schule. Das ist sehr nachteilig, wenn sich Schüler von dieser Schule bewerben. Das liegt auch an denen, die hierherkommen und keine Arbeitssachen mitbringen. Und keine Lust haben. Oder einfach gar nicht mehr kommen, wie so viele hier. Stimmt’s?« (manche Schüler nicken) Herr Steiß (malt Zahlen an die Tafel): »Unsere Schüler stehen im Jahrgangsranking fast alle unter den letzten 15 Prozent. Herr Schmidt vom Arbeitsamt meint, man muss 22 Prozent erreichen, um einen Ausbildungsplatz zu finden. Obwohl Arbeits- und Ausbildungsplätze da sind, bleiben sie unbesetzt, weil unsere Schüler die Anforderungen nicht erfüllen.« Theo: »Wegen Ihnen kriegen wir keinen Abschluss!« Herr Steiß: »Es ist immer gut, wenn man einen findet, der Schuld hat. Wenn man sich seine Schuld selbst nicht eingestehen will.« Die Schuldfrage wird hier am Beispiel des fehlenden Geodreiecks mit bemerkenswerter Offenheit gestellt und vom Lehrer zugleich auf eine sehr eindeutige Weise beantwortet: Die Schüler*innen sind demnach nicht nur selbst schuld an ihren miserablen Noten sowie ihrer misslichen Lage auf dem Arbeitsmarkt, sie sollen dieses vernichtende Urteil auch noch selbst im Klassengespräch bestätigen. Ein Teil der anwesenden Jugendlichen stimmt dieser Anschuldigung zu, wenn auch durch ein eher zurückhaltendes Kopfnicken. Die meritokratische Leitvorstellung, jeder sei für seinen Bildungserfolg selbst verantwortlich, wurde von der Mehrheit der von mir begleiteten Galilei-Schüler*innen selbst affirmiert. Auch von Umfragen wird dieser Befund bestätigt, wobei sich Höherqualifizierte als deutlich skeptischer erweisen.41 Bei der Einschätzung der Zustimmung gilt es jedoch unterschiedliche Skalierungen im Blick zu behalten: So wurden übergreifende moralische Leitvorstellungen häufig von den Schüler*innen prinzipiell affirmiert, während deren Umsetzung durch die Institution Schule anhand der eigenen Bildungslauf bahn schon zwiespältiger beurteilt und einzelne Zeugnisnoten oder Lehrpersonen durchaus kritisch in Frage gestellt wurden. Auch die mit diesen Einschätzungen verbundenen Gerechtig41 Vgl. Hadjar: Die Legitimation sozialer Ungleichheit.
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keitsgefühle unterschieden sich dementsprechend stark, sie reichten von resignativem Einverständnis bis zu wütenden Anklagen.42 In der hier geschilderten Szene wird die besondere Verantwortung des Lehrers hervorgehoben, ohne dabei das Prinzip der schulischen Selektion in Frage zu stellen. Gleichzeitig diffamieren sich die Schüler*innen auch gegenseitig, wobei eine ganze Reihe von negativ aufgeladenen Schreckbildern aufgerufen wird, wie der inkompetente »Sitzenbleiber«, die promiskuitive »Gebärmaschine« und »Hartz IV«, das als symbolisches Bündel von verschiedenen sozialmoralischen Abwertungen verstanden werden kann. Die Ablehnung der Schule (»Ich hasse Schule«) und die persönlichen Vorwürfe (»Sie haben Schuld!«) wurden im Unterricht von Herrn Steiß besonders vehement artikuliert, da dieser als ein unbeliebter Lehrer galt, der extrem schlechte Noten verteilte und die Klasse immer wieder mit pauschalen Demütigungen gegen sich auf brachte. Die entlastende Wirkung von Schuldzuweisungen an andere, welche er den Schüler*innen am Ende dieser Szene vorhielt, ließ sich in markanter Weise auch in seiner eigenen Rechtfertigungspraxis beobachten. Im Interview mit mir begründete er das Verdikt der fehlenden Ausbildungsfähigkeit der Schülerschaft damit, dass »die Defizite in den Kernkompetenzen zu groß« seien und es ihnen darüber hinaus an »Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Genauigkeit« mangele. Gleichzeitig spielte er seinen eigenen Beitrag herunter, indem er entweder Grundschullehrer*innen für die fehlenden mathematischen Grundkenntnisse oder die Eltern für das mangelhafte Sozialverhalten verantwortlich machte. Aus bildungssoziologischer Perspektive gelten institutionelle Zuschreibungen mangelnder Ausbildungsreife dagegen als das Ergebnis bildungspolitischer Entwicklungen und normativer Verschiebungen.43 Wie bereits im letzten Kapitel ausgeführt, hat sich im Verlauf der Bildungsexpansionen seit den 1970er Jahren die Schere zwischen gering und höher qualifizierten Personen immer weiter geöffnet. Dafür ursächlich waren nicht die Motivationen und Leistungen von Schüler*innen am unteren Ende der Bildungshierarchie, sondern die wachsende Bedeutung von höheren Bildungstiteln als notwendige Zugangsberechtigung zum Arbeitsmarkt. Einfache Zertifikate werden dadurch zu 42 Vgl. Bens/Zenker (Hg.): Gerechtigkeitsgefühle. 43 Vgl. Solga: Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft.
Rechtfertigung
einem Ausschlusskriterium, sie erscheinen vermehrt als individuell zu verantwortende Kompetenzdefizite. Ein geringer formaler Bildungsgrad wird zu einem Stigma. Dies führt zu einem Diskreditierungsmechanismus, in dessen Folge Hauptschüler*innen die Ausbildungsreife abgesprochen wird, wodurch letztlich sogar vorhandene Ausbildungsstellen unbesetzt bleiben. Soziale Ungleichheiten werden im Schulalltag in der Regel nicht direkt adressiert, vielmehr wird ein divergierendes Verständnis von Fairness artikuliert, bei dem sich beide Seiten jeweils unfair behandelt fühlen.44 Dieser alltagsmoralische Impuls wird aus einer spezifischen Situation heraus begründet, hat jedoch ethische Implikationen, die weit über diese hinausreichen, wobei die schulischen Machtverhältnisse sowohl affirmiert als auch in Frage gestellt werden. Mit Blick auf die Konzeption von Rechtfertigungsordnungen bei Boltanski und Thévenot zeigt sich, dass diese vor allem in Konf liktsituationen, wie der eben geschilderten, im Sinne eines basalen Gerechtigkeitssinns oder Fairnessverständnis artikuliert werden. Allerdings würden die zum Ausdruck kommenden moralischen Haltungen der Schüler*innen kaum den anspruchsvollen konzeptionellen Voraussetzungen einer Rechtfertigungsordnung genügen, da sie nicht am Gemeinwohl orientiert und selbst im schulischen Rahmen nicht legitimiert sind. Mit dem Begriff der Konventionen, verstanden als ein von den Akteuren entwickelter interpretativer Rahmen, können solche weiter gefassten Rechtfertigungstopoi möglicherweise besser erfasst werden.45 Die Kritik der Schüler*innen lässt sich noch am ehesten auf die »staatsbürgerliche« Rechtfertigungsordnung beziehen. Die in der Diskussion um das Geodreieck im Raum stehende Forderung, die Schule solle die Lehrmittel zur Verfügung stellen, betont die Verantwortung des Staates und seiner Institutionen, die Heranwachsenden zum Abschluss zu führen. Auch wenn die Schüler*innen dies nicht explizit so formulieren, so wehren sie sich zumindest gegen die Denunziation der damit verbundenen Ansprüche vonseiten des Lehrers. Die meritokratisch argumentierende Begründung des Lehrers würde dagegen schon eher den Maßstäben einer Rechtfertigungsordnung entsprechen. Hier ließe sich noch ergänzen, dass die angewendeten meritokratischen Gerechtigkeits44 Vgl. Humphrey: Inequality. 45 V gl. Diaz-Bone/Thévenot: Die Soziologie der Konventionen; Diaz-Bone (Hg.): Soziologie der Konventionen.
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prinzipien nicht klassenneutral sind und die mitunter willkürlichen pädagogischen Demütigungen auch ohne in sich schlüssige normative Begründungen erfolgen können. Dabei handelt es sich um Praktiken, die den Imperativ der normativen Legitimation suspendieren. Boltanski spricht hier bei Konf liktfällen von einem Regime der Gewalt.46 Neben meritokratischen werden häufig auch kulturalistische Argumente angeführt, um soziale Ausschließungen zu begründen. Auch bei solchen kulturalisierenden Zuschreibungen, die sich auf ethnische Herkunft oder religiöse Orientierungen richten, wird die Schule implizit entlastet und die Problemursache primär bei den Schüler*innen selbst sowie bei deren Eltern gesehen. Diesem Argumentationsmuster nach entspricht die familiäre Sozialisation in Einwandererfamilien nicht den aufgeklärt-emanzipativen Bildungsstandards in Deutschland, wodurch es migrantischen Jugendlichen schwerfalle, die schulischen Anforderungen zu erfüllen. Dabei wird von einem mangelnden Passungsverhältnis zwischen der Herkunftskultur bestimmter Bevölkerungsgruppen und der Institution Schule ausgegangen.47 Das für das schulische Selbstbild zentrale Fortschrittsparadigma der europäischen Auf klärung wird dabei mithilfe einer vermeintlichen Rückständigkeit der islamischen Welt konturiert, wobei die Vetreter*innen der Schule gleichsam als Garanten der Auf klärung fungieren und ihre (post-)migrantisch geprägte Schüler*innenschaft herkunftsbedingt auf einer niederen Kulturstufe verortet wird. Sozialmoralische und kulturelle Vorurteile vermischen sich dabei häufig miteinander, etwa wenn die häufig zu hörende Klage über das mangelnde Engagement von Eltern damit begründet wird, diese hätten es sich auf Transferleistungen bequem gemacht, und im gleichen Atemzug darauf hingewiesen wird, dass in »arabischen Großfamilien« ohnehin »ganz andere Zustände« herrschten. Solche negativen Zuschreibungen waren keineswegs auf die Minderheit von offen feindselig auftretenden Pädagog*innen wie Herrn Steiß beschränkt. Auch wohlwollende Lehrer*innen wie Frau Schnur begründete ihr Scheitern beim Versuch, die Eltern zu mehr Engagement zu bewegen, damit, diese hätten lediglich »Nachwuchs in die Welt gesetzt, um vom Kindergeld zu leben«. 46 V gl. Basaure: An interview with Luc Boltanski; Straehler-Pohl: Konventionen auf schwindendem Grund. 47 Vgl. Helsper/Kramer/Thiersch (Hg.): Schülerhabitus.
Rechtfertigung
Ähnliche, mit einer einseitigen Parteinahme für die Lehrer*innen verbundene Vorbehalte gegenüber migrantischen Elternhäusern finden sich auch in öffentlichkeitswirksamen Teilen der Forschung, so formuliert der bekannte Soziologe Heinz Bude in seinem Buch Bildungspanik folgende Generalabrechnung: »Das Lehrpersonal sieht sich jedenfalls mit Jugendlichen konfrontiert, deren Erziehungsberechtigte Erziehung entweder als gelegenheitsorientierte Züchtigung verstehen oder es ganz aufgegeben haben, auf ihre Kinder noch Einf luss zu nehmen, und sich dann, wenn man auf sie zukommt, hinter dem Vorwurf von Ausländer- oder Frauenfeindlichkeit verschanzen oder sich als unberührt vom Schicksal ihrer Kinder zeigen.«48 Demgegenüber zeigt sich der Autor auffallend verständnis- und rücksichtsvoll gegenüber den Lehrer*innen: Er verteidigt diesen Berufsstand (»Wer steht denn an der Front und muss den Kopf hinhalten«, S. 104) und weist darauf hin, dass diesem von der Gesellschaft eine übermäßige Verantwortung aufgebürdet wird (»Sie sind an allem Schuld und sollen doch alles richten«, S. 105). Empirische Studien weisen dagegen darauf hin, dass die nachweisbaren Ungleichheiten im Bildungssystem nicht auf eine mangelnde Motivation von (post-)migrantischen Schüler*innen zurückgeführt werden kann, deren Eltern sogar überdurchschnittlich hohe Bildungsaspirationen aufweisen.49 Das Problem liege demnach in der mangelnden schulischen Förderung, zu der auch ein Defizitblick auf die Heranwachsenden und eine weitgehende Übernahme von Selektionslogiken durch die Lehrer*innen beitragen.50 Der pädagogische Defizitblick auf allochthone Schüler*innen manifestiert sich schulformübergreifend an Grundschulen, Gymnasien und Sekundarschulen. Ulrike Pörnbacher beschreibt, wie in den Alltagstheorien von Grundschullehrer*innen migrantisch verortete Schüler*innen auf der Grundlage negativer Stereotype als nicht den schulischen Normalitätserwartungen entsprechend betrachtet werden.51 Indem Pluralität als Problem und Andersartigkeit als Bildungsrisiko gelten, werden nicht nur implizit Bildungsungleichheiten legitimiert, 48 Vgl. Bude: Bildungspanik, S. 47. 49 Vgl. Stanat/Rauch/Segeritz: Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. 50 V gl. Allemann-Ghionda/Auernheimer/Grabbe: Beobachtung und Beurteilung in soziokulturell und sprachlich heterogenen Klassen. 51 V gl. Pörnbacher: Alltagstheoretische Wirklichkeitskonstruktionen von Lehrkräften an Grundschulen.
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sondern gleichsam die migrantischen Elternhäusern als die eigentliche Problemursache ausgemacht. Martina Weber betont in ihrer Studie zu sozialen Differenzierungen von Gymnasiallehrer*innen die Überschneidung von Negativzuschreibungen bezüglich ethnischer Herkunft, sozialer Positionierung und Geschlecht.52 Wenn deutsche Sprachkenntnisse als Ausdruck von Begabung oder ein durch das Kopftuch signalisierter muslimischer Familienhintergrund als Bildungshindernis verstanden werden, findet auf indirekte Weise ein Prozess der sozialen Auslese von Jugendlichen migrantischer Herkunft statt, wobei den von den weiterführenden Schulen gedrängten Schüler*innen erneut selbst die Verantwortung für ihr Scheitern zugeschrieben wird. Mit Blick auf segregierte Sekundarschulen in sozial benachteiligten Stadtvierteln zeigen schließlich Laura Fölker und Thorsten Hertel wie die pädagogischen Akteure ihre Schüler*innenklientel als besonders »schwierig« beschreiben und gleichzeitig pädagogisch auf unterschiedliche Weise darauf Bezug nahmen.53 Diese Negativmarkierung der Lernenden wird vor dem Hintergrund essentialistischer Annahmen über schulischer Homogenität und nationalistischen Idealen von kultureller Einpassung vorgenommen. Mit solchen Negativannahmen werden bei anderen Gelegenheiten gleichsam Forderungen nach härteren Disziplinarmaßnahmen begründet. In diesem Zusammenhang wird dann häufig noch das Argument vorgebracht, dass Jugendliche aus »anderen Kulturkreisen« nur mit solchen robusten Methoden zu erreichen seien. An der Weddinger Anna-Seghers-Schule galt zur Zeit meiner Forschung die »konfrontative Pädagogik« als erzieherisches Leitbild, was der dortige Direktor damit begründete, dass die Jugendlichen »hier mit unseren demokratischen Verhältnissen und Strukturen nicht klarkommen, weil sie eben Autorität und eine klare Ansage gewöhnt sind«.54 Diese Pädagogik propagiert eine »Rückkehr des männlichen Prinzips«, sie versteht sich mit ihrem Lob des harten Durchgreifens als Korrektiv gegenüber einer als »antiautoritär« und »antipädagogisch« empfundenen »Feminisierung
52 V gl. Weber: »Ali Gymnasium« – Soziale Differenzen von SchülerInnen aus der Perspektive von Lehrkräften. 53 Vgl. Fölker/Hertel: Differenz und Defizit. 54 V gl. Kilb/Weidner (Hg.): Konfrontative Pädagogik; Dörr/Herz (Hg.): »Unkulturen« in Bildung und Erziehung; Rutschky (Hg.): Schwarze Pädagogik; Wellgraf: Hauptschüler, S. 246-255.
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der Pädagogik« im Zuge der 68er-Bewegung.55 Ihre autoritären Grundsätze und Methoden wurden vom US-amerikanischen Jugendstrafvollzug auf allgemeinbildende Schulen in Deutschland übertragen. An der Neuköllner Galilei-Schule wurden aufmüpfige Schüler*innen dagegen in den »Trainingsraum« verbannt, wo sie gezwungen waren, auf »Rückkehrplänen« ihre Fehler einzugestehen und Verbesserungen zu geloben. Besuche im Trainingsraum wurden gezählt und konnten, einer Eskalationsdynamik folgend, verschiedene weitere Disziplinarmaßnahmen bis hin zum Schulverweis nach sich ziehen.56 Schulen sind selbst an der Herstellung sozialer Spaltungen und ethnischer Differenzen beteiligt. Die gesellschaftlich kursierenden Stereotype und Zuschreibungen f ließen in pädagogische Einschätzungen ein und werden von der Schule in erzieherische Maßnahmen übersetzt. Häufig wird damit eine bereits gängige schulische Diskriminierungspraxis begründet, diese im Nachhinein als notwendig und folgerichtig dargestellt. Migrantische Schüler*innen und ihre Eltern werden von der Institution Schule aus einer kulturalistischen Perspektive betrachtet: »Die aus der ›anderen Herkunft‹ häufig pauschal abgeleiteten elterlichen Eigenschaften beziehen sich vor allem auf eine ›andere schulische Sozialisation‹ der Eltern, eine hieraus resultierende ›andere Lernkultur‹ sowie ›andere Rollenvorstellungen‹ hinsichtlich des Verhältnisses von Schule und Elternhaus, generell ›andere Erziehungsvorstellungen‹ sowie ›andere familiäre Sozialisationsbedingungen‹. Letztere werden in Politik und Schule vor allem als ›autoritär‹, ›patriarchal‹, ›traditionell‹, ›rückständig‹, ›religiös-dogmatisch‹ und insgesamt ›wenig bildungsorientiert‹ verstanden.«57 Dieser Lesart zufolge gelten mangelhafte Einstellungen und sozialkulturelle Prägungen als das ursächliche Problem. Gegenüber dieser dominanten Deutungspraxis wird hier eine gegenteilige Interpretation vorgeschlagen, bei der Meritokratie als ein institutioneller Deckmantel für Klassismus und kulturalistische Zuschreibungen als eine Form des Rassismus verstanden werden.
55 V gl. Tischner: Konfrontative Pädagogik – die vergessene »väterliche« Seite der Erziehung. 56 Vgl. Wellgraf: Schule der Gefühle, S. 272-281. 57 Vgl. Kollender: Eltern – Schule – Migrationsgesellschaft, S. 193.
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Sozialarbeit in der Krise »Einen Burnout, wie die Lehrer hier, kann ich mir nicht leisten«, meinte an der Neuköllner Galilei-Schule eine Sozialarbeiterin zu mir. In dieser Klage klingt sowohl eine Kritik an Beamtenprivilegien als auch eine gewisse Marginalisierung der Sozialen Arbeit an. Damit stellt sich die Frage, wie Vertreter*innen anderer pädagogischer Professionen in den Umgang mit sozialen Randgruppen eingebunden sind, wie ihre Berufsfelder sich transformieren und welche Dilemmata sich daraus ergeben. Mit ihrem Vergleich spielte die Neuköllner Sozialarbeiterin auf ihren eigenen prekären Status an, sie war selbst lediglich auf Projektbasis angestellt, zumeist nur für ein halbes Jahr, wobei teilweise nicht einmal die Ferienzeiten berücksichtigt wurden. Dadurch war eine kontinuierliche Begleitung der Jugendlichen kaum möglich, auch wenn diese aufgrund ihrer unsicheren Lage dringend eine verlässliche Stütze gebraucht hätten. Das sozialpädagogische Dilemma bestand darin, den Heranwachsenden einen gangbaren Weg ins Berufsleben aufzeigen zu wollen, obwohl dieser ihr selbst verwehrt wurde. Die unsichere Beschäftigungssituation der Sozialarbeiterin war kein Unfall, sondern systemisch bedingt, sie resultierte aus den Privatisierungen im Bereich des Sozialstaats der letzten Jahre. Die Bundesagentur für Arbeit schrieb zum Zeitpunkt meiner Forschung in der Regel nur noch kurzfristig bemessene Programme der »Berufseinstiegsbegleitung« an kommerziell ausgerichtete Fremdfirmen aus und entschied sich dann in der Regel für die kostengünstigsten Angebote. Die auf diese Weise vermittelten Bewerbungshelfer*innen mussten sich entsprechend in prekären Beschäftigungsverhältnissen behaupten, auch sie wurden von der ständig präsenten Angst vor der Arbeitslosigkeit angetrieben.58 Letztlich steht diese Form der Sozialarbeit für eine weitreichende Normalisierung von Prekarität, für eine Anpassung an Arbeitslosigkeit und unsichere Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsektor. Neben dem allmählichen Wegfall einer fest verankerten schulischen Sozialarbeit zugunsten projektförmiger und temporärer Beschäftigungen kam es in Berlin auch im Bereich der außerschulischen Jugendsozialarbeit zu spürbaren Einschnitten. Für die von den Sozialämtern über freie Träger organisierte Jugend- und Familienhilfe wurden die Mittel in den letzten Jahren um etwa die Hälfte gekürzt. Die 58 Vgl. Wellgraf: Schule der Gefühle, S. 334-338.
Rechtfertigung
Folgen zeigten sich während meiner Feldforschung in Berlin-Wedding besonders deutlich, als im Jahr 2009 plötzlich immer weniger Einzelfallhilfen bewilligt wurden. Gleichzeitig wurde auch der Zeitumfang der Sozialhilfe in Berlin reduziert: Waren die Hilfedauern zunächst noch auf ein bis zwei Jahre angelegt, war es nun zunehmend schwerer, nach einem halben Jahr noch eine Verlängerung zu erhalten. Die innerhalb der Hilfedauern bewilligten Einsatzzeiten reduzierten sich zudem von 9-12 Stunden wöchentlich pro Familie im Jahr 2002 auf durchschnittlich 3,8 Stunden im Jahr 2014.59 Statt zwei bis drei Treffen mit sozial gefährdeten Jugendlichen oder mit deren Eltern pro Woche war somit in der Regel nur noch ein wöchentlicher Termin möglich, was die Wirksamkeit der sozialarbeiterischen Maßnahmen ebenfalls stark einschränkte. Aufgrund der sich deutlich verschlechternden Rahmenbedingungen und der bereits ohnehin verhältnismäßig geringen Bezahlung von Sozialarbeiter*innen – viele wurden selbst mit Hochschulabschluss lediglich in der TV-Entgeltgruppe 9 eingruppiert – mussten sich diese zunehmend nach anderen Beschäftigungen umsehen. Selbstredend sind die sozialen Belastungen damit nicht verschwunden, im Gegenteil, gerade in den Jahren ab 2008 verschlechterten sich in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise, die durch das Platzen der Immobilienblase in den USA ausgelöst wurde, für viele Jugendliche die beruf lichen Aussichten. Neben einer breiten Palette von häufig miteinander zusammenhängenden Problemlagen, die von finanziellen und psychischen Krisen über Drogenabhängigkeit und Suchterkrankungen bis hin zu physischer und sexueller Gewalt reichten, gehörten auch Schuldistanz und Schulabstinenz zu den üblichen Einsatzfeldern der sozialarbeiterischen Einzelfallhilfe. Die Sozialarbeit fokussiert sich also auf solche krisenhaften Entwicklungen, während sie selbst bereits in eine institutionelle Krise geraten ist.60 Dabei verschwindet Sozialarbeit nicht einfach, sie verändert vielmehr ihren Charakter indem sie sich neoliberalen Entwicklungen anpasst, etwa indem sie stärker auf Aktivierung und Disziplinierung setzt oder ihre Angebote vermehrt unter marktförmigen Bedingungen anbieten muss.61 Eines ihrer Dilemmata besteht darin, als deviant geltende Heranwachsende in die 59 Vgl. Metzner: Familienhilfe zwischen Anspruch und Wirklichkeit. 60 Vgl. Böllert/Alfert/Humme (Hg.): Soziale Arbeit in der Krise. 61 V gl. Mayrhofer/Pilgram (Hg.): Soziale Arbeit in gesellschaftlichen Transformationsprozessen.
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Strukturen von Schule und Arbeitswelt einzufügen, ohne die problematischen Aspekte dieser institutionellen Sphären selbst zu hinterfragen. Wie etwa mit Formen der Schulverweigerung umgegangen wurde, möchte ich am Beispiel eines Weddinger Sozialarbeiters schildern: Hannes: Ich hatte da einen Schulverweigerer, einen damals etwa 14-jährigen Hauptschüler deutscher Herkunft, bei dem wir versucht haben, ihn wieder zur Schule zu bringen, was leider nicht geklappt hat. Wir haben da viele Gespräche geführt, mit ihm und mit seiner Familie, teilweise auch mit der Polizei, die ja die Schulpflicht auch gewaltsam durchsetzen kann. Das Problem war, er kam teilweise in die Schule und ist dann nach zehn Minuten wieder heimlich gegangen, da hat man relativ wenig Eingriffsmöglichkeiten. Der Vater hat nicht mit den Kindern zusammengelebt und sich sehr abfällig über den Jungen geäußert. Da gab es sowohl ein Alkohol- als auch ein Gewaltproblem in der Familie, beim Vater haben wir auch Verstrickungen ins kriminelle Milieu vermutet. Der Junge hat meist mit körperlicher Gewalt gedroht, wenn ihm was nicht gepasst hat. Ansonsten wirkte er sehr einsam, hatte auch in seiner Altersgruppe kaum Freunde oder Bezugspersonen. In der Kennenlernphase haben wir es erstmal mit freizeitpädagogischen Angeboten probiert, um überhaupt an ihn ranzukommen. Ich war mit ihm Fußballspielen, in Jugendclubs, beim Billard und so weiter. Auch viel bei ihm zu Hause, Gespräche mit der Mutter geführt, die sehr bemüht, aber hilflos war, und mit ihm allein gesprochen, wo er aber teilweise abgeblockt hat. Wir haben ihm auch Konsequenzen aufgezeigt und Perspektiven überlegt, was man machen könnte, wenn er nicht mehr zur Schule geht. Er war allerdings noch zu jung und schulpflichtig. Er hatte ein riesiges Autoritätsproblem, hat seine Lehrer und generell Erwachsene als Feinde gesehen, die man bekämpfen muss. Es gab Besprechungen mit dem Jugendamt, wo wir gemeinsam überlegt haben, wie es weitergehen könnte. Ich war auch zwei Mal in der Schule und habe mit der dortigen Sozialarbeiterin geredet, die wirklich sehr engagiert und ihm zugeneigt war. Letztlich wurde die Hilfe nach einem halben Jahr nicht verlängert. Diese Form des Engagements ist äußerst mühsam, ein Kampf gegen Windmühlen, bei dem in vielen kleinen Schritten eine etwaige Verbesserung angestrebt wird. Gleichzeitig ließe sich argumentieren, dass es genau diese kleinen Schritte sind, die den Jugendlichen und ihren Fami-
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lien in der Lebensbewältigung konkret weiterhelfen. Das beruf liche Dilemma der Sozialen Arbeit erscheint hier als Spannungsverhältnis zwischen einer fürsorglichen Subjektorientierung, dem Selbstverständnis dieses Berufszweiges als kundenorientierte Menschenrechtsprofession einerseits und der Zurichtung auf soziale Ordnung andererseits, die sich im Aufzeigen von »Konsequenzen« im Falle eines nicht-fügsamen Verhaltens andeutet. Für die Sozialarbeiter*innen kommt dieses doppelte beruf liche Mandat einem ständigen Drahtseilakt gleich: Der zwanglose Charakter des Kennenlernens ist gleichzeitig Mittel zum Zweck, die später aufgebaute Drohkulisse darf keinesfalls zu bedrohlich wirken. Letztlich erscheinen die Probleme stets viel hartnäckiger als die Lösungsmöglichkeiten. In diesem Missverhältnis verbirgt sich ein weiteres beruf liches Dilemma: Hannes: Ich war nach einiger Zeit sehr unzufrieden, oft war es schon ein Erfolg, wenn wir den Status quo halbwegs stabil halten und noch Schlimmeres verhindern konnten. Nach mühsam erarbeiteten kleinen Erfolgen kamen immer auch wieder Rückschritte. Zudem musste man eine zwischenmenschliche Beziehung aufbauen, die relativ kurzfristig angelegt war. Häufig wurde die Arbeit dann genau an dem Punkt abgebrochen, wo man das Gefühl hatte, endlich einen wirksamen Einfluss ausüben zu können. Man klammerte sich dann so an einzelne Strohhalme, man rechnete die zehn Familien ohne Erfolg mit dem einen Kind auf, das man ein kleines Stück vorangebracht oder vor einer Katastrophe bewahrt hat. So sucht man sich seine Erfolgserlebnisse, etwa dass familiäre Gewalt nach den Gesprächen weniger wahrscheinlich ist oder die Jugendlichen mal wieder zur Schule gehen und sich vielleicht doch noch eine Perspektive für sie auftut. Aber was aus ihnen geworden ist, haben wir ja in der Regel auch gar nicht mehr mitbekommen. Hannes wechselte schließlich den Beruf, auch weil ihn die zum Teil dramatischen Schicksale der Jugendlichen nach der Geburt seiner eigenen Kinder psychisch immer mehr belasteten. Mit den Kürzungen im Bereich der Jugendsozialarbeit verschwand auch ein Typus des Sozialarbeiters zunehmend von der Bildf läche. Dieser Typus entstammt einem Milieu, das in der Regel an den Fachhochschulen Soziale Arbeit oder an den Universitäten Fächer wie Erziehungswissenschaften und Psychologie studiert hatte und das Hannes im Interview als politisch stark linksorientiert und teilweise offen marxistisch ausgerichtet be-
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schreibt. Zum Abschluss meiner Feldforschungen im Jahr 2013 waren im Bundesland Berlin insgesamt noch 255 Schulsozialarbeiter*innen beschäftigt.62 Infolge der Umstellung auf Ganztagesschulen ist diese Zahl zuletzt wieder angestiegen, wobei diese zumeist temporär oder über freie Träger und nicht dauerhaft über die Bezirke angestellt werden. Mit diesem Abgesang soll keineswegs die »klassische« Sozialarbeit verklärt werden, die – von der Zeit ihrer Herausbildung im 19. Jahrhundert bis heute – ihre eigenen Widersprüche und ihre Verstrickungen in Machtverhältnisse mit sich herumträgt.63 Gerade im Bereich der Jugendsozialhilfe und der Schulsozialarbeit trägt eine problemorientierte Fokussierung auf Individuen mit der Zielsetzung der besseren Adaption an die Anforderungen von Disziplinarapparaten wie der Schule und deregulierten Arbeitsmärkten tendenziell zur Ausblendung von problematischen sozialpolitischen Strukturen bei.64 Es stellt sich die Frage, welche Ansätze an die Stelle der Sozialarbeit rückten und wie sich der Umgang mit sozial marginalisierten Jugendlichen dadurch transformiert hat.
Richtige Rezepte? Psychologisierung und Pathologisierung Neben den Kontakten zu Bewerbungshelfer*innen und Sozialarbeiter*innen war ein schwer abschätzbarer Teil der Schüler*innen auch in psychiatrischer Behandlung. In der Regel erfuhr ich davon jedoch nur zufällig, wenn sie wieder einmal »zu Tests in der Charité« gewesen waren oder sie sichtlich benommen durch die Schulf lure irrten, da ihre Medikamente »grad falsch eingestellt« waren. Da mit dem Trend zur schulischen Inklusion die bereits erwähnte Option der Weiterdelegierung von vermeintlich »Unbeschulbaren« in den Bereich der Förderund Sonderschulen zunehmend wegfiel, wurde stattdessen mitunter versucht, besonders auffällige Jugendliche direkt in die Psychiatrien der Stadt einzuweisen. So berichtete mir der Direktor der Anna-Se-
62 V gl. Abgeordnetenhaus Berlin: Jugendsozialarbeit an Schulen, Drucksache Nr. 17/1400 (II.B.51), 12.12.2013; GEW Berlin: Schulsozialarbeit in Berlin, 1.1.2014. 63 V gl. Dollinger: Die Pädagogik der sozialen Frage; Dollinger: Die politische Identität der Sozialpädagogik. 64 V gl. Humme: »Kein Abschluss ohne Anschluss…«; Karsunky/Pitsch: Individuelle Förderung.
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schreibt. Zum Abschluss meiner Feldforschungen im Jahr 2013 waren im Bundesland Berlin insgesamt noch 255 Schulsozialarbeiter*innen beschäftigt.62 Infolge der Umstellung auf Ganztagesschulen ist diese Zahl zuletzt wieder angestiegen, wobei diese zumeist temporär oder über freie Träger und nicht dauerhaft über die Bezirke angestellt werden. Mit diesem Abgesang soll keineswegs die »klassische« Sozialarbeit verklärt werden, die – von der Zeit ihrer Herausbildung im 19. Jahrhundert bis heute – ihre eigenen Widersprüche und ihre Verstrickungen in Machtverhältnisse mit sich herumträgt.63 Gerade im Bereich der Jugendsozialhilfe und der Schulsozialarbeit trägt eine problemorientierte Fokussierung auf Individuen mit der Zielsetzung der besseren Adaption an die Anforderungen von Disziplinarapparaten wie der Schule und deregulierten Arbeitsmärkten tendenziell zur Ausblendung von problematischen sozialpolitischen Strukturen bei.64 Es stellt sich die Frage, welche Ansätze an die Stelle der Sozialarbeit rückten und wie sich der Umgang mit sozial marginalisierten Jugendlichen dadurch transformiert hat.
Richtige Rezepte? Psychologisierung und Pathologisierung Neben den Kontakten zu Bewerbungshelfer*innen und Sozialarbeiter*innen war ein schwer abschätzbarer Teil der Schüler*innen auch in psychiatrischer Behandlung. In der Regel erfuhr ich davon jedoch nur zufällig, wenn sie wieder einmal »zu Tests in der Charité« gewesen waren oder sie sichtlich benommen durch die Schulf lure irrten, da ihre Medikamente »grad falsch eingestellt« waren. Da mit dem Trend zur schulischen Inklusion die bereits erwähnte Option der Weiterdelegierung von vermeintlich »Unbeschulbaren« in den Bereich der Förderund Sonderschulen zunehmend wegfiel, wurde stattdessen mitunter versucht, besonders auffällige Jugendliche direkt in die Psychiatrien der Stadt einzuweisen. So berichtete mir der Direktor der Anna-Se-
62 V gl. Abgeordnetenhaus Berlin: Jugendsozialarbeit an Schulen, Drucksache Nr. 17/1400 (II.B.51), 12.12.2013; GEW Berlin: Schulsozialarbeit in Berlin, 1.1.2014. 63 V gl. Dollinger: Die Pädagogik der sozialen Frage; Dollinger: Die politische Identität der Sozialpädagogik. 64 V gl. Humme: »Kein Abschluss ohne Anschluss…«; Karsunky/Pitsch: Individuelle Förderung.
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ghers-Schule entrüstet, wie er nach einem gewalttätigen Zwischenfall einen Schüler zum »Wiesengrund« – der bekanntesten Nervenklinik für Kinder und Jugendliche in Berlin – bringen ließ. Als er von dort umgehend wieder zurückgeschickt wurde, weigerte sich jedoch auch die Schule ihn wieder aufzunehmen. Wie muss man sich den Umgang mit den Jugendlichen im medizinisch-psychiatrischen Bereich vorstellen? Es war nicht leicht, Gesprächspartner*innen dazu zu finden. Noch aktive Mediziner*innen und Psycholog*innen verwiesen auf ihre Schweigepf licht, was mitunter noch mit dem Hinweis versehen wurde, ich sollte doch erstmal »ein paar Semester Medizin studieren«, bevor ich überhaupt mitreden könne. Schließlich traf ich über private Kontakte Frau Kohfeld, die von den frühen 1980er Jahren bis in die 2000er Jahre hinein den sozialpsychiatrischen Dienst in Neukölln mitaufgebaut hatte und im Interview im Jahr 2014 auf die besonderen Herausforderungen ihrer damaligen Arbeit zurückblickte. In ihrer Rückschau zeichnete sich eine markante Entwicklung ab: Während Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen in der Regel ein Klagelied anstimmten, das von Niveauabfall, Überlastungen und Stellenkürzungen handelte, schien der sozialpsychiatrische Dienst von den zunehmenden sozialen Verwerfungen zu profitieren. Seit den 1980er Jahren war in Berlin eine breite Infrastruktur an entsprechenden Angeboten für Kinder und Jugendliche entstanden: Frau Kohfeld: Die Versorgungslage hat sich in den letzten 30-35 Jahren extrem ausgeweitet und intensiviert. Als ich 1983 anfing, gab es keine einzige kinder- und jugendpsychiatrische Praxis in Neukölln. Als ich mich 2006 niederließ, gab es ungefähr 35 Praxen und jetzt sind es schon über 80, die relativ gut über Berlin verteilt sind – und das ist ja nur ein Teil der Versorgungslandschaft in diesem Bereich. Das gehört mittlerweile auch eher zum Krankenkassenversorgungssystem als zur Jugendhilfe. Aus meiner persönlichen Sicht ist Berlin im psychosozialen Bereich mittlerweile fast überversorgt, auch wenn es immer noch viele Kooperationsschwierigkeiten und in Neukölln auch nochmal einen besonders großen Bedarf gibt. West-Berlin war ein Vorreiter der Anti-Psychiatriebewegung, wobei die daraus entstandenen bezirklichen Strukturen und Regelungen zum Teil stark variierten. In Neukölln gab es lange Zeit drei auf Kinder und Jugendliche ausgerichtete sozialpsychiatrische Beratungsstellen, die
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geografisch über den Bezirk verteilt waren. Daneben entstanden im Neuköllner Krankenhaus eine Tagesklinik für Kinder und Jugendliche, die an die lokalen Kliniken angebundenen psychiatrischen Institutsambulanzen sowie eine ganze Reihe von privat niedergelassenen Psychotherapeut*innen mit einer Spezialisierung für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Allerdings war es trotz dieser Versorgungslage mitunter schwierig, kurzfristig Therapieplätze zu erhalten, zudem verschlechterte sich während der Corona-Pandemie die Situation zeitweise wieder. Psychische Probleme nahmen in dieser Zeit deutlich zu, während gleichzeitig Beratungs- und Kontaktstellen schlossen oder sich auf Online-Angebote verlegten. Auf der einen Seite grenzen diese Angebote an den klinischen und psychiatrisch-ärztlichen Bereich, auf der anderen Seite an den Bereich der Erziehungs- und Sozialberatung, wobei es bei den Kämpfen um personelle Befugnisse immer auch um Machtfragen geht. Der Wechsel vom Bereich der Jugendsozialarbeit in den Bereich der Krankenkassenversorgung markierte eine maßgebliche Verschiebung in diesem Kräftefeld, die auch mit neuen rechtlichen Rahmenbedingungen einherging. Maßgebend war nun nicht mehr das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), in dessen programmatischen ersten Paragraphen dem jungen Menschen »ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung« zugeschrieben und die Jugendhilfe primär als förderndes, beratendes und unterstützendes Instrumentarium konzipiert wird.65 Im nun für den sozialpsychiatrischen Dienst verbindlichen Berliner »Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten« (PsychKG) dominiert ein anderer Tonfall. Dessen Neuregelung vom 29.6.2016 zielt unter anderem auf eine besser abgesicherte Zusammenarbeit zwischen medizinischen Einrichtungen einerseits sowie den polizeilich-strafrechtlichen Behörden andererseits, etwa bei »Zwangsbehandlungen« sowie der »Unterbringung zur Gefahrenabwehr«.66 In seinen Vorlesungen über Die Anormalen hat Michel Foucault auf die sich hier andeutende spezifisch moderne Verbindung des Medizinischen mit dem Gerichtlichen hingewiesen: »Dieses institutionelle Gefüge richtet sich gegen das gefährliche Individuum, das weder 65 Vgl. Kinder und Jugendhilfegesetz: . 66 V gl. Abgeordnetenhaus Berlin: ; .
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eindeutig krank noch eigentlich kriminell ist.«67 Die sozialmoralisch belastete Figur des »Hauptschülers« oder des »Problemschülers« lässt sich zu der von Foucault in diesem Zusammenhang entwickelten Kategorie der »Anormalen« in Beziehung setzen, da solche Schülertypen ebenfalls als latent gefährlich gelten sowie auf dem Weg in kriminelle Karrieren gesehen werden, womit sie zugleich außerhalb der gängigen Bildungs- und Entwicklungsnormen verortet werden. Die beschriebene psychiatrische Erfolgsgeschichte geht mit der gesellschaftlichen Tendenz einher, die Problemlagen von Heranwachsenden verstärkt an den medizinisch-psychologischen Bereich zu delegieren. Beim Blick auf den typischen Kundenkreis des sozialpsychiatrischen Dienstes in Neukölln stechen dagegen vor allem soziale Faktoren hervor. »In Nord-Neukölln kam unsere Klientel größtenteils aus Familien mit größten psycho-sozialen Problemen. Wenn ich da mal Kinder von Eltern mit Arbeitsstellen hatte, dachte ich manchmal schon, die können doch eigentlich gar kein Problem haben. Ich war schon völlig daran gewöhnt, fast nur Familien zu haben, die von Sozialhilfe oder später dann Hartz IV abhängig waren, die kamen zu 98 Prozent aus der absoluten Unterschicht.« Arbeitslosigkeit und Armut scheinen die größten Problemursachen für den besonderen Bedarf an sozialpsychiatrischer Betreuung in Neukölln zu sein, im therapeutischen Verfahren transformieren sich diese jedoch tendenziell zu problematischen persönlichen Eigenschaften und zu behandelnden psychischen Störungen. Frau Kohfeld beschreibt im Anschluss noch die besondere Skepsis gegenüber psychiatrischen Angeboten bei migrantisch geprägten Eltern, deren besonderen Behandlungsbedarf sie vor allem auf überhöhte Erwartungen an die Heranwachsenden und großen innerfamiliären Druck zurückführte. Die institutionelle Ausweitung sozialpsychiatrischer Angebote sieht sie als Fortschritt. Die Anti-Psychiatriebewegung der 1960er und 1970er Jahre verstand sich als progressiv, als eine Reformbewegung gegen die etablierte, auf gesellschaftliche Ausschließung des Abweichenden zielende Anstaltsverwahrung. Infolge der Psychiatrie-Enquête von 1975 und der darin geforderten Psychiatriereform ging es vor allem darum, psychisch Kranke nicht mehr als Aussätzige zu behandeln, sondern die psychiatrische Versorgung in das System der allgemeinen Gesundheitsversorgung zu integrieren. Psychologische Angebote verloren da67 Vgl. Foucault: Die Anormalen, S. 51.
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durch ihr Stigma, sie wurden niedrigschwelliger angeboten und bisher nicht diagnostizierte psychische Krankheiten konnten endlich angemessen behandelt werden. Indem man der Aussonderung psychisch auffälliger Personen in geschlossene Anstalten entgegenwirkte, geriet jedoch gleichzeitig die Gesamtbevölkerung zunehmend in den Fokus einer neu entstehenden Sozialpsychiatrie. Mit dieser Ausweitung des »psychiatrischen«, pathologisierenden Blicks auf die Gesellschaft insgesamt erweiterte sich zugleich das Arsenal und die Spannbreite dessen, was als psychische Störungen diagnostiziert werden kann. So hat in Deutschland mittlerweile jeder Dritte eine behandlungsbedürftige psychische Störung oder Krankheit durchlebt.68 Namhafte Autor*innen diagnostizieren bereits eine Psychologisierung der Gesellschaft, einen übermäßigen Einf luss von psychologischen und psychiatrischen Deutungen auf das Selbstverständnis von Personen sowie eine damit verbundene Entpolitisierung von sozialen Zusammenhängen. Der auf Kontrolle und Normalisierung zielende Psychopathologisierungsdiskurs wird dabei in einem spannungsreichen Verhältnis zu den neuen gesellschaftlichen Leitbildern wie der Kreativität und der Exzellenz gesehen.69 Beeinf lusst sind diese Diagnosen von Autoren wie Michel Foucault, der mit seiner vehementen Kritik des Asylwesens einst auch zu den Stichwortgebern der Anti-Psychiatriebewegung gehörte.70 Nikolas Rose rekonstruiert an Foucault anschließend den wachsenden Einf luss von »Psy«-Disziplinen wie Psychologie und Psychiatrie, die er als besonders wirkmächtige Instrumente der Stabilisierung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse begreift: Zum einen wirken sie im Rahmen sozialpädagogischer Programme in Institutionen wie der Schule und zum anderen lassen sich mit ihnen die Einstellungen und Selbstvorstellungen der Individuen auf eine marktkonforme Weise modellieren.71 Eva Illouz zeigt, wie sich psychologische Denkmuster und therapeutische Diskurse auf die Gefühle auswirken, wobei sie besonders die enge Verbindung von Romantik und Kapitalismus im Bereich der Liebesbeziehungen in den Blick nimmt.72 In ihrer Studie zum kulturellen Aufstieg der therapeutischen 68 Vgl. Aktion Psychisch Kranke (Hg.) Psychiatriereform 2011, S. 11. 69 Vgl. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 198-238. 70 Vgl. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. 71 Vgl. Rose: Inventing our Selves. 72 Vgl. Illouz: Der Konsum der Romantik.
Rechtfertigung
Kultur wendet sie sich gegen Foucault’sche Überbegriffe wie »Disziplinierung« oder »Biomacht« und schaut stattdessen, wie therapeutische Diskurse in verschiedenen Milieus und institutionellen Settings eingegangen sind und dabei gleichsam das jeweilige Verständnis des Selbst sowie Vorstellungen des Normalen und Angemessenen transformiert haben.73 Die fragilen Grenzen zwischen dem Sozialen und dem Psychologischen zeigten sich auch beim Blick auf die typischen Probleme, mit welchen die sozialpsychologischen Anlaufstellen es zu tun haben: Frau Kohfeld: Bei jungen Mädchen gibt es derzeit ein großes Problem mit Selbstverletzungen, da geht man mittlerweile von enorm hohen Zahlen von bis zu 20 Prozent in Deutschland aus. Bei männlichen Jugendlichen sind es vor allem unterschiedliche dissoziale Symptome stark ausgeprägt, von Drogen- und Alkoholsucht bis hin zu Aggressivität und Kriminalität, bei beiden Gruppen auch viel Schulschwänzen und Schulverweigerung. Auch mit Ängsten, Panikattacken und Mobbing haben wir viel zu tun und mit Fragen der Aufmerksamkeit, also so etwas wie ADHS. Was die Symptomatik angeht, ist das größtenteils ein ziemliches Potpourri, das viele dieser schwierigen Jugendlichen aufweisen. Was hier als »dissoziale Symptomatik« in den medizinisch-psychiatrischen Bereich eingemeindet wird – wie Schulschwänzen, Mobbing und Jugendkriminalität – ließe sich wohl auch dem Zuständigkeitsbereich der Sozialarbeit zuordnen. Dass diese Zuständigkeitsfrage von enormer Bedeutung ist, zeigt sich an der Wahl der jeweils als geeignet erscheinenden Maßnahmen. Während Sozialpädagog*innen ihre Aufmerksamkeit, wie gesehen, primär auf das soziale und persönliche Umfeld der betroffenen Personen richten, werden in der psychiatrischen Behandlung in erster Linie Psychotherapien verordnet und Medikamente verschrieben. Frau Kohfeld schrieb als niedergelassene Ärztin bei zahlreichen Symptomen Medikamente aus, nach eigener Auskunft unter anderem bei »ADHS«, »Stimmungsschwankungen«, »emotionalen Ausbrüchen« und »Schlafstörungen«. Mittlerweile sind zahlreiche dieser Medikamente aufgrund ihrer gravierenden, auch persönlichkeitsbeeinf lussenden Nebenwirkungen in Teilen der sozial73 Vgl. Illouz: Die Errettung der modernen Seele.
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psychiatrischen Zunft jedoch selbst in die Kritik geraten, weshalb ihre Verschreibungsrate nach einem Höchststand im Jahr 2012 in den letzten Jahren hierzulande zuletzt wieder etwas rückläufig war.74 Methylphenidat, das bekannteste ADHS-Medikament, besser bekannt unter dem Namen Ritalin, hat demnach eine paradoxe Wirkung: Es wirkt bei Patienten mit einer Hirnstoffwechselstörung beruhigend, doch bei anderen eher aufputschend, weshalb es häufig auch missbräuchlich zum »Hirndoping« verwendet wird. Zu der langen Liste an häufigen Nebenwirkungen gehören vor allem Schlafprobleme, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Übelkeit, Nervosität, Angstgefühle sowie Aggressionen und Depressionen.75 Als ich im Interview meine Bedenken gegen eine übermäßige medikamentöse Behandlung andeutete und auf das in eine gleiche Richtung zielende Buch Normal. Gegen die Inf lation von psychiatrischen Diagnosen von Allen Frances hinwies, verteidigt Frau Kohfeld ihre Behandlungspraxis. Frau Kohfeld: Es gibt immer wieder unterschiedliche Betrachtungsweisen, was jetzt ursächlich dafür ist. Ich wehre mich allerdings gegen populärwissenschaftliche Darstellungen und Kritiken, die meinen, was man heute alles behandelt, das wäre vorher normal gewesen. Ich glaube auch nicht, dass die Anforderungen in der Schule gestiegen sind, sie sind eher gesunken. Ich bin davon überzeugt – deshalb verschreibe ich beispielsweise auch ADHS-Medikamente – dass es Kinder gibt, die sich aufgrund einer Aufmerksamkeitsproblematik sehr im Weg stehen und die aufgrund der damit zusammenhängenden Impulsivität enorme Folgeprobleme haben können, wenn man ihnen dabei nicht ein Stück weit hilft. Es gab früher andere Diagnosen für ähnliche Probleme wie heute. Viele Kinder, die heute zum Beispiel eine ADHS-Diagnose in Bezug auf ihre kognitiven Fähigkeiten bekommen, also eine Teil-Leistungsstörung, galten früher als sogenannte MCD-Kinder. Das stand für Minimale Cerebrale Dysfunktion, das war damals eine ziemlich beliebte Diagnose. Die Namen für ähnliche Phänomene wechseln also auch, wobei die Phänomene nicht immer ganz identisch sind und die For74 V gl. Werner Bartens. Trend gestoppt. Kinder bekommen seltener Mittel gegen ADHS verschrieben, In: Süddeutsche Zeitung, 1. Dezember 2020. 75 V gl. Storebø u.a.: Methylphenidate for children and adolescents with attention deficit hyperactivity disorder.
Rechtfertigung
schung sich natürlich auch weiterentwickelt. Von der Medizin gibt es tendenziell eine sehr neurobiologische Herangehensweise, da gibt es etwa die Dopamin-Hypothese, die für ADHS aber auch für andere psychische Erkrankungen relevant ist. Dopamin ist einer der sogenannten Neurotransmitter – das sind die Stoffe im Gehirn, die für alle biologischen Prozesse sorgen und miteinander in einem sehr labilen Gleichgewicht interagieren – und dieser These nach liegt bei den Patienten halt nicht genug Dopamin im Synapsenspalt vor. Das kann man mit radiologischen Methoden feststellen und medikamentös behandeln. Neben dieser medizinisch-psychiatrisch-biologischen Linie gibt es aber natürlich auch andere Ansätze, etwa genetische Hypothesen. An denen ist aus meiner Sicht auch relativ viel dran. Das Genetische und das Psychosoziale sind für mich zwangsläufig relativ eng miteinander verknüpft. Solche Kinder sehe ich ganz viel: Wenn die Mutter auch schon relativ hektisch und impulsiv ist, könnte man von einer genetischen Komponente ausgehen. Aber wenn das Kind mit dieser Mutter aufwächst, kommen natürlich auch psychosoziale Komponenten hinzu und beides lässt sich dann am Ende nicht mehr so leicht auseinanderdividieren. In dieser Passage werden eine ganze Reihe von Erklärungsursachen angedeutet, die die moderne Geschichte des Umgangs mit dem »Anormalen« geprägt haben: Erbkrankheiten, sozialisatorisch bedingte Deformationen, neurologische Einschränkungen, biologische Risiken und problematische psychologische Zustände.76 Es ist nicht verwunderlich, dass eine Ärztin und Psychiaterin in erster Linie eine ärztlich-psychiatrische Sichtweise mitsamt den dazu passenden Versatzstücken aus Biologie und Genetik vertritt. Einer anderen Sichtweise nach wird die Krankheitszuschreibung ADHS häufig durch eine sich selbst bestätigende »Diagnose-Schleife« von Lehrer*innen, Eltern und Ärzt*innen begründet.77 Zudem wird die enorme Ausweitung von ADHS-Diagnosen der letzten Jahrzehnte auch auf die Profitinteressen der Pharmaindustrie zurückgeführt.78 Das Problem liegt nicht in der Unterschiedlichkeit der Perspektiven, sondern in der sich auch institutionell manifestierenden Deutungsmacht des ärztlichen Blicks. Dieser allein gilt als der wissenschaftlich legitimierte, als objektiv und überpartei76 Vgl. Porter: Madness; Fegert/Kölch: Perspektiven sozialpsychiatrischer Forschung. 77 Vgl. Becker: Abwesenheit und Störung als Ausdruck von Unaufmerksamkeit. 78 Vgl. Frances: Normal; Castel/Castel/Lovell: Psychiatrisierung des Alltags.
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lich. Damit soll selbstverständlich nicht gesagt werden, dass psychiatrische und medikamentöse Behandlungen keine Berechtigung hätten. Im institutionellen Erfolg und der Deutungsmacht des medizinischpsychiatrischen Zugangs wird vielmehr deutlich, dass sich die Schwerpunkte der Intervention in Bezug auf die soziale Frage in Richtung Therapeutisierung und Medikamentalisierung verschieben. Chronische sozialstrukturell bestimmte Problemlagen werden auf sehr unterschiedliche Weisen angegangen, wobei die unterschiedlichen Weisen ihrer Adressierung durch Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen selbst ein Teil des Problemzusammenhangs sind. Diese Professionen könnte man mit Bezug auf eine bekannte Studie von Martin Lipsky allesamt als »street level bureaucracy« bezeichnen, sie zählen demnach zu jenen Berufsständen, die direkt mit den Betroffenen interagieren und denen dabei stets auch ein gewisses Maß an Interpretations- und Handlungsspielraum zukommt.79 Dabei sehen sie sich mit der beruf lichen Anforderung konfrontiert, relativ enge berufliche Vorgaben erfüllen zu müssen und gleichzeitig in angemessener Weise auf individuelle Bedürfnisse zu reagieren. Aufgrund mangelnder Ressourcen können sie in der Regel die angestrebten beruf lichen Standards nicht erfüllen. Es kommt zu Überlastungen und Enttäuschungen, auch zu Schuldzuweisungen und zu Defizitblicken auf die eigene Klientel. Mit ihren kollektiven Zuschreibungen und lokalen Handlungsroutinen setzen diese staatlichen Agenten nicht nur politische Regelungen um, sondern formen auch selbst die Art und Weise des sozialstaatlichen Umgangs mit marginalisierten Jugendlichen. Die beruf lichen Selbstbilder des pädagogischen und betreuenden Personals werden angesichts widriger Umstände zunehmend in Frage gestellt. Die Rechtfertigungsversuche von Lehrer*innen gehen jedoch über eine selbstverteidigende Haltung hinaus. Sie zelebrieren sich selbst als Helden des Chaos, sie affirmieren aktiv die meritokratische Rechtfertigungsordnung des Bildungssystems und ihre Erklärungsweisen kippen immer wieder in Anschuldigungen um. Selbst noch in ihren Hilfsmaßnahmen reproduzieren die professionellen Akteure verachtende Verhaltensweisen. Sie schreiben den Verlierern gesellschaftlicher Wettbewerbsverhältnisse selbst die Verantwortung zu und tendieren dazu, die Problemursachen im einzelnen Individuum und seinem 79 Vgl. Lipsky: Street-Level Bureaucracy.
Rechtfertigung
Umfeld, in den Einstellungen, den Genen oder der Psyche zu verorten. Die pädagogischen, helfenden und heilenden Professionen bestätigen damit tendenziell gängige Deutungsmuster, denen nach »das Problem« bei den Jugendlichen selbst und ihren Eltern liege. Gleichzeitig sehen sie kaum Handlungsspielraum für grundlegende Veränderungen, dies wäre eine Aufgabe der Bildungspolitik, der wir uns im kommenden Kapitel zuwenden. Sie fühlen sich überfordert, stehen den Auswirkungen von Armut und Ausgrenzung auf die von ihnen betreuten Jugendlichen weitgehend hilf los gegenüber oder sind teilweise selbst von Prekarisierung und psychischen Erkrankungen betroffen. Ihre beruf lichen Dilemmata sind auch die unserer sozialen Ordnung, in ihren Rechtfertigungsmustern reproduzieren sich etablierte Zuschreibungsmuster, die das ideologische Fundament einer gespaltenen Gesellschaft bilden.
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Problematisierung Mediale Skandalisierung und politische Reformrhetorik Die Art und Weise, in der gesellschaftliche Themen wie Schule und Bildung problematisiert werden, ist bereits politisch. Während die Schule von staatlicher Seite als egalitäre Institution propagiert wird, wirkt Schulpolitik in der Praxis eher in Richtung einer Aufrechterhaltung und Legitimierung gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse, weshalb Pierre Bourdieu auch den »konservativen« Charakter der Schule hervorhebt.1 Ungeachtet nachweislicher Ausgrenzungen im Bildungssystem wird öffentlich immer wieder das Gebot der »Inklusion« und der »Bildungsgerechtigkeit« hochgehalten, wobei das Beschwören dieser Zielvorstellungen zugleich auf deren Mangel verweist. Solche (Selbst-)Zuschreibungen sind symbolisch enorm wirkmächtig, staatlich gelenkte Sichtweisen dominieren unsere Wahrnehmungs- und Bewertungsweisen, sie werden zudem von unterschiedlichen Akteursgruppen im schulischen, medialen und politischen Feld mitgetragen.2 Am Beispiel der Berliner Schulstrukturreform von 2010 stelle ich die weit über den Berliner Fall hinausweisende Frage, wie trotz großer medialer Entrüstung und demonstrativem politischem Reformeifer die sozialen Ungleichheiten im Bildungsbereich weiter zunehmen können. Für die Beantwortung dieser Frage zeichne ich einen größeren Bogen von etwa 20 Jahren, ich beginne mit den medialen Rahmungen und Deutungen der Schulsituation, die seit Beginn der 2000er Jahre einen besonderen politischen Handlungsdruck erzeugt haben. Bei diesen wurden die Zustände an Berliner Schulen skandalisiert, die Problemursache jedoch primär bei den Schüler*innen verortet. Die Berliner 1 Vgl. Bourdieu: Die konservative Schule. 2 Vgl. Bourdieu: Staatsgeist.
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Schulreform von 2010 sollte die offenkundigen Missstände im Bildungsbereich beheben, aufgrund ihrer halbherzigen Umsetzung und unzureichenden Finanzierung konnte sie die selbstgesteckten Ziele jedoch nicht erreichen. Neben dem tragischen Verlauf dieses auf den medialen Alarmismus folgenden politischen Reformvorhabens rekonstruiere ich auch f lankierende administrative und politische Maßnahmen im Bildungsbereich, durch die sich bis heute im Stillen eine Transformation dessen vollzieht, was Schule und Bildung überhaupt bedeuten. Schließlich zeichne ich auch die Art und Weise nach, in der Schulpolitik inszeniert und ihre vermeintlichen Erfolge zelebriert werden, während gleichzeitig im Schatten der medialen Scheinwerfer soziale Spaltungen im Schulbereich weiter vertieft werden. Schon die westdeutschen Schulreformen der 1970er Jahre hatten ein grundlegendes Modernisierungs- und Gerechtigkeitsdefizit zum Anlass, damals wie heute wurde die zu starke soziale Selektivität und mangelnde Durchlässigkeit des Schulsystems kritisiert.3 Die bereits in jenen Jahren konstatierten »Strukturprobleme des kapitalistischen Staates« liegen darin, den schulischen Staatsapparat so auszurichten, dass dieser den Arbeitskräftebedürfnissen einer sich dynamisch entwickelnden Wirtschaftssphäre entspricht und gleichzeitig eine gewisse Sozialintegration gewährleistet, um seine demokratische Legitimation sicherzustellen.4 Sozialstaatliche Institutionen wie die Schule regulieren nicht einfach nur die Zugänge zum Arbeitsmarkt, sie konstituieren selbst Gruppen und vermitteln Anspruchsrechte, wobei in der traditionellen westdeutschen Variante des »konservativen« Wohlfahrtsstaats die Statussicherung stärker gewichtet wurde als die soziale Durchlässigkeit.5 Während in den 1970er Jahren noch von der Unverzichtbarkeit, ja vom Wachstum marktexterner Subsysteme wie Schule und Gesundheitsversorgung ausgegangen wurde, werden diese Bereiche nun zunehmend einer kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen.6 Eine erneute Reformdebatte entwickelte sich Anfang der 2000er Jahre, als die Ergebnisse der PISA-Studie dem deutschen Bildungssystem eine überraschend schwache Leistungsfähigkeit bescheinigten, 3 V gl. Maaz/Baumert/Neumann/Becker/Dumont (Hg.): Die Berliner Schulstrukturreform. 4 Vgl. Offe: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. 5 Vgl. Esping-Anderson: The Three Worlds of Welfare Capitalism. 6 Vgl. Nachtwey: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus revisited.
Problematisierung
wobei PISA einerseits die Effizienzfokussierung und das Monitoring von Schulen beförderte, andererseits aber auch den Blick auf die hierzulande überdurchschnittlich starken Auswirkungen von sozialer und ethnischer Herkunft im Bildungsverlauf lenkte.7 Mittlerweile gibt es in den einzelnen Bundesländern eine verwirrende Anzahl von Sekundarschularten, die verschiedene Bezeichnungen haben, institutionell unterschiedlich arrangiert sind und diverse Bildungstitel vergeben. In den Schuldebatten nach PISA zeichneten sich zwei grundsätzlich divergierende Positionen ab, die damals exemplarisch von den Bundesländern Bayern und Berlin vertreten wurden: einerseits ein restauratives Modell, welches im Wesentlichen eine Beibehaltung des mehrgliedrigen Schulsystems vorsah, und andererseits ein in Richtung einer »Schule für alle« zielendes emanzipatorisches Modell.8 In den meisten Bundesländern setzte sich auf den ersten Blick eine Art Zwischenlösung durch, bei der die ohnehin in Misskredit geratene Hauptschule abgeschafft wurde, das Gymnasium und das grundlegende Prinzip der sozialen Spaltung aber unangetastet blieben. So wurde an der von mir untersuchten Galilei-Schule in Berlin-Neukölln im Jahr 2010 zunächst lediglich das Namensschild ausgetauscht – aus einer Hauptschule war so über die Sommerferien eine Sekundarschule geworden, allerdings eine mit der gleichen Klientel und einem deutlich schlechteren Betreuungsschlüssel. Die Berliner Schulreform wurde wissenschaftlich begleitet und evaluiert. In der von renommierten Bildungsforscher*innen geleiteten »Berlin-Studie« wurden vor allem die Lernerträge und Bildungsverläufe der Schülerinnen und Schüler untersucht sowie Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen befragt. Die bisher vorliegenden Berichte legen zunächst eine große Akzeptanz der Reformmaßnahmen nahe, die Zustimmung zur Schulstrukturreform lag beim schulischen Leitungspersonal von Grund- und Sekundarschulen bei über 80 Prozent.9 Die Autoren ziehen bezüglich der umgesetzten Reformmaßnahmen jedoch ein gemischtes Fazit: Demnach haben zwar die Abiturquoten zugenommen, nicht aber die Kompetenzen der Schüler*innen. In den Se7 V gl. Baumert (Hg.): PISA 2000; Baumert/Stanat/Watermann (Hg.): Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen. 8 Vgl. Clasen: Bildung als Statussymbol. 9 V gl. Maaz/Baumert/Neumann/Becker/Dumont (Hg.): Die Berliner Schulstrukturreform.
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kundarschulen sei das Leistungsniveau stattdessen sogar noch weiter gesunken.10 Die Berlin-Studie zeigt positive Auswirkungen für einige, jedoch nicht für alle der besonders benachteiligten Schulstandorte auf, sie belegt zudem die weiterhin hohe Abhängigkeit des Bildungserfolgs von sozialer und kultureller Herkunft. Ansonsten seien die schulischen Leistungen und die motivationalen Einstellungen zur Schule auf niedrigem Niveau relativ stabil geblieben. Die Berliner Schulreform hat demnach bisher eher dürftige Wirkungen erzielt, wenngleich die langfristigen Folgen noch abzuwarten sind. In diesem Kapitel schaue ich nicht auf die in Studien dieser Art bereits genauestens erhobenen Leistungswerte und statistischen Zusammensetzungen der Schüler*innenschaft. Ansätzen einer Anthropologie politischer Felder folgend werde ich stattdessen die Prämissen und den Verlauf dieser Schulreform rekonstruieren, die offiziellen und versteckten Agenden der Bildungspolitik dieser Zeit nachvollziehen sowie die damit verbundenen politischen Rhetoriken hinterfragen.11 Dadurch sollen die Umstände herausgearbeitet werden, die zum weitgehenden Scheitern einer zunächst äußerst ambitioniert konzipierten Schulreform geführt haben. Dabei folge ich einer konstruktivistischen Lesart von Bildungspolitik, der zufolge die schulische Realität symbolisch vermittelt und politische Entscheidungsprozesse maßgeblich davon beeinf lusst werden, welche gesellschaftlichen Konf likte zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form auf die politische Agenda kommen, wie damit verbundene Problemwahrnehmungen sich durchsetzen sowie entsprechende politische Maßnahmen als unausweichlich erscheinen. Aus der Sicht des Politikwissenschaftlers Murray Edelman löst Politik nicht einfach Probleme, sie wählt Probleme aus und behandelt sie auf eine Art und Weise, die zumeist den gesellschaftlichen Status quo aufrechterhält.12 Daran anschließend lassen sich mit Michel Foucault jene diskursiven Prozesse untersuchen, die etwas überhaupt zum Problem machen, wobei die spezifische Form der Problematisierung stets auch das Set
10 V gl. Neumann/Becker/Baumert/Maaz/Köller (Hg.): Zweigliedrigkeit im deutschen Schulsystem. gl. Adam/Vonderau (Hg.): Formationen des Politischen; Hamann/Rosen: What 11 V Makes the Anthropology of Educational Policy Implementation »Anthropological«? 12 V gl. Edelman: Constructing the Politicle Spectacle; Berger/Luckmamn: The Social Construction of Reality.
Problematisierung
an vorstellbaren Lösungsansätzen einschränkt.13 Probleme werden durch die Art und Weise der medialen Problemwahrnehmung hervorgebracht und zugleich auf eine spezifische Weise gerahmt. Sie können sich in Folge der politischen Problembehandlung sogar noch verschärfen, etwa indem von grundlegenderen Problemursachen abgelenkt oder ineffektive Maßnahmen beschlossen werden. Der nächste Bildungsnotstand ist dann bereits vorprogrammiert, wodurch sich nicht nur der Eindruck der Krisenhaftigkeit unseres Schulsystems, sondern sich auch die Muster der medialen Skandalisierung sowie der politischen Reformrhetorik verfestigen. Gleichzeitig transformiert sich das Bildungswesen in Richtung eines Wettbewerbssystems, ohne dass die damit verbundenen Verschärfungen der sozialen Spaltungslinien einen medialen Aufruhr oder eine politische Auseinandersetzung verursachen würden. Hierin liegen das derzeit größte Problem und der eigentliche Skandal verborgen.
Moral Panics. Von »Brandbriefen« und »Totschlägern« Schulen mit einer unterprivilegierten Schüler*innenschaft sind nicht nur mit beträchtlichen erzieherischen Herausforderungen konfrontiert, sie werden auch bevorzugt zum Gegenstand negativ konnotierter Medienberichte. Die sich daraus entspannenden hitzigen Diskussionen um Schule und Gesellschaft tragen häufig die Züge einer »Moral Panic«. Aufgrund der herausgehobenen Bedeutung der Institution Schule als Wiege der Nation und als Garant der Aufrechterhaltung sozialer Hierarchien geht es in solchen Schuldebatten immer auch um Fragen von gesellschaftlicher Zugehörigkeit und moralischer Ordnung. Am Beispiel der Diskussionen um die bundesweit berühmt-berüchtigt gewordene Neuköllner Rütli-Schule lassen sich einige Grundtendenzen der medialen Rahmung sowie der moralischen Bewertung von schulischen Missständen veranschaulichen. Auslöser der Debatte um die Rütli-Schule war ein vom dortigen Lehrer*innen-Kollegium verabschiedeter öffentlicher Brief, der zunächst an mehrere Stellen der Berliner Bildungsverwaltung adressiert war und schließlich am 30. März 2006 im Berliner Tagesspiegel veröf-
13 Vgl. Burmeister: Das Problem Kind.
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fentlicht wurde.14 Dieser wurde in der Folge zumeist als »Brandbrief« bezeichnet, womit die besondere Dringlichkeit der Problemkonstellation unterstrichen wurde. Es lohnt sich, diesen zum Auslöser einer Mediendebatte gewordenen Brief noch einmal genauer anzuschauen, da in ihm wichtige Linien der Diskussionen um »Problemschulen« in den folgenden Jahren bereits vorgezeichnet sind: »Die Statistik zeigt, dass an unserer Schule der Anteil der Schüler/innen mit arabischem Migrationshintergrund in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist. […] Wir müssen feststellen, dass die Stimmung in einigen Klassen zurzeit geprägt ist von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber. Notwendiges Unterrichtsmaterial wird nur von wenigen Schüler/innen mitgebracht. Die Gewaltbereitschaft gegen Sachen wächst: Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht, Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Flurwänden gerissen. Werden Schüler/innen zur Rede gestellt, schützen sie sich gegenseitig. Täter können in den wenigsten Fällen ermittelt werden. […] Unsere Bemühungen die Einhaltung der Regeln durchzusetzen, treffen auf starken Widerstand der Schüler/innen. Diesen Widerstand zu überwinden wird immer schwieriger. In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten. Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert. Einige Kollegen/innen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können. Die Folge ist, dass Kollegen/innen am Rande ihrer Kräfte sind. Entsprechend hoch ist auch der Krankenstand, der im 1. Halbjahr 05/06 höher war als der der Schüler/innen. […] Einige Kollegen/innen stellen seit Jahren Umsetzungsanträge, denen nicht entsprochen wird, da keine Ersatzkräfte gefunden werden. Auch von den Eltern bekamen wir bisher wenig Unterstützung in unserem Bemühen, Normen und Regeln durchzusetzen. Termine werden nicht wahrgenommen, Telefonate scheitern am mangelnden Sprachverständnis. Wir sind ratlos.« 15
14 S usanne Vieth-Entus: Gewalt an Berliner Schule. Notruf aus Neukölln, In: Tagesspiegel, 30.3.2006. 15 Vgl. Pick: Kopfschüsse, S. 123-126.
Problematisierung
Es handelt sich bei diesem Schreiben sowohl um einen öffentlichen Hilferuf als auch um eine mit deftigen Beispielen gespickte Abrechnung mit den eigenen Schüler*innen, die als aggressiv, respektlos und ignorant dargestellt werden. Gleich zu Beginn des hier nur in Ausschnitten zitierten Briefes wird ausführlich auf den besonders hohen Anteil von Schüler*innen aus arabischen Einwandererfamilien hingewiesen und dieser somit implizit bereits als Ursache des Problems hervorgehoben. Diese Schwerpunktsetzung ist weder zufällig entstanden noch folgenlos geblieben. Sie fügt sich nahtlos in die bereits beschriebene kulturalistische Lesart sozialer Problemlagen ein und trug in der Folge dazu bei, dass die Mediendebatte um die Rütli-Schule bald zu einer Debatte über muslimische »Parallelgesellschaften« und »verweigerte Integration« wurde.16 Der Rütli-Brief wurde von der damals kommissarisch tätigen Schulleiterin Petra Eggebrecht initiiert, die zu diesem Zeitpunkt krankgeschriebene langjährige Schulleiterin Brigitte Pick vertrat eine entgegengesetzte Perspektive. Aus der marxistischen Studierendenbewegung kommend sah sie die Verantwortung für die unbestrittene Schulmisere stärker bei der Gesellschaft selbst. In ihrem Buch »Kopfschüsse« wendet sie sich gegen die pädagogische Tendenz, die eigenen Versäumnisse stets anderen zuzuschieben (»Die Kinder sind das Problem, die Eltern, die Medien, das soziale Umfeld«), und verweist stattdessen darauf, dass im Sommer zuvor an der Rütli-Schule von 60 Schulabgänger*innen kein einziger eine Lehrstelle gefunden hatte.17 Zwar wurde auch im Rütli-Brief auf sozialstrukturelle Bedingungen hingewiesen, vor allem auf die soziale Abwertung der damaligen Hauptschule und deren mangelhafte materielle Ausstattung, doch wurde das Fehlverhalten der Schüler*innen und die unzureichende Unterstützung durch deren Eltern in den Mittelpunkt gestellt. Demnach mangele es den Jugendlichen an grundlegenden moralischen Standards und deren Familien an der notwendigen Kooperationsbereitschaft. Die Lehrer*innen, deren pädagogische Bemühungen am »starken Widerstand der Schüler/innen« scheitern, erscheinen dagegen als eine letzte Bastion von Vernunft und bürgerlicher Moral inmitten von Chaos und Gewalt. Diese Deutungsweise war auch an den von mir untersuchten Schulen unter Lehrer*innen weit verbreitet und wurde von deren Schullei16 Vgl. Wellgraf: Migration und Medien, S. 23-34. 17 Vgl. Pick: Kopfschüsse, S. 9 und 180.
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ter*innen wiederholt in den Medien vertreten. So hieß es bereits drei Jahre zuvor in einem Tagesspiegel-Bericht über fehlende Schulbücher am Schuljahresanfang: »Selbstbedienungsmentalität, Gleichgültigkeit, Bildungsfeindlichkeit – lang ist die Liste der Gründe, warum sich tausende Eltern vier Wochen nach Ferienende noch immer nicht um Schulbücher für ihre Kinder gekümmert haben. […] Klar ist bisher nur, dass sich das Schulbuchproblem einfügt in das gesamte Dilemma mit kooperationsunwilligen Eltern, das ohnehin den Alltag der Schulen in sozialen Brennpunkten bestimmt«. Anschließend berichtete der Direktor der Galilei-Schule von seinen Bemühungen und seinem Unverständnis über das mangelnde Engagement der Eltern. Vonseiten der Lokalpolitik wird darauf hin die Forderung nach »Bußgeldern« erwähnt sowie die Kürzung von Sozialleistungen ins Spiel gebracht. Auch von der Weddinger Anna-Seghers-Schule wurde in diesem Artikel berichtet, dass die dortigen Familien »bildungsfern bis bildungsfeindlich« eingestellt seien. In der Zusammenschau wurde schließlich auch nochmal auf den Einf luss kultureller Prägungen hingewiesen: »Besonders große Probleme mit den Lehrbüchern haben Schulen mit hoher Ausländerrate. So gibt es türkische Familien, die es aus Gründen der Tradition nicht einsehen, warum ihre Mädchen überhaupt mehr als sechs Jahre zur Schule gehen sollen.«18 Die Weddinger Anna-Seghers-Schule hatte im Frühjahr 2006, etwa zeitgleich zum »Rütli-Brief«, ebenfalls einen Beschwerdebrief verfasst. In der ohnehin aufgeheizten Mediendebatte erhielt dieser eine breite öffentliche Aufmerksamkeit: In einem Tagesspiegel-Artikel wird unter der Überschrift »Mit Totschläger die Klasse gestürmt« über diese und andere Schulen berichtet. Der reißerische Titel verweist auf einen Zwischenfall an einer anderen Berliner Hauptschule, bei dem »10 bis 15 mutmaßlich arabische Männer mit Messern und Totschläger« eine zehnte Klasse überfallen haben sollen. Zu den darauf hin geforderten Maßnahmen gehörte auch ein »Projekttag über Rassismus«, bei dem es jedoch nicht um institutionellen Rassismus, sondern um die »Konf likte zwischen den arabischen und schwarzen Schülern« gehen sollte. In Bezug auf die Weddinger Anna-Seghers-Schule wird von einem Schusswaffen-Angriff auf zwei Lehrerinnen vor dem Schulgebäude sowie vom Brief des dortigen Kollegiums berichtet, demnach »die Hälfte der Schüler kaum beschulbar« sei, »ein Großteil kein Empfinden für 18 Vgl. Susanne Vieth-Entus: Die Kinder sind die Dummen, In: Tagesspiegel, 24.9.2003.
Problematisierung
allgemeine Werte, Normen und Grenzen« habe und zudem »die Quote polizeibekannter Krimineller erschreckend hoch« wäre.19 Mit dieser pauschalen Disqualifizierung der eigenen Schüler*innenschaft begann eine Phase breiter medialer Berichterstattung in unterschiedlichen Mediengattungen, so wurde die damalige Direktorin unter anderem in die Fernsehtalkshows von Maybrit Illner und Günter Jauch eingeladen. Auch im Printbereich dominierte ein Defizitblick auf die Schüler*innen: In der Welt hieß es ebenfalls, die Anna-SeghersSchule würde zu einem großen Teil von »Intensivtätern, Jugendlichen aus belasteten sozialen Verhältnissen und solchen mit Migrationshintergrund besucht«, womit gleichsam suggeriert wurde, diese Sozialindikatoren wären allesamt und zudem auf eine vergleichbare Weise problematisch. Noch am gleichen Montag wurde auch in einer großen, zwölfseitigen Titel-Story im Spiegel aus dem Brief der Galilei-Schule zitiert: »In einigen Klassen seien ›bis zu 50 Prozent der Schüler nicht beschulbar‹. Besonders die Quote polizeibekannter Kleinkrimineller sei ›erschreckend hoch, gewaltbereite Intensivtäter mit erheblichem Einf luss‹ säßen ›kurze Zeit nach ihrer Verurteilung‹ schon wieder im Unterricht.«20 Am Dienstag tritt der Rapper Bushido – der selbst eine beträchtliche Liste an Gewaltdelikten und kriminellen Vergehen vorzuweisen hat – im Rahmen eines Gesprächsformats gegen Gewalt an der Galilei-Schule auf. Am gleichen Tag erscheint ein weiterer TagesspiegelArtikel über die Schule, dessen Titel »Alles getan – und trotzdem reicht es nicht« die bereits beschriebene Rolle des Lehrers als tragischem Helden fortschreibt.21 Auch darin ist wieder von Gewalt gegenüber dem Lehrpersonal zu lesen, von unbeschulbaren Intensivtätern und einem zunehmenden Werteverfall. »Die Schüler sind nicht pünktlich, nicht zuverlässig, nicht ehrgeizig. Sie wissen nicht, wozu sie überhaupt lernen sollen. Das ist im Elternhaus nicht angelegt.« Auch hier fehlt nicht der Hinweis darauf, dass die Schüler*innen »vorwiegend aus der Türkei und arabischen Ländern« stammen.
19 V gl. Susanne Vieth-Entus: Mit Totschläger die Klasse gestürmt, In: Tagesspeigel, 2.4.2006. laus Brinkbäumer/Stefan Berg/Dominik Cziesche/Barbara Hardinghaus/Udo 20 K Ludwig/Sven Röbel/Markus Verbeet/Peter Wensierski: Die verlorene Welt, In: DER SPIEGEL, 14/2006, S. 30. 21 Thomas Loy: Alles getan – und trotzdem reicht es nicht, In: Tagesspiegel, 4.4.2006.
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Parallel zum Fokus auf vermeintliche kulturelle Prägungen wird die besondere Gewalttätigkeit der Heranwachsenden medial als zentrales Motiv in den Vordergrund gerückt: Selbst in der als besonders seriös geltenden Süddeutschen Zeitung wurde im April 2006 in einer ganzseitigen Reportage über die Neuköllner Rütli-Schule unter dem Titel »Allein im Sog der Gewalt« ein Bedrohungsszenario evoziert und das Bild eines öffentlichen Raumes im Zustand des Chaos und des Bürgerkrieges gezeichnet. In den lebhaften Schilderungen der Gegend um die Rütli-Schule wird ein Junge auf offener Straße überfallen, es wird gebrüllt, geprügelt und gekeift. Nur wenige Straßen entfernt organisieren sich Eltern zu einer Art Bürgerwehr, um die Spielplätze vor gewalttätigen Jugendlichen zu schützen. Gleichzeitig setzt sich der »große Treck« derjenigen in Bewegung, die »aus gutem Grund« die Gegend verlassen, um die Zukunftschancen ihrer Kinder zu wahren. Wie die Spirale der Gewalt im öffentlichen Raum sich unauf haltsam fortsetzt, wird am eindrücklichsten im Bild zweier etwa zehnjähriger Jungen beschrieben, die jugendlichen Gewalttätern mit »leuchtenden Augen« hinterherrennen. In einem Leitartikel auf der folgenden Seite wurde der Berliner Bezirk Neukölln, der für die Autorin als Sinnbild für massenhafte Einwanderung steht, als fremdes Land bezeichnet, als ein Ort jenseits der deutschen Ordnung, als eine Art »Ghetto«, in dem die Gesetze der Gewalt und der Einschüchterung vorherrschten. Die Probleme der Neuköllner Rütli-Schule seien demnach »typisch« für Großstädte mit »multiethnischer Bevölkerung« und »sich abschottenden Stadtvierteln«.22 Diese alarmistischen Zuschreibungen verdichten sich in Feuermetaphern, bei der Schulen in städtischen Armutsquartieren als »Brennpunktschulen« markiert werden. Jugendliche aus Berlin-Neukölln gelten dieser Bezeichnungspraxis nach als »Brennpunktschüler« aus einem »Brennpunktbezirk«. Damit wird ein Ausnahmezustand suggeriert, der kurzfristige Rettungseinsätze nötig macht. In Artikeln zu Berliner Schulen tauchen diese »Brennpunkt«-Metaphern immer wieder und ohne Anführungszeichen auf, so als wäre dies eine sachlich begründete, objektive Orts- bzw. Gruppenbezeichnung. Was als scheinbar neutrale Zustandsbeschreibung daherkommt, entpuppt sich als ein hochgradig aufgeladenes Schlüsselsymbol, mit dem negative 22 F ür eine ausführlichere Analyse der SZ-Berichte um die Rütli-Schule vgl. Wellgraf: Migration und Medien, S. 74-87.
Problematisierung
Annahmen und spezifische Problemdiagnosen verbreitet werden. Die weitgehende Normalisierung dieser Semantik des Notstands zeigt sich auch daran, dass die Bezeichnungspraxis mittlerweile auch in der Fachliteratur übernommen und selbst staatliche Hilfsprogramme entsprechend bezeichnet werden. So erschienen bereits wissenschaftliche Bücher zur Brennpunkt(-)Schule und vom Berliner Senat wurde im Jahr 2013 das sogenannte Brennpunktprogramm aufgelegt – wobei jeweils auf die Anführungszeichen verzichtet wurde.23 Auch wenn diese Initiativen auf ein besseres wissenschaftliches Verständnis zielen oder gar zusätzliche Finanzhilfen für einige Schulen bereitstellen, schreiben sie dennoch eine stigmatisierende Bezeichnungspraxis fort. Dadurch avancieren diese unbemerkt zum Common Sense, zu natürlich anmutenden Grundannahmen, weithin unhinterfragten Alltagsgewissheiten – eben zu etwas Selbstverständlichem. Diese moralische Grammatik des Sprechens über sogenannte »Problemschulen« gilt es freizulegen, um Möglichkeiten eines anderen Verständnisses, einer divergierenden Sichtweise auf Schule und Gesellschaft zu ermöglichen. Auch in der Alltagssprache werden solche Sprechweisen mitsamt den dadurch evozierten katastrophischen Szenarien übernommen. Der spätere Direktor der Anna-Seghers-Schule sah die damalige Mediendebatte im Rückblick zwar durchaus skeptisch, wiederholte im Interview aber auf eigene Art die negative Einschätzung seiner Schüler*innenklientel. Diese bestünde größtenteils aus »Fassadenmenschen«, die ihr geringes Selbstbewusstsein durch »protziges Auftreten« kaschieren würden, also ihre »inneren Defizite durch das Äußerliche kompensieren«. Auch er hob die enorm hohe Zahl von »unbeschulbaren« Schüler*innen hervor und bedauerte diese »Zeitbomben« nicht direkt in »geschlossene psychiatrische Einrichtungen« überweisen zu können. Er verwies auf die »explosive Mischung« aus »extremer Arbeitslosigkeit und hohem Migrantenanteil« an der Schule, auf die »höhere Kriminalitätsrate« unter Migrant*innen und auf »bildungsferne Elternhäuser«, wobei ihm zufolge vor allem »Sinti und Roma überhaupt nicht an Bildung interessiert« seien. Diese Beispiele sollen genügen, um anzudeuten, dass mediale Akteure und Schulpersonal eine Allianz eingehen, bei der sozialmoralische Vorbehalte und blanker Rassismus vonseiten der Schule auf ein journalistisches Feld treffen, in dem Skandalnachrich-
23 Vgl. Fölker/Hertel/Pfaff (Hg.): Brennpunkt(-)Schule.
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Ausgrenzungsapparat Schule
ten und Gewaltberichte eine wichtige Währung im Kampf um mediale Aufmerksamkeit sind. Die entstehenden Berichte sind nicht einfach neutrale Darstellungen, in den medial angefachten Moral Panics geht es immer auch um moralische Verantwortung, um Schuldzuweisungen und Verurteilungen. Der Begriff der »Moral Panic« stammt von dem britischen Soziologen Stanley Cohen, der ihn in seinem Buch Folk Devils and Moral Panics aus dem Jahr 1972 eingeführt hat.24 Darin argumentiert Cohen am Beispiel der jugendlichen Subkulturen der »Mods« und der »Rocker«, dass Devianz keine vorhergehende Eigenschaft dieser Gruppen sei, sondern maßgeblich durch Prozesse negativer Zuschreibungen hervorgebracht werde. Massenmedien spielen für die Entstehung und Verbreitung von Moral Panics eine entscheidende Rolle, wobei neben Jugend- und Subkulturen seit den 1970er Jahren wiederholt Schulen, Unterschichten und Migrant*innen im Fokus von Moral Panics standen. Angela McRobbie und Sarah Thornton weisen in ihrer Auseinandersetzung mit dem Konzept darauf hin, dass im Gegensatz zum von Cohen betrachteten zentralisierten Mediensystem im Großbritannien der 1960er Jahre heute ein weit umfangreicheres, dynamischeres und diverseres Medienangebot existiere und dass Moral Panics teilweise bewusst von journalistischen und politischen Akteuren inszeniert werden.25 Ein Beispiel dafür sind jene Journalist*innen, welche die Schüler*innen der Rütli-Schule dafür bezahlten, Steine zu schmeißen und Gegenstände aus dem Fenster zu werfen, um skandalträchtiges Bildmaterial zu bekommen.26 Moral Panics werden unter diesen Umständen von einer Ausnahme zu einem Regelfall, was sowohl das Bild einer erhitzten Öffentlichkeit als auch die Vorstellung einer anhaltenden Bedrohung des gesellschaftlichen Wertesystems befördert. Die Mediendebatte um die Rütli-Schule weist eine Reihe jener Eigenschaften auf, die den von Erich Goode und Nachman Ben Yehuda zusammengestellten Kriterien von Moral Panics entsprechen.27 Demnach sind Moral Panics durch eine starke Beunruhigung über eine bestimmte Gruppe, durch eine feindliche Einstellung gegenüber dieser Gruppe, 24 Vgl. Cohen: Folk Devils and Moral Panics; Wellgraf: Hauptschüler, S. 181. 25 V gl. Critcher: Moral Panics and the Media; McRobbie/Thornton: Re-Thinking »Moral Panic« for Multi-Mediated Social Worlds. 26 Vgl. Pick: Kopfschüsse. 27 Vgl. Goode/Ben-Yehuda: Moral Panics.
Problematisierung
durch einen gesellschaftlichen Konsens über die Einschätzung der Gefahr, durch eine disproportionale und übertrieben erscheinende Reaktion auf die vermeintliche Gefahr sowie durch ein plötzliches Auf- und Abtauchen der Diskussion gekennzeichnet. Auch in der Rütli-Debatte gab es eine starke Beunruhigung, vor allem gegenüber (post-)migrantischen Schüler*innen, die Einstellungen gegenüber den Jugendlichen waren überwiegend ablehnend und ihre Beschreibungen diffamierend. Völlig überzogene Vorhaltungen, demnach etwa die Hälfte der Schüler*innen »unbeschulbar« und viele von ihnen hochgradig kriminell seien, avancierten zu unhinterfragten medialen Wahrheiten. Schließlich mangelte es auch nicht an übertriebenen Reaktionen, die von einer Rückkehr der Strafpädagogik bis hin zu den vielbeachteten Forderungen der damaligen Neuköllner Jugendrichterin Kirsten Heisig reichten, Schulverweiger*innen und deren Eltern mit Bußgeldern, Kürzungen des Kindergeldes, einem teilweisen oder kompletten Entzug des Sorgerechts oder einem vierwöchigen »Beugearrest« zu bestrafen.28 Das periodische Ab- und Auftauchen von Schuldebatten ist für unseren Fall ebenfalls von Bedeutung, denn in diesem Prozess kann ein diskursives Vermächtnis etabliert werden, welches die Bedingungen und Deutungen vorgibt, unter deren Vorzeichen künftig über ähnliche Fragen diskutiert wird. Wer die Wirkungsweisen von Moral Panics verstehen möchte, sollte demnach nicht nur Einzelfälle analysieren, sondern rekonstruieren, wie bestimmte Gruppen wiederholt beschuldigt, wie thematische Felder strukturiert und auf diese Weise wiederkehrende Episoden anhand der jeweils vorhandenen diskursiven Kategorien medial eingeordnet werden.29 So gab es bereits einige Wochen vor dem Rütli-Aufruhr eine ähnlich gelagerte Mediendebatte über eine sogenannte »Deutschpf licht« an (post-)migrantisch geprägten Berliner Schulen. Auch in den Folgejahren sollte es immer wieder zu erneuter moralischer Entrüstung über die Zustände an Berliner Sekundarschulen kommen, die sich zumeist um Gewalt und in den letzten Jahren zunehmend auch um »Deutschenfeindlichkeit« und Antisemitismus drehten.30 Das Problem der Schule wird in diesen Debatten weniger als sozialstrukturelles behan28 Vgl. Heisig: Das Ende der Geduld. 29 Vgl. Critcher: Moral Panics and the Media. 30 V gl. Nadja Klinger: Deutschenfeindlichkeit: Schule der Ängste, In: Tagesspiegel, 17.11.2010.
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delt, sondern vorwiegend mit Blick auf die moralische Verwahrlosung und die kulturellen Prägungen der Schüler*innen diskutiert. Die Problemlagen werden dadurch ethnisiert und auf die personengebundenen Verhaltensweisen einer muslimischen Minderheit bezogen. In diese Richtung argumentierte auch der einstige Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky, als er in einem Interview zur Schulpolitik in erster Linie »ein kulturell muslimisches Problem« ausmachte, da »sich 20 bis 30 Prozent der muslimischen Migranten in Distanz zu Demokratie und Toleranz« befänden.31 Diese diskursive Rahmung bewirkt, dass in geringerem Maße über Effekte gesellschaftlicher Machtverhältnisse sowie über Fragen einer gerechten Chancen- und Ressourcenverteilung im deutschen Bildungs- und Ausbildungssystem, sondern mehr über kulturelle Prägungen und vermeintlichen Islamismus debattiert wird. Moral Panics sind diskursive Schließungs- und Anschuldigungsmechanismen, in deren Rahmen nicht nur negative Deutungen in Bezug auf zumeist ohnehin bereits marginalisierte Bevölkerungsgruppen durchgesetzt werden, sondern durch die auch die Möglichkeiten des politischen Umgangs mit Schulfragen bereits vorgezeichnet sind.
Politische Agenden. Die Berliner Schulreform Grundlegende Veränderungen im Schulsystem sind eine besondere Herausforderung, da sich in diesem die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse manifestieren. Schon Antonio Gramsci, der das italienische Schulsystem als einen Ausdruck der althergebrachten politisch-moralischen Ordnung betrachtete, wies mit Blick auf die in den 1920er Jahren von der faschistischen Mussolini-Regierung durchgesetzten Bildungsreform darauf hin, dass sich diese Ordnung selbst unter neuen, nur vermeintlich demokratischeren Vorzeichen wieder durchsetze und noch tiefer in den Abgrund gleite.32 Warum führten auch hierzulande wiederholte Bildungsreformen letztlich immer wieder zu einer Restaurierung der hierarchischen Klassenverhältnisse, mitunter sogar zu verschärften sozialen Spaltungen? Dieser Frage möchte ich am Beispiel der Berliner Schulstrukturreform von 2010 nachgehen. Durch 31 V gl. Heinz Buschkowsky: »Das ist ein kulturell muslimisches Problem«, In: Tagesspiegel, 06.10.2010. 32 Vgl. Gramsci: Selections from the Prison Notebooks, S. 24-43.
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delt, sondern vorwiegend mit Blick auf die moralische Verwahrlosung und die kulturellen Prägungen der Schüler*innen diskutiert. Die Problemlagen werden dadurch ethnisiert und auf die personengebundenen Verhaltensweisen einer muslimischen Minderheit bezogen. In diese Richtung argumentierte auch der einstige Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky, als er in einem Interview zur Schulpolitik in erster Linie »ein kulturell muslimisches Problem« ausmachte, da »sich 20 bis 30 Prozent der muslimischen Migranten in Distanz zu Demokratie und Toleranz« befänden.31 Diese diskursive Rahmung bewirkt, dass in geringerem Maße über Effekte gesellschaftlicher Machtverhältnisse sowie über Fragen einer gerechten Chancen- und Ressourcenverteilung im deutschen Bildungs- und Ausbildungssystem, sondern mehr über kulturelle Prägungen und vermeintlichen Islamismus debattiert wird. Moral Panics sind diskursive Schließungs- und Anschuldigungsmechanismen, in deren Rahmen nicht nur negative Deutungen in Bezug auf zumeist ohnehin bereits marginalisierte Bevölkerungsgruppen durchgesetzt werden, sondern durch die auch die Möglichkeiten des politischen Umgangs mit Schulfragen bereits vorgezeichnet sind.
Politische Agenden. Die Berliner Schulreform Grundlegende Veränderungen im Schulsystem sind eine besondere Herausforderung, da sich in diesem die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse manifestieren. Schon Antonio Gramsci, der das italienische Schulsystem als einen Ausdruck der althergebrachten politisch-moralischen Ordnung betrachtete, wies mit Blick auf die in den 1920er Jahren von der faschistischen Mussolini-Regierung durchgesetzten Bildungsreform darauf hin, dass sich diese Ordnung selbst unter neuen, nur vermeintlich demokratischeren Vorzeichen wieder durchsetze und noch tiefer in den Abgrund gleite.32 Warum führten auch hierzulande wiederholte Bildungsreformen letztlich immer wieder zu einer Restaurierung der hierarchischen Klassenverhältnisse, mitunter sogar zu verschärften sozialen Spaltungen? Dieser Frage möchte ich am Beispiel der Berliner Schulstrukturreform von 2010 nachgehen. Durch 31 V gl. Heinz Buschkowsky: »Das ist ein kulturell muslimisches Problem«, In: Tagesspiegel, 06.10.2010. 32 Vgl. Gramsci: Selections from the Prison Notebooks, S. 24-43.
Problematisierung
den »PISA-Schock« geriet die Bildungspolitik in Deutschland Anfang der 2000er Jahre unter Handlungsdruck, den sozialen Spaltungen im Bildungssystem entgegenzuwirken. Da vor allem die frühzeitige Trennung in unterschiedliche, hierarchisch angeordnete Schultypen dafür verantwortlich gemacht wurde, dass soziale Disparitäten sich durch das Schulsystem weiter verschärfen, geriet unweigerlich auch die Hauptschule ins Fadenkreuz. In Berlin war diese Schulform spätestens seit der eben beschriebenen »Rütli«-Debatte endgültig in Misskredit geraten, zudem drängten Lehrer*innen und Elternverbände auch in der Folgezeit medienwirksam auf spürbare Veränderungen.33 In Berlin wurde darauf hin, wie damals auch in einigen anderen Bundesländern, im Jahr 2010 die Hauptschule abgeschafft und mit den bisherigen Realschulen zu neuen integrierten Sekundarschulen fusioniert, die seitdem neben dem Gymnasium die größte weiterführende Schulform bilden. An den neuen Sekundarschulen können, zumindest theoretisch, alle Schulabschlüsse einschließlich des Abiturs erworben werden, zudem sollen sie einen Ganztagesbetrieb anbieten. Doch diese auf den ersten Blick progressiv erscheinende Berliner Bildungsreform erweist sich bei genauerem Hinsehen als vertrackter und widersprüchlicher. Zum einen, da zunächst deutlich grundlegendere Veränderungen geplant waren, zum anderen, da sich zugleich eine andere, öffentlich weithin unbemerkte Transformation des Bildungssystems vollzog. Die Berliner Regierungskoalition aus SPD und der PDS (später Die Linke) hatte ursprünglich ein einheitliches Schulsystem anvisiert, was auch das Ende des Gymnasiums als eigenständige Schulform bedeutet hätte. Diese bildungspolitische Neuausrichtung erfolgte keineswegs durch die Hintertür. Schon im Wahlkampf hatte die PDS Schulreformen zu ihrem zentralen Thema gemacht, auch im November 2006 gemeinsam verabschiedeten Koalitionsvertrag wurde die »Entkopplung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft« durch die Einführung einer »am skandinavischen Prinzip« orientierten »Gemeinschaftsschule« prominent als erster Punkt hervorgehoben.34 Wenig überraschend wurden diese Pläne von der Opposition vehement kritisiert, die FDP witterte einen »Frontalangriff auf das Leistungssystem« und die CDU 33 V gl. Regina Köhler/Florentine Anders: Schulmisere. Lehrer und Eltern machen Druck, In: Berliner Morgenpost, 6.3.2009. 34 V gl. Berliner Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Linkspartei/PDS 2006 – 2011, S. 6. .
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warnte vor einem bevorstehenden »Bildungschaos«. Die Grünen positionierten sich mit Rücksicht auf ihre bildungsbürgerliche Klientel ebenfalls gegen die Gemeinschaftsschule und favorisierten ein »ZweiWege-Modell«. Aber auch in der Rot-Roten-Koalition kam es zum Streit: Bildungssenator Zöllner von der SPD wollte das Gymnasium erhalten und wurde dafür sowohl vom Koalitionspartner als auch vom linken Flügel seiner eigenen Partei vehement attackiert. Diese forderten beide nach wie vor eine »Schule für alle«, mit dem Argument, »in einem zweigliedrigen Schulsystem wird das Prinzip der Auslese nicht aufgehoben«.35 Die Stimmung kippte schließlich gegen die Gemeinschaftsschule, nachdem in ähnliche Richtung zielende Reformmaßnahmen in Hamburg, die neben der Fusion von Haupt- und Realschulen auch eine Verlängerung der Grundschule von vier auf sechs Jahre vorsahen, auf heftigen Widerstand der konservativen Teile der Hamburger Bürgerschaft gestoßen waren. Letztlich wurde ein halbherziger Kompromiss beschlossen: Bei der am 15. Januar 2010 vom Berliner Abgeordnetenhaus verabschiedeten Schulreform blieb das Gymnasium unangetastet, lediglich die dreigliedrige Oberschule wurde durch ein zweigliedriges System ersetzt. Parallel dazu lief an ausgewählten Berliner Schulen von 2008 bis 2018 ein Pilotprojekt »Gemeinschaftsschule« von der ersten Klasse bis zur zehnten bzw. dreizehnten Klasse, von denen einige später in den Regelbetrieb übergingen. Die Berliner Schulreformer hatten nicht zum ersten Mal Angst vor der eigenen Courage bekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von den Besatzungsmächten auf beiden Seiten der Mauer zunächst eine eingliedrige Schule als Gegenmittel zu Militarismus und Autoritarismus favorisiert. Angriffe der bürgerlichen Opposition gegen die »rote Einheitsschule« führten damals jedoch dazu, dass die Idee eines Gesamtschulsystems zumindest im Westteil der Stadt wieder aufgegeben wurde. Mit dem Berliner Schulgesetz von 1951 kam es zu einem Comeback der dreigliedrigen Oberschule der Weimarer Republik, wodurch weiterführende Schulbildung weiterhin einer bürgerlichen Minderheit vorbehalten blieb.36 Die nächste Reformmöglichkeit 35 V gl. Werner von Bebber: Berlin-CDU erwartet »Bildungschaos«, In: Tagesspiegel, 3.3.2009; DDP: Linker Flügel der SPD attackiert Zöllners Schulplanung, In: Tagesspiegel, 26.9.2008; Werner von Bebber: Linke fordern eine Schule für alle, In: Tagesspiegel, 27.9.2008. 36 Vgl. Friedeburg: Bildungsreform in Deutschland, S. 288-293.
Problematisierung
ergab sich in den linksbewegten Jahren um 1968, nachdem in Folge der Bildungsexpansion die strikte Trennung der Oberschulen überholt erschien und auch das Verhältnis zur sich in Richtung Postfordismus wandelnden Arbeitswelt als reformbedürftig galt. In Berlin-Neukölln entstand in dieser Zeit mit der reformpädagogisch ausgerichteten Walter-Gropius-Schule ein erstes, viel beachtetes Gesamtschulexperiment. Die SPD setzte in den 1970er Jahren im »Schulkampf« mit der CDU auf die Gesamtschule, was ihr durchaus Wahlerfolge einbrachte, aber auch heftigen Widerstand der damaligen Eltern- und Lehrer*innenverbände hervorrief. Am Ende blieb es bei Reformversuchen. Das gegliederte Schulsystem blieb erhalten, auch wenn in Berlin die Gesamtschule für einige Zeit als zusätzliche Schulform angeboten wurde. Die letzte große Chance wurde schließlich 1989/90 vergeben, als die DDR-Einheitsschule ohne größere Debatten durch das hierarchische westdeutsche Schulsystem ersetzt wurde. Im Rückblick auf diese lange Geschichte gescheiterter Schulreformen in Deutschland zieht Ludwig von Friedeburg ein desillusioniertes Fazit: »Auch die Vorstellung, hinter den wissenschaftspropädeutischen Gymnasien, die sich ihre Schüler aussuchen können, im zweiten Glied die Haupt-, Real- und Gesamtschulen reformpädagogisch für alle zusammenzuschließen, führt nicht weiter, sondern beschwört aufs neue die alte Zweiteilung von höherem und niederem Schulwesen, mit allen Folgen für die soziale Selektion. Doch die Geschichte der Bildungsreform zeigt, dass über ihren Fortgang nicht pädagogische Einsichten und organisatorische Konzepte, sondern gesellschaftliche Machtverhältnisse entscheiden. Sie sorgten durch die Jahrhunderte in den deutschen Ländern für die außerordentliche Beständigkeit der Strukturen öffentlicher Bildung und damit für eine unvergleichliche Kontinuität der Probleme und Polarisierungen. So groß die wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen waren, das Interesse an bestimmten Formen der sozialen Ungleichheit ließ neue Gruppen in die Fußstapfen der alten treten, um das Bildungssystem zu bewahren.«37 Die Berliner Schulreform von 2010 wurde auch von vielen meiner Gesprächspartner*innen im Schulbereich als inkonsequent kritisiert, da mit dieser letztlich die hierarchische Gliederung beibehalten würde und sich lediglich die Segregationslinien unterhalb des Gymnasiums verschoben hätten. Zwar wurde die Abschaffung der Hauptschule 37 Ebd., S. 476.
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grundsätzlich begrüßt, die als überstürzt und wenig dialogorientiert wahrgenommene Art und Weise der Reform jedoch äußerst skeptisch betrachtet. Ernüchterung verbreitete sich vor allem, als sich die Schulreform als eine verkappte Sparmaßnahme herausstellte, die deutlich verschlechterte Arbeitsbedingungen zur Folge hatte. Während die Klassengrößen der ehemaligen Realschulen von 29 auf 26 Kinder leicht reduziert wurden, verschlechterte sich der Betreuungsschlüssel der ehemaligen Hauptschulen massiv. Waren dort zuvor jeweils zwei Pädagog*innen für kleinere Klassen von bis zu 15 Schüler*innen zuständig, mussten sie nun in der Regel einzeln größere Klassen von 26 Schüler*innen betreuen. Mit der Zusammenlegung von Schulstandorten fielen zudem neben Leitungspositionen auch Stellen von Hausmeister*innen und Sozialarbeiter*innen weg, selbst bei der Toilettenreinigung gab es spürbare Einschnitte. Der nichtgymnasiale Schulbestand in Berlin schrumpfte im Zuge der Reform um etwa ein Sechstel, wobei vor allem kleinere Schulstandorte geschlossen oder fusioniert wurden. Als ich den Direktor der Neuköllner Galilei-Schule um seine Einschätzung bat, kritisierte er vor allem diese für Reformmaßnahmen im Bildungsbereich typische Diskrepanz zwischen großen Ankündigungen und mangelnder Ausstattung: »In den letzten zehn Jahren sind ja eine ganze Reihe von Reformen auf die Schulen niedergeprasselt. Aber das waren meist eher so Mohrrüben, die man einem lahmen Pferd hinhält. Letztlich geht es dabei immer ums Geld. Das Problem ist die grundsätzliche Unterfinanzierung der Schulen hier in Berlin, weshalb dann auch die großangekündigten Maßnahmen oft nur halbherzig umgesetzt werden können. Die Schulstrukturreform war nötig und der eingeschlagene Weg eigentlich richtig, wenn man es entsprechend personell hätte unterfüttern können.« Erstaunlicherweise war die Mehrzahl der von mir interviewten schulischen Akteure in Schulformen tätig, deren grundlegende Organisation sie ablehnten und deren personelle Ausstattung sie als unzureichend betrachteten. Mit Blick auf die Finanzierung von Bildung in Deutschland ließe sich noch ergänzen, dass diese selbst sozial ungleich gestaffelt ist: Während die Finanzierung von Gymnasien hierzulande deutlich über dem Durchschnitt der OECD-Länder liegt, bleibt die derzeitige Ausstattung von Grund- und Sekundarschulen darunter, wobei im Vergleich zu diesen selbst die ehemaligen Hauptschulen noch
Problematisierung
verhältnismäßig gut dastanden.38 Die hierarchische Gliederung des Schulsystems wurde von den von mir befragten Lehrer*innen auch deshalb als grundlegende Hypothek betrachtet, da sie an Haupt- und Sekundarschulen die desaströsen Folgen einer negativen Selektion konkret vor Augen hatten. Dieser Eindruck deckt sich mit Umfragen zur Berliner Bildungsreform, demnach mehr als zwei Drittel der Schulleitungen von integrierten Sekundarschulen sich eine einheitliche Sekundarstufe vorstellen können, während diese Vorstellung von 85 Prozent der Gymnasialleitungen zurückgewiesen wird.39 Pädagog*innen aus der ehemaligen DDR argumentierten in Interviews auch offensiv für eine »Einheitsschule« – allerdings erst nachdem sie sich rückversichert hatten, dass auch ich »noch im Osten zur Schule« gegangen war. Übrigens wurde die systemkritische Einschätzung selbst in Teilen der Schulverwaltung geteilt. Auch dort wurde im Jahr 2009 – nach der Zusage von Anonymität – im Gespräch mit mir offen eingeräumt, dass die bisherigen Schulformen in Berlin »als gesellschaftliches Angebot versagt« hätten, die nun beschlossene Schulreform die grundlegenden Probleme aber auch nicht beheben werde. Es wird also ein hierarchisches Schulsystem aufrechterhalten, an das anscheinend nicht einmal die maßgeblich beteiligten Personen mehrheitlich glauben. Am Beispiel der Schulverwaltung lässt sich veranschaulichen, wie diese schizophrene Haltung möglich ist. Während die Strukturentscheidungen auf der Ebene des Berliner Abgeordnetenhauses sowie der für Bildung zuständigen Senatsverwaltung fielen, war deren Umsetzung Aufgabe der jeweiligen Bezirke und der einzelnen Schulen. Die praktische Realisierung der Reform war folglich mit einem schwierigen Abstimmungsprozess verbunden »zwischen Senatsverwaltung (inkl. der politischen Spitze), Bezirksstadträten und Schulleitungen […], in dem rechtlichen Vorgaben und Zuständigkeiten ebenso Rechnung getragen werden musste wie gewachsenen Traditionen«.40 Zentrale Figur in diesem institutionellen Gefüge war Sigfried Arnz, der unterhalb des damaligen Bildungssenators Jürgen Zöllner die entsprechenden Projektgruppen leitete. Die Berliner Schulaufsicht mit den jeweiligen 38 Vgl. El-Mafaalani: Mythos Bildung, S. 173. 39 V gl. Maaz/Baumert/Neumann/Becker/Dumont (Hg.): Die Berliner Schulstrukturreform. gl. Neumann/Becker/Baumert/Maaz/Köller/Jansen: Das zweigliedrige Berliner 40 V Sekundarschulsystem auf dem Prüfstand, S. 472.
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bezirklichen Schulaufsichtsbehörden spielte ebenfalls eine wichtige Rolle beim Vorantreiben der Reform. Konf likte ergaben sich vor allem mit eigensinnigen Bezirksämtern sowie dem Baureferat der Bildungsabteilung. So startete die Schulreform mancherorts erst mit einem Jahr Verspätung. Das Baureferat wehrte sich gegen symbolpolitisch motivierte Baumaßnahmen, die daraus resultierten, dass einige als besonders stigmatisiert geltende Schulstandorte nicht mehr für die neuen Berliner Sekundarschulen in Frage kamen. Aus diesem Grund musste auch die Weddinger Anna-Seghers-Schule im Zuge der Reform aus ihrem eigentlich erst frisch renovierten Gebäude ausziehen. Gleichzeitig drohte bei den mühsam ausgehandelten Kompromissen ständiger Gegenwind von der Linkspartei, die bei einzelnen Beschlussvorlagen wiederholt eine bessere finanzielle Ausstattung der Schulen forderte. Obwohl die interviewte Person aus der Schulverwaltung selbst an der Wirksamkeit der Reformen zweifelte und deren ungenügende finanzielle Ausstattung kritisierte, war sie im Alltag vor allem darauf ausgerichtet, die vorgegebenen Maßnahmen möglichst reibungslos umzusetzen. Ihre persönlichen Fehden trug sie folglich mit »einer schwierigen Person« in der Bauabteilung aus, ihre damals drängendste beruf liche Sorge war, dass die Linkspartei »nochmal dazwischen grätschen« könnte und so die mühsame Arbeit der letzten Wochen zunichtemachen würde. Schulische Probleme sind nicht einfach da, sie werden zu bestimmten Zeitpunkten auf die mediale Agenda gebracht und der Logik von diskursiven Schlüsselsymbolen nach interpretiert, auch die entsprechenden Reformmaßnahmen werden von verschiedenen politischen Lagern lanciert und der jeweiligen ideologischen Ausrichtung nach eingeordnet. Dieses »politische Spektakel« wird aufrechterhalten, solange es ungelöste Probleme gibt, die in die etablierte Aufmerksamkeitsökonomie passen und entlang der gängigen politischen Spaltungslinien debattiert werden können.41 Symbolische Neujustierungen und faule Kompromisse, wie sie die Berliner Schulreform charakterisieren, werden dabei als politische Lösungen für soziale Probleme verkauft. Murray Edelmann bezeichnet solche demonstrativen Maßnahmen, in denen die grundlegenden Strukturen unangetastet bleiben, als »the perpetuation of problems through policies to ameliorate them«.42 Dem41 Vgl. Edelmann: Constructing the Political Spectacle. 42 Ebd., S. 25ff.
Problematisierung
entsprechend verwundert es nicht, dass die grundlegenden Probleme des Berliner Schulsystems schon bald wieder zutage traten.
Kritik der Schulreform. Bildungspolitische Interessensverbände Von mehreren Seiten gab es in den letzten Jahren vehemente Kritik an der Berliner Schulstrukturreform, wobei die Abschaffung der Hauptschule zwar einhellig begrüßt, die Umsetzung der Reform jedoch als unzureichend bewertet wurde. Die Interventionen von bildungspolitischen Interessensverbänden, wie dem Landeselternausschuss Berlin (LEA) und der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), wurden von skeptischen Einschätzungen vonseiten der Wissenschaft begleitet. In der Zusammenschau entsteht das Bild einer zwar gutgemeinten, doch letztlich weitgehend gescheiterten Schulreform, wobei ich mich hier auf den Aspekt der sozialen Segregation im Schulsystem beschränke, deren Verminderung ein Hauptanliegen der Reform gewesen war. Auch innerhalb des parlamentarischen Betriebs gab es eine kritische Begleitung der Berliner Schulpolitik. Joschka Langenbrink, SPD-Abgeordneter im Berliner Abgeordnetenhaus, in dessen Neuköllner Wahlkreis auch die Galilei-Schule fiel, setzte sich beispielsweise vehement für eine stärkere staatliche Kontrolle von Privatschulen in Berlin sowie für eine Aufstockung der Mittel für Schulsanierungen und Schulsozialarbeit ein.43 Mit seinen schriftlichen Anfragen an das Berliner Landesparlament konnte er mehrfach auf besonders eklatante Missstände hinweisen. So zeigte sich, dass die Gewaltvorfälle an Berliner Schulen seit der Schulreform im Jahr 2010 über mehrere Jahre hinweg deutlich zugenommen haben.44 Die Zahl der offiziell gemeldeten »Beleidigungen/Drohungen/Tätlichkeiten« stieg beispielsweise von 876 im Schuljahr 2010/11 auf 2265 im Schuljahr 2015/16, die Zahl der Suizidankündigungen verdreifachte sich im gleichen Zeitraum. Eine Anfrage zur Sanierung von Schultoiletten im Jahr 2012 ergab für die Berliner Schulstandorte in bezirklicher Trägerschaft einen Sanierungsbedarf von 1,4 43 Vgl. . 44 V gl. Abgeordnetenhaus Berlin: Gewaltvorfälle in den Berliner Schulen im ersten Schulhalbjahr 2016/2017, Drucksache 18/11 129, 20.4.2017.
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entsprechend verwundert es nicht, dass die grundlegenden Probleme des Berliner Schulsystems schon bald wieder zutage traten.
Kritik der Schulreform. Bildungspolitische Interessensverbände Von mehreren Seiten gab es in den letzten Jahren vehemente Kritik an der Berliner Schulstrukturreform, wobei die Abschaffung der Hauptschule zwar einhellig begrüßt, die Umsetzung der Reform jedoch als unzureichend bewertet wurde. Die Interventionen von bildungspolitischen Interessensverbänden, wie dem Landeselternausschuss Berlin (LEA) und der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), wurden von skeptischen Einschätzungen vonseiten der Wissenschaft begleitet. In der Zusammenschau entsteht das Bild einer zwar gutgemeinten, doch letztlich weitgehend gescheiterten Schulreform, wobei ich mich hier auf den Aspekt der sozialen Segregation im Schulsystem beschränke, deren Verminderung ein Hauptanliegen der Reform gewesen war. Auch innerhalb des parlamentarischen Betriebs gab es eine kritische Begleitung der Berliner Schulpolitik. Joschka Langenbrink, SPD-Abgeordneter im Berliner Abgeordnetenhaus, in dessen Neuköllner Wahlkreis auch die Galilei-Schule fiel, setzte sich beispielsweise vehement für eine stärkere staatliche Kontrolle von Privatschulen in Berlin sowie für eine Aufstockung der Mittel für Schulsanierungen und Schulsozialarbeit ein.43 Mit seinen schriftlichen Anfragen an das Berliner Landesparlament konnte er mehrfach auf besonders eklatante Missstände hinweisen. So zeigte sich, dass die Gewaltvorfälle an Berliner Schulen seit der Schulreform im Jahr 2010 über mehrere Jahre hinweg deutlich zugenommen haben.44 Die Zahl der offiziell gemeldeten »Beleidigungen/Drohungen/Tätlichkeiten« stieg beispielsweise von 876 im Schuljahr 2010/11 auf 2265 im Schuljahr 2015/16, die Zahl der Suizidankündigungen verdreifachte sich im gleichen Zeitraum. Eine Anfrage zur Sanierung von Schultoiletten im Jahr 2012 ergab für die Berliner Schulstandorte in bezirklicher Trägerschaft einen Sanierungsbedarf von 1,4 43 Vgl. . 44 V gl. Abgeordnetenhaus Berlin: Gewaltvorfälle in den Berliner Schulen im ersten Schulhalbjahr 2016/2017, Drucksache 18/11 129, 20.4.2017.
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Milliarden Euro bzw. von etwa 100 Millionen für den Bezirk Neukölln.45 Insgesamt war etwa die Hälfte der Schultoiletten sanierungsdürftig, allerdings standen für Reparaturen in Neukölln nur etwa 10,5 Millionen Euro zur Verfügung. Im Landeselternausschuss Berlin wurde die Berliner Schulreform mitsamt ihren Neben- und Folgewirkungen ebenfalls intensiv begleitet und diskutiert, etwa durch Pressemitteilungen und einer eigens gegründeten »Arbeitsgemeinschaft Integrierte Sekundarschule«.46 Kritisiert wurden dabei unter anderem die mangelnde schulische Ausstattung, die sich in der Schule fortziehenden sozialen Spaltungslinien sowie die drastischen Kürzungen im Bereich der Jugendsozialarbeit. Als im Jahr 2019 erneut 19 solcher Stellen gestrichen werden sollten, protestierte die LEA-Vorsitzende Lieselotte Stockhausen-Doering: »Auf der einen Seite leistet sich Berlin zwei millionenschwere Brennpunktschulprogramme, auf der anderen zerstört es mit dieser Stellenstreichung gewachsene Strukturen an Schulen, die dringend diese Hilfe brauchen!«47 Es geht also nicht allein um die absolute Menge der Bildungsinvestitionen, sondern auch darum, für welche Programme und Anliegen in den letzten Jahren Gelder zur Verfügung gestellt wurden. Die Hauptanliegen aus Sicht der Elternvertretung wurden nach der Berlin-Wahl im Jahr 2016 in einem »Forderungspapier vom Landeselternausschuss Berlin zur Koalitionsbildung für das Abgeordnetenhaus« gebündelt. Das vorrangige Ziel der Berliner Schulstrukturreform, den Schulerfolg weniger abhängig vom familiären und sozioökonomischen Hintergrund der Eltern zu machen, wurde demnach »weit verfehlt«. Stattdessen verließen mehr als zehn Prozent die neuen integrierten Sekundarschulen ohne Abschluss, etwa 50 Prozent mehr als vor der Reform.48 Diese Quote hat sich seitdem noch weiter verschlechtert,
45 V gl. Abgeordnetenhaus Berlin: Sanierung von Toiletten-Anlagen in Berliner Schulen, Drucksache 17/13 099, 17.1.2014. 46 Vgl. Landeselternausschuss Berlin, . gl. Landeselternausschuss Berlin: Pressemitteilung des Vorstandes: Schluss 47 V mit Hü und Hott an Berliner Schulen, . gl. Landeselternausschuss Berlin: Forderungspapier vom Landeselternausschuss 48 V Berlin zur Koalitionsbildung für das Abgeordnetenhaus nach der Berlin-Wahl 2016, . gl. Institut für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg: Schulabschlüs49 V se im Jahrgang 10. Zentrale Ergebnisse zur BBR, eBBR und zum MSA in Berlin im Schuljahr 2018/19, S. 9. 50 V gl. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Berlin, . gl. GEW Berlin: Zehn Jahre Schulreform: Wir können uns nicht ausruhen! Presse51 V mitteilung, 22.1.2020.
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Wie in diesem Verweis bereits angedeutet, wurde vonseiten der Bildungswissenschaft der Trend zur sozialen Spaltung im Schulsystem wiederholt bestätigt, auch wenn die entsprechenden Diagnosen kaum noch für mediale Schlagzeilen sorgten. Die sozialen und migrationsbezogenen Disparitätsmuster im Schulsystem konnten nach Einschätzung der bereits eingangs erwähnten Berlin-Studie nicht aufgebrochen werden, teilweise haben sie sich sogar noch weiter zugespitzt. Vor allem jene Sekundarschulen, die keine gymnasiale Oberstufe anbieten können, drohen nun weiter ins Abseits zu geraten: »Die mit einem gegliederten Schulsystem verbundene soziale und ethnische Entmischung konnte mit den Umgründungen hingegen nicht verringert werden. Die Unterschiede in der Zusammensetzung der Schülerschaft von Schulen mit unterschiedlicher Umgründungsgeschichte haben sich im Vergleich zu den ehemaligen nichtgymnasialen Schulformen tendenziell sogar vergrößert.«52 Auch für die Schüler*innen am unteren Ende der Bildungshierarchie ergaben sich keine wesentlichen Verbesserungen, weder was ihre soziale Lage betrifft noch in Bezug auf ihre Einstellungen zur Schule. Dem bildungswissenschaftlichen Jargon der Berlin-Studie nach gibt es eine »hohe Stabilität in den sozialen und schulbiografischen Merkmalen der Schülerschaft mit kumulierter Kompetenzarmut« sowie »kaum Veränderungen in leistungsbezogenen Merkmalen und motivationalen Orientierungen der Risikogruppe«.53 Neben dem empirischen Aufzeigen von persistenten Ungleichheitsmustern wird auch das zunehmend ökonomische Verständnis von Bildung kritisiert, welches der Bildungspolitik und Teilen der Bildungsforschung zugrunde liegt. Die übermäßige Fokussierung auf Verwertbarkeit und Nutzenmaximierung reduziert Bildung demnach auf eine Art von Humankapital.54 Dem ließe sich anhand des Berliner Beispiels noch hinzufügen, dass die Bildungspolitik nicht einmal in diesem ökonomischen Sinne effizient handelt. So liegt den PISA-Studien ja letztlich das Argument zugrunde, dass es sich bei der mangelnden pädagogischen Förderung von weiten Teilen der Bevölkerung sowie den daraus resultierenden Ausgrenzungen vom Arbeitsmarkt um eine unzureichende Ausschöpfung von Bevölkerungsressourcen, um 52 N eumann/Becker/Baumert/Maaz/Köller/Jansen: Das zweigliedrige Berliner Sekundarschulsystem auf dem Prüfstand, S. 474. 53 Ebd., S. 481f. 54 Vgl. Höhne: Ökonomisierung und Bildung.
Problematisierung
eine Verschwendung von Humankapital handele. Die politisch beförderten sozialen Spaltungen im Bildungsbereich deuten demnach darauf hin, dass hierzulande selbst ökonomische Effizienzerwägungen der Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen untergeordnet werden. Die Klassenverhältnisse bilden sich demnach nicht wie in den Analysen von Karl Marx primär im ökonomischen Kernbereich der Fabriken, sie werden hinsichtlich sozialkultureller Verortungen über diverse Alltagspraktiken hervorgebracht sowie hinsichtlich des Bildungs- und möglichen Berufsstatus maßgeblich über Staatsapparate wie die Schule produziert.55 Das Verhältnis von Schulen als Institution, der Bildungspolitik und den Klassenverhältnissen ist dabei kein unilineares, sondern – wie gesehen – selbst Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen und Ausdruck historisch gewachsener, doch gleichsam konjunkturell schwankender Kräfteverhältnisse.56 Es fehlt also weder an ausreichenden Informationen und bildungswissenschaftlicher Expertise noch an kritischen Stimmen zu sozialen Spaltungen im Schulsystem, doch weiterhin an entsprechend wirksamen politischen Maßnahmen. Die Frage, wessen Stimmen gehört werden und von welcher Position aus diese artikuliert werden, verweist auf die machtvolle »Ordnung des Diskurses«.57 An der weitgehenden Wirkungslosigkeit der hier versammelten Kritiken deutet sich der Machtverlust insbesondere der einst einf lussreichen Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft an. Wir haben es auf der Ebene der pädagogischen Professionen und bildungspolitischen Interessensverbänden also weniger mit einer ideologischen Verblendung zu tun, vielmehr ist durchaus ein Bewusstsein für die Diskrepanz zwischen den ideologischen Verheißungen und der sozialen Realität vorhanden, allerdings auch eine realistische Einschätzung der derzeit stark begrenzten Einf lussmöglichkeiten. Diese nach Slavoj Žižek für moderne westliche Gesellschaften typische ideologische Konstellation führt tendenziell zu zynischen Haltungen in Bezug auf das Bildungssystem.58 Zyniker sind sich demnach der durch ihr Handeln gestützten sozialen Hierarchien und gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten durchaus bewusst, 55 V gl. Balibar/Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation, S. 190-224; Balibar: »Klassenkampf« als Begriff des Politischen. 56 Vgl. Torres: The capitalist state and public policy formation. 57 Vgl. Foucault: Die Ordnung des Diskurses. 58 Vgl. Žižek (Hg.): Mapping Ideology.
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leisten aber dennoch weiterhin ihren alltäglichen Beitrag zur Aufrechterhaltung eben dieser Verhältnisse. Zu der Aufrechterhaltung gehört paradoxerweise auch die Möglichkeit der Kritik, und gleichwohl diese weitgehend wirkungslos bleibt, bestätigt sie dennoch die demokratische Verfasstheit des Reformprozesses. Doch bei genauerem Hinsehen mangelt es genau an dieser demokratischen Legitimierung.
Stille Transformationen. Privatisierung und Vermarktlichung Parallel zur breit diskutierten Schulstrukturreform findet eine weit weniger beachtete Transformation statt, die eine grundsätzliche Neuausrichtung des Verständnisses von Schule und Bildung mit sich bringt. Diese vollzieht sich weitgehend im Windschatten der offiziell verkündeten Reformpolitik und ist sozialpolitisch teilweise konträr zu dieser ausgerichtet. Angesichts der erstaunlichen Geräuschlosigkeit tiefgreifender neoliberaler Umwälzungen könnte man mit Autoren wie Wendy Brown und Stuart Hall von einer »heimlichen« oder »schleichenden« Revolution sprechen.59 Dabei lassen sich unterschiedliche Rhetoriken unterscheiden, neben den emanzipatorischen und gerechtigkeitsorientierten Semantiken der Berliner Bildungsreform verbreitete sich nämlich gleichzeitig ein neues Reformvokabular. Qualitätsentwicklung, Schulautonomie und Transparenz heißen die wohlklingenden Schlagwörter dieser jüngeren Entwicklung. Statt dem Schulsystem als Ganzes rücken dabei zunehmend die Einzelschulen in den Fokus: Diese erhalten mehr Spielraum in Bezug auf Personalentscheidungen, Lehrplaninhalte und Unterrichtsformate, es ergeben sich aber auch größere Rechenschaftspf lichten, sie werden vermehrt evaluiert, müssen »benchmarks« erfüllen und Schulstatistiken veröffentlichen. Mit der neuen Wettbewerbssteuerung im Bildungssystem transformiert sich die Schullandschaft zu »Quasi-Märkten«, bei denen marktwirtschaftliche und staatliche Steuerungselemente miteinander kombiniert werden. So wird die Einführung von Wettbewerbselementen wie Profilbildung und freier Schulwahl politisch angeregt, durch gezielte Verwaltungsmaßnahmen ermöglicht sowie durch die Bereitstellung von
59 Vgl. Hall: The Neo-Liberal Revolution; Brown: Undoing the Demos.
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leisten aber dennoch weiterhin ihren alltäglichen Beitrag zur Aufrechterhaltung eben dieser Verhältnisse. Zu der Aufrechterhaltung gehört paradoxerweise auch die Möglichkeit der Kritik, und gleichwohl diese weitgehend wirkungslos bleibt, bestätigt sie dennoch die demokratische Verfasstheit des Reformprozesses. Doch bei genauerem Hinsehen mangelt es genau an dieser demokratischen Legitimierung.
Stille Transformationen. Privatisierung und Vermarktlichung Parallel zur breit diskutierten Schulstrukturreform findet eine weit weniger beachtete Transformation statt, die eine grundsätzliche Neuausrichtung des Verständnisses von Schule und Bildung mit sich bringt. Diese vollzieht sich weitgehend im Windschatten der offiziell verkündeten Reformpolitik und ist sozialpolitisch teilweise konträr zu dieser ausgerichtet. Angesichts der erstaunlichen Geräuschlosigkeit tiefgreifender neoliberaler Umwälzungen könnte man mit Autoren wie Wendy Brown und Stuart Hall von einer »heimlichen« oder »schleichenden« Revolution sprechen.59 Dabei lassen sich unterschiedliche Rhetoriken unterscheiden, neben den emanzipatorischen und gerechtigkeitsorientierten Semantiken der Berliner Bildungsreform verbreitete sich nämlich gleichzeitig ein neues Reformvokabular. Qualitätsentwicklung, Schulautonomie und Transparenz heißen die wohlklingenden Schlagwörter dieser jüngeren Entwicklung. Statt dem Schulsystem als Ganzes rücken dabei zunehmend die Einzelschulen in den Fokus: Diese erhalten mehr Spielraum in Bezug auf Personalentscheidungen, Lehrplaninhalte und Unterrichtsformate, es ergeben sich aber auch größere Rechenschaftspf lichten, sie werden vermehrt evaluiert, müssen »benchmarks« erfüllen und Schulstatistiken veröffentlichen. Mit der neuen Wettbewerbssteuerung im Bildungssystem transformiert sich die Schullandschaft zu »Quasi-Märkten«, bei denen marktwirtschaftliche und staatliche Steuerungselemente miteinander kombiniert werden. So wird die Einführung von Wettbewerbselementen wie Profilbildung und freier Schulwahl politisch angeregt, durch gezielte Verwaltungsmaßnahmen ermöglicht sowie durch die Bereitstellung von
59 Vgl. Hall: The Neo-Liberal Revolution; Brown: Undoing the Demos.
Problematisierung
Evaluationsberichten und Schulstatistiken f lankiert.60 Diese massiven Eingriffe, in deren Folge sich die Bedeutungen von schulischer Bildung verschieben, werden jedoch nicht als Bildungsreform öffentlich zur Diskussion gestellt, sondern lediglich als Verwaltungsmaßnahmen zu einer effizienteren Steuerung dargestellt. Die Einführung eines stärker an Wettbewerbsprinzipien ausgerichteten schulischen Steuerungsmodells erfolgt also weitgehend durch die Hintertür. Im anglo-amerikanischen Bildungsbereich, an dem sich die deutsche Bildungspolitik dabei maßgeblich orientiert, haben diese Entwicklungen bereits früher eingesetzt. Am Beispiel des »Education Act« von 1988, einer von der Thatcher-Regierung initiierten Bildungsreform in Großbritannien, rekonstruiert der Bildungssoziologe Stephen Ball eine grundlegende Transformation des Bildungssystems.61 Die dabei beschworene Schulautonomie entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als eine Scheinautonomie, bei der der Staat dem Schulpersonal zwar größere Verantwortung zuschrieb, diesem aber gleichzeitig die Mittel kürzte. Hinzu kamen neue, indirekte Formen der Kontrolle, etwa durch ziel- und projektgebundene Förderungen. Zwar sind solche Bildungsreformen stark nationalstaatlich geprägt oder werden wie in Deutschland auf der Ebene der Bundesländer umgesetzt, doch zeichnen sich in den Entwicklungen der Bildungsbereiche in den USA und Europa übergreifende Muster ab: Dazu zählt eine stärkere Ausrichtung der Bildungssysteme an den Bedürfnissen und Wertmaßstäben der Ökonomie sowie eine zunehmende inhaltliche Fokussierung auf Testergebnisse und Rankings. Auch beim Blick auf die jüngeren Bildungsreformen in Europa und Nordamerika lassen sich über die sehr unterschiedlichen nationalen und lokalen Kontexte hinweg einige frappierende Gemeinsamkeiten ausmachen: Diese Reformen gehen, anders als die Bildungsexpansionen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, zumeist von einem negativen Blick auf das staatliche Bildungssystem aus, weshalb diesem auch keine zusätzlichen finanziellen Mittel zugebilligt werden. Es handelt sich also in der Regel um Privatisierungsinitiativen und
60 V gl Bellmann: Das Monopol des Marktes; Peetz: Mechanismen der Ökonomisierung. gl. Ball: Education Reform; Ball: Education Policy and Social Class; Tomlinson (Hg): 61 V Educational Reform and its Consequences.
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Sparmaßnahmen.62 Der reformpolitische Diskurs ist gleichsam durch Widersprüche gekennzeichnet, durch gegenläufige Handlungsweisen und Zielbestimmungen, etwa dem Streben nach Exzellenz in der universitären Forschung und der Rhetorik der Chancengerechtigkeit im schulischen Bereich. Diese scheinbar gegenläufigen Ausrichtungen sind jedoch gleichsam über ökonomische Semantiken des Mobilisierens und Optimierens in eine gesellschaftliche Wettbewerbslogik eingebunden. Anhand der politischen Stellungnamen zu jüngeren Bildungsreformen zeigen die Soziologen Ulrich Bröckling und Tobias Peter, dass sowohl egalitäts- wie exzellenzorientierte Bildungsreformen letztlich über den Verweis auf Wettbewerbsfähigkeit und ökonomischen Wohlstand legitimiert werden.63 Zudem gibt es bei den Reformen einige Nebenwirkungen: Die Betonung von Schulautonomie geht mit einem markanten Desinteresse an den lokalen Verhältnissen und den Anliegen der schulischen Akteure, mit Zentralisierung und verstärkter Überwachung einher. Es handelt sich also gerade nicht um eine Demokratisierung der Schule, wie sie seit den 1970er Jahren mit der Forderung nach mehr Autonomie verbunden wurde. Im anglo-amerikanischen Bildungssystem entwickelte Reformmaßnahmen und Bildungssemantiken haben sich im Zuge von transnationalen Verf lechtungen zum Orientierungsmaßstab für die hiesige Bildungspolitik entwickelt.64 Dies ist besonders deshalb bedenklich, da Studien zur anglo-amerikanischen Schulentwicklung auf eine markante Zuspitzung von Ungleichheitsverhältnissen hinweisen: Von der Einführung von Schulautonomie in den USA in den 1990er Jahren profitierten demnach lediglich die ohnehin besser gestellten Schulen, während sich die Situation der Schulen in benachteiligten Stadtteilen weiter verschärfte. Zudem verstärkte die Deregulierung der Schulwahl den Trend zur ethnischen Segregation im Schulwesen, da ein möglichst geringer Anteil an Migrant*innen oder ethnischen Minderheiten zu einem Hauptmotiv für die Schulwahl statusorientierter Eltern avancierte.65 Untersuchungen zu den in England implementierten Bildungsmärkten weisen ebenfalls Absetzbewegungen des weißen Bürgertums 62 Vgl. Levi: The Lessons of International Education Reform. 63 Vgl. Bröckling/Peters: Mobilisieren und Optimieren. 64 V gl. Ball/Goodson/Maguire (Hg.): Education, Globalisation and New Times; Nordin/ Sundberg (Hg.): Transnational Policy Flows in European Education. 65 Vgl. Steiner-Khamsi: De-Regulierung und Schulwahl in den U.S.A.
Problematisierung
sowie die Aussonderung von ärmeren und migrantischen Gruppen nach. Während erfolgsorientierte Schulen sich dazu gedrängt sehen, Schüler*innen mit erhöhtem Förderbedarf abzulehnen, werden die unweigerlich entstehenden »Restschulen« in ärmeren Stadtvierteln für ihr vermeintlich selbstverschuldetes Bildungsversagen noch mit Budgetkürzungen bestraft. Bildungsmärkte lassen sich demnach als eine legalisierte und verschärfte Form von Diskriminierung verstehen.66 Für die Schulleitungen hierzulande hat ein wettbewerbsorientiertes Selbstmarketing ebenfalls eine immer größere Bedeutung, da Bildungserfolg zunehmend an Imageerfolgen und messbaren Outputs gemessen wird. Diese »audit culture«, wie sie im Englischen bezeichnet wird, hat für die Institution Schule eine Reihe von negativen Folgen: einen Verlust an institutionellem Vertrauen, eine Fokussierung auf Selbstdarstellung und eine Vernachlässigung von nicht-messbaren pädagogischen Entwicklungen sowie eine institutionelle Ausrichtung an kurzfristigen Ergebnissen statt an langfristigen Entwicklungszielen.67 Für das pädagogische Personal ergeben sich durch Kosteneinsparungen und kontinuierliches Monitoring weitere beruf liche Belastungen. Dies geht mit erhöhten gesundheitlichen und psychischen Belastungen sowie mit zunehmend entfremdeten und zynischen Einstellungen einher.68 Bildungspolitik wird also nicht einfach nur »von oben« verordnet, sie prägt auch Einstellungen und Verhaltensmuster im Schulalltag, sie konturiert pädagogische Berufsmodelle ebenso wie wünschenswerte Schüler*innensubjekte. Der Wettbewerbscharakter des Bildungssystems wird auch durch die zunehmende Zahl an Privatschulen verschärft, ihr Anteil an den allgemeinbildenden Schulen hat sich seit den 1990er Jahren mehr als verdoppelt, wodurch es insbesondere im gymnasialen Bereich zu einer verstärkten Konkurrenzsituation gekommen ist.69 Es gibt ein sehr breites, heterogenes Spektrum an Privatschulen, doch insgesamt gesehen, setzen sie deutlich stärker auf Distinktion und Selektion, was zu einer Vertiefung der ohnehin bereits vorhandenen sozialen Gräben im Schulsystem führt. Privatschüler*innen kommen überproportional 66 Vgl. Tomlinson: Wie wirken sich Bildungsmärkte auf ethnische Minderheiten aus? 67 Vgl. Shore: Governing by numbers; Shore/Wright: Audit culture revisited. 68 Vgl. Ball: The teacher’s soul and the terrors of performativity. 69 V gl. Kraul (Hg.): Private Schulen; Helsper/Dreier/Gibson/Kotzyba/Niemann: Exklusive Gymnasien und ihre Schüler.
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häufig aus Familien, »in denen die Eltern im Durchschnitt eine höhere Bildung, ein höheres Einkommen oder einen höheren sozialen Status haben als die von Kindern, die öffentliche Schulen besuchen«, wobei sich der Trend zur Exklusivität in den letzten Jahren sogar noch weiter verstärkt hat.70 Eigentlich ist im Grundgesetz festgehalten, dass eine Sonderung der Schüler*innen nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird, doch in Bundesländern wie Berlin werden diese Vorgaben weitgehend ignoriert.71 Hier müssten theoretisch sogar Sozialhilfeempfänger*innen das erhöhte Schulgeld bezahlen, was dazu beiträgt, dass der Anteil von Schüler*innen aus einkommensschwachen Familien noch verschwindender ausfällt, als es an diesem Schultyp ohnehin üblich ist. Der sozial segregierende Effekt dieser zunehmenden Privatisierung ist deutlich wirkmächtiger einzuschätzen als die auf mehr Bildungsgerechtigkeit zielenden Reformen des staatlichen Schulwesens der letzten Jahre. Die skizzierte stille Transformation ist also keine kleine, sondern eher ein Teil von großen Transformationen jener Art, wie sie der Sozialhistoriker Karl Polanyi in den 1940er Jahren mit Blick auf die Entwicklung des englischen Kapitalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert beschrieben hat.72 Auch damals galt es, gesellschaftliche Institutionen gegenüber einer Verselbständigung der Ökonomie im Zuge des rasant aufsteigenden Industriekapitalismus zu verteidigen, wobei er die damals zu beobachtende zunehmende Marktorientierung und die mit ihr anwachsenden sozialen Ungleichheiten nicht auf natürliche Entwicklungsgesetze zurückführte, sondern dem gezielten Einf luss politischer und wirtschaftlicher Eliten zuschrieb. Die damit verbundenen sozialen Verwerfungen lösten jedoch auch immer wieder Empörung und politische Gegenreaktionen aus, die historisch sowohl nach links in Richtung Sozialismus als auch nach rechts in Richtung Faschismus pendeln konnten. Philipp Ther zeichnet für die Zeit nach 1945 mit Blick auf solche Pendelbewegungen zunächst den Ausbau des Sozialstaats nach, dem jedoch seit den 1980er Jahren eine gegenläufige Entwicklung in Richtung neoliberaler Ordnungsvorstellungen folgte.73 Nach einer ers70 Helbig/Nikolai/Wrase: Privatschulen und die soziale Frage, S. 358. 71 V gl. Abgeordnetenhaus Berlin: LMB-Quoten ausgewählter Privatschulen, Drucksache 18/12 044, 27.7.2017. 72 Vgl. Polanyi: The Great Transformation. 73 Vgl. Ther: Das andere Ende der Geschichte.
Problematisierung
ten, von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung geprägten Welle ging es ihm zufolge in der zweiten Phase des Neoliberalismus seit den 2000er Jahren verstärkt um eine Beschneidung staatlicher Kernkompetenzen in der Altersversorgung, im Gesundheits- und Bildungswesen. Die beschriebene Vermarktlichung des Schulwesens in Berlin ist ein markantes Beispiel für diese größeren Entwicklungstendenzen. Vom damit einhergehenden Wettbewerb profitieren vor allem die ohnehin bereits besser gestellten Schulen, die nun mehr Möglichkeiten erhalten, sich ihre Klientel gezielt auszusuchen. Am anderen Ende der Bildungshierarchie werden dagegen systematisch »Restschulen« produziert, wodurch es zu einer weiteren Spaltung der Schullandschaft in »gute« und »schlechte« Schulen kommt. Letztere werden zur Zielscheibe einer Reihe von Programmen, wie dem bereits erwähnten 2013 gestarteten Brennpunktprogramm, welches später in Bonusprogramm umbenannt wurde. Beide Bezeichnungen sind verräterisch: Während die erste stigmatisierende, sozialräumliche Zuschreibungen reproduziert, signalisiert die zweite, dass es sich um Zusatzgelder und nicht um eine bessere Grundausstattung handelt. Schulen mit einer sozial besonders benachteiligten Schüler*innenschaft können demnach zusätzliche Finanzmittel erhalten, etwa um neue Lehrkräfte oder Sozialarbeiter*innen einzustellen. Allerdings war es nicht einmal ein wirklicher Bonus, denn in Berlin wurden die Mittel teilweise auch dafür eingesetzt, um an den entsprechenden Schulen den Wegfall jener befristeten Bundesmittel kurzfristig auszugleichen, mit denen dort bis zum Jahr 2013 die Schulsozialarbeiter*innen finanziert wurden. Zuvor war eine Gesetzesinitiative auf Bundesinitiative für eine dauerhafte »Weiterfinanzierung von Schulsozialarbeit und Mittagessen in Horteinrichtungen« gescheitert.74 Zudem entsprachen die Mittel in der Regel kaum dem erhöhten Krankheitsstand unter den Lehrer*innen an den betroffenen Schulen. Mit diesen medial großangekündigten, jedoch nur punktuellen, kompensatorischen und befristeten Maßnahmen wurde zudem kaschiert, dass kurz zuvor bei der Schulreform im Jahr 2010 das grundständige Personalbudget für Lehrkräfte an vielen Schulen deutlich verringert wurde.
74 V gl. Abgeordnetenhaus Berlin: Jugendsozialarbeit an Schulen, Drucksache Nr. 17/1400 (II.B.51), 12.12.2013.
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Statt auf systemische Ursachen zu verweisen, wird zunehmend den einzelnen Schulen und Lehrkräften die Verantwortung zugeschrieben. Eine von der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie einberufene »Qualitätskommission«, die das Berliner Schulsystem evaluierte, stellte im Jahr 2020 fest, dass es nicht an der finanziellen Ausstattung mangele, sondern die Probleme vor allem bei einer zu nachlässigen Steuerung und der mangelhaften Unterrichtsqualität lägen. Hier zeigt sich die Wirkung der eingangs beschriebenen diskursiven Rahmungen auf die Formen der politischen Problembearbeitung. Zu den Empfehlungen dieser professoralen »Expertenkommission« gehören eine stärkere Forcierung der frühkindlichen Bildung, eine verpf lichtende und weniger nachsichtige Förderung von »Risikogruppen« sowie ein verschärftes datenbasiertes Monitoring der »Qualitätsentwicklung«.75 Der Fokus liegt auf mangelnder schulischer Effektivität in Bezug auf die Erfüllung standardisierter Lernmaßstäbe und nicht bei Fragen von Armut und Ausgrenzung, von Teilhabe und Gerechtigkeit. Das Echo auf die Vorschläge fiel geteilt aus: Printmedien wie die ZEIT huldigten die Kommissionsvorschläge und empfahlen sie als Wegweiser für eine künftige Schulpolitik. Konstatiert wurde eine mangelnde schulische Leistungskultur, ein vermeintlich »skeptisches Verhältnis des pädagogischen Milieus zum Leisten und Lernen«.76 Die ehemalige Schulsenatorin Sybille Volkholz wird dabei mit dem Satz zitiert: »Das Problem Berlins ist, dass Leistung keine Lobby hat, sie gilt als Zumutung.« Vehementer Widerspruch kam dagegen von der Bildungsgewerkschaft, statt »mehr Daten abzufragen und die Schulen mit Zielmarken und Schulverträgen noch mehr unter Druck zu setzen, sollte vielmehr über eine geeignete Unterstützung nachgedacht werden«.77 Empfohlen wird eine verbesserte räumliche wie personelle Ausstattung, auch der Top-Down-Ansatz der »Qualitätskommission« sowie ihr enges Bildungsverständnis wurden grundsätzlich in Frage gestellt.78
75 V gl. Qualitätskommission zur Schulqualität in Berlin: Empfehlungen zur Steigerung der Qualität von Bildung und Unterricht in Berlin, 7.10.2020, . 76 Vgl. Martin Spiewak: Gründlich aufräumen, bitte!, In: DIE ZEIT, 8.10.2020. 77 V gl. GEW Berlin: Weit entfernt von einem gemeinsamen Verständnis guter Bildung, 10.3.2020. 78 Vgl. GEW Berlin: Bericht der Qualitätskommission ist kein großer Wurf, 09/2020.
Problematisierung
Kommissionen dieser Art inszenieren eine vermeintlich neutrale Auseinandersetzung mit gesellschaftlich bereits als problematisch anerkannten Zuständen, sie haben also vor allem eine symbolische Funktion. Über die Qualitätssemantik können Forschung und Wissenschaft enger als zuvor in das politische Feld eingebunden werden. Ein auf quantitativen Erhebungen basierendes »Expertenwissen« dient dabei nicht nur als Informationsgrundlage, sondern die öffentlichkeitswirksame Förderung und der Einsatz dieses Wissens wird selbst zu einer aktiven Form des Regierungshandelns.79 Gerade bei umstrittenen Themen mit starken ideologischen Differenzen wie der Berliner Schulentwicklung soll Wissenschaft vermeintliche Gewissheiten schaffen. Letztlich werden jedoch mit Rekurs auf ein positivistisches Forschungsverständnis bestimmte politische Interessen durchgesetzt. Die Leitungen dieser Kommissionen, in der Regel ältere weiße Männer wie Professor Olaf Köller, Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, werden direkt von den jeweiligen staatlichen Autoritäten eingesetzt, in diesem Fall von der Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheres. Während die wissenschaftliche Seite materielle Ressourcen, akademisches Prestige und mediale Aufmerksamkeit erhält, kann die politische Seite im Gegenzug ein genehmes Ergebnis erwarten. Gerade weil sie formal außerhalb des Politikbetriebs stehen, können solche Kommissionen politischen Anliegen einen objektiven, wissenschaftsbasierten Anschein vermitteln. Es handelt sich also um eine Art staatlich inszenierte Pseudokritik, wobei die »kritische« Botschaft in diesem Fall darin besteht, dass die Ursachen für die Berliner Bildungsmisere nicht in den sozialen Ungleichheiten und der mangelnden materiellen Ausstattung, sondern allen voran an der mangelnden Unterrichtsqualität vor Ort sowie der fehlenden Leistungsbereitschaft der Schüler*innen lägen. Damit wird gleichsam eine partikulare Definition des Problems etabliert, wobei die medialen Reaktionen bereits einkalkuliert sein dürften, auch sie sind gleichsam Bestandteil des Rituals. Kommissionen tragen also selbst politische Botschaften, auch wenn sie vorgeben, im Namen von Vernunft, Wahrheit und Wissenschaft zu sprechen. Dies wurde in der öffentlichen Präsentation der Kommissionsergebnisse im Oktober 2020 noch einmal besonders deutlich, bei der es hieß, Kindergärten sollten künftig weniger auf das freie Spielen, sondern stärker auf eine »ver79 Vgl. Ozga: Governing Knowledge.
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bindliche Förderung schulnaher Fähigkeiten« setzen.80 Diese pädagogisch äußerst streitbare Vorgabe wurde prompt von wichtigen Leitmedien aufgegriffen, so hieß es in dem bereits erwähnten ZEIT-Bericht, auch Kitas müssten endlich ihre falsche Angst vor zu viel »Drill« überwinden, denn »in der Sandkiste lernt das türkischstämmige Kind kein Deutsch«.81 Demokratische Regierungen ref lektieren nicht einfach die Wünsche der Bevölkerung, sie stimulieren und implementieren mit Initiativen dieser Art auch selbst Veränderungen. Dabei stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Bildungspolitik, medialer Öffentlichkeit und demokratischer Legitimation. Dem Politikwissenschaftler Martin Busemeyer und seinen Kollegen zufolge lässt sich in der Bildungspolitik zwischen »lauten« und »leisen« politischen Diskussionen unterscheiden.82 Laute Themen sind solche, die breit in den Medien diskutiert werden, zu denen in der Bevölkerung bereits relativ eindeutige Meinungen vorherrschen und die meistens auch entsprechende politische Maßnahmen zur Folge haben. Ein Beispiel dafür war die Abschaffung der weithin unbeliebten Hauptschule, die aufgrund der sinkenden Nachfrage sowieso kaum noch haltbar erschien. Leise Themen sind solche, die in der massenmedial vermittelten Öffentlichkeit kaum vorkommen und in denen »Expertengremien« sowie Interessen- und Lobbygruppen besonders einf lussreich sind. Hierzu zählen die jüngsten neoliberalen Umstrukturierungen im Bildungssystem, die unbemerkten Privatisierungen und heimlichen Budgetkürzungen ebenso wie neue Formen des schulischen Wettbewerbs und des Bildungsmonitorings. Schließlich gibt es auch noch »laute«, aber gleichsam politisch umstrittene Bildungsthemen, wie der bereits erwähnte »Schulkampf« der 1970er Jahre oder die Vorhaben zur Einführung einer Gemeinschaftsschule in Berlin in den 2000er Jahren, in denen in der Regel eine Mischung aus medialer Stimmungsmache, antizipierten oder tatsächlichen Reaktionen der Bevölkerung und parteipolitischen Kräfteverhältnissen über den Ausgang entscheidet.
80 V gl. Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie: Abschlussbericht zur Bildungsqualität vorgestellt, Pressemitteilung, 07.10.2020. 81 Vgl. Martin Spiewak: Gründlich aufräumen, bitte!, In: DIE ZEIT, 8.10.2020. 82 Vgl. Busemeyer/Garritzmann/Neimanns: A Loud but Noisy Signal?
Problematisierung
Warum werden die beschriebenen neoliberalen Reformen auf stille, weitgehend unbemerkte Weise umgesetzt? Vielleicht weil das verantwortliche politische Personal ahnt, dass dafür keine demokratische Zustimmung zu erwarten ist. Paradoxerweise wurden viele der neoliberalen Reformen der letzten Jahre durchgesetzt, obwohl sich damit in Deutschland kaum Wahlsiege erringen ließen. Im Gegenteil: Während im Wahlkampf prominent beworbene und im Koalitionsvertrag vereinbarte Schulreformen, wie die Einführung der Gemeinschaftsschule in Berlin, nicht zustande kamen, wurden gleichzeitig Privatisierungen und Marktmechanismen im Bildungssystem auf technokratische Weise in die Wege geleitet, ohne dass darüber eine öffentliche Diskussion oder eine demokratische Abstimmung stattgefunden hätte. Es handelt sich folglich um post-demokratische Entscheidungsprozesse, bei der demokratische Partizipation nur eine Scheinfunktion hat, die Verhältnisse jedoch auf andere Weise geregelt werden.83 Der Großteil der Bevölkerung wird davon in Unkenntnis gelassen und reagiert mangels ausreichender Informationen eher indifferent, das schulische Personal wird letztlich vor vollendete Tatsache gestellt, es fühlt sich dementsprechend ohnmächtig und übergangen. Den skizzierten neoliberalen Transformationen begegnen große Teile der Bevölkerung eher mit Indifferenz und latenter Skepsis als mit offener Kritik oder direkter Zustimmung. Der britische Kulturwissenschaftler Jeremy Gilbert bezeichnet diese Art des Geschehenlassens als »disaffected consent«, als ein für unsere Gesellschaftsformation typisches »post-democratic feeling«.84 In dieser skeptischen Unterordnung liegt eine Besonderheit der gegenwärtigen Herrschaftsweise. Die neoliberale Hegemonie strebt, anders als die anderen großen politischen Projekte des 20. Jahrhunderts, kaum noch nach der Zustimmung der Bevölkerung, wohl wissend, dass ihre ideologischen Prämissen und praktischen Konsequenzen nicht mehrheitsfähig sind. Stattdessen wird sich größtenteils darauf beschränkt, die Frustrationen einzuhegen und ansonsten keine wirklichen politischen Alternativen zuzulassen. Dies hat eine emotionale Distanzierung sowie eine kritische Bewertung des politischen Betriebs im Allgemeinen und von politischen Institutionen im Besonderen zur Folge. Diese gehen mit Gefühlen der Machtlosigkeit und des Vertrauensverlust in den demo83 Vgl. Crouch: Post-Demokratie. 84 Vgl. Gilbert: Disaffected consent.
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kratischen Prozess einher, welche in liberalen Demokratien derzeit weit verbreitet sind.85 Angesichts dieser mit der Einengung des demokratischen Korridors einhergehenden Entfremdung ist es nicht verwunderlich, dass von kritischen Stimmen ein »return to politics« gefordert wird, bei dem die Konf liktlagen wieder kenntlich gemacht, der entscheidungsrelevante Diskussionsspielraum erweitert und alternative politische Angebote formuliert werden können.86 Die Philosophin Chantal Mouffe vertritt ein solches agonistisches Demokratiemodell, ihr zufolge braucht eine Gesellschaft den Streit, um lebendig zu bleiben.87 Die Auseinandersetzung, die Kenntlichmachung von unterschiedlichen Positionen, auch wenn diese nicht in Einklang gebracht werden können, sei demnach gerade das, was eine pluralistische Demokratie ausmache. Demgegenüber führe die gegenwärtig beobachtbare Tendenz zur Konf liktvermeidung zu Apathie und zur Abkehr von den politischen Institutionen. Bildungseinrichtungen könnten hier eine entscheidende Rolle spielen, denn in ihnen sollen ja bekanntlich demokratische Tugenden gelernt werden. Trotz markanter sozialer Spaltungen lässt sich im schulischen Bereich jedoch bisher keine offene Auseinandersetzung oder gar eine politische Mobilisierung beobachten, in den zunehmenden Frustrationen und Ungerechtigkeitsgefühlen deutet sich jedoch bereits die Brüchigkeit des neoliberalen Bildungsprojekts an.
Politische Rhetorik. Zeremonielle Fassaden und leere Signifikanten Angesichts der mangelnden demokratischen Legitimationen sowie der fortwährenden Kritiken durch Medien und bildungspolitische Interessensverbände bedarf es besonderer symbolischer Anstrengungen, um die ideologische Fassade des Bildungssystems aufrechtzuerhalten. »Bildung« ist in den letzten Jahren zu einem Schlüsselbegriff der politischen Rhetorik, zu einer gängigen Währung der politischen Selbstvermarktung geworden. »Bildung« wird von Regierenden immer wieder 85 V gl. Pharr/Putnam (Hg.): Disaffected Democracies; Torcal/Montero (Hg.): Political Disaffection in Contemporary Democracies. 86 Vgl. Postero/Elinoff: A Return to Politics; Murray Li: Politics, Interrupted. 87 Vgl. Mouffe: Agonistik.
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kratischen Prozess einher, welche in liberalen Demokratien derzeit weit verbreitet sind.85 Angesichts dieser mit der Einengung des demokratischen Korridors einhergehenden Entfremdung ist es nicht verwunderlich, dass von kritischen Stimmen ein »return to politics« gefordert wird, bei dem die Konf liktlagen wieder kenntlich gemacht, der entscheidungsrelevante Diskussionsspielraum erweitert und alternative politische Angebote formuliert werden können.86 Die Philosophin Chantal Mouffe vertritt ein solches agonistisches Demokratiemodell, ihr zufolge braucht eine Gesellschaft den Streit, um lebendig zu bleiben.87 Die Auseinandersetzung, die Kenntlichmachung von unterschiedlichen Positionen, auch wenn diese nicht in Einklang gebracht werden können, sei demnach gerade das, was eine pluralistische Demokratie ausmache. Demgegenüber führe die gegenwärtig beobachtbare Tendenz zur Konf liktvermeidung zu Apathie und zur Abkehr von den politischen Institutionen. Bildungseinrichtungen könnten hier eine entscheidende Rolle spielen, denn in ihnen sollen ja bekanntlich demokratische Tugenden gelernt werden. Trotz markanter sozialer Spaltungen lässt sich im schulischen Bereich jedoch bisher keine offene Auseinandersetzung oder gar eine politische Mobilisierung beobachten, in den zunehmenden Frustrationen und Ungerechtigkeitsgefühlen deutet sich jedoch bereits die Brüchigkeit des neoliberalen Bildungsprojekts an.
Politische Rhetorik. Zeremonielle Fassaden und leere Signifikanten Angesichts der mangelnden demokratischen Legitimationen sowie der fortwährenden Kritiken durch Medien und bildungspolitische Interessensverbände bedarf es besonderer symbolischer Anstrengungen, um die ideologische Fassade des Bildungssystems aufrechtzuerhalten. »Bildung« ist in den letzten Jahren zu einem Schlüsselbegriff der politischen Rhetorik, zu einer gängigen Währung der politischen Selbstvermarktung geworden. »Bildung« wird von Regierenden immer wieder 85 V gl. Pharr/Putnam (Hg.): Disaffected Democracies; Torcal/Montero (Hg.): Political Disaffection in Contemporary Democracies. 86 Vgl. Postero/Elinoff: A Return to Politics; Murray Li: Politics, Interrupted. 87 Vgl. Mouffe: Agonistik.
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für »unverzichtbar« erklärt oder gar zur »Chefsache« gemacht, während gleichzeitig staatliche Bildungseinrichtungen chronisch unterfinanziert bleiben. Das Versprechen von »Bildung« als Weg in eine bessere Zukunft wird auf hochtrabende Weise beschworen, während gleichzeitig Schritte in Richtung einer weiteren Polarisierung der Bildungslandschaft vollzogen werden. Neben anderen schillernden Begriffen wie »Demokratie« und »Toleranz« ist »Bildung« somit zu einem weitgehend inhaltslosen Signifikanten der politischen Rede geworden. Anhand von zwei besonders feierlichen Zeremonien – einer Bildungsrede des Bundespräsidenten Horst Köhler an der Neuköllner Galilei-Schule sowie einer hochrangig besetzten feierlichen Tagung zum zehnjährigen Jubiläum des Rütli-Briefes in der Friedrich-Ebert-Stiftung – möchte ich dem Paradox nachgehen, wie Bildung im politischen Betrieb einerseits rituell zelebriert und gleichzeitig semantisch entleert wird. An die »Berliner Rede« des Bundespräsidenten Horst Köhler am 22. September 2006 in der Aula der Galilei-Schule erinnerte zur Zeit meiner Forschung nur noch ein Bilderrahmen mit bereits zunehmend vergilbten Gesichtern des damaligen politischen Establishments: der verschmitzt lächelnde Bürgermeister Klaus Wowereit, die von Leibwächtern bewachte CDU-Bundesministerin für Bildung und Forschung Annette Schavan, der steif stolzierende Horst Köhler und viele mehr. Wowereit hatte Bildung einst auch zur »Chefsache« gemacht, ebenso wie den Tourismus, den Klimaschutz, die Hauptstadtkultur und den neuen Berliner Flughafen. Bildungsministerin Schavan hatte mit der Exzellenzinitiative ein maßgebliches Instrument für eine an anglo-amerikanischen Vorbildern orientierte Spaltung der Universitätslandschaft auf den Weg gebracht. Sie musste später ihren Ministerinposten räumen, nachdem ihr der Doktortitel aufgrund vorsätzlicher Täuschungen entzogen wurde. Horst Köhler war unmittelbar vor seiner Zeit als Bundespräsident als geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) an der Speerspitze neoliberaler Wirtschaftspolitik tätig. Auch andere prominente Gäste, wie der Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, der wenig später »Hartz-IV«-Beziehern das Elterngeld streichen wollte, waren nicht unbedingt für ihre soziale Wärme bekannt. Nachdem im ersten Absatz der Rede des Bundespräsidenten gemahnt wurde, dass in diesem Sommer nur einer von 51 Absolvent*innen der Galilei-Schule einen Ausbildungsplatz gefunden hatte, wurde
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die programmatische Forderung »Bildung für alle« umso pathetischer zelebriert. Der Bildungsbegriff tauchte in der Rede insgesamt 58-mal auf, häufig davon in Form von Slogans: »Bildungschancen sind Lebenschancen«; »Konzentrieren wir uns auf Bildung«; »Klare Bildungsziele, ein Klima der Bildungsfreude und ein modernes Bildungswesen – diesen Dreiklang brauchen wir heute wieder«; »Gute Bildung stellt den ganzen Menschen in den Mittelpunkt«; »Bildung bedeutet nicht nur Wissen und Qualifikation, sondern auch Orientierung und Urteilskraft«; »Bildung hilft, die Welt und sich selbst darin kennenzulernen«; »Bildung ohne Herzensbildung ist keine Bildung«; »Gute Bildung ist und bleibt für den Einzelnen auch die wichtigste Voraussetzung für gesellschaftliche Anerkennung«; »Demokratie [ist] auf Bildung angewiesen«; »das Bildungswesen [ist] Sache des ganzen Volkes«; »Bildung ist […] ein Anker«. Auch die Vorschläge, wie sich Bildungsfortschritte erreichen ließen, waren Allgemeinplätze: »Bildung braucht Anerkennung«; »Bildung braucht mehr Anstrengung«; »Bildung braucht Vorbilder«; »Bildung beginnt in der Familie« und so weiter. Natürlich wurden auch noch das Loblied auf den preußischen »Schulstaat«, auf den Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt und auf die »Helden des Alltags« in den Lehrer*innenzimmern gesungen. Das Medienecho auf die Rede war positiv, besonders wohlwollend wurde hervorgehoben, dass die diesjährige Rede nicht wie zuvor im vornehmen Hotel Adlon, sondern »im wirklichen Leben« in einem Berliner »Brennpunkt« stattgefunden hatte.88 Lediglich der FAZ war die Inf lation der Bildungsf loskeln etwas zu viel des Guten, unter der Überschrift »Onkelhafter Zuspruch für eine Verlierergeneration« resümierte sie: »Horst Köhler breitete fünfundvierzig Minuten lang vor seinen überwiegend professionellen Zuhörern das aus, was man an Gemeinplätzen zum Thema Bildung und Lernen, Familie und Kindergarten, Lehrstellenmangel und Reformstau häufig zu hören bekommt. Es war ein Appell an alle und niemanden, kein Lehrer erfuhr hier etwas, was er nicht ohnehin schon weiß. Vom Humboldtschen Bildungsideal bis zur ›Sendung mit der Maus‹ und der Aufforderung an Eltern, ihren Kindern Geschichten vorzulesen, wurde routiniert alles abgespult, was des Präsidenten Redenschreiber für nützlich genug hielten, um die große
88 V gl. Thomas Rogalla: Der Bundespräsident predigt in Neukölln Bildung, In: Tagesspiegel, 22.9.2006.
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Blase rund um Köhlers Leitsatz ›Bildung für alle‹ zu füllen.«89 Der Hinweis auf die »Redenschreiber« macht deutlich, dass es sich um institutionell produzierte Äußerungen, um eine vor allem auf den politischen Betrieb und die etablierte mediale Öffentlichkeit zielende Kommunikation handelt. Die Schüler*innen blieben deshalb bei diesem politischen Spektakel an ihrer eigenen Schule weitestgehend nur Zaungäste. Die symbolischen Dimensionen der »Berliner Rede« von Horst Köhler lassen sich, einen Systematisierungsvorschlag von Lisa Rosen aufgreifend, als Ritual, als Mythos und als Spektakel betrachten.90 In der rituellen Zusammenkunft ausgewählter Eliten werden die Grundpfeiler der sozialen Ordnung rhetorisch betont und das Verantwortungsbewusstsein des politischen Führungspersonals auf demonstrative Weise unterstrichen. Das mythische Element besteht darin, Bildung als eine Art magische Heilsubstanz für komplexe gesellschaftliche Problemzusammenhänge zu beschwören. Damit wird gleichsam nahegelegt, das mit der Vermittlung von Bildung beauftragte staatliche Schulwesen sei grundlegend auf sozialen Zusammenhalt ausgerichtet, es mangele ihm lediglich noch an der angemessenen praktischen Umsetzung. Indem sie mythologisiert wird, geraten mit dem Appell nach »mehr Bildung« gleichsam konkrete Fragen nach dem Zugang sowie der Ausgestaltung von Bildung und somit auch Macht- und Verteilungsfragen aus dem Blickfeld. Zum Spektakel werden Veranstaltungen dieser Art, wenn in großem Stil aufgeführte Rituale in erster Linie dazu dienen, die Öffentlichkeit ruhigzustellen. Wenn es sich primär um eine Selbstaffirmation der politischen Elite handelt, die weder von glaubwürdigen Handlungen noch von tatsächlichem Veränderungswillen begleitet werden. Der rituelle Charakter der Veranstaltung und die mythischen Elemente der Rede befördern wiederum diese Form des politischen Spektakels, weshalb die verschiedenen symbolischen Elemente auch wieder zusammengedacht werden müssen, um den symbolpolitischen Einsatz der Rede zu verstehen. Dieser liegt auch in seiner performativen Dimension, in der angestrebten Konstitution einer Gemeinschaft über gesellschaftliche Schlüsselsymbole. Es gehört bekanntlich zu den Eigenarten der politi89 V gl. Regia Mönch: Onkelhafter Zuspruch für eine Verlierergeneration, In: FAZ, 22.9.2006. gl. Rosen: Rhetoric and Symbolic Action in the Policy Process; El-Mafaalani: My90 V thos Bildung; Edelmann: Constructing the Political Spectacle.
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schen Rede, es möglichst vielen recht machen zu wollen und gleichzeitig wenig Konkretes zu sagen. Bildung ist in diesem Zusammenhang zu einem »leeren Signifikanten« geworden, zu einer Bezeichnung, die ihr Referenzobjekt weitgehend verloren hat und nur noch für etwas Vages und kaum Spezifizierbares steht.91 Der Bildungsbegriff ist in der Rede von Horst Köhler gleichzeitig überpräsent und unterbestimmt, er fungiert als ein Schlagwort für alles Gute, wodurch ihm gleichsam seine partikularen Inhalte abhandengekommen sind. So solle Bildung unter anderem auch noch der Bekämpfung von »Populisten, Extremisten und religiösen Fanatikern« sowie dem »wirtschaftlichen Erfolg unserer Gesellschaft« dienen. Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass es in unserer Gesellschaft an ausreichender Bildung mangelt. In diesem rituellen Zeremoniell wird also das Abwesende beschworen, welches somit gleichzeitig rhetorisch allgegenwärtig ist und symbolisch überhöht wird. Durch solche Beschwörungen wird suggeriert, der politische Diskurs hätte eine Fundierung, die Gesellschaft eine gemeinsame Basis an absoluten Werten. In der Identifikation mit dem Bildungsideal soll sich somit gleichsam eine politische Gemeinschaft konstituieren.92 Wenn solche politischen Rituale jedoch zu sehr ins Floskelhafte kippen, können sie ihre Glaubwürdigkeit verlieren, die politische Sprache wirkt dann hohl, ihre Slogans sinnfrei. Deutlich geschickter war eine Veranstaltung zum zehnjährigen Jubiläum der Ereignisse an der Neuköllner Rütli-Schule inszeniert. Nach der beschriebenen Mediendebatte im Frühjahr 2006 wurde eine medial umfangreich begleitete sowie von diversen Stiftungen und prominenten Gesichtern unterstützte Bildungsinitiative gestartet, die bald unter dem Titel Campus Rütli als neues Vorzeigeprojekt für gelingende Bildung fungieren sollte. Zum zehnjährigen Jubiläum hatte sich das Medienbild der Rütli-Schule bereits komplett gewandelt, aus einer Skandal- war eine Vorzeigeschule geworden. So erinnerte Susanne Vieth-Entus am 30. März 2016 in einem großen Artikel im Tagesspiegel zunächst an den »Brandbrief« und die zahlreichen »Intensivtäter«, um darauf hin hervorzuheben, dass die Rütli-Schule im Vergleich zu anderen Schulen mittlerweile »ihre düstere Vergangenheit schon hinter sich gelassen« habe, dass »aus dem Rütli-Schock längst eine Rütli-Lektion 91 Vgl. Laclau: Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun? 92 Vgl. Critchley/Marchart (Hg.): Laclau; Clasen: Bildung als Statussymbol, S. 40-43.
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geworden« sei.93 Diese Wandlungsgeschichte wurde so oft wiederholt, dass sie sich als mediales Narrativ etablierte. Auch in einem Spiegel-Artikel von Jan-Martin Wiarda aus den Jahr 2018 hieß es zunächst: »Rütli wurde über Nacht zum Inbegriff für das Versagen des Schulsystems im Allgemeinen und der Hauptschule im Besonderen«, bevor »die Rütli-Schule vom Problemfall zur Vorzeigeschule wurde«. Das Fazit lautet dementsprechend: »So wie Rütli das Scheitern der Hauptschule symbolisierte, wurde es dann zum Vorreiter der Berliner Schulreform.«94 Ohne die Reformbemühungen an der Rütli-Schule kleinreden zu wollen, sind diese von zwei Alphatieren des deutschen Bildungsjournalismus gezeichneten Schwarz-Weiß-Bilder wohl vor allem auf gezielte Publicity-Maßnahmen zurückzuführen. Es fehlen in den Medienberichten nicht einfach nur die Grautöne, vielmehr arbeitete der Berliner Senat aus meiner Sicht gezielt daran, ein Vorzeigeprojekt zu konstruieren, das von der anhaltenden Berliner Bildungsmisere ablenken sollte. Lehrer*innen der Rütli-Schule, die ich im Zuge meiner Buchveröffentlichungen kennenlernte, haben mir unter der Hand mehrfach berichtet, wie nach wie vor vorhandene Probleme an der Schule kaschiert wurden, um diese Erfolgsstory nicht zu gefährden. Auch unter Schulforscher*innen hatte sich schnell herumgesprochen, dass Forschungsanträge zur Rütli-Schule nur noch genehmigt werden, wenn sie die politisch erwünschte Erfolgsgeschichte wissenschaftlich bestätigen. Wie Wissenschaf ler*innen instrumentalisiert werden, verdeutlicht eine Jubiläumsveranstaltung zehn Jahre nach dem Rütli-Brief am 21. April 2016 in der Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung, in deren Ankündigung es bereits hieß: »Die gemeinsamen Erfolge sind heute sichtbar.« Die Bedeutung der Wissenschaft zeigte sich schon daran, dass diese Festveranstaltung als eine wissenschaftliche Tagung konzipiert war. Ich wurde als Eröffnungsredner eingeladen. Im telefonischen Vorgespräch hatte ich – um Missverständnisse zu vermeiden – daran erinnert, dass ich in meinem Buch Hauptschüler. Zur gesellschaf tlichen Produktion von Verachtung ein desaströses Bild von Berliner Hauptschulen zeichne. Mir wurde jedoch versichert, dass dies genau richtig sei und ich das schonungslos darstellen solle. Als ich noch darauf hinwies, 93 V gl. Susanne Vieth-Entus: Schulen in sozialen Brennpunkten. Was hat Berlin aus dem Rütli-Brandbrief gelernt?, In: Tagesspiegel, 30.3.2016. 94 V gl. Jan-Martin Wiarda: Was wurde aus der Rütli-Schule?, In: Spiegel-Online, 1.4.2018.
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dass ich zu diesem Zeitpunkt an einem neuen Buch zu einer Neuköllner Schule arbeitete, welche ähnliche Probleme aufzeige, wurde ich jedoch streng ermahnt, auf keinen Fall aus solchen unveröffentlichten Studien zu berichten. Zwar war ich einen Moment lang irritiert, dachte aber nicht weiter darüber nach, vielleicht auch weil es sich um die mit Abstand bestbezahlten Vortragsminuten meiner gesamten akademischen Karriere handelte. Erst im Verlauf der Veranstaltung selbst merkte ich, dass mir eine sehr spezifische Rolle zugedacht worden war. Ich sollte, ähnlich wie in den eben erwähnten Medienartikeln, die schulische Misere um das Jahr 2006 ausmalen, damit die nach mir auftretenden Berliner Lokalpolitiker*innen sich umso mehr in den darauf hin einsetzenden Erfolgen sonnen konnten. Je düsterer mein Rückblick ausfallen würde, umso heller würden ihre Errungenschaften erstrahlen. Das meine Forschungen dieses Vorher-Nachher-Narrativ gar nicht bestätigen, dass ich vielmehr in meinem zweiten Buch anhand einer Neuköllner Sekundarschule zeige, dass sich trotz der Schulreform die Probleme zuletzt eher noch verschärft haben, passte nicht in diesen feierlichen Rahmen.95 Kritische Wissenschaftler*innen werden auf eine geschickte Weise in das dominante Narrativ eingemeindet. Ihre Forschungsergebnisse werden weder bestritten noch komplett verschwiegen, sondern lediglich so gerahmt, dass sie ein möglichst favorables Licht auf die gegenwärtige Bildungspolitik werfen. So wurde in der öffentlichen Dokumentation zu der Veranstaltung zwar berichtet, ich habe auf »die desillusionierende Realität sozialer Ausgrenzung« hingewiesen, gleichzeitig aber suggeriert, diese sei mittlerweile überwunden: »Dieser Vortrag markierte in gewisser Weise den Startpunkt 2007 noch vor der Berliner Schulstrukturreform […]. Die Hauptschule ist in Berlin und andernorts mittlerweile abgeschafft.«96 Auch Carola Tize von der Universität Amsterdam, die an der Rütli-Schule unter anderem zu Migration und Rassismus forschte, konnte auf der Veranstaltung von unsicheren Aufenthaltsregelungen, von fehlenden Arbeitserlaubnissen und drohenden Abschiebungen in den Familien der Schüler*innen berichten. In der Interpretation der Friedrich-Ebert-Stiftung machte dies die postulierten Erfolge der Schule nur umso bemerkenswerter, zumal 95 Vgl. Wellgraf: Schule der Gefühle. 96 V gl. Silke Lock: Bildung im Stadtteil. Wie funktioniert Veränderung?, Dokumentation der Tagung vom 21.4.2016.
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die Schule selbst von allen Rassismusvorwürfen freigesprochen wurde. So heißt es im Abschlussbericht über diesen Vortrag: »Außerhalb der Schule hätten die Kinder und Jugendlichen weiterhin mit Diskriminierungserfahrungen zu kämpfen.«97 Eine eigene wissenschaftliche Evaluation wurde auf der Veranstaltung ebenfalls groß angekündigt, wobei die dafür verantwortliche Wissenschaftlerin während der Tagung schon vorab das stolze Ergebnis der »gerade begonnenen« Studie verkünden durfte, demnach die Rütli-Schule eine »Entkoppelung des Bildungserfolgs von sozialer Herkunft« erreicht habe.98 Auch andere Personen hatten ihre spezifischen Rollen in der Zelebrierung der offiziellen Erfolgsgeschichte: Yasin Rammo, ehemaliger Teilnehmer des Rütli-Stipendienprogramms Ein Quadratkilometer Bildung und später Maschinenbaustudent, lobte vor allem »die familiäre Atmosphäre an der Schule« sowie die »hohe Einsatzbereitschaft des mehrheitlich jungen Kollegiums«. Sascha Wenzel, Geschäftsführer der Freudenberg Stiftung, fasste »die Lehren der gelungenen pädagogischen Veränderungen im Reuterkiez« in acht Punkten zusammen: Problembewusstsein, Experimente, Führung, Anerkennung, Zeit, Unterstützung, Netzwerke und Sprache. Bei der Rede von Franziska Giffey, der damaligen Bürgermeisterin von Neukölln, fiel mir auf, dass sie einerseits die Notwendigkeit betonte, mit Projekten wie Rütli »Leuchttürme zu schaffen«, und gleichzeitig versprach »niemanden zurückzulassen«, womit sie im gleichen Atemzug unterschiedliche bildungspolitische Positionen abdeckte. Ihr eigenes Verständnis von Bildung offenbarte sich einige Jahre später, als auch in ihrer Doktorarbeit zahlreiche Plagiate aufgedeckt wurden. Siegfried Arnz, der Strippenzieher hinter der Schulstrukturreform, hob als »große, entscheidende Herausforderung« hervor, »die Eigenverantwortung der Schule zu stärken«. Schließlich beglückwünschten sich die beteiligten Akteure aus »Staat, Zivilgesellschaft und Stiftungen« noch ausführlich zu ihrer »besonderen Kultur der Zusammenarbeit« und zeigten sich demonstrativ »überwältigt von Gefühlen angesichts des Erfolgs des Programms«.99
97 Ebd., S. 4. 98 Ebd., S. 13. 99 Ebd., S. 14.
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Beide Inszenierungen – die »Berliner Rede« von Horst Köhler und die festliche Tagung zum zehnjährigen Rütli-Jubiläum – repräsentieren die staatliche Sichtweise, mit James Scott könnte man sie als »official transcripts« bezeichnen. Scott unterscheidet in seinem Buch Domination and the Arts of Resistance zwischen »official« und »hidden transcripts«, also zwischen informellen Agenden und versteckten Gesten einerseits sowie den öffentlichen Darstellungen und behördlichen Verkündigungen andererseits. »Hidden Transcripts« finden sich sowohl auf der Seite der Dominierten, hier ließe sich an ein ganzes Bündel widerständiger Äußerungen und schuldistanzierter Handlungen aufseiten der Schüler*innen denken, aber auch an das große Unbehagen gegenüber der vorherrschenden Bildungspolitik innerhalb der Lehrer*innenkollegien. Sie finden sich somit auch auf der staatlichen Seite, vor allem bei Politiker*innen, die öffentlich »Bildung für alle« fordern, doch außerhalb des Scheinwerferlichts für eine neoliberale Politik stehen, die größere soziale Spaltungen im Bildungssystem zur Folge hat. Die »official transcripts« sind demgegenüber immer auch eine Art Selbstportrait der Eliten, die mit eindrucksvollen Gesten und vollmundigen Erfolgsbilanzen versuchen, ihren dominanten Status zu rechtfertigen. Selbstbeweihräucherungen dieser Art stehen in einem auffälligen Gegensatz zur moralischen Deligitimation der Schüler*innen. Die offiziellen Selbstinszenierungen bedürfen gleichzeitig einer zumindest rhetorischen Umarmung der sozial Schwachen und einer scheinbaren Berücksichtigung von kritischen Stimmen, um nicht zu abgehoben oder zu autoritär zu wirken. Soziale Ungleichheit manifestiert sich dabei bereits auf der Ebene dessen, was als »normal« und was als »problematisch« betrachtet wird. Auf der Seite von Politiker*innen werden die Grenzen von dem, was noch als akzeptabel erscheint, maximal ausgeweitet. Annette Schavan wurde beispielsweise kurz nach der Aberkennung ihres Doktortitels im Jahr 2013 die Ehrendoktorwürde der Universität Lübeck verliehen. Umgekehrt sind die Grenzen des Normalen auf Seiten der Schüler*innen deutlich enger gezogen, diese werden medial als »Intensivtäter« gebrandmarkt, obwohl die große Mehrzahl von ihnen keinerlei kriminelle Verstrickungen vorweisen. Mithilfe von Jürgen Links Theorie des Normalismus könnte man hier zwei komplementäre normalistische Strategien unterscheiden, die in der Gegenwartsgesellschaft zuneh-
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mend auseinanderklaffen.100 Auf der einen Seite eine Expandierung der Normalitätszone mittels einer f lexibel-normalistischen Strategie, bei der Differenzierungen, Ausnahmen und f lexible Unterscheidungen zwischen normal und anormal dominieren. Auf der anderen Seite eine Komprimierung der Normalitätszone mittels einer protonormalistischen Strategie, die durch Markierungen von Risikogruppen, Stigmatisierungen und das Ausklammern von Graubereichen gekennzeichnet ist. Was als »normal« und was als »problematisch« erachtet wird, ist also keineswegs beliebig, sondern das Ergebnis gesellschaftlicher Machtprozesse, wobei nicht zufällig den Eliten mehr Spielraum eingeräumt wird als unterbürgerlichen und (post-)migrantischen Gruppen. Obwohl dem deutschen Schulsystem immer wieder systematische Benachteiligungen vor allem in Bezug auf ethnische und soziale Herkunft nachgewiesen wurden, haben sich die Ungleichheitsstrukturen im Bildungsbereich auch über diverse Reformvorhaben hinweg als äußerst hartnäckig erwiesen. Mehr noch: Der gewerkschaftliche Einf lussbereich wurde eingeschränkt, während sich gleichzeitig die ökonomischen Verwertungslogiken weiter ausbreiteten. Dadurch vertiefen sich soziale Spaltungen, und zugleich mangelt es an einer wirksamen Interessensvertretung der davon maßgeblich betroffenen prekarisierten Bevölkerungsgruppen. Bildungspolitik hält den sich immer stärker abzeichnenden Klassenkonf likt latent, indem Staat und Schule rhetorisch auf der »guten« Seite verortet werden, während die Schüler*innen und ihre Eltern als das eigentliche Problem dargestellt werden. Dieser Verantwortungszuschreibung liegt eine institutionell etablierte und medial reproduzierte Alltagsmoral zugrunde, demnach sozialmoralisch verwahrloste »Unbeschulbare« oder hochgradig kriminelle »Intensivtäter« sowie deren Familien für die Bildungsmisere verantwortlich sind. Eine skandalorientierte Medienberichterstattung führt zu einseitigen Informationen, einprägsame Metaphern zu verzerrten Problemwahrnehmungen, die gleichsam andere Problemdefinitionen verhindern. Auch die sich daran anschließende politische Reformrhetorik ist selbst ein wesentlicher Teil des Problemzusammenhangs, da sie der Öffentlichkeit suggeriert, die Probleme werden endlich angegangen, während gleichzeitig jene politischen Maßnahmen aus dem
100 Vgl. Link: Versuch über den Normalismus.
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Blick geraten, die eine weitere Verschärfung der sozialen Ungleichheiten im Bildungswesen zur Folge haben.101 Bildungspolitische Maßnahmen sind keine unilinearen Steuerungsinstrumente, welche über den sozialen Verwerfungen stehen. Vielmehr handelt es sich um ein heterogenes Ensemble von Deutungen, Vorschriften und Praktiken, durch das soziale Ungleichheiten im Bildungsbereich gleichsam aufgefangen und (re)produziert werden.102 Der schulische Staatsapparat bringt soziale Differenzierungen hervor, die sich in das diskursive und sozialstrukturelle Gewebe der Gesellschaft einschreiben. Zugleich normalisiert er die damit verbundenen gesellschaftlichen Verhältnisse, indem er Zugangsrechte regelt. In diesem Kapitel habe ich Bildungspolitik als ein von medialen Paniken angetriebenes, machtdurchzogenes Steuerungsinstrument beschrieben, mit dem der institutionelle Rahmen der Schule gesetzt und neoliberal ausgerichtete politische Agenden verfolgt werden. Daran anschließend schaue ich im folgenden Kapitel auf die lokalen Entfaltungen marktförmig konzipierter Projekte und politischer Reformmaßnahmen, die aus einer ethnografischen Perspektive mitunter widersprüchlich und bizarr erscheinen. Hinter dem »Staatseffekt«, der Illusion einer einheitlichen, staatlich gelenkten Bildungspolitik, verbirgt sich ein lose gekoppeltes Arrangement aus offiziellen und versteckten politischen Agenden sowie divergierenden politischen Semantiken.103 Gerade weil der Staat nicht auf eine uniforme und autonom entscheidende politische Elite reduziert werden kann, sondern eher als eine Kräftefeld mit progressiven und regressiven Tendenzen verstanden werden sollte, diffundieren staatliche Politiken in den Alltag, wo sie gesellschaftliche Spaltungsgefüge neu justieren, diese entweder eher entschärfen oder – wie zuletzt – stärker akzentuieren.104 Den Blick dafür zu öffnen, statt sich selbst zum willfährigen Anhängsel der Bildungspolitik zu machen, sollte die vorrangige Aufgabe der Wissenschaft sein.
101 Vgl. Edelmann: The Politics of Misinformation. 102 V gl. Shore/Wright (Hg.): Anthropology of Policy; Shore/Wright/Però (Hg.): Policy Worlds. 103 Vgl. Mitchell: The State Effect; Adam/Vonderau: Formationen des Politischen. 104 Vgl. Bourdieu: Über den Staat.
Positivierung Ambivalenzen des sozialen Engagements an »Problemschulen« Jugendliche an sogenannten »Problemschulen« werden nicht nur abgewertet und ausgegrenzt, sondern auch durch eine Reihe von Empowerment-Programmen adressiert. Im Verlauf der Ausweitung des Ganztagesschulangebots bei gleichzeitig fortwährendem Mangel an ausgebildeten Lehrer*innen haben sich die Sekundarschulen in Berlin in den letzten Jahren für Quereinsteiger*innen und diverse sozialpädagogische Zusatzangebote geöffnet. Dadurch hat sich ein neuer Markt für Bildungsprojekte entwickelt, ein anderes Personal kam an die Schulen und zahlreiche neue Initiativen entstanden. Einige dieser neuen Bildungsprogramme sind von anglo-amerikanischen Vorbildern inspiriert, mit ihnen zieht in der Folge auch ein US-amerikanisches Bildungsverständnis an hiesigen Schulen ein. Damit ist häufig auch eine Betonung von positiven Gefühlskomplexen verbunden, sie zielen auf Selbstbewusstsein und Erfolgsglauben, woraus sich jedoch auch neue Widersprüche ergeben. In einer eigentümlichen Arbeitsteilung werden die in schwierigen sozialen Lagen aufwachsenden Jugendlichen von Lehrer*innen tendenziell gedemütigt und von Sozialpädagog*innen wiederaufgerichtet. Das Arsenal schulischer Abwertungen reicht von Strafnoten über Disziplinarmaßnahmen bis zu Beleidigungen, das sozialarbeiterische Empowerment wiederum setzt auf Hip-Hop-Workshops, Motivationstrainings und Spaßveranstaltungen. Dabei zeichnet sich eine Doppelstruktur aus negativen Sanktionen und positivistischer Aktivierung ab, in deren Zusammenhang jeweils gegensätzliche affektive Register aktiviert wurden. Loïc Wacquant argumentiert in Bezug auf die Regierung sozialer Ungleichheit in den USA, dass der dortige Trend zu Punitivität nicht als Reaktion auf steigende Kriminalität zu verstehen
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sei, sondern als Antwort auf die im Zuge von Prekarisierung entstehende soziale Unsicherheit. Die Bestrafungspolitik ist gleichsam mit einer arbeitsmarktpolitischen Aktivierungspolitik gekoppelt, beide sind jeweils auf unterschiedliche Art emotional aufgeladen. Diese parallel eingesetzten Herrschaftsinstrumente zielen letztlich darauf, die in prekären Verhältnissen lebenden Bevölkerungsschichten wirkungsvoll in Schach zu halten.1 Dabei werden die Ungleichheitsverhältnisse selbst nicht in Frage gestellt, sondern indirekt legitimiert und verfestigt. Diese Doppelstruktur findet sich in vergleichbarer Form auch hierzulande im Kontext schulischer Arbeitsteilungen wieder. So arbeitete Thorsten Hertel in einer Studie zu benachteiligten Schulstandorten zwei grundlegend verschiedene, aber in der Praxis kombinierbare Formen schulischer Disziplinarkultur heraus: Eine repressive, auf Unterwerfung unter ein starres Regelwerk setzende Methode und einen »explorativen Typus«, bei dem es mehr um Anregungen und das eigenständige Einfügen in die gegebenen Verhältnisse geht.2 Während meiner Feldforschungen fielen mir drei solcher aktivierender Initiativen zu Bildung und Schulentwicklung auf, die in den letzten Jahren besonders öffentlichkeitswirksam aufgetreten sind. Ich stelle zunächst deren Programmatiken und einige ihrer Protagonist*innen vor und verfolge anschließend deren praktische Umsetzung. Das Fellow-Programm Teach First bietet Universitätsabsolvent*innen vor dem Berufseinstieg die Möglichkeit für zwei Jahre an Schulen zu unterrichten. Das Mentorenprogramm Rock your Life! führt Studierende mit Haupt- und Realschüler*innen zusammen. Und das Schulentwicklungsprogramm School Turnaround zielt auf eine deutlich spürbare Verbesserung der Situation von »Problemschulen«, die vor allem durch eine Neuausrichtung der schulischen Führungsstrukturen erreicht werden soll. Alle drei Programme setzen der weithin wahrgenommenen schulischen Misere einen demonstrativen Positivismus und einen Appell an Eigenverantwortung entgegen, wobei sich ihre Rezepte, ihr Personal und deren Auftreten in auffallender Weise ähneln. Mit dieser Ausrichtung stehen sie für eine ganze Welle von pädagogischen Angeboten, die auf eine positive Grundstimmung und -ausrichtung zielen, bei denen Schüler*innen unter widrigen Bedingungen motiviert und optimistisch gestimmt werden sollen. 1 Vgl. Wacquant: Die neoliberale Staatskunst; Fassin: Compassion and Repression. 2 Vgl. Hertel: Entziffern und Strafen.
Positivierung
Mit dem Begriff der Positivierung spiele ich nicht auf das ähnlich klingende wissenschaftliche Paradigma des Positivismus an, sondern auf die subjektkonstituierenden Wirkungen dieser Programme. Die besondere Fokussierung der Projekte auf positive Stimmungsmache, die für sie maßgebliche Aktivierung von positiven Gefühlen, lässt sich auch als eine neuartige Form der Subjektivierung unter neoliberalen Vorzeichen verstehen. Dabei handelt es sich nicht um abgegrenzte Emotionen oder als gegeben angenommene Charaktereigenschaften, sondern eher um bestimmte Gefühlskomplexe sowie um ein affektiv aufgeladenes Bündel von Praktiken, die Prozesse sowohl der Selbstwahrnehmung als auch der Selbstbildung anleiten sollen. Edgar Cabanas und Eva Illouz argumentieren, dass eine individualistische Orientierung an Glück sowie eine optimistische Lebenseinstellung, wie sie von der Positiven Psychologie in den USA seit den 1950er Jahren propagiert wurde, mittlerweile zum allgemeinen Anforderungskatalog für erfolgreiche Selbstmodellierung geworden sind.3 Das damit verbundene Loblied des Optimismus wurde in Deutschland von prominenten Autoren wie Paul Nolte angestimmt und bestimmt heute vor allem den Sound der Ratgeberbranche.4 Damit ist gleichsam die Tendenz verbunden strukturell bedingte Ungleichheiten auf psychische Mängel, falsche Entscheidungen und defizitäre Einstellungen der einzelnen Individuen zurückzuführen. Gleichzeitig verändert sich auch das Verhältnis zur Arbeit; indem Motivationen und positive Emotionen in projektförmigen Arbeitszusammenhängen stimuliert werden, soll gleichzeitig eine stärkere Identifikation mit den Arbeitszielen und somit letztlich eine höhere Produktivität erreicht werden. Bei der Untersuchung dieser Projekte zeichnet sich somit zugleich ein Trend zur Singularisierung und eine herausgehobene Bedeutung von Affekten in sozialpädagogischen Angeboten ab. Die vorgestellten Projekte bewegen sich zwar in den traditionellen Feldern von Schule und Sozialer Arbeit, sie sind jedoch unternehmerisch ausgerichtet und zielen auf eine grundlegende kulturelle Transformation dieser Bereiche, auf einen Wandel in den Haltungen und Einstellungen hin zu mehr Eigeninitiative und Selbstverantwortung sowie auf eine inhaltliche Ausrichtung am Besonderen und Außergewöhnlichen statt am
3 Vgl. Cabanas/Illouz: Manufacturing Happy Citizens; Reckwitz: Kreativität. 4 Vgl. Nolte: Riskante Moderne.
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Durchschnittlichen und Normalen.5 Die individuelle Profilbildung der Projektmitarbeiter*innen nimmt dabei eine herausgehobene Rolle ein, ebenso wie deren Selbstmarketing, das auf eine vorteilhafte Positionierung im Wettkampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung zielt. Mit der projektförmigen Organisation geht eine besondere affektive Aufladung des Engagements einher, allerdings auch eine relativ enge zeitliche Befristung. Es handelt sich folglich um »affektive Arbeit« – diesen auf die Produktion von intensiven Gefühlen bei sich und anderen ausgerichteten Tätigkeiten kommt in der postfordistischen Ökonomie eine besondere Bedeutung zu, sie stehen im Zentrum der gegenwärtigen kapitalistischen Produktionsverhältnisse.6 Mit dem neuen emotionalen Arbeitsstil werden gleichsam unternehmerische Subjektmodelle propagiert und somit die Gesellschaft in einer Weise geformt, die sich zunehmend an ökonomischen Bewertungsmaßstäben orientiert. Bei den zunächst vorgestellten Programmformaten orientiere ich mich an Ulrich Bröcklings Analyse des »unternehmerischen Selbst« – verstanden als ein Bündel von am ökonomischen Handeln ausgerichteten normativen Anforderungen und Rollenangeboten. Bröckling schließt an die Arbeiten von Michel Foucault zu Biopolitik und Gouvernementalität an.7 Mit diesen Begriff lichkeiten beschreibt Foucault einen Wandel politischer Herrschaftslogiken seit dem späten 18. Jahrhundert, bei dem Bevölkerungen als kollektive Entitäten und die Selbstmodellierungen der Subjekte in den Fokus politischer Steuerungsprogramme rückten. Die damit verbundene moderne Form des Regierens löste das in der Frühen Neuzeit dominierende Disziplinarregime tendenziell ab. Vor allem im Umgang mit sozialen Randgruppen blieb neben der sanft führenden linken Hand auch die rechte, die zupackende Hand des Staates weiterhin präsent. Das »Bestrafen der Armen« hat zuletzt unter neoliberalen Vorzeichen sogar wieder eine spätmoderne Renaissance erfahren.8 Gouvernementale Regierungsformen prägten das sich im späten 20. Jahrhundert durchsetzende neoliberale Gesellschaftsmodell, in ihnen gewannen Kalküle ökonomischer Nützlichkeit 5 Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. 6 Vgl. Hardt: Affektive Arbeit. 7 V gl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung; Foucault: Die Geburt der Biopolitik; Bröckling/Lemke/Krasmann (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart; Rose: Inventing our Selves. 8 Vgl. Wacquant: Bestrafen der Armen.
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an Gewicht, sie avancierten allmählich zum regulierenden Prinzip des Staates und beförderten den Aufstieg von unternehmerisch ausgerichteten Subjektmodellen. Das Projektemachen sowie spezifische Formen des Empowerments und des Coachings stellen programmatische Anleitungen und zugleich legitimatorische Argumentationsmuster des »unternehmerischen Selbst« im Alltag bereit. Das damit verbundene ökonomistische Subjektmodell bildet keine kohärente Einheit und erst recht keine unveränderliche Identität, sondern verweist eher auf den gemeinsamen Fluchtpunkt unterschiedlicher gesellschaftlicher Adressierungen, auf den verbindenden Nenner spezifischer Selbst- und Sozialtechnologien. Um den unterschiedlichen Projektausrichtungen und Projektbiografien gerecht zu werden, führte ich zum einen parallel zu meinen Forschungen an der Galilei-Schule im Jahr 2012/13 eine Reihe von – hier anonymisierten – informellen Gesprächen und Interviews mit an diesen Projekten beteiligten Personen: mit einer Initiatorin von Teach First und späteren ersten Projektleiterin von School Turnaround, mit einer der Mitgründerinnen von Rock your Life!, sowie mit drei Teach First-Fellows, die an der von mir damals untersuchten Schule in Neukölln tätig waren. Die meisten von ihnen waren während meiner Forschung in ihren 30ern angelangt, die für sie zumeist eine Zeit von Familiengründungen und beruf licher Etablierung war. Zum anderen beobachtete ich die Umsetzung der Projekte in der schulischen Praxis und führte in diesem Zusammenhang weitere Gespräche im schulischen Umfeld. Auch wenn sich die hier vorgestellten Projekte und Personen in vielen Dingen voneinander unterscheiden, so ähneln sie sich doch in auffälliger Weise in ihrer unternehmerischen Orientierung.
Bildungsprojekte. Teach First, Rock your Life! und School Turnaround Teach First, Rock your Life! und School Turnaround verstehen sich explizit als Bildungs-Start-ups oder als Pilotprojekte. Die drei Projekte stehen somit für einen Wandel in der Form des sozialen Engagements mit als hilfsbedürftig eingeschätzten Schulen und Schüler*innen. Sie grenzen sich dabei von einer als langwierig und altmodisch verstandenen Form der Sozialarbeit und von früheren Versuchen der Schulentwicklung ab. »Wir sind nicht mehr ideologisch geprägt, sondern unternehme-
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risch, also auf Wirkung und Evaluation fokussiert«, fasst es einer der Protagonisten im Interview zusammen. Durch die rhetorische Gegenüberstellung von Unternehmertum und Ideologie wird gleichsam der ideologische Charakter von am Markt ausgerichteten Handlungslogiken kaschiert, diese implizit als natürlich und unverdächtig dargestellt. Auch die beteiligten Personen hoben sich mit ihren zum Teil ambitionierten Karriereabsichten vom übrigen erzieherischen und sozialpädagogischen Personal der Schule ab, viele verstanden ihr Engagement als eine zeitlich befristete Projektphase auf dem Weg zu Leitungsfunktionen in Politik, Verwaltung oder Wirtschaft, manche indes auch als eine Art Quereinstieg in den Lehrer*innenberuf. Erstaunlich war, dass alle drei Projekte schon von Beginn an starke mediale Aufmerksamkeit erfuhren, teilweise verfügten sie sogar über eigene Presseabteilungen. Public Relations waren hier nicht einfach nur ein notwendiges Mittel zum Zweck, sondern aufgrund des Anspruchs auf öffentliche Wirksamkeit selbst das Telos des Engagements. Zudem profitierten die Initiativen von einer großen Nähe zu Wirtschaft und Politik. Einer der Protagonist*innen aus dem dreiköpfigen Gründungsteam von Teach First war direkt zuvor bei der Unternehmensberatung McKinsey angestellt, später übernahm er eine Führungsposition im weltweiten Dachverband Teach for all. Ein »business for fellows«-Programm vermittelt Grundkenntnisse in Betriebswirtschaftslehre und stellt zugleich Kontakte zu kooperierenden Wirtschaftsunternehmen her. Auf diesem Wege ist es möglich, die ersten Bewerbungsrunden für Leitungsfunktionen bei McKinsey und anderen Partner-Unternehmen wie der Post und der Lufthansa zu überspringen und direkt ins Bewerbungsgespräch einzusteigen. Die Unternehmen verstehen die mit einem elitären Anspruch verbundene Fellow-Rekrutierung als eine unternehmenskompatible Vorauswahl von Führungskräften, zugleich ermöglicht ihnen die Kooperation mit Teach First, sich soziale Verantwortung – eine sogenannte »Corporate Social Responsibility« (CSA) – auf die Fahnen zu schreiben, ohne selbst in sozialer Hinsicht aktiv werden zu müssen. Auch der spätere Zugang zu US-amerikanischen Eliteuniversitäten wie der Harvard University soll den Fellows auf ähnliche Weise erleichtert werden. Der Verweis auf Harvard ist nicht zufällig, denn Teach First ist Teil eines wachsenden globalen Netzwerks, dessen Ursprünge an US-amerikanischen Privatuniversitäten und in britischen Wirtschaftskreisen
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liegen. Vorläufer des Programms waren zum einem das 1990 an der prestigeträchtigen Princeton University gegründete Teach for America, dessen Gründerin Wendy Kopp sich für eine Deregulierung der pädagogischen Ausbildung einsetzte und dessen Fellows verstärkt in Gegenden eingesetzt wurden, an denen es zuvor zu Entlassungen von Lehrer*innen gekommen war.9 Teach for All fusionierte im Jahr 2007 mit dem britischen Teach First, das Anfang der 2000er Jahre von einem Londoner Mitarbeiter der Unternehmensberatung McKinsey gegründet wurde, worauf sich zurückführen lässt, dass Selbstverständnis, Auftreten und Rekrutierungsstrategie des Programms (»the best and the brightest«) starke Bezüge zum wirtschaftsliberalen Sektor aufweisen. Der durch die Fusion entstandene internationale Verbund Teach for All zählt mittlerweile weltweit 58 Filialen, darunter Teach First Deutschland. Auch direkt nach Harvard gibt es einen Bezug, denn hier lehrte mit dem Ökonomie-Professor Robert Fryer einer der Vordenker dieser Art von Projekten. Sein Einf luss auf die Bildungspolitik ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass er Schulreformen versprach, mit denen die Leistungen von Schüler*innen auf einfache, effektive und kostengünstige Weise verbessert werden könnten, sofern diese mit der Implementierung eines genauen Monitorings sowie einer schulischen Erfolgskultur verbunden würden.10 Zudem empfiehlt er dem behäbigen öffentlichen Schulsystem, sich stärker an erfolgreichen Charter Schools, einer US-amerikanischen Variante von Privatschulen auszurichten.11 Fryer galt eine Zeit lang als aufsteigender akademischer Star in den USA, mit 30 Jahren wurde er zum bisher jüngsten afro-amerikanischen Professor nach Harvard berufen, wo er 2009 das von ihm geleitete Education Innovation Lab gründete. Im Jahr 2019 wurde Fryer jedoch nach Vorwürfen der sexuellen Belästigung vom Lehrbetrieb suspendiert und sein Bildungslaboratorium wenig später geschlossen. Die engen Bezüge der Projekte zur Politik entstanden indirekt über die Verbindungen zu Wirtschaftseliten oder wurden durch das Streben nach persönlichen Beziehungen gezielt aufgebaut. Auf den FacebookSeiten der Initiativen kann man Besuche im Kanzleramt, im Bundestag oder beim Bundespräsidenten auf Schloss Bellevue bewundern. Dass sich die Nähe zu den politischen Entscheidungsträger*innen aus9 Vgl. Thomas/Rauschenberger/Crawford-Garret (Hg.): Examining Teach for All. 10 Vgl. Allen/Fryer: The Power and Pitfalls of Education Incentives. 11 Vgl. Fryer: Learning from the Successes and Failures of Charter Schools.
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zahlt, zeigte sich ab dem Jahr 2015 bei der Regelung des schulischen Umgangs mit gef lüchteten Kindern. Im Rahmen des Programms Echte Teilhabe wurde Teach First in einigen Bundesländern die Leitung von »Willkommensklassen« inklusive »Sprachvermittlung und -förderung sowie Fachunterricht« übertragen.12 In diesem Programm geht es um »Sprachkompetenz« und »Fachliche Kompetenz«, um »Soziale Teilhabe« und die Planung der beruf lichen »Zukunft« – also um die Übernahme von zentralen Aufgabengebieten von Lehrer*innen und schulischer Sozialarbeit durch einen privaten Bildungsträger. Die ideologische und personelle Passfähigkeit zu den Eliten trug auch zu den zahlreichen, oft durch wirtschafts- und politiknahe Stiftungen vergebenen Auszeichnungen bei, mit denen diese Projekte regelrecht überhäuft werden. Wie dies funktioniert, zeigt sich exemplarisch an der Fritz Henkel Stiftung, die einerseits zu den Hauptförderern von Teach First gehört und sie gleichzeitig medienwirksam von hochrangigen Bildungspolitiker*innen mit ihrem eigenen »Impact Partner Award« auszeichnete. Um die Vorbereitung ihrer Rolle als zukünftige Entscheidungsträger*innen noch stärker hervorzuheben, bietet Teach First seinen Fellows seit dem Jahr 2014 ein »Leadership Programm« an, dessen Jargon zwar komplett selbstreferentiell, doch enorm selbstbestätigend erscheint: Developing leadership potential: Top recruiters look for leaders – people who have a track record of making things happen and a major feature of Teach First’s Leadership Development Programme is its focus on developing your leadership potential – it’s all in the name! It is through leadership that you will be able to profoundly affect the achievement of all your pupils, and your leadership abilities will make you stand out in your future career. Ein weiteres wichtiges Element der angestrebten Karriereförderung ist das Alumni-Netzwerk von Teach First, aus dem heraus bereits eine Reihe von neuen Initiativen gestartet wurde. Dieses versteht sich als »Ansprechpartner für gesellschaftliche Bildungsthemen« und zielt auf eine »Mindset-Veränderung« der Gesellschaft. Gleichzeitig werden Verbindungen zu zahlreichen »Unternehmen« (als erstes werden mit »McKinsey & Company« und »The Boston Consulting Group« zwei 12 V gl. Teach First Deutschland: Programm Echte Teilhabe, .
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Unternehmensberatungen aufgeführt), zu »Verwaltung und Verbände(n)«, »Vereine(n) und Parteien«, »Hochschulen und Schulen« sowie zu »Stiftungen und NGOs« angepriesen und somit gleichsam das potentielle Arbeitsumfeld der Fellows umrissen.
Abb. 1: Selbstdarstellung Teach First-Alumni-Netzwerk, Quelle: Facebook An den Karrierewegen der Projektinitiatorinnen fallen die unternehmerischen Bezüge ebenfalls auf. Johanna von Teach First verbrachte ihre Schulzeit in München, Singapur und Chicago, während des Studiums der Politikwissenschaften sind noch ein Studienaufenthalt in England und nach dem Studium erste beruf liche Erfahrungen bei der Weltbank sowie politiknahen Thinktanks hinzugekommen. Im Gespräch entwickelt sie ein biografisches Narrativ, in dem sie den Bildungsaufstieg ihres Vaters und ihren internationalen Lebenslauf als die beiden entscheidenden biografischen Prägungen herausstellt, die sie zur Gründung von Teach First animierten. Dieses startete 2007 als kleine Initiative von miteinander bekannten oder befreundeten UniAbsolvent*innen, die ersten Fellows wurden zwei Jahre später entsandt. Die Organisation wuchs schnell und hat sich mittlerweile etabliert. Johanna hat nach vier, fünf Jahren die Organisation verlassen, in Harvard ein Master-Programm in »Public Adminstration« absolviert, wo sie auch auf Robert Fryer traf, und bereits von dort aus die Leitung der Initiative School Turnaround in Berlin übernommen. Dies war ein zeitlich befristetes Pilotprojekt für zehn als besonders problematisch
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geltende Schulen, mit dessen Hilfe diese »durchstarten«, »über den Tellerrand schauen« und »die Schulwende schaffen« sollten.13 Später war sie unter anderem an der privaten Hertie School of Governance tätig, startete dort ein Promotionsprojekt und ist mittlerweile in einer Unternehmensberatung im Bereich »Leadership-Development« tätig. Eine damalige Teach First-Mitgründerin war ebenfalls an der Hertie School of Governance tätig und ist mittlerweile zur Geschäftsführerin der Hertie-Stiftung aufgestiegen. Kirsten stammt aus einer Hamburger Unternehmerfamilie und startete 2009 Rock your Life! mit zwei Kommilitoninnen als Studienprojekt an der privaten Zeppelin-Universität am Bodensee im Studiengang »Social Engineering« – eine Bezeichnung, die sich Michel Foucault nicht besser hätte ausdenken können. Sie begreift sich folgerichtig selbst als »Sozialunternehmerin«. In einer universitätsinternen Projektgruppe wurde zunächst »Hauptstadtrocker« als Name diskutiert, diese Bezeichnung jedoch später wieder verworfen, da man »nicht so ein kleiner Verein in Neukölln« werden wollte, sondern eine Marke anstrebte, die »deutschlandweit sexy ist«. Auch Rock your Life! stand von Beginn an mit namhaften Politiker*innen und großen Wirtschaftsunternehmen in Verbindung. Die Gründung erfolgte durch eine Projektgruppe, die sich in Folge eines Besuchs von Peer Steinbrück an der Zeppelin-Universität bildete. Kurz darauf zeichnete die BMW-Stiftung das Projekt 2009 bereits vor dem Start mit einem Preisgeld in Höhe von 25.000 Euro aus, was überhaupt erst die Gründung der gemeinnützigen GmbH ermöglichte, und stellte darüber hinaus Kontakte und Räumlichkeiten zur Verfügung. Es folgte ein rasanter Aufstieg: Nach einem Jahr existierten bereits 10 »Social Franchise«, kurz darauf waren es 30 Standorte in Deutschland. Die drei Gründerinnen waren damals mit einem Forschungsprojekt der Mercator-Stiftung zu Sozialunternehmertum verbunden und finanzierten sich teilweise über die dort angesiedelten Stellen. Kirsten verließ ebenfalls nach etwa fünf Jahren das Projekt, da ihr der Start-up-Charakter zu sehr verloren gegangen und die Arbeit zu sehr zur Routine geworden war. Die beiden anderen Mitgründerinnen starteten Rock your Life!-Unternehmen, ein For-profitAbleger, in dem sie seitdem Mentoring und Coaching für Firmen oder zahlungskräftige Privatpersonen anbieten.
13 Vgl. Projektbroschüre »Schoolturnaround. Berliner Schulen starten durch«.
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Die Projektverantwortlichen betonen ihre Internationalität, was sich nicht nur an ihren Lebensläufen sondern auch ihren Sprechweisen bemerkbar macht. In den Gesprächen mit ihnen fielen immer wieder englische Vokabeln: Man muss sich »committen«, die Jugendlichen sind »voll sweet«, Dinge werden »better« oder das Projekt läuft »smooth und nachhaltig«. Zudem zeichnen sich Bindungen an private, wirtschaftsnahe Universitäten ab, die einem kleinen, zahlungskräftigen Klientel – die Semestergebühren an der Zeppelin-Universität lagen zu Kirstens Studienzeiten bei 4.000 Euro – Karrierewege in Wirtschaft und Politik in Aussicht stellen. Das hier vertretene Elitenmodell beruht nicht mehr auf Funktionalität, sondern auf Kreativität und Wagemut. Die Zeppelin-Universität verleiht »Anti-Streber-Stipendien für Anderssein«, sie feiert den systemkonformen Nonkonformismus, indem sie betont, keine »stromlinienförmigen Spezialisten« auszubilden, sondern »mutige Entscheider und kreative Gestalter« hervorzubringen.14 Aufgrund ihrer ähnlichen Ausbildung und Ausrichtung kennen sich die Beteiligten der hier behandelten Bildungsprojekte vielfach untereinander und kooperieren auf praktischer Ebene miteinander, etwa bei der Vermittlung von Kontakten zu Schulen. Kirsten kommentiert die Gemeinsamkeiten zwischen Rock your Life! und Teach First in folgender Interviewpassage: »Wir sind ähnlich pragmatisch und unternehmerisch ausgerichtet. Andere Programme arbeiten anders, sind vielleicht auch nicht so visionär und so ehrgeizig. Bei uns ist ein anderer Drive dahinter, auch mit mehr Blick auf Wirtschaftlichkeit und organisatorisches Wachstum.« Doch Karriereambitionen sind nicht das einzige Movens der Arbeit: Um Projekte erfolgreich zu gestalten, ist eine positive Arbeitsatmosphäre und die Selbstmotivierung der Mitarbeiter*innen von entscheidender Bedeutung. In den damit verbundenen positivistischen Arbeits- und Selbstentwürfen entsteht das, was Luc Boltanski und Ève Chiapello den »neuen Geist des Kapitalismus« nennen.15 Boltanski und Chiapello untersuchten anhand eines kontrastiven Vergleichs der französischen Managementliteratur der 1960er und frühen 1990er Jahre die Konturen des sich herausbildenden »New Public Management«. Dieses setzt sich vom planerischen Leitmotiv des organisierten Industriekapitalismus 14 V gl. Zeppelin-Universität, ; Vgl. Bröckling/Peter: Mobilisieren und Optimieren, S. 136f. 15 Vgl. Boltanski/Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus.
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durch eine Betonung von Flexibilität und Projektförmigkeit, von Selbstmotivation und Selbstverwirklichung ab. An die Stelle von zentralistischen Hierarchien treten »Leader« mit ihren weltverbessernden »Visionen«, mit persönlichem Charisma und unternehmerischem Weitblick ausgestatte Führungskräfte, denen die Mitarbeiter*innen freiwillig folgen sollen, die grenzenloses Engagement fordern und Enthusiasmus verbreiten. Die positive Selbstpräsentation der untersuchten Bildungsinitiativen resultiert aus der Orientierung an dieser Form des projektförmigen Kapitalismus mit seinem neuen Führungskult. Die damit verbundene Selbstzelebrierung des Führungspersonals zeigt sich beispielhaft an Elisabeth Hahnke, der Hauptinitatorin von Rock your Life!: Diese hebt auf der Website des kommerziellen RYL!-Ablegers Rock Your Company! hervor, dass sie laut Cover-Magazin »zu den 40 spannendsten und inspirierendsten Frauen Deutschlands« zählt.16 Auch von Ulf Matysiak, dem Geschäftsführer von Teach First, wird die eigene Außergewöhnlichkeit herausgestellt: »At the age of 18 he held his first talks on education reform, advising Stuttgart City Councils and state parliament fractions on various education and youth policy issues.«17 Gleichzeitig bieten die Projekte eine Antwort auf die mangelnde moralische Legitimierung und die fehlende Gerechtigkeitsorientierung des »New Public Managements«. Ihr unternehmerisches Selbstverständnis ist eng verkoppelt mit der thematischen Ausrichtung an Bildungsgerechtigkeit. Diese inhaltliche Schwerpunktsetzung vermittelt einen ideellen Rahmen, mit dem sich alle Beteiligten identifizieren sollen. Gleichzeitig kommt es zu einer Vereinnahmung der Semantiken sozialer Emanzipationsbewegungen für ein effektiveres Management von Unternehmen. Durch die von vielen Beteiligten als sinnstiftend erlebte Selbst-Assoziation der Projekte mit dem Guten und Gerechten erscheinen selbst die gelegentlichen Strapazen der täglichen Arbeit in einem sonnigeren Licht. Auch die kollegialen Beziehungen werden positiv aufgewertet, sowohl Initiator*innen als auch Fellows hoben neben dem »spannenden Thema« auch immer wieder die »tollen Leute« hervor, mit denen sie sich gemeinsam engagierten. Die sinnstiftende Thematik und soziale Anziehungskraft verbanden sich wiederum mit einem Start-up-Enthusiasmus, mit einer Selbst-Berauschung an unter16 V gl. ; . 17 Vgl. Teach for all, .
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nehmerischem Auf bruch und schnellem Wachstum. Die gegenseitig entfachte Begeisterung war das, was für Kirsten den eigentlichen Reiz ihrer Arbeit ausmachte. »Ohne Spaß geht es nicht. Das muss man sich so vorstellen: Das ist halt ein Start-up mit 10, 15, vielleicht 20 Leuten, die da irgendwie rumwuseln, jeder macht alles, alle sind begeistert, alle geben alles, weil man sich ja auch stark mit dieser Arbeit identifiziert. Ich war da mittendrin – idealistisch, ziemlich hart arbeitend, mit viel Leidenschaft und erfüllt von der Unterstützung von außen. Das ist auch so eine Ermöglichungskultur. Erstmal nicht die Probleme in den Mittelpunkt stellen, diese ganzen Wenn und Abers, sondern da, wo Potenzial ist, einfach voranzupreschen. Das mag ich sehr.« Gruppenarbeit folgt hier nicht festgeschriebenen Rollenvorgaben, sondern die besondere Identifizierung mit dem Unternehmen geht mit einer als intensiv und anregend erfahrenen Verschmelzung mit dem Team einher. Unternehmerischer Erfolg beruht in diesem Arbeitsmodell maßgeblich auf der Mobilisierung von Affekten in spezifischen organisatorischen Arrangements. Rainer Mühlhoff spricht mit Blick auf die subjektivierenden Wirkungen der in Studien zur »New Economy« beschriebenen Affizierungen von immersiver Macht: »Das Einsatzfeld dieser Macht ist nicht unmittelbar das Individuum, sondern der relationale Raum der Interaktionen und Affektdynamiken – also das Team selbst.«18 Diese mittels Vereinnahmung operierende Macht wirkt nicht repressiv oder disziplinarisch, sondern wird von den Involvierten wie hier im positiven Sinne als eine idealistische Form der Selbstverwirklichung verstanden – als das Beste für sich und die Welt. Projekte haben jedoch ein Ende und auch das mit ihnen verbundene Engagement ist zeitlich begrenzt. Sozialprojekte folgen zudem nicht dem klassischen Spannungsauf bau von künstlerischen Projekten mit ihren abschließenden Höhepunkten, sondern sind eher auf Dauer und Wiederholung angelegt. Dadurch droht für die Gründer*innen und Fellows eine gewisse Routine und ein tendenzieller Spannungsabfall, ein Umschlagen der positiv erlebten euphorischen Emotionskultur in Richtung spannungsarmer Veralltäglichung sowie einem Mangel an neuen Herausforderungen. Mit der Umwandlung von einem Start-up 18 Mühlhoff: Immersive Macht, S. 379; Liu: The Laws of Cool; Gregg: Work’s Intimacy.
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in ein Unternehmen ging für Kirsten somit der Reiz der Arbeit bei Rock your Life! allmählich wieder verloren. Dieses Umschlagen in Enttäuschungen, verstanden als die Kehrseite einer emotional aufgeladenen Selbstverwirklichung, gehört für den Kultursoziologen Andreas Reckwitz zu den grundlegenden Risiken unserer spätmodernen Emotionskultur.19 Das Projektdenken war in die biografisch-unternehmerische Lebensplanung der hier vorgestellten Programmverantwortlichen bereits einprogrammiert, weshalb sie in der Regel schon während des Projektemachens nach neuen, möglichst größeren, prestigeträchtigeren oder lukrativeren Projekten Ausschau hielten. Wie passen nun diese von sich selbst berauschten Vorzeige-Projekte an Berliner »Problemschulen«? Die Eigentümlichkeit des gegenwärtig an Sekundarschulen zu beobachtenden Herrschaftsregimes besteht in der Spannung zwischen sozialer Abwertung und parallel dazu verlaufender positivistischer Aktivierung. Im ersten Kapitel habe ich die Stigmatisierung und soziale Abwertung von Bildungsverlierern geschildert. Um einen Eindruck vom Ausmaß der Abwertung zu bekommen, möchte ich hier nur kurz nochmal darauf hinweisen, dass mehr als 90 Prozent der von mir untersuchten Schüler*innenjahrgänge von der Zuzahlung zu Lehrmitteln befreit waren, da ihre Eltern von staatlichen Sozialleistungen lebten und das von einem Abschlussjahrgang von etwa 50 Absolvent*innen nicht mehr als zwei oder drei direkt nach der Schule einen Ausbildungsplatz gefunden haben. Auch die Noten der Schüler*innen waren zumeist desaströs. Da Fehlzeiten mit Strafsechsen geahndet wurden, hatten manche Schüler*innen bald dutzende Sechsen angesammelt, was wiederum zu ruinösen Zeugnissen beitrug. Die miserablen Zukunftsaussichten und pädagogischen Demütigungen belasteten den Schulalltag, sie führten zu einer depressiven Atmosphäre und zahlreichen Konf likten. Auf diese wurde wiederum in der Regel mit harten disziplinarischen Maßnahmen geantwortet. Diesem überbordenden Negativismus wird nun gewissermaßen zur Temperierung des Schulklimas von den erwähnten Projekten eine demonstrativ gute Laune entgegengesetzt. Je tiefer die sozialen Spaltungen, desto größer scheint der Bedarf an gesellschaftlicher Bindungsarbeit, weshalb sich die Projekte teilweise auch explizit als Brückenbauer anbieten. Je unbarmherziger die Klassenverhältnisse, desto 19 Vgl. Reckwitz: Das Ende der Illusionen, S. 203-238.
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mehr werden gutes Zureden und ideologische Auf bauarbeit nötig, weshalb die Projekte auch dezidiert auf positive Unterstützungsmaßnahmen ausgerichtet sind. Gleichsam entstehen durch den Einsatz dieser Projekte neue Spannungen und nicht-intendierte emotionale Nebenwirkungen, die sich vor allem daraus ergeben, dass die Motivationsmaßnahmen nicht mit spürbaren Verbesserungen der sozialen Situation einhergehen. Es handelt sich also um eine Doppelstruktur, ein punitives Regieren durch Abwerten und Strafen sowie ein aktivierendes Regieren durch motivierende und enthusiasmierende Projekte. Dabei spielt für die programmatische Ausrichtung dieser Schulprojekte eine spezifische Lesart von Empowerment eine entscheidende Rolle.
Empowerment und Coaching Empowerment im Sinne selbstermächtigender Praktiken hat Wurzeln in der afro-amerikanischen Black-Power- und der feministischen Emanzipationsbewegung der 1970er Jahre, doch wurde das Konzept zuletzt verstärkt von wirtschaftsliberalen Lagern vereinnahmt, indem Kürzungen im Bereich des Sozialstaates von Appellen zu Eigenverantwortung f lankiert wurden. Ulrich Bröckling hat diese neoliberale Schlagseite einiger jüngerer Adaptionen des Empowerments hervorgehoben.20 Dabei betont er die in den Zuschreibungen von Bedürftigkeit wirksam werdenden Machtverhältnisse und Herrschaftseffekte: »Damit die ›Ohnmächtigen‹ aus ihrer Lethargie erwachen beziehungsweise geweckt werden können, müssen sie als Zielgruppe von Empowerment-Programmen konstruiert, sozialwissenschaftlich durchleuchtet, pädagogisch angeleitet und psychologisch unterstützt werden.«21 Durch die programmatische Fokussierung auf Selbstbestimmung und Selbstermächtigung sowie die damit einhergehende pädagogische Förderung von individueller Responsibilisierung und von Selbstgestaltungskräften werde Empowerment »zu einem prominenten Baustein zeitgenössischer Gouvernementalität«.22
20 V gl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 180-214; Herriger: Empowerment in der Sozialen Arbeit. 21 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 193. 22 Ebd., S. 184.
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mehr werden gutes Zureden und ideologische Auf bauarbeit nötig, weshalb die Projekte auch dezidiert auf positive Unterstützungsmaßnahmen ausgerichtet sind. Gleichsam entstehen durch den Einsatz dieser Projekte neue Spannungen und nicht-intendierte emotionale Nebenwirkungen, die sich vor allem daraus ergeben, dass die Motivationsmaßnahmen nicht mit spürbaren Verbesserungen der sozialen Situation einhergehen. Es handelt sich also um eine Doppelstruktur, ein punitives Regieren durch Abwerten und Strafen sowie ein aktivierendes Regieren durch motivierende und enthusiasmierende Projekte. Dabei spielt für die programmatische Ausrichtung dieser Schulprojekte eine spezifische Lesart von Empowerment eine entscheidende Rolle.
Empowerment und Coaching Empowerment im Sinne selbstermächtigender Praktiken hat Wurzeln in der afro-amerikanischen Black-Power- und der feministischen Emanzipationsbewegung der 1970er Jahre, doch wurde das Konzept zuletzt verstärkt von wirtschaftsliberalen Lagern vereinnahmt, indem Kürzungen im Bereich des Sozialstaates von Appellen zu Eigenverantwortung f lankiert wurden. Ulrich Bröckling hat diese neoliberale Schlagseite einiger jüngerer Adaptionen des Empowerments hervorgehoben.20 Dabei betont er die in den Zuschreibungen von Bedürftigkeit wirksam werdenden Machtverhältnisse und Herrschaftseffekte: »Damit die ›Ohnmächtigen‹ aus ihrer Lethargie erwachen beziehungsweise geweckt werden können, müssen sie als Zielgruppe von Empowerment-Programmen konstruiert, sozialwissenschaftlich durchleuchtet, pädagogisch angeleitet und psychologisch unterstützt werden.«21 Durch die programmatische Fokussierung auf Selbstbestimmung und Selbstermächtigung sowie die damit einhergehende pädagogische Förderung von individueller Responsibilisierung und von Selbstgestaltungskräften werde Empowerment »zu einem prominenten Baustein zeitgenössischer Gouvernementalität«.22
20 V gl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 180-214; Herriger: Empowerment in der Sozialen Arbeit. 21 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 193. 22 Ebd., S. 184.
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Die damit verbundenen Fallstricke zeigen sich in den öffentlichen Selbstdarstellungen der von mir untersuchten Projekte in besonders deutlicher Weise. So posieren in der Werbekampagne von Rock Your Life! vier Schüler*innen selbstbewusst mit ihren Zukunftsambitionen: Unter dem Slogan »ICH WILL« möchte der eine Kai Diekmann, die nächste Judith Rakers und die beiden anderen Jerome Boateng beziehungsweise Steffen Henssler werden. Durch diese Orientierung an der Prominenz von Medien (Bild-Zeitung, Tagesschau), Profifußball (Bayern München) und Showbusiness (Fernsehkoch) wird der außergewöhnliche Erfolg in den Mittelpunkt gestellt. Diese Anordnung folgt dem Mythos »vom Tellerwäscher zum Millionär« und übergeht dabei den drängendsten Wunsch vieler Sekundarschüler*innen, überhaupt eine Ausbildung zu finden. Das in dieser Werbekampagne vorgeführte singularistische Erfolgsmodell suggeriert einen Mechanismus des sozialen Aufstiegs, bei dem durch besondere Willenskraft der Heranwachsenden alle Hürden überwunden werden können. Doch hinter dem großgeschriebenen »ICH« verschwinden gleichsam Strukturen sozialer Ungleichheit und treten Forderungen nach kollektiv verbesserten Lebensbedingungen in den Hintergrund.
Abb. 2: Ich-Will-Kampagne von Rock your Life!, Quelle: Facebook. Im Selbstmarketing von Teach First wird ebenfalls auf besondere Erfolge angespielt, allerdings diesmal auf die der eigenen Fellows. Ein junger Mann und eine junge Frau stehen vor einer Schultafel, darunter steht in riesigen Lettern: »Der Nobelpreis kann warten. Deine Schüler nicht« oder »Das Kanzleramt kann warten. Deine Schüler nicht«. In den damit verbundenen Stellenausschreibungen wird der »Einsatz« wie folgt beschrieben: »Zielgerichtetes und engagiertes Fördern von Schülerinnen und Schülern im Unterricht/Konzeption und Durchführung von motivierenden Projekten im außerunterrichtlichen Bereich/Bereicherung
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des Schullebens und Zusammenarbeit mit Kollegium, Schulleitung und Eltern/Als Alumna/Alumnus aus verschiedenen gesellschaftlichen Positionen heraus: Vorantreiben des systemischen Wandels hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit.« Das Aufgabenfeld umfasst demnach primär personenbezogene Förderungen und motivierende Projekte, es handelt sich also um Formen der Unterstützung und des Empowerments. Gefordert werden von den potentiellen Fellows unter anderem »Begeisterung« und »Enthusiasmus«, geboten werden eine »persönlichkeitsprägende Erfahrung«, eine »vergütete Vollzeitstelle« sowie das oben bereits erwähnte »Leadership-Programm« und hervorragende Karriereoptionen: »Teach first – join later: verzögerte Einstiegsoptionen an renommierten internationalen Hochschulen (Columbia University, Harvard University, Princeton University, Stanford University) und bei Partnerunternehmen (u.a. Deutsche Post DHL, McKinsey&Company)«. Dies wird auch sprachlich markiert, statt um Zukunftsaussichten geht es um »Leadership« und um »Visionen« – eine Lieblingsvokabel dieser Programme. Auffallend ist, dass die auf den Postern von Teach First angepriesenen Empowerment-Effekte sich größtenteils auf die Fellows richten, die Schulen und ihre Schüler*innen dagegen nur am Rande erwähnt werden. »Die Themen unserer Werbekampagne sind Selbstwirksamkeit, Erfolg, Karriere«, räumt ein Teach First-Fellow im Interview auch ohne Umschweife ein. Die ausgestellte Unkonventionalität der Programme folgt konventionellen Mustern des unternehmerischen Selbstmarketings. Es handelt sich dabei übrigens nicht um irgendwelche kleinen Werbeposter, sondern um riesig angelegte, professionell betriebene und hoch budgetierte Kampagnen, mit denen im öffentlichen Raum weithin sichtbar geworben wurde. Die »Ich-Will-Kampagne« von Rock your Life! umfasste nach eigener Auskunft 4.500 Plakate »in bester Lage« in Stuttgart, Köln, Hamburg und Berlin. Teach First setzte zuletzt auch auf Guerilla-Marketing und direktere Formen der Adressierung, so wurden im Umfeld von Universitäten zahlreiche auffallende Teach First-Graffitis angebracht sowie Dozierende und Studierende auch direkt angesprochen. Im Duktus der hier dargestellten Werbekampagnen – »das Kanzleramt kann warten«, »der Nobelpreis kann warten« – wird die Kluft zwischen »oben« und »unten« eher betont als problematisiert. Eine solche Form des statusorientierten Empowerments kann daher Ungleichheiten bestätigen oder ihre symbolische Wirkung sogar verstärken. Mit
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einer elitären Ausrichtung wird jene symbolische Matrix gesellschaftlicher Höher- und Minderwertigkeit bedient, der zufolge Harvard an der Spitze der sozialen Hierarchie steht und die »Problemschulen« an deren unterem Ende. Gesellschaftliche Machtverhältnisse werden dabei nicht in Frage gestellt, sondern eine erfolgreichere Positionierung im jeweils zugewiesenen Segment angestrebt: Die als elitär adressierten Fellows sollen noch erfolgreicher Karriere machen und die »Problemschüler*innen« besser mit ihrer Situation zurechtkommen. Empowerment, wie es hier betrieben wird, zielt nicht auf eine andere Machtverteilung, sondern auf ein besseres Zurechtfinden in den gegebenen Verhältnissen. Eine solche Version von Empowerment wirkt entpolitisierend, gerade indem sich das Engagement als »nicht mehr ideologisch« versteht, sich nicht mehr in gesellschaftspolitischen Emanzipationskämpfen verortet. An deren Stelle rückt eine individualistische Wahrnehmung von Strukturen sozialer Ungleichheit. Vermittelt werden soll eine positive Lebenseinstellung sowie der Wille zur Entfaltung der eigenen Potenziale: »Jedes Kind verlässt die Schule mit einem Abschluss und dem festen Glauben an den eigenen Erfolg« lautet ein Leitspruch von Teach First. »Nimm Dein Leben in die Hand« ist das Motto von Rock your Life! Diesem Ansatz liegt implizit die Annahme zugrunde, dass die Probleme der Schüler*innen in mangelnder Selbststeuerung und fehlenden Zukunftsambitionen liegen. Gleichzeitig orientiert sich die Definition von Erfolg stark am Bildungs- und Berufsstatus, so richtet sich die von Teach First angebotene Unterstützung primär auf Erfolge im Schul- und Berufsbildungssystem, was auch Hilfe bei den Vorbereitungen für die Abschlussprüfungen beinhaltet. Bei Rock your Life! zielt der Empowerment-Ansatz darauf, die beruf liche Zukunft aus eigenen Kräften zu gestalten und die persönlichen Stärken zu entdecken. »Es geht uns einfach darum, Menschen zu ermutigen, dass sie etwas Einzigartiges in sich haben und dies herauszubringen und damit etwas zu machen«, fasst Kirsten das Grundkonzept im Interview in einem Satz zusammen. Diesem Ansatz des sozialen Engagements liegt ein sehr vereinfachtes Verständnis von sozialen Problemen im Bildungsbereich zugrunde. Teach First wirbt beispielsweise mit dem Slogan »Werde Teil der Lösung« – gelöst würde dabei nicht weniger als das Problem der »Bildungsungerechtigkeit«. Meines Erachtens sollte in die entgegengesetzte Richtung argumentiert werden, dass die Ausrichtung dieser
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Projekte selbst Teil des Problems ist. Dies bedeutet natürlich nicht, den Fellows und Mentor*innen ihr Engagement abzusprechen und es bedeutet auch nicht zu glauben, soziale Ungleichheiten ließen sich durch eine Rückkehr an den Universitätsschreibtisch beheben. Es bedeutet vielmehr darauf hinzuweisen, dass wir selbst bei der Verfolgung guter Absichten in Machtverhältnisse und Widersprüche verstrickt sind. So mobilisieren die hier versammelten Empowerment-Programme eine optimistische Rhetorik, in den Interviews etwa wird gerne von einem »Denken in Chancen« und den »Lösungskompetenzen« der Schüler*innenschaft geschwärmt. Gleichzeitig jedoch unterstellt das ihnen zugrunde liegende Empowerment-Modell implizit einen defizitären Status aufseiten der Programmempfänger*innen und definiert Erfolg zudem relativ eng in Bezug auf Bildungsabschlüsse und beruf liche Karrieren. Die Gründe für fehlenden Erfolg und fehlende Selbstermächtigung werden durch diese individualistische Ausrichtung primär bei den Schulen und Schüler*innen selbst und nicht in den gesellschaftlichen Strukturen gesehen. Statt die gegenwärtigen Zuschreibungsweisen von Erfolg und Leistung in Frage zu stellen, sollen die Jugendlichen sich eigenverantwortlich an die gesellschaftlich dominierenden Bedingungen von Erfolg anpassen. Ein statusorientiertes und an der Aufmerksamkeitsökonomie ausgerichtetes Empowerment honoriert derweil nicht das Normale, sondern prämiert das Außeralltägliche: Die Fellows werden mit Nobelpreisen und dem Kanzleramt in Verbindung gebracht, die Schüler*innen mit den Stars aus Sport, Medien und Unterhaltung. Man soll sein Leben »rocken«, statt einfach nur ein menschenwürdiges Leben zu führen. Auch beim School Turnaround Programm wurde nicht etwa auf eine dauerhafte Verbesserung der Grundausstattung der Schulen gesetzt, stattdessen sollten als besonders miserabel geltende Schulen möglichst schnell zu erfolgreichen Schulen »umgedreht« werden. Bei diesem auf zwei Jahre angelegten Schulentwicklungsprojekt handelte sich um eine »Public-Private-Partnership« der Berliner Senatsverwaltung für Bildung mit der wirtschaftsnahen Robert-Bosch-Stiftung. Dabei mussten die zehn ausgewählten Schulen zunächst als »failing schools« ausgemacht werden. Von dem insgesamt eine Million Euro umfassenden Budget f lossen lediglich 150.000 Euro direkt an die Schulen, also nur 7.500 Euro jährlich pro Schule.23 Erstaunlich wenig Geld für die enor23 Vgl. Baumgardt: Eine Märchenstunde besonderer Art.
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men schulpolitischen Verheißungen und die große mediale Aufmerksamkeit, die das Programm auf sich zog. Alle hier behandelten Projekte haben personelle Verf lechtungen und inhaltliche Überschneidungen zum Bereich des professionellen Coachings und viele der Beteiligten waren früher oder später beruf lich in Unternehmensberatungen tätig. Durch die Übertragung von ursprünglich auf Unternehmen ausgerichteten Optimierungsverfahren auf staatliche Schulen werden diese selbst verstärkt auf Effizienzsteuerung und Markterfolg ausgerichtet. Daneben werden die Programme beständig evaluiert, worauf ich später noch genauer eingehen werde, und die Fellows auch selbst beraten. Vor allem das Mentoringprogramm Rock your Life! und das Schulentwicklungsprojekt School Turnaround sind Coaching-Projekte im engeren Sinne, wobei ersteres bei den Schüler*innen und letzteres bei den Schulleitungen ansetzt. Bei Rock your Life! bekommen die Schüler*innen jeweils eine Art Vorbild oder Mentor*in, wobei bei der Auswahl auf ein gutes »Matching« geachtet wird. Diese Tandembeziehung unterscheidet sich dem Prinzip nach wenig von herkömmlichen Tandem- und Lotsenprogrammen, verkauft sich jedoch deutlich selbstbewusster als in diesem Bereich bisher üblich.24 So bezeichnet man sich vonseiten des Programms selbst als »Rocker« und postet im Internet zahlreiche Motivationssprüche: »365 Tage. 365 neue Chancen. 365 neue Möglichkeiten. 365 neue Taten. 365 neue Wünsche. Lass es Rocken!« Auch das Projekt School Turnaround basiert letztlich auf einer Coaching-Beziehung. In der Programmbeschreibung heißt es: »Es kommt eine Gruppe von multidisziplinären Schulcoaches zum Einsatz, die als Spezialisten für Veränderungsprozesse die Schulen kontinuierlich begleiten.« Das Projekt wurde zudem von einer mit der Begutachtung beauftragten Schweizer Fachhochschule begleitet und dabei »fortlaufend auf seine Wirkung überprüft«. In einer Projektbroschüre mit dem Titel School Turnaround – Berliner Schulen starten durch heißt es: »Das Projekt verfolgt das Ziel, zehn Schulen im sozialen Brennpunkt aus fünf Berliner Bezirken, die aus unterschiedlichen Gründen ihrem Bildungsauftrag nicht mehr gerecht werden können, wieder zu funktionierenden Schulen zu entwickeln.«
24 Vgl. Wiethoff: Übergangscoaching mit Jugendlichen.
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Dieses Ziel sollte wiederum von zwei Seiten angegangen werden, vonseiten der einzelnen Schulen und vonseiten des Berliner Schulsystems: »Schulebene: Für jede der zehn Projektschulen werden nach einer eingehenden Analyse der Ausgangssituation individuelle Unterstützungsmaßnahmen entwickelt. […] Im Mittepunkt steht ein CoachingNetzwerk, das für die Durchführung von School Turnaround an den Schulen ins Leben gerufen wird […] Die handelnden Akteure im Projekt werden die notwendigen Entwicklungsschritte festlegen, passgenaue Unterstützungsmaßnahmen entwickeln und diese in den Projektschulen durchführen. […] Systemebene: Erfahrungen aus New York City, wo School Turnaround bereits seit einigen Jahren erfolgreich und systematisch durchgeführt wird, haben gezeigt, dass die richtigen Unterstützungsstrukturen im Schulsystem eine entscheidende Rolle für einen School Turnaround spielen. Daneben wurden Schulautonomie, Leistungsverantwortung, Führungskompetenzen und Humankapital als Erfolgsfaktoren identifiziert.« Mit dem Verweis auf die US-amerikanische Herkunft des Projekts wird Fortschrittlichkeit und internationale Weitläufigkeit suggeriert, welche die Beteiligten auch mit ihren Lebensläufen, ihrem Auftreten und ihrer Sprache unterstreichen. Pierre Bourdieu hat darauf verwiesen, dass diese Form der Propagierung von Globalismus meist dazu dient, sehr spezifische, am anglo-amerikanischen Modell orientierte neoliberale Reformvorhaben als progressiv und vorbildhaft darzustellen.25 Die hinter diesem Projekt stehenden Ideologien von Schulautonomie und Schulwettbewerb, die Ausrichtung an Humankapital und Eigenverantwortung werden quasi nebenbei mit eingekauft, ohne diese Ansätze sowie die weitreichenden Folgen ihrer Implementierung hierzulande kritisch zu hinterfragen.26 Gefordert werden sowohl eine größere Eigenverantwortung der Schulen als auch mehr Steuerungsmöglichkeiten vonseiten der Schulleitung; Schulen sollen demnach stärker wie Unternehmen funktionieren und untereinander in einem Leistungswettbewerb stehen. Das Projekt zielt auf ein verändertes Grundverständnis von Schule und Bildung, sein Einsatz ist somit auch ideologischer Art. »Verände25 Vgl. Bourdieu: Gegenfeuer, S. 50-63. 26 Vgl. Radtke/Weiß (Hg.): Schulautonomie, Wohlfahrtsstaat und Chancengleichheit.
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rung muss von innen kommen« betonte Johanna, die Mitgründerin von Teach First und spätere Leiterin des Berliner School Turnaround, im Gespräch, statt »ideologischen Forderungen nach Mehr und Mehr« gelte es an den Einstellungen der Verantwortlichen zu arbeiten. In expliziter Ablehnung von als altmodisch verstandenen »ideologischen Grabenkämpfen« früherer Generationen von Sozialarbeiter*innen wurde von allen Interviewten immer wieder eine neue, als »zeitgemäß« verstandene Form des Sozialengagements vertreten, die an die Selbstverantwortung von Schüler*innen und Pädagog*innen appelliere, statt andauernd Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit zu kritisieren. Dem gilt es nochmals entgegenzuhalten, dass diese neuen Projekte, die zunehmend ältere Formen der Sozialen Arbeit verdrängen, selbst in hohem Maße ideologisch sind, dass sie der Marktideologie des Unternehmertums und den Grundsätzen des Neoliberalismus verschrieben sind. School Turnaround lief zunächst von 2013 bis 2015 und wurde dann noch einmal bis 2017 verlängert. Das Projekt startete überstürzt, die Schulen waren nicht in die Vorbereitung eingebunden und die Projektverantwortliche wohnte noch für einige Monate in den USA, um in Harvard ihren Master zu beenden. Hintergrund war, dass die SPD im Berliner Abgeordnetenhaus zeitgleich ein Unterstützungsprogramm für »Brennpunktschulen« lancierte, bei dem teilweise die gleichen Schulen involviert waren. Die Berliner Senatsverwaltung und die Robert-Bosch-Stiftung wollten mit ihrem Turnaround-Programm dieser Initiative unbedingt zuvorkommen und luden deshalb als erste zu einer Pressekonferenz ein. Dass dieser PR-Effekt wichtiger genommen wurde als eine angemessene Vorbereitung des Programms, lässt den Verdacht auf kommen, dass das Wohl der Schulen von vornherein nur von zweitrangiger Bedeutung war. Auch waren die im letzten Kapitel geschilderten Probleme der Berliner Schulreform in der Senatsverwaltung wohl bekannt. Doch anstatt diese anzugehen, wurde, noch während die letzten Hauptschuljahrgänge ausliefen, mit dem School Turnaround bereits das nächste, großspurig auftretende Schulreformprojekt angekündigt. Und da sich die Lage an den Berliner Sekundarschulen in den folgenden Jahren eher noch verschlechterte, konnte bald darauf im Jahr 2020 das Berlin Challenge-Programm medienwirksam gestartet werden. Auch hierfür wurden »struggling schools« in »sozial schwieriger Lage« ausgewählt, die allerdings bereits positive Entwicklungstrends aufweisen mussten. Das Programm orientierte sich an der London
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Challenge: »Die Schulen wurden von Expertinnen und Experten individuell beraten. Darüber hinaus gehörten zum Programm u.a. eine intensive Unterstützung der Schulleitungen (Leitungshandeln), schnelles Feedback, ›Lernen durch Experimentieren‹, Coachingangebote und die Nutzung von Daten, um den Fortschritt der Schulen zu dokumentieren.«27 Nach den ernüchternden Erfahrungen mit Coachingprogrammen dieser Art bewarben sich allerdings zunächst nicht genügend Sekundarschulen. Schließlich erfuhren die Schulleitungen erst in den Sommerferien 2020, also mitten in der Corona-Pandemie, dass sie für die Berlin Challenge vorgesehen waren. Sie hatten anschließend vom 1. September bis zum 11. Dezember 2020 Zeit, die entsprechenden Gelder auszugeben, auch die vorgesehenen Coaches kamen wieder einmal nicht rechtzeitig an den Schulen an.28 Dieses Chaos hat System, auch wenn man von der Pandemie absieht. Aus der doppelten Ausrichtung an maximaler medialer Aufmerksamkeit und schneller politischer Problemlösung ergibt sich notwendigerweise ein Problem der Zeitknappheit. Das damit verbundene überstürzte Vorgehen ist also kein Zufall, sondern symptomatisch für den marktförmigen Einsatz von Coaching-Projekten dieser Art. Auch Unternehmensberatungen verkaufen Effizienzsteigerung mittels zeitlicher Überwältigungsstrategien, wodurch sie sich gleichsam der Infragestellung ihrer Arbeit durch die Betroffenen immer wieder entziehen. Selbst radikale Maßnahmen werden ohne zeitaufwendige Vertiefung in die jeweiligen Problemzusammenhänge verschrieben, die Berater*innen arbeiten dabei selbst unter zeitlichem Hochdruck und sind meist so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen waren.29 Die organisatorischen Schwachstellen bei der praktischen Umsetzung, wie sie beim School Turnaround offensichtlich waren und sich bei der Berlin Challenge erneut abzeichnen – die fehlende Vorbereitung, die Nichteinbeziehung der örtlichen Schulleitungen, die mangelnden Kenntnisse der Situation an den einzelnen Schulen, die fehlende Präsenz der Programmverantwortlichen – waren demnach organisatorisch bedingt, sie sind in das Verkaufsprinzip und die Arbeitsweise des Beratungsgewerbes bereits eingeschrieben. 27 Vgl. Abgeordnetenhaus Berlin: »Berlin Challenge«, Drucksache 18/23 625, 28.5.2020. 28 V gl. Susanne Vieth-Entus: Was gegen miserable Leistungen und hohe Abbrecherquoten helfen soll, In: Tagesspiegel, 6.10.2020. 29 Vgl. Stein: Work, Sleep, Repeat.
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Die hier dargestellten Subjektivierungsweisen und -strategien folgen gegenwartstypischen unternehmerischen Leitlinien, wodurch verdeutlicht wird, dass Subjekte unter sehr spezifischen historischen und kulturellen Bedingungen »gemacht« werden.30 Institutionelle Subjektivierung – die Zuweisung von organisatorischen Rollen, Statuspositionen und Einsatzfeldern – ist immer auch eine af fektive Subjektivierung.31 Ein projektförmig organisiertes, positiv-optimistisch ausgerichtetes Empowerment wird in den geschilderten Programmentwürfen selbst zum unternehmerischen Einsatz, zum hauptsächlichen Inhalt und zum unmittelbaren Ziel der Arbeit. Als pädagogische und sozialreformerische Mittel dienen vor allem Coachingformate, die über Motivationssteigerungen hinaus auf eine grundlegende Transformation des individuellen und institutionellen Selbstverständnisses zielen. Allerdings liegen darin auch die Begrenztheit der Initiativen sowie ein gewisses Risiko, denn die angestrebten transformatorischen Effekte sowie die positiven affektiven Zustände bei Schüler*innen und Programmausführenden waren zunächst vor allem ein Versprechen.
Auswirkungen. Impulse im Schulalltag Die Ankündigungen der ausgewählten Bildungsträger wirken großspurig und die anvisierten Maßnahmen gleichsam unpräzise. Doch wie wird projektförmig organisiertes Empowerment und Coaching in der schulischen Praxis umgesetzt? Eine auf ethnografischer Forschung in Schulen basierende Betrachtung kann über die kritische Analyse von Programmatiken und Einsatzstrategien hinausgehen, denn Subjektivierungsweisen sind keine Automatismen, die sich schematisch von ideologischen Programmvorgaben ableiten lassen.32 Im Prozess der Implementierung der Programme in der schulischen Praxis kommt es zu Rollen- und Wertkonf likten, auch zu Irritationen und (Selbst-) Kritik. Die Fellows starteten häufig mit großem Enthusiasmus, sie durchliefen im Verlauf der Zeit jedoch unterschiedlich verlaufende Phasen der kritischen Auseinandersetzung mit sich und ihren Auftraggeber*innen. Die Programme zogen zwar eine bestimmte Klientel 30 Vgl. Foucault: Subjekt und Macht; Reckwitz: Subjekt. 31 Vgl. Mühlhoff: Immersive Macht. 32 Vgl. Nielsen: Peopling Policy.
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Die hier dargestellten Subjektivierungsweisen und -strategien folgen gegenwartstypischen unternehmerischen Leitlinien, wodurch verdeutlicht wird, dass Subjekte unter sehr spezifischen historischen und kulturellen Bedingungen »gemacht« werden.30 Institutionelle Subjektivierung – die Zuweisung von organisatorischen Rollen, Statuspositionen und Einsatzfeldern – ist immer auch eine af fektive Subjektivierung.31 Ein projektförmig organisiertes, positiv-optimistisch ausgerichtetes Empowerment wird in den geschilderten Programmentwürfen selbst zum unternehmerischen Einsatz, zum hauptsächlichen Inhalt und zum unmittelbaren Ziel der Arbeit. Als pädagogische und sozialreformerische Mittel dienen vor allem Coachingformate, die über Motivationssteigerungen hinaus auf eine grundlegende Transformation des individuellen und institutionellen Selbstverständnisses zielen. Allerdings liegen darin auch die Begrenztheit der Initiativen sowie ein gewisses Risiko, denn die angestrebten transformatorischen Effekte sowie die positiven affektiven Zustände bei Schüler*innen und Programmausführenden waren zunächst vor allem ein Versprechen.
Auswirkungen. Impulse im Schulalltag Die Ankündigungen der ausgewählten Bildungsträger wirken großspurig und die anvisierten Maßnahmen gleichsam unpräzise. Doch wie wird projektförmig organisiertes Empowerment und Coaching in der schulischen Praxis umgesetzt? Eine auf ethnografischer Forschung in Schulen basierende Betrachtung kann über die kritische Analyse von Programmatiken und Einsatzstrategien hinausgehen, denn Subjektivierungsweisen sind keine Automatismen, die sich schematisch von ideologischen Programmvorgaben ableiten lassen.32 Im Prozess der Implementierung der Programme in der schulischen Praxis kommt es zu Rollen- und Wertkonf likten, auch zu Irritationen und (Selbst-) Kritik. Die Fellows starteten häufig mit großem Enthusiasmus, sie durchliefen im Verlauf der Zeit jedoch unterschiedlich verlaufende Phasen der kritischen Auseinandersetzung mit sich und ihren Auftraggeber*innen. Die Programme zogen zwar eine bestimmte Klientel 30 Vgl. Foucault: Subjekt und Macht; Reckwitz: Subjekt. 31 Vgl. Mühlhoff: Immersive Macht. 32 Vgl. Nielsen: Peopling Policy.
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an, doch dieses folgte nicht stromlinienförmig den ideologischen Anrufungen. Die Fellows und Mentor*innen widersprachen, überdachten Positionen, formulierten Programmatiken für sich um oder hoben je nach Situation unterschiedliche Aspekte ihrer Arbeit hervor. Mit diesem Manövrieren reagierten sie auch auf die vehemente Kritik, welche die neoliberale Ausrichtung der Projekte mitunter hervorrief. Doch diese Blickverschiebung auf die Impulse im Schulalltag hat ihre Tücken, denn die Auswirkungen in der Praxis sind hoch umstritten und die Projektteilnehmer*innen uneins in der Bewertung der Programme. Dies hat auch damit zu tun, dass Teach First, Rock your Life! und School Turnaround selbst eigene Wirksamkeitsstudien durchführen oder in Auftrag geben, deren Ergebnisse in der Regel äußerst positiv ausfallen. Zudem profitiert die öffentliche Darstellung der Programme von der Nähe zum politischen und medialen Establishment. In der Berichterstattung hat sich dadurch ein Bewertungsmuster eingespielt, bei dem das selbstbewusste programmatische Auftreten zwar manchmal mit einer gewissen journalistischen Skepsis betrachtet wird, die jedoch zumeist mit dem Argument beiseite gewischt wird, dass sich hier jemand zumindest wirklich engagiere. »Wenn’s hilft. Von der Uni an die Brennpunktschule«, ist ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung überschrieben, der diese Argumentationslinie exemplarisch vorführt.33 Die konkrete Umsetzung dieser Programme sowie deren tatsächlichen Auswirkungen vor Ort werden indes nicht eingefangen. Mit diesen im Blick hebe ich dagegen die problematischen Effekte in der schulischen Praxis sowie den kritischen Aneignungsprozess der Programmausführenden selbst hervor. Um die Wirkungseffekte einzuschätzen, werde ich die Selbstevaluationen der Programme meinen eigenen Beobachtungen gegenüberstellen. Dies soll nicht als Abgleich der »scheinbaren« Wirkungen mit den »wirklichen« Verhältnissen verstanden werden, vielmehr handelt es sich bei beiden Varianten um standpunktbezogene, streitbare Darstellungen der schulischen Verhältnisse. Da meine Einschätzungen jedoch teilweise konträr zur Selbstdarstellung der Programmträger*innen verlaufen, lassen sich die von ihnen propagierten Wirkungsweisen auf diese Weise zumindest in Frage stellen.
33 J an-Martin Wiarda: Wenn’s hilft. Von der Uni an die Brennpunktschule, In: Süddeutsche Zeitung, 21. Januar 2019.
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Das Schulentwicklungsprojekt School Turnaround sah schon bei der Antragstellung eine Kooperation mit einer für die Evaluation beauftragten Schweizer Fachhochschule vor. Die Gutachter*innen wurden also, ähnlich wie bei der im vorigen Kapitel beschriebenen »Qualitätskommission«, von den Programmverantwortlichen selbst vorausgewählt und profitierten indirekt von dieser Einbindung, die ihnen Forschungsaufträge, mediale Aufmerksamkeit und privilegierten Zugang verschaffte. Wissenschaft wird dadurch zu einer Legitimierungsindustrie politisch genehmer Programme. Im »Executive Summary« der auf diese Weise entstandenen Wirksamkeitsstudie werden die »zentralen Ergebnisse« des Programms wie folgt zusammengefasst: »Alle zehn Schulen des Pilotprojekts School Turnaround haben ihre Schulkultur und das Schulmanagement nachhaltig verbessern können. Zu diesem eindeutigen Resultat kommt die jetzt veröffentlichte wissenschaftliche Begleitstudie von Stephan Gerhard Huber und seinem Team der Pädagogischen Hochschule Zug, die die wichtigsten Ergebnisse zusammenfasst und darüber hinaus Handlungsempfehlungen für die Praxis liefert. Demnach registrieren die Schulen zum Teil deutliche Verbesserungen in vielen Bereichen. Dazu zählen laut Studie: • • • •
eine gesteigerte Handlungskoordination, Aufbau und Stärkung des mittleren Managements, optimierte Bedingungen und Strategien für Kooperation, positive Trends im Bereich der Unterrichtskooperation und der multiprofessionellen Zusammenarbeit, • ein besseres Betriebsklima und eine höhere Zufriedenheit des Kollegiums mit der Schule als Ganzes.« 34 Die Galilei-Schule in Berlin-Neukölln, die ich in meinem Buch Schule der Gefühle. Zur emotionalen Erfahrung von Minderwertigkeit in neoliberalen Zeiten beschrieben habe, war einer der zehn für dieses Pilotprogramm ausgewählten »Problemschulen«. In einer Broschüre mit 34 R obert Bosch Stiftung: Wie Schulen in kritischer Lage die Wende schaffen. . Vgl. auch Robert Bosch Stiftung: Pilotprojekt »School Turnaround – Berliner Schulen starten durch« (2013 – 2017). Zentrale Erkenntnisse und Empfehlungen der wissenschaftlichen Begleitstudie. .
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Entwicklungsportraits der beteiligten Schulen heißt es in Bezug auf diese Schule: »Unsere Schule als Organisation sowie unsere Lehrkräfte im Unterricht haben einen Wandel erreicht, von wenig Zutrauen und gefühlter Perspektivlosigkeit hin zu Entwicklung, Engagement und Selbstwirksamkeit«.35 Daneben stehen ein Zitat des Schuldirektors (»Wir haben viel erreicht und sind auf einem guten Weg«), ein Lehrerzitat (»Wir Lehrer arbeiten jetzt konstruktiver zusammen«) und ein Schülerzitat (»Das Klima an der Schule ist besser geworden«). Ich habe die Galilei-Schule im Sommer 2013, als der School Turnaround gerade anlief, verlassen und konnte die Auswirkungen in der Praxis nicht mehr ethnografisch vor Ort verfolgen. Dennoch war ich mit Teilen des schulischen Personals weiterhin in Form von Gesprächen verbunden. Das verkündete positive Ergebnis macht stutzig, wenn man berücksichtigt, dass im Zeitraum des vierjährigen Projektes die ohnehin gravierenden Fehlzeiten der Schüler*innenschaft noch einmal stark anstiegen, von offiziell 16,5 % im Schuljahr 2013/14 auf 24,2 % zum Ende des Schuljahres 2016/17, wodurch die Schule zum Ende des Pilotprojekts die Spitze des Berliner »Schwänzer-Rankings« erklomm.36 Zudem verließen alle Fachbereichsleiter*innen sowie andere, teilweise langgediente Pädagog*innen in den Jahren des School Turnaround auf eigene Initiative die Schule und begründeten dies teilweise explizit mit ihrer Unzufriedenheit über die neue Schulleitung sowie dem verschlechterten Betriebsklima. Was das Programm darüber hinaus inhaltlich an der Schule bewirkte, war die Installation einer neuen Steuerungsgruppe, die alle zwei Wochen tagen sollte, doch deren Sitzungen in der Praxis meist nach zwei Minuten beendet wurden, da die Beteiligten entschieden, dass es nichts zu besprechen gibt. Mit einem solchen Vorgehen wurden hinter Benchmarks Häkchen gesetzt und Zielvereinbarungen als erfüllt erklärt, während gleichzeitig die Schule heruntergewirtschaftet wurde.37 Dieses zynische »window dressing« zielte in erster Linie darauf, die Schule nach außen gut aussehen zu las-
35 V gl. Robert Bosch Stiftung: School Turnaround – Berliner Schulen starten durch: Entwicklungsportraits, S. 16f. . gl. Berliner Schulverzeichnis, . 37 Vgl. Shore/Wright: Audit culture revisited.
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sen.38 Derartige Erfolgsfabrikationen antworten auf neue Formen des technokratischen Bildungsmotoring und werden durch diese gleichsam systematisch hervorgebracht. Diese Formen des »Impression Management« haben ihrerseits einen Einf luss auf das schulische Selbstverständnis, eine erfolgreiche Schule ist demnach vor allem eine mit aufpolierten Bilanzen.39 Auch bei einem Gespräch mit dem ehemaligen Direktor der Schule zeichnet sich eine negative Einschätzung der Reforminitiative ab. Die damalige Schulleitung war nicht in die Projektvorbereitung eingebunden, die Diskrepanz zwischen großen Verheißungen bei gleichzeitig ausbleibender Zusammenarbeit mit den Schulen hatte der Schulleiter anfangs noch ironisch kommentiert, dass »die Rettung halt noch ein bisschen warten muss«. Trotz Bedenken hatte der Direktor in das Projekt eingewilligt, da seiner Schule Fördergelder in einer Höhe von 150.000 Euro in Aussicht gestellt wurden. Letztlich standen ihm jedoch nur 7.500 Euro pro Jahr zur freien Verfügung, der Rest wurde für die Coaches und deren Infrastruktur, für Fortbildungen und Seminare vergeben. Was schließlich an der Schule ankam, war in erster Linie ein Coach für den Direktor selbst, eine Art hausinterne Unternehmensberatung. Für diese galt der Schuldirektor bald selbst als das eigentliche Problem. Zwar gab es gegenüber dem langgedienten Pädagogen weder inhaltliche noch charakterliche Beanstandungen, auch im Kollegium war er beliebt und anerkannt. Doch das neuen Coaching-Modell setzte auf Wandel und misstraute Kontinuität, das Problem bestand demnach bereits darin, dass er schon zu lange im Amt war. Johanna, die damalige Projektleiterin, meinte nach einer Stippvisite, dass dieser zwar bemüht sei, sie aber dennoch ein problematisches Schulmanagement ausgemacht habe und es nun Zeit für einen Neustart sei. In diesem Fall ließ sich das ausgemachte Führungsproblem durch die ohnehin bald anstehende Verrentung leicht lösen. School Turnaround war dann maßgeblich bei der Auswahl und Implementierung des von einem externen Schulberater f lankierten neuen Direktors beteiligt, dem von Teilen des Lehrer*innenkollegiums bald fehlende Wertschätzung, Inkompetenz und Unpünktlichkeit vorgeworfen wurde.
38 V gl. Bellmann/Weiß: Risiken und Nebenwirkungen Neuer Steuerung im Schulsystem. 39 Vgl. Ball: Performativities and fabrications in the education economy.
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Der School Turnaround setzte mit einem Top-Down-Ansatz direkt bei der Führungsebene an und propagierte dort ein Prinzip der schnellen Veränderung. Es ist also im Nachhinein nicht verwunderlich, dass die Schulleitungen über die eigentliche Zielsetzung des Programms vorab nicht näher informiert wurden. Die bereits erwähnte Johanna, die zum Projektstart noch in Harvard studierte, leitete das Coaching für zehn als besonders problematisch geltende Berliner Schulen an und installierte dort in Zusammenarbeit mit den Schulbehörden teilweise neue Schulleitungen und Schulberatungen, meist ehemalige Pädagog*innen, die sich durch den Auf bau eines Coaching-Profils beruf lich neu ausrichten wollten. Johanna verließ das vierjährige Pilotprojekt bereits nach zwei Jahren wieder und wurde von Hannelore Trageser aus der Senatsverwaltung ersetzt. Zur Erklärung dieses vorzeitigen Abschieds gibt es divergierende informelle Hintergrundversionen: Aus der Berliner Schulverwaltung hieß es hinter vorgehaltener Hand, dass die »Reißleine« gezogen werden musste, um noch mehr Schaden von den Schulen abzuwenden. Johanna selbst hob im Gespräch mit mir als Grund die Unzufriedenheit mit der Langsamkeit der Berliner Schulverwaltung hervor, zudem beklagte sie mangelnde Entscheidungsbefugnisse und fehlende Gestaltungsspielräume, vor allem bei der Auswechslung von Schulleitungen. An dieser Unzufriedenheit sind zwei Dinge auffallend: Zum einen das enorme Selbstbewusstsein der jungen Harvard-Absolventin sowie der damit verbundene Anspruch, eigenhändig Schuldirektorien austauschen zu können, die zumeist mehrere Jahrzehnte älter und dementsprechend deutlich erfahrener waren. Zum anderen scheint sie einen anderen Zeithorizont als die Schulbehörden gehabt zu haben, der anvisierte Schulwandel erwies sich dadurch als zu mühselig. Mittlerweile arbeitet sie in einer kommerziellen Unternehmensberatung, die unter dem Slogan »growing & provoking leadership« um lukrative Einsätze in Führungsbereichen wirbt. Auch zu Teach First liegen eine Reihe von Evaluationen vor, eine besonders einf lussreiche hat Rainer Dollase von der Universität Bielefeld zur Wirkung des Programms in Nordrhein-Westfalen vorgelegt.40 Dollase engagiert sich seit längerem aktiv für die CDU in der nordrhein-westfälischen Schulpolitik und hat sich in diesem Rahmen vehement gegen Inklusionspolitik und für ein gegliedertes Schulsystem eingesetzt. In 40 Dollase: Evaluation des Einsatzes der Teach First Deutschland Fellows, 2011.
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dem Gutachten werden zahlreiche Vorzüge von Teach First aufgezählt: »Schulleitungen geben den Fellows zu 82 % die beste Note einer dienstlichen Beurteilung. […] Fellows fügen sich bestens in Schule ein – zu allen Personengruppen existiert ein sehr gutes Verhältnis. […] Fellows sind eine hoch ausgelesene Gruppe von polyglotten Hochschulabsolventen mit ausgedehnten Zusatzerfahrungen, noch jung und ohne Familie.« Quasi nebenbei f ließen politisch gefärbte Ansichten zu Lehrer*innenausbildung und Erziehungsstil in die Beurteilung ein: »Fellows arbeiten nach dem ›autoritativen‹ Erziehungsstil – der nach Metaanalysen als der erfolgreichste gilt. […] Der internationale Trend zu multiprofessionellen Teams erfährt durch den Einsatz von Fellows eine deutliche Unterstützung.«41 In seiner Gesamtbewertung kommt Dollase zu einem überschwänglichen Urteil: »Fellows sind eine große Hilfe für Schulen. Die Ergebnisse sind in ihrer Positivität für das Projekt Teach First Deutschland beeindruckend. Fellows sind allseitig akzeptiert und werden hinsichtlich aller relevanten Kriterien von den Schulleitungen, dem Kollegium und den SchülerInnen positiv bewertet. Ihr Einsatz ist auch für den Lernfortschritt der Schüler in den Einschätzungen aller positiv.« 42 Auch diese positive Bewertung wurde von den Projektträger*innen selbst in die Wege geleitet, die Evaluation wurde gemeinsam vom »Ministeriums für Schule und Weiterbildung« und dem »Teach First Deutschland Beirat« in Auftrag gegeben. Diese Evaluation von Rainer Dollase wurde auch vom Berliner Abgeordnetenhaus immer wieder zur Begründung der positiven Bewertung des Teach-First-Einsatzes an Berliner Schulen herangezogen, die maßgeblich für die Weiterbewilligung des Programms war.43 Zur gezielten Herstellung eines positiven Bilds in der Öffentlichkeit passt auch, dass kritische Forschungen zu den im internationalen Dachverband Teach for All zusammengeschlossenen Ablegern immer wieder massiv behindert werden, wobei die Gegenmittel von systematisch verweigerten Organisationszugängen bis zur 41 Ebd., S. 4. 42 Ebd., S. 5. 43 V gl. Abgeordnetenhaus Berlin: »Teach First« in Berlin – Zwischenbilanz 2011, Drucksache 17/10 038, 28.11.2011; Abgeordnetenhaus Berlin: »Teach First« in Berlin – Zwischenbilanz 2012, Drucksache 17/11 308, 28.11.2012.
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gezielten öffentlichen Diskreditierung entsprechender Forschungen reichen.44 Aus meinen eigenen Beobachtungen des Teach First-Einsatzes an der Galilei-Schule in Berlin-Neukölln ergab sich eine skeptische Einschätzung der Wirkungsweise. Von den (hier anonymisierten) Fellows, die ich damals kennenlernte, arbeitete Katharina als Biologielehrerin – was laut Projektbeschreibung eigentlich nicht vorgesehen war, an der Schule aber dringend gebraucht wurde – während Jan die »Assembly« leitete und dem Direktor assistierte. Das Veranstaltungsformat der »Assembly« wurde von seinem Vorgänger Bernhard an der Schule eingeführt, denn eine der Hauptaufgaben von Teach First besteht, den eingangs erwähnten Werbepostern zufolge, in der »Konzeption und Durchführung von motivierenden Projekten im außerunterrichtlichen Bereich«. Hier zeigt sich auch der Einf luss des bereits erwähnten Harvard-Ökonomen Robert Fryer, der »Assemblies« als wichtiges Instrument zur Akzeptanzsteigerung neuer Schulprogramme sowie der damit anvisierten Implementierung einer positiven Erfolgskultur empfiehlt: »Schools can hold assemblies or pep rallies to introduce and generate excitement about the program«.45 Eine »Assembly« ist eine Vollversammlung der Jahrgänge in der Schulaula, wobei prinzipiell zwei Formen von »Assembly« möglich sind, eine Art Schulparlament oder eine Spaßveranstaltung mit Quiz, Musik, Witzen und Ehrungen, wobei sich an der Galilei-Schule für die Spaßvariante entschieden wurde, zu der mitunter auch der Direktor oder einzelne Lehrer*innen als Gäste eingeladen wurden. »Hier ist so eine negative Stimmung. Ziel ist es, die Schulbindung zu stärken und das Schulklima zu verbessern, indem wir zeigen, dass wir auch was Tolles und Cooles haben«, rechtfertigte Jan dieses ungewöhnliche Format. Die Quiz- und Preisfragen drehten sich meist um die Schulgeschichte. Der Positivismus dieser Veranstaltung beruhte auf einer ausgeprägten Belobigungskultur. Es gab zahlreiche Ehrungen, etwa für den »Schüler des Monats« und den »Lehrer des Monats«. Bei der feierlichen letzten »Assembly« des Schuljahres ließ sich der Teach First-Moderator mit der Ehrenmedaille der Schule auszeichnen, nachdem er vorher auf etwas übertriebene Weise seine Verdienste in großen Buchstaben an die Wand projiziert hatten: »100 Assemblys, die ich moderiert habe«, »300 Schüler, die ich mit Namen kenne« und »1000 schöne Momente«. Die 44 Vgl. Thomas/Rauschenberger/Crawford-Garret (Hg.): Examining Teach for All, S. 6. 45 Vgl. Allen/Fryer: The Power and Pitfalls of Education Incentives, S. 27.
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Schüler*innen wurden dagegen nur mit ein paar kurzen Worten aus ihrer Schulzeit entlassen. Insgesamt waren nur etwa 15 Schüler*innen der beiden Abschlussklassen erschienen, um sich auf der Bühne eine Rose geben zu lassen. So drängte sich der Verdacht auf, dass es bei dieser Veranstaltung letztlich vor allem um Teach First selbst ging. Die Sozialarbeiter*innen eines zum Schuljahresende nicht verlängerten Mediationsprogramms hatten es dagegen nicht einmal auf die Bühne geschafft. Die gegenwärtigen Transformationen im Bereich der Sozialen Arbeit verlaufen nicht ohne Konf likte und sie bringen neue Gewinner*innen und Verlierer*innen mit sich. In dieser Wettkampfsituation wird mit harten Bandagen gespielt, wobei einer positiven Selbstdarstellung und guten persönlichen Kontakten zu den Führungsetagen eine entscheidende Bedeutung zukommen kann. Denn die erfolgreiche Positionierung eines Projekts bedarf vor allem auch der Unterstützung durch die Schulleitung. Die Teach First-Fellows Bernhard und Jan waren zugleich die rechte Hand und die Günstlinge des Direktors, sie wurden nicht nur beide mit der Ehrenmedaille der Schule ausgezeichnet, sondern übernahmen teilweise auch in dessen Namen die Zeitplanung der außerschulischen Angebote, was es ihnen gleichsam ermöglichte, Teach First favorable Zeitfenster zur Verfügung zu stellen. Andere Anbieter, wie das an der Schule lange Zeit aktive Mediationsprojekt Dialog macht Schule, fühlten sich dagegen weniger wertgeschätzt und klagten über unvorteilhafte zeitliche Vorgaben. Bei der erwähnten feierlichen letzten »Assembly« des Schuljahres waren sie zwar anwesend, ihr Engagement endete aber nach 13 Jahren ohne ein Dankeswort des Direktors. Dieser hob stattdessen hervor, dass er sich »schon auf den nächsten Teach-First-Jahrgang« freue. Der direkte Draht zu den Schaltstellen der Macht, den ich bereits zu Beginn mit der Nähe der Programme zu den Eliten in Wirtschaft und Politik hervorgehoben habe, funktioniert also auch im Kleinen. Bei Rock your Life! zeigt sich eine ähnliche Konstellation. In einer von einer eigenen Mitarbeiterin durchgeführten Wirksamkeitsstudie wird die Initiative »insgesamt positiv« bewertet: ROCK YOUR LIFE! wirkt: 63,7 % der Schüler wissen durch ihren Coach besser, worin sie gut sind. Sie befassen sich mit ihrer eigenen Zukunft (80.85 %) und sind umfangreicher informiert über die Möglichkeiten nach der Schule (65,19 %). Gleichzeitig wirkt das Programm auch auf
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Seiten der Studierenden: 75,26 % verbessern ihren Umgang mit Jugendlichen und verändern ihre Einstellungen gegenüber Hauptschülern (79,79 %) – ROCK YOUR LIFE! baute Brücken zwischen Schülern und Studierenden. Auf diesem Weg lassen wir Vorurteile zurück und schaffen so ein neues Miteinander.46 In der Wirksamkeitsstudie werden die »Besonderheiten des RYL-Coachings« hervorgehoben, aber auch auf weiteres »Optimierungspotenzial« hingewiesen. Die positiven Ergebnisse werden wiederum auf der eigenen Website mit Jubelgesten und Smiles gefeiert: »TA-DAA RYL! WIRKT«. Das Coaching-Modell von Rock your Life! unterscheidet sich nicht grundlegend von etablierten Mentoringprogrammen, tritt jedoch deutlich unternehmerischer als diese auf. Einer an der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt/Oder angefertigten Master-Arbeit zufolge funktionieren die ethnografisch untersuchten Mentoringbeziehungen bei »Rock your Life!« mal besser und mal schlechter, wobei der Aushandlung der Machtbeziehungen zwischen Student*innen und Schüler*innen eine entscheidende Bedeutung zukommt.47 Die von einigen bei RYL! engagierten Studierenden favorisierte kumpelhafte, die Unterschiede im sozialen Status eher überspielende Herangehensweise sorgte bei den Sekundarschüler*innen dabei tendenziell für Irritationen und Befremdung. Zudem wurde die hierarchische Gliederung des Schulsystems nicht in Frage gestellt, sondern schlicht vorausgesetzt. Im Prozess der Implementierung der Programme traten Widersprüche und Spannungen hervor. Auffallend war vor allem die große Kluft zwischen zum Teil hochtrabenden Verheißungen und selbstorganisierten Lobpreisungen sowie den von mir beobachteten Effekten im Schulalltag, zu denen zweifelhafte Personalentscheidungen, absurd wirkende Motivierungsmethoden und eher gewöhnliche sozialarbeiterische Initiativen gehörten. Spannungen ergaben sich aufgrund des Kontrastes eines projektförmigen Positivismus zum negativen Schulklima zu dem an Berliner Haupt- und Sekundarschulen praktizierten repressiven Disziplinarregime. Dass beide Modi der Herrschaft zusammengehören, es sich also um komplementäre Seiten des gegen46 J ennifer Eurich: Rock your Life! Wirksamkeitsstudie 2012, S. 38, . 47 Schmidt. Empowerment im Coaching.
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wärtigen Herrschaftsregimes handelt, deutete sich an der auffallenden Nähe der Fellows zum Schuldirektorium an. So diente die von Teach First organisierte »Assembly« dem Direktor mehrfach dazu, die Schüler*innenschaft zu mehr Disziplin zu ermahnen. Im Wechselspiel von »Zuckerbrot und Peitsche« wurden dann einerseits Belobigungen und andererseits disziplinarische Drohungen ausgesprochen. Das der Vorbereitungskurs für die Teach First-Fellows in einer Polizeiakademie stattfand, war demnach vielleicht doch kein Zufall.
Aneignungen und (Selbst-)Kritik Die ehemaligen und aktuellen Projektverantwortlichen sowie die lokal eingesetzten Fellows und Mentor*innen identifizierten sich in der Regel stark mit ihrem projektförmigen Engagement. Sie waren allerdings keine eindimensionalen Erfüllungsgehilfen, sondern setzten sich kritisch mit ihrer Arbeit und den Programmen auseinander. Dieser Prozess war stark von sozialisierten Selbstbildern geprägt und ging mit kontroversen gruppeninternen Diskussionen, mit persönlichen Ref lektionen und biografischen Entwicklungen einher. Gleichzeitig mussten sich die Projektbeteiligten mit zum Teil vehementer Kritik auseinandersetzen, was sowohl zu Verteidigungshaltungen als auch zu Modifikationen des Auftretens führte. Dabei zeigten sich durchaus Unterschiede in den einzelnen Jahrgängen: Der Pionier-Jahrgang von Teach First galt intern im Nachhinein als die »Preisgeneration«, als eine, die ihre Initiativen an den Schulen von Beginn an gezielt auf mögliche Auszeichnungen hin kalkulierte und sich systematisch bei Schul- und Bildungswettbewerben bewarb. Mehrere von diesen ersten Fellows übernahmen später selbst Leitungsfunktionen bei Teach First oder initiierten ähnlich ausgerichtete Projekte. An der von mir untersuchten Schule wurde diese Generation von Bernhard vertreten. Sein zweijähriger Einsatz an der Galilei-Schule erfolgte zwischen einem Bachelor-Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Privatuniversität Witten-Herdecke und einem Master an der Berliner Humboldt-Universität, dem schließlich ein Einstieg »in die Wirtschaft« folgte. Bernhard identifizierte sich mit dem »größeren Ziel der Bildungsgerechtigkeit«, er lobte, dass sich auch die anderen Fellows »alle der Sache verschrieben« hatten und mit »voller Motivation« und »viel Energie« tätig waren. Seinen Einsatz an der Galilei-Schule
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wärtigen Herrschaftsregimes handelt, deutete sich an der auffallenden Nähe der Fellows zum Schuldirektorium an. So diente die von Teach First organisierte »Assembly« dem Direktor mehrfach dazu, die Schüler*innenschaft zu mehr Disziplin zu ermahnen. Im Wechselspiel von »Zuckerbrot und Peitsche« wurden dann einerseits Belobigungen und andererseits disziplinarische Drohungen ausgesprochen. Das der Vorbereitungskurs für die Teach First-Fellows in einer Polizeiakademie stattfand, war demnach vielleicht doch kein Zufall.
Aneignungen und (Selbst-)Kritik Die ehemaligen und aktuellen Projektverantwortlichen sowie die lokal eingesetzten Fellows und Mentor*innen identifizierten sich in der Regel stark mit ihrem projektförmigen Engagement. Sie waren allerdings keine eindimensionalen Erfüllungsgehilfen, sondern setzten sich kritisch mit ihrer Arbeit und den Programmen auseinander. Dieser Prozess war stark von sozialisierten Selbstbildern geprägt und ging mit kontroversen gruppeninternen Diskussionen, mit persönlichen Ref lektionen und biografischen Entwicklungen einher. Gleichzeitig mussten sich die Projektbeteiligten mit zum Teil vehementer Kritik auseinandersetzen, was sowohl zu Verteidigungshaltungen als auch zu Modifikationen des Auftretens führte. Dabei zeigten sich durchaus Unterschiede in den einzelnen Jahrgängen: Der Pionier-Jahrgang von Teach First galt intern im Nachhinein als die »Preisgeneration«, als eine, die ihre Initiativen an den Schulen von Beginn an gezielt auf mögliche Auszeichnungen hin kalkulierte und sich systematisch bei Schul- und Bildungswettbewerben bewarb. Mehrere von diesen ersten Fellows übernahmen später selbst Leitungsfunktionen bei Teach First oder initiierten ähnlich ausgerichtete Projekte. An der von mir untersuchten Schule wurde diese Generation von Bernhard vertreten. Sein zweijähriger Einsatz an der Galilei-Schule erfolgte zwischen einem Bachelor-Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Privatuniversität Witten-Herdecke und einem Master an der Berliner Humboldt-Universität, dem schließlich ein Einstieg »in die Wirtschaft« folgte. Bernhard identifizierte sich mit dem »größeren Ziel der Bildungsgerechtigkeit«, er lobte, dass sich auch die anderen Fellows »alle der Sache verschrieben« hatten und mit »voller Motivation« und »viel Energie« tätig waren. Seinen Einsatz an der Galilei-Schule
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stellte er unter die Überschrift »positive Erfahrungen an der Schule ermöglichen«, dazu bot er neben der »Assembly« auch noch nachmittags eine Sport-AG an und gründete eine Schulband – »um Talente und Stärken zu fördern«. Als ich ihn am Ende des Interviews um ein Fazit bat, antwortete er in druckreifen Sätzen: »Ich persönlich verbinde mit meiner Zeit an der Schule sehr viele schöne, positive, intensive, angenehme Momente, vor allem mit den Schülern und Schülerinnen, mit den Lehrern, dem Schulleiter, aber auch mit den Fellows von Teach First Deutschland. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance hatte, die zwei Jahre an der Schule zu arbeiten.« An seinem Sprachduktus zeigt sich, dass der projektförmige Positivismus bei vielen Fellows bereits weitgehend internalisiert ist. Dass er in seinen Antworten mitunter wie ein Pressesprecher von Teach First wirkte, hatte wohl auch damit zu tun, dass er bereits mehrfach Interviews zu seinem Engagement gegeben hatte. Dies ist durchaus bemerkenswert, denn im Bereich Schule waren auch Sozialarbeiter*innen aktiv, für deren langjähriges Engagement sich die Öffentlichkeit indessen nicht interessierte. Die nachfolgenden Fellow-Kohorten waren zunehmend kritischer. Jan, ein Historiker mit abgebrochener Promotion, sah sowohl organisatorische Schwächen als auch Probleme in der inhaltlichen Ausrichtung, beispielsweise in der Überbetonung des elitären Selbstverständnisses. Gleichzeitig agierte er mitunter selbst als eloquenter Repräsentant der Organisation, etwa wenn Teach First bei lokalpolitischen Veranstaltungen als Vorzeigeprojekt präsentiert wurde. Er eignete sich dabei den von ihm skeptisch betrachteten Visionsjargon auf eigenmächtige Weise an und übersetzte ihn praktisch als »Zielvorstellung«, das Selbstverständnis als »Elite« wandelte er zur »individuellen Eignung« ab. Im Schulalltag war er vor allem als eine Art inoffizieller Assistent des Direktors tätig und übernahm für diesen auch Teile der Lehrplanung. In dieser einf lussreichen Position wurde er zu einem wichtigen Ansprechpartner für die Anliegen der vom Schulalltag gestressten Lehrer*innen. Dabei verstand er sich als jemand, mit dem diese »auch mal in ruhiger Atmosphäre einen Kaffee trinken können«, wodurch er wiederum »zu einer positiveren Stimmung« beizutragen hoffte. Zudem bot er eine Fußball- und eine Schach-AG an und übernahm, wie bereits erwähnt, von Bernhard die Leitung der »Assembly«. Für die Zukunft strebte Jan eine leitende Position an der »Schnittstelle von Bildung, Wissenschaft und Politik« an. Schon während seines Promotionsstipendiums hatte er eine Bewerbung bei McKinsey erwogen und im Universitätsbetrieb
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repräsentative Funktionen übernommen. In seiner Zeit als Fellow war ihm ein Mentor aus dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zugeteilt, ebenfalls ein Historiker mit abgebrochener Universitätslauf bahn, mit dem er sich hervorragend verstand. Kurz nach seiner Zeit bei Teach First übernahm er eine leitende Position im Berliner Bildungsministerium. Katharina sah sich ebenfalls als Teil eines »kritischen Jahrgangs«, als ausgebildete Biologin strebte sie in den Schuldienst, was angesichts des Berliner Lehrkräftemangels beim Direktor für Entzücken sorgte. So wurde sie im Verlauf ihres Einsatzes zunehmend als Verstärkung im Unterricht eingesetzt. Im Rahmen einer ersten Anstellung in einem Zoo hatte sie zuvor bereits mit Schulklassen gearbeitet und dabei gemerkt, dass ihr »die Kombination von Biologie mit Bildung und Pädagogik« und »die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen« gefalle. Als ihre dortige Stelle auslief, bewarb sie sich erfolgreich bei Teach First, auch später wollte sie gerne im Bereich Umweltbildung an Schulen aktiv bleiben. Sie wirkte auf mich auch ohne Lehramtsstudium wie die perfekte Lehrerin, sie fügte sich nahtlos ins Kollegium ein und auch das Unterrichten gefiel ihr trotz der schwierigen Unterrichtsbedingungen: »Ich habe gleich gemerkt: ›Boah, das ist genau das Richtige!‹«. Während sie sich an der Schule »superwohl« fühlte, blieb sie Teach First gegenüber skeptisch eingestellt. Sie verstand sich als pragmatisch und unpolitisch, folgte »mehr dem Bauchgefühl als der Theorie«. Mit Blick auf die hochtrabenden Reden über Visionen und Leadership meinte sie, »die sollen mal die Kirche im Dorf lassen« und auch »mit diesem Elitedings« konnte sie nicht viel anfangen. Vielmehr ärgerte sie sich darüber, dass bei dem »hochtrabenden Gerede« gravierende Mängel in der praktischen Umsetzung übersehen wurden. Dennoch ging sie stolz zu Preisverleihungen für Teach First, und als sie eine Wohnung im bürgerlich geprägten Berlin-Charlottenburg suchte, bekam sie eine überraschende Zusage, da sich der Vermieter im Internet über ihr Engagement informiert hatte und von diesem Projekt begeistert zeigte. Mittlerweile ist sie als Lehrerin an einer Privatschule in Berlin-Mitte tätig. Doch nicht überall stießen die Fellows auf solchen Zuspruch. Besonders vehemente Kritik war Teach First vonseiten der Gewerkschaften und Teilen der Wissenschaft ausgesetzt. Die GEW-Berlin forderte schon früh einen Stopp des Programms, mit dem »Privatisierung und ein Outsourcen im Bildungsbereich« sowie eine problematische neue
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Form des Schulmanagements verbunden wurde.48 Auch andere gewerkschaftsnahe Gruppen waren skeptisch eingestellt: Feldtagebuch: Später Nachmittag, Sitzung der »Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen« der SPD in Neukölln. Ungefähr zehn Personen sind anwesend, vor allem ältere Herren mit altmodischen Brillen und Schnurrbärten. Sie reden sich untereinander mit »Genosse« an, einer trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »Borussia Banane«, an der Wand hängt ein Poster von der Maueröffnung. Bernhard und Jan sind eingeladen, dort Teach First vorzustellen. Sie wirken im Gegensatz zu den anderen rank und schlank, erscheinen sportlich getrimmt und positiv gestimmt. Auch Roberto, ein bei den Jusos aktiver GalileiSchüler, ist gekommen. »Und wat könnt ihr nach zwei Jahren damit anfangen?«, werden sie anfangs noch recht neutral gefragt. Jan spricht von »persönlicher Erfahrung«, Bernhard wird etwas staatstragender, doziert über unterschiedliche soziale Herkünfte und dass wir als Privilegierte die Verantwortung dafür übernehmen sollten, dass jeder die Chance habe, seinen Bildungsabschluss zu verbessern. Auch das Betreuungsdefizit an Schulen wird erwähnt, ein willkommenes Stichwort für die lauernde Hörerschaft: »Ich bin von diesem Programm nicht so begeistert. Junglehrer stehen auf der Straße und dafür kommt dann ihr. Wir würden das Geld lieber dauerhaft für staatliche Stellen ausgeben. Schön, dass ihr da Erfahrungen sammelt, aber warum sollen öffentliche Schulen Euch das finanzieren?« Jan antwortet geschickt: »Ich bin da voll ihrer Meinung. Aber das hat absolut nichts mit Teach First zu tun, da wir keine Lehrer sind. Wir sind eine Ergänzung und Bereicherung. Der Witz ist, dass wir danach auch gar nicht an der Einsatzschule bleiben. Es werden zwar Lehrer eingestellt, aber die wollen meist nicht nach Neukölln.« Burkhard springt ihm zur Seite und nimmt die Antwort auf einen anderen gängigen Vorwurf gleich vorweg: »Für meinen Lebenslauf und eine tolle Erfahrung brauche ich nicht zwei Jahre an eine Schule in Neukölln zu gehen. Natürlich könnten Gelder immer auch anders verwendet werden, aber das ist eine politische Entscheidung. Wir bringen ja auch viele neue Ideen an die Schule. Die Öffnung der Schule für verschiedene Akteure ist wichtig.« Der letzte Satz kommt bei der Hörerschaft nicht so gut an: »Meine Befürchtung ist, dass das ein Einstieg 48 Vgl. GEW Berlin: Gegen Weiterführung von Teach First, 22.5.2013.
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in die Privatisierung von Bildung ist. Bildung für alle muss vom Staat gesichert werden. Ehrenamt ist ein Jobkiller.« Der erste Angriff schien schon abgewehrt, doch Bernhard hatte mit seinen wirtschaftsnahen Positionen dem Gegner neue Munition gegeben und drohte nun in ein Positionsgefecht zu geraten. Deshalb übernimmt Jan wieder das Gespräch und geht mit einer Umarmungsstrategie in die Offensive. Er erwähnt, dass seine Frau als SPD-Vertreterin im Berufsrat für Lehrerinnen tätig ist und auch er selbst für die Partei künftig in der Berliner Bildungspolitik aktiv werden wird. »Wir machen das freiwillig. Alle Seiten nehmen daraus was mit.« Die grantige Alt-Herren-Runde scheint von den charmanten jungen Herren entwaffnet, sie probiert noch ein paar halbherzige Attacken, doch bald sucht sie sich einen neuen Gegner: »Ne jute Sache ist dat schon. Das Problem ist der beschissene Senat. Wenn es nach uns ginge, wäre die Schulreform ganz anders verlaufen.« Eine heikle Mission ist überstanden. Durch eine geschickte Gesprächsführung kann eine Debatte um die zunehmende Privatisierung öffentlicher Bildung vermieden werden. Bei Teach First handelt es sich nämlich nicht um ein Ehrenamt, die Fellows werden vollständig vom Berliner Senat bezahlt. Teach First, dessen Infrastruktur von Stiftungsgeldern und Spenden finanziert werden, übernimmt lediglich die Auswahl und Begleitung. Es handelt sich bei den Fellows also dem Prinzip nach um privat ausgewählte öffentliche Angestellte, wobei deren rechtlicher Status in jedem Bundesland etwas anders geregelt ist. Auch vom Vorwurf, Teach First würde Lehrer*innen die Arbeit wegnehmen, wird geschickt abgelenkt, ohne ihn wirklich außer Kraft gesetzt zu haben. Tatsächlich sehen einige Fellows wie Katharina den Teach First-Vorbereitungskurs als eine Möglichkeit, das Lehramtsstudium zu umgehen. Angesichts des Mangels an qualifizierten Pädagog*innen in Berlin, der maßgeblich durch die örtliche Abschaffung der Lehrer*innen-Verbeamtung befördert wurde und zuletzt zu einer Öffnung der Schulen für Quereinsteiger*innen geführt hat, wird dies jedoch immer weniger als problematisch betrachtet. Die beiden Fellows agieren während der Veranstaltung selbst aus unterschiedlichen Positionen heraus. Bernhard zeigte später im Interview zwar Verständnis für die Vorbehalte der SPD-Gruppe, meinte aber auch, dass er »zu diesen linken Politdiskussionen« wenig Zugang finde. Jan dagegen hatte ein besseres Gespür für die Befindlichkeiten und Einwände der »Genossen« entwickelt.
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Nicht immer können Konf liktsituationen durch rhetorische Überlegenheit umgangen werden. Durch ihr offensives Auftreten und den Drang in die Öffentlichkeit bringen sich Vertreter*innen der vorgestellten Projekte mitunter auch selbst in die Bredouille. Einen persönlichen Eindruck davon bekam ich im Jahr 2012 bei einer Präsentation meiner Studie Hauptschüler. Zur gesellschaf tlichen Produktion von Verachtung an der Berliner Humboldt-Universität. Vertreter*innen von Rock your Life! hatten zunächst im Vorhinein von den Veranstaltern gefordert, ihnen die zweite Hälfte der geplanten Buchdiskussion zur Verfügung zu stellen. Zwar hatten sie darauf hin eine Absage erhalten, ließen sich davon aber nicht abhalten und reklamierten nach einer Weile von selbst die Redehoheit für sich – nun sei »genug über die Probleme geredet« worden, es sei Zeit, »die Lösungen zu präsentieren«, wobei die Lösung wiederum vor allem aus der unternehmerischen Erfolgsstory von Rock your Life! zu bestehen schien. Diese Intervention hatte ihrerseits wiederum eine massive Gegenreaktion des versammelten akademischen Publikums zur Folge, was zu einem feindseligen Wortgefecht führte. Als ich Kirsten von Rock your Life! später zum Interview traf, sprach ich sie nochmal auf den damaligen Vorfall an: »Das war das erste Mal, dass ich das mit dem Neoliberalismusvorwurf so massiv gehört habe. Ich fand das ziemlich lame, denn was ist eigentlich die Alternative? Ist es besser, nichts zu tun und auf das System zu schimpfen, alles zu kritisieren und dann keinen Job zu finden? Ich bin persönlich einfach kein Mensch, der sich auf dieser intellektuellen Ebene die Argumente hin- und herreicht, ich sehe da keinen Mehrwert drin. Ich bin eher pragmatisch und habe Lust, Sachen zu bewegen. Ich will Dinge anpacken und umsetzen und unternehmerisch in die Welt bringen. Ich bin kein Fan unseres Wirtschaftssystems, aber ich will helfen, dass Leute sich auf ihre eigene Kraft, ihre Potenziale und ihre eigene Vision besinnen. Da sehe ich eine größere Veränderungswirkung und das spricht viele aus der aktuellen Generation auch mehr an. Und es wäre doch dumm, Synergieeffekte zu Stiftungen, zur Wirtschaft und zur Politik nicht zu nutzen. Ich sehe da eigentlich nicht so viel Angriffsfläche. Wir wollen junge Menschen und uns selber motivieren, ihr Leben in die Hand zu nehmen, ihr eigenes Leben zu rocken, damit sie später einmal unser Land mitrocken. Und das von außen moralisch zu verurteilen, find ich mega-lame.«
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In dieser Verteidigungsrede wird ein emotional aufgeladener Kontrast aufgebaut: Auf der einen Seite das positiv ausgerichtete und aktiv nach Veränderung strebende Sozialunternehmertum, auf der anderen Seite ein passives, in seiner kritischen Haltung selbstgefälliges und wirkungsloses Akademikertum. Dieses binäre Muster wird durch eine Gegenüberstellung von gleichsam moralisch bewerteten Handlungsmustern hergestellt: pragmatisch versus intellektuell, motivieren versus kritisieren, anpacken versus debattieren. Die unternehmerische Haltung wird von Kirsten als die zeitgemäßere Variante verstanden, als eine, die mehr Spaß mache, mehr Erfolg bringe und deshalb auch die Jugend mehr anspreche. Das eigene, auf Empowerment und Coaching setzende Vorgehen wird dabei als ein unpolitisches, als ein grundlegend gutes Engagement verstanden. Aus dieser Perspektive wirkt die Kritik an Rock your Life! eigentümlich verkopft, moralisch fragwürdig und hoffnungslos rückwärtsgewandt. Auseinandersetzungen mit Widerständen sind kein Zeichen für die Schwäche der hier beschriebenen Projekte, in ihnen aktualisiert und schärft sich vielmehr das Profil des »unternehmerischen Selbst« stets aufs Neue.49 Auch das chronische Zurückbleiben hinter den Ankündigungen zeugt nicht vom drohenden Niedergang dieser Programme, sondern hängt mit ihrem visionären Anspruch zusammen. Sie richten sich auf eine wettbewerbsorientierte Organisation von Schule, ein marktförmiges Verständnis von Bildung und unternehmerische Subjektmodelle. Zu den besonderen Charakteristika neoliberaler Herrschaftsmechanismen gehört, dass sie f lexibel auf Kapitalismuskritik reagieren, indem sie diese abwehren, neutralisieren oder sich Gegenpositionen partiell einverleiben. Teach First hat die vielfachen Verweise auf die global agierende Unternehmens- und Strategieberatungsfirma McKinsey im Selbstmarketing mittlerweile wieder reduziert und damit auch auf Kritik der eigenen Fellows reagiert. Mit dem Slogan der »Bildungsgerechtigkeit« hat sich die Organisation zudem eine klassisch linke Position auf die Fahnen geschrieben. Der School Turnaround stieß mit seinem radikalen, zukunftsgewandten Gestus in jene Leerstellen, die das Scheitern der Berliner Bildungsreform und das Verblassen marxistischer Utopien in Deutschland hinterlassen haben. Und auch Rock your Life! verkauft sich als alternativ, sexy und rebellisch und versucht seine Kritiker*innen dadurch alt aussehen zu lassen. 49 Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 283f.
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Hier stellt sich die Frage, wie eine angemessene Kritik dieser Programme sowie der mit ihnen einhergehenden Entwicklungen im Bildungssystem aussehen kann. Meine ethnografische Herangehensweise hatte sowohl relativierende als auch dramatisierende Effekte. Durch sie konnte gezeigt werden, dass die beteiligten Personen nicht komplett in ihren Projektbeteiligungen aufgehen, ihre Persönlichkeitsbildung und Karriereverläufe aber dennoch eng damit zusammenhingen. Die Umsetzung der Programme im Schulalltag wirkte pädagogisch wenig überzeugend, teilweise auch überstürzt, doch hatte sie gleichsam gewisse praktischen Effekte, zumal dazu auch die Verdrängung anders ausgerichteter Programme gehörte. Vor allem lässt sich in Frage stellen, ob die neuen, neoliberal ausgerichteten Projekte wirklich zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen, wie sie sich dies auf die Fahnen geschrieben haben. Neoliberalismus-Kritiker*innen stoßen mitunter auf Unbehagen, ihnen wurde vorgeworfen, oft zu schnell und zu undifferenziert mit ihren Vorwürfen um sich zu werfen. Doch wenn man verstehen will, wie sich die Vorstellungen von Gesellschaft auf unmerkliche Weise in Richtung ökonomischer Bewertungsmaßstäbe verschieben, wie Privatisierungen im öffentlichen Schulsektor vorangetrieben werden und sich dort eine neue, unternehmerisch ausgerichtete Form des sozialen Engagements ausbreitet, wie also eine grundsätzliche gesellschaftliche Transformation, die sich scheinbar hinter unserem Rücken vollzieht, durch konkrete lokale Praktiken angeleitet wird, der findet bei den hier vorgestellten Projekten reichlich Anschauungsmaterial. Der von Kirsten rhetorisch stilisierte Kontrast von Rock your Life! zur akademischen Welt ist dabei trügerisch, denn neben der Nähe zu Wirtschaft und Politik fielen auch zahlreiche Verbindungen der Projekte zu Universitäten auf. Die drei dargestellten Bildungsinitiativen sind eng mit universitärer Forschung verbunden, sie werden wissenschaftlich begleitet und legitimiert oder sind teilweise direkt aus Studienprojekten hervorgegangen. Es fällt wohl auch nicht schwer, in der Projektausrichtung und der Rede von »Visionen« und »Leadership« den universitären Exzellenzjargon wiederzuerkennen. Die Ausrichtung an einer vermeintlichen »Elite«, welches auch zum Selbstbild von Programmen wie Teach First gehört, geht mit einer intensivierten Wettbewerbsorientierung und einer stärkeren Segregation im Schulbereich einher, wodurch die sogenannten »Restschulen« gleichsam mitproduziert wer-
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den.50 Die Fokussierung auf Selbstmarketing, das ständige Schielen auf Preise und mögliche Vorteilsnahmen, sinnlose Sitzungen um der Sitzung willen, schamlos geschönte Berichte voller leerer Signifikanten und hinterhältig ausgegrenzte Konkurrent*innen – was an den geschilderten Projekten vielleicht noch empörend wirkte, ist zudem längst zum universitären Alltag geworden. Auch unternehmerisch ausgerichtete Selbstentwürfe prägen mittlerweile die Lebensplanung und das Arbeitsverständnis vieler Wissenschaftler*innen. Und schließlich fällt es auch nicht schwer, in den hochmotivierten Fellows und Mentor*innen die gegenwärtige Studierendengeneration wiederzuerkennen. Es ist wohl eine Mischung aus Angst vor der nach dem Studium drohenden Prekarität und dem Wunsch, etwas Gutes und Sinnvolles zu tun, der diese Angebote attraktiv macht. Meine Kritik richtet sich nicht an die an solchen Organisationen beteiligten oder engagierten Personen, sondern an die zunehmend unternehmerisch geprägte Kultur, welche diese schein-heiligen Projekte hervorbringt. Und sie richtet sich gegen eine universitäre Forschung, die sich vorrangig auf eine vorteilhafte Positionierung in Bildungswettbewerben ausrichtet, statt die damit verbundenen neuen Spielarten sozialer Ungleichheit zu hinterfragen.
Politische Projekte Es handelt sich bei den dargestellten Bildungsprojekten und Schulentwicklungsprogrammen um politische Projekte, mit denen sich Machtverhältnisse im schulischen Bereich verschieben und neue Vorstellungen von Schule etablieren. Es gehört zu den Widersprüchen der damit verbundenen Formen des sozialen Engagements, dass sie selbst in Herrschaftsmechanismen eingebunden sind, die zu weiteren sozialen Spaltungen beitragen. Zum Abschluss möchte ich die hier beschriebene positivistisch-unternehmerische Subjektivierungsweise noch in den Kontext f lankierender Subjektivierungsmodelle einordnen, auf die damit verbundenen gesellschaftlichen Transformationen hinweisen und schließlich noch einmal herausstellen, was daran politisch ist.
50 Vgl. Bellmann: Choice Policies.
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den.50 Die Fokussierung auf Selbstmarketing, das ständige Schielen auf Preise und mögliche Vorteilsnahmen, sinnlose Sitzungen um der Sitzung willen, schamlos geschönte Berichte voller leerer Signifikanten und hinterhältig ausgegrenzte Konkurrent*innen – was an den geschilderten Projekten vielleicht noch empörend wirkte, ist zudem längst zum universitären Alltag geworden. Auch unternehmerisch ausgerichtete Selbstentwürfe prägen mittlerweile die Lebensplanung und das Arbeitsverständnis vieler Wissenschaftler*innen. Und schließlich fällt es auch nicht schwer, in den hochmotivierten Fellows und Mentor*innen die gegenwärtige Studierendengeneration wiederzuerkennen. Es ist wohl eine Mischung aus Angst vor der nach dem Studium drohenden Prekarität und dem Wunsch, etwas Gutes und Sinnvolles zu tun, der diese Angebote attraktiv macht. Meine Kritik richtet sich nicht an die an solchen Organisationen beteiligten oder engagierten Personen, sondern an die zunehmend unternehmerisch geprägte Kultur, welche diese schein-heiligen Projekte hervorbringt. Und sie richtet sich gegen eine universitäre Forschung, die sich vorrangig auf eine vorteilhafte Positionierung in Bildungswettbewerben ausrichtet, statt die damit verbundenen neuen Spielarten sozialer Ungleichheit zu hinterfragen.
Politische Projekte Es handelt sich bei den dargestellten Bildungsprojekten und Schulentwicklungsprogrammen um politische Projekte, mit denen sich Machtverhältnisse im schulischen Bereich verschieben und neue Vorstellungen von Schule etablieren. Es gehört zu den Widersprüchen der damit verbundenen Formen des sozialen Engagements, dass sie selbst in Herrschaftsmechanismen eingebunden sind, die zu weiteren sozialen Spaltungen beitragen. Zum Abschluss möchte ich die hier beschriebene positivistisch-unternehmerische Subjektivierungsweise noch in den Kontext f lankierender Subjektivierungsmodelle einordnen, auf die damit verbundenen gesellschaftlichen Transformationen hinweisen und schließlich noch einmal herausstellen, was daran politisch ist.
50 Vgl. Bellmann: Choice Policies.
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Die von den Projekten propagierten und von den Akteuren auf unterschiedliche Weisen verkörperten Subjektivierungsprogramme zeigen aufschlussreiche Ähnlichkeiten mit anderen zeitgenössischen Subjektmodellen, wie dem »Kreativen«, dem »Experten« und dem »Freiwilligen«. Wie die zumeist aus den akademischen Schichten stammenden »Kreativen« streben sie nach Selbstverwirklichung in einzigartigen Arbeitszusammenhängen mit hohem Anregungs- und Sinnstiftungspotenzial. Wurden Kreative einstmals vor allem im Bereich der Kunst oder in alternativen Subkulturen verortet, stehen sie mittlerweile im Zentrum ökonomischer Entwicklungen hin zu affektiver Arbeit, Selbstmotivation und projektförmiger Arbeitsorganisation. Dieser neo-bürgerliche Subjekttypus verbindet eine romantische Sehnsucht nach der Entfaltung von individuellen Potenzialen und intensiven Erfahrungen mit ökonomisch ausgerichtetem Profitstreben und ambitionierten Statusansprüchen. Dadurch tragen sie zu einer neuen Erfolgskultur bei, zu der auch möglichst internationale Persönlichkeitsprofile, eine ausgeprägte Selbstvermarktung und die Zurschaustellung der eigenen Wirkmächtigkeit maßgeblich gehören. Statt dem Durchschnittlichen wird das Außergewöhnliche prämiert, statt auf das Etablierte wird auf das Neue gesetzt. Allerdings verbirgt sich in diesem ambitionierten Subjektivierungsprogramm auch ein hohes Enttäuschungspotenzial, etwa wenn Erfolge ausbleiben oder Arbeit zur Routine wird.51 Mit dem Expertentum verbindet sich ein neues Steuerungsinstrument, das maßgeblich von einem in internationalen Wirtschaftsstudiengängen und an Privatuniversitäten ausgebildeten Personal getragen wird. Diese »Globalisten« verbinden eine elitäre Weltläufigkeit mit einem starken Sendungsbewusstsein, letztlich versuchen sie jedoch vor allem eine US-amerikanisch inspirierte Version neoliberaler Bildungspolitik auf relativ rücksichtslose Weise zu implementieren. Ihr Vorgehen basiert auf binären Unterscheidungen, etwa zwischen »failing« und »high-achieving schools«, und einseitig ökonomisch ausgerichteten Rationalitäten, demnach soziale Problemlagen sich wie Unternehmensbilanzen auf bessern lassen. Das Problem mit den Expert*innen besteht darin, dass sie mit einfachen Rezepten in komplexen lokalen Zusammenhängen möglichst schnelle Erfolge erzielen wollen. Dadurch kommt es automatisch zu Missverhältnissen zwischen programmati51 V gl. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität; Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten.
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schen Verheißungen und tatsächlichen Effekten, was aber wiederum den Ruf nach einem erneuten Experteneinsatz verstärkt. Die Selbstkritik hinter vorgehaltener Hand gehört dabei genauso zu ihrem professionellen Habitus wie ein öffentlich zur Schau gestellter Optimismus in Bezug auf die eigenen Wirkungsmöglichkeiten.52 Schließlich spiegelt sich in diesen Projekten auch ein Wandel des freiwilligen Engagements selbst. Dieses findet heute weniger in traditionellen wohlfahrtsstaatlichen Vereinen oder kirchlichen Organisationen statt, sondern vermehrt in neuen Projektzusammenhängen, bei denen Spaß und Selbstverwirklichung ebenso an Bedeutung gewonnen haben wie die Erweiterung statusrelevanter sozialer Netzwerke und der Erwerb beruf lich verwertbarer Qualifikationen. Gleichzeitig beförderte der neoliberale Umbau des Sozialstaats um die Jahrtausendwende den Ruf nach mehr sozialem Engagement im Sinne der Aktivierung von brachliegenden Produktivitätsreserven der Zivilgesellschaft, um die neu entstandenen Versorgungslücken zumindest teilweise wieder zu stopfen. Bei der damit verbundenen Anrufungspraxis und der Subjektivierungsfigur des »engagierten Bürgers« stand nicht mehr christliche Nächstenliebe oder solidarisch-sozialpolitische Verantwortung, sondern eine sogenannte »Win-Win-Situation« im Vordergrund, demnach alle Beteiligten von mehr sozialem Engagement profitierten, sie also nicht nur moralisch richtig, sondern auch wirtschaftlich vernünftig handeln würden. Hier zeigt sich die moralische Schlagseite neoliberaler Reformpolitik, bei der neue Formen des freiwilligen sozialen Engagements das positive Gefühl vermitteln, Probleme praktisch anzugehen, ohne dass die damit verbundene Verantwortungsethik eine kapitalismuskritische Agenda beinhaltet oder nach den strukturellen Gründen für soziale Ungleichheiten und Bildungsungerechtigkeiten gefragt wird.53 Was diese Subjektivierungsmodelle eint und mit den geschilderten Bildungsiniativen verbindet, ist ihr ausgeprägter Optimismus in Bezug auf die eigene Wirkmächtigkeit. Projektförmig angeregte Eigenmotivation und unternehmerisches Sendungsbewusstsein sollen eine positivierende Wirkung erzeugen. Die Modellierung der Subjekte erfolgt somit maßgeblich auf affektive Weise. 52 V gl. Mitchell: The Rule of Experts; Mosse: Cultivating Development; Mosse: Politics and Ethics; Slobodian: Globalists. 53 Vgl. Neumann: Das Ehrenamt nutzen; Muehlebach: The Moral Neoliberal.
Positivierung
Die vorgestellten Bildungsprojekte und Schulentwicklungsinitiativen stehen symptomatisch für die derzeitigen Transformationen im Bereich Schule, in deren Verlauf soziale Spaltungen sich vertiefen. Das gegenwärtige politische Steuerungsmodell treibt eine stärkere Wettbewerbsorientierung im Schulsystem voran und setzt dabei auf Schulautonomie und Profilbildung, auf hierarchisches Schulmanagement und eine Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse, auf quantifizierte Evaluationen und kurzfristige Ergebnismessungen sowie auf die Förderung von Privatschulen und mehr Freiheiten bei der Schulwahl. Durch diese Wettbewerbssteuerung werden soziale Ungleichheiten im Bildungssystem verstärkt, die nachteilige Situation von Schulen, die unter erschwerten Bedingungen den Marktverhältnissen unterworfen werden, spitzt sich weiter zu. Gleichzeitig werden diese Schulen zur Zielscheibe projektförmiger Unterstützungsmaßnahmen, von staatlichen »Brennpunkt-« oder »Bonusprogrammen« sowie von Bildungsinitiativen wie Teach First, Rock your Life! und School Turnaround. Mit diesen Programmen wird die Tendenz zu verstärkter Hierarchisierung im Schulwesen keinesfalls aufgehoben, sondern zusätzlich akzentuiert. Sie taugen demnach nicht als wirksame Gegenmaßnahmen zur Marginalisierung von Schulen in sozial benachteiligten Stadtvierteln. Die Projekte sind vielmehr Ausdruck einer fortschreitenden Ökonomisierung des Bildungsbereichs, sie treiben die Öffnung von Schulen für privatwirtschaftliche Akteure und betriebswirtschaftliches Denken weiter voran.54 Diese ökonomische Ausrichtung wird von staatlicher Seite gefördert und implementiert. Damit wandelt sich zugleich das Verhältnis von Staat, Ökonomie und Bildungswesen, die Grenzen zwischen wirtschaftlichen und öffentlichen Bereichen werden unschärfer. Die Schule öffnet sich für unternehmerisch ausgerichtete Reforminitiativen privater Stiftungen im Kontext von »Public Private Partnerships« in deren Zuge die Prinzipien des »New Public Management« auf die Steuerung von Schulen übertragen wird. Mit den beschriebenen Initiativen entsteht ein neuartiges Arsenal an Schulprojekten mitsamt dem dazugehörigen Personal. Dieses tritt teilweise an die Stelle bisheriger Formen der Sozialen Arbeit, die dadurch unter Druck gerät, künftig ebenfalls marktgängigere Projekte anzubieten. Auch eine neue Art des Sprechens verbreitet sich mit diesen Projekten an den 54 V gl. Höhne: Ökonomisierung und Bildung; Hartong/Hermstein/Höhne (Hg.): Ökonomisierung von Schule; Ball: Education plc.
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Ausgrenzungsapparat Schule
Schulen, das stark an Marktideologien und am anglo-amerikanischen Managementdiskurs ausgerichtet ist. Für Schulen in schwierigen sozialen Lagen entsteht dabei ein eigener halb-staatlicher Sektor an Reform- und Umwandlungsprogrammen, von »turnaround services«, einem ganzen Arsenal von Begleitprogrammen, Betreuungsformaten, Fortbildungen und Evaluationen für das der Großteil der entsprechenden Gelder ausgegeben wird.55 Diese Beschäftigungsindustrie lebt von der Bildungsmisere und perpetuiert sie gleichsam mit Angeboten, die in erster Linie auf ihren eigenen Markterfolg ausgerichtet sind. Der Ausgrenzungsapparat Schule bringt soziale Spaltungen hervor, doch über die damit zusammenhängenden grundlegenden Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts findet keine wirkungsvolle Auseinandersetzung statt. Die entstehenden Konf likte werden in den Staatsapparaten bürokratisch bearbeitet, die Ungleichheitsverhältnisse dadurch institutionell zertifiziert und meritokratisch legitimiert. Die neoliberal geprägten Neuausrichtungen der Verhältnisse zwischen Markt, Staat, Gesellschaft und Individuen im Kontext von Schule sind von weitreichender Bedeutung, gerade weil dadurch sozialstrukturell bedingte Konf liktlagen verschleiert und eine individualistische Verantwortungszuschreibung befördert wird. Aus ethnografisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive wird die Unterscheidung zwischen Politik im Sinne konkreter staatlicher Apparate und dem Politischen im Sinne der Begründung dieser Instanzen unterlaufen.56 Die Frage, wie staatliche Institutionen operieren, und die Frage, wie dadurch soziale Verhältnisse institutionalisiert, begründet und transformiert werden, gehören unweigerlich zusammen. Diese institutionelle Ethnografie hat somit eine doppelte politische Stoßrichtung: Sie beschreibt die konkreten Praktiken, Diskurse und Subjektivierungsweisen im schulischen Feld und sie fragt danach, wie dadurch Machtverhältnisse konstituiert, legitimiert und verinnerlicht werden. Sie stellt sich damit gegen jene »Entpolitisierungspolitik«, wie sie der schulische Staatsapparat selbst und mit ihm jene Teile der Wissenschaft betreiben, welche die sich ver-
55 V gl. Ball: Privatizing education, privatizing education policy, privatizing educational research. gl. Marchart: Die politische Differenz; Herrmann/Flatscher (Hg.): Institutionen 56 V des Politischen.
Positivierung
schärfenden Ungleichheitsverhältnissen nicht mehr in Frage stellen.57 Eine Ethnografie staatlicher Institutionen ist immer ein politischer Einsatz, der geschilderte Ausgrenzungsapparat Schule nicht unsere einzige Alternative.
57 Vgl. Lessenich: Soziologie – Corona – Kritik, S. 227.
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Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)
Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft Juli 2020, 432 S., kart., 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5
Naika Foroutan
Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6
Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)
Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft September 2020, 320 S., 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9
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Soziologie Detlef Pollack
Das unzufriedene Volk Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute September 2020, 232 S., 6 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5238-3 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5238-7 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5238-3
Ingolfur Blühdorn, Felix Butzlaff, Michael Deflorian, Daniel Hausknost, Mirijam Mock
Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet Juni 2020, 350 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5442-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5442-8
Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6
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