Schriftauslegung im Plural: Interkulturelle und kontextuelle Bibelhermeneutiken 9783170421004, 9783170421011, 317042100X

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Table of contents :
Deckblatt
Titelseite
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Bibelhermeneutik und Exegese in interkultureller Perspektive
Zur Ausgangslage eines interdisziplinären Gesprächs zwischen interkultureller Theologie und Bibelwissenschaft
1. Hinführung zum Thema
1.1 Globale Verflechtungen und ihre Machtstrukturen
1.2 Deutungsmachtzentren der Bibelhermeneutik
1.3 Das interkulturelle Desiderat der Bibelwissenschaften
1.4 Appelle der interkulturellen Theologie an die Bibelwissenschaften
2. Zur Anlage des Bandes
2.1 Interkulturelle Theologie und Bibelwissenschaft im Dialog
2.2 Die Einzelbeiträge
Literatur
Rezeptionshorizonte und Bibeltexte im interkulturellen Dialog
Impulse subsaharischer Bibelhermeneutik
Werner Kahl
1. Einleitung
2. Das hermeneutische Modell eines vierbeinigen Hockers
3. Afua Kumas Lobpreisungen Jesu
4. Ausblick
Literatur
Feministische und queertheologische Exegese in interkultureller Perspektive
1. Anfragen postkolonialer Theorien an eine euro-zentrische (feministische) Exegese
2. Queer-theologische Herausforderungen
3. Perspektiven: Decolonize theology
Literatur
Überlegungen zu einer kultur- und rassismussensiblen Bibelwissenschaft
Impulse aus der Asian American Bibelhermeneutik
1. Interkulturelle Bibelhermeneutik ist der Normalfall (Einleitung)
2. Asian Americans – Fremd- und Selbstbeschreibungen (Kontextanalyse)
3. Marginalisierung und Rassismus als bibelhermeneutische Perspektive (Impulse von Asian Americans)
3.1 Entstehung
3.2 Exegetisches Beispiel: Verworfene Körper in 1 Kor
3.3 Methodische Zugänge
4. Kultur- und rassismussensible Zukunftsperspektiven für die (Interkulturelle) Bibelhermeneutik (Desiderate)
Literatur
Kontextuelle Bibelauslegung und innovative historische Forschung
Das Beispiel von zeitgenössischer präfigurativer Politik und der Jesusbewegung
Peter-Ben Smit
1. Einführung
2. Präfigurative Politik
3. Die Jesusbewegung als präfigurative Politik?
3.1 Zeit: Schon und noch nicht
3.2 An- und Abwesenheit
3.3 Mittel und Zweck
3.4 Ideal und Wirklichkeit
3.5 Rand und Zentrum
4. Markanische Politik: Jenseits von Akkomodierung oder Antiimperialismus?
5. Schluss
Literatur
„Er sagt, es spricht nicht!“
Transkulturelle Schrifthermeneutik im Spannungsfeld von Logophonozentrismus und Bibliomantik. Plädoyer für eine ästhetische Polyphonie
Claudia Jahnel
1. „Er sagt, es spricht nicht“: Hinführung
2. Schriftauslegung im Plural als ästhetisch-sinnliche Kritik an einer westlichen Erkenntnisordnung
3. Schrift zwischen Entsinnlichung, Re-Magisierung und Esoterik
4. Die Heilige Schrift in der Chronik oder die Chronik als autoritative Schrift
5. „He refuses to marvel“: die transkulturellen Verflechtungen des Schrift-als-Wunder-Diskurses
6. Die Präsenz der Schrift als Widerstand gegen eine „koloniale Bombe“
7. Ausblick: Multi-Sensualität des Wortes und multimodale Epistemologie
Literatur
Pentekostale und westliche (wissenschaftliche) Wunderdeutungen im Konflikt?
Interkulturelle Reflexionen einer neutestamentlichen Wunderhermeneutik
Peter Wick
1. Pentekostale Wunderdeutung in Grundzügen
2. Die Wissenschaft als Teil der großen Erzählung der Moderne
3. Die „Elite“ der Postmoderne
4. Die wissenschaftliche Interpretation der Wundererzählungen in der Moderne
5. Pentekostale Bibelauslegung
6. Pentekostaler Wunderglaube und der postmoderne Mensch
7. Der nächste Schritt
Literatur
Intercultural Empirical Hermeneutics
An Example of Theological Hermeneutics Research and Theory Generation Assisted by Methods and Techniques of Social Research
1. Empirical Hermeneutics: A Method for Intercultural Bible Reading
1.1 Theoretical Background of the Method
1.2 Historical Background of the Method
2. Questions, Objectives, and Relevance of the Research Project
2.1 Research Questions
2.2 Research Objectives
2.3 Academic and Ecumenic Relevance of the Research Project
3. An Intercultural Reading of the “Council of Jerusalem” Text and its Methodology
3.1 Intercultural Reading Sessions
3.1.1 First Reading Session
3.1.2 Second Reading Session
3.1.3 Third Reading Session
3.2 Data Analysis and Theory Generation
3.2.1 The Codes System and the Coding Phase
3.2.2 Theory Generation Through Grounded Theory
4. Projected Conclusions and Evaluation of the Use of Qualitative Methods
Literature
Der Text und seine / keine Grenzen?
Zur Deutungshoheit des interkulturellen Lesens am Beispiel der Rezeption und Deutung des Jonabuches in Asien
Andreas Kunz-Lübcke
1. Ein vergessener Kontinent und seine überhörten Stimmen
2. Jona am Ende
3. Jona auf dem Ozean der Deutungen
4. Narrative Lücken und die Allmacht der Leser*innen
Literatur
Die Schrift im Zentrum
Apg 8,26–40 als biblisches Beispiel interkultureller Schriftauslegung
1. Einleitung
2. Philippus und der ἀνὴρ Αἰθίοψ – Eine interkulturelle und grenzüberschreitende Begegnung
3. Die Schrift im Zentrum – Beobachtungen zur Stellung und Funktion der Schrift in Apg 8,26–40
4. Fazit – Impulse für eine interkulturelle Bibelhermeneutik
Literatur
In verschiedenen Kontexten gelesen
Das Johannesevangelium
1. Das Johannesevangelium – ein kolonialer Text
2. Ferdinand Christian Baur
3. Rudolf Bultmann
4. Fehlende Reflexion des Kontextes
5. Die Bedeutung der Anderen
6. Ein möglicher Diskussionspunkt
Literatur
„Eine tüchtige Frau, wer findet sie?“ (Spr 31,10–31)
Eine kontextuelle Bibelhermeneutik aus der Perspektive der Frauen im West-Kongo
1. Einführung
2. Die Stellung der Frauen in der matriarchalischen westkongolesischen Kultur
3. Die westkongolesische Frau im kolonialen Diskurs
4. Frauen im postkolonialen Diskurs
5. Frauen im pfingstcharismatischen Diskurs
6. Frauen im katholisch-protestantischen Diskurs
7. Fazit
Literatur
Der alten Witwe eine Stimme geben
Ein Blick auf die Pluralität feministischer Auslegungen zu Lk 2,36–38
1. Erste Beobachtungen
2. Harris, Janssen und Plaatjie – drei feministische Auslegungen im Vergleich
2.1 Biografische Hintergründe
2.1.1 Sarah Harris
2.1.2 Claudia Janssen
2.1.3 Gloria K. Plaatjie
2.2 Hermeneutik
2.2.1 Sarah Harris
2.2.2 Claudia Janssen
2.2.3 Gloria K. Plaatjie
2.3 Methode
2.3.1 Sarah Harris
2.3.2 Claudia Janssen
2.3.3 Gloria K. Plaatjie
3. Vergleich und Fazit
3.1 Vergleich der drei feministischen Auslegungen
3.2 Fazit: Zentrale Aspekte
3.3 Die Veränderung der ersten Beobachtungen
Literatur
Trennung und Versöhnung
Zwei Auslegungen zu Gen 11,1–9 im Kontext der Apartheid
1. Einleitung
2. Analyse der Auslegungen
2.1 Historische Situation
2.2 Ras, Volk en Nasie
2.3 Desmond Tutu: Christianity and Apartheid
2.4 Vergleich der beiden Auslegungen
3. Fazit und abschließende Überlegungen
Literatur
„Er ist wahrhaftig auferstanden“?
Auferstehung in Lk 24,13–35 in historisch-kritischer Exegese und in den Cross Cultural Biblical Interpretation Groups in Namibia – ein Vergleich
1. Die historisch-kritische Deutung der Auferstehung
2. Auferstehung Jesu as a Spirit oder in the Spirit? Helen C. John und die CCBIGs in Owamboland
3. Vergleich
4. Weiterführende Perspektiven: Empirical Hermeneutics und Evangelii Gaudium
Literatur
Potenziale und Herausforderungen einer interkulturellen Bibelhermeneutik
Ein Ausblick
Malte Cramer, Alena Höfer
1. Kontextualität und Diversität der Schriftauslegung
2. Wie kann eine Ethik der Schriftauslegungen gestaltet sein?
3. Wie kann ein interkultureller Dialog der Auslegungen gelingen?
4. Ausblick
Literatur
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 9783170421004, 9783170421011, 317042100X

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Malte Cramer / Alena Höfer (Hrsg.)

Schriftauslegung im Plural Interkulturelle und kontextuelle ­Bibelhermeneutiken

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2023 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-042100-4 E-Book-Format: pdf: 978-3-17-042101-1 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhaltsverzeichnis Malte Cramer / Alena Höfer Vorwort ................................................................................................................

7

Malte Cramer / Alena Höfer Bibelhermeneutik und Exegese in interkultureller Perspektive. Zur Ausgangslage eines interdisziplinären Gesprächs zwischen interkultureller Theologie und Bibelwissenschaft ......................................................................

9

Werner Kahl Rezeptionshorizonte und Bibeltexte im interkulturellen Dialog. Impulse subsaharischer Bibelhermeneutik .....................................................................

25

Claudia Janssen Feministische und queertheologische Exegese in interkultureller Perspektive ..........................................................................................................

45

Alena Höfer Überlegungen zu einer kultur- und rassismussensiblen Bibelwissenschaft. Impulse aus der Asian American Bibelhermeneutik ........................................

63

Peter-Ben Smit Kontextuelle Bibelauslegung und innovative historische Forschung. Das Beispiel von zeitgenössischer präfigurativer Politik und der Jesusbewegung ....................................................................................................

85

Claudia Jahnel „Er sagt, es spricht nicht!“ Transkulturelle Schrifthermeneutik im Spannungsfeld von Logophonozentrismus und Bibliomantik. Plädoyer für eine ästhetische Polyphonie ........................................................................

99

Peter Wick Pentekostale und westliche (wissenschaftliche) Wunderdeutungen im Konflikt? Interkulturelle Reflexionen einer neutestamentlichen Wunderhermeneutik .......................................................................................... 123

6

Inhaltsverzeichnis

Daniel Jara J. Intercultural Empirical Hermeneutics. An Example of Theological Hermeneutics Research and Theory Generation Assisted by Methods and Techniques of Social Research ........................................................................... 135 Andreas Kunz-Lübcke Der Text und seine / keine Grenzen? Zur Deutungshoheit des interkulturellen Lesens am Beispiel der Rezeption und Deutung des Jonabuches in Asien ..................................................................................... 149 Malte Cramer Die Schrift im Zentrum. Apg 8,26–40 als biblisches Beispiel interkultureller Schriftauslegung...................................................................... 165 Carsten Jochum-Bortfeld In verschiedenen Kontexten gelesen. Das Johannesevangelium .................... 183 Égide Muziazia „Eine tüchtige Frau, wer findet sie?“ (Spr 31,10–31). Eine kontextuelle Bibelhermeneutik aus der Perspektive der Frauen im West-Kongo............... 201 Sarah A. Ntondele Der alten Witwe eine Stimme geben. Ein Blick auf die Pluralität feministischer Auslegungen zu Lk 2,36–38 ....................................................... 213 Fabienne Maria Gürtler / Leander Heinrich / Lisa Nergiz Uykan Trennung und Versöhnung. Zwei Auslegungen zu Gen 11,1–9 im Kontext der Apartheid ...................................................................................................... 223 Jil-Christin Einbrodt / Lena Setzer „Er ist wahrhaftig auferstanden“? Auferstehung in Lk 24,13–35 in historisch-kritischer Exegese und in den Cross Cultural Biblical Interpretation Groups in Namibia – ein Vergleich .......................................... 233 Malte Cramer / Alena Höfer Potenziale und Herausforderungen einer interkulturellen Bibelhermeneutik. Ein Ausblick ......................................................................... 245

Vorwort Malte Cramer, Alena Höfer

Die in diesem Buch versammelten Beiträge gehen in ihrem Kern zurück auf die interdisziplinäre Tagung „Schriftauslegung im Plural. Interkulturelle und kontextuelle Bibelhermeneutiken im interdisziplinären Diskurs“ vom 14. und 15. Februar 2022. Aufgrund der pandemischen Situation fand die Tagung digital statt. Die Tagung wurde von den beiden Herausgeber:innen dieses Buches, Malte Cramer und Alena Höfer, organisiert und durchgeführt. Einige Grundfragen, die den Ausgangspunkt der Tagung markiert haben, denen auf der Tagung nachgegangen wurde und die auch in diesem Sammelband explizit wie implizit diskutiert werden, sind beispielsweise: Wie gestaltet sich in kontextuellen Bibelhermeneutiken das Verhältnis von dem epistemisch-hermeneutischen Anspruch des sola scriptura einerseits und exegetischer Methodenvielfalt andererseits? Wie können postkoloniale, feministische sowie inter- und transkulturelle u. w. Ansätze fruchtbar gemacht werden, um synchrone und diachrone Methoden der Exegese zu bereichern und um mit ihnen in einen egalitären Dialog zu treten? Welche Bedeutung tragen grundsätzlich kulturelle Kontextualität, Historizität und ihre Deutungsmächte in der Exegese? Der vorliegende Sammelband möchte durch die Veröffentlichung der Tagungsergebnisse einen Beitrag zur breiteren Wahrnehmung und Sichtbarmachung interkultureller und kontextueller Perspektiven in der Bibelhermeneutik leisten. Die einzelnen Beiträge des Buches stammen sowohl von Forscher:innen aus der interkulturellen Theologie als auch von Forscher:innen aus den Bibelwissenschaften. Diese wurden eingeladen, in ihren Beiträgen und Aufsätzen Perspektiven auf die Themen interkulturelle Bibelhermeneutik und kontextuelle Exegese aus ihren jeweiligen Fachbereichen und mit ihren spezifischen inhaltlichen und methodischen Schwerpunkten einzubringen. Die hieraus entstandene Pluralität und Diversität veranschaulicht im besten Sinne nicht nur die Vielfalt der interkulturellen Bibelhermeneutiken selbst, sondern weist auch auf die zahlreichen Potenziale für Brückenschläge und gegenseitige Bereicherungen zwischen interkultureller Theologie und Bibelwissenschaften hin. Unser herzlicher Dank gilt allen Referent:innen der Tagung resp. Autor:innen für ihre Beiträge und dafür, dass sie sich auf das herausfordernde Thema der interkulturellen Bibelhermeneutik und den damit verbundenen interdisziplinären Austausch eingelassen und diesen durch spannende Diskussionsbeiträge und Anregungen bereichert haben. Hervorzuheben möchten wir insbesondere drei Beiträge dieses Buches, die von Studierenden der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität

8

Vorwort

Bochum verfasst wurden. Diese Student:innen haben im Wintersemester 2021/22 an einem interdisziplinären Seminar der beiden Herausgeber:innen dieses Buches zum Thema „Schriftauslegung im Plural“ teilgenommen. Dieses Seminar wurde durch das Programm „Forschendes Lernen“ der Ruhr-Universität Bochum gefördert. Für dieses Förderung durch das Rektorat der Ruhr-Universität möchten wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bedanken. Der Schwerpunkt des interdisziplinären Seminars war es, dass die Student:innen in Kleingruppen eigenständige Forschungsprojekte im Themenfeld der interkulturellen Bibelhermeneutik entwickelt und ausgearbeitet haben. Die drei Beiträge, die am Ende dieses Buches abgedruckt sind, sind aus solchen Forschungsprojekten entstanden. Sowohl die Tagung im Februar 2022 als auch die Publikation dieses Sammelbandes wurden finanziell großzügig durch die Evangelische Kirche von Westfalen, die Evangelische Kirche im Rheinland sowie durch die Gesellschaft der Freude der Ruhr-Universität Bochum gefördert. Ohne diese finanzielle Förderung wäre weder die Durchführung der Tagung noch die Veröffentlichung der Tagungsergebnisse möglich gewesen, weswegen wir uns ganz ausdrücklich für ihre Unterstützung bedanken! Unser Dank gilt zu guter Letzt natürlich dem Kohlhammer-Verlag für die Aufnahme dieses Buches in ihr Verlagsprogramm sowie für die stets professionelle und verlässliche Zusammenarbeit. Wir bedanken uns vor allem bei Dr. Sebastian Weigert, Florian Specker und Mirko Roth, die uns in hervorragender Weise bei der Entstehung dieses Buches begleitet und unterstützt haben.

Bibelhermeneutik und Exegese in interkultureller Perspektive Zur Ausgangslage eines interdisziplinären Gesprächs zwischen interkultureller Theologie und Bibelwissenschaft Malte Cramer, Alena Höfer

1.

Hinführung zum Thema

1.1

Globale Verflechtungen und ihre Machtstrukturen

Die Corona-Pandemie hat der Welt das Ausmaß und die Herausforderung der Globalität deutlich vor Augen geführt. Es lässt sich ein ganzes Netzwerk nachzeichnen, wie sich das Corona-Virus innerhalb kürzester Zeit auf der gesamten Erde verbreitet hat. Regionen mit einer hohen Mobilität waren besonders schnell betroffen. Zugleich hat das Virus insbesondere die Menschen extrem hart und umfassend getroffen, die nur über geringe ökonomische und medizinische Ressourcen verfügen, d. h. die Bevölkerung von Regionen mit einer weniger hohen globalen Mobilität und/oder Personen, die gesellschaftlich und ökonomisch benachteiligt sind. Diese ambivalente Dynamik zeigt nicht nur auf, dass die Welt untrennbar und vielfältig miteinander vernetzt ist, sondern eben zugleich, dass Ressourcen sowie die Macht über diese weltweit ungleich verteilt sind. Lokales und nationales Denken sowie Abgrenzungspolitiken einzelner Länder oder politischer Bündnisse verunmöglichen faire globale Lösungen für die Bekämpfung der Corona-Pandemie. Es ist daher paradoxer Weise bis heute nicht gelungen auf eine globale Gefährdung mit einer globalen Strategie zu reagieren. Stattdessen konnten die politischen, ökonomischen und kulturellen Machtzentren der Welt schneller über Hilfspakete und Impfstoffe sowie weitere medizinische Versorgung verfügen als andere. Daran wird exemplarisch sichtbar, dass die Welt noch weit entfernt ist von einer dekolonialen und gerechten Verteilung

10

Malte Cramer, Alena Höfer

von Ressourcen und Macht.1 Das betrifft auch die Macht über die Generierung von Wissen und ihrer Deutungsmacht u. a. durch Publikationen und Rezeptionen. Die globalen Machtzentren bestimmen weiterhin in umfassender Weise die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, ökologischen und sozialen Rahmenbedingungen der gesamten Welt. Die Corona-Pandemie führt uns vor Augen, wie sehr einerseits globale Vernetzungen und Verflechtungen und andererseits bestehende globale Machtstrukturen die Gegenwart prägen und lenken. Übertragen lässt sich diese Beobachtung ebenfalls auf Wissenschaftsdiskurse unterschiedlicher Provenienz, die zwar weltweit geführt werden und miteinander vernetzt sind, in denen jedoch nicht jede Stimme gleich laut gehört oder anerkannt wird, da entweder die notwendigen Ressourcen nicht vorhanden sind oder da bestehende Machtstrukturen dies kontrollieren und reglementieren. Sie bestimmen durch ihre Deutungsmacht, welche Stimmen zu Wort kommen und in welcher Lautstärke sie zu hören sind. An dieser Stelle wird die Ambivalenz sichtbar, dass einerseits immer noch ungleiche Verteilungen von Deutungsmacht existieren und aufrecht erhalten werden und andererseits im Rahmen von Postkolonialismus und dekolonialen Bemühungen global zunehmend dezentrale Epistemologien und Theologien entstehen. 2

1.2

Deutungsmachtzentren der Bibelhermeneutik

In der akademischen Theologie lässt sich in ähnlicher Weise das Phänomen beobachten, dass diese einerseits in unumgänglicher Weise weltweit verflochten ist und dass sie andererseits bestimmten Deutungs- und Machtstrukturen unterliegt, die global wirksam sind. Diese Beobachtung ließe sich für die einzelnen theologischen Fachdisziplinen, ihre Themen sowie ihre Traditionen und Entwicklungslinien aufzeigen. So auch für die Bibelwissenschaften bzw. für das Thema der Bibelhermeneutik. Das Deutungsmachtzentrum der Bibelhermeneutik sowie der wissenschaftlichen Exegese biblischer Texte war für eine sehr

1

2

Ähnlich ließe sich dies z. B. anhand der Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und ihrer globalen Implikationen aufzeigen, welche aktuell die politische und ökonomische Krisenlage großer Teile der Weltbevölkerung zusätzlich zur Corona-Pandemie drastisch verstärken. Vgl. i. A. Claudia Jahnel, Migration – Macht – Theologie. Prolegomena einer Theologie im Kontext von Migration und Postmigration, in: Gregor Etzelmüller/Claudia Rammelt (Hg.), Migrationskirchen. Internationalisierung und Pluralisierung des Christentums vor Ort, Leipzig 2022, 127–150; Klaus Hock, L`art pour l`art? Interkulturelle Theologie als Praxistheorie epistemischer Dissonanzen, in: ZMiss 47 (2) 2021, 88–111; Dipesh Chakrabarty, Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 2010.

Bibelhermeneutik und Exegese in interkultureller Perspektive

11

lange Zeitspanne der westeuropäische, näherhin der deutsche Kontext universitärer Theologie. Besonders in Deutschland, der Wiege der Reformation und – ebenso wichtig für diesen Themenzusammenhang – einem Zentrum westeuropäischer Aufklärung, entwickelte sich in der (evangelisch-)theologischen Wissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts unter den Einflüssen des Rationalismus und des Historismus die historisch-kritische Exegese. Von dort ausgehend wurde sie zum bis heute leitenden Paradigma der Bibelwissenschaften.3 Dies veränderte sich erst langsam ab den 1970er Jahren als nach und nach die Zahl von bibelwissenschaftlichen Zugängen abseits des Methodenkanons historisch-kritischer Exegese zunahm. Auslegungsmethoden sowie hermeneutische Ansätze, die seitdem entstanden sind, stammen – von Ausnahmen wie z. B. der tiefenpsychologischen Exegese abgesehen – jedoch nicht mehr aus Deutschland, sondern vor allem aus dem englischen oder auch aus dem französischen Sprachraum. Insbesondere sind von den Literaturwissenschaften und der Linguistik übernommene Auslegungsmethoden wirksam geworden. „Diese Methoden nehmen die Texte vielfach primär synchron, in ihrer Endgestalt als Produkte von Autoren wahr und wollen deren Sinn in ihrem intratextuellen Zusammenhang und ihrer Wechselwirkung mit dem Rezipienten des Textes herausarbeiten.“4 Und so waren die Bibelwissenschaften in vergangenen drei Jahrzehnten maßgeblich geprägt durch Fragen der Relation klassischer, diachroner (historisch-kritischer) und neuer, synchroner und z. B. kanonischer Ansätze in der biblischen Exegese.5 Diese Entwicklung wird heute u. a. in Methodenlehren zur Exegese des Alten und Neuen Testaments sichtbar, in denen zunehmend synchrone Methoden aufgenommen wurden bzw. werden6 oder aber deren Fokus inzwischen fast ausschließlich auf solchen liegt. 7 3

4

5

6 7

Zur Geschichte und Entwicklung der historisch-kritischen Exegese vgl. u. a. Hans-Joachim Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 21969; Ulrich Wilckens, Kritik der Bibelkritik. Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann, Neukirchen-Vluyn 22014; Ulrich Wilckens, Theologie des Neuen Testaments, Bd. III: Historische Kritik der historisch-kritischen Exegese. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Göttingen 2017. Siehe zum Thema auch Jörg Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, HUTh 46, Tübingen 2004. Malte Cramer/Peter Wick, Das Biblische Gespräch. Hermeneutische Reflexionen einer dialogischen Bibeldidaktik, in: Esther Brunenberg-Bußwolder u. a. (Hg.), Neues Testament im Dialog, Festschrift für Thomas Söding zum 65. Geburtstag, Freiburg i. Br. 2021, 332– 348, hier: 338. Vgl. ebd. Dies gilt in besonderer Weise für die deutschsprachige Exegese. In der anglophonen Forschung konnten sich die stärker synchron orientierten Zugänge biblischer Exegese deutlich früher etablieren als in der deutschsprachigen Forschung. Vgl. z. B. Martin Ebner/Bernhard Heininger, Exegese des Neuen Testaments, Paderborn 4 2018. Vgl. i. A. Helmut Utzschneider/Stefan Ark Nitsche, Arbeitsbuch Literaturwissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, Güterloh 2014; Sönke Finnern/Jan Rüggemeier, Methoden der neutestamentlichen Exegese. Eine

12

Malte Cramer, Alena Höfer

Darüber hinaus waren insbesondere die vergangenen zwei Jahrzehnte in den Bibelwissenschaften bzw. in der theologischen Forschung insgesamt geprägt durch vielfältige schrifthermeneutische Diskussionen.8 Befördert wurde die Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Bibelhermeneutik auf protestantischer Seite sicherlich besonders durch das Reformationsjubiläum 2017 und der im Zuge dessen vorgenommenen Aufarbeitung der particula exclusiva reformatorischen Theologie: solus christus, sola gratia, sola fide und sola scriptura.9 Unter anderem angestoßen durch das Jubiläum zum fünfzigjährigen Bestehen der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, die 1965 durch das Zweite Vatikanische Konzil verabschiedet wurde, gab es jedoch

8

9

Einführung für Studium und Lehre, Tübingen 2016. Eine Vorreiterrolle hinsichtlich dieser Entwicklung nimmt zweifelsohne die Methodenlehre von Wilhem Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg 1987; überarbeitet und weitergeführt von Peter Wick: Wilhelm Egger/Peter Wick, Methodenlehre zum Neuen Testament. Biblische Texte selbstständig auslegen, Freiburg 62011. Dies lässt sich bereits anhand der Vielzahl von Publikationen zu diesem Thema – allein in der deutschsprachigen Theologie – festmachen. Siehe i. A. Marius, Reiser, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik, Tübingen, 2007; Oda Wischmeyer u. a. (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin 2009; Karin Finsterbusch/Michael Tilly (Hg.), Verstehen, was man liest. Zur Notwendigkeit historisch-kritischer Bibellektüre, Göttingen 2010; Rudolf Voderholzer, Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik, Regensburg 2013; Susanne Hausmann, Gottes Wort und unsere Wörter. Der Umgang mit dem Wort Gottes in den Kirchen östlicher und westlicher Tradition, Neukirchen-Vluyn 2013; Eve-Marie Becker/Stefan Scholz (Hg.), Auf dem Weg zur neutestamentlichen Hermeneutik. Festgabe für Oda Wischmeyer zum 70. Geburtstag, Tübingen 2014; Gerd Theißen, Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik, Münster 2014; Friederike Nüssel (Hg.), Schriftauslegung, Tübingen 2014; Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen- Vluyn 2014; Susanne Luther/Ruben Zimmermann (Hg.), Studienbuch Hermeneutik. Bibelauslegung durch die Jahrhunderte als Lernfeld der Textinterpretation. Portraits – Modelle – Quellentexte, Gütersloh 2014; Ulrich H. J. Körtner, Arbeit am Kanon. Studien zur Bibelhermeneutik, Leipzig 2015; Christof Landmesser/Enno Edzard Popkes (Hg.), Verbindlichkeit und Pluralität. Die Schrift in der Praxis des Glaubens, Leipzig 2015; Oda Wischemeyer u. a. (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2016; Ingolf Dalferth, Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018; Peter Wick/Malte Cramer, Allein die Schrift? Neue Perspektiven auf eine Hermeneutik für Kirche und Gesellschaft, Stuttgart 2019. Friedrich-Emanuel Focken/Frederike van Oorschot, Schriftbindung evangelischer Theologie. Theorieelemente aus interdisziplinären Gesprächen, THLZ.F 37, Leipzig 2020. Anlässlich des Reformationsjubiläums widmete z. B. die ZNT eigens eine Doppelausgabe dem Thema Sola Scriptura. Vgl. ZNT 39/40 (2017). Siehe auch Stefan Alkier (Hg.), Sola Scriptura 1517–2017. Rekonstruktionen – Kritiken – Transformationen – Performanzen, CHT 7, Tübingen 2019.

Bibelhermeneutik und Exegese in interkultureller Perspektive

13

ebenso auf katholischer Seite in den vergangenen Jahren Anlass zur interdisziplinären Beschäftigung mit den Themen Bibelhermeneutik und Exegese.10 In diesen und weiteren theologisch-hermeneutischen sowie fundamentalexegetischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte wurden „Aspekte von Einheit und Vielfalt, Polyphonie und Disharmonie, Pluralität und Autorität, Diversität und Verbindlichkeit der biblischen Schriften analysiert, diskutiert oder grundsätzliche methodische Fragen der Exegese und Hermeneutik der biblischen Schriften bearbeitet.“11 Ein erstes Ergebnis dieser vielfältigen Diskussionen besteht darin, dass sich in vielen Bereichen der Exegese ein multimethodischer Ansatz entwickelt und etabliert hat, in denen diachrone und synchrone Methoden der Bibelauslegung nicht länger miteinander konkurrieren, sondern sich ergänzen.12 Ein zweites Ergebnis, das hiermit einhergeht, besteht in der inzwischen in den Bibelwissenschaften flächendeckenden Anerkennung und Wertschätzung bibelhermeneutischer Zugänge, die nicht dem historisch-kritischen Paradigma unterliegen, sondern denen z. B. eine leser:innenorientierte resp. rezeptionsästhetische Perspektive zugrunde liegt.13

10 11

12

13

Vgl. exemplarisch Karl Lehmann/Ralf Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort im Menschenwort. Die eine Bibel als Fundament der Theologie, QD 266, Freiburg 2014. Malte Cramer, Die Präzedenz der Schrift. Zur Positionierung der biblischen Schriften in Theologie und Kirche, in: Peter Wick/Malte Cramer, Allein die Schrift? Neue Perspektiven auf eine Hermeneutik für Kirche und Gesellschaft, Stuttgart 2019, 9–23. Vgl. zum Thema auch die Literaturbericht bei: Wilfried Eisele, Die „ferne, dritte Stimme“. Beiträge und Entwürfe zur neutestamentlichen Hermeneutik, in: ThRv 115 (2019), 3–20; Helmut Schwier, Literaturbericht Liturgik. Das Neue Testament erkunden und verstehen. Hermeneutik – Kanon – Schrift – Theologie – NT allgemein, in: JLH 56 (2017), 72–80. „Der inzwischen in vielen Bereichen der Exegese etablierte multimethodische Ansatz ist insbesondere dahingehend zu begrüßen und von großer Wichtigkeit, als dass durch eine detaillierte und (multi)methodisch kontrollierte Auseinandersetzung mit den biblischen Texten eine Eindimensionalität in der Auslegung vermieden und stattdessen eine Vielzahl ein Deutungsperspektiven und Interpretationsmöglichkeiten aufgedeckt wird. Die Anwendung verschiedener methodischer Zugänge vermag es, eingeschliffene und vorgeprägte Deutungsmuster aufzubrechen und unterstreicht noch einmal die Sinnoffenheit und -pluralität biblischer Texte sowie die Unabschließbarkeit des Deutungsprozesses. “ Cramer/Wick, Gespräch, 340. Manfred Oeming, Biblische Hermeneutik, Eine Einführung, Darmstadt 42013, 177, konkludiert daher: „Diese Einsicht impliziert notwendige Folgerungen: Negativ formuliert: Bibelexegese kann und darf nicht eindimensional sein, sie muß sich vielmehr öffnen für die faktisch gegebene Fülle der Interpretationskategorien! Positiv gewendet: Durch die Vielfalt der Zugangsweisen wird der verborgene Reichtum des Wortes Gottes neu gehoben. In der Vieldimensionalität des Verstehensprozesses hat die ‚multiplicity of approaches‘ ein fundamentum in re und ist daher völlig legitim!“

14

1.3

Malte Cramer, Alena Höfer

Das interkulturelle Desiderat der Bibelwissenschaften

Doch trotz der positiven Entwicklungen und Errungenschaften hin zu einer Pluralisierung biblischer Zugänge, die sich in den Bibelwissenschaften der vergangenen Jahrzehnte vollzogen haben, fällt darin auf, dass sie sich implizit selbst als Zentrum wissenschaftlicher Theologie und Exegese – wenngleich sich diese nur noch zum Teil in Deutschland befinden und eher auf den globalen Westen insgesamt zu beziehen sind – verstehen, ohne diese Annahme explizit zu benennen. Außen vor bleiben in der bibelwissenschaftlichen Forschung – und insbesondere in der Lehre – in vielen Fällen die Darstellung und Reflexion der weltweiten interkulturellen Vielfalt biblischer Auslegungen und ihrer Methoden, insbesondere derjenigen aus dem sogenannten globalen Süden. Dies ist insofern erstaunlich, als dass das größte Wachstum des Christentums seit mehreren Jahrzehnten längst nicht mehr im globalen Westen, sondern im globalen Süden stattfindet.14 Außerdem gehört die Mehrheit der Migrant:innen in Deutschland dem Christentum an. Sie bringen ihre theologischen und religiös-praktischen Perspektiven direkt vor unsere Haustür.15 Es ist der Verdienst der Interkulturellen Theologie und im Spezifischen der interkulturellen Bibelhermeneutik, dass hermeneutische Bibelzugänge wie z. B. von Rasiah S. Sugirtharajah, Musa W. Dube, Elsa Tamez, Fernando F. Segovia oder Kwok Pui-Lan im deutschsprachigen Raum in der Theologie publik gemacht worden sind.16 Jedoch begegnen diese Namen in der Wissenschaft und im Studium nur Personen, die explizit danach suchen. Daran wird deutlich, dass die 14

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Hierin zeigt sich wiederum, ähnlich wie bei der eingangs skizzierten Situation in der Corona-Pandemie, eine gewisse Inkongruenz. Auch die akademischen Diskussionen um eine angemessene und adäquate Bibelhermeneutik sind einerseits durch das weltweite Netz bibelwissenschaftlicher Forschung verbunden, verweisen andererseits aber in ihren jeweiligen Zusammenhängen auf globale Verflechtungen, die einer Ungleichverteilung von Macht unterliegen. Vgl. Andrea Bieler u. a. (Hg.), Religion and Migration. Negotiating Hospitality, Agency and Vulnerability, Leipzig 2019; Gregor Etzelmüller/Claudia Rammelt, Migrationskirchen. Internationalisierung und Pluralisierung des Christentums vor Ort, in: dies. (Hg.), Migrationskirchen. Internationalisierung und Pluralisierung des Christentums vor Ort, Leipzig 2022, 13–30. Vgl. Werner Kahl, Politische Aspekte einer interkulturellen Hermeneutik, in: Stefan Alkier/Christian Böttrich (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Studie im Anschluss an Eckart Reinmuth, Leipzig 2017, 85–102, hier: 88. Die zentralen Werke der genannten Exeget:innen sind i. A.: Rasiah S. Sugirtharajah, The Bible and Asia. From the Pre-Christian Era to the Postcolonial Age, Cambridge 2013; Ders., Exploring Postcolonial Biblical Criticism. History, Method, Practice, Oxford 2012; Ders., The Bible and Empire. Postcolonial Explorations, Cambridge 2005; Ders., Asian Biblical Hermeneutics and Post Colonialism. Contesting the Interpretations, Maryknoll 1998; Musa W. Dube, Purple Hibiscus. A Postcolonial Feminist Reading, in: Miss 46 (2) 2018, 222–235; Dies., Markus 5,21–43 in vier Lektüren. Narrative Analyse – postcolonial criticism – feminis-

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unter dem Stichwort der interkulturellen Bibelhermeneutik zusammengefassten diversen Ansätze bis heute weniger Deutungsmacht haben, weil sie in der Tendenz ausgelagert und randständig behandelt werden. Auf diese Tatsache machen die betroffenen Exeget:innen aus postkolonialer Perspektive selbst aufmerksam. Sugirtharajah überschreibt 2006 seine Einleitung der dritten Auflage des von ihm herausgegebenen Sammelbandes „Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World“ (Erstveröffentlichung 1991) mit dem Titel „Still at the Margins“. Mit Blick auf die vergangenen 15 Jahre kommt er damals zu dem ernüchternden Ergebnis, dass sich an der Einstellung des Mainstreams bislang nichts verändert habe und somit die vom Machtzentrum geänderten und exkludierten Perspektiven immer noch marginalisiert werden. The practice of treating American and European interpretation as the interpretation and labelling the enterprise others ‚Asian,‘ ‚African,‘ and so on, or of using gender or ethnic term persist. Those who work on the margins are unable to shake off the exotic tag attached to them.17

Im Jahr 2016 erscheint der Artikel „The subaltern can speak“ von Musa Dube. Der Titel rekurriert auf den berühmt gewordenen Artikel „Can the subaltern speak“ von Gayatri Spivak, die am Beispiel der Witwenverbrennung in Indien aufzeigt, dass den Subalternen die Möglichkeit des Sprechens verweigert wird und sie stattdessen durch andere fremdgedeutet werden.18 Dube argumentiert, inwiefern die Subalternen aus ihrer Sicht doch sprechen können. Dabei bezieht sie sich auf das afrikanische Konzept Mmutle für ihr Verständnis der Schriftinterpretation. Die Lektüre der Bibel geschieht in Afrika vor dem Hintergrund der modernen und gegenwärtigen historischen Erfahrung des Kolonialismus, der Post-Unabhängigkeit, von Globalisierung, ökonomischen Herausforderungen und HIV/AIDS sowie der klassischen afrikanischen Philosophie.

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tische Lektüre – HIV/AIDS, in: ZNT 17 (33) 2014, 12–23; Dies., Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, Danvers 2000; Dies., Consuming a Colonial Cultural Bomb. Translating Badimo into ‚Demons‘ in the Setwana Bible (Matthew 8.28–34; 15.22; 10.8), in: JSNT 21 (73) 1999, 33–58; Elsa Tamez, When the Horizon Close. Rereading the Book of Ecclesiastes, Maryknoll 2000; Dies., Bible of the Oppressed, Maryknoll 1993; Stephen D. Moore/Fernando F. Segovia, Postcolonial Biblical Criticism. Interdisciplinary Intersections, London 2005; Fernando F. Segovia, Decolonizing Biblical Studies. A View from the Margins, Maryknoll 2000; Kwok Pui-Lan, Postcolonial Imagination and Feminist Theology, Louisville 2005; Dies., Discovering the Bible in the Non-biblical World, Maryknoll 1995. Rasiah S. Sugirtharajah, Introduction. Still at the Margins, in: Ders. (Hg.), Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, New York 32006, 1–10, hier: 1. Vgl. Gayatri Ch. Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Chicago 1988, 271–313.

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Malte Cramer, Alena Höfer Indeed, to speak of African biblical interpretation is at once to acknowledge a hybrid practice of standing between cultures, world, times, and texts as well as to acknowledge a practice of crossing multiple boundaries and building bridges.19

Vor diesem Hintergrund rekurriert Dube mittels des Mmutle Konzepts darauf, dass zwar eine wirkmächtige Abhängigkeit von den Unterdrückenden, d. h. dem machthabenden globalen Westen besteht, aber diese muss nicht unbedingt mit Hilflosigkeit einhergehen. Die Gewalt der Unterdrückung kann auch die Kraft des Widerstands und Überlebens durch Techniken der List (techniques of trickery) hervorrufen.20 Dube zeigt darin den Wandel und Potentiale aus Perspektive der ehemals Marginalisierten auf, indem sie sich selbst ermächtigen zu sprechen. Dies wird möglich durch die Bereitstellung entsprechender Sprech-Räume. Sie haben die Möglichkeit zu sprechen und damit ihre eigenen Diskurse zu führen und Widerstand zu leisten. Im Sinne von Dipesh Chakrabartys „Provinzialisierung Europas“ bröckeln durch diese Stimmen die dominierenden Zentren und werden zu Provinzen gleichberechtigt neben den zuvor von den Zentren exkludierten Perspektiven.21 Dieser Prozess hat begonnen, aber ist noch längst nicht abgeschlossen. Damit es die von Sugirtharajah benannte Exotisierung der Anderen gelingt zu durchbrechen braucht die Bibelwissenschaft im deutschsprachigen Raum den Dialog mit genannten Exeget:innen und ihren Widerständen. Eine maßgebliche Herausforderung westlicher Theologie insgesamt sowie ihrer bibelwissenschaftlichen Forschung im Besonderen besteht folglich darin, ihren Horizont zunehmend für interkulturelle und kontextuelle Deutungsperspektiven zu öffnen.22 Dieser Umstand wird gerade auch vor dem Hintergrund von stetig wachsenden Migrationsbewegungen evident, die ein hoch aktuelles und gesellschaftspolitisch höchst relevantes Thema darstellen. Ein Desiderat der westlichen Bibelwissenschaften besteht darin, auch die Themen Schrifthermeneutik und Exegese zunehmend stärker unter inter- und transkulturellen Perspektiven zu betrachten. In einer interkulturelle Bibelhermeneutik geht es dabei sowohl um die Wahrnehmung und Darstellung unterschiedlicher kontextueller Schriftausle-

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Musa W. Dube, The Subaltern Can Speak, in: Journal of Africana religions 4 (1) 2016, 54– 75, hier: 55. Vgl. Dube, Subaltern. Vgl. Chakrabarty, Provinzialisierung. Vgl. dazu auch wie koloniales Denken überwunden werden kann bei Andreas Nehring/Simon Wiesgickl, Postkoloniale Theorien und die Theologie. Themen, Debatten und Forschungsstand zur Einführung, in: Dies. (Hg.), Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2017, 7–22, hier: 11f.: „Eine erste einfache Antwort darauf ist: die Vielfalt auszuhalten und Perspektivwechsel einzufordern und einzuüben; immer wieder auch Brüche mit der eigenen Tradition zu vollziehen und die eigenen Denkvoraussetzungen und impliziten Wertigkeiten zu überprüfen. Eigenschaften also, die Qualitätskriterium jeder Theologie sein sollten.“

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gungen und ihre methodischen Zugänge als auch darum diese mit eigenen Ansätzen zu verbinden, nach den Beziehungen und dem Mehrwert dieser ‚fremden‘ Perspektiven zu fragen und diese zu ‚ent-fremden‘.

1.4

Appelle der interkulturellen Theologie an die Bibelwissenschaften

Nicht zuletzt die Schnelllebigkeit und rasant steigende Relevanz globaler Beziehungen und Netzwerke fordert eine Erweiterung des eigenen theologischen und damit auch bibelhermeneutischen Horizonts. Dementsprechend bedarf der bibelwissenschaftliche Dialog einer Fortsetzung hinsichtlich der Wahrnehmung und Inklusion interkultureller Bibelhermeneutiken und kontextueller exegetischer Ansätze sowie den dort verhandelten und gewählten Methoden der Schriftauslegung. Gerade auch die selbstkritische Anerkennung der eigenen Kontextualität führt hierbei im besten Fall zu einer neuen Offenheit gegenüber interkulturellen Perspektiven auf die Schrift. Dies betrifft u. a. befreiungstheologische, feministische, genderbezogene, postkoloniale und intersektionale Perspektiven. Diese mahnen ein kontextuelles Bewusstsein auch für dominierende Zugänge an. Im Idealfall führt ein solches Bewusstsein zur Auflösung bestehender Dominanzen und vermeintlichen Zentren zugunsten eines sich verändernden Diskurses hin zu einer egalitäreren Pluralität, die schon längst den vernetzten Lebensrealitäten adäquat ist. Die Entstehung theologischer (Neu)Ansätze unter Bezug auf die Kontexte, aus denen heraus sie entstehen und in die hinein sie sprechen, ist für die Interkulturelle Theologie kein Novum. Die Zuwendung hin zu einer interkulturellen Bibelhermeneutik in den westlich geprägten Bibelwissenschaften hingegen schon. Interkulturelle Bibelhermeneutiken werden dort zumeist in einem eigenen Diskurs, getrennt vom exegetischen Mainstream thematisiert. Dadurch bleiben fruchtbringende Begegnungen weitestgehend aus und die verschiedenen Ansätze und Zugänge existieren häufig unverbunden nebeneinander. Dementsprechend sind entscheidende Fragen der Bibelhermeneutik aus interkulturell Perspektive etwa z. B., ob diese es vermag, in einer globalen Welt auch globale biblische Zugänge zu eruieren. D. h. nicht nur Ansätze, die für sich und ihre Kontexte alleine stehen, sondern die globale Vernetzungen, transkulturelle Verflechtungen und Wechselbeziehungen auch in der Bibelwissenschaft weltweit einbeziehen. Ob sie es vermag, ihr plurales Verständnis noch weiter auszudehnen und die bisher unsichtbar gebliebenen Perspektiven ebenfalls miteinzubeziehen. Mindestens die folgenden drei Punkte sind daher seitens der interkulturellen Theologie kritisch anzumerken, damit ein fruchtbarer Dialog zwischen ihr und den Bibelwissenschaften gelingen kann:

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1. Transkulturelle Realitäten: Die Entwicklung und Wahl von Auslegungsmethoden basiert auf den jeweiligen Kontexten und Wissenssystemen, innerhalb derer sie entstehen. Sie sind somit kulturell bedingt und geprägt. Der Hinweis aus den Kulturwissenschaften muss ernst genommen werden, dass diese kulturellen Hintergründe hoch dynamisch und fluide sind. Sie können sich unter bestimmten Bedingungen transformieren. Globalisierung und Migration führen zur Verstärkung, Intensivierung und Aushandlung der Verflechtung von kulturellen Kontexten. Damit begegnen und verweben sich auch unterschiedliche Wissensformen und Zugänge. Diese werden in Zukunft weiter zunehmen, dessen Potentiale zum Erkenntnisgewinn biblischer Auslegungen ausgeschöpft werden sollten. Das vom Zentrum exkludierte Andere ist nicht per se anders und außerhalb, sondern wird fremd gemacht. 2. Machtkritik: Interkulturelle Bibelhermeneutiken wie z. B. befreiungstheologische, postkoloniale oder gendersensible Perspektiven üben Machtkritik am Wissenszentrum aus und entwickeln in Abgrenzung dazu bewusst eigene Methoden, die für ihren Kontext plausibel sind. Das Ziel ist dabei ein doppeltes: Die Existenz des Machtzentrums soll dekonstruiert und eigene Zugänge entwickelt werden, um die Hierarchie von Zentrum und Rändern aufzulösen hin zu einer gleichberechtigten Diversität mit gegenseitigem Austausch. 3. Dialogischer Fortschritt: Das Nebeneinander der Bibelhermeneutiken wird häufig dadurch begründet, dass die ausgewählten Ansätze erstens nicht miteinander kompatibel sind und zweitens die Kontexte so unterschiedlich sind, dass sie kaum miteinander verglichen werden könnten. Dies verhindert einen Dialog, der auf der Basis interkultureller resp. transkultureller Kommunikation neue biblische Erkenntnisse ermöglicht. Voraussetzung eines solchen Dialogs sind u. a. interkulturelle und z. B. rassismussensible Kompetenzen, die das Bemühen um Dekolonialisierung und Dehierarchisierung von Wissen und Methodik beinhalten.

2.

Zur Anlage des Bandes

2.1

Interkulturelle Theologie und Bibelwissenschaft im Dialog

Der vorliegende Sammelband enthält die Beiträge der zweitägigen Tagung „Schriftauslegung im Plural. Interkulturelle und kontextuelle Bibelhermeneutiken im interdisziplinären Diskurs“ vom 14. und 15. Februar 2022. Diese wurde von Malte Cramer und Alena Höfer organisiert und durchgeführt und fand aufgrund der pandemischen Situation digital statt. Die unter 1.1–1.4 geschilderten

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Überlegungen skizzieren in gewisser Hinsicht die inhaltliche und thematische Ausgangslage der Tagung. Grundfragen, denen auf der Tagung nachgegangen wurde und die auch im Sammelband zum Ausdruck kommen, sind beispielsweise: Wie gestaltet sich in kontextuellen Bibelhermeneutiken das Verhältnis von dem epistemisch-hermeneutischen Anspruch des sola scriptura einerseits und exegetischer Methodenvielfalt andererseits? Wie können postkoloniale, feministische sowie inter- und transkulturelle u. w. Ansätze fruchtbar gemacht werden, um synchrone und diachrone Methoden der Exegese zu bereichern und um mit ihnen in einen egalitären Dialog zu treten? Welche Bedeutung tragen grundsätzlich kulturelle Kontextualität, Historizität und ihre Deutungsmächte in der Exegese? Durch die Dokumentation der Tagungsergebnisse möchte der vorliegende Sammelband einen Beitrag zur Wahrnehmung und zur Diskussion interkultureller und kontextueller Perspektiven in der Bibelhermeneutik leisten. Um die Pluralität der Perspektiven diesbezüglich ansatzweise sichtbar zu machen, ist der Sammelband interdisziplinär ausgerichtet und durch das Gespräch von interkultureller Theologie einerseits und Bibelwissenschaften andererseits bestimmt. Die Beiträge sind sowohl von Bibelwissenschaftler:innen als auch von Interkulturellen Theolog:innen verfasst und die Referent:innen wurden eingeladen, ihre Perspektiven auf die interkulturelle Bibelhermeneutik und kontextuelle Exegese aus ihren jeweiligen Fachbereichen mit ihren spezifischen inhaltlichen und methodischen Schwerpunkten einzubringen. Diese Diversität veranschaulicht nicht nur die Vielfalt der interkulturellen Bibelhermeneutiken selbst, sondern auch die zahlreichen Potenziale für Brückenschläge und gegenseitige Bereicherungen zwischen interkultureller Theologie und Bibelwissenschaften. Hervorzuheben sind an dieser Stelle die letzten drei Beiträge des Sammelbandes. Denn hierbei handelt es sich um Aufsätze, die von Student:innen der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum verfasst wurden. Die Student:innen haben im Wintersemester 2021/22 erfolgreich einem interdisziplinären Seminar zum Thema „Schriftauslegung im Plural“ teilgenommen. Dieses Seminar fand im Rahmen des universitären Programms „Forschendes Lernen“ der Ruhr-Universität Bochum statt. Ziel des Seminars war es, dass Student:innen mit fachlicher Begleitung eigenständig Forschung im Fachbereich der interkulturellen Bibelhermeneutik betreiben. Dies umfasste u. a. die selbstständige Findung und Begrenzung eines Forschungsthemas sowie dessen Bearbeitung in einer Kleingruppe von drei bis vier Student:innen. Die drei Beiträge sind aus hervorragenden Forschungsprojekten entstanden und bereichern den Sammelband durch ihre jeweiligen Perspektiven auf eine erfrischende Weise.

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2.2

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Die Einzelbeiträge

Den ersten Beitrag des Bandes liefert der interkulturelle Theologe und Bibelwissenschaftler Werner Kahl. In seinem Beitrag „Rezeptionshorizonte und Bibeltexte im interkulturellen Dialog. Impulse subsaharischer Bibelhermeneutik“ stellt Kahl ein im subsaharischen Afrika entwickeltes hermeneutischen Modell vor, dass sich an einem vierbeinigen Hocker orientiert und von der kenianischen Neutestamentlerin Elizabeth Mburu stammt. Von großer Bedeutung ist dieses hermeneutische Stuhlmodell u. a., da es Bestandteil einer der ersten afrikanischen bibelhermeneutischen Einführung ist. Kahl fragt auch nach der Anschlussfähigkeit und der möglichen Bedeutung dieses hermeneutischen Modells für westliche Theologie und Bibelwissenschaft. Claudia Janssen fokussiert in ihrem Aufsatz „Feministische und queertheologische Exegese in interkultureller Perspektive“. Hierbei geht sie u. a. exemplarisch auf die Exegetinnen Musa Dube und Marcella Althaus-Reid ein. Sie verweist nicht nur auf den Ertrag intersektionaler und postkolonialer Perspektiven, sondern thematisiert auch die bisherige Randständigkeit dieser Perspektiven in der deutschsprachigen Exegese und die fehlende Reflexion der eigenen eurozentrischen Dominanzstrukturen und kolonialen Schuldgeschichte. Alena Höfer blickt in ihrem Beitrag „Überlegungen zu einer kultur- und rassismussensiblen Bibelwissenschaft. Impulse aus der Asian American Bibelhermeneutik“ aus einer postkolonialen und rassismuskritischen Perspektive auf die Machtverhältnisse im bibelhermeneutischen Diskurs. Am Beispiel der Asian American Bibelhermeneutik zeigt sie auf, wie unterschiedliche Wissenszugänge und Methoden miteinander verflochten werden können und dadurch neue biblische Erkenntnisse sichtbar machen. Unter der Überschrift „Kontextuelle Bibelauslegung und innovative historische Forschung. Das Beispiel von zeitgenössischer präfigurativer Politik und die Jesusbewegung“ entfaltet Peter-Ben Smit, inwieweit sich die Theorie der präfigurativen Politik, d. h. von Protesten, die aus der Gesellschaft kommen und eine zukünftige bzw. utopische Vision in der Gegenwart umsetzen wollen, auf die Analyse der Jesusbewegung anwenden lässt. Am Beispiel des Markusevangeliums zeigt er hierbei auf, wie dessen Interpretation mit Hilfe des Ansatzes der Präfiguration vorangetrieben werden kann. Claudia Jahnel thematisiert in ihrem Aufsatz „‚Er sagt, es spricht nicht!‘ Transkulturelle Schrifthermeneutik im Spannungsfeld von Logophonozentrismus und Bibliomantik. Plädoyer für eine ästhetische Polyphonie“ die bisher weitestgehend unbeachtete Bedeutung der Materialität der Schrift im bibelhermeneutischen Diskurs. Am Beispiel des Filmes Aguirre, der Zorn Gottes von Werner Herzog thematisiert sie den materialen Wert des Buches und die koloniale Deutungsmacht der Schriftlichkeit, die zum Missverstehen von Missionaren geführt

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hat. Zugleich erhebt sie den transkulturellen Prozess, welcher die Bibel als Buch zum Gegenstand kontextueller magischer Praktiken werden lässt. Angesichts des enormen globalen Wachstums pfingstkirchlicher Strömungen widmet sich Peter Wick in seinem Beitrag „Pentekostale und westliche (wissenschaftliche) Wunderdeutungen im Konflikt? Interkulturelle Reflexionen einer neutestamentlichen Wunderhermeneutik“ dem Thema pentekostaler Wunderdeutungen zu und begründet ihre Anschlussfähigkeit in der Postmoderne, in der es eine erneute Offenheit für eine Verzauberung der Welt, für das Sinnliche und Übernatürliche gibt. Diese wird in bestimmten Milieus verbunden mit einem Bewusstsein für Ökologie, Ganzheitlichkeit, einer Ethik von Nahrung sowie der eklektischen Aufnahme von Wissenschaft. Wick zeichnet z. B. Verbindungslinien zwischen pentekostalen Wunderdeutungen und Yoga auf, weil in beiden ein aufklärerisches Vernunftverständnis nicht länger die primäre Kategorie ist. Im Anschluss an die Forschungsarbeiten von Hans de Witt eruiert Daniel Jara Jhayya in seinem Beitrag „Intercultural Empirical Hermeneutics. An Example of Theological Hermeneutics Research and Theory Generation Assisted by Methods and Techniques of Social Research“ eine empirische Bibelhermeneutik. Grundlage seiner Forschung ist die Analyse von Kleingruppen, in denen Christ:innen aus verschiedenen Ländern der Welt im interkulturellen Dialog miteinander Bibeltexte ausgelegt haben. Jhayya erhebt u. a. den stattfindenden Lernprozess und die Kommunikation der Kleingruppen, während diese die Bibeltexte auslegen. Andreas Kunz-Lübcke zeigt in seinem Aufsatz „Der Text und seine / keine Grenzen? Zur Deutungshoheit des interkulturellen Lesens am Beispiel der Rezeption und Deutung des Jonabuches in Asien“ am Beispiel von Auslegungen des Jonabuches im asiatischen Kontext Chancen und Grenzen kontextueller hermeneutischer Zugänge auf. Am Beispiel des Schweigens Jonas (Jon 4,11f.) skizziert er z. B. unter der Berücksichtigung des kolonialen Traumas, der Bedeutung missionarischer Verkündigung und postkolonialer Perspektiven unterschiedliche kontextuelle Auslegungen. Daraus zieht er u. a. das Resultat, dass die Intention und die Intentionalität von Texten besonders unter Einbezug interkultureller und kontextueller Bezüge einer größeren Aufmerksamkeit bedürfen. Malte Cramer befasst sich in seinem Beitrag „Die Schrift im Zentrum. Apg 8,26–40 als biblisches Beispiel interkultureller Schriftauslegung“ mit der Frage, inwieweit Interkulturalität und Schriftauslegung innerbiblisch korrespondieren. Am Beispiel von Apg 8,26–40 zeigt Cramer zunächst auf, welche interkulturelle Dimension die Begegnung von Philippus und dem äthiopischen Eunuchen inhärent ist und fragt anschließend danach, welche Rolle und welche Funktion die Schrift in dieser interkulturellen Begegnung einnimmt. In seinem Beitrag mit dem Titel „In verschiedenen Kontexten gelesen. Das Johannesevangelium“ betrachtet Carsten Jochum-Bortfeld verschiedene kontextuelle Lesarten des Johannesevangeliums. Im ersten Teil seines Aufsatzes geht Jochum-Bortfeld hierbei auf einen postkolonialen Zugang zu Joh 4 von

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Musa Dube ein, in der sie u. a. nach imperialen Tendenzen in dem vierten Evangelium fragt. Im zweiten Teil wendet er sich der deutschen exegetischen Tradition in Person von Ferdinand Christian Baur und Rudolf Bultmann zu und fragte nach imperialen und universalistischen Einflüssen in ihren Darstellungen. Égide Muziazia erörtert in seinem Aufsatz „‚Eine tüchtige Frau, wer findet sie?‘ (Spr 31,10–31) Eine kontextuelle Bibelhermeneutik aus der Perspektive der Frauen im West-Kongo“ zunächst die Situation und die Position von Frauen im West-Kongo vor, während und nach der Kolonialisierung. Am Beispiel der Frauen aus dem West-Kongo zeigte er auf, dass vielerorts im West-Kongo präkolonial ein Matriarchat die bestimmende Familienstruktur war und dass sich patriarchale Strukturen erst durch Kolonisation und Mission gebildet haben und in der Gegenwart z. B. durch pentekostale Bewegungen gestärkt werden. Damit verbindet er eine kontextuelle, feministische Auslegung von Spr 31,10. Sarah Ntondele vergleicht in ihrem Beitrag „Der alten Witwe eine Stimme geben. Ein Blick auf die Pluralität feministischer Auslegungen zu Lk 2,36–38“ unterschiedliche feministische Auslegungen zur Perikope über die Prophetin Hanna in Lk 2,36-38. Hierbei geht sie auf die Ansätze der drei Theologinnen Sarah Harris, Claudia Janssen und Gloria K. Plaatjie ein. Anhand dieser zeigt Ntondele die Vielfalt an methodischen Zugängen und Perspektiven vor dem Hintergrund verschiedener geschichtlich-biographischer Voraussetzungen auf. Gerahmt wird der Vergleich von einer Reflexion der eigenen Lernerfahrung mit dem Text. Fabienne M. Gürtler, Leander Heinrich und Lisa N. Uykan vergleichen in ihrem Beitrag mit dem Titel „Trennung und Versöhnung. Zwei Auslegungen zu Gen 11,1–9 im Kontext der Apartheid“ zwei theologisch und politisch unterschiedlich gelagerte Auslegungen der Erzählung vom Turmbau zu Babel, die vor dem Hintergrund der Apartheid in Südafrika entstanden sind. Sie zeigen am Beispiel der Auslegung der Nederduitse Gereformeerde Kerk auf, wie biblische Texte zur Begründung der Apartheid missbraucht wurden und stellen dieser eine antirassistische Exegese des selben Bibeltextes durch Desmond Tutu entgegen. Lena Setzer und Jil-Christin Einbrodt setzten sich in ihrem Beitrag „ ‚Er ist wahrhaftig auferstanden‘? Auferstehung in Lk 24,13–35 in historisch-kritischer Exegese und in den Cross Cultural Biblical Interpretation Groups in Namibia – ein Vergleich“ mit der sogenannten Emmaus-Erzählung und dem Thema der leiblichen bzw. geistlichen Auferstehung Jesu auseinander. Sie blicken hierbei auf Auslegungen, denen einerseits der methodische Zugang der historisch-kritischen Methode zugrunde liegt und andererseits auf Auslegungen, die aus Cross Cultural Biblical Interpretation Groups heraus entstanden sind. Sie evaluieren den jeweiligen Wert der methodischen Zugänge der Auslegungen und verweisen darauf, dass die Untersuchung von Bibelauslegungen von Gemeindemitgliedern auf einem Grasroot-Level auch im deutschen Kontext spannende exegetische Erkenntnisse hervorbringen könnte.

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Rezeptionshorizonte und Bibeltexte im interkulturellen Dialog Impulse subsaharischer Bibelhermeneutik Werner Kahl

1.

Einleitung

Das numerische Schwergewicht des weltweiten Christentums hat sich in den letzten Jahrzehnten bekanntermaßen deutlich in Richtung des globalen Südens verschoben. Aber auch in qualitativer Hinsicht haben sich Transformationen ergeben. Das Christentum im globalen Süden ist, wo es aus westlichen Missionsinitiativen des 19. und 20. Jahrhunderts hervorging, tendenziell unabhängig von westlichen Vorgaben geworden. Vielerorts wirkt es identitätsstiftend: Gläubige lesen die Bibel als ihr Lebensbuch. Die Bibel scheint sie in ihrer Lebenswelt direkt anzusprechen, und sie erscheint als relevant für die Gestaltung des eigenen Lebens und des Zusammenlebens: Neutestamentliche Erzählungen von Jesu Austreibung lebensschädigender Geister sind zum Beispiel im subsaharischen Afrika weithin unmittelbar anschlussfähig, und die Manifestation der Wunderkraft des Heiligen Geistes kann ersehnt werden.1 Versionen des Christlichen, in denen solche Akzente in Bibelinterpretation und Glaubensorientierung gesetzt werden, werden theologisch und religionswissenschaftlich mit Begriffen wie „evangelikal“ oder „pfingstlich-charismatisch“ belegt. Ob diese Begrifflichkeiten zielführend sind, beziehungsweise welchem Zweck sie dienen mögen, ist selbst Gegenstand religionswissenschaftlicher Reflektion geworden.2 Wie dem auch sei: Als einheimisch gewordenes Christentum tritt es selbstbewusst auf, gerade auch in der Begegnung mit westlicher Kirche und Theologie beziehungsweise mit deren Vertreterinnen und Vertretern, und zwar insbesondere auf dem Hintergrund kolonialistischer Bevormundungsattitüden in Vergangenheit und Gegenwart. Die gegenwärtige, im Grunde gesamtgesellschaftliche Resilienz beispielsweise in 1 2

Werner Kahl, Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft, Frankfurt 2007, 272–319. Vgl. Jörg Haustein, Die Pfingstbewegung. Eine postkonfessionelle Herausforderung des globalen Christentums, in: ThLZ 9 (2021), 765–782.

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Werner Kahl

Ghana gegenüber westlichen Initiativen, LGBTQ+rights in Westafrika einzufordern oder zu befördern, ist ein Case in Point: Parteien-, religions- und konfessionsübergreifend sind sich an diesem Punkt fast alle einig, und sie begründen ihre Haltung mit Verweisen auf eine diesbezügliche vorgebliche Eindeutigkeit ghanaischer Kultur und biblischer Zeugnisse.3 In interkultureller biblischer Hermeneutik stellt sich die Frage danach, ob wir angesichts unterschiedlicher Lebenssituationen und Deutungen von Welt, Bibel und Evangelium in einen produktiven Verständigungsprozess eintreten können – ohne paternalistische, d. h. letztlich missionarische Untertöne und Zielsetzungen. Ob wir uns also darauf einlassen, sowohl theologisch als auch exegetisch voneinander und miteinander zu lernen, bzw. konkret: ob wir als Exegeten/Exegetinnen und Theologen/Theologinnen im Westen bereit sind, Entwürfe asiatischer, lateinamerikanischer, ozeanischer und afrikanischer Kollegen/Kolleginnen wahr- und ernstzunehmen und sie kritisch – d. h. immer auch selbstkritisch – nach ihrer möglichen produktiven Bedeutung für die Entwicklung bzw. Justierung hiesiger hermeneutischer Modelle und exegetischer Verfahrensweisen zu befragen. Ein wichtiger Lernerfolg wäre in diesem Zusammenhang das Eingeständnis der Kontextualität und Perspektivität jeglicher Theologie und biblischen Hermeneutik. Die weltweit vorfindliche theologische Multiperspektivität bildet gewissermaßen die Vielfältigkeit und Vielstimmigkeit biblischer Zeugnisse ab.4 Und sie lässt die Varianz der Erfahrungen mit dem Wort Gottes und seinen konkreten Ausdeutungen seit den biblisch bezeugten Anfängen als Reichtum erkennen und würdigen. Mehr noch: Die neutestamentlichen Schriften bezeugen die vielfältigen Initiativen im Frühchristentum, die Evangeliumsbotschaft konkret mit unterschiedlichen Lebenskontexten zu verweben. Allerdings gab es offensichtlich im Frühchristentum keinen statischen Begriff von Evangelium, sondern was Evangelium bedeutet, wurde in je ganz bestimmten, voneinander abweichenden Lebenszusammenhängen und je aktuellen Situationen konkretisiert bzw. auf den Begriff gebracht. Die benannte Multiperspektivität auf das Evangelium bzw. die Jesus-Christus-Erzählung in Geschichte und Gegenwart bedeutet eine Ressource für das Erkennen von Aspekten biblischer Passagen, die in je eigener Perspektive übersehen werden. Perspektivität bedeutet eine gewisse Fokussierung des Blickwin-

3

4

Werner Kahl, The Gospel, the Bible, the churches and homosexuality. Hermeneutical reflections, in: Ders. (Hg.), Ecumenical case studies on homosexuality and the church / Ökumenische Fallstudien, zu Homosexualität und Kirche (TIMA 3), Hamburg 2013, 6–13. S. dazu klassisch: Ernst Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen 41965, 214– 223; vgl. Werner Kahl, Ein Gott – eine Bibel – eine Vielfalt von Auslegungen in der ökumenischen Lektüregemeinschaft der Kirchen, in: Ders. (Hg.), Die Bibel im Prisma ökumenischer Kontexte (Theologische Impulse der Missionsakademie 2), Hamburg 2013, 4–10.

Rezeptionshorizonte und Bibeltexte im interkulturellen Dialog

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kels, die bestimmte Figuren, Themen und Motive eines Bibeltextes in den Vordergrund treten und akzentuieren lässt, und zwar bei gleichzeitiger Relativierung bis hin zur völligen Ausblendung anderer textlicher Impulse. Damit geht Perspektivität immer auch mit Sichteinschränkungen einher. Insofern verhilft eine interkulturell reflektierte Hermeneutik und orientierte Exegese dazu, das Spektrum möglicher Deutungen weiter auszuleuchten. Eine interkulturell angelegte Theologie und Hermeneutik bildet an sich bereits ab, was Evangelium nach neutestamentlichen Zeugnissen zentral impliziert, dass es nämlich in Christus keine status- oder kulturbezogenen Privilegien gibt (etwa Gal 3,28), auch keine erkenntnispragmatischen. Diese Implikation gründet in einem Evangeliumsverständnis, das – bei aller Varianz – in fast allen Schriften des Neuen Testaments vorausgesetzt und reflektiert wird und dem im Frühchristentum eine grundsätzliche Bedeutung zuerkannt wurde. Danach hat sich der eine Gott, der im Volk Israel seit alters her verehrt worden ist, als Ausweis seiner Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in und durch Jesus als dem dazu auserkorenen Christus allen Menschen heilvoll zugewandt. Damit legt sich die hermeneutische Haltung einer Würdigung von Differenz nahe, nicht nur in Bezug auf den Umgang mit biblischen Texten, sondern auch in der Begegnung mit Menschen aus aller Welt inklusive ihrer diversen Bibelinterpretationen. Hierbei geht es längst nicht mehr um den Austausch einiger Fachleute auf ökumenischen Versammlungen. Denn längst ist das weltweite Christentum hier bei uns angekommen, und zwar in Form von so genannten Migrationskirchen oder Internationalen Gemeinden.5 In unserer globalisierten Welt und in unserer kulturell und religiös vielfältig gewordenen Gesellschaft beginnen kulturell hybride Glaubensgemeinschaften und Theologien zu entstehen.6 In diesem Beitrag werde ich am Beispiel eines kürzlich im subsaharischen Afrika entwickelten hermeneutischen Modells eine produktive Differenz zu westlichen exegetischen Verfahrensweisen und hermeneutischen Vorverständnissen aufzeigen. Im Anschluss stelle ich verweise ich auf eine bemerkenswerte Fortschreibung neutestamentlicher Traditionen auf populärer Ebene in einem bestimmten westafrikanischen Kontext. Abschließend werde ich die Frage nach der Anschlussfähigkeit und möglichen Bedeutung dieser neuesten subsaharischen hermeneutischen Entwürfe für westliche Theologie und Exegese in den Blick nehmen.

5 6

Vgl. Gregor Etzelmüller/Claudia Rammelt (Hg.), Migrationskirchen. Internationalisierung und Pluralisierung des Christentums vor Ort, Leipzig 2021. Werner Kahl, Die Herausbildung einer postmigrantischen Glaubensgemeinde am Beispiel der Living Generation Church in Hamburg, in: Gregor Etzelmüller/Claudia Rammelt (Hg.), Migrationskirchen. Internationalisierung und Pluralisierung des Christentums vor Ort, Leipzig 2021, 405–418.

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2.

Werner Kahl

Das hermeneutische Modell eines vierbeinigen Hockers

Die kenianische Neutestamentlerin Elizabeth Mburu hat in ihrer African Hermeneutics von 2019 ein hermeneutisches Modell entwickelt, das sie mit Hilfe eines Hockers veranschaulicht, da es – nach Anzahl der vier Beine und des Sitzes eines Hockers – fünf Schritte bzw. Aspekte umfasst.7 Entsprechend nennt sie es das four-legged-stool Modell. Sie wählt das Symbol eines vierbeinigen Hockers, weil er in Afrika allseits und von alters her bekannt ist. Er symbolisiert Standfestigkeit und steht im übertragenen Sinn für eine Methodik, die eine textlich angemessene und theologisch so plausible wie relevante Bibelinterpretation ermöglichen soll. Die einzelnen Interpretationsschritte stellen unterschiedliche Herangehensweisen an den Text dar, wobei sie einander teilweise überlappen, ergänzen und korrigieren, indem sie eine zu interpretierende Passage spiralförmig immer fokussierter in den Blick zu nehmen erlauben. Dieser in Kenia entwickelte hermeneutische Zugang zum Bibeltext stellt in sich einen explizit interkulturellen Zugang dar, der sich vom Bekannten der eigenen Lebenswelt zum Unbekannten der Textwelt hin bewegt. Entscheidend wichtig ist der Ausgang von gegenwärtig in afrikanischen Kontexten plausiblen, da an eigenen – und eben nicht an kulturfremden, etwa westlichen – Traditionen, Theorien und Kategorien anknüpfenden Einsichten und Fragestellungen. Auch wenn als Ausgangspunkt die je eigene – und nicht etwa eine andere, fremde – kontextuelle Situiertheit gewählt wird, ist sich Mburu der Gefahr einer problematischen, da den Bibeltext nicht ernstnehmenden Eisegese bewusst. Die fünf Arbeitsschritte ihres hermeneutischen Modells zielen darauf ab, dem Bibeltext aus afrikanischer Perspektive gerecht zu werden und unkritischen Lektüren, wie sie insbesondere im pfingst-charismatischen Spektrum befördert werden und die zuweilen zu „misleading theologies“ führen, methodisch verantwortet einen Riegel vorzuschieben. Mburu bezeichnet die einzelnen Methodenschritte folgendermaßen: Leg 1: Parallels to the African Context Leg 2: Theological Context Leg 3: Literary Context Leg 4: Historical and Cultural Context Seat: Application

7

Elizabeth Mburu, African Hermeneutics, Carlisle (UK) 2019. Die folgende Darstellung beruht auf Ausführungen ihres Buchs und auf einem instruktiven Interview mit der Autorin vom 21. Februar 2021: https://academic.logos.com/african-hermeneutics-extensive-interview-with-elizabeth-mburu/, Zugriffsdatum: 18.10.2022.

Rezeptionshorizonte und Bibeltexte im interkulturellen Dialog

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Der erste Schritt – dafür steht das 1. Bein – geht bewusst von einem bestimmten afrikanischen Lektürekontext aus und nimmt einen Bibeltext von da aus in den Blick. Ziel ist die Identifizierung von kulturellen Parallelen zwischen dem afrikanischen Kontext und einem biblischen Kontext. Diese Herangehensweise liegt nach Mburu aufgrund von bestehenden Nähen zwischen biblischen und afrikanischen Kulturen und Kontexten nahe. Die Parallelen fungieren quasi als „Brücken“ zwischen beiden Kontexten. Sie würden ein Verstehen, eine Internalisierung und eine Applikation des biblischen Textes erleichtern. Mburu verweist auf vergleichbare Vorgehensweisen markanter neutestamentlicher Figuren: Jesus in seinen Gleichnissen und Paulus in seinen interkulturellen Dialogen, letzterer etwa auf dem Areopag in Athen nach Apg 17. Mburu weiß, dass „Parallelen“ oder „Nähen“ zwischen gegenwärtigen und biblischen Kontexten keine Identitäten bedeuten. Bereits zu Beginn des hermeneutischen Prozesses verweist sie auf die Notwendigkeit, neben vertraut erscheinenden Anknüpfungspunkten im Text stets auch auf Differentes zu achten. Damit werde ein inter-dynamischer Prozess in Gang gesetzt, der anachronistischen Einträgen einen Riegel vorschiebe und somit einem angemessenen Verstehen einer biblischen Passage Vorschub leiste. Dieser Schritt soll nicht nur zu einer ersten Begegnung mit dem Text aus der je eigenen kulturellen Perspektive anleiten. Er soll bereits eine Lektürehaltung einnehmen lassen, die kritisch auf Differenzen achtet und sich durch den Text herausfordern lässt. Der zweite Schritt befasst sich mit dem theologischen Kontext. Er reflektiert die in Afrika weitverbreitete, die Erfahrung von Gläubigen reflektierende, akademische Feststellung, dass Menschen im subsaharischen Afrika – insbesondere im Vergleich zu gegenwärtigen Bevölkerungen im westlichen Europa – dazu tendieren, besonders „religiös“ oder „spirituell“ zu sein. Leben dort wird weithin, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, als in Wirknetze numinoser, unsichtbarer, spiritueller Mächte eingebettet erlebt, gedeutet, kommuniziert und entsprechend gestaltet.8 Deshalb legt sich Mburu eine theologische Betrachtung noch recht zu Beginn des hermeneutischen Prozesses nahe. Bei der Bibellektüre ereignet sich bereits eine erste theologische Verschmelzung der Horizonte. Das Modell macht sowohl auf theologische Anknüpfungspunkte als auch auf die Problematik einer vorschnellen Identifizierung des je eigenen theologischen oder spirituellen Vorverständnisses mit biblisch-theologischen Äußerungen aufmerksam. Von besonderer Bedeutung in afrikanischen Lektürekontexten sei Mburu zufolge Christus und sein Werk. Beim dritten Schritt dieses hermeneutischen Modells geht es um den literarischen Kontext einer biblischen Passage. An dieser Stelle werden Literaturgattungen bestimmt und literarische Techniken einer gegebenen Passage, ihre

8

Werner Kahl, Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft, Frankfurt 2007, 181–183.

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Werner Kahl

Struktur und Sprache analysiert, und sie wird im Zusammenhang ihres literarischen Kontextes interpretiert. Dies dient dazu, einer Vereinnahmung des Textes vorzubeugen und ihm innerhalb seiner Referenzsysteme gerecht zu werden. Im vierten Schritt wird der historische Kontext einer Passage ausgeleuchtet. So wie im gegenwärtigen Afrika Leben und seine Deutungen im Zusammenhang mit sozio-kulturellen, politischen und ökonomischen Gegebenheiten und Entwicklungen begriffen wird, so wird der Berücksichtigung dieser Dimensionen in diesem hermeneutischen Modell auch im Hinblick auf ein historisch-kontextualisiertes Verstehen eines Bibeltextes eine zentrale Bedeutung zuerkannt. Dieser Schritt zurück hinter den Text bzw. um den Text herum ermöglicht es nach Mburu, die mögliche Bedeutung des Textes im Lebens- und Kommunikationskontext des antiken Autors angemessen zu erfassen. Er dient außerdem dazu, mögliche anachronistische Eintragungen gegenwärtiger Leserinnen und Leser zu vermeiden oder doch zu minimieren. Während die Analyse nach den bisherigen vier hermeneutischen Schritten, symbolisiert durch die vier Beine des Hockermodells, die mögliche Bedeutung (engl. meaning) einer biblischen Textpassage im Hinblick auf die intendieren Rezipienten und Rezipientinnen zu erfassen trachtet, verweist der Sitz des Hockers auf die Ebene der Signifikanz bzw. Relevanz der Bedeutung (engl. significance) des Textes für konkrete gegenwärtige Leser und Leserinnen. Auf dieser abschließenden Ebene geht es also um die Frage der Übertragung der in der Ernstnahme der in der methodisch verantworteten Analyse des Textes gewonnenen Einsichten und Impulse in die gegenwärtige Lebenswelt. Mburu spricht hier von der bedeutsamen Anwendung (engl. application) der Textbedeutung im Rezeptionshorizont. Elizabeth Mburus hermeneutisches Modell beschreibt insgesamt einen Analyseprozess, der in kritischer Reflexion bei gegenwärtigen Fragen und Lebensumständen vor dem Text anhebt, sich methodisch verantwortet in die Textwelt hineinbegibt und historisch hinter den Text zurückschreitet, um seine Bedeutungen der Autoren- bzw. Textintention angemessen zu erheben und um seine mögliche gegenwärtige Relevanz für konkrete – hier: afrikanische – Lektürekontexte auszuloten. Diesem Entwurf ist daran gelegen, den biblischen Text zu Wort kommen zu lassen und ihn in die Gegenwart so hineinsprechen zu lassen, dass er auch gehört werden kann. Dabei interessieren Mburu zufolge in afrikanischen Lektürekontexten vor allem theologische und spirituelle Anliegen. Das Abschreiten einer solchen hermeneutischen Spirale, die ihren bewussten Ausgang bei kritisch reflektierten Perspektiven und Positionierungen der Gegenwart mit möglichen Nähen zu biblischen Themen und Äußerungen der Gegenwart nimmt und die nach der literatur- und geschichtswissenschaftlichen Textanalyse die Frage nach der gegenwärtigen theologischen Relevanz gewonnener Einsichten und Interpretationen stellt, und zwar unter der Erwartung, dass Lektüreerwartungen gegebenenfalls korrigiert bzw. vertieft werden, steht im Widerspruch zu solchen exegetischen Vorgehensweisen, wie sie lange Zeit in

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westlichen Einführungen in die Exegese gewissermaßen kodifiziert, tradiert und weithin unkritisch rezipiert worden sind, und zwar unter dem Anspruch einer abständigen, interessenlosen, rein wissenschaftlich-objektiven Exegese, deren absolut geltende Ergebnisse gemeinhin mit einem – aus heutiger Perspektive: überraschend – hohen Maß an Sicherheit und Selbstbewusstsein kommuniziert wurden, bei gleichzeitiger Nichtbeachtung bzw. Diskreditierung exegetischer Stimmen aus dem globalen Süden. Dazu ist zweierlei zu sagen: Erstens, Exegeten des 20. Jahrhunderts sind sich ihrer eigenen theologischen und weltanschaulichen Vorentscheidungen oft nicht bewusst gewesen und sie sind insofern regelmäßig der Gefahr erlegen, anachronistische Eintragungen in die antiken biblischen Textwelten vorzunehmen, was eine ganze Reihe exegetischer Fehlentscheidungen zur Folge hatte. Es sei an dieser Stelle nur darauf aufmerksam gemacht, dass kaum eine der weitreichenden Entscheidungen, die unter dem Paradigma der diachron ausgerichteten sogenannten historisch-kritischen Exegese getroffen wurden, Bestand gehabt hat, vgl. die Quellenscheidung und Redaktionsschichten bzgl. der alttestamentlichen Geschichtsbücher von Genesis bis 2. Könige;9 die Sicht auf das antike Judentum (Stichwort: Werkgerechtigkeit und Rachegott); die Theologie des Paulus (Stichwort: Neue Paulusperspektive);10 die Frage der Einheitlichkeit neutestamentlicher Schriften wie etwa des Johannesevangeliums oder des 2. Korintherbriefs; 11 die gegenwärtige Diskussion um die Gültigkeit der sogenannten Zweiquellentheorie und der Logienquelle,12 usw. Zweitens, allzu oft sind biblische Texte gegenwärtigen exegetischen Perspektiven und theologischen Interessen gefügig gemacht worden, bis hinein in den Wortbestand, indem ein Text literarkritisch so zurechtgestutzt wurde, bis er in das gegenwärtige Welt- und Wertesystem hineinpasste. Die biblischen Textkörper wurde beherrscht. Insofern handelte es sich bei dieser Vorgehensweise gewissermaßen um ein kolonialistisches Interpretationsverfahren. Die biblischen Textwelten wurden zu Objekten wissenschaftlicher Beschäftigung, die Exegeten zu autoritativen Subjekten ihrer Auslegung – wobei die Wissenschaftlichkeit im Vergleich zu den Standards der zeitgenössischen Literaturund Geschichtswissenschaften oft zu wünschen übrigließ. Bei solchen Verfahrensweisen wird biblischen Stimmen kaum je eine Möglichkeit eingeräumt, als

9 10 11

12

Vgl. Erich Zenger, Die Entstehung des Pentateuch, in: Ders. u.a. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament (Kohlhammer Studienbücher Theologie Band 1,1), Stuttgart 42001, 87–122. Vgl. die entsprechenden Beiträge in: Friedrich W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013. Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 22015; Thomas Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther (EKK VIII/1 (2 KOR 1,1–7,4)), Göttingen 2020. Heike Omerzu/Mogens Müller (Hg.), Gospel Interpretation and the Q-Hypothesis (= The Library of New Testament Studies. 573), London 2018.

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Subjekte in einen produktiven Dialog mit gegenwärtigen Positionen einzutreten, geschweige denn, gegenwärtige Positionen herauszufordern. Es ist bezeichnend, dass sich unter afrikanischen – und auch asiatischen, ozeanischen und lateinamerikanischen – Theologinnen und Theologen, Exegetinnen und Exegeten eine solche, als Ausdruck umfassender Gelehrsamkeit und universal gültiger theologischer Richtigkeit daherkommende Bibelexegese des Westens kaum je als anschlussfähig erwiesen hat: Die Bibel wird in Afrika nicht nur auf populärer, sondern auch auf akademischer Ebene weithin hoch geschätzt. Diese Haltung schließt akademischerseits eine kritische und reflektierte Bibellektüre nicht aus. Möglicherweise ist der Absolutheits- und Deutungsmachtanspruch, mit dem westliche Exegeten und Exegetinnen allzu oft aufgetreten sind – einhergehend mit einer willkürlich erscheinenden Interpretation der Bibel –, afrikanischen Kolleginnen und Kollegen auch auf dem Hintergrund der Kolonialgeschichte bzw. des Neokolonialismus bewusst und von vornherein suspekt gewesen. Der Ansatz von Mburu ermöglicht und befördert einen Aushandlungsprozess über Deutungen und mögliche Bedeutungen biblischer Texte. Bei ihrem hermeneutischen Modell handelt es sich um ein interkulturelles Dialogmodell zwischen den Dialogpartnern biblische Schriften einerseits und gegenwärtige Leser bzw. Leserinnen andererseits. Der Dialog wird inszeniert im Interesse an einem sich in kritischer Orientierung an biblischen Passagen ergebenden theologischen Erkenntnisgewinn, der sowohl für das gegenwärtige Glaubensleben als auch für die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens relevant ist. Das hermeneutische Modell von Elizabeth Mburu wurde 2021 von den beiden ghanaischen Exegeten Frederick Mawusi Amevenku und Isaak Boaheng in ihrer Biblical Exegesis in African Context übernommen.13 Somit liegt hier ein hermeneutisches Modell vor, das sich subsaharisch nicht nur interregional, sondern auch interkonfessionell als anschlussfähig erwiesen hat: Mburu ist Baptistin, Amevenku Presbyterianer und Boaheng Methodist. Gleichzeitig handelt es sich bei diesen drei Exponent*innen subsaharischer Exegese um Repräsentanten und Repräsentantinnen dreier verschiedener Ethnien – in Ost- und Westafrika, die im Übrigen nicht in den USA oder in Europa, sondern in ihren Heimatländern lehren, nachdem sie im Westen einen Teil ihrer akademischen Ausbildung durchlaufen hatten. Sie verbindet kultur- und konfessionsübergreifend das Bemühen um die Entwicklung einer biblischen Hermeneutik und Exegese, die in afrikanischen Kontexten plausibel und relevant sind. Und – auch darin sind sie sich einig – diesem Bedürfnis können westlich-exegetische Entwürfe nicht gerecht werden. Mit ihrer Biblical Exegesis in African Context haben Frederick Mawusi Amevenku und Isaak Boaheng die erste akademisch verantwortete Einführung in die 13

Frederick Mawusi Amevenku/Isaac Boaheng, Biblical Exegesis in African Context, Wilmington 2021.

Rezeptionshorizonte und Bibeltexte im interkulturellen Dialog

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Exegese aus westafrikanischer Perspektive vorgelegt – im Jahr 2021. Bis dato waren ausschließlich von Europäern oder Nordamerikanern verfasste Einführungen verfügbar und im Gebrauch, insbesondere in der Ausbildung von Theologen und Theologinnen. Vergegenwärtigen wir uns einmal, was es bedeutete, wenn wir ausschließlich in einer Enzyklopädie, die nicht unserer Muttersprache entspricht, theologisieren müssten, die also erhebliche Differenzen aufweist zu der Enzyklopädie der eigenen Lebenswelt. In der Muttersprache im Zusammenhang mit eigenen kulturellen Traditionen und im eigenen Kontext zu erfassen, zu begreifen, zu beschreiben, zu kommunizieren und zu entwickeln versuchen, was die Jesus-Christus-Erzählung bedeutet, kann eine enorme theologische und soziale Schubwirkung entfalten. Das lehrt das Beispiel der Bibelübersetzungen ins Deutsche ab dem 14. Jahrhundert, kulminierend in den Reformationsbewegungen des 16. Jahrhunderts. Diese Problematik, aber auch das Potenzial eines zu entwickelnden Theologisierens in den Muttersprachen ist in Ghana erkannt worden. So wurde im letzten Jahrzehnt am ökumenischen Trinity Theological Seminary in Accra, an dem auch Amevenku und Boaheng lehren, ein Lehrstuhl für Mothertongue Hermeneutics eingerichtet. Die Einführung in die Exegese von Amevenku und Boaheng stellt den Versuch dar, einen westafrikanisch anschlussfähigen und kritisch-reflektierten Zugang zur als Heilige Schrift verehrten Bibel zu beschreiben. Wie fast alle Exegeten/Exegetinnen und Theologen/Theologinnen in Ghana sind sie ordinierte Pastoren, die auch als Akademiker weiterhin kirchlich eingebunden sind. Insofern liegt es nahe, dass sie ihre Hermeneutik und Exegese im engen Einvernehmen mit kirchlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen, und zwar in kritisch-produktiver Begleitung kirchlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen, entwerfen. Die Autoren machen deutlich, dass hermeneutische Vorentscheidungen der historisch-kritischen Exegese für ihren Kontext nicht von Relevanz sind. Gleichwohl verschließen sie sich nicht generell exegetischen Einsichten, die im Westen gewonnen wurden. Sie prüfen sie kritisch auf ihre Tragfähigkeit, Sinnhaftigkeit und Anschlussfähigkeit im afrikanischen Kontext. Während sie den klassischen Methodenschritten der diachron ausgerichteten historisch-kritischen Exegese skeptisch gegenüberstehen, favorisieren sie im Westen entwickelte Verfahrensweisen, die dazu verhelfen, die vorliegenden Bibeltexte in ihren Strukturen auf ihre möglichen Bedeutungen hin zu befragen und sie in ihrem jeweiligen geschichtlichen Kontext zu verorten. Daraus erklärt sich ihre Bevorzugung synchroner Analysemethoden, insbesondere in Gestalt der sozio-rhetorischen Exegese im Anschluss an Vernon Robbins. Sie selbst verstehen ihren Entwurf als Ausdruck einer afrikanischer Inkulturationshermeneutik und kontextueller Exegese. Danach werden nicht nur die literarischen und historischen Kontexte biblischer Schriften ernst genommen, sondern auch die kulturellen Ressourcen, Probleme und Fragen gegenwärtiger westafrikanischer Lebenskontexte.

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Die exegetische Annäherung von Amevenku und Boaheng an den biblischen Text bewegt sich im Anschluss an das hermeneutische Modell von Mburu von einer reflektierten Selbstpositionierung hin zu einer Überprüfung von Vorentscheidungen aufgrund einer Analyse biblischer Texte in ihren Kontexten. Letztes Ziel des Verfahrens besteht aber in der Gewinnung von Orientierungen zur Gestaltung der eigenen Lebenswelt im Licht biblischer Aussagen. Die Autoren unterscheiden zwischen der ursprünglichen Botschaft eines biblischen Textes und ihren möglichen Bedeutungen (Plural) im Horizont konkreter gegenwärtiger Kontexte. Die Autoren benennen nur nebenbei als evangeliumsangemessenes Kriterium zur Entscheidung darüber, ob einer biblischen Aussage eine absolute oder relative Gültigkeit zuzuerkennen ist, das folgende: eine Interpretation sollte für afrikanische Lebensgemeinschaften lebensförderlich sein.14 Ein solches gemeinschaftsbezogenes Kriterium kann als wichtiges Korrektiv gegenüber individualistischen Engführungen des Evangeliums – sei es im Westen (Stichwort: wie bekomme ich einen gerechten Gott oder wie komme ich zu einer persönlichen Jesusbeziehung), sei es in Subsahara-Afrika (Stichwort: Prosperity-Gospel) – dienen. Sowohl der kommunalistische als auch der lebensförderliche Aspekt dieses Kriteriums ist in Westafrika – und sicher darüber hinaus, zumindest im globalen Süden – weithin anschlussfähig, denn beide gründen in afrikanischen Traditionen der Lebensgestaltung, die nicht am Wohlergehen des Einzelnen, sondern an dem der Großfamilie oder des weiteren Lebensverbands interessiert sind. Auch wenn sich unter dem Paradigma der Moderne und Postmoderne auch in Westafrika zwischenmenschliche Beziehungen zu verändern beginnen, so bilden etwa die Sprachstrukturen nach wie vor ein kommunalistisches Selbstverständnis ab. Insgesamt begegnet uns in der Einführung in die Exegese von Amevenku und Boaheng ein Entwurf, dessen Bedeutung in der selbstbewussten Entwicklung exegetischer Methoden und Theologien besteht, die Kirche und Gesellschaft zu dienen beanspruchen, indem sie auf die Förderung des Lebens und Zusammenlebens in afrikanischen Gesellschaften abzielen. Nun meine ich, dass das benannte hermeneutische Kriterium mit in das beschriebene Hockermodell hineinzunehmen wäre – denn dort fehlt es in der Beschreibung. Dieser Vorschlag meinerseits ist schon Ausdruck eines interkulturellen hermeneutischen Austauschs. Nach Rücksprache und im Einvernehmen mit Frederic Amevenku habe ich die Darstellung des Hockermodells ghanaisch inkulturiert und um die Dimensionen des Evangeliums (der Fuß als Fundament, der das Ganze trägt) und der Bibel (die tragende Mittelsäule) erweitert.15 Der traditionelle Stuhl ist in Ethnien des Südens Ghanas – unter den Akan, den Ewe, den 14 15

Amevenku/Boaheng, Exegesis,108. Auf S. 73 bilden sie ein Hockermodell ab, das in Europa etwa in Badezimmern zu finden ist.

Rezeptionshorizonte und Bibeltexte im interkulturellen Dialog

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Ga – von zentraler kultureller, politischer und spiritueller Bedeutung: Er ist der Sitz der Könige und sogenannten Chiefs, ist mit spiritueller und politischer Macht ausgestattet und verbindet die jeweilige Bevölkerung mit den Ahnen. Bein 1 Kulturelle u. existentielle Nähen zur biblischen Passage

Bein 2 Theologische Bedeutung einer Passage

Sitz Applikation in Form von Handlungsanweisungen

Mittelsäule Die Bibel als Kanon

und Intertext

Bein 3 Literarische Gattung des biblischen Textes

Fuß Evangelium von Jesus Christus: Gottes heilsame und lebensförderliche Zuwendung zu Mensch und Schöpfung Bein 4 Historischer und kultureller Kontext eines biblischen Textes

Schaubild: Das hermeneutische Hockermodell.16 16

Foto: Werner Kahl.

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3.

Werner Kahl

Afua Kumas Lobpreisungen Jesu

Afua Kuma (1906–1987) war eine Bäuerin und Hebamme in Ghana. Sie lebte in den Kwahu-Mountains und war Twi-Muttersprachlerin, konnte aber weder lesen noch schreiben. Sie wurde überregional bekannt aufgrund ihrer Gabe, stundenlang und ad hoc Jesusgebete und Lobpreisungen zu kreieren. In der Beschreibung und Anbetung Jesu rekurrierte sie auf traditionelle Königsattribute aus der Ethnie der Akan, die sie spontan auf Jesus übertrug. Dieser Umstand verlieh dieser oralen Jesuspräsentation in der Perspektive ihrer muttersprachlichen Zuhörer eine ungemeine Tiefe, die sie im Innersten anrührte. Afua Kuma wurde in Kirchen ganz unterschiedlicher Konfession eingeladen, um ihre Dichtungen vorzutragen. Sie selbst war mit den Traditionen der Presbyterianischen Kirche aufgewachsen, besuchte aber auch die katholische Kirche und trat schließlich der Church of Pentecost bei. Afua Kuma wurde als christliche Prophetin, Heilerin und Exponentin einer mündlichen Theologie verehrt. Sie führte ihre besondere Begabung auf durch Engel vermittelte göttliche Eingaben zurück. Der US-amerikanische, katholische Theologe und Ethnologe Jon P. Kirby, der über vier Jahrzehnte in Ghana wirkte und verschiedene ghanaische Sprachen lernte und lehrte, zeichnete eine ganze Reihe von Lobgesängen Afua Kumas in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre tontechnisch auf. Zwei erste Publikationen der Lobgesänge erfolgten 1981 in einer Twi-Version und in einer Version in englischer Übersetzung: Jesus of the Deep Forest: Prayers and Praises of Afua Kuma.17 Wie linguistische Studien zeigen, verfügte Afua Kuma über eine ganz erstaunliche Breite und Tiefe an Sprachvermögen. Muttersprachler, die ihre verschriftlichten Jesusgedichte rezitiert hören, zeigen sich auch heute noch davon ergriffen. Mit einem Abstand von rund 40 Jahren ließ Kirby 2022 einen zweiten Band mit Jesusgebeten und Lobpreisungen von Afua Kuma folgen, und zwar auf der Grundlage von Tonbandaufzeichnungen, die als verloren galten und die kürzlich wiederentdeckt worden waren und transkribiert werden konnten: The Surprising African Jesus. The Lost Prayers and Praises of Afua Kuma.18 Kirby hat diese Sammlung mit einer ausführlichen Einleitung versehen, in der er Auskunft gibt über die Begegnung mit Afua Kuma, ihr Selbstverständnis erhebt und ihre Wirkung und Bedeutung beschreibt.19 Nach Jon Kirby sind die Loblieder und Gebete

17

18 19

Vgl. Afua Kuma, Jesus of the Deep Forest. Prayers and Praises of Afua Kuma, Accra 1981. Der Originaltext in Twi ist abgedruckt in: Jon P. Kirby (Hg.), Ayeyi ne Mpaebo. Kwaebirentuw Ase Yesu, Accra 1981. Vgl. Jon P. Kirby (Hg.), Afua Kuma. The Surprising African Jesus. The Lost Prayers and Praises of Afua Kuma, Eugene 2022. Jon P. Kirby, Introduction, in: Jon P. Kirby (Hg.), Afua Kuma. The Surprising African Jesus. The Lost Prayers and Praises of Afua Kuma, Eugene 2022, 1–19. Zur Biographie von Afua Kuma, vgl. auch Sara Fretheim, “Jesus! Say It Once and the Matter Is Settled”. The Life and

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Afua Kumas weniger ein Beispiel für eine Inkulturation des Evangeliums, als vielmehr ein Beispiel für die Präsenz des Evangeliums in der Kultur und Sprache der Akan.20 Wie dem auch sei, die Lobgedichte Kumas sind ein einzigartiges Zeugnis einer äußerst kreativen Adaption des neutestamentlichen Jesuszeugnisses aus der Perspektive einer illiteraten Frau aus dem Regenwald im Süden Ghanas. Sie knüpft lose an neutestamentliche Motive an und erfasst und beschreibt Jesu Bedeutung mittels traditioneller Kategorien. Die Jesus zugeschriebenen Attribute heben durchweg seine Stärke und Herrlichkeit hervor. Die Charakterisierungen und Beschreibungen Jesu bringen die als wesentlich erachtete Funktion Jesu zum Ausdruck: Er ist derjenige, der Leben rettet. Diese Funktion wird innerhalb der traditionellen Enzyklopädie und unter Einbettung in sozio-ökonomische Gegebenheiten, unter welchem die Landbevölkerung existiert, entfaltet. Wenn Afua Kuma Jesus mit traditionellen Herrschertiteln und Gottesbezeichnungen preist, wie z. B. Ohene (König, und zwar mit Konnotation einer göttlichen Assoziation), Onjankopon Amponyinam (Gott der Versorger), Okyeame Nokwofo (der zuverlässige Linguist [des Königs]), Ntafowayifo (Wundertäter) usw., dann ist zum einen begrifflich positiv an die Tradition – anders als im sich weithin anti-traditionell gebenden Christentum – angeknüpft. Zum anderen erweist sich Jesus im Vergleich mit den traditionellen Herrschern als mächtiger als sie: „Er ist König. Der erste unter den mächtigen Führern“.21 Jesus ist nicht nur ein „großer König“ (Ohenkese), sondern selbst der allmächtige Gott (Otunifo Miyamkopon). Als solcher ist er in demselben Kampf involviert wie die traditionellen Könige und Heiler, d. h. gegen böse Geistwesen. Er vermag ob seiner göttlichen Macht Leben zu geben. Darin liegt der fundamentale qualitative Unterschied zu den Exponenten der traditionellen Religion: Unsere Ahnen haben Gott nicht gesehen, sie gingen, um Lokalgötter und Geister zu sehen, und wurden deshalb müde (...).22 Jehova hat uns bis hierher geholfen, mit großem Dank treten wir vor Jesus, er ist es, der uns täglich Leben gibt.23

Danach ist Gott in Jesus offenbart worden, wobei Afua Kuma selbstverständlich davon ausgeht, dass die Ahnen ebenfalls von der Existenz Onyankopons (Gottes) wussten, ihn allerdings noch nicht als den ihnen sorgend Zugewandten erlebt

20 21 22 23

Legacy of Oral Theologian Madam Afua Kuma of Ghana (1908–1987), in: Journal of African Christian Biography 5/3 (2020), 18–38. Stephen Bevans, Foreword, in: Jon P. Kirby (Hg.), Afua Kuma. The Surprising African Jesus. The Lost Prayers and Praises of Afua Kuma, Eugene 2022, xix–xxii, hier: xx. Kuma, Ayeyi, 20f. Kuma, Jesus, 30. Ebd.

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hatten, so wie es die Christen durch Jesus erfuhren. Ihr Überleben führt Kuma darauf zurück, dass Jesus täglich Leben schenkt, indem er Krankheit und Tod sowie den obersten der bösen Geister (Obonsan bzw. Satan) als ihren Verursacher überwindet: Als wir Jesus trafen, da band er Krankheit und Tod zusammen, und warf sie ins Meer.24 Böser Obergeist, deine Kugeln können uns nicht treffen. Will sich der böse Obergeist gegen uns erheben, sind wir immer noch das Volk Jesu. 25

Da Jesus stärker als die numinosen Lebensfeinde ist, kann der Gemeinde Trost zugesprochen werden: Habt Frieden und fürchtet euch nicht, denn Jesus wird kommen und euch befreien. 26

In der Predigt des Mannes Gottes – des Pastors – ergeht das Wort Gottes, dem es zuzuhören gilt, denn „darin ist Leben“, zumal Jesus durch den Prediger spricht, wodurch „er dir und mir Lebensrettung gibt“.27 Im Vergleich mit der im populären charismatischen Christentum verbreiteten individuellen Engführung des Evangeliums hebt Afua Kuma stets auf den kommunalistischen Aspekt des Leben rettenden Wirkens Jesu ab. Darüber hinaus besteht ein weiterer Unterschied darin, dass in der Erwartung der von Kuma repräsentierten Land- und Waldbevölkerung an Jesus ausschließlich überlebensrelevante Gaben zur Sprache kommen, vor allem: Speise, Wasser, Kleidung und Wohnung. Hiermit beschränkt sich Afua Kuma – im Unterschied zur Ignorierung des Ko-Textes von Matthäus 6,33 in der populären charismatischen Bibelinterpretation der Großstadt – im Wesentlichen auf die in der Perikope vom Sorgen (Matthäus 6,25–34) zugesagten Gaben Gottes. Jesus steht auf der Seite der Armen – er ist ihr Retter: Jesus rettet die Armen.28 Er kennt all unsere Nöte.29

Er ist Gott, der Versorger, der die Medizin gegen Hunger, Krankheit und gegen den Tod hat und ausgibt.

24 25 26 27 28 29

Kuma, Ayeyi, 45. A. a. O., 46. A. a. O., 40. A. a. O., 43. A. a. O., 5. A. a. O., 39.

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In Afua Kumas Preisliedern auf Jesus werden die Nöte und harten Lebensbedingungen der Land- und Waldbevölkerung Ghanas reflektiert. Dieses beeindruckende Zeugnis einer „Grassroots-Theologie“ wurde wenige Jahre vor der großen Hungersnot in Ghana von 1983 aufgezeichnet. Die Realität von Hunger war Afua Kuma und ihrer Gemeinde nicht fremd. Wie das Markusevangelium, so weist ihre Lobeshymne auf Jesus ebenfalls zwei „Speisungsgeschichten“ auf, die an neutestamentlichen Vorgaben in großer Freiheit anknüpfen, traditionelle Speisen in die Jesuserzählung hineinwebt und diese mit weiteren biblischen Motiven assoziativ anreichern: Nntafowayifu – Wundertäter! (...) Du nimmst ein einziges Korn, zermahlst und röstest es, dann pflanzt du es, und siehe: Das Korn hat Frucht gebracht Das Korn hat Frucht gebracht und 200 Säcke gefüllt, und einiges blieb über! Bauer, der allen in Not reichlich gibt, Bauer, der den Hunger tötet, nur in dir werden wir gesättigt, denn du bist die gute Mutter. 30 Er ist es, der das Essen in großen Palmöl-Töpfen kocht. Tausende haben gegessen, aber doch bleiben 12 Körbe voll über. Würden wir all das verlassen, wohin sollten wir gehen? Wir würden herumirren, bis uns der Hunger umbringt, und unsere Kleider alt und zerrissen sind, und wir mit Schweinen essen, und zur Schande würden! Jesus, du bist die gute Mutter, zu der wir zurückkehren, und sagen: Nimm uns bitte auf.31

Neben der hier vorliegenden Integration verschiedener neutestamentlicher Jesusüberlieferungen in die Speisungserzählungen ist insbesondere die zweimalige Identifizierung Jesu als Mutter bemerkenswert, insbesondere da sie von neutestamentlichen Vorgaben, die Paternalismen ihrer Zeit als Selbstverständlichkeit fortschreiben, abweicht. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Wohltaten Jesu an den Bedürftigen von entscheidender Bedeutung sind, nicht ihre etwaige biblische Belegbarkeit. Offenbar bot sich „Mutter“ als angemessenster Titel an, um die in Lukas 15 beschriebene Annahme des zurückgekehrten Sohnes im Kontext des matrilinear organisierten Familienlebens der Akan anschlussfähig zu machen. Einmal mehr machen diese Loblieder und Jesusgebete deutlich, dass es überlebensrelevante Nöte sind, die in Ghana auf die Rettertätigkeit Jesu aufmerken 30 31

A. a. O., 14f. A. a. O., 38.

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lassen. Von dieser ghanaischen, ursprünglich mündlichen Jesusüberlieferung fällt – unter ähnlichen Lebensbedingungen – ein erhellendes Licht auf die synoptische Tradition: Die Redundanz von Wunderheilungs-, Speisungs-, Seenotrettungs- und Exorzismuserzählungen in den synoptischen Evangelien reflektiert auch überwältigende Allgegenwart diesbezüglicher Nöte in den damaligen Bevölkerungen Galiläas und Judäas. Die große Anzahl thematisch und motivhaft variierter Rettungserzählungen in den Evangelien und in der Apostelgeschichte lässt unter Gläubigen in Westafrika keinen Zweifel daran, dass das Evangelium der Jesus-Christus-Geschichte im Wesentlichen die konkret lebensrettende Hinwendung Gottes zu allen Menschen in Not zum Inhalt hat: Lasst uns auf das Wort Gottes hören, denn darin ist Leben (...) Jesus ist es, der spricht, er ist die Quelle des Lebens (...) Er bewirkt Lebensrettung für mich und für dich. 32

Die Begegnung mit dem lebensspendenden Jesus resultiert in einer Dankeshaltung und kann Lebensveränderung nach sich ziehen: Aber jetzt, o lebensspendender Jesus, bin ich nur hier, um dich zu preisen. Komme und empfange meinen dankbaren Lobpreis! Lasst starke Männer aus der Savanne des Nordens herbeikommen und ihre Trommeln für Jesus schlagen. Lasst Muskelmänner Tragstöcke bringen, um ihn hoch auf Sänften zu tragen. Denn jetzt bin ich wieder Mensch – Nicht länger ein Räuber.33

Afua Kumas religiöse Poetik zeigt, wie etwa in Westafrika am Beispiel Ghanas auf nicht-akademischer, populärer Ebene die Jesus-Christus-Geschichte unmittelbar als eigene Lebensrettungserzählung erlebt und begriffen wird. Es handelt sich nicht um eine fremde Erzählung, die erst noch inkulturiert werden müsste, sondern Afua Kuma schöpft sozusagen sprachlich aus dem Vollen und aus den Tiefen der Traditionen der Akan, indem sie Jesus in den vergangenen und gegenwärtigen Lebenserfahrungen ihres Umfelds heilswirkend aufspürt und begrifflich erfasst. Insofern ist dieser Jesus nicht fremd, sondern er erscheint innerhalb der eigenen Kultur als der Lebensretter der Notleidenden. Hier begegnet eine implizite mother-tongue theology, deren akademisch reflektierte Version in Ghana seit etwa zwei Jahrzehnten entwickelt wird. Das vorgestellte hermeneutische Hockermodell stellt den Versuch dar, kultursensibel und kritisch-produktiv populäre Interpretationen von Bibel und Evangelium zu begleiten. 32 33

A. a. O., 43. Kirby, African Jesus, 77.

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4.

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Ausblick

Das auf die Kenianerin Elizabeth Mburu zurückgehende und von Frederick Amevenku und Isaac Boaheng in Ghana übernommene Hockermodell, das, wie gesehen, einen hermeneutischen Prozess empfiehlt, der seinen Ausgang beim Rezeptionskontext und seinen Erfahrungen und theologischen Fragen nimmt, um von dort in eine (selbst-)kritisch reflektierte, exegetisch verantwortete und respektvolle Begegnung mit dem biblischen Text zu treten, findet eine Entsprechung in dem kürzlich von Volker Rabens vorgelegten Entwurf einer „inspirierenden biblischen Ethik“.34 Sein hermeneutisches Modell beschreibt einen „Dialog zwischen biblischen Texten und gegenwärtiger Ethik“, wie es im Untertitel seines Beitrags heißt. Es besteht im Abschreiten eines hermeneutischen Prozesses, der im Wesentlichen aus vier Schritten besteht. Seinen Ausgang nimmt er im Rezeptionskontext, und zwar in der Erkundung kultureller Unterschiede und transkultureller Kontinuitäten zwischen der Gegenwart der Fragesteller und der Vergangenheit der Texte. In einem zweiten Arbeitsschritt geht es um die Erhebung von Bedeutungen einer vorliegenden biblischen Passage innerhalb ihrer literarischen und kulturellen Kontexte, etwa um zu analysieren, ob eine ethische Aussage eine allgemeine kulturelle Selbstverständlichkeit jener Zeit reflektiert oder ob es sich um ein frühchristliches Alleinstellungsmerkmal handelt. In einem dritten Schritt wird die Passage auf kanonische Kontinuitäten und Konsistenzen hin befragt, um im vierten und letzten Schritt zu erheben, ob eine ethische Weisung von zentraler kanonischer Bedeutung ist. Rabens kommt zu dem Ergebnis, dass „das biblische Narrativ der Liebe, wie es im Evangelium von Jesus Christus kulminiert, den primus inter pares Bezugspunkt für den Dialog zwischen biblischer und gegenwärtiger Ethik darstellt“.35 Der Entwurf von Rabens weist mit dem in diesem Artikel aufgerufenen hermeneutischen Modell aus Ost- und Westafrika einige Überlappungen auf, die jetzt nicht noch einmal alle aufgezählt werden müssen. Ich möchte nur auf Wesentliches aufmerksam machen: Der biblische Text ist als Subjekt im interkulturellen Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit ernst zu nehmen und entsprechend zu Gehör zu bringen, eben als Dialogpartner. Er ist als Bestandteil einer kanonischen Schriftensammlung zu würdigen, die vielen Menschen in Vergangenheit und Gegenwart heilig und überlebensbedeutsam (gewesen) ist. Dabei verbietet sich eine unkritische Übertragung von biblischen Positionierungen und Verhaltensanweisungen auf gegenwärtige Problemstellungen. Es ist vielmehr die kritische und immer auch selbstkritische Haltung eines Hörens auf 34

35

Volker Rabens, Inspiring Ethics: A Hermeneutical Model for the Dialogue Between Biblical Texts and Contemporary Ethics, in: Ders. u. a. (Hg.), Key Approaches to Biblical Ethics. An Interdisciplinary Dialogue, Leiden/Boston 2021, 80–126. Ich danke dem Kollegen Volker Rabens für diesen Hinweis. A. a. O., 118.

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mögliche Impulse aus biblischen Texten einzunehmen, die zu einer an zentralen Werten des Evangeliums sich ausrichtenden Orientierung in gegenwärtigen Problemlagen inspirieren mögen. Worin zentrale und unaufgebbare, transkulturell gültige Werte des Evangeliums bestehen könnten und wie sie unter konkreten gegenwärtigen Lebensbedingungen zu aktualisieren wären, das könnte im interkulturellen Gespräch von Exegetinnen und Exegeten, Theologinnen und Theologen aus dem globalen Süden und Norden austariert werden.

Literatur Amevenku, Frederick Mawusi/Boaheng, Isaac, Biblical Exegesis in African Context, Wilmington (Delaware) 2021. Bevans, Stephen, Foreword, in: Kirby, Jon P. (Hg.), Afua Kuma. The Surprising African Jesus. The Lost Prayers and Praises of Afua Kuma, Eugene 2022, xix–xxii. Etzelmüller, Gregor/Rammelt, Claudia (Hg.), Migrationskirchen. Internationalisierung und Pluralisierung des Christentums vor Ort, Leipzig 2021. Fretheim, Sara, „Jesus! Say It Once and the Matter Is Settled“. The Life and Legacy of Oral Theologian Madam Afua Kuma of Ghana (1908–1987), in: Journal of African Christian Biography 5/3 (2020), 18–38. Haustein, Jörg, Die Pfingstbewegung. Eine postkonfessionelle Herausforderung des globalen Christentums, in: ThLZ 9 (2021), 765–782. Horn, Friedrich W. (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013. Käsemann, Ernst, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen 41965, 214– 223. Kahl, Werner, Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz

für die neutestamentliche Wissenschaft, Frankfurt 2007.

Kahl, Werner, The Gospel, the Bible, the churches and homosexuality. Hermeneutical reflections, in: Ders. (Hg.), Ecumenical case studies on homosexuality and the church / Ökumenische Fallstudien, zu Homosexualität und Kirche (TIMA 3), Hamburg 2013, 6–13. Kahl, Werner, Ein Gott – eine Bibel – eine Vielfalt von Auslegungen in der ökumenischen Lektüregemeinschaft der Kirchen, in: Ders. (Hg.), Die Bibel im Prisma ökumenischer Kontexte (Theologische Impulse der Missionsakademie 2), Hamburg 2013, 4–10. Kahl, Werner, Die Herausbildung einer postmigrantischen Glaubensgemeinde am Beispiel der Living Generation Church in Hamburg, in: Etzelmüller, Gregor/Rammelt, Claudia (Hg.), Migrationskirchen. Internationalisierung und Pluralisierung des Christentums vor Ort, Leipzig 2021, 405–418. Kirby, Jon P. (Hg.), Afua Kuma. The Surprising African Jesus. The Lost Prayers and Praises of Afua Kuma, Eugene 2022. Kirby, Jon P., Introduction, in: Jon P. Kirby (Hg.), Afua Kuma. The Surprising African Jesus. The Lost Prayers and Praises of Afua Kuma, Eugene 2022, 1–19 Kuma, Afua, Jesus of the Deep Forest. Prayers and Praises of Afua Kuma, Accra 1981. (Der Originaltext in Twi ist abgedruckt in: Jon P. Kirby (Hg.), Ayeyi ne Mpaebo. Kwaebirentuw Ase Yesu, Accra 1981.)

Mburu, Elizabeth, African Hermeneutics, Carlisle 2019. Omerzu, Heike/Müller, Mogens (Hg.), Gospel Interpretation and the Q-Hypothesis (The Library of New Testament Studies. 573), London 2018.

Rezeptionshorizonte und Bibeltexte im interkulturellen Dialog

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Rabens, Volker, Inspiring Ethics: A Hermeneutical Model for the Dialogue Between Biblical Texts and Contemporary Ethics, in: Ders. u. a. (Hg.), Key Approaches to Biblical Ethics. An Interdisciplinary Dialogue, Leiden/Boston 2021, 80–126. Schmeller, Thomas, Der zweite Brief an die Korinther, EKK VIII/1 (2 KOR 1,1–7,4), Göttingen 2020. Zenger, Erich, Die Entstehung des Pentateuch, in: Ders. u. a. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament (Kohlhammer Studienbücher Theologie Band 1,1), Stuttgart 42001, 87-122.

https://academic.logos.com/african-hermeneutics-extensive-interview-with-elizabethmburu/

Feministische und queertheologische Exegese in interkultureller Perspektive Claudia Janssen

Die Anfänge wissenschaftlicher feministischer Bibelauslegung liegen in den späten 1970er Jahren mit dem Schwerpunkt auf der Rekonstruktion vergessener oder unsichtbar gemachter Geschichte von Frauen und ihren Lebenswirklichkeiten in biblischer Zeit. 1 Es ging dabei allerdings nicht nur um die „großen Frauen der Bibel“ oder die vermeintliche „Frauenfreundlichkeit“ oder „Frauenfeindlichkeit“ einzelner biblischer Schriften. Sondern Ausgangspunkt feministischer Theologien waren von Anfang an auch Einsichten in die strukturelle Ungleichbehandlung von Frauen und Männern in Gegenwart und Geschichte, Erfahrungen von Diskriminierung in Gesellschaft, Kirchen und in wissenschaftlichen Diskursen. Diese beruhen auf Analysen herrschender Geschlechterkonstruktionen, die als Teil eines komplexen Geflechts von Macht-, Ausgrenzungs- und Unterdrückungsstrukturen verstanden werden.2 Von Beginn an waren Theolog:innen aus asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Ländern an der Entwicklung feministischer Theologien beteiligt, doch war die erste Phase stark geprägt von nordamerikanischen und europäischen Wissenschaftler:innen, die die Diskussion prägten. Durch den Anspruch der Kontextualität sind im feministisch-theologischen Diskurs die Vielfalt der Zugänge und damit auch Kontroversen grundlegend angelegt, die ein homogenes „Wir“ der Frauen schon seit den 1980er Jahre in Frage stellten. So waren es jüdische Theolog:innen, die in den frühen 1990er Jahren eine wichtige Debatte über den Antijudaismus in der christlichen Theologie anstießen, den auch feministische Theologien unreflektiert weitertrugen und ihren Ansätzen zugrunde legten – wie z. B. in dem Bild Jesu, der Frauen aus dem patriarchalen Judentum befreite. 3 Insbesondere Stimmen aus dem globalen Süden machten immer wieder darauf aufmerksam, dass Gerechtigkeitsfragen je nach Kontext

1 2 3

Zum Folgenden vgl. Claudia Janssen, Feministische Exegese (NT), in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WibiLex), 2018, (Zugriffsdatum: 31.08.2022). Zum Konzept der Kyriarchatsanalyse vgl. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Weisheitswege. Eine Einführung in feministische Bibelinterpretation, Stuttgart 2005. Vgl. Judith Plaskow, Blaming Jews for Inventing Patriarchy, in: Lilith 7 (1980), 11–12; Judith Plaskow, Feministischer Antijudaismus und der christliche Gott, in: KuI 5/1 (1990), 9–25; Susannah Heschel, Gegentraditionen entdecken. Jüdische feministische Theologie, in: Schlangenbrut 51 (1995), 9–10.

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unterschiedlich betrachtet werden müssen.4 Diese vielfältigen kritischen Diskussionen sind als Stärke feministischer Theologien zu verstehen, da diese stets herausgefordert sind, sich immer wieder neu selbstkritisch mit den eigenen Voraussetzungen und den sie prägenden Kulturen und Herrschafts- und Machtstrukturen auseinanderzusetzen und sich zu verändern. Seit den späten 1990er Jahren sind eine Reihe von Standardwerken erschienen,5 die die bis dahin oft nur in Einzelveröffentlichungen zugängliche Forschung in Kompendien und Kommentarwerken zusammenfassen. Seit Mitte der 2010er Jahren erscheinen neue Überblickswerke im Bereich feministischer Exegese und feministischer Bibelhermeneutik, die diese Forschungen weiterführen. Diese Veröffentlichungen zeigen, dass sich feministische Exegese im Blick auf die methodische Vielfalt der Veröffentlichungen und Ausdifferenzierung der Ansätze in den letzten Jahrzehnten exponentiell entwickelt hat, vor allem auch hinsichtlich der Vielzahl der Forschenden in diesem Bereich. Zugleich sind die Veröffentlichungen Ausdruck eines international zu konstatierenden Anspruchs, feministische Bibelauslegung bzw. theologische Geschlechterforschung als Querschnittsdimension exegetischer Arbeit an biblischen Texten zu etablieren. Aktuell ist feministische Exegese ein theoretischer Zugang zum multidisziplinären Feld der theologischen Genderstudies, die die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschlechterdifferenz mit feministischen Anliegen verbindet. In den meisten aktuellen Entwürfen wird das Konzept der Intersektionalität genutzt, um die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Machstrukturen, biblischen Texten und hegemonialen Auslegungsdiskursen zu analysieren. So werden auch Ergebnisse der Gender- und Queerstudies und postkolonialer Theorien aufgenommen und für die Exegese fruchtbar gemacht. Im Folgenden werde ich zeigen, welche Herausforderung die Rezeption postkolonialer Ansätze und queerer Theorie für die Weiterentwicklung feministischer Theologien bildet. Zunächst werden die Anfragen postkolonialer Theorien anhand der Arbeiten von Musa Dube herausgearbeitet. Dann wird es um das Verständnis von Queer-theory in der Theologie von Marcella Althaus Reid gehen. Abschließend soll nach den Möglichkeiten und Bedingungen für eine dekolonisierende Bibellektüre im Kontext des globalen Nordens gefragt werden, die auch aktuelle gender- und queertheologische Sichtweisen integriert.

4 5

Vgl. u. a. Renate Jost/Ursula Kubera (Hg.), Befreiung hat viele Farben. Feministische Theologie als kontextuelle Befreiungstheologie, Gütersloh 1991. Vgl. Claudia Janssen, Aktuelle Entwicklungen im Bereich Feministischer Bibelauslegung und Feministischer Hermeneutik. Forschungsüberblick mit dem Schwerpunkt: Paulusforschung. Ein Essay, in: ThR 83 (2018), 189–216.

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1.

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Anfragen postkolonialer Theorien an eine eurozentrische (feministische) Exegese

Kritische Anfragen aus postkolonialer Perspektive stellen (feministische) Theologien aktuell vor die Herausforderung, ihre eigenen theoretischen Annahmen von biblischer Hermeneutik und angemessenen Methoden der Auslegung grundsätzlich in Frage zu stellen. Es geht diesen nicht nur darum, durch den kolonialen Prozess marginalisierte Stimmen zu Gehör zu bringen, sondern auch nach den methodischen Grundlagen und Ausschlusskriterien des wissenschaftlichen Diskurses zu fragen. Postkoloniale Theologien problematisieren das Deutungsmonopol westlicher Wissenschaft und kritisieren, dass die Bibel bei der Kolonisierung und Missionierung als Machtinstrument missbraucht wurde. Dies sei durch eine westlich dominierte Art der Exegese ermöglicht worden, die historische Arbeit auf den griechisch-römischen Kulturkreis beschränke und eine möglichst „objektive“ Auslegung mit Blick auf den Abfassungskontext zum Ziel habe.6 Eine wichtige Stimme in diesem Diskurs, die die bleibende kolonialisierende Ideologie in akademischen Bibelwissenschaften kritisiert, ist die aus Botswana stammende Theologin Musa Dube. Sie ist eine der wichtigen postkolonialen Exeget:innen weltweit, die feministische Theologie und postkoloniale Analyse in ihren Auslegungen verbindet. Sie kritisiert, dass auch feministische Exegese weiterhin unreflektiert auf Methoden zurückgreift, die allein auf dem Wissenskanon des globalen Nordens und dessen hegemonialer Logik beruhen.7 Aus ihrer Sicht reiche es nicht aus, frühchristliche Geschichte als Frauengeschichte zu rekonstruieren. „I argued that our commitment to liberation is wanting if it does not pay equal attention to imperialism and how imperialism is manifested in the texts. In my conclusion, I suggested, among other things, that feminist biblical readers should endeavor to also become decolonizing readers given that patriarchal resistance does not always translate into a decolonizing reading.”8 Sie for-

6

7 8

Vgl. Musa Dube, Postkolonialität, Feministische Räume und Religion, in: Andreas Nehring/Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Religionskulturen Bd. 11, Stuttgart 2013, 91–111; Kwok Puilan, Postcolonial Imagination and Feminist Theology, Louisville 2005; Andreas Nehring/Simon Wiesgickl, Postkoloniale Interpretationen biblischer Texte, in VF58/2 (2013), 150-157. Vgl. Musa Dube, Postcolonial Feminist Interpretations of the Bible, St Louis 2000. Musa Dube, Boundaries and Bridges. Journey of a Postcolonial Feminist in Biblical Studies, in: Ulrike Auga u. a. (Hg.), Widerstand und Visionen – der Beitrag postkolonialer, postsäkularer und queerer Theorie zu Theologie und Religionswissenschaften, Journal of the European Society of Women in Theological Research 22, Leuven u. a. 2014, 139–156, hier: 150.

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dert auch Feminist:innen des globalen Nordens auf, ihre Exegese zu dekolonisieren, um den Imperialismus, der aus ihrer Sicht den Texten innewohne, zu entlarven und sich aktiv kolonisierenden Lesarten entgegenzustellen. Musa Dube wuchs in einer Zeit auf, in der Botswana seine Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht erlangte. Als Christin musste sie sich oft gegenüber ihren politischen Mitstreiter:innen dafür rechtfertigen, dieser Religion zuzugehören und sich weiterhin mit der Bibel zu beschäftigen. „Debating societies demanded to know why the biblical texts and its Western readers were instruments of imperialism and how we, as black Africans, justify our faith in a religion that has betrayed us – a religion of the enemy, so to speak”,9 schreibt sie in der Einleitung ihrer Dissertation zu feministischer postkolonialer Theologie. Dieser geschichtliche Prozess müsse stets beachtet werden, um die kritische Haltung zur Bibel zu verstehen, die viele postkolonial geprägte exegetische Entwürfe ausdrücken, so Tania Oldenhage: „Auch wenn es sich bei den ‚postcolonial studies‘ um einen akademischen Diskurs handelt, ist der politische Zusammenhang, aus dem heraus dieser Diskurs entstand, immer mitzubedenken. Die ‚postcolonial studies‘ sind eine Folge der Befreiungskämpfe und Widerstandsbewegungen, die sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts gegen die europäischen Kolonialmächte richteten. Im Zuge der damit verbundenen Veränderungsprozesse kam das ungeheure Ausmaß kolonialer Gewalt mit ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Konsequenzen zum Vorschein.“10 Auch der aus Sri Lanka stammende britische Theologe Rasiah S. Sugirtharajah betont diesen Aspekt. Wirkungsgeschichtlich habe die Bibel Menschen in kolonisierten Ländern oftmals mehr geschadet als geholfen. „Was wichtig ist, ist sich bewusst zu sein, dass die Bibel Elemente der Knechtschaft und Befreiung beinhaltet. Was die postkoloniale Bibelkritik versucht, ist diese Ambivalenz sichtbar und klar zu machen und zu zeigen, dass die Bibel eher ein Teil des Rätsels ist, als ein Patentrezept für all die Krankheiten der postmodernen Welt.“11 Postkoloniale Theologien selbst beziehen sich deshalb auch auf mündliche Traditionen und Überlieferungen ihrer Herkunftsländer, um biblische Texte zu interpretieren und sie sich neu anzueignen. Musa Dube versteht diese Art der Kontextualität als wichtigen Baustein einer postkolonialen feministischen Exegese. Auch während der Kolonialzeit habe es Gemeinden gegeben, die ihre Form des Widerstands entwickelten, indem sie die Bibel in Verbindung mit ihren afrikanischen Kulturen lasen. So entstanden hybride Formen der Religionsaus9 10 11

Dube, Postcolonial Feminist Interpretations, 4. Tania Oldenhage, Postcolonial Studies, in: Das Wissenschaftlichew Bibellexikon im Internet (WibiLex), 2022, (Zugriffsdatum: 20.4.22). Rasiah S. Sugirtharajah, Konvergente Trajektorien? Befreiungshermeneutik und postkoloniale Bibelkritik, in: Andreas Nehring/Simon Tielesch(Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Religionskulturen Bd. 11, Stuttgart 2013, 51–69, hier: 66.

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übung, die sich dem kolonialen Ansatz widersetzten, der die einheimischen Traditionen als rückständig und primitiv verwarf. Darauf aufbauend machte sie sich auf die Suche nach dekolonisierenden feministischen Interpretationsmöglichkeiten der biblischen Texte und verbrachte Zeit mit kleinen Hausgemeinden, in denen sie den Text lasen, erzählten, sangen, tanzten und in Szene setzten. Vieles blieb auch für sie unverständlich und offen in der Deutung: „I had entered other boundaries of reading the text, outside the realm of western academic biblical studies halls. This approach was an attempt at shifting the voices of authority by crossing the accepted academic boundaries of the reader, to hear Other interpretations.”12 Musa Dube hat es sich zur Aufgabe gemacht, in ihren Arbeiten Stimmen von Frauen aus unterschiedlichen Traditionen und Religionen hörbar zu machen und neu zu interpretieren. Sie geht davon aus, dass nach wie vor Imperialismus und Kolonialismus eine allgegenwärtige Wirklichkeit darstellen, die auch wissenschaftliche Diskurse präge. So richtet sie sich in ihren Veröffentlichungen nicht nur an den akademischen Kontext, sondern blickt vor allem darauf, „andere Wege, die Bibel zu lesen“ zu finden, wie der Titel eines von ihr herausgegebenen Buches lautet, das Bibellektüre- und Interpretationspraktiken von Frauen in Afrika behandelt. 13 Es entstand im Kontext eines Netzwerks, dem Circle of Concerned African Women Theologians. „‚Other Ways of Reading: African Women and the Bible‘ […] became a book. In this volume, I worked with various members of the Circle of Concerned African Women Theologians to challenge and cross the theoretical and methodological boundaries of biblical studies.“14 So werden in die Auslegungen afrikanische Volksmärchen integriert, Erzähltechniken, Poesie, und die Geschichte kolonialer Erfahrungen. Dieses Projekt zeigt auf der einen Seite, dass Theorien und Methoden des Lesens selbst kontextspezifisch sind, auf der anderen, wie komplex die Wirkung des Kolonialismus und dessen imperiale Strukturen bis in die Gegenwart sind und sowohl im wirtschaftlichen als auch im kulturellen Neoimperialismus weiterleben. Denn Kolonialismus bedeutet weit mehr als nur die Fremdherrschaft einer Nation über eine andere.15 Bis heute durchdringt das kolonisierende Denken sowohl die Institutionen der (ehemals) Kolonisierten als auch das Selbstverständnis der Nachkommen der Kolonisator:innen und deren Institutionen. Dieses beruht grundlegend – und oft unreflektiert – auf der Vorstellung der Überlegenheit der eigenen Kultur, „race“ und Wissenschaft und bestimmt bis heute maßgeblich auch das theologische Denken. Musa Dube macht die Bedeutung des Feminismus im Rahmen dieses Postkolonialismus-Diskurses deutlich: Zum einen geht es ihr darum, zu verstehen, wie 12 13 14 15

Dube, Boundaries, 151. Vgl. Dube, Musa, Other Ways of Reading. African Women and the Bible, Atlanta 2000. Dube, Boundaries, 153. Vgl. Dube, Postkolonialität, 92.

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die Genderbeziehungen in postkolonialen Räumen gestaltet sind, um dann schließlich dekolonisierende, feministische Befreiungsstrategien für die Frauen des globalen Südens zu entwickeln. „Feminismus, so wie er hier verstanden wird, bedeutet eine weltweite politische Bewegung von Frauen und Männern, die versucht, das Bild der Frauen als zweitklassige Bürger innerhalb ihrer Gesellschaften zu verstehen und einen Wandel in Gang zu setzen, der ihnen in ihrem Kontext wieder einen Platz als vollwertige Menschen gibt.“16 Ihr Blick richtet sich darauf, was Empowerment für Frauen in der Diversität der postkolonialen Räume bedeutet. Denn Frauen haben die Auswirkungen des Kolonialismus in besonderer Weise zu tragen, da durch die Kolonisation die Stärkung indigener patriarchaler Systeme stattgefunden hat und auch ursprünglich flexible Gendersysteme abgewertet und verdrängt wurden. Ein Aspekt, der ihr besonders wichtig ist, ist Christentum und indigene Religionen nicht als konkurrierende Gegensätze zu verstehen, sondern als einvernehmliche Traditionen, die sich gegenseitig bereichern. So werde die Hybridität zu einer dekolonisierenden feministischen Strategie, da sie die unterdrückenden patriarchalen Forderungen des Imperialismus als auch des Nationalismus untergrabe.17 „A postcolonial feminist reading thus seeks to work at the crossroads of various traditions in a hybrid space.”18 Wie produktiv diese Perspektive für neutestamentliche Hermeneutik ist, zeigt in besonderer Weise ihre Auslegung von Mk 5,21–43, der Erzählung Heilung der Tochter des Jairus, die Musa Dube aus feministischer, postkolonialer und HIV/AIDS-Perspektive liest. 19 Im Folgenden sollen vor allem die hermeneutischen Voraussetzungen und Lesestrategien betrachtet werden: Konkreter Hintergrund für das Markus-Evangelium ist nach Dube die Situation im Imperium Romanum, in dem die Lebensbedingungen eines kolonisierten Landes sowie die Anpassungs- und die Widerstandsstrategien der Besatzungsmacht gegenüber sichtbar werden. Eine ihrer Grundannahmen lautet, „dass das Lesen eines Textes eine Weise ist, die Welt zu lesen, und dies nicht nur, um die Welt zu verstehen, sondern auch sie zu verändern, und zwar […] sie zum Besseren zu verändern.“20 In diesem Zusammenhang versteht sie Gender als zentrale Analysekategorie, um den Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit auf die Spur zu kommen und liest die Texte mit den Erfahrungen mit HIV/AIDS, die Realität in vielen afrikanischen Ländern sind. Sie will dabei zum einen die historische Realität des Imperiums und Kolonialismus unterschiedlicher Zeiten sichtbar ma-

16 17 18 19 20

Dube, Postkolonialität, 94. Vgl. a. a. O., 111. Dube, Boundaries, 154. Musa Dube, Markus 5,21–43 in vier Lektüren. Narrative Analyse – postcolonial criticism – feministische Exegese – HIV/AIDS, in: ZNT 17/33(2014), 12–23. A. a. O., 12.

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chen und zum anderen das Widerstandspotenzial des Textes aufdecken: in Gestalt einer dekolonialisierenden feministischen Lektüre. Wie Imperialismus auf Frauen und Männer einwirkt, ist dabei ihre Grundfrage. Für Musa Dube bietet die Lektüre von biblischen Texten die Möglichkeit des Geschichtenerzählens und damit der Partizipation an gegenseitigen individuellen und sozialen Heilungsprozessen.21 Sie liest das gesamte Kapitel Mk 5, die Austreibung der Dämonen in Gerasa (die Austreibung der Legion in die Schweineherde), die Reaktionen der dort Lebenden, die Erzählung von der blutenden Frau und die Heilung der Tochter des Jairus mit Blick auf die im Hintergrund stehende Mutter des Kindes als zusammengehöriges postkoloniales Narrativ von Widerstand, Kollaboration und der Suche nach Gerechtigkeit: „Eine postkoloniale und feministische Lektüre von Mk 5,21–43 im Horizont von HIV/AIDS sucht nach dem Schnittpunkt von internationalen Beziehungen, Ungleichheit der Geschlechter und dem Kampf gegen HIV/AIDS, um etablierte Unterdrückungsstrukturen namhaft zu machen und eine neue Geschichte des Aufstehens vom Tod zu erzählen.“22

2.

Queer-theologische Herausforderungen

„Queer“ ist ein Ausdruck, der mit „schräg“ oder „seltsam“ übersetzt werden kann und war ursprünglich ein Schimpfwort, eine abwertende Bezeichnung für homo- und bisexuelle Menschen. Doch der Begriff wurde durch eine Bewegung selbstbewusst umgedeutet, die sich politisch aktiv für ihre Rechte einsetzt: „We are queer, we are here“. Als queer werden alle sexuellen Orientierungen bezeichnet, die heteronormativen Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität nicht entsprechen. Als queer bezeichnen sich auch Menschen, die sich nicht eindeutig den Kategorien lesbisch, schwul, bisexuell oder trans* zuordnen wollen. Aus dieser Bewegung entwickelten sich dann queere Theorien, ursprünglich im Bereich schwul-lesbischer und feministischer Forschung, jedoch lässt sich queer nicht exakt theoretisch definieren, sondern entzieht sich allen Festschreibungen: „Queer soll verstören, anstatt theoretische, methodische oder disziplinäre Sicherheiten zu schaffen. Das kann und soll sich auch auf das eigene Denken beziehen. Entsprechend war ein Definieren und ein Festklopfen von Begriffen nie Sache der Queer Studies.“23 So erläutert es die Soziologin Nina Degele und führt weiter aus: „Ihr Ziel besteht vielmehr darin, Normalitäten sowie daran geknüpfte Mechanismen und Prozesse gesellschaftlicher Normierungen und Ausschlussmechanismen sichtbar zu machen und zu kritisieren.“ 21 22 23

Vgl. Dube, Markus 5,21–43, 13. A. a. O., 21. Nina Degele, Gender/ Queer Studies. Eine Einführung, Basel u. a. 2008, 11–12.

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Queer-Theorien stellen alles in Frage, was gesellschaftlich als „normal“ oder „natürlich“ angesehen wird. Sie machen sichtbar, wie sich Machtfragen mit Körper und Sexualität verbinden und bestimmend dafür sind, was in einer Gesellschaft als „normal“ oder „natürlich“ gilt – und was nicht zur Ordnung gehört. So sind queere Aktionen kreativ und immer auch provokativ, sie wollen im positiven Sinne verunsichern, um neue Sichtweisen zu ermöglichen. Queer-Theorien gehen davon aus, dass es keine stabilen Identitäten oder Subjektivitäten gibt und verfolgen das Ziel, Identitätskategorien in Frage zu stellen, gesellschaftliche Normalisierungs- und Naturalisierungsprozesse aufzudecken und umzukehren. Queer-Theorie ist damit weniger ein festgefügtes Konzept als vielmehr eine Haltung, die herausfordert, Grundannahmen in Frage zu stellen, Machtdynamiken zu thematisieren und sich ihnen – oft auch auf kreative oder verstörende Weise – entgegenzustellen. Diese Haltung prägt auch den Ansatz der aus Argentinien stammenden Theologin Marcella Althaus-Reid. Eines ihrer Bücher trägt den Titel „Indecent Theology“, dessen Untertitel programmatisch deutlich macht, was sie darunter versteht: theologische Perversionen in Sex, Gender und Politik. In der Einleitung erklärt sie, dass sie mit ihrer „unanständigen Theologie“ moralische Ordnungen herausfordern will, um auf das Geflecht von Sexualität, Ökonomie, Ausbeutung und Gewalt aufmerksam zu machen. Sie beginnt mit einem Auszug aus einem Roman der mexikanischen Schriftstellerin Josefina Estrada, in dem ein Dialog zwischen einer Prostituierten und zwei Polizisten wiedergegeben wird. Darin wird sie von diesen kritisiert, weil sie ohne Unterwäsche das Haus verlässt. „Ich bin sexy. Was soll ich dagegen tun? - Dies ist ein Mangel an Respekt gegenüber der Moral - sagte einer der Polizisten.“24 Der Gedanke, dass eine Frau, die ohne Unterwäsche ihr Haus verlässt, eine moralische Ordnung verletzen könnte, führt Marcella Althaus-Reid dazu, weitere Fragen zu stellen: „Soll eine Frau ihre Unterwäsche auf der Straße anbehalten oder nicht? Soll sie sie ausziehen, sagen wir, wenn sie in die Kirche geht, als eine intime Erinnerung an ihre Sexualität in Beziehung zu Gott? […] Und welchen Unterschied würde es machen, wenn sie sich hinsetzt, um Theologie ohne Unterwäsche zu betreiben?“25 In ihrem inneren Gespräch, in dem sie die Handlung des Buches von Josefina Estrada weiterdenkt, vergleicht sie eine Zitronenverkäuferin, die ohne Unterwäsche ihr Haus verlässt mit einer argentinischen Theologin und überlegt, was beide verbindet. Neben allen Unterschieden erfahren beide alltäglich patriarchale Unterdrückung, die sich in einer auf ihr Geschlecht bezogenen Vorstellung von Anständigkeit und Moral ausdrückt. „Die Zitronenverkäuferin, die auf der 24

25

Die folgenden Übersetzungen stammen aus dem Artikel: Marcella Althaus-Reid, Unanständige Theologie. Theologische Perversionen von Sex, Gender und Politik, Übersetzung von Christina Leisering, in: Schlangenbrut 75 (2001), 13–15. (im Original: Marcella Althaus-Reid, Indecent Theology. Theological Perversions in Sex, Gender and Politics, London/New York 2000, 1–2). Ebd.

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Straße sitzt, ist vielleicht in der Lage, ihr Geschlecht zu fühlen; ihr moschusartiger Geruch könnte mit dem ihres Zitronenkorbes vermischt sein, in einer Metapher, die Sexualität und Ökonomie zusammenführt.“ Ist es für eine Theologin anders? „Sie behält vielleicht ihre Unterwäsche an, im Augenblick des Gebets oder während sie über Erlösung nachdenkt; und dann mischt sich der Geruch ihres Geschlechts nicht mit Fragen der Theologie und Ökonomie.“ Denn, so folgert Marcella Althaus-Reid: „Theologie ohne Unterwäsche zu betreiben mag sogar gesetzlich strafbar sein, wer weiß. Eine Tat grober Unanständigkeit, wie die der Prostituierten, wie sie von Josefina Estrada beschrieben wird…“ Sie selbst will sich als Theologin will nicht länger in eine moralische Ordnung fügen, die auf einer heterosexuellen Konstruktion der Realität basiert. Denn diese bestimme nicht nur das soziale Miteinander, sondern auch alle ökonomischen Beziehungen. „Die argentinische Theologin möchte ihre Unterwäsche ausziehen, um mit feministischer Ehrlichkeit Theologie zu betreiben, ohne zu vergessen, was es heißt, eine Frau zu sein, wenn sie theologische und politische Kategorien behandelt. Ich werde eine solche Theologin ‚unanständig‘ und ihre Theologie ‚unanständige Theologie‘ nennen.“ „Unanständige Theologie“ ist für sie eine Theologie an der Kreuzung von Befreiungstheologie und queerem Denken, das ökonomische Ungerechtigkeit mit Leidenschaft und Verwegenheit reflektiert und alles in Frage stellt, was als „ordentlich“ und „anständig“ gilt. Marcella Althaus-Reid (1952–2009) war eine der ersten Theolog:innen, die das Thema Sexualität mit einem queer-theoretischen Ansatz ins Zentrum ihrer Forschung stellten. Sie stammte aus Argentinien und lehrte als Professorin für Kontextuelle Theologie am New College, University of Edinburgh. Geprägt war sie von lateinamerikanischen Befreiungstheologien, die seit den 1960er Jahren im Widerstand gegen autoritäre Regime und Militärdiktaturen entwickelt wurden. Die befreiungstheologischen Entwürfe der ersten Generation und ihre praktischen Projekte waren eine Reaktion auf die Verelendung großer Bevölkerungsschichten, deren Leben von Armut, Angst und Hoffnungslosigkeit bestimmt waren. Befreiung war aus ihrer Sicht das durchgehende Hauptthema der Bibel, und Arme und Unterdrückte die zentralen Adressat:innen dieser Botschaft. Marcella Althaus-Reid beschreibt diesen Kampf gegen die ungerechten Strukturen als Liebesbeziehung zum Leben. Dass diese Liebesaffäre gefährlich war, zeige die Liste der Ermordeten und Verschwundenen in der Zeit der Militärdiktaturen: “We could use a sexual metaphor to describe that passionate commitment which risked so much for the love of a God of Justice: the illicit lovers who risk everything for a furtive embrace, […] because their desire is intense, and carries that of life itself.“26 Theologie ist für sie das Produkt einer leidenschaftlichen, riskanten Liebesaffäre mit Gott. Marcella Althaus-Reid war Feministin und versteht ihre Theologie als Weiterentwicklung dieser Tradition von Befreiungstheologie und deren Option für 26

Althaus-Reid, Indecent Theology, 125.

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die Ausgegrenzten, für die historisch Unbedeutenden, die keiner sozialen, politischen oder theologischen Bedeutung für würdig erachtet wurden.27 Doch ihr Blick auf diese Menschen ist ein anderer, weiterer als der der Befreiungstheologie der ersten Generation. Sie schaut auf die Prostituierten, Frauen, Mädchen und Jungen, die oft aus der Not heraus ihre Sexualität verkaufen müssen und Menschen, deren Identitäten von heterosexuellen gesellschaftlichen Normen als randständig definiert werden: Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans-Personen, Intersexuelle. Sie kritisiert, dass im lateinamerikanischen Befreiungsdiskurs „die Armen“ als einheitliche Größe gesehen werden, oftmals idealisiert, ohne genau zu fragen, welche unterschiedlichen Menschen sich dahinter verbergen. So hätten sich z. B. Indigene nicht angemessen repräsentiert gefühlt und Frauen kaum eine Rolle gespielt. Für sie sind Queer-Theologien das Ergebnis eines komplexen theologischen Nachdenkens darüber, was die unterschiedlichen Erfahrungen von Geschlecht und Sexualität für das Verständnis von Gott, Liebe und Gemeinschaft bedeuten. Queer-Theologien seien ein Weg, die Diversität der gesellschaftlichen Wirklichkeiten zu erfassen, denn diese stellten das sexuelle Subjekt in das Zentrum und befreiten es aus dem heteronormativen Ordnungsdenken. Queer-Theologie, wie sie versteht, ist eine Befreiungstheologie, die auf einer kritischen Reflexion über vielfältige Identitätskonstruktionen basiert: „Sie ist eine kritische Theologie, die das Element zur Sprache bringt, das alle Diskurse und öffentlichen Schlachten der Kirche beherrscht: die Sexualität. Sie sollte keine Theologie der ‚sexuellen Inklusivität‘, sondern der Unterschiedlichkeit sein. Sie ist ein Aufruf zur Entwicklung einer queeren, christuszentrierten Theologie des Nachdenkens und Handelns, ein Aufruf zu einem sozial engagierten und verwandelten Jüngersein inmitten jener mächtigen ideologischen Aussagen, die sich in Rasse, Geschlecht, Sexualität und Klasse ausdrücken und frühere christliche Theologien durchdrungen haben.“28 Zentral ist für sie das Merkmal der Dialogizität: „Queer theology is a theology of alliances in agreement with their own diversity, in a consensual loving dynamic.”29 Dabei ist es grundlegend, stets von den eigenen sexuellen Geschichten auszugehen: „We lift God’s skirts only after having lifted our own.“30 Indem wir „unsere Röcke heben“, erinnern wir uns an unsere eigene Identität im Moment des Theologietreibens, so Althaus-Reid. Das sei grundlegend auch für die Weiterentwicklung feministischer Theologien, diese sollten Sexualität zum 27

28 29

30

Zum Folgenden vgl. Marcella Althaus-Reid, Queer-Theorie und Befreiungstheologie. Der Durchbruch des sexuellen Subjekts in der Theologie, Concilium 44/1 (2008), 83–97. A. a. O., 95. Marcella Althaus-Reid, Queer I Stand. Doing Feminist Theology Outside the Borders of Colonial Decency, in: Charlotte Methuen/ Angela Berlis (Hg.), Befreiung am Ende? Am Ende Befreiung! Feministische Theorie, feministische Theologie und die politischen Implikationen, Jahrbuch der ESWTR 10, Leuven 2002, 23–36, hier: 33. Ebd.

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Thema machen, um auf heteronormative Strukturen in der Theologie, der theologischen Sprache und kirchlichen Kontexten aufmerksam zu machen: „The first indecent act of the theologian is that recognition that no matter the metaphor you use, theology has been and will remain a sexual praxis.“31 Niemand sei neutral in diesem Zusammenhang. Darum sei es wichtig, in der Theologie Position zu beziehen, eine sexuelle Position. Auf der praktischen Ebene müsse sexuelle Gleichberechtigung in der Kirche für queere Menschen verwirklicht werden, um auch Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transpersonen und Intersexuellen einen Raum der Teilhabe zu ermöglichen. Doch vor allem geht es ihr darum, sichtbar zu machen, dass Heterosexualität als Ideologie zentral die Theologie bestimmt, auch feministischen Theologien, ohne dass diese wahrgenommen und auf ihre Wirksamkeit und Bedeutung für das Gottesbild, für Gottesebenbildlichkeit und Christologie analysiert wurde. Deshalb verwendet sie sexuelle Metaphern für Gott, die nicht heterosexuell geprägt sind: „And that is why for me, a queering theology is an encounter between strangers and a pursuit of God the stranger. God is also queer, perhaps the first queer of all. Doing feminist theology, then, is an act defined in relation to that sexual act of standing critically in relation to heterosexual ideology.”32 In dem Abstract am Ende des Artikels „Queer I stand” werden die Dimensionen ihres Anliegens auf den Punkt gebracht: „Die Destabilisierung heterosexueller Ideologien in der Theologie ist ein Projekt, das uns zu dem radikalen sexuellen, politischen und ökonomischen Denken führt, das die Theologie im Kontext entmenschlichender Prozesse des Neoliberalismus und der Globalisierung dringend braucht.“33

3.

Perspektiven: Decolonize theology

Postkoloniale und queere Theologien stellen aus ihrer jeweiligen Perspektive kritische Anfragen an das Selbstverständnis theologischen Denkens, nicht nur in ihrem eigenen Kontext, sondern vor allem auch an das Wissenschaftsverständnis des globalen Nordens. Die beiden vorgestellten Entwürfe von Musa Dube und Marcella Althaus-Reid richten ihre (Selbst-)Kritik auch an feministische Theologien und machen darauf aufmerksam, dass auch diese meist unreflektiert auf Denkweisen zurückgreifen, die Herrschaftsstrukturen legitimieren und immer neu festschreiben. So fordert Musa Dube Feminist:innen des globalen Nordens auf, ihre Exegese zu dekolonisieren und sich aktiv kolonisierenden Lesarten entgegenzustellen. „Wie affiziert Imperialismus Frauen und Männer?“34 31 32 33 34

A. a. O., 25. A. a. O., 28. A. a. O., 36. Dube, Markus 5,21–43, 12.

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Diese Frage stelle sich nicht nur ehemals Kolonisierten, sondern ebenso den Nachkommen der Kolonisator:innen, die die Vorstellung einer Überlegenheit ihrer eigenen Kultur und ihres Denkens internalisiert hätten. Ebenso grundlegend ist die Anfrage der queeren Theologie von Marcella Althaus-Reid, die Heteronormativität als Ideologie entlarvt, die jegliches theologische Denken bestimme. Sie ermutigt (feministische) Theolog:innen, Sexualität bewusst ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. Es gäbe keine Neutralität in dieser Frage, alles theologische Denken sei sexuell bestimmt und habe in der Vergangenheit vor allem dazu geführt, Menschen, die der heterosexuellen Norm nicht entsprechen, zu „Anderen“ zu machen, sie auszugrenzen und damit auch die Theologie in den Dienst einer heteronormativen Herrschaftsideologie zu stellen. Als Neutestamentlerin, die mit einem intersektionalen Ansatz arbeitet, nehme ich diese theologischen Entwürfe als Bereicherung für die feministische Exegese und Perspektivenerweiterung wahr. Zugleich verstehe ich die grundlegenden Anfragen, die sie stellen, als Herausforderung, die Voraussetzungen meines wissenschaftlichen Arbeitens einer kritischen Revision zu unterziehen. Wie kann eine Exegese im Kontext des globalen Nordens aussehen, die postkoloniale und queer-theologische Sichtweisen integriert? Ich möchte zunächst mit persönlichen Beobachtungen beginnen, die ich im Rahmen meiner wissenschaftlichen Tätigkeit als Professorin für Neues Testament und Theologische Geschlechterforschung an einer evangelischen kirchlichen Hochschule mache. Feministische, postkoloniale und queere Ansätze besitzen in der gegenwärtigen theologischen Diskussion immer noch eine Randexistenz, auch wenn ihre Relevanz zunehmend wahrgenommen wird. Unter Studierenden erlebe ich ein großes Interesse an Genderfragen und kontextuellen Theologien, doch nehme ich wahr, dass auch sie unterscheiden zwischen der Theologie und weiteren Aspekten, die diese bereichern und ergänzen. Dass eine eurozentrische, von kolonialem Denken geprägte heteronormative Perspektive Standard ist und sich spätestens im Examen tief in das erlernte Wissen einschreibt, ist leider sehr schwer zu überwinden – auch wenn zumindest eine feministische Veranstaltung im Grund- und eine im Hauptstudium zur Studienordnung an unserer Institution und auch offiziell zum Grundwissen im Theologischen Examen gehört. Im deutschsprachigen Bereich steht die Entwicklung queerer Theologien35 und insbesondere queerer Exegese noch in den Anfängen. Bisher gibt es nur wenige Veröffentlichungen.36 Postcolonial-Studies haben vor 35 36

Vgl. Kerstin Söderblom, Queer theologische Notizen, Esuberanza (Niederlande) 2020. Eine Einführung bieten Hedi Porsch, Queer Theologie. Geschichte – Themen – Chancen, in: Michael Brinkschröder u. a. (Hg.), Schwule Theologie. Identität – Spiritualität – Kontexte, Stuttgart 2007, 85–101; Karin Hügel, Queere Lesarten der Hebräischen Bibel. Das Buch Ruth und die Schöpfungsberichte, in: Journal of the European Society of Women in Theological Research 18 (2010) 173–192. Der 2006 von Daryn Guest u. a. herausgegebene „Queer Bible Commentary“ gibt einen Überblick über die Anfänge queerer Exegese, die

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allem im Bereich der Interkulturellen Theologie ihren Ort, die an einigen deutschen Hochschulen mit einem eigenen Lehrstuhl vertreten ist.37 Was auch hier aussteht, ist die Integration dekolonisierenden Denkens als Querschnittdimension der Theologie insgesamt. Wie können Veränderungen möglich werden? Tsitsi Dangarembga, Schriftstellerin und Filmemacherin aus Simbabwe, forderte in ihrer Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2021 eine neue Aufklärung:38 „Die gewaltsame Weltordnung, in der wir heute leben, wurde von gewissen hierarchischen Denkweisen etabliert. Die Lösung ist, ethnisch determinierte und andere hierarchische Denkweisen abzuschaffen, die auf demografischen Merkmalen wie sozialem und biologischem Geschlecht, Religion, Nationalität, Klassenzugehörigkeit und jedweden anderen Merkmalen beruhen, die in der gesamten Geschichte und überall auf der Welt die Bausteine des Imperiums waren und noch immer sind.“ Nur eine grundlegende Veränderung des Denkens, eine neue Aufklärung, könne zur Überwindung dieser Gewalt beitragen: „Es wird keine Wunderheilungen für unsere gedanklichen Fehler geben. Was wir tun können ist, unsere Denkmuster zu verändern, Wort für Wort, bewusst und beständig, und daran festzuhalten, bis wir Ergebnisse sehen in der Weise, wie wir Dinge tun und welche Folgen sich daraus ergeben.“ Für Menschen in Deutschland schlägt sie vor, damit zu beginnen, das Denken über das N-Wort zu verändern: „In diesen Fällen haben wir die Wahl, ob wir das ‚Ich‘ von ‚Ich denke‘ hochschätzen oder über das ‚Ich‘ hinausschauen zu dem ‚Wir‘ im Inhalt unserer Gedanken. Über das ‚Ich‘ hinauszuschauen zum ‚Wir‘ könnte zu horizonterweiternden Neuformulierungen des Satzes des Franzosen [Descartes, CJ] führen, zum Beispiel zu ‚Wir denken, also sind wir‘ oder sogar zu ‚Wir sind, also denken wir‘ und mit letzterem den Ort der Hochschätzung vom rationalen ‚denken‘ zum empirischen ‚sein‘ verschieben.“ Die Ermutigung, die in ihren Worten liegt, ist, dass wir es in allen unseren hierarchischen Strukturen, die zu Gewalt, Abwertung, Überlegenheit… führen, mit Konstruktionen zu tun haben, die durch die Entscheidung anders zu denken

37

38

vor allem die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der biblischen Texte kritisch analysiert und dekonstruiert. Der Sammelband „Bible Trouble: Queer Readings at the Boundaries of Biblical Scholarship“, der 2011 von Teresa J. Hornsby und Ken Stone herausgegeben wurde und die 2018 von Kent L. Brintnall, Joseph A. Marshal und Stephen D. Moore veröffentlichte Aufsatzsammlung „Sexual Disorientations. Queer Temporalities, Affects, Theologies“ zeigen die Vielzahl queer-theologischer Themen, die in der Folgezeit bearbeitet wurden. Ein eigener Band zur queeren Paulusexegese ist 2019 erschienen: „Bodies on the Verge: Queering Pauline Epistles“, herausgegeben von Joseph A. Marchal. Zum Stand postkolonialer Theologien im deutschsprachigen Raum vgl. Andreas Nehring/ Simon Wiesgickl (Hg.), Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2018; Stefan Silber, Postkoloniale Theologien. Eine Einführung, Tübingen 2021. Tsitsi Dangarembga, Für die, die sich im Wal befinden. Wir brauchen eine neue Aufklärung (Rede am 24. Oktober 2021) friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/2020-2029/tsitsi-dangarembga (Abruf 2.8.2022).

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und anders zu handeln, zu dekonstruieren sind: „Unsere Entscheidung, was und wie wir denken, ist letztlich eine Entscheidung zwischen Gewalt oder Frieden fördernden Inhalten und Narrativen. Das gilt, ob wir diese Inhalte und Narrative in Gedanken nur für uns selbst formulieren oder ob wir sie anderen um uns herum mitteilen. Beides ist fruchtbar.“ Diese abschließenden Worte verstehe ich als Aufforderung, Mut zum komplexen Denken in der Theologie aufzubringen, sich auf kontextuelle Ansätze in der Exegese einzulassen, auch die Schuldgeschichte, die mit der Kolonisation und dem anhaltenden Neo-Imperialismus verbunden ist, nicht zu verdrängen. Das betrifft ebenso die Rolle, die christliche Theologie in der Abwertung und Verfolgung queerer Menschen gespielt hat und aktuell spielt. 39 In der feministischen Theologie hat mit der Kritik jüdischer Theolog:innen seit den 1990er Jahren eine grundsätzliche Aufarbeitung des christlichen Antijudaismus begonnen.40 Die Aufarbeitung des kolonialen Denkens steht noch am Anfang. Notwendig ist eine grundlegende De-Konstruktion der Vorstellung der Überlegenheit der eigenen Kultur, Gesellschaft und Theologie, die in den Critical Whiteness-Studies vorgenommen wird.41 In der Exegese ist es notwendig, ein Verständnis zu entwickeln, das mehr als eine Sicht auf die Texte zulässt, es geht um den Verzicht auf die eine Wahrheit in der Auslegung. Für die neutestamentliche Exegese schlagen Andreas Nehring und Simon Wiesgickl erste Schritte für eine dekolonisierende Auslegung vor:42 1. Die Entstehungsgeschichte der Texte im imperialen Kontext des römischen Reiches beachten: Postkoloniale Theorien stellen theoretische Modelle zur Analyse von Widerstand, Hybridität und Mimikry bereit. 2. Die Wirkungsgeschichte kritisch beleuchten: Untersuchung der hermeneutischen Vorbedingungen der Exegese durch die Jahrhunderte (Kolonisation und Mission) und der ambivalenten Rolle der Bibel im Kontext von Unterdrückung und Widerstand. 3. Marginalisierte Stimmen innerhalb des Diskurses sichtbar machen.

39

40 41 42

Das Zero-flags-Project weist auf die 71 Staaten, in denen Homosexualität aktuell staatlich verfolgt wird. zeroflagsproject.nl (Zugriffsdatum: 02.08.2022). Die folgenden Zitate stammen aus dieser Rede. Vgl. Luise Schottroff/Marie-Theres Wacker (Hg.), Von der Wurzel getragen. Christlichfeministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Leiden u. a, 1996. Vgl. Eske Wollrad, Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion, Königstein/Taunus 2005. Vgl. Nehring/Wiesgickl, Postkoloniale Theologie II, 16; Nehring/Wiesgickl, Postkoloniale Interpretationen; vgl. auch Simon Wiesgickl, Das Alte Testament als deutsche Kolonie. Die Neuerfindung des Alten Testaments um 1800. Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament 214, Stuttgart 2018; Punt, Jeremy, The New Testament and the Empire. On the Importance of Theory, in: Studia Historica Ecclesiastica. Journal of the Church History Society of Southern Africa 37 (2011), 91–14.

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Für die Rezeption postkolonialer Exegese ist insbesondere dieser dritte Schritt wichtig. Gängige deutschsprachige Kommentare legen vor allem Veröffentlichungen zugrunde, die von Autor:innen aus dem globalen Norden stammen. Für meine eigenen Veröffentlichungen und Lehrveranstaltungen habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, immer auch Auslegungen aus anderen Kontexten zu berücksichtigen, um zu zeigen, wie bereichernd und herausfordernd Vielstimmigkeit ist, um Texte verstehen zu können. Dass eine solche Horizonterweiterung nicht nur positive Reaktionen hervorruft, darauf verweist die postkoloniale feministische Theologin Tan Yakhwee. „Es ist eine Ent-deckung. Doch eine solche Erweiterung wird Infragestellungen mit sich bringen und Un-behagen hervorrufen. Damit Veränderung geschehen kann, ist Un-behagen notwendig. Wie die Larve in ihrem Kokon einiges Unbehagen und einige Unbequemlichkeit erdulden muss, ehe sie sich in einen Schmetterling verwandelt, so befindet sich die postkoloniale feministische Exegese meines Erachtens in einem Stadium der Metamorphose, die das Fach der Bibelexegese herausfordert, in dem sie seine politischen und ethischen Implikationen in Frage stellt.“43 Was Tan Yak-hwee „Unbehagen“ nennt, äußert sich oft in Form von Abwehr, das betrifft vor allem auch Genderfragen in der Theologie, die implizit und in queeren Theologien explizit Anfragen an die eigene Sexualität, an das Verständnis von Körper und an heteronormative Denkweisen stellen. Aus meiner Sicht sind Genderkompetenz und ein fundiertes biblisches Wissen grundlegend dafür, um glaubwürdige Antworten auf die gesellschaftlich relevanten Fragen nach Identität, Sexualität und Gerechtigkeit zu finden und auf diese Weise die aktuellen Transformationsprozesse aktiv mitgestalten zu können. Ein intersektionaler Ansatz ermöglicht es, 44 exegetisches Grundlagenwissen mit gender- und queertheologischen, postkolonialen und disabilitykritischen Auslegungen zu verbinden, antisemitische, rassistische und (neo-)koloniale Strukturen zu analysieren und aktiv zu deren Überwindung beizutragen.

43

44

Tan Yak-hwee, Postkoloniale feministische Bibelexegese: Erkundungen, in: Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert, Elisabeth Schüssler Fiorenza/Renate Jost (Hg.), Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie, 20. Jahrhundert Band 9.1, Stuttgart 2015, 287–298, hier: 298. Vgl. Claudia Janssen, Intersektionale Bibelanalyse und Gegenwart, in: ZNT 25/49 (2022), 107–121.

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Feministische und queertheologische Exegese

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Überlegungen zu einer kultur- und rassismussensiblen Bibelwissenschaft Impulse aus der Asian American Bibelhermeneutik Alena Höfer

1.

Interkulturelle Bibelhermeneutik ist der Normalfall (Einleitung)

Die interkulturelle Bibelhermeneutik dient in der westlich dominierten theologischen Wissenschaft häufig als Sammelbegriff für fremde Kontexte und ihre biblischen Auslegungen. Im Gegensatz dazu verhandelt die Bibelhermeneutik Verstehenszugänge zur Schrift mit dem Anspruch einer neutralen Rekonstruktion von Textverstehen. Darin bleibt unsichtbar, dass dem Ansatz ein westlich geprägtes Wissenschaftsverständnis zugrunde liegt. Dadurch wird die Bibelhermeneutik implizit als objektive und normgebende Instanz behandelt, während zur interkulturellen Bibelhermeneutik alles das gezählt wird, was sich darin nicht abbilden lässt. Diese Zuordnung ist aus postkolonialer und rassismuskritischer Perspektive zu dekonstruieren. Es stellt sich die Grundsatzfrage, was der westlichen Bibelhermeneutik die Legitimation gibt, sich selbst ins Zentrum zu setzen und alles andere als das Fremde und Kontextuelle an den Rand zu drängen. Die Wirkmacht des produzierten Zentrums ist so groß, dass sich z. B. auch postkoloniale Schriftauslegungen an dem Zentrum und seinen Einfluss abarbeiten und sich selbst an den Rändern positionieren. Denn die Differenz zwischen einem Zentrum und seinen Rändern ist nicht darin begründet, dass der deutschsprachige Kontext sich selbst in die Mitte setzt und andere Kontexte ihre Perspektive ihrerseits zentralisieren. Sie wird primär durch meist unbewusst historisch tradierte Machthierarchien basierend auf rassistischen Lehren geprägt. Durch sie wird eine Hierarchisierung und Bewertung unterschiedlicher Wissenssysteme und soziokultureller Kontexte überhaupt erst ermöglicht. Dadurch kommt es zu einer Exotisierung der interkultureller Bibelhermeneutik als Sonderfall. Diese unterliegt der westlichen Definitionsmacht, dass es sich dabei um fremde, andere Zugänge handelt im Gegensatz zu vermeintlich kontextunabhängigen Methoden

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Alena Höfer

deutschsprachiger Exegese. Dabei bleibt die Wahrnehmung außen vor, dass jede Schriftauslegung kontextuell bedingt ist und in kulturellen, interkulturellen und transkulturellen Beeinflussungen steht. Denn es gibt kein geistes- und kulturwissenschaftliches Wissen, dass nicht auf bestimmten Vorannahmen beruht in Abhängigkeit von ihrer soziokulturellen Umwelt. Die Ausblendung und Nichtbenennung der kontextuellen Bedingtheit westlicher, weißer Bibelhermeneutik führt dazu, dass ihr Anspruch, eine neutrale und normgebende Instanz zu sein, nicht infrage gestellt wird. In der Rassismuskritik gilt diese Unsichtbarkeit als Grundstein für den Erhalt struktureller Rassismen. Die Rassismuskritikerin Maureen Maisha Auma verweist darauf, dass Zuweisungen von bestimmten Eigenschaften, d. h. Differenzierungen und die Festlegung auf negative Hervorhebungen (Markierung) zur „Rechtfertigung einer systematischen Besserbehandlung von bestimmten Menschen und Gruppen“1 beitragen. Die von Auma aufgezeigte Besserbehandlung bezieht sich nicht nur auf Subjekte, sondern auch auf wissenschaftliche Ordnungen. Indem die westliche Bibelhermeneutik lange Zeit als unangefochtene Norm galt, erhielt sie einen hierarchisch höherwertigen Status. „Vor diesem Hintergrund erscheinen Aussagen und Handlungen von rassistisch unmarkierten Akteur*innen, also von Angehörigen der dominanten Gruppe, als eher neutral, harmlos oder fortschrittlich. Hingegen werden Aussagen und Handlungen von rassistisch markierten Akteur*innen, also von Angehörigen dominierter Gruppen, eher als suspekt, zwielichtig, rückschrittlich oder unangemessen gedeutet.“ Um diese Struktur zu überwinden, braucht es ein Bewusstsein dafür, dass prinzipiell alle (Re-)Produzent:innen von Rassismen sind, weil wir alle mit entsprechenden Denkweisen groß geworden sind.2 Die rassismuskritische Perspektive auf gegenwärtige Auslegungspraktiken fordert davon ausgehend die Sichtbarmachung und Dekonstruktion einer vermeintlichen Neutralität, Objektivität und Bevorzugung. Das deutungsmächtige Zentrum deutschsprachiger Exegese ist bis heute westlich und weiß geprägt. Darin hat sich unbewusst die Unterscheidung von der Bibelhermeneutik, der die Attribute der Objektivität und Rationalität zugesprochen werden, und der interkulturellen Bibelhermeneutik, die subjektive Zugänge wählt, weil sie ihren Zugang des biblischen Verstehens vom jeweiligen Kontext und ihren Akteur:innen abhängig macht. Hier reproduziert sich die rassistische Struktur, dass rassistisch unmarkierte Theolog:innen den Diskurs dominieren und rassistisch markierte Theolog:innen als fremd deklariert an den Rand gedrängt werden. Es entsteht die Problematik, dass die westliche Exegese als der unbenannte Normalfall bis

1 2

Vgl. Maureen Maisha Auma, Rassismus. Eine Definition für die Alltagspraxis, Berlin 2018, 4. Vgl. Martina Tißberger, Critical Whiteness. Zur Psychologie hegemonialer Selbstreflexion an der Intersektion von Rassismus und Gender, Wiesbaden 2017, 90.

Überlegungen zu einer kultur- und rassismussensiblen Bibelwissenschaft

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heute wirkmächtig ist. Dadurch wird übersehen, dass die interkulturelle Bibelhermeneutik der eigentliche Normalfall ist, weil sie die soziokulturelle Genese von Methodik und Auslegung transparent benennt. Stuart Hall hat in seiner Unterscheidung zwischen dem Westen und dem Rest3 auf die bestehende Ungleichverteilung von Deutungsmacht zwischen dem Westen und dem globalen Süden hingewiesen. Die Differenzlinie hat sich durch die fortschreitende Globalisierung, steigende Migrations- und Informationsbewegungen und die Digitalisierung verändert. Sie verläuft nicht mehr primär entlang geografischer Grenzen, sondern konstituiert sich auf der Grundlage soziokultureller Einordnungen durch den Bezug auf rassistische und/oder ethnische Konstruktionen. Dennoch ist eine Provinzialisierung Europas4 (und auch Nordamerikas), wie es Dipesh Chakrabarty angemahnt hat, ausgeblieben. Rassistische und ethnische Kategorien bleiben auch nach transregionalen Bewegungen weiterhin bestehen. Gelegentlich werden sie durch die Verwendung eines statischen Kulturbegriffs ersetzt, wobei die dahinter stehende Logik bestehen bleibt.5 Das zeigt sich u. a. darin, dass zwar zahlreiche interkulturelle bzw. kontextuelle Bibelwissenschaftler:innen aufgezeigt haben, wie Schriftinterpretationen in verschiedenen Kontexten und Bezügen von zum Beispiel postkolonialer, befreiungstheologischer oder basisorientierter Theologie funktionieren.6 Dabei fällt

3

4

5 6

Vgl. Stuart Hall, Wann war „der Postkolonialismus“? Denken an den Grenzen, in: Elisabeth Bronfen u. a. (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, 219–246. Vgl. Dipesh Chakrabarty, Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 2010. Vgl. Tißberger, Whiteness, 89. Exemplarisch ist hier Rasjah S. Sugirtharajah als erster postkolonialer Bibelhermeneut mit seinem Schwerpunkt auf den indischen Kontext zu nennen. Vgl. Rasiah S. Sugirtharajah, Asian Biblical Hermeneutics and Postcolonialism: Contesting the Interpretations, Sheffield 1999. Weitere Vertrerter:innen sind i. A. Lamin Sanneh, Translation the Message. The Missionary Impact on Culture, 1989, der die Bedeutung von Translationen der Bibel hervorgehoben hat und der kubanisch-amerikanische Bibelwissenschaftler Fernando F. Segovia, Decolonizing Biblical Studies: A View from the Margins, New York 2000. Etablierte feministische Perspektiven sind zum Beispiel die von Kwok PuiLan (Vgl. Kwok Pui-Lan, Discovering the Bible in the Non-Biblical World, Maryknoll, NY u. a. 1995. Kwok Pui-Lan, Introducing Asian Feminist Theology, Sheffield 2000.) sowie Musa Dube (Vgl. Musa Dube (Hg.), Other Ways of Reading. African Women and the Bible, Atlanta 2001. Musa Dube, Markus 5,21–43 in vier Lektüren. Narrative Analyse – postcolonial criticism – feministische Exegese – HIV/AIDS, in: ZNT 33 (2014), 12–23.). Gerald West hat die Contextual Bible Studies in Südafrika eingeführt, in der er die Bedeutung der Schriftlektüre in den Gemeinden herausgearbeitet hat. (Vgl. Gerald West, Contextual Bible Reading. A South African Case Study, in: Analecta Bruxellensia (Hg.), Reading the Bible in Africa, Brüssel 2006, 131–148. Gerald West, Locating Contextual Bible Study Within Praxis, in: Diaconia 4 (2013), 43–48. Gerald West, Reading the Bible with the Marginalised. The Value/s of Contextual Bible Reading, in: STJ 1 (2015), 235–261.) Ein deutschsprachiger

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Alena Höfer

aber auf, dass Europa und die USA als dargestellte Kontexte weitestgehend fehlen. Sie spielen höchstens dann eine Rolle, wenn es um Migration oder die Folgen der Maafa in den genannten Kontexten geht.7 Angesichts der Mehrdimensionalität globaler Bewegungen wird die Notwendigkeit der kontextuellen Verortung noch dringender. Es ist darum zu fragen, wie antirassistische und kultursensible Bibelhermeneutiken aussehen können. Dafür bedarf es der Bewusstwerdung und der Dekonstruktion des westlichen Machtzentrums und der Wahrnehmung der anderen Zugänge auf Augenhöhe. In einer Welt, die durch permanente transkulturelle Verflechtungen und dessen Aushandlungen bestimmt ist, braucht es ergänzend dazu Auslegungsformen der Beziehung zwischen den Ansätzen. Ein Nebeneinander der Ansätze ist nicht ausreichend. Das würde sowohl die trotz Dekonstruktion weiter bestehende westliche Deutungsmacht übersehen als auch die Fluidität und Verwebung von Kontexten ignorieren, wie sie z. B. im Fall von Migration deutlich wird. Es gilt darum auch, die Bezugnahmen deutlich zu machen und deren bibelhermeneutischen Potenziale zu erheben. Die Asian American8 Bibelhermeneutik ist ein Beispiel für transkulturelle Verflechtungsprozesse, aus denen neue Perspektiven auf die Schrift und ihre Auslegung hervorgehen. Sie reagiert auf die ausgeführte ungleiche Dichotomie von Deutungsmacht und zeigt Wege auf, wie die benannte Problematik überwunden werden kann. Eine Stärke zahlreicher Asian American Bibelhermeneutiken ist es, keine Hermeneutik im Kontrast zur historischen Kritik zu entwickeln, sondern die verschiedenen Erträge der Perspektiven zu benennen und transkulturell miteinander in Beziehung zu setzen. Somit dient sie als Impulsgeberin auch für den deutschsprachigen Kontext, die Beziehung zwischen der Bibelhermeneutik und der Interkulturellen Bibelhermeneutik kritisch zu reflektieren. Die postkoloniale Perspektive hat den Blick von den Rändern auf das Zentrum für sich fruchtbar gemacht, indem sie nicht allein bei der Benennung der Ausschlussmechanismen aus dem Zentrum stehen bleibt. Die postkoloniale Theologin Mayra Rivera verweist darauf, dass die Ränder Orte eines produktiven Widerstands gegen alle Formen von Unterdrückung sind.9 Teil dessen ist der

7

8 9

Überblick postkolonialer Bibelhermeneutik findet sich bei Andreas Nehring/Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013. Vgl. Itumeleng J. Mosala, The Use of the Bible in Black Theology, 1991; Anthony B. Bradley, Liberating Black theology. The Bible and the Black experience in America, Wheaton 2010, Lynne St. Clair Darden, Scripturalizing Revelation. An African American Postcolonial Reading of Empire, Atlanta 2015. Die Bezeichnung Asian American bleibt im Sinne einer Eigenbezeichnung unübersetzt. Vgl. Mayra Rivera, Ränder und die sich verändernde Spatialität von Macht. Einführende Notizen, in: Andreas Nehring/Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013, 149–164, 162– 164.

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Verweis darauf, dass in der postmodernen Gegenwart die Erfahrung von Pluralität und Multidimensionalität zur Auflösung des Zentrums führt. Darin kommt es zu einer Öffnung des statischen Konzepts von Zentrum und Rand, indem die transformativen Prozesse an den Rändern fokussiert werden, die zu gegenseitigen Beeinflussungen führt. Das beinhaltet das Potential, dass das Zentrum an den Rand rückt und seine hierarchische Machtdominanz verliert zugunsten eines gleichberechtigten Nebeneinanders der Zugänge. Die rassismuskritische Perspektive verweist ergänzend darauf, dass die historische Prägung rassistischer Lehren nicht allein durch die Auflösung des Zentrums überwunden werden, sondern je neu in allen Strukturen aufgezeigt werden müssen. Denn es handelt sich um ein Phänomen mit bleibender Wirkmacht, das alle Bereich inklusive der Ränder durchdrungen hat. Die interkulturelle Bibelhermeneutik kann als Perspektive von den Rändern verstanden werden, die Themen der „diasporischen Hermeneutik, postkoloniales Interpretieren und andere Formen des Grenzdenkens“10 in die Bibelwissenschaft eingebracht haben. Sie haben das Ziel einer Dezentralisierung und gleichberechtigten Anerkennung methodischer und kontextueller Zugänge. Gegenwärtig resultieren daraus aus meiner Sicht vor allem drei zu bewältigende bibelhermeneutische Herausforderungen, um das benannte Ziel zu erreichen: 1. Trotz des in der deutschsprachigen Bibelwissenschaft seit dem Ende des 20. Jahrhunderts anerkannten Methodenpluralismus11 wird die dennoch bestehende westliche Deutungsmacht und Normsetzung bisher nicht ausreichend reflektiert. Ein zentraler Kritikpunkt ist hier die immer noch beanspruchte universale Objektivität der historischen Kritik im Zuge ihrer Ablösung von der Dogmatik, dessen Legitimität vor allem aus feministischen und postkolonialen Perspektiven spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts infrage gestellt worden ist.12 2. Dadurch werden kontextuelle und interkulturelle Zugänge und 10 11

12

A.a.O., 163 Vgl. exemplarisch: Manfred Oeming, Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 20134; Gerd Theißen, Beiträge zu einer polyphonen Bibelhermeneutik, Berlin/Münster 2019. „The ‚scientist‘ ethos of biblical studies was shaped by the struggle of biblical scholarship to free itself from dogmatic and ecclesiastical controls. It corresponded to the professionalization of academic life and the rise of the university. Just as history as an academic discipline sought in the last quarter of the nineteenth century to prove itself as an objective science in analogy to the natural sciences, so also did biblical studies. Scientific history sought to establish facts objectively free from philosophical considerations. It was determined to hold strictly to facts and evidence, not to sermonize or moralize but to tell the simple historic truth – in short, to narrate things as they actually happened. Historical science was a technique that applied critical methods to the evaluation of sources, which in turn are understood as data and evidence. The mandate to avoid theoretical considerations and normative concepts in the immediate encounter with the text is to assure that the resulting historical accounts would be free of ideology.“ Elisabeth Schüssler Fiorenza, The Ethics of Biblical Interpretation. Decentering Biblical Scholarship, in: JBL 107 (1988),

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Exegesen exotisiert und subjektiviert, wodurch ein Machtgefälle entsteht, das zunehmend von rassismuskritischen Stimmen angemahnt wird. 3. Durch diese Tendenz der Trennung zwischen einer vermeintlich objektiven Schriftauslegung und einer auf den jeweiligen kulturellen Raum beruhenden vermeintlich subjektiven kontextuellen Auslegung werden akademische Begegnungen und Brückenschläge deutlich erschwert. Die Asian American Bibelhermeneutik hat für den nordamerikanischen Kontext die Bedeutung der soziokulturellen Benennung für die Bibelhermeneutik aufgezeigt. Darin kommt auch die Auseinandersetzung vom Rand mit dem weißen Zentrum zur Überwindung dieser rassistischen Struktur zum Ausdruck. In einem zweiten Schritt finden sich Überlegungen der produktiven Genese der Perspektiven, weil Asian Americans sowohl von asiatischen als auch amerikanischen Traditionen geprägt sind. Sie ist eine produktive Stimme von den Rändern. Der bibelhermeneutische Zugang von Asian Americans liefert wichtige Impulse auch für die deutschsprachige Bibelwissenschaft. Es ist im Folgenden mein Anliegen am Beispiel der noch recht jungen Asian American Bibelhermeneutik auf diese drei Herausforderungen einzugehen. (1) Dafür wird zuerst der transkulturelle Kontext von Asian Americans analysiert: Wie verstehen sich die Wissenschaftler:innen selbst in ihrem Sein zwischen der westlichen Akademie und den Wissenssystemen Asiens? Wie entwickelt sich eine Gruppenidentität in der Verflechtung von Asien und den USA? Und was sind die zentralen Themen dieses Erfahrungshorizonts, die bibelhermeneutisch verhandelt werden? (2) Nachdem die kontextuellen Bedingungen von Asian Americans evaluiert wurden, drängt sich daran anschließend die Frage auf, wie genau sich das in einer Asian American Bibelhermeneutik widerspiegelt. Wie verändert ein transkultureller Erfahrungshorizont die Anliegen, Themen und methodischen Zugänge in der Bibelhermeneutik? Besonders interessant wird hier sein, welche neuen biblischen Perspektiven vor dem Hintergrund der Erfahrung von Marginalisierung und Rassismus in den Bibelwissenschaften in den Fokus rücken. (3) Abschließend werde ich die aus meiner Sicht zentralen transkulturellen Zukunftsperspektiven für eine interkulturelle Bibelhermeneutik insgesamt benennen.

3–17, 11. Siehe auch exemplarisch aus postkolonialer Perspektive Rasjah S. Sugirtharajah, Postcolonial Biblical Interpretation, in: Ders. (Hg.), Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, Orbis Books 20063, 64–84, 67.

Überlegungen zu einer kultur- und rassismussensiblen Bibelwissenschaft

2.

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Asian Americans – Fremd- und Selbstbeschreibungen (Kontextanalyse)

Die Gruppenbezeichnung Asian Americans ist sowohl eine Fremd- als auch eine Selbstbeschreibung. Von der weißen Dominanzgesellschaft werden asiatisch aussehende Menschen als eine vermeintlich homogene Gruppe stereotypisiert, die mit bestimmten Erwartungen bzgl. ihres Verhaltens, kultureller Praktiken und Traditionen verbunden ist. Dabei handelt es sich um eine rassistische Kategorisierung. Im Gegensatz dazu ist die Selbstbezeichnung politisch motiviert. Sie ist charakterisiert durch eine innere Heterogenität, Vielfalt und Hybridität. Denn aus dem Kontinent Asien in die USA migrierte Personen und ihre Nachkommen greifen weder auf eine gemeinsame Geschichte Asiens oder der Migration zurück, noch haben sie einen geteilten kulturellen Kontext.13 Die Gemeinsamkeit basiert darum weniger auf einem soziokulturellen Kontext, sondern auf der geteilten Erfahrung der gesellschaftlichen Marginalisierung. Um zu verstehen, wie sich die panethnische Selbstbeschreibung von Asian Americans entwickeln konnte, braucht es einen Einblick in die konkreten Fremdbeschreibungen und damit einhergehende rassistische Stereotypisierungen der Gruppe in den USA. Asian Americans werden von der Dominanzgesellschaft als homogene Gruppe behandelt. Die bestehende asiatische Diversität wird nicht bzw. nur wenig differenziert wahrgenommen. Dies betrifft nicht nur das fehlende Wissen über die verschiedenen soziokulturellen Kontexte in Asien, sondern auch über die unterschiedlichen Selbstpositionen von Asiat:innen, Asian Americans und als asiatisch stereotypisierte Menschen u. a in Abhängigkeit. davon, wie lange sie bereits in den USA leben bzw. ob sie in den USA geboren worden sind. Diese Außenwahrnehmung formiert auf der Grundlage rassistischer Stereotypisierungen von als asiatisch kategorisierten Menschen eine vermeintlich homogene Gruppe als unzutreffende, jedoch wirkmächtige Fremdzuschreibung.

13

Vgl. i. A. in der Reflexion der Asian American Bibelhermeneutik selbst: Tamara C. Ho, The Complex Heterogeneity of Asian American Identity, in: Uriah Y. Kim/Seung Ai Yang (Hg.), T&T Clark Handbook of Asian American Biblical Hermeneutics, London u.a. 2019, 17–35. Gale A. Yee, Yin/Yang Is Not Me. An Exploration into an Asian American Biblical Hermeneutics, in: Mary F. Foskett/Jeffrey Kah-Jin Kuan (Hg.), Ways of Being, Ways of Reading. Asian American Biblical Interpretation, Dancers, USA 2006, 152–163, 157f. Tatsiong Benny Liew, What Is Asian American Biblical Hermeneutics? Reading the New Testament, Hawaii 2008, 2–5. Darüber hinaus aus den Asian American Studies: Pyŏng Gap Min, Asian Americans. Contemporary Trends and Issues, Thousand Oaks 2005 und aus postkolonialer Perspektive: Namsoon Kang, Wer oder was ist asiatisch? Eine postkoloniale theologische Lektüre über Orientalismus und Neo-Orientalismus, in: Andreas Nehring/Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013, 203–220.

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Asian Americans sind in ihrem Alltag mit diesem rassistischen Bild über sich permanent konfrontiert und müssen darauf reagieren. Die Soziologin Dina Okamoto geht davon aus, dass es auf Grundlage dieser Fremdbeschreibung zu einer Selbstaneignung der Gruppierung als Asian Americans gekommen ist. Dabei beruht die Gemeinsamkeit weniger auf der Tatsache des geteilten asiatischen Kontextes, sondern auf der Erfahrung, von der dominierenden Gesellschaft als undifferenzierte Gruppe rassistisch marginalisiert und unterdrückt zu werden.14 Gegenwärtig wirkt sich das z. B. in der Stigmatisierung von asiatischen, asiatisch-diasporischen und asiatisch gelesenen Menschen global aus, indem sie auf stereotypisierende Weise mit dem Corona-Virus in Verbindung gebracht werden.15 Dadurch hat es einen großen Anstieg antiasiatischer rassistischer Gewalterfahrungen gegeben, durch den die Ernsthaftigkeit der Thematik als Teil rassismuskritischer Arbeit endlich auch in den Fokus gerückt ist. Zwei Fremdzuschreibungen sind dabei besonders prägnant, an denen sich Asian Americans abarbeiten müssen: das Bild der Vorzeigemigration bzw. Vorzeigeminorität (model minority) und der immerwährenden Fremden (perpetual foreigners). Dabei handelt es sich um eine Tendenz, die angesichts der betrachteten Heterogenität nicht ohne Einschränkungen auf alle subsumierten Kontexte übertragen werden kann, aber dennoch eine allgemeine Tendenz repräsentiert. Unter dem Begriff der model minority wird die Fremdbeschreibung verstanden, dass sich vor allem aus Asien und hier primär aus Ostasien kommende Migrant:innen und ihre Nachkommen vorbildhaft in die Gesellschaft assimilieren. Sie gelten als gelungenes Beispiel einer guten Integration. Darunter wird die Erfüllung des amerikanischen Traums von der eigenen Selbstverwirklichung und dem persönlichen Erfolg in den USA, das Nicht-negativ-Auffallen in der Gesamtgesellschaft und der soziale Aufstieg durch Bildung verbunden. Zum Teil wird das Bild von einigen Asian Americans selbst (re-)produziert. Asian Americans gelten als sehr fleißig und arbeitswillig mit dem Ziel sich eine gute eigene Existenz aufzubauen. Außerdem haben besonders Eltern der ersten Migrationsgeneration eine hohe Leistungserwartung an ihre Kinder, weil sie sich wünschen, dass ihnen der soziale Aufstieg dadurch ermöglicht wird, der ihnen in den USA verwehrt geblieben ist. Die Strategie ist dabei, sich in der Repräsentation nach außen besonders gut in das gesellschaftliche System zu assimilieren. Diese Perspektive wird nicht von allen Asian Americans vertreten, aber die Einstellung 14

15

Vgl. Dina G. Okamoto, Redefining Race. Asian American Panethnicity and Shifting Ethnic Boundaries, New York 2014. Dina G. Okamoto, Toward a Theory of Panethnicity. Explaining Asian American Collective Action, in: ASR 68 (2003), 811–842. Vgl. Jin Young Choi/Wongi Park, Systematic Racism and the Global Pandemic. Negotiating Race and Ethnicity in Asian American Biblical Criticism, in: The Bible & Critical Theory 16 (2020), 1–18 in Bezug auf die USA. Ähnlich Tendenzen lassen sich auch für Deutschland aufzeigen: Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise, Berlin 2020. Kimiko Suda u. a., Antiasiatischer Rassismus in Deutschland, in: Politik und Zeitgeschichte 70 (2020), 39–44.

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einzelner Personen reicht aus, um sie auf die ganze Gruppe zu übertragen. Hier liegt ein Mechanismus des strukturellen Rassismus vor, indem das Verhalten Einzelner auf eine rassistisch kategorisierte Gesamtgruppe übertragen wird. Die Verhaltensweise wird somit nicht als subjektive Position verstanden, sondern stereotypisierend auf alle bezogen.16 Das Bild der vorbildhaften Minorität verdeckt jedoch die Tatsache, dass die meisten Asian Americans im unteren sozialen Milieu zu verorten sind. Es handelt sich dementsprechend nicht um einen sozialen Aufstieg, sondern um das Aufbauen einer Existenz im Niedriglohnsektor bzw. als eigenständige Kleinunternehmer:innen mit wenig Profit. Asian Americans sind besonders häufig von Armut und systematischer, klassistischer Benachteiligung betroffen. Die meisten haben nicht die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, was auch an den rassistischen Gesellschaftsstrukturen liegt. Model minority ist eine Beschreibung aus einer weißen Perspektive, die den vorbildhaften Charakter darin definiert, dass sich Asian Americans besonders gut gesellschaftlich assimilieren können und nicht negativ auffallen. 17 Darin offenbart sich das gesellschaftliche Bild von einer gelungenen Migration und Integration als Assimilation. Die anderen haben nach dieser Ansicht die Aufgabe, sich in die Dominanzgesellschaft einzufügen und damit ihre Kontexte mindestens nach außen abzulegen, während sich die weiße Dominanz nicht verändern muss. Hier wird das rassistische Machtgefälle exemplarisch sichtbar. Trotz Bemühungen um Integration und Anerkennung werden Asian Americans jedoch nicht als selbstverständlicher Teil der U.S. amerikanischen Gesellschaft identifiziert. Daran schließt sich die Erfahrung des immerwährenden Fremdseins an. Unabhängig davon, ob Asian Americans bereits mehrere Jahre in den USA leben oder dort geboren wurden, ob sie sich ein Leben aufgebaut haben und sich in den USA verorten, werden Asian Americans als Fremde wahrgenommen. Sie können als Einzelne kaum etwas gegen diesen strukturellen Exklusionsmechanismus tun, weil er von der Dominanzgesellschaft fremdbestimmt wird. Die Entstehung von ethnischen Gemeinschaften ist darum nicht nur das Resultat aus dem Bedürfnis der soziokulturellen Vernetzung und des Austausches untereinander, sondern wird auch gefördert durch die gesellschaftliche Marginalisierung der Gruppe. So übernehmen z. B. religiöse Gemeinschaften nicht nur die spirituelle Betreuung ihrer Mitglieder, sondern haben insbesondere für die 16 17

Vgl. Auma, Rassismus, 2. Vgl. Jonathan Y. Tan, Introducing Asian American Theologies, Maryknoll, NY 2008, 36–39. Aus einer Korean American Perspektive: Sang Hyun Lee, Marginality as Coerced Liminality. Toward an Understanding of the Context of Asian American Theology, in: Fumitaka Matsuoka/Eleazar S. Fernandez (Hg.), Realizing the America of Our Hearts, St. Louis, Missouri 2003, 11–28, 19f. Der Mythos der model minority findet sich Analog auch in Deutschland. Vgl. dazu: Suda u.a., Rassismus, Kien Nghi Ha, Machtkritische Solidarität? Anti-asiatische Gewalt und interkommunale Allianzen, in: Kien Nghi Ha (Hg.), Asiatische Deutsche Extended. Vietnamesische Diaspora and Beyond, Hamburg 20212, 418–459.

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erste Migrationsgeneration einen hohen sozialen Wert. Es handelt sich um die Orte des gegenseitigen Verstehens, der Solidarität und des Nicht-marginalisiertWerdens. So gründen sich christliche Migrationsgemeinden nicht nur aus der Motivation der Bewahrung der eigenen Traditionen und Praktiken, sondern auch, weil ihre Mitglieder in der White-Anglo-Saxon-Protestant-Church (WASP) keinen Platz finden. Zwar werden Menschen anderer Sprachen und Herkunft offiziell willkommen geheißen, jedoch nur unter der Annahme ihrer Assimilation in die bestehenden Gemeindepraxis. Während also die Assimilation in der vom Kapitalismus geprägten Arbeitswelt und der Gesamtgesellschaft für einige durchaus eine Überlebensstrategie darstellt, gilt dies keinesfalls für religiöse Räume als Orte der geteilten Spiritualität, die eng mit Kultur und individuellen Bedürfnissen verflochten ist. Die Gemeinschaften bilden somit einen Gegenpol unter Gleichgesinnten zu der Außenwahrnehmung, stets die Fremden zu sein und somit nie ganz dazu zu gehören. Die Tatsache, dass Asian Americans als perpetual foreigners und model minority fremdbeschrieben werden, hat wie gezeigt Auswirkungen auf die Selbstbeschreibung. Die Selbstaneignung der Bezeichnung Asian American ist politisch. Sie ermöglicht die Sichtbarmachung der eigenen Perspektive, die in der Gesellschaft durch ihre Fremdbeschreibung unsichtbar geblieben ist. Darum ist es die geteilte Erfahrung des Otherings, die Asian Americans zu einer Gruppe werden lässt. Die Verwendung einer Fremdbezeichnung ermöglicht gesellschaftliche Anknüpfungspunkte und Vernetzungen, um auf die bestehenden Marginalisierungen und Stereotypisierungen hinzuweisen und die eigenen transkulturellen Identitäten als Teil der U.S. amerikanischen Gesellschaft in den Diskurs einzubringen. Insofern ermöglichen die Asian American Studies sowie im Spezifischen die Asian American Bibelhermeneutik als heterogenes Konglomerat der Sichtbarwerdung der Selbstrepräsentation von Asian Americans. Dabei handelt es sich um Aushandlungen in der Transkulturalität. Nach Klaus Hock bezieht sich der Prozess der Transkulturalität „auf synthetisierende oder harmonisierende ebenso wie auf pluralisierende oder widersprüchliche, gegebenenfalls sich sogar gegenseitig neutralisierende oder ausschließende Prozesse der Übersetzung, Adaption, Rekonfiguration und Aneignung von Verhaltensweisen und Ausdrucksformen, die in der Begegnung zwischen Personen unterschiedlicher kultureller Provenienz erzeugt werden.“18 Im Fall von Asian Americans besteht die Transkulturalität nicht ausschließlich in der Begegnung von zwei Personen, sondern im simultanen Sein einer Person in zwei Kontexten nicht im Sinne eines entweder/oder, sondern der Existenz in beidem samt ihrer Verflechtungen

18

Klaus Hock, Transkulturation und Religionsgeschichte, in: Michael Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin/Boston 2012, 435–448, 440.

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(both/and bzw. in-beyond).19 Transkulturelle Selbstbeschreibungen sind sowohl im einen als auch im anderen Kontext verortet und entwickeln außerdem neue Selbstbeschreibung durch Verwebungen aus beiden Kontexten, ohne dass diese in Gänze homogenisiert und subsumiert werden. Es entsteht vielmehr etwas Neues durch die Auswahl von Elementen aus unterschiedlichen Kontexten und ihre argumentative Verknüpfung. Die hier nur kurz skizzierten Erfahrungen von Asian Americans bilden die Grundlage und den thematischen Fokus in der Entwicklung einer Bibelhermeneutik und der konkreten Schriftauslegung.

3.

Marginalisierung und Rassismus als bibelhermeneutische Perspektive (Impulse von Asian Americans)

3.1

Entstehung

Die Asian American Bibelhermeneutik ist ein sehr junger Fachbereich. 1995 wird die „Asian and Asian American Hermeneutics Group“ auf der jährlichen Konferenz der Society of Biblical Literature gegründet. Im Fokus steht die Verbindung der eigenen soziokulturellen Lokalisierung und der Bibelinterpretation zum Zweck der Generierung neuer Wege der Schriftlektüre.20 Die Asian American Bibelhermeneutik entfaltet sich im größeren wissenschaftlichen Kontext der Asian American Studies. Zwei Charakteristika sind hier besonders hervorzuheben: Das kontextuelle Forschungsfeld hat erstens eine transdisziplinäre Ausrichtung und versteht sich zweitens als Feld, dass sich zwar auf Asian Americans als soziokulturellen Kontext bezieht, aber zugleich ihre Relevanz und Bezüge für den Makrokontext insgesamt herausstellt. Sie repräsen-

19

20

Die Terminologien finden sich u. a. bei Jung Young Lee, Marginality. The Key to Multicultural Theology, Minneapolis 1995, 67. Vgl. Chloe Sun, Recent Research on Asian and Asian American Hermeneutics Related to the Hebrew Bible, in: CBR 17 (2019), 238–265, 239. In den folgenden Jahren werden Sammelbände publiziert, welche die Vielfalt der Stimmen des neuen Fachbereichs zum Ausdruck bringen. Grundlegende Meilensteine sind die folgenden Werke: Uriah Y. Kim/Seung A. Yang, T&T Clark Handbook of Asian American Biblical Hermeneutics, London 2019; und Mary F. Foskett/Jeffrey Kah-Jin Kuan, Ways of Being, Ways of Reading. Asian American Biblical Interpretation, Danvers 2006. Das gemeinsame Merkmal der Sammelbände ist ihre inhaltliche Verbindung von Grundüberlegungen einer Asian American Bibelhermeneutik und der konkreten Auslegung von Bibeltexten aus jeweils spezifischen Perspektiven.

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tiert damit einen Ansatz des Zwischenraums, in dem transkulturelle Verflechtungen des nordamerikanischen und der asiatischen Kontexte ausgehandelt werden. Die Aushandlungen beziehen sich darauf, welche kontextuellen Traditionen aufgenommen werden, weil sie Anknüpfungspunkte zur Verflechtung haben und damit plausibel sind. Von anderen Aspekten oder Teilaspekten findet jedoch zugleich auch eine Distanzierung statt. Transkulturalität bedeutet in dem Sinn nicht, dass sich Kulturen willkürlich miteinander verbinden, sondern aus ausgewählten Ressourcen unterschiedlicher Kontexte entsteht etwas Neues in Differenz zu den Kontexten aus denen sie hervorgehen. Eine solche Perspektive ist nicht nur bedeutsam für christliche Korean Americans selbst, sondern auch für den theologischen Diskurs insgesamt. Der Ansatz zeigt auf, wie sich unterschiedliche Perspektiven miteinander verbinden lassen und an welchen Stellen sie Begrenzung erfahren. So schreibt der postkoloniale Bibelhermeneut Sugirtharajah: „If the 1980s was the time of the subalterns, now is the time of the diasporic intellectuals. […] It is to soon to speak of the emergence of a formidable diasporic theology, but the current output is sufficient enough to arrest attention.“21 Die noch junge Asian American Bibelhermeneutik hat Bedeutung sowohl als transkontextuelle Bibelhermeneutik als auch als überkontextueller Brückenschlag, indem er asiatische und nordamerikanische Bibelhermeneutiken in Beziehung zueinander setzt vor dem bewusst gemachten Hintergrund der Situation von Asian Americans in den USA. Es ist ihr Anliegen, die existenziellen Erfahrungen und Themen christlicher Gemeinschaften von Asian Americans aufzunehmen, wodurch sich neue Perspektiven in der Schrift selbst eruieren lassen in dem interdependenten Zirkel von eisegesis und exegesis.22 Im Zentrum stehen dabei intersektionale Perspektiven der Wechselbeziehung von Identität, Rassismus, Ethnizität, Gender, Klasse und Befreiung.23 Darin zeigen sich Einflüsse sowohl der Befreiungstheologie als auch insbesondere der postkolonialen Theologie.

3.2

Exegetisches Beispiel: Verworfene Körper in 1 Kor

Eine Einsicht in das exegetische Arbeiten und den hermeneutischen Zugang findet sich exemplarisch bei Tat-siong Benny Liew. Er versteht die Aufgabe der Asian American Bibelhermeneutik als „giving a group of people recognition, 21 22

23

Sugirtharajah, Introduction, 5f. Der Begriff findet sich bei Werner Kahl zur Beschreibung der gegenseitigen Bedingtheit des Textes und seiner Umwelt und der Rezipient:innen und ihrer Umwelt. Vgl. Werner Kahl, Intercultural Hermeneutics – Contextual Exegesis. A Model for 21st-Century Exegesis, in: IRM 89 (2000), 421–433, 428. Vgl. Sun, Research, 238.

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rights, privileges, responsibilities, and obligations within the discipline of biblical studies as well as that of Asian American studies.”24 Während die etablierte Bibelhermeneutik, die primär von weißen Menschen entwickelt und praktiziert wurde, die Bedeutung der Kategorie race/ethnicity nicht mitreflektieren musste, zeigt die Asian American Bibelhermeneutik dessen Bedeutungsdimensionen auf und macht damit bisherige blinde Flecken sichtbar.25 Liew hat den ersten Korintherbrief aus postkolonialer Asian American Perspektive ausgelegt. Dabei fokussiert er sich auf die Beziehungen der Gemeinde in Korinth zur restlichen Gesellschaft sowie zu Paulus. Darin zeigt er auf, welche Rolle race/ethnicity26 in der Verhältnisbestimmung spielen. In den 70er und 80er Jahren hat sich in der historisch kritischen Forschung die These etabliert, dass die Konflikte innerhalb der mehrheitlich griechisch geprägten Gemeinde in Korinth auf verschiedenen sozialen, ökonomischen Positionen beruhen.27 Liew verweist darauf, dass die Unterscheidung von race/ethnicity in ihrer Verbindung mit Religion eine große Rolle spielt, die von bisherigen Betrachtungen vernachlässigt worden ist. „[I]n Paul’s time, race/ethnicity and religion were ‘constitutively interrelated’ even if they should not be collapsed into one and the same.”28 Jüdische Körper halten in der griechisch-römischen Welt als „lowly-looking and abject“29 Körper. Die Degredierung und Stereotypisierung sind Ausdruck eine Kolonialisierung jüdischer Menschen in paulinischer Zeit. Das römische Empire ist nicht nur eine geographische Größe der Antike gewesen, sondern der Status als Bürger:in brachte bestimmte Privilegien mit sich, die u. a. jüdischen Menschen verwehrt geblieben sind.30 Es handelt sich dabei um eine soziopolitische Hierarchisierung, die der rassistischen Lehre ähnelt. Dieser soziopolitische Hintergrund prägt (1) die Beziehungen in der Gemeinde in Korinth und (2) zum Apostel Paulus. 24 25 26

27

28 29 30

Liew, Hermeneutics, 2. Vgl. a. a. O., 3. Liew verwendet den Doppelbegriff race/ethnicity im U.S amerikanischen Rassismusdiskurs. Weil sich die Verwendung der Begrifflichkeit von dem deutschen Diskurs unterscheidet, bleibt der Begriff im Folgenden unübersetzt und wird kursiv markiert. Liew reflektiert die Begrifflichkeit selbst nicht. Aus der Verwendung geht hervor, dass er unter Race Gruppen versteht eingeteilt nach rassistischen Kategorien. Ethnicity bezieht sich auf kulturelle Kontexte. In Race können mehrere Ethnicities subsumiert und homogenisiert fremdbeschrieben werden. Gleichzeitig umfasst Ethnicity mehr als die Unterdrückungserfahrung von außen. Race und Ethnicity sind im Diskurs eng miteinander verwoben. Die These wird gegenwärtig wieder kontrovers diskutiert. Vgl. Thomas Schmeller, Der erste Korintherbrief, in: Martin Ebner/Stefan Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 20132, 308–330, 323. Wolfgang Schrage misst dem sozialen Faktor in der Einheitsfrage beispielsweise lediglich eine untergeordnete Rolle zu und betont stattdessen die „Gefahr, in religiöse Solisten und Grüppchen zu verfallen.“ Wolfgang Schrage, Studien zur Theologie im 1. Korintherbrief, Neukirchen-Vlyn 2007, 34. Liew, Hermeneutics, 79. A. a. O., 81. Vgl. a. a. O., 76f.

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(1) Griechische Gemeindemitglieder in Korinth wechselten mit ihrer Konversion zum Glauben an Jesus Christus von einer dominierenden gesellschaftlichen Religion und Position des Empires hin zu einer marginalisierten Religion. „Their religious difference, in other words, might bring about a status reduction, if not inversion.”31 Der Statuswechsel führte dazu, dass soziale, ökonomische Hierarchien innerhalb der Gemeinde an Bedeutung gewinnen. Weil die Mitglieder in der Gesellschaft in Korinth an Achtung verloren haben, ist es für sie von großer Bedeutung stattdessen in der Gemeinden Ansehen als Kompensation zu haben.32 So wird die Abendmahlspraxis zum Thema im Brief des Paulus an die Korinther (1 Kor 11,17–34).33 Es ist überraschend, „that scholars who talk about the status differences among the Corinthians have failed to mention the status difference – particularly the racial/ethnic difference – between Paul and the Corinthians.” Teil der Gemeinde in Korinth zu werden hatte also für griechische Personen drastische materielle und ideelle Konsequenzen. Liew rekurriert darauf, dass diese Erfahrung in gewisser Hinsicht mit der von Asian Americans korrespondiert. Ihre Marginalisierung in der Dominanzgesellschaft führt zu einer gesteigerten Bedeutung von sozialen Positionen und damit verbundener Anerkennung in der Gemeinde selbst. Das zeigt er am Beispiel von religiösen Gemeinschaften von Korean Americans auf: „Studies of both Korean American Buddhists and Korean American Christians have shown that people experiencing a status inversion in the larger socio-political world—particularly men who find themselves marginalized by their immigrant status and racial/ethnic difference, notwithstanding their difference in being part of a religious majority or minority—become even more anxious about and aggressive in competing for status in a smaller religious setting.”34 Es ist einerseits der spezifische Kontext von Liew als Asian American, der ihn in der biblischen Auslegung sensibel für die Bedeutung von race/ethnicity macht und darum ebensolche Strukturen in der Schrift und ihrer Umwelt erkennt. Andererseits ist es die Auslegung von Liew, die in den Kontext von Asian Americans hineinspricht und biblische Antworten auf Marginalisierungserfahrungen eruiert. Kritisch anzumerken ist, dass die Situation der griechischen Gemeindemitglieder nur bedingt auf die von Asian Americans übertragbar ist. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass äußere Marginalisierung zur Kompensation 31 32

33 34

A. a. O., 78. Die Hafenstadt Korinth ist in der paulinischen Zeit eine der bedeutendsten ökonomischen Städte Griechenlands. Seit 27 v. Chr. ist sie Sitz des Statthalters von Achaia und damit ökonomisch und politisch vom römischen Empire beherrscht. Darüber hinaus gibt es in Korinth bedingt durch seinen Handel eine Vielzahl religiöser Gruppen und Strömungen wie die Verehrung alter griechisch-römischer Götter, Mysterienkulte, den Kaiserkult sowie jüdische Gemeinden und darin die christusgläubige Gemeinde. Vgl. Schmeller, Korintherbrief, 320f. Vgl. Liew, Hermeneutics, 81. A. a. O., 78.

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innerhalb der Gemeinde führt, indem soziale Position an Bedeutung gewinnen. Ein entscheidender Unterschied ist jedoch, dass die griechischen Gemeindemitglieder in Korinth eine eigene Entscheidung treffen, sich von einer Mehrheit hin zu einer Minderheit hinzuwenden. In den USA hingegen werden Asian Americans durch die Gesellschaft rassistisch marginalisiert und haben nicht die Möglichkeit zu entscheiden, welcher Gruppe sie angehören möchten. Aus rassismuskritischer Perspektive ist der Unterschied sehr relevant, weil von Rassismus Betroffene keine Wahl haben, sondern rassistisch fremdbeschrieben werden. Die Mitglieder in Korinth sind bzgl. ihrer Entscheidung hingegen selbstbestimmt. (2) Die Beziehung zwischen Paulus und der Gemeinde in Korinth ist anders gelagert. Paulus rechtfertigt in dem Brief seine Legitimität. Liew zeigt auf, dass auch diese Beziehung von der Unterscheidung verschiedener race/ethnicity geprägt ist. Er bezieht sich in der Auslegung auf die in dem Brief verwendete Metapher des Körpers. Der Fokus in der Exegese liegt primär auf der Bedeutung des Körpers als „church body as well as those of the resurrected body“, wohingegen „the knowledge of the body, particularly the racial/ethnic difference, that is inscribed on the human body”35 wenig Beachtung findet. „This phenomenon has, of course, much to do with the Europeanization of Paul in particular and the politics of racialization and negation within biblical scholarship in general […].”36 Die Betrachtung des paulinischen Körpers als verworfenen Körper eines Diasporajudens ist in der Forschung bisher kaum wahrgenommen worden. Sein Körper ist stigmatisiert durch ethnisch-religiöse Differenzziehungen im römischen Empire. Das beeinflusst auch das Verhältnis zur korinthischen Gemeinde. Denn wie sollen sich ihre griechisch geprägten Mitglieder zu diesem stigmatisierten Körper verhalten? Paulus gibt in seiner Apologie Aufschluss darüber. Bis Kapitel 4 verteidigt Paulus seine Position und Legitimität in der Niedrigkeit und der Zuwendung Gottes zu den Schwachen. Am Kreuz erfährt der verworfene jüdische Körper Jesu eine Erniedrigung, die in der Auferstehung transformiert wird (1 Kor 1,4–2,16). In Kapitel 4 zählt Paulus dann die Stigmatisierung seines jüdischen Körpers als Apostel auf: „last“, „foolish“, „weak“ und „dishonorable“ im Gegensatz zu den Korinthern, die als „became rich“, „became kings“, „wise“, „strong“ und „honorable“ (1 Kor 4,8–10) beschrieben werden. Die Korinther schauen auf den Körper des Paulus herab. 37 Dabei handelt es sich um eine leibliche Perspektive rassistischer Fremdzuschreibungen. Mit der Körpermetapher in 1 Kor 12,13 argumentiert Paulus, dass aufgrund der Taufe alle Körper in Christus vereint sind. Ziel der Korinther muss es also sein, ihre Differenz von race/ethnicity sowohl innerhalb als auch in ihrer Bezie-

35 36 37

Ebd. Ebd. Vgl. a. a. O., 81f.

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hung zu Paulus zu überwinden. Dabei wird der verworfene Körper nicht aufgelöst, sondern durch Christus aufgebrochen und transformiert.38 Die Existenz rassistischer Unterschiede wird in der Gemeinschaft nicht ignoriert, sondern Paulus zeigt gerade auf, wie der Glaube an Jesus Christus eine Transformation der Existenz ermöglicht. Die Erfahrung eines No-Bodys, d.h. eines Körpers, der in der Gesellschaft unsichtbar bleibt und zugleich mit stigmatisierten Fremdbeschreibungen übersät ist, entspricht darum aus meiner Sicht der Asian American Erfahrung aus rassismuskritischer Perspektive besser als die Situation der griechischen Korinther. Paulus bietet somit in seiner eigenen Legitimierung eine Hoffnungsperspektive der Möglichkeit der Überwindung der weltlichen Bedeutung rassistischer und ethnischer hierarchisierter Unterschiede. Dabei werden diese Strukturen nicht durch die Zugehörigkeit zur Gemeinde per se überwunden, sondern erst durch die Umsetzung der christlichen Perspektive, dass durch Jesus Christus eine Transformation ermöglicht wird, die solche Hierarchien durchbricht und transformiert. Es handelt sich insofern nicht um einen Automatismus, sondern um einen bewussten Prozess der eigenen Einstellung und Handlung. An diesem Beispiel zeigt sich, wie die kontextuelle Exegese von Liew einen überkontextuellen Brückenschlag leistet, indem er aus dem Text Erkenntnisse hebt, die bisher bibelwissenschaftlich weniger beleuchtet wurden. Diese Entdeckungen sind möglich durch seinen dezidiert Asian American Kontext. „By turning ‘our’ attention away from whites to each other, different racial/ethnic minority groups can work together to form new ways of reading, knowing, and be(com)ing that go beyond reversing, reinscribing and resisting dominant, colonial, or orientalist ideologic.”39 Die transkulturelle Existenz im Zwischenraum hebt also neue Schätze der Schriftinterpretation. Diese sind weder zu exotisieren noch zu eurozentrisieren, sondern sie zeigen gerade transkulturelle Dynamiken in der Exegese insgesamt auf.

3.3

Methodische Zugänge

Es ist daran anschließend zu fragen, wie sich die benannten transkulturellen Dynamiken auf die Wahl der methodischen Zugänge auswirken. Wie es der Name schon sagt, bezieht sich die Asian American Bibelhermeneutik nicht auf einen spezifischen methodischen Zugang, sondern nimmt ihren Ausgangspunkt in der Kontextualität und Erfahrungswelt von Asian Americans. Ich möchte einen, der aus meiner Sicht zentralen Aspekte des transkulturellen Potentials, herausgreifen und näher beleuchten: das Verhältnis zwischen 38 39

Vgl. a. a. O. 88f. A. a. O., 15.

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historischer Kritik und ideologischem Lesen40, was hier ein ethisch geleitetes Lesen meint. Die Verhältnisbestimmung ist von besonderer Bedeutung, weil mit der Erkenntnis der kontextuellen Bedingtheit und des Umwelteinflusses auch der historischen Kritik eine Revision ihrer Position innerhalb des existierenden Methodenpluralismus notwendig ist. Rassismus- und kultursensible Perspektiven wie die der Asian American Bibelhermeneutik sind dabei weiterführend. Um die besondere Relevanz dieser Aushandlung für Asian Americans zu verstehen, braucht es einen Blick in die bibelwissenschaftliche Ausbildung. Das Bibelstudium basiert an den meisten Universitäten und theologischen Ausbildungsstätten auf der historischen Kritik. Asian Americans werden also in den USA in diesen methodischen Zugängen primär ausgebildet. Diese Zugänge geraten jedoch an Grenzen unter Einbezug des dezidiert Asian American Kontextes. Sze-Kar Wan beschreibt die Situation wie folgt: „Faced with this dilemma, AsianAmerican scholars are forced to make a choice between two equally undesirable alternatives. Either become a full-fledged historical critic – to play the academic game as it were – and buy into the claims of universality, thereby reinscribing the dominant discourse that marginalizes all who do not share its assumptions and perspectives; or retool to become an ideological reader who must now join other ideological readers who have already staked out their claims at the by-now crowded margins. If we were to remain historical critics, we would have to bracket our ethnicity and allegiance to our constituencies in order to subscribe to the fiction that the fruit of such scholarship represents the objective, the universal, the true. There would be no room for suspicion of or inquiry into the foundational claims that are tacitly assumed in the academic halls of power.“41 Darin wird deutlich, dass die Aushandlung der methodischen Zugänge nicht nur dem Zweck einer Grundlegung für eine konkrete Schriftauslegung dienen, sondern an sich bezüglich ihrer Legitimierung und Hierarchisierung zur Debatte stehen. Die feministische postkoloniale Exegetin Kwok Pui-Lan verweist mit Nachdruck darauf, dass auch die historischen Zugänge in ihrer Entstehung und damit

40

41

Das Begriffspaar findet sich bei Sze-Kar Wan, Betwixt and Between. Toward a Hermeneutics of Hyphenation, in: Mary F. Foskett/Jeffrey Kah-Jin Kuan (Hg.), Ways of Being, Ways of Reading. Asian American Biblical Interpretation, Danvers, USA 2006, 137– 151. Wan macht darin auf den Graben aufmerksam zwischen solchen methodischen Zugängen, mittels derer eine vermeintlich objektive Wahrheit des Textes durch Analysen der Autoren und der Umwelt erreicht werden und vermeintlich subjektiven Zugängen, die ihren Ausgangspunkt in den konkreten Kontexten der Personen haben, die Schrift interpretieren. A. a. O. 143.

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auch in ihren Anliegen kontextuell bedingt sind. Sie sind das Produkt einer westlichen, aufklärerischen Weltanschauung.42 Damit geht auch die Unterscheidungslogik von objektiv und subjektiv im westlichen Wissenssystem und ihrem universalen Anspruch einher. Wan zeigt auf, dass der vermeintlich objektive Anspruch versucht die kontextuelle Bedingtheit abzustreifen, um zu einer puren Interpretation zu kommen, welche die eigene Historizität verleugnet. Dieser absolute Anspruch muss spätestens seit der postkolonialen Bibelkritik als Unmöglichkeit angesehen werden. Gale A. Yee bringt es auf den Punkt, indem sie schreibt: „The real danger in espousing a „value-neutral“ perpsective in reading is having an ideological agenda without acknowledging it.“43 Neben der Kritik an der Historischen Kritik sind genauso die Gefahren des ideologischen Lesens zu benennen. Yee betont, dass eine rein am Text orientierte Exegese zu einer ahistorischen Darstellung führen kann.44 Eine Exegese nur auf Textebene aus primärer Perspektive der Rezipient:innen kann schnell dazu führen, das eigene Bild in den Text hinein zu projizieren.45 Nach Yee beginnt jede Erforschung der Schrift beim Lesen aus der konkreten Situation heraus. Die ausgewählte Methodik der Interpretation ermöglicht Erkenntnis mit dem Bewusstsein ihrer Begrenztheit durch die Methode selbst, weil die Wahl der Methode automatisch zu einer Limitierung der gestellten Forschungsfragen setzt. Diese Produktion von Bedeutung muss sich zugleich daraufhin reflektieren lassen, welche Macht warum und unter welchen Bedingungen zu ebendieser Deutung kommen kann oder auch nicht kommen kann.46 Was trägt also die Asian American Bibelhermeneutik für das komplexe Verhältnis von historischer Kritik und ideologischem Lesen aus? Mary F. Foskett fasst es prägnant zusammen: „Although Asian American biblical interpreters are among those who have offered an important critique of historical criticism, Asian American hermeneutics has also demonstrated the ongoing value of historical method. Key to moving forward is ensuring that historical consciousness and historical-critical tools function as strategires for an ethically concerned mode of interpretation, rather than as mechanisms of containment. For Asian American biblical criticism, an interpretive approach that is responsive to always evolving histories and shifting social, economic, and geopolitical contexts, 42

43

44 45 46

Die Aufklärung ist zugleich von rassistischen Ideologien geprägt und hat diese geisteswissenschaftlich zum Teil gefördert. Zum Beispiel haben sowohl Georg W.F. Hegel als auch Immanuel Kant eine Hierarchisierung von vermeintlichen Rassen und Kulturen weiterentwickelt. Vgl. Susan Arndt, Rassismus Begreifen. Vom Trümmerhaufen der Geschichte zu neuen Wegen, München 2021, 147–194. Gale A. Yee, The Author/Text/Reader and Power. Suggestions for a Critical Framework for Biblical Studies, in: Fernando F. Segovia (Hg.), Reading from this place. Social location and biblical interpretation in the United States, Minneapolis 1995, 109–118, 116. Vgl. a. a. O., 112f. Vgl. Wan, Betwixt, 140. Vgl. Yee, Author, 109–111.115–117.

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historical inquiry will remain relevant and vital.“47 Die Asian American Bibelhermeneutik verwirft die Methoden der historischen Kritik gerade nicht, sondern zeigt die Problematik der Verobjektivierung und Universalisierung des Ansatzes auf. Die tradierte machtvolle Hierarchisierung unterdrückt andere Zugänge als vermeintlich subjektive Methoden, während die historische Kritik ihre kontextuelle Prägung tendenziell übersieht. Das Plädoyer der Asian American Bibelhermeneutik ist dementsprechend eine Dehierarchisierung der Methoden in den Bibelwissenschaften. Es sind gerade ihre Zugänge, welche die blinden Flecke der westlich geprägten historischen Kritik aufzeigen. Asian Americans tragen zu einem transkulturellen Brückenschlag bei, der in der Betonung der eigenen Kontextualität liegt unter Rekurs auf verschiedene methodische Zugänge unterschiedlicher Prägung. Sie haben das Ziel der Generierung von Bibelinterpretationen, die in die Lebenswelt von Asian Americans sprechen und zugleich kein exotisiertes Anderes darstellen, sondern auch einen wichtigen akademischen Beitrag in der Bibelwissenschaft insgesamt leisten.

4.

Kultur- und rassismussensible Zukunftsperspektiven für die (Interkulturelle) Bibelhermeneutik (Desiderate)

(Interkulturelle) Bibelhermeneutik muss in der Gegenwart kultur- und rassismussensibel sein. Das bedeutet die Dekonstruktion des lange Zeit bestehenden weißen Machtzentrum der biblischen Exegese. Auch westliche Auslegungsmethoden müssen als kontextuell und damit von soziokulturellen Wissensbeständen und -systemen beeinflusste Zugänge verstanden und transparent gemacht werden. Rassismuskritische Perspektiven werden meistens von den Rändern in das Zentrum getragen und zeigen dem Zentrum seine ungewollte und unrechtmäßige Vorherrschaft auf. Der Normalfall aus einer globalen Perspektive ist darum nicht die westliche historische Kritik, sondern die interkulturelle Bibelhermeneutik verstanden als Konglomerat möglicher Zugänge unter Bewusstwerdung soziokultureller Einflüsse. Ein bibelhermeneutischer Zugang, von dem die deutschsprachige Bibelhermeneutik lernen kann, ist die Asian American Bibelhermeneutik. In ihr wird erstens sichtbar, wie die transkulturelle Selbstbeschreibung von Theolog:innen die Art und Weise der Schriftauslegung prägt. Zweitens zeigt sie die Konsequenzen einer erfahrenen rassistischen Fremdbeschreibung und Marginalisierung auf, an der sich die Asian American Bibelhermeneutik abarbeitet. Zugleich wird in 47

Mary F. Foskett, Historical Criticism, in: Uriah Y. Kim/Seung Ai Yang (Hg.), T&T Clark Handbook of Asian American biblical hermeneutics, London u.a. 2019, 107–117, 116.

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dem Ansatz der blinde Fleck westlicher Bibelhermeneutik deutlich. Bis Dato ist es nicht notwendig gewesen, dass sie sich mit der eigenen kontextuellen Verortung und ihrer unrechtmäßigen Deutungshoheit auseinandersetzt. Eine rassismus- und kultursensible Perspektive impliziert die Dekonstruktion ebendieses Machtverhältnisses und die Wahrnehmung ihrer Wirkmacht bis heute. Das Vorhaltens des Spiegel von den Rändern verändert das Zentrum und bricht es auf. Die Asian American Bibelhermeneutik zeigt drittens einen möglichen Weg hin der Überwindung auf. Sie benennt den Kontext, von dem aus sie Schrift auslegt deutlich. Durch diese transkulturelle Perspektive und ihre Erfahrung der eigenen Marginalisierung, können Erkenntnisse in der Schrift erhoben werden, die mit einem eurozentrischen Blick bisher unsichtbar geblieben sind. So zeigt z. B. Liew auf, dass der Konflikt in Korinth nicht in erster Linie auf sozialen ökonomischen Differenzen beruht, sondern auf der Unterscheidung von race/ethnicity. Methodisch wird die historische Kritik nicht als westlicher Ansatz zunächst verworfen, sondern als ein gleichberechtigter Ansatz unter vielen verstanden. Zugleich wird die Begrenzung der historischen Kritik benannt und ihre Macht gegenüber den anderen, nicht-weißen interkulturellen Bibelhermeneutiken dekonstruiert. Die Asian American Bibelhermeneutik kann eine entscheidende Brückenbauerin sein, weil sie gerade an der transkulturellen Schnittstelle zwischen den USA, d. h. westlichen Ansätzen und unterschiedlichen asiatischen Kontexten Schriftauslegung betreibt. Eine solche Verwebung macht nicht nur bisher unbeachtete inhaltliche Perspektiven auf die Schrift sichtbar, sondern verfolgt auch ein Konzept der methodischen Inklusion und Gleichberechtigung. Angesichts globaler Verwebungen und Kontakte wird es zunehmend schwierig von monolinearen Einflüssen in der Bibelhermeneutik zu sprechen. Dadurch löst sich auch die Differenz zwischen dem Westen und dem globalen Süden auf, wenngleich die Konstruktion weiterhin deutungsmächtig und reflexionsbedürftig bleibt. Wissenschaftler:innen haben internationale Lebensläufe, tauschen sich global aus und beeinflussen sich. Das birgt neue Herausforderungen. Nach der Anerkennung des Methodenpluralismus braucht es gegenwärtig eine kritische Reflexion westlicher Deutungsmacht von Schrift sowie die konsequente Wahrnehmung der Gleichberechtigung pluraler Wissenssysteme und -logiken. Darüber hinaus zeigt u. a. die Asian American Bibelhermeneutik deutlich die Gefahr auf, zwischen einer vermeintlich klassischen Bibelhermeneutik und einer interkulturellen Bibelhermeneutik zu unterscheiden. Eine solche Exotisierung seitens westlicher Bibelhermeneutiken ist unbedingt selbstkritisch auf ihre Angemessenheit hin zu reflektieren. Interkulturelle Bibelhermeneutiken im Plural bedeuten konsequenterweise die Auflösung eines deutungsmächtigen Zentrums und die radikale Anerkennung einer Pluralität der Zugänge und Methoden sowie der kulturellen, interkulturellen und transkulturellen Kontexte. Diese sollten gleichberechtigt nebeneinanderstehen und sind zugleich miteinander

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vernetzt sowie voneinander beeinflusst in Aushandlungsprozessen der Transkulturation sowie bleibender Differenz.

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84

Alena Höfer

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Kontextuelle Bibelauslegung und innovative historische Forschung Das Beispiel von zeitgenössischer präfigurativer Politik und der Jesusbewegung Peter-Ben Smit

1.

Einführung

Kontextuelle Bibelauslegung kann, wie die meisten theologischen Disziplinen, unterschiedlich verstanden werden.1 Die klassische Variante ist eine Form von befreiungstheologischer Exegese, die die Schrift ausgehend vom Kontext der Lesenden verstehen möchte (und die diesen Kontext mit der Hilfe von linken Sozialtheorie analysiert); ‚Sehen – Beurteilen – Handeln‘ sind dabei die drei Schritte des hermeneutischen Prozesses.2 Eine zweite Form ist die ‚empirische Hermeneutik‘, die versucht mit der Hilfe von sozialwissenschaftlichen Methoden herauszuarbeiten wie ‚ordinary readers‘ die Bibel tatsächlich lesen, damit diese Stimme auch exegetisch und hermeneutisch ernst genommen werden kann.3 Eine dritte Variante und auch die Variante, mit welcher ich heute arbeite, ist, um sich von zeitgenössischen, heutigen Entwicklungen, vor allem von solchen

1

2

3

Vgl. z. B. den Überblick in: Peter-Ben Smit/Klaas Spronk (in Zusammenarbeit mit Kirsten van der Ham), La interpretación bíblica contextual: una necesidad teológica, in: Conc 396 (2022), 15–26, und weiter: Hans de Wit/Gerald O. West (Hg.), African and European Readers of the Bible in Bible, Leiden 2008; Hans de Wit, Empirical Hermeneutics, Interculturality, and Holy Scripture, Amsterdam 2012; Hans de Wit/Janet Dyk (Hg.), Bible and Transformation. The Promise of Intercultural Bible Reading, Atlanta 2015; oder auch Brian K. Blount, The Souls of Biblical Folks and the Potential for Meaning, in: JBL 138 (2019), 6–21; sowie auch: Christian Schramm, Alltagsexegesen. Sinnkonstruktion und Textverstehen in alltäglichen Kontexten, Stuttgart 2008. Zu diesem Ansatz, s. z. B. den Überblick bei Justin Sands, Introducing Cardinal Cardijn’s See–Judge–Act as an Interdisciplinary Method to Move Theory into Practice, in: Rel(L) 9 (2018), https://doi.org/10.3390/rel9040129. Ein gutes Beispiel ist: Helen C. John, Biblical Interpretation and African Traditional Religion, Leiden 2019.

86

Peter-Ben Smit

ausserhalb von Kirche und Theologie, inspirieren zu lassen, um Bibeltexte erneut zu befragen. Wie es eigentlich immer der Fall ist in der Bibelauslegung funktioniert der aktuelle Kontext als Katalysator für die Bibelauslegung.4 Für den heutigen Beitrag besteht der Katalysator aus einer Reihe von gesellschaftlichen Protestbewegungen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben und die als ‚präfigurative Politik‘ beschrieben worden sind. Ich denke, dass mit der Hilfe von Einsichten aus dieser ‚präfigurativen Politik‘ Themen aus der Jesusbewegung des 1. Jahrhunderts neu betrachtet, oder wenigstens aus einer neuen Perspektive betrachten werden können. Ob es dabei zu radikal neuen Einsichten kommt, ist noch eine offene Frage, vielleicht ist da aber auch nicht nötig, denn wo ich mir sicherer bin, ist, dass über diesen Weg, das Potential frühchristlicher Quellen als Gesprächspartner für zeitgenössische gesellschaftliche Bewegungen erhellt werden kann und das ist mir auch wichtig. Ich gehe im Folgenden zuerst auf präfigurative Politik (und ihr Unterschied zu exegetischer Präfiguration) ein und versuche dann zu zeigen, wie die Interpretation des Markusevangeliums mit der Hilfe von diesem Verständnis von Präfiguration vorangetrieben werden kann.

2.

Präfigurative Politik

Als Präfigurative Politik werden gesellschaftliche Bewegungen und Experimente bezeichnet, die versuchen, eine ersehnte, zukünftige Gesellschaft schon jetzt widerzuspiegeln.5 Eine frühe Definition, des Theoretikers Carl Boggs, besagt, dass es um folgendes geht: „the embodiment, within the ongoing political practice of a movement, of those forms of social relations, decision-making, culture, and human experience that are the ultimate goal.“6 Diese Bewegungen 4

5

6

Vgl. auch Peter-Ben Smit (Hg.), Crisis as a Catalyst: Early Christian Texts and the Covid-19 Pandemic. Themenheft des Journal for the Study of the New Testament 43, 2021; da auch, Peter-Ben Smit, Crisis as a Catalyst: Early Christian Texts and the COVID-19 Pandemic, in: Ders. (Hg.), Crisis as a Catalyst: Early Christian Texts and the Covid-19 Pandemic. Themenheft des Journal for the Study of the New Testament 43, 2021, 3–7. Vgl. die Darstellungen bei: Mathijs van de Sande, The Prefigurative Power of the Common(s), in: Guido Ruivenkamp/Andy Hilton (Hg.), Perspectives on Commoning: Autonomist Principles and Practices, London 2017, 25–63; und Mathijs van de Sande, Prefiguration, in: Heike Paul (Hg.), Critical Terms in Futures Studies, Cham 2019, 227–233; Darcy K. Leach, Prefigurative Politics, in: David A. Snow u. a. (Hg.), The Wiley-Blackwell Encyclopedia of Social and Political Movements, Malden 2013, 1004–1006; besonders auch: Paul Raekstad/Sofa Saio Gradin, Prefigurative Politics. Building Tomorrow Today, Newark 2020. Carl Boggs, Prefigurative Communism, and the Problem of Workers’ Control, in: Radical America 11 (1977), 99–122, hier: 100.

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sind grundsätzlich experimentell weil die Form der ersehnte Gesellschaft erst in deren Erkundung in konkreten Praktiken, die immer wieder angepasst werden und müssen. Was die Zukunft beinhaltet, transformiert sich damit auch in seiner Entdeckung. Ein häufig erwähntes Beispiel von zeitgenössischer präfigurative Politik sind die Protest- und Besatzungsbewegungen von 2011 in der arabischen Welt (besonders in Ägypten), in Spanien, in den USA und in London, der ‚arabische Frühling‘, die ‚Indignados‘ und ‚Occupy,‘ oder auch die WTO Proteste in Seattle von 1999, welche Graeber in einem häufig zitierten Abschnitt folgendermassen charakterisiert: When protesters in Seattle chanted „this is what democracy looks like,“ they meant to be taken literally. In the best tradition of direct action, they not only confronted a certain form of power, exposing its mechanisms and attempting literally to stop it in its tracks: they did it in a way which demonstrated why the kind of social relations on which it is based were unnecessary. This is why all the condescending remarks about the movement being dominated by a bunch of dumb kids with no coherent ideology completely missed the mark. The diversity was a function of the decentralized form of organization, and this organization was the movement’s ideology. 7

Es gibt noch viele andere Beispiele von solchen präfigurativen Bewegungen, wobei es aber auffällt, dass in der Diskussion Beispiele aus religiösen Kontexten in der Regel (oder sogar überhaupt) fehlen; das trifft auf jedem Fall zu für die frühe Jesusbewegung.8 Diese Art von Protest und Politik beinhaltet auch, dass eine Reihe von Dingen, die einander häufig dichotomisch gegenübergestellt werden, einander auf eine andere Art und Weise zugeordnet werden müssen. Dieser Umstand macht

7 8

David Graeber, Fragments of an Anarchist Anthropology, Chicago 22004, 84. Diesbezüglich scheint es vor allem eine Veröffentlichung zu geben: Justin Meggitt, Anachronism’, Anarchism and the Historical Jesus, in: Alexandre Christoyannopoulos/Matthew Adams (Hg.), Essays on Anarchism and Religion, Stockholm 2017, 124–197. Andere Publikationen verwenden den Begriff ‚Präfiguration‘ oder das Adjektiv ‚präfigurativ‘ eher inzidentell und haben wenig zu tun mit präfigurativer Politik wie gerade beschrieben. Vgl. Richard Hays, The Moral Vision of the New Testament, New York 1997, 32: „What is God doing in the world in the interval between resurrection and parousia? According to Paul, God is at work through the Spirit to create communities that prefigure and embody the reconciliation and healing of the world.“ (Zit. n. André Trocmé, Jesus and the Nonviolent Revolution (hg. von Charles E. Moore), Rifton 2011, 187n5. Trocmé, o. c., 184, weist auch hin auf die Bedeutung von Präfiguration bei Stanley Hauerwas, e.g., in Resident Aliens, Nashville 1989; während John C. Peet, The Politics of the Crucified, Eugene 2021, 289; die Aufmerksamkeit richtet auf das Werk Yoders Yoder: „If, according to the Yoderian analysis, ecclesiology is the starting point for social ethics, the pattern of existence of the church is both a model for the present and a foretaste of the ultimate divine intention for the world. God’s intention for human social interaction is prefigured in the church, which is a sign both of present witness and future hope.“ Yoders eigene zutiefst problematische Verkörperung einer präfigurativen Existenz warnt auch davor jede Instanz von präfigurativer Politik sofort zu begrüßen.

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präfigurative Politik auch auf theoretischer Ebene interessant. Zu den Themen, die anders gedacht werden müssen gehören:9 – die Dichotomie zwischen Zukunft und Gegenwart, denn die Zukunft ist schon da in der Gegenwart – Die Dichotomie zwischen Mittel und Zweck, weil der Zweck bereits in den Mitteln vorhanden ist. – Die Dichotomie zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, weil das, was abwesend ist, gleichzeitig auch da ist. – Die Dichotomie zwischen Ideal und Realität, da das Ideal in einer Realität präsent ist, die nicht mit dem Ideal übereinstimmt; – Die Dichotomie zwischen Zentrum und Marge, da (marginale) präfigurative Praktiken sich sowohl als Zentrum etablieren als auch als Marge fortbestehen. Auf diese Themen, bzw. Dichotomien werde ich gleich zurückkommen. Zuerst muss ich aber noch erläutern wie diese Form von Präfiguration sich verhält zu mitunter frühchristlichen Formen von präfigurativer oder auch typologischer Exegese. Die Antwort ist relativ einfach, wenigstens bei Theoretiker*innen von präfigurativer Politik (ich bin mir nicht sicher, ob ich ihnen ganz zustimme, übrigens): es gibt keine Beziehung. Paul Raekstadt, ein führender Theoretiker, grenzt exegetische Präfiguration und präfigurative Politik folgendermassen voneinander ab (in meiner Übersetzung): Although this word (sc. „prefiguration“, pbs) later came to be used to denote political organizations aiming to institute in the present some aspects of what they aspire to in a future society, there are crucial differences. First, to prefigure something in this (sc. early Christian) sense is not actually to do it or to try to do it. For Moses to prefigure Christ does not entail that Moses aspires to the same goals as Christ, or that Moses consciously and deliberately works towards what Christ achieves. By contrast, for a revolutionary organization to prefigure the future society it aspires to bring about is for it consciously and deliberately to aim for that future form of society as a goal and to use this aim to structure the way it organizes in the present. Second, whether something is prefigurative in the first sense is determined only retrospectively. We are able to imagine that Moses prefigures Christ only after Christ has come and gone. Since it is impossible to tell beforehand whether something prefigures anything else, and since prefiguration is disconnected from the intentions and goals of the agents doing the prefiguring, prefiguration in this sense does not offer practical guidance to a social and political movement or organization. The contemporary understanding of what today is called prefigurative politics developed in the 19th century without reference to the religious meaning of the term, and only over a century later did the term start to be used to denote this sort of politics…10

Diese Abgrenzung muss ich so stehen lassen. Allerdings bin ich nicht ganz überzeugt: denn in christlicher Theologie, m. E. auch schon bei den Kirchenvätern die Auffassung besteht, dass die Kirche das Gottesreich 9 10

Vgl. Van de Sande, Prefiguration. Paul Raekstad, Revolutionary Practice and Prefigurative Politics. A Clarification and Defense, in: Constellations 25 (2018), 359–372, hier 361.

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präfiguriert, was durchaus auch zu sozialen Experimenten Anlass gegeben hat.11 Wie zum Bespiel Taussig, und auch andere, sozialwissenschaftlich arbeitende Exeget*innen angedeutet haben, kann die frühe Jesus Bewegung durchaus als soziales Experiment verstanden werden.12 Auf diesem Hintergrund kann die Stellung vertreten werden, dass die Jesusbewegung sich vom Anfang an und in manchen von ihren späteren Varianten sich auch im Sinne von Raekstadt als eine präfigurative Bewegung verstehen. Wie das möglich ist, werde ich nun am Beispiel des Markusevangeliums, verstanden als ein Zeugnis einer bestimmten Entwicklung der Jesusbewegung, versuchen nachzugehen. Damit wird auch eingegangen auf die These von Mayordomo, der neuerdings die Frage des politischen Profils des historischen Jesus und auch der frühen Jesusbewegung als eine noch unbeantwortete Frage charakterisierte: „Der ‚revolutionäre Jesus‘ gehört als ein hermeneutisch reizvolles Experiment meines Erachtens der Vergangenheit an, der politische Jesus hingegen wird noch viel zu denken geben.“13

3.

Die Jesusbewegung als präfigurative Politik?

Um auf die Jesusbewegung, so wie sie in der narrativen Welt des Markusevangeliums zur Sprache kommt (was folgt bewegt sich also auf dieser Ebenen, nicht

11

12

13

Vgl. in einflussreichen theologischen Synthesen des 20. Jahrhunderts Stellen wie die dogmatische Konstitution Lumen Gentium des 2. Vatikanischen Konzils (par. 35: „Wie die Sakramente des Neuen Bundes, durch die das Leben und der Apostolat der Gläubigen genährt werden, einen neuen Himmel und eine neue Erde (vgl. Offb 21,1) vorbilden (Lateinisch: ‚praefigurant‘), so werden die Laien gültige Verkünder des Glaubens an die zu erhoffenden Dinge (vgl. Hebr 11,1), wenn sie mit dem Leben aus dem Glauben ohne Zögern das Bekenntnis des Glaubens verbinden.“) und das Lima-Dokument (A.1.4: ‚Die Kirche ist berufen, das Reich Gottes zu verkünden und vorweg darzustellen (Englisch: ‚prefigure‘). S. für einen umfassenden Ansatz bezüglich eschatologischer Imagination und der Performanz des Reiches Gottes in Beziehung zur Eucharistie: Andrea Bieler/Luise Schottroff, The Eucharist. Bodies, Bread & Resurrection, Minneapolis 2007, 15–67. Vgl. Hal Taussig, In the Beginning was the Meal. Social Experimentation and Early Christian Identity, Minneapolis 2009; s. weiter auch Burton L. Macks Arbeiten, z. B. On Describing Christian Origins, in: Aaron W. Hughes (Hg.), Theory and Method in the Study of Religion Twenty Five Years On, Leiden 2013, 177–199; das sich bezieht auf: Ronald Dean Cameron/Merrill P. Miller, Conclusion. Redescribing Christian Origins, in: Dies. (Hg.), Redescribing Christian Origins, Leiden 2004, 497–516; für eine Besprechung des Themas, s. auch: Angela Lynn Brkich, Locating Opportunities. Women, Ritualizations, and Social Experimentation in Early Jesus Groups (PhD dissertation; University of Alberta), 2014. Moises Mayordomo, Der revolutionäre Jesus – Ein Experiment im Zeichen der Moderne, in: BThZ 36 (2019), 180–192, hier: 192.

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Peter-Ben Smit

auf der Ebene des historischen Jesus), als Form von präfigurativer Politik einzugehen, nehme ich die Dichotomien, die ich vorher erwähnte wieder auf und gehe nach, ob und wie diese in dem dritten Evangelium eine Rolle spielen.

3.1

Zeit: Schon und noch nicht

Eine der ersten Dimensionen des Markusevangeliums, die unter dem Gesichtspunkt der präfigurativen Politik diskutiert werden kann, ist die Dimension der Zeit. Im Markusevangelium besteht eine Spannung zwischen dem unmittelbar bevorstehenden Anbruch des Reiches Gottes (z. B. die Verkündigung Jesu in 1,15: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen; tut Buße und glaubt an das Evangelium.“ – Siehe auch am Ende des Evangeliums, 14,25, wo Jesus sich darauf freut, im Reich Gottes erneut Wein zu trinken, kurz vor seinem Verrat und Tod),14 und die Gegenwart der Gottesherrschaft in Jesu Wirken, seiner Predigt, seinen Exorzismen, Heilungen und anderen „Wundern“, wie seiner Beherrschung des Wassers und seiner Vermehrung von Nahrungsmitteln, Brote und Fische.15 Obwohl es klar ist, dass Jesus dem Kommen des Reiches Gottes entgegensieht, wäre es übertrieben zu sagen, dass Gottes Herrschaft in seinem Leben und Wirken nicht gegenwärtig ist (nach der Beschreibung von Markus, natürlich). Eine Möglichkeit, die Gegenwart der Zukunft in der Gegenwart zu konzeptualisieren, wäre zu sagen, dass Jesus die kommende Herrschaft Gottes präfiguriert, was die Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft nicht auflöst, aber einen Rahmen für ihr Verständnis bietet. Das künftige Reich Gottes ist gewiss Zukunft, doch ist diese Zukunft auch in der Praxis Jesu (einschließlich seiner Worte und Taten) gegenwärtig – (imaginierte) Zukunft und Gegenwart fallen zusammen – und die Vorstellung von dieser Zukunft wird von ihr geprägt.

3.2

An- und Abwesenheit

Eine weitere Möglichkeit, die Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft zu betrachten, besteht darin, die Aufmerksamkeit auf die Anwesenheit und die Abwesenheit von Gottes Herrschaft zu lenken; die Sprache über das Reich Gottes ist 14 15

Zu diesem Text, vgl. auch Peter-Ben Smit, Neuer Wein oder Wein aufs Neue. Ein Notiz zu Mk 14,25, in: BN 129 (2006), 61–70. Vgl. Christian Blumenthal, Gott im Markusevangelium. Wort und Gegenwart Gottes bei Markus, Neukirchen-Vluyn 2014; und David Du Toit, Motive der Gottesgegenwart in der Synoptischen Tradition, in: Bernd Janowski/Enno Edzard Popkes (Hg.), Das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Zur Schechina-Vorstellung in Judentum und Christentum, Tübingen 2014, 177–202. Über die Performanz des Reiches Gottes in den wunderbaren Speisungen im Markusevangelium, vgl. auch Peter-Ben Smit, Food and Gift. On the ‚Words of Institution‘ in the Gospel of Mark, in: JSNT 44 (2022), 516–538.

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oft zeitlicher Natur (d. h. es steht unmittelbar bevor usw.). Es kann aber auch in Begriffen von Abwesenheit und Anwesenheit gedacht werden.16 In der präfigurativen Politik ist die ansonsten abwesende „Utopie“ in den Praktiken der Bewegung, die sie präfigurativ zu verkörpern sucht (immer auf experimentelle Weise), bereits präsent. Das Zusammentreffen der Präsenz der Gottesherrschaft im Handeln Jesu als Stellvertreter Gottes (Christus, Menschensohn usw.) und der gleichzeitigen Realität der Abwesenheit der Gottesherrschaft (jenseits der Gruppe um Jesus) sowie der Konflikt zwischen verschiedenen Herrschaftstypen im markinischen Bericht über das Leben Jesu kann ebenfalls mit Hilfe der präfigurativen Politik verstanden werden. Das heißt, wenn Markus in Markus 6 und 8 die wunderbare Speisungen Jesu in der Wüste beschreibt, beschreibt er nicht nur Wunder, sondern auch, wie die ansonsten abwesende Herrschaft Gottes (z. B. das Beispiel der Herrschaft des Herodes in Markus 6) in ihrer Präfiguration durch Jesus und seine Umgebung präsent ist. 17 Die Verwendung des Rahmens der Präfiguration würde also der Spannung zwischen der Präsenz und der Abwesenheit von Gottes Herrschaft gerecht werden. – Es handelt sich dabei um eine umstrittene Präsenz, die nirgendwo deutlicher wird als in Jesu verzweifeltem Schrei am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (15,34),18 als offenbar Gottes eigener Stellvertreter, derjenige, dessen Vollzug Gottes Herrschaft gegenwärtig macht, mit Gottes gleichzeitiger Abwesenheit konfrontiert wird (die freilich in Gottes eigener Trauer über Jesu Tod eine unmittelbare Antwort erhält: Der Vorhang des Tempels reißt entzwei, während ein Hauptmann am Fuße des Kreuzes in dem verlassenen Jesus den Stellvertreter Gottes erkennt, indem er ihn als Sohn Gottes verkündet [15,39] – die Dialektik zwischen Abwesenheit und Anwesenheit geht also weiter, und keines hebt das andere auf).

3.3

Mittel und Zweck

Eine weitere Dimension des Lebens Jesu, wie es im Markusevangelium beschrieben wird, kann mit Hilfe der Linse der präfigurativen Politik analysiert werden, nämlich die zwischen Mittel und Zweck. „Mittel" können Jesu Verkündigung des Reiches Gottes (und die Diskussionen, die er mit anderen führt) und seine spektakulären Taten sein, die dessen Gestalt anzeigen (Heilungen, Sündenvergebung, 16 17

18

Ein wichtiges Thema im Markusevangelium, vgl. z. B. Gudrun Guttenberger, Die Gottesvorstellung im Markusevangelium, Berlin 2004, 16, 99, 117, 199, 204, 208. Zum Kontrast zwischen dem Königreich Gottes und dem Herrschaftsbereich von „König“ Herodes, vgl. z. B. Peter-Ben Smit, The Ritual (De)Construction of Masculinity in Mark 6. A Methodological Exploration on the Interface of Gender and Ritual Studies, in: Neotest. 50 (2017), 327–351. Vg. Matthew S. Rindge, Reconfiguring the Akedah and Recasting God. Lament and Divine Abandonment in Mark, in: JBL 131 (2012), 755–774.

92

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Exorzismen, andere Wunder). Sicherlich sind die Predigten und Taten Jesu Mittel, um seine Verkündigung der bevorstehenden Herrschaft Gottes zu verwirklichen, aber hinter diesen Ereignissen kann durchaus mehr stecken, als dass sie Instrumente sind, um Jesus als den Christus darzustellen (oder beispielsweise seine Göttlichkeit zu begründen und zu „beweisen“).19 Der Grund für diese Vermutung liegt darin, dass die verschiedenen Reden und Taten Jesu nicht nur dazu dienen, ihn als Stellvertreter Gottes im übergreifenden Kontext seiner Verkündigung der Gottesherrschaft zu etablieren (an die diese Reden und Taten durchaus gebunden sein können, und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer Funktion), sondern auch deren Form festzulegen. Mit anderen Worten: Wenn die Mittel, die Jesus (im Markusevangelium) einsetzt, Ausdruck des Ziels sind, auf das hin sie eingesetzt werden, d. h. der Herrschaft Gottes und ihrer Verkündigung, dann kann es gut sein, dass Mittel und Ziel hier zusammenfallen und dass der Weg zum Reich und der Inhalt des Reiches in diesen Reden und Taten, die damit das Reich vorwegnehmen, gleichzeitig experimentell und performativ erkundet werden.

3.4

Ideal und Wirklichkeit

Präfigurative Politik hat, auch aufgrund ihrer intellektuellen Herkunft, alles mit Idealen und der Wirklichkeit zu tun und versucht, den Weg für die verkörperte Präsenz von Idealen, von einer imaginierten und ersehnten Zukunft zu ebnen. Diese imaginierte Zukunft wird durch ihre experimentelle Umsetzung (und Verkörperung) in sozialen Praktiken erkundet. Das Ideal ist also notwendigerweise bereits in der Realität vorhanden und wird durch soziale Experimente im „Hier und Jetzt“ imaginiert. Vor diesem Hintergrund ist eine Dichotomie zwischen

19

S. bezüglich dem Charakter von Wundern in der Jesus-Tradition als ‚Performanzen‘ des Gottesreiches (oder als ‚Zeichen‘ des Göttesreiches, in welchen die Qualität dieses Reiches präsent ist): Jens Herzer, Neutestamentliche Wundergeschichten als hermeneutische Herausforderung, in: Martin Beyer/Ulf Liedke (Hg.), Wort Gottes im Gespräch, Leipzig 2008, 233–251, insb. 249, sowie Gerd Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, Gütersloh 71998, 229–297. Manfred Köhnlein, Wunder Jesu – Protest- Und Hoffnungsgeschichten, Stuttgart 2010, 17, veweist geschickt auf Wunder als „Fenster der Hoffnung mit dem Blick auf und in eine bessere Welt.“ S. dafür: Ruben Zimmermann, Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung, in: Ders. u. a. (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen 1, Gütersloh 22013, 5–68, hier: 11; zum Markusevangelium, s. dort besonders: Detlev Dormeyer, Hinführung, 193–204. – Z. B. Myrick C. Shinall, Jr., Miracles and the Kingdom of God in Mark and Q. Christology and Identity Among Jesus’ Early Followers (PhD Dissertation; Vanderbilt University), 2016, wählt eine andere Perspektive, indem er vertritt, dass in Q, im Lukas- und im Matthäusevangelium Jesu Wunder das Gottesreich präsent stellen, während sie im Markusevangelium auf Jesu Göttlichkeit hinweisen.

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Ideal und Realität nur schwer aufrechtzuerhalten; vielmehr sind Ideale präfigurativ in der Realität sozialer Praktiken, einschließlich ihrer eher konzeptuellen Reflexion, vorhanden und werden dort sogar entwickelt. Da es sich hier um soziale Praktiken handelt, die immer verkörpert sind, wird jede strenge Dichotomie zwischen Körper und Geist ebenfalls problematisch, angesichts des Ausmaßes, in dem die (noetische) Vorstellungskraft an (experimentelle) Praktiken gebunden ist; man könnte durchaus von verkörperten Formen der Vorstellung von "Utopie" sprechen (wobei man zugeben muss, dass eine noetische Komponente ebenfalls vorhanden ist, aber immer nur als Teil einer umfassenderen Vorstellung von „Utopie“). Für die Jesusbewegung, wie sie von Markus dargestellt wird, bedeutet dies, dass die Präfiguration der Gottesherrschaft in Jesu Worten und Taten nicht als „Anwendung“ oder „Demonstration“ einer „großen Idee“ gesehen werden sollte, sondern eher als experimentelle und imaginative Erkundung des Reiches Gottes, von dem man sich erst am Ende der Erzählung ein Bild machen kann, und selbst dann nicht wirklich, da es ein offenes Ende hat. Die Erzählform des Markusevangeliums eignet sich gut für diese explorative Dimension, da die Leserin, der Leser durch das Eintauchen in die Erzählung Teil des Experiments werden kann, vor allem, wenn dieses Eintauchen in die Erzählung auch bedeutet, in das Leben einer Gemeinschaft einzutreten, die versucht, die Geschichte des Markus in ihrem eigenen Leben durch ihre eigene experimentelle soziale Praxis fortzusetzen.20 Der Modus, in dem die präfigurative Politik operiert, die experimentelle soziale Praxis, lädt also dazu ein, die Art und Weise, wie das Reich Gottes bei Markus Gestalt annimmt (mehr experimentell, weniger die Umsetzung eines Plans), und die Art und Weise, wie Ideal und Wirklichkeit, Körper und Geist zusammenhängen, etwas anders zu betrachten.

3.5

Rand und Zentrum

Eine weitere Möglichkeit der Verwendung der präfigurativen Politik als Mittel für das Verständnis des Markusevangeliums hat mit dem Verhältnis zwischen Zentrum und Rand zu tun. Dieses Verhältnis wird verwandelt, sogar umgedreht, zumindest für diejenigen, die sich dem präfigurativen Experiment verschrieben haben. Das hat mit der Tatsache zu tun, dass die Marginalität für die präfigurative Politik zentral ist: Nur an den Rändern kann eine Alternative praktiziert werden – das Zentrum, das den „Mainstream“ repräsentiert, kann niemals gleichzeitig eine „experimentelle Alternative“ für den „Mainstream“ sein. Auch im Markusevangelium, das selbst eine Form von marginaler Literatur ist, weil es

20

Über das Markusevangelium und narrative Theologie, s., z. B.: Paul-Gerhard Klumbies, Das Markusevangelium als Erzählung, Tübingen 2018; und Christian Rose, Theologie als Erzählung im Markusevangelium, Tübingen 2007.

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aus einer Minderheit innerhalb einer Minderheit hervorgeht, die eine Minderheitenbewegung beschreibt, ist eine solche Umkehrung zu beobachten, und sie ist eine Folge der präfigurativen Politik, die die darin beschriebene Jesusbewegung verfolgt. Eine Vielzahl von Rändern ist von Bedeutung, einschließlich geografischer und sozialer Ränder. Indem Markus den Schauplatz seiner Geschichte in Judäa und Galiläa ansiedelt, wählt er, wenigstens aus der Perspektive mancher Leser:innen, einen eher marginalen Schauplatz im Kontext des Römischen Reiches nach 70 n. Chr., da diese Gebiete gerade erst von den Armeen des Vespasian und Titus unterworfen worden waren.21 Dennoch schildert Markus Jesu Vollzug des Reiches an diesem marginalen Ort. Dies lädt bereits dazu ein, Zentrum und Rand neu zu überdenken. Darüber hinaus entscheidet sich Jesus in seinen sozialen Experimenten auch immer wieder für die Ränder der Gesellschaft, in der er selbst agiert, und identifiziert sich mit ihr (oder wird mit ihr identifiziert) durch seine eigene Kreuzigung am Ende. Diese Kreuzigung verwandelt sich paradoxerweise ebenfalls in eine Art soziales Experiment, nicht nur, weil Jesus sich mehr oder weniger freiwillig hinrichten lässt, sondern auch wegen der Beteiligung des römischen Hauptmanns an dem Experiment, wobei dieser den kurz zuvor verstorbenen Jesus als Sohn Gottes verkündet. Derjenige, der in seiner Performanz des Reiches Gottes dasselbe an den Rändern der bekannten Welt und seiner Gesellschaft vorweggenommen hat, wird von einem Vertreter der Mächte, die das Zentrum der Welt sind und die Jesu Marginalisierung verursacht haben, als Sohn Gottes bezeichnet und in diesem Sinne als solches offenbart, und zwar in dem Moment, in dem Jesus die erbärmlichste und gottverlassene Marginalisierung erfährt. Im Fall Jesu führt die Verkündigung des Reiches Gottes zu einer völligen Umkehrung von Zentrum und Rand. Zu diesen Überlegungen zu Rand und Zentrum lässt sich noch eine weitere Beobachtung hinzufügen: Marginalität ist nicht nur eine Voraussetzung für präfigurative Politik, sondern auch eine Möglichkeit, Randständigkeit zu verhandeln und auf diese Weise Resilienz für eine Randgruppe zu erlangen. Im Fall der Jesus-Bewegung, wie sie Markus beschreibt, bedeutet dies, dass ihre Glaubwürdigkeit und damit ihre Widerstandsfähigkeit gestärkt wird, weil sie nicht nur ein Haufen Leute ist, die nett zueinander sind, sondern vielmehr eine Präfiguration der kommenden Herrschaft Gottes. Sie sind also eine Avantgarde und können auf ihre avantgardistische Identität stolz sein, anstatt ihre Kleinheit und Schwäche zu beklagen.

21

Für eine Analyse von Örtlichkeit im Markusevangelium, s. z. B. Eric C. Stewart, Gathered Around Jesus. An Alternative Spatial Practice in the Gospel of Mark, Eugene 2009; vgl. auch Peter-Ben Smit, Beyond Shameful Positions – On Masculinity and Place in Mark 1, in: Anja Müller u. a. (Hg.), Zwischen Ehre und Schande. Praktiken und Narrative vormoderner Männlichkeiten, Heidelberg 2021, 79–96.

Kontextuelle Bibelauslegung und innovative historische Forschung

4.

95

Markanische Politik: Jenseits von Akkomodierung oder Antiimperialismus?

Bei der Diskussion über den eher akkommodierenden oder eindeutig antiimperialen Charakter der frühen Christusanhänger spielt auch das Markusevangelium eine Rolle. Es wurde zum Beispiel argumentiert, dass dieser Text eindeutig antiimperial, genauer gesagt: antiflavisch, geprägt sei.22 Demgegenüber ist auch argumentiert worden, dass dies eher schwierig zu begründen ist, oder sogar gar nicht der Fall ist, sondern dass die Jesus-Biographie des Markus der römischen Herrschaft eher entgegenkommt.23 Eine präfigurative Perspektive kann eine dritte Betrachtungsweise bieten. Klar ist, dass die Hauptfigur der Markusgeschichte, Jesus, sich auf die basileia Gottes freut. Klar ist auch, dass er in seiner Praxis versucht, Schlüsseldimensionen dieser Herrschaft zu verkörpern, was weiter oben in diesem Beitrag untersucht wurde. Doch obwohl eine Reihe von Texten identifiziert werden kann, die der römischen Herrschaft kritisch gegenüberstehen (z. B. in Kapitel 5 und 13, die Legion von Schweinen bzw. der Gräuel),24 fehlt im Evangelium jeder ausdrückliche Aufruf zu den Waffen oder Ähnliches – Jesus stirbt sogar als relativ williges Opfer der römischen Herrschaft. Nimmt man jedoch eine präfigurative Perspektive ein, könnte man argumentieren, dass das Markusevangelium die Jesus-Bewegung sowohl als Vorbote als auch als Verkörperung der Gottesherrschaft darstellt, was folglich einen Protest gegen den Status quo, einschließlich der römischen Herrschaft, bedeutet, da es eine "utopische" Alternative zu ihr präsentiert. Politische Präfiguration impliziert logischerweise den Wunsch, dass die Welt, wie sie ist, meistens einschließlich ihrer politischen Arrangements, vergehen wird. Etwas Ähnliches mag auch die Politik des Markusevangeliums sein. Die Form des Protests ist jedoch nicht der gewaltsame Kampf, sondern eine alternative Praxis (die, wie das Beispiel Jesu zeigt, sehr wohl mit den herrschenden Mächten hart zusammenstoßen kann).

22

23

24

S., z. B. Martin Ebner, Evangelium Contra Evangelium. Das Markusevangelium Und Der Aufstieg Der Flavier, in: Ders. (Hg.), Inkarnation der Botschaft: kultureller Horizont und theologischer Anspruch neutestamentlicher Texte, Stuttgart 2015, 110–131. Vgl., z. B. Sandra Hübenthal, Anti-Gospel Revisited, und Tobias Nicklas, Jesus und Vespasian? Das Markusevangelium als politisch interessiertes „Anti-Evangelium“ zum Austieg der Flavier, beide in: Julia A. Snyder/Korinna Zamir (Hg.), Reading the Political in Jewish and Christian Texts, Leuven 2020, 138–158 und 159–178. S. für relevante Texte, jene die besprochen werden in Hans Leander, Discourses of Empire. The Gospel of Mark from a Postcolonial Perspective, Atlanta 2013; obwohl Markus 13 hier fehlt.

96

5.

Peter-Ben Smit

Schluss

Mit diesen Ausführungen bin ich am Schluss meines Experimentes gekommen, obwohl sich, natürlich und wie fast immer, noch vieles mehr sagen ließe. Ich hoffe aber gezeigt zu haben, wie die Lektüre von Aspekten des Markusevangeliums mit der Hilfe von Einsichten und Themen aus dem Bereich der präfigurativen Politik hermeneutisch und exegetisch fruchtbar sein kann und dazu einladen um sie bei der Analyse von Formen präfigurativer Politik auch zu berücksichtigen. Der aktuelle gesellschaftliche Kontext des 21. Jahrhundert ist damit ein Katalysator für auch historische Forschung zur frühen Jesusbewegung. Zur gleichen Zeit ist damit einen Beitrag geleistet bezüglich dem Diskurs über präfigurative Politik: wenn eine frühchristliche Quelle überzeugend als ein Beispiel präfigurative Politik dargestellt werden kann, wird die Frage aktuell, ob und wie theologische und religiöse Quellen zu Gesprächspartnerinnen für diesen politischen Diskurs werden können, während die Theologie und die Bibelwissenschaft sich weiter von diesem Paradigma herausfordern lassen können.

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„Er sagt, es spricht nicht!“ Transkulturelle Schrifthermeneutik im Spannungsfeld von Logophonozentrismus und Bibliomantik. Plädoyer für eine ästhetische Polyphonie Claudia Jahnel

1.

„Er sagt, es spricht nicht“: Hinführung

Wir schreiben das Jahr 1560: Auf der Suche nach El Dorado, dem Land des Goldes, macht sich eine legendäre spanische Expedition ins Amazonasgebiet auf. Nach einer Meuterei übernimmt der megalomanische spanische Offizier Lope de Aguirre das Ruder. Drei Schrift-Stücke begleiten und „legitimieren“ die Expedition: ein „offizielles“ Dokument, das Lope de Aguirre im „Urwald“ ausrufen lässt, um seine Meuterei rechtsgültig und performativ wirksam zu machen; das Tagebuch des Mönchs Gaspar de Carvajal, der die Expedition begleitet, ihr quasi den göttlichen Segen gibt und der der fiktive Autor und offizielle Chronist des Expeditionsberichts ist, und eine spanische Bibel. Die drei Schriftstücke demonstrieren den spanischen Anspruch auf Macht: Das von Aguirre verfasste und ausgerufene Dokument behauptet ein vermeintlich legitimes Recht auf den Besitz des Landes. Das Tagebuch des Mönchs repräsentiert die Gewalt des chronistischen Schreibens. Das dritte Schriftstück schließlich, die Bibel, steht für das „Wort Gottes“ und somit für den religiösen Wahrheitsanspruch. Werner Herzog hat diese Expedition 1972 in dem Film „Aguirre – Der Zorn Gottes“ neu erzählt. Grundlage dieses im peruanischen Regenwald mit Klaus Kinski in der Rolle des größenwahnsinnigen Lope de Aguirre gedrehten Films sind Chroniken aus dem 16. und 17. Jahrhundert, auf deren Hintergründe ich später genauer eingehen werde. Eine Besonderheit der Chroniken der spanischen Eroberung Lateinamerikas ist die koloniale Methode der spanischen Krone, durch die Verschriftlichung die wahre, durch einen Augenzeugen – oftmals einen Geistlichen – verbürgte Sieger-Geschichte zu fixieren und als offizielles Narrativ performativ wirksam zu machen.1 Herzogs Film imitiert diese 1

João Paulo Bachur, Schrift und Gesellschaft. Die Kraft der Inskriptionen in der Produktion des Sozialen, Weilerswist 2017, 328.

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Claudia Jahnel

imperiale Angewohnheit, indem er die Expedition aus der Ich-Perspektive des Mönchs Carvajal erzählen lässt. Schrift fungiert hier also als Medium der Macht oder, um es provokanter mit den Worten des Ethnologen Claude Lévi-Strauss auszudrücken: Die Schrift diente „der Ausbeutung der Menschen, bevor sie seinen Geist erleuchtete [… Ihre] primäre Funktion [bestand] darin, die Versklavung zu erleichtern.“2 Die „Heilige“ Schrift ist vor dieser hegemonialen Funktionalisierung nicht gefeit. Herzogs Film inszeniert dies in folgender Szene: Zwei sogenannte „indigene“ Peruaner, eine Frau und ein Mann – sie bleiben bezeichnender Weise namenlos wie die meisten „Indigenen“ in spanischen Eroberungsberichten –, werden gewaltsam an Bord des spanischen Floßes geholt. Als Carvajal sieht, dass der Mann ein Stück Gold um den Hals trägt, wird zusammen mit der Gier nach dem gesuchten Schatz der Inka sein Missionseifer geweckt. Er weist den peruanischen Übersetzer, der von den Spaniern den exotisierenden und entfremdenden Namen Balthasar erhalten hat, 3 an, den Mann nach der Herkunft des Goldes zu fragen. Schließlich zeigt der Mönch dem Mann seine spanische Bibel und sagt: „Das ist das Wort Gottes.“ Als der Peruaner sein Ohr an die Bibel hält und erwidert, er höre nichts, bringt der Mönch ihn kurzerhand wegen Gotteslästerung um. Der Erzählerstimme des Mönchs fällt dazu nur ein, dass es ein hartes Geschäft sei und dass diese „Wilden“ nur schwer zu bekehren seien.

2.

Schriftauslegung im Plural als ästhetischsinnliche Kritik an einer westlichen Erkenntnisordnung

„Schriftauslegung im Plural“: Im globalen, interkulturellen Kontext verbindet sich mit diesem Titel in der Regel der Hinweis auf kontextuelle Theologien sowie auf Prozesse des kontinuierlichen Aushandelns, wie biblische Texte zu verstehen und zu deuten sind, wer über die Deutungshoheit von Texten verfügt, wie sich Bedeutungen in neuen Kontexten verschieben oder welche kolonialen Interessen in Texte eingeschrieben sind und sich wirkungsmächtig kolonialisierend und unterdrückend weiterschreiben. 2 3

Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Köln 1974, 263. Balthasar ist selbst eine symbolträchtige Figur. Der ehemalige peruanische Prinz hieß einst Runo Rimac, was übersetzt bedeutet: Der, der spricht. Als Übersetzer für die Spanier spricht er für diese, ist aber zugleich die „Stimme“ der Peruaner*innen. Damit steht die Frage Gayatri Spivaks im Raum, ob der oder die Subalterne sprechen kann und gehört wird. Der neue christianisierte Name Balthasar, der exotisierend an die „drei Waisen aus dem Morgenland“ erinnert, repräsentiert diese Ambivalenz sowie die koloniale Gewalt.

„Er sagt, es spricht nicht!“

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Im vorliegenden Beitrag möchte ich die Aufmerksamkeit jedoch darauf richten, dass dieser Aushandlungsprozess schon früher beginnt: nicht erst mit dem Inhalt von Texten, sondern bereits bei ihrer Form und, damit zusammenhängend, bei der Art und Weise, wie – d. h. über welche Sinne – Schrift wahrgenommen und für wahr oder unwahr erklärt wird. Die geschilderten Szenen aus Herzogs Film zeigen exemplarisch, dass die Schriftform der Bibel – also die Bibel als Gegenstand, als physischer Körper und als Medium – machtvolle Interessenskonflikte und interkulturelle Missverständnisse auslöst. Hier stoßen unterschiedliche sinnliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisordnungen aufeinander. Verschiedene ästhetische4 Regime konkurrieren darum, über welche Sinne und mithilfe welcher Techniken Wahrnehmung organisiert, Deutung konstruiert, Wissen generiert und Deutungsmacht durchgesetzt wird. Die geschilderte Auseinandersetzung zwischen dem Peruaner und dem spanischen Mönch – ob das geschriebene Wort akustisch hörbar sei – stellt ein Thema in den Raum, das in der ethnologischen Forschung immer wieder kontrovers diskutiert wird: die Unterscheidung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Diese Unterscheidung ist aufgrund der (post)kolonialen Abwertung von „nur“ oralen Kulturen nicht unproblematisch und in Anbetracht der Co-Existenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie der fließenden Übergänge zwischen beiden in ihrer strikten Form nicht haltbar. Nichtsdestotrotz gibt die in diesem Zusammenhang getroffene berühmte Aussage Walter Ongs „Das Schreiben konstruiert das Denken neu“5 einen wichtigen Hinweis darauf, dass Erkenntnisordnungen je nach ihrer Äußerlichkeit unterschiedlich sein können, ja, dass es eine modale Polyphonie von Erkenntnisordnungen gibt. Die Vielfalt der Formen, mit Hilfe derer Wissen generiert, aufbewahrt, tradiert und verändert wird, übersteigt jedoch die Dichotomie von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Bei der Generierung und Kommunikation von Wissen können sämtliche Sinne beteiligt sein. Nicht nur Sehen und Hören also, sondern auch Fühlen, Tasten, Schmecken sind Wege der Wahrnehmung und des expliziten wie impliziten Wissens – des knowing what und des knowing how.6 4

5 6

Das hier zugrunde liegende Verständnis von Ästhetik rekurriert auf grundsätzliche Überlegungen der neueren Religionsästhetik, die zum einen auf das altgriechisch-aristotelische Konzept von Ästhetik verweist, das die Ästhetik der Noesis – also dem intellektuellen, verstandesmäßigen Wissen – gegenüberstellt. Wahrnehmung ist bei Aristoteles ein Prozess auf der Schnittstelle von Erleben und bewusstem intellektuellen Wissen. Zum andern steht hier die neuzeitliche, von Alexander Gottlieb Baumgartens „Ästhetik“ (1750–1758) geprägte Tradition der Ästhetik als Epistemologie des sinnlichen Erkennens Pate, s. Alexandra Grieser, Aesthetics, in: Robert A. Segal/Kocku von Stuckrad (Hg.), Vocabulary for the study of religion, Bd. 1, Leiden 2015, 14–23. Walter J. Ong, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, 81. Vgl. Christoph Ernst/Heike Paul (Hg.), Zur Interdependenz zweier Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2013.

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Claudia Jahnel

Für das Verstehen interkultureller Auseinandersetzungen auch und gerade hinsichtlich des Verständnisses der (Heiligen) Schrift im postkolonialen Kontext ist es wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass Sinne nicht einfach „unschuldig“ wahrnehmen, was ist. Sie sind vielmehr selbst kulturell geprägt und bilden als solche den jeweiligen ästhetischen Referenzrahmen einer Gesellschaft, der Wahrnehmungen deutend steuert7 und damit diktiert, was Wirklichkeit ist, etwa: dass es wahr und wirklich ist, dass die Schrift – das Wort Gottes – spricht, oder auch nicht. Zur kulturellen Geprägtheit der Sinne gehört auch, dass den einzelnen Sinnen innerhalb eines gesellschaftlichen Referenzrahmens nicht der gleiche Wert zugemessen wird. Die Sinne werden nicht als moralisch gleich gut oder als gleich verlässliche Wege zu Wissen verstanden.8 Gesellschaften sind vielmehr geprägt von jeweils eigenen hierarchischen Ordnung der Sinne, die sie selbst konstruieren. So dominiert in der westlichen Sinnes- und Wissensordnung seit der Antike der Seh-Sinn.9 Aristoteles etwa betrachtete – in hierarchischer Reihenfolge – das Sehen, Hören und Riechen als höherwertige, menschliche Sinneswahrnehmungen, Geschmack und Tastsinn hingegen als tierische Sinne.10 Hegel unterschied zwischen den beiden „theoretischen Sinnen“ – Gesicht und Gehör –, die für das Transzendente, die Kunst, das Geistige offen sind, und den „materiellen Sinnen“ – Geruch, Geschmack und Gefühl –, die seines Erachtens unauflöslich mit dem Materiellen, das sie wahrnehmen, verbunden sind.11 Seine im folgenden zitierten Ausführungen spiegeln eine idealtypische Hierarchie der Sinne wider, die in weiten Teilen der westlichen Kultur dominant war und auch das Verständnis von Religion prägte: Das Gesicht dagegen hat zu den Gegenständen ein rein theoretisches Verhältnis vermittels des Lichtes, dieser gleichsam immateriellen Materie […] Das Gehör hat es […] mit dem Ton, mit dem Schwingen des Körpers zu tun, das kein Auflösungsprozess, wie der Geruch ihn bedarf, sondern ein bloßes Erzittern des Gegenstandes ist, wobei das Objekt sich unversehrt erhält. Diese ideelle Bewegung, in welcher sich durch ihr Klingen gleichsam die einfache Subjektivität, die Seele der Körper äußert, fasst das Ohr ebenso theoretisch auf als das Auge Gestalt oder Farbe und lässt dadurch das Innere der Gegenstände für das Innere selbst werden. Zu diesen beiden Sinnen kommt als drittes Element die sinnliche Vorstellung, die Erinnerung, das Aufbewahren der Bilder, welche durch die einzelne Anschau-

7

8 9 10 11

Arbeiten zur Kulturgeschichte der Sinne sind in letzten Jahren deutlich mehr geworden. Ich verweise daher nicht auf ein einzelnes Werk, sondern auf die Sammelrezension von Thomas Blanck, Sammelrez: A Cultural History of the Senses, in: H–Soz-Kult 17.06.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-22998 (31.07.2022). Anthony Synott, The Body Social. Symbolism, Self and Society, London/New York 1993, 128. A. a. O., 154. A. a. O., 132. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik (1835–1838), https://www.lernhelfer.de/sites/default/files/lexicon/pdf/BWS-DEU2-0170-04.pdf, 46 (Zugriffsdatum: 31.7.2022).

„Er sagt, es spricht nicht!“

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ung ins Bewusstsein treten […] so dass nun einerseits die äußere Realität selber als innerlich und geistig existiert, während das Geistige andererseits in der Vorstellung die Form des Äußerlichen annimmt […]. 12

Hegels Hierarchie der Sinne ist also der Erkenntnis des Idealen, des „Absoluten, des Gottes selbst als Gottes, in seiner Selbständigkeit“13 und der reinen Vernunft verpflichtet. Im Schauen, im Hören und in der Imagination, der Vorstellung, und damit zugleich in Prozessen höchster Subjektivität, Innerlichkeit und Abstraktheit gibt sich dieses Ideale, der Geist, die reine Vernunft zu erkennen. Werner Herzog lässt in Aguirre keinen Zweifel daran, dass er diesen westlichen ästhetischen Referenzrahmen für Erkenntnis, der sich selbst als höchst vernünftig betrachtet, für irrational hält. Das koloniale Missverständnis – euphemistisch formuliert – zwischen dem Mönch und dem Peruaner entzündet sich an der Diskrepanz zwischen gehörtem Wort und Schrift: Für den spanischen Mönch repräsentiert die Bibel die Identifikation von Wort Gottes und Schrift. Der Peruaner teilt diese phonologozentrische Voraussetzung jedoch nicht und ist enttäuscht über die Ankündigung, das Wort Gottes zu hören. Die drei Worte, die Herzog dem Peruaner in den Mund legt – „es spricht nicht“ – enthüllen, dass die Gleichsetzung von Wort und Schrift einer spezifischen Wahrnehmung, Denkweise und Ordnung der Sinne entspringt, die von europäischer Philosophie und hier insbesondere vom Denken der Aufklärung geprägt ist. Indem Herzog diese europäische Denkweise als irrational darstellt und sie sich in ihrer mörderischen Brutalität zudem selbst desavouiert, kehrt er herrschende koloniale Stereotypen um: Nicht der „Indigene“ ist es, der in einer Welt der Magie und Irrationalität lebt. Irrational und gewaltsam ist vielmehr der europäische Eroberer, der seine vermeintliche Vernünftigkeit dadurch ausweisen möchte, dass er eine mit den Augen erfassbare und die Wahrheit und kulturelle Höherwertigkeit damit dokumentierende Schrift besitzt, also indem er – wie Claude Lévi-Strauss formuliert – „eine scharfe Differenz zwischen Kultur und Barbarei mit Hilfe des Kriteriums der Schriftkenntnis“14 zieht. Herzogs Inszenierung hinterfragt also letztlich die Annahme Hegels, dass die die beiden „theoretischen Sinne“ Sehen [der Schrift] und Hören, gepaart mit der „sinnlichen Vorstellung“, die Fähigkeit des Menschen zur Vernunft und zur höheren Geistigkeit ausweisen. Die Ermordung des Peruaners durch den Geistlichen macht die Gewalt und Grausamkeit deutlich, die sich mit der Universalisierung und dem Absolutheitsanspruch dieser europäischen Erkenntnisordnung verbindet. Die Geisteswissenschaften haben die Schrift als materiellen Gegenstand und als physischen, sichtbaren, fühlbaren Körper bisher wenig reflektiert. Auch die 12 13 14

Hegel, Ästhetik, 702. A. a. O., 703. Alexander Honold, Schreibstunde an der Telegrafenlinie. Zur Grenze von Schriftlichkeit und Mündlichkeit bei Claude Lévi-Strauss und Jacques Derrida, in: Hans-Joachim Lenger/Georg Christoph Tholon (Hg.), Mnema. Derrida zum Andenken, Bielefeld 2007, 65–78, hier: 71.

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Claudia Jahnel

theologische Hermeneutik bildet hier keine Ausnahme. Das überrascht nicht, denn die Konzentration auf die Materie und die Äußerlichkeit der Schrift nimmt das ästhetische, umfassend sinnliche, dynamische Erleben in den Blick und hinterfragt das von Hegel u. a. betonte Ideale, Abstrakte und Transzendente, das Kontext- und Körperfreie, das Statische und die „noetische Abgeschlossenheit“15. Die Schrift als physischer Körper stellt die „unbestrittene Zentralstellung der (kognitiven) Interpretation“ in Frage, so konstatiert der Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht.16 Eine solche Interpretation „diesseits der Hermeneutik“ in Nähe zu den physischen Dingen und weniger orientiert an den scheinbar körperfreien Ideen und Interpretationen stelle hingegen einen „epistemologischen Wandel“17 in der westlichen Geistesgeschichte dar. Denn die europäische Geistesgeschichte habe die „Dinge“ tendenziell eher entkörperlicht und vergeistigt. Nach diesen grundsätzlicheren Überlegungen zum Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung und Erkenntnisordnung möchte ich im Folgenden exemplarisch einen solchen epistemologischen Wandel für das Thema Schriftauslegung fruchtbar machen. Um deutlich zu machen, dass sinnlich-ästhetische Schriftwahrnehmung und -deutung nicht nur ein Thema des sogenannten globalen Südens ist, werde ich zunächst einige Dynamiken der Entsinnlichung sowie der Re-Magisierung, also der erneuten sinnlichen Aufladung skizzieren. Die daran anschließenden Ausführungen „Die Heilige Schrift in der Chronik und die Chronik als autoritative Schrift“ zeigen am Beispiel der unterschiedlichen Präsentationen der Heiligen Schrift in den bereits angesprochenen verschiedenen Chroniken der spanischen Eroberung durch Pizarro, dass die Aushandlungen um die ästhetische Wahrnehmung und Auslegung der Bibel in Machtbeziehungen eingebunden und von transkulturellen Verschiebungen gekennzeichnet sind. Der Abschnitt „Schrift als Wunder“ gibt ein weiteres Beispiel transkultureller Verschiebungen und zeigt, dass der Wunderdiskurs um die Bibel das Produkt globaler Verflechtungen und Identitätszuschreibugen ist. Denn das einst von kolonialen Autoritäten geforderte Staunen vor dem Wunder der Schrift entwickelte sich mitunter zu einer subversiven Strategie, die die agency der (einstigen) Kolonisierten stärkt und gesellschaftliche Transformationen unterstützt. Einen anderen subversiven Umgang mit der Bibel nimmt der anschließende Abschnitt in den Blick: Die divinatorischen und esoterischen Praktiken im Umgang mit der Bibel, die Musa Dube in Simbabwe analysiert, konzentrieren sich ebenfalls besonders auf die Äußerlichkeit der Schrift und stellen gerade deshalb wiederum Formen von agency dar, die eine Vielfalt der Erkenntnisordnungen und ihrer 15 16 17

Vgl. Ong, Oralität, hier: 132: „Das Drucken befördert auch ein Gefühl der Abgeschlossenheit, ein Gefühl, dass ein Text beendet ist, ein Stadium der Vollendung erreicht hat.“ Hans-Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004, 12. A. a. O., 10, 18f.

„Er sagt, es spricht nicht!“

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sinnlichen Formen fordern. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf die Unabgeschlossenheit der interkulturellen ästhetisch-epistemologischen Aushandlungen der Schrift. Bewegungen wie #decolonizethecurriculum weisen auf blinde Flecken eines auf intellektuell-abstrahierende Hermeneutik verkürzten Schriftverständnisses hin und laden zu multimodalen Wissensordnungen ein. Worum es im Folgenden nicht geht, ist eine Romantisierung von Oralität, eine Exotisierung alternativer Umgangsformen mit der Schrift oder irgendeine andere Form des Otherings von Schriftauslegungstraditionen. Praktiken etwa der Divination oder die Oralität als Wissensform sind keinesfalls notwendigerweise „unmittelbarer“, „authentischer“, „echter“ oder „besser“. Auch sie sind vielmehr Produkte transkultureller Aushandlungsprozesse, die eine Unterscheidung von „wir“ und „die Anderen“, „Westen“ und „globaler Süden“ von vornherein unmöglich machen. Es geht also nicht darum, durch Hervorhebung „anderer“, vermeintlich nicht-westlicher Wissensformen und durch Kritik an westlicher Epistemologie erneut und unter dem Deckmantel postkolonialer Theorie ein koloniales Begehren einzuführen. Hinterfragt werden hingegen einseitige Intellektualisierungen von Schrift als Text und eine Schrifthermeneutik, in der sich der abstrakte Dualismus von Geist und Leib wiederfindet, weil sie die Sinnebenen materieller Präsenz ausblendet. Inter- und transkulturelle Aushandlungsprozesse offenbaren die sinnliche Vielschichtigkeit auch und gerade der „Heiligen Schrift“.

3.

Schrift zwischen Entsinnlichung, Re-Magisierung und Esoterik

Wann und warum wurde die Schrift entsinnlicht und warum lädt sie gleichwohl anhaltend zu magisch-sinnlicher Aufladung ein? Im Film Aguirre erbringt der Peruaner einen für die Zuschauer*innen absolut logischen Beweis: Die ihm entgegengehaltene Schrift kann als solche nicht gehört werden, weil sie keinen Klang produziert. Der spanische Mönch hingegen vertritt ein geradezu magisches Verständnis der Schrift als Wort. Die Tendenz, die Schrift magisch aufzuladen, hängt, so konstatiert Vilém Flusser, mit der Intention zusammen, die die Erfindung der Schrift begleitete: dem Kampf gegen ein magisches Kausalitätsverständnis: Die Texte wurden im zweiten Jahrtausend v. Chr. erfunden, um die Bilder zu ent-magisieren, wenn sich ihre Erfinder dessen auch nicht bewusst gewesen sein mögen; die Fotografie wurde, als erstes technisches Bild, im 19. Jahrhundert erfunden, um die Texte wieder magisch zu laden, wenn sich auch ihre Erfinder dessen nicht bewusst gewesen sein mögen. Die Erfindung der Fotografie ist ein ebenso entscheidendes historisches Ereignis, wie es die Erfindung der Schrift war. Mit der Schrift beginnt die Geschichte im engeren Sinn, und

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Claudia Jahnel zwar als Kampf gegen Idolatrie. Mit der Fotografie beginnt die ‚Nachgeschichte‘, und zwar als Kampf gegen Textolatrie. 18

Christina von Braun kommentiert Flussers Beobachtung: Die Schrift habe „einen Prozess der Abstraktion bewirkt, bei dem sich das Denken – durch Lesen und Schreiben – von der materiellen Wirklichkeit entfernte: ein Prozess, der sich nach der Erfindung des Buchdrucks beschleunigte. Die Fotografie und andere Sehtechniken hätten den abstrakten Texten wieder zu einer Anbindung an die sinnliche Welt verholfen“.19 Für die Frage nach dem Verständnis der Bibel als Schriftkörper ist von Brauns Übertragung von Flussers Einsichten auf christlich-fundamentalistische Kreise höchst interessant. Denn einerseits, so von Braun, zeichnen sich diese Gruppen durch einen „Skripturalismus“ aus, also ein wörtliches Verständnis der Bibel. Andererseits hätten sie kein Problem mit dem Einsatz moderner Massenmedien, einschließlich Film und Fernsehen. Hier zeige sich – ähnlich wie in der durch die Erfindung der Fotografie eingeläuteten „Nachgeschichte“ (s. Flussers Zitat) nach der Bekämpfung von Idolatrie – das Bedürfnis, die abstrakten Texte wieder zu versinnlichen und lebendig werden zu lassen. Der äußerst versierte Einsatz von Massenkommunikationsmitteln in diesen Kreisen seien „keine Mittel zur Überwindung der Schriftlichkeit; vielmehr verliehen sie den Buchstaben des Textes den Anschein von Sinnlichkeit, körpernaher Direktheit und damit ‚Natürlichkeit‘. Sie sind ein Mittel, der Schrift eben jene Leiblichkeit zurückzugeben, von der die Alphabete – als phonetische Schriftsysteme – einst abstrahiert hatten.“20 Auch Aleida Assman stellt fest, dass die Erfindung v. a. der lateinischen Schrift letztlich eine – verarmende – Exkarnation von Wissen impliziere.21 Gefühle, Erfahrungen oder Erinnerungen seien nicht mehr Teil eines konkreten und verkörperten Wissens. Mit der Einführung der Schrift, die die Aufgabe des Gedächtnisses und des Wissensspeichers übernehme, werde das konkrete und – so ergänze ich – polyphone und multimodale – Wissen entlassen: Konkret gelebte Erfahrung wird durch Transformation in Schrift abstrakt, d. h. abgezogen von den raum-zeitlichen Umständen, aus denen sie hervorging, herausgehoben aus der mit allem Konkreten verbundenen Flüchtigkeit und Einmaligkeit. Sinnliches Leben wird umgeformt in schwarze Lettern auf weißem Grund. Diese Übersetzung von lebendigen Körpern in abstrakte Zeichen nenne ich Exkarnation. 22

Das Verständnis von und der Umgang mit der Schrift, einschließlich der „Heiligen“ Schrift, ist also von einer kontinuierlichen Ambivalenz und wechselvollen 18 19 20 21 22

Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 4 1989, 16. Christine von Braun, Sekundäre Religionen. Fundamentalismus und Medien, Wien 2016, 23f. A. a. O., 24. Aleida Assmann, Exkarnation. Gedanken zur Grenze zwischen Körper und Schrift, in: Jörg Huber/Alois Müller (Hg.), Intervention, Zürich 1993, 133–155, hier: 133. Ebd.

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Dynamik gekennzeichnet, die in der Schrift mal den „toten Buchstaben“, mal das reine und lebendige Wort Gottes oder aber auch den Gegenstand sieht, den es magisch aufzuladen gilt. Etwas anders als Flusser oder Assmann terminiert Michel Foucault den Zeitpunkt, an dem es zu einem entscheidenden Wandel in der Weltwahrnehmung und Erkenntnisordnung kam: Nicht schon die Erfindung der Schrift, sondern erst die Einführung der Druckkunst im 16. Jahrhundert hat die Ordnung der Dinge verändert. Die Antike machte, so Foucault, noch „keinen Unterschied zwischen jenen sichtbaren Zeichen, die Gott auf der Oberfläche der Erde gesetzt hat, um uns deren innere Geheimnisse erkennen zu lassen, und den lesbaren Wörtern, die die Bibel oder die Weisen der Antike […] niedergelegt haben. Die Beziehung zu den Texten ist von gleicher Natur wie die Beziehung zu den Dingen; hier wie da nimmt man Zeichen auf.“23 Nur der Prozess der Erschließung der Zeichen ist unterschiedlich: Um die Zeichen Gottes in der Natur, die magia naturalis, zu entziffern, brauchte es die divinatio als Form des Erkennens. Um den Inhalt der Schrift zu verstehen, bedurfte es hingegen der Eruditio, der Gelehrsamkeit. Divinatio und Eruditio sind aber letztlich die „gleiche Hermeneutik“: Mit anderen Worten: Divinatio und Eruditio sind eine gleiche Hermeneutik, aber sie entwickelt sich, wenn auch nach ähnlichen Figuren, auf zwei verschiedenen Ebenen, deren eine vom stummen Zeichen zu den Dingen selbst verläuft und die Natur sprechen läßt, deren andere vom unbeweglichen Graphismus zum hellen Wort geht und den schlafenden Sprachen erneutes Leben gibt. 24

Die Schrift, einschließlich der Bibel, enthält also wie die Natur Zeichen Gottes. Erst mit der im 16. Jahrhundert aufkommenden Druckkunst verändert sich das Verständnis der Schrift und der Umgang mit ihr, denn hier nimmt die Schrift einen „fundamentalen Platz [im] Okzident ein […]. Künftig ist es die Hauptnatur der Sprache, geschrieben zu werden. Die Töne der Stimme bilden nur noch die vorübergehende und vergängliche Übersetzung davon. Was Gott in der Welt niedergelegt hat, sind geschriebene Worte“25: Als Adam den Tieren ihre ersten Namen gab, hat er die sichtbaren und schweigenden Zeichen nur abgelesen. Das Gesetz Gottes ist den Tafeln anvertraut worden und nicht der Erinnerung der Menschen, und das wahre Wort muß in einem Buch gesucht werden. 26

Mit der Druckkunst kommt es also zu einem „Primat des Geschriebenen“. 27 Zugleich wird nicht mehr unterschieden „zwischen dem Geschehenen und dem Gelesenen, zwischen dem Beobachteten und dem Berichteten“.28 Das Geschriebene – eine schriftlich festgehaltene Beobachtung oder ein Geschehen – wird zur 23 24 25 26 27 28

Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1971, 64f. A. a. O., 65. A. a. O., 70. Ebd. A. a. O., 71. Ebd.

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wahren Geschichte. Hier entsteht also jenes Prinzip, das für die Autorität der offiziellen Chroniken der spanischen Eroberung grundlegend ist. Diese Nichtunterschiedenheit von Geschehenem und schriftlicher Fixierung hindert allerding nicht daran, dass das schriftlich Fixierte ausgelegt wird und, weiter, die Auslegung und schließlich die Auslegung der Auslegung kommentiert wird usw. Die schriftliche Fixierung setzt ein „unendliches Schäumen der Sprache“ in Gang,29 ruft also eine unendliche Fülle an Interpretationen hervor. Vielleicht wird Schrift auch erst durch ihre unendliche Offenheit für Interpretationen heilig, wie Alexandra Richter in Anknüpfung an Gershom Scholems Schriftverständnis erläutert: „ohne ein ständiges Aufgreifen und Auslegen des Gesagten und eine permanente, lebendige Aktualisierung ist Heiligkeit für Scholem nicht denkbar“30. Im Kontext des Primats des Geschriebenen ist schließlich auch die Esoterik zu verstehen, so Foucault. Auch sie ist „ein Phänomen der Schrift und nicht des Sprechens“.31 Die Schrift birgt ein geheimes Wissen, und es bedarf einer besonderen Gelehrsamkeit, um dieses Wissen zu entschlüsseln. Das führt zurück zu den „interkulturellen Missverständnissen“ im kolonialen Schriftdiskurs.

4.

Die Heilige Schrift in der Chronik oder die Chronik als autoritative Schrift

Der peruanische „Indigene“ in Aguirre „erkennt“ das in der Schrift verborgene Geheimnis nicht, weil ihm die europäische Schriftlogik fremd ist oder – so die kolonialismus- und imperialismuskritische Interpretation Werner Herzogs: weil die Ineinssetzung des Wortes Gottes mit der Schrift so wie das gesamte koloniale Unternehmen auf einer irrationalen und fundamentalistischen Logik basiert, die in Wahn und Gewalt endet. Hier helfen weder Divinatio noch Eruditio als hermeneutische Methoden, denn in diesen Zeichen ist kein Zeichen Gottes zu erkennen. Wie eingangs erwähnt, gibt es verschiedene Chroniken, die die Grundlage für Herzogs Film bilden. Sie erzählen die historisch verbürgte Begegnung am 16. November 1532 zwischen dem spanischen Eroberer Pedro Pizarro und dem Herrscher der Inka, Atahualpa. Was bei dieser Begegnung genau geschah, ist ungewiss und wird je nach den Interessen des Autors und seiner Auftraggeber unterschiedlich erzählt. Von allen Chroniken verbürgt wird jedoch, dass ein Buch 29 30

31

A. a. O., 73. Alexandra Richter, Schrift in Leben oder Leben in Schrift verwandeln. Der (nicht mehr) Heilige Text bei Scholem und Benjamin, in: Yael Almog u. a. (Hg.), Heilige Texte in der Moderne. Lektüren, Praktiken, Adaptionen (Interjekte 11), Berlin 2017, 55–61, hier: 56. Foucault, Ordnung, 71.

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auf den Boden fällt oder geworfen wird sowie dass Atahualpa am Ende von den Spaniern gefangen genommen und später ermordet wurde. Die offizielle spanische Chronik „Verdadera Relación de la conquista del Perú“32 stammt aus der Feder von Francisco de Jerez und erschien im Jahr 1534, also nur zwei Jahre nach der Begegnung. Schon der Titel verrät den Glauben der Spanischen Krone an den o. g. „Primat dieser Schrift“, nach dem Motto: „So wie es geschrieben ist, so war es!“ Der Autor der Chronik stellt sich als Augenzeuge des Geschehens vor, was der Schrift besondere Autorität verleiht. Weitere Chroniken, die ich im Folgenden kurz vorstellen werde, stammen von dem Neo-Inka Titu Cusi Yopanqui33 und einem Familienangehörigen Atahualpas, Guaman Poma de Ayala.34 Die Abweichungen dieser Chroniken von der „Verdadera“ offenbaren nicht nur das Interesse an der Etablierung einer anderen geschichtlichen „Wahrheit“, in der die eigene agency hervorgehoben wird und die die kolonisierten Inka als kulturell gleichwertig bzw. überlegen darstellt. Sie zeigen auch, wie insbesondere über die Präsentation der (Heiligen) Schrift die Bedeutung und die Macht der Erkenntnisordnungen und ihrer Symbole ausgehandelt werden. Francisco de Jerez: „Verdadera Relación de la conquista del Perú“ Francisco de Jerez, der Autor der offiziellen spanischen Chronik, wurde in Sevilla geboren, wuchs aber in der „Neuen Welt“, im heutigen Panama, auf und wurde von Pizarro zum Chronisten seiner Expedition bestellt.35 Patricia Seed bezeichnet das leitende Narrativ der Chronik als „providentialist“: „Von Gottes Hand geleitet“ hätten die Spanier zahlreiche Heiden besiegen und zum katholischen Glauben bekehren können. Die Eroberungen durch Pizarro waren also Gottes Plan und Vorsehung. Sie übertrafen noch, so Jerez im Prolog der Schrift, die Eroberungen durch die Römer in der Zeit der Antike. Die gesamte Chronik atmet somit den Duft der Überlegenheit Pizarros. Sie sucht nach Bewunderung, so Seed.36 Die Szene, auf die es hier ankommt (und die Werner Herzog in der Begegnung zwischen Carvajal und dem Peruaner neu erzählt), berichtet die Chronik 32

33

34

35 36

Francisco de Jerez, Verdadera relación de la conquista del Perú [1534], Madrid (Historia 16), 1985, 13–17, 22–23 (ich zitiere und übersetze diese wie die folgenden Chroniken aus der englischen Übersetzung in: Patricia Seed, „Failing to Marvel“: Atahualpa’s Encounter with the Word, in: Latin American Research Review 26, 1 (1991), 7–32. Titu Cusi Yupanqui, Relación de la conquista del Perú [1570], Lima (Ediciones de la Biblioteca Universitaria), 1963. Der ursprüngliche Titel der Chronik lautete „Instruccion del Inga don Diego de Castro Titu Cusi Yupangui para el muy Ilustre Senor el Licenciado Lope Garcia de Castro“. Guaman Poma de Ayala, Nueva crónica y buen gobierno [1615], hg. von Rolena Adorno/John Murra, Mexico City 1980. Für einen ausführlichen Vergleich der Chroniken s. Seed, Failing. A. a. O., 14. A. a. O., 15.

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wie folgt: Auf Geheiß Pizarros tritt der die Expedition begleitende Dominikanermönch Vincente Valverde zusammen mit einem Dolmetscher auf Atahualpa zu, „in einer Hand ein Kreuz, in der anderen ein Buch“, und sagt: „Ich bin ein Priester Gottes und unterrichte die christlichen Dinge Gottes und bin gekommen, auch Dich zu lehren. Was ich lehre, ist das, was Gott gesprochen hat und in diesem Buch steht.“ „Atahualpa bat ihn, ihm das Buch zu geben, damit er es sehen könnte. Und er [der Mönch] gab es ihm geschlossen. Als Atahualpa das ihm überreichte Buch nicht öffnen konnte, reichte der Mönch seinen Arm, um zu helfen, aber Atahualpa schlug ihm mit großer Verachtung auf den Arm, weil er nicht wollte, dass er [der Mönch] es öffne. Störrisch fuhr er fort, es zu öffnen, was ihm gelang, und ohne sich über die Buchstaben oder das Papier zu wundern [es zu bestaunen], wie andere Indianer, warf er es fünf oder sechs Schritte von sich weg. Und auf die Worte, die der Mönch durch den Dolmetscher an ihn richtete, antwortete er mit großer Arroganz.“ Der Mönch kehrte schließlich zu Pizarro zurück und berichtete ihm, dass Atahualpa „die heilige Schrift auf den Boden geworfen habe“, woraufhin Pizarro selbst Atahualpa gefangen nahm und „Santiago“ schrie.37 Der Mangel an Bewunderung für die spanische kulturelle Größe, repräsentiert durch Buch und Papier, „irritieren“ und „frustrieren“ den Chronisten deutlich. Mehrfach betont er die Ignoranz Atahualpas, bezeichnet ihn als störrisch und arrogant und vergleicht ihn mit anderen „Indios“, die beim Anblick von Schrift und Papier in Staunen und Bewunderung geraten. Atahualpa aber kann an dem Buch nichts Besonderes finden. Der Gegenstand der Aushandlung ist also weniger der Inhalt des Buches als die Form: das Papier und die Technik des Schreibens. Beides ist offensichtlich so wertvoll, dass es durch eine Buchschließe geschützt wird, die das Öffnen des Buchs erschwert und dem Buch etwas Geheimnisvolles und Esoterisches verleiht. Dass es sich bei dem Buch vermutlich um die Bibel handelt, wird erst später im Bericht des Mönchs an Pizarro ersichtlich und bietet Pizarro den Anlass dazu, Atahualpa in einem geradezu „heiligen“ Akt festnehmen zu lassen. Denn Atahualpa erscheint nun nicht mehr als einer, der lediglich die spanische Schriftkultur nicht genügend respektiert. Er hat sich auch gegen das Heilige selbst versündigt. In der Darstellung der Begegnung Atahualpas mit dem Buch spielt es jedoch offensichtlich noch keine Rolle, dass es sich bei dem Buch um die Bibel handelt. Hier konzentriert sich der Bericht auf das Sehen und Berühren der Schrift und damit gänzlich auf die äußere, ästhetische Form der Schrift. Die Intention de Jerez’ ist meinem Eindruck nach daher nicht, Atahualpa als einen Ignoranten gegenüber dem heiligen Inhalt der Schrift darzustellen, der die „immaterielle Materie“, wie Hegel formulierte (s. o.) nicht erkennt, das „Klingen“ des Wortes Gottes nicht hört und dem die „sinnliche Vorstellung“ für das „Geistige“ fehlt. Der Gegenstand der Aushandlung ist vielmehr die Materialität der Schrift, die in den 37

Übersetzt aus a. a. O., 16f.

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Augen des Chronisten und in der epistemologischen Logik des Okzidents beweist, dass die spanische Kultur als Schriftkultur fortschrittlicher und höherwertig ist. Titu Cusi Yupanqui: „Relación de la conquista del Perú“ (1570) Im Gegensatz zur der von de Jerez markiert die Chronik Titu Cusi Yupanquis das verhandelte Schriftstück schon in der Begegnung zwischen Atahualpa und „den Spaniern“ als einen in gewisser Weise heiligen Gegenstand. Diese Chronik stammt aus dem Jahr 1570, wurde also fast 40 Jahre nach der tatsächlichen Begegnung verfasst. Yupanqui, der sich als Neffe Atahualpas bezeichnet und von der Spanischen Krone als legitimer Herrscher über Peru anerkannt werden wollte, demonstriert in der Chronik sowohl seine eigene Schriftkundigkeit als auch die Symmetrie von Inkas und Spaniern. Das drückt sich bereits dadurch aus, dass er seinen „Onkel Atahualpa“ als Gastgeber der spanischen Delegation darstellt, der einem der beiden Männer einen traditionellen Willkommenstrank in einem goldenen Gefäß reicht. Als dieser den Trank auf dem Boden ausschüttet, wird Atahualpa zornig und reagiert in paralleler Weise, als ihm „ein Brief oder ein Buch, oder so etwas in der Art, ich weiß nicht was“ gereicht wird, dass „die quillca (eine Zeichnung oder Inschrift) von Gott und dem König“ sei. „Aber mein Onkel, brüskiert durch das Verschütten der Chicha, so heißt unser Getränk, nahm den Brief oder was immer es war und schmiss es hinunter mit den Worten ‚Wie soll ich wissen, was ihr mir da gebt? Geht weg‘“.38 Yupanquis Version der Geschichte schildert das Misslingen einer eigentlich auf Symmetrie ausgerichteten Begegnung, in der kulturell bedeutsame Gegenstände hätten ausgetauscht werden sollen. Die parallele Präsentation von Chicha und Schriftstück zeigt, dass der Autor um die spanische Erkenntnisordnung weiß, die in einigen Schriften besondere Inhalte sieht – vergleichbar zur Besonderheit der Chicha als kulturellem Getränk für besondere Anlässe. Es geht hier also nicht mehr nur um die bloße äußere Form und die Schriftlichkeit als Ausweis einer vermeintlich hochwertigen spanischen Kultur. Gleichwohl ist die Äußerlichkeit nicht unerheblich: Die Art und Weise wie die Chronik das Schriftstück beschreibt – als „was auch immer“ – ist deutlich despektierlich und stellt den Lesenden eher einen „Wisch“ vor Augen als ein künstlerisch hochwertiges Buch. Im Vergleich dazu wird das Darreichen der Chicha als hochkultureller Akt dargestellt: Sie wird in einem goldenen Becher serviert und der Ausdruck „unser Getränk“ verrät Stolz auf die eigene Kultur, die Yupanqui mittels des Vergleichs der beiden Gegenstände als überlegenere inszeniert. Guaman Poma de Ayala, Nueva crónica y buen gobierno (1615) Die Chronik von Guaman Poma de Ayala schließlich präsentiert die Bibel als Symbol spanischer Irrationalität. Pomas Bericht bildet sehr offensichtlich die 38

A. a. O., 20.

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Vorlage für Herzogs Film, auch wenn de Ayala Atahualpa mit allen Attributen eines spanischen Königs zeichnet und nicht – wie Herzog – einen einfach gekleideten Peruaner als Gesprächspartner des Mönchs inszeniert. In de Ayalas Version erklärt der Mönch Vicente die Götter der Inka für nichtig und bezeichnet den christlichen als den wahren Gott. Daraufhin fordert Atahualpa ihn zur Begründung auf: „Bruder Vicente antwortete, dass sein Evangelium, sein Buch, ihm dies gesagt habe. Und Atahualpa sprach ‚Gib mir das Buch, damit es zu mir spricht.‘ Und er gab es ihm und er nahm es in seine Hände und begann, im Buch zu blättern. Und der Inka sagte: ‚Was? Wieso erzählt es mir das nicht? Es spricht nicht mal mit mir, das Buch!‘ Mit großer Majestät sprechend und auf dem Thron sitzend schleuderte der Inka Atahualpa das Buch aus den Händen.“39 Anders als die Chronik von Jerez inszeniert der gebildete Peruaner Guaman Poma de Ayala keinen unzivilisierten Atahualpa, der keinen Respekt vor dem Kulturgut der Schrift hat. Er dreht den Vorwurf der Ignoranz vielmehr subversiv um und stellt, so Seed, „mit seinem Verweis auf die essentielle Unverständlichkeit eines traditionellen europäischen Symbols für kulturelle Autorität […] die europäische Rationalisierung der Eroberung zutiefst infrage“.40 Weder dem Chronisten noch Atahualpa fehlt es an der Hegelschen sinnlichen Vorstellung des Geistigen. Aber der Gott, den die Spanische Krone zur Begründung der Eroberung heranzieht und der die vermeintliche Überlegenheit der europäischen Kultur beweisen soll, ist so irrational wie die Logik der Eroberung selbst, so intellektualisierend sich die spanische Kolonialmacht im Blick auf das Schriftverständnis auch gibt. Die verschiedenen Chroniken präsentieren verschieden wahrnehmbare, sicht- und spürbare äußere Formen der „Heiligen Schrift“, wobei offenbleibt, ob es sich dabei wirklich um die Bibel oder nur um ein größeres oder kleineres Schriftstück handelt. Jerez stellt „das Buch“ als hochwertiges ästhetisches Produkt dar, das – mit einer Buchschließe versehen – als besonders schützenswert und wertvoll erscheint. Titu Cusi Yupanquis Bericht vermittelt hingegen den Eindruck, dass es sich bei dieser Heiligen Schrift um einen „Zettel“ mit Kritzeleien handelt; Guaman Poma de Ayalas Beschreibung des Umgangs Atahualpas mit dem „Buch“ erweckt die Vorstellung, dass der Umgang mit diesem Gegenstand – das Durchblättern – schon zur Routine geworden und das Buch auch in den höheren Schichten der peruanischen und bolivianischen Gesellschaften bereits einen „normalen“ Gegenstand darstellt. Im Vergleich zum Anspruch der Chroniken selbst, mit dem Geschriebenen das Geschehene als wahre (Gegen-)Geschichte auszuweisen, wirkt der Anspruch der dargestellten (Heiligen) Schriften bzw. Schriftstücke schon in der Darstellung ihrer Äußerlichkeit, aber auch inhaltlich blass. Auch die Chronik von Francisco de Jerez bildet hier keine Ausnahme, denn der Chronist wundert sich nicht darüber, dass Atahualpa in der 39 40

Zitiert nach a. a. O., 28. A. a. O., 29.

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Schrift nicht skripturalistisch die Heilige Schrift erkennt und keine Gleichsetzung von Schrift und Gottes Wort vollzieht, sondern darüber, dass er angesichts des Papiers und der Buchstaben nicht ins Staunen gerät. Die eigentlichen autoritativen Schriften sind also die Chroniken selbst, die bis in die ästhetische äußere Erscheinungs- und Wahrnehmungsform hinein den epistemologischen Rahmen für die Deutung der Heiligen Schrift vorgeben. Bei Yupanqui und bei Guaman Poma de Ayala lassen sich zudem transkulturelle Verschiebungen wahrnehmen, denn sie unterlaufen bewusst eine sakralisierende Darstellung der Heiligen Schrift.

5.

„He refuses to marvel“: die transkulturellen Verflechtungen des Schrift-als-Wunder-Diskurses

Wie Patricia Seed hervorhebt, stellt die Weigerung Atahualpas, die (Heilige) Schrift zu bewundern, für den Chronisten Jerez den größten Affront der Begegnung dar. Das Motiv der „Schrift als Wunder“ und als Objekt der Bewunderung ist in verschiedenen Varianten eine Konstante in der Missionsgeschichte. Seine Relevanz für das Thema „Schriftauslegung im Plural“ liegt in den ambiguen transkulturellen Verschiebungen der Bedeutung von Schrift und v. a. der Deutungsmacht über Schrift. Neben dem am Beispiel Atahualpas geschilderten offenen Widerstand dagegen, die Schrift als Wunder zu betrachten, gibt es zahlreiche Beispiele dafür, wie die „Missionierten“ in mimetischer Anpassung und unter der „Maske der Mimikry“41 die Aufforderung der Europäer annehmen und die Schrift als (europäisches) Wunder bestaunen, dahinter aber ihren Ungehorsam verbergen. Gleichzeitig führt die Art, in der sie ihrer Bewunderung Ausdruck verleihen, zu einer umgekehrten Verwunderung des Missionars. In der Annahme des Wunders durch die Missionierten wird die „Schrift als Wunder“ somit hybrid deformiert und transformiert. In den Worten Homi Bhabhas: Es kommt zu einer „Umwertung des Ausgangspunktes kolonialer Identitätsstiftung durch Wiederholungen der diskriminatorischen Identitätseffekte“.42 In der Wiederholung der geforderten Bewunderung wird die Schrift aber umgewertet: „Dann werden die Worte des Herren zum Ort der Hybridität – zum kriegerischen subalternen Zeichen des Einheimischen“. 43 Es handelt sich hier also um einen

41

42 43

Homi Bhabha, Zeichen als Wunder. Fragen der Ambivalenz und Autorität unter einem Baum bei Delhi im Mai 1817, in: Ders., Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, 151–180, hier: 179. A. a. O., 165. A. a. O., 179.

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subversiven „Prozeß der De-Plazierung, der paradoxerweise die Präsenz des Buches gerade in dem Maß zu etwas Wundersamem macht, in dem dieses wiederholt, übersetzt, fehlinterpretiert, de-plaziert wird“44. In seinem Aufsatz „Zeichen und Wunder“ gibt Bhabha folgendes Beispiel für diesen Prozess:45 Der erste indische Missionar, der Anglikaner Anund Messeh, war höchst erstaunt, als er auf einer Missionsreise sah, wie indische Bauern auf dem Land im Besitz zahlreicher gedruckter oder abgeschriebener Bibeln waren, miteinander daraus lasen, darüber diskutierten und angaben, dieses Buch zu „lieben“. Es sei ein Geschenk, das Gott über die Engländer, die sie in die „hindustanische Sprache“ übersetzten, ihnen, den Indern, gemacht habe. Als Anund Messeh eine*n der Inder*innen darauf hinweist, dass es sich um das Buch der Engländer und ihrer Religion handle, protestiert der Gesprächspartner: Dies sei „unmöglich, denn sie [die Engländer] essen Fleisch“. Außerdem: „[…] wie kann es das Buch der Europäer sein, wenn wir doch glauben, daß es Gottes Geschenk an uns ist?“ Der Missionar kommentiert diese Äußerung mit den Worten: Die Unwissenheit und Einfalt vieler Leute ist sehr verblüffend, denn sie haben noch nie zuvor von einem gedruckten Buch gehört, und sein bloßes Erscheinen war für sie wie ein Wunder. Das auf diese Weise erworbene, immer weiter wachsende Wissen löste große Erregung aus, und alle waren sich in der Anerkennung der Überlegenheit der Doktrinen dieses Heiligen Buchs gegenüber allem, was sie bisher gesehen oder gehört hatten, einig.46

Im weiteren Fortgang seines Berichts schildert Messeh, wie sich die Inder*innen, bestärkt durch die Autorität des Buches, schließlich vom Kastenwesen abwenden. Die Bibel als Schrift und Wunder leitet also gesellschaftliche Transformationen ein. Andererseits wollen sie sich nicht taufen lassen und sich „dem Sakrament“ nicht „fügen“, „denn die Europäer essen das Fleisch der Kuh, und das ist für uns unmöglich“. Die geschilderte Gruppe von Inder*innen erkennt und wiederholt also einerseits die Deutung, die ihnen von der englischen Kolonialmacht vorgegeben wurde, wonach das Buch das Wort Gottes repräsentiert. Sie identifizierten sich mit einem Buch, das das Symbol englischer kolonialer Macht, Beherrschung und Diskriminierung war. In dieser identifizierenden Aneignung kehren sie aber andererseits den Prozess der Beherrschung um, da sie nun selbst über die Praktiken im Umgang mit der Schrift und die Deutung der Schrift entschieden. Die Reaktion des indischen Missionars auf die ihm begegnenden Inder*innen ist Verblüffung. Andere Missionare zeigen sogar Verärgerung, weil mit der Bibel nicht zugleich auch der christliche Glaube im europäischen Verständnis übernommen wird und die Inder*innen sich nicht taufen lassen. Ein anderer von Bhabha zitierter Missionar äußert diesen Ärger wie folgt:

44 45 46

A. a. O., 151f. S. a. a. O., 152f. A. a. O., 152.

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Aber immer noch wäre jedermann froh, eine Bibel zu bekommen. Und warum? Um sie als Sehenswürdigkeit auszustellen; um sie für ein paar Piaster zu verkaufen oder sie als Altpapier zu benutzen … Einige sind auf dem Markt getauscht worden … Wenn all das nur halbwegs der Wahrheit entspricht, dann kann die unterschiedslose Verteilung der Schrift an jeden, der den Wunsch nach einer Bibel äußert, kaum etwas anderes sein als eine Vergeudung von Zeit, eine Vergeudung von Geld und eine Vergeudung von Erwartungen. Denn wenn das Publikum hört, dass so und so viele Bibeln verteilt wurden, erhofft es sich, auch bald von einer entsprechenden Anzahl von Bekehrungen zu hören. 47

Es fällt auf, dass die Verwunderung bzw. der Ärger der beiden Missionare sich nicht an einer als „primitiven Mentalität“, „Wunderhungrigkeit“ oder Aberglaube beurteilten Einstellung der Inder*innen entzündet, die den kolonialen Diskurs über Indien und Inder*innen oftmals markierte.48 So schreibt etwa Hegel: […] ihr ganzes Leben und Vorstellen ist nur ein Aberglauben, weil alles bei ihnen Träumerei und Sklaverei derselben ist. Die Vernichtung aller Vernunft, Moralität und Subjektivität kann nur zu einem positiven Gefühle und Bewusstsein ihrer selbst kommen, indem sie maßlos in wilder Einbildungskraft ausschweift […]. 49

Der Indienmissionar Karl Graul bestätigt diesen Indiendiskurs in seinem Bericht: [Der Inder] kann geradezu in Wundern schwelgen. Darum macht er bei Wundergeschichten […] keine Fragezeichen. Es liegt in seiner Art, auch an wunderliche Wunder zu glauben. Er liebt das Phantastische, das Romantische […] Es liegt ein Hauch von rührender Naivität auf dem indischen Wunderglauben. 50

Anund Messeh hingegen bringt das „Wunder“, das die Inder*innen in der Bibel sehen, nicht mit einer „Vernichtung der Vernunft“ wie Hegel oder mit einer Liebe der Inder*innen für „das Phantastische“ wie Graul in Verbindung, sondern mit einer Faszination für das „erworbene, immer weiter wachsende Wissen“. Zwar betont er, dass es vermutlich das erste Buch ist, das die Inder sehen, und hebt damit die Äußerlichkeit der Schrift als bestaunenswert und als einen wichtigen Faktor für die Faszination der geschilderten Gruppe für die Bibel hervor. Das Wunder für den Gegenstand fällt aber keinesfalls mit Irrationalität zusammen, im Gegenteil: Letztlich entspricht der Umgang der Inder*innen mit der Schrift in Messehs Darstellung gänzlich dem des westlichen Primats der Vernunft. Was den indischen Missionar hingegen verwundert, ist das mangelnde Taufbegehren und dass die Inder*innen nicht der europäischen Ordnung folgen, die die Faszination für die Heilige Schrift mit der Konversion zum Christentum in eins setzt. 47 48

49 50

Missionary Review, Mai 1817, 186, zitiert nach Bhabha, Zeichen, 180. Vgl. dazu Andreas Nehring, Im Wunderland des Glaubens. Religionswissenschaft zwischen Kulturhermeneutik und Kulturpolitik, in: Christof Ernst u. a. (Hg.), Kulturhermeneutik. Interdisziplinäre Beiträge zum Umgang mit kultureller Differenz, München 2008, 407–428. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1970, 208. Karl Graul, Blicke nach Ostindien, in: ELMB (1859), 58–64, hier: 59.

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Über die mangelnde Konversionsbereitschaft ärgert sich auch der von Bhabha zitierte britische Missionar. Darüber hinaus verraten seine Bemerkungen darüber, wie Inder*innen mit dem Buch umgehen, einen weiteren Ärger: Mit der Bibel würden Geschäfte gemacht, sie werde getauscht, zu Altpapier gemacht oder als Sehenswürdigkeit ausgestellt. Sie wird also offensichtlich als „normales“ Schriftstück und als Gegenstand behandelt, vielleicht mit einer ähnlichen Faszination über ein gedrucktes Buch, wie sie Messeh schildert. Dies widerspricht jedoch deutlich der Bedeutung, die der Missionar der Heiligen Schrift beimisst. Für ihn selbst ist nicht schon die Präsenz des Buches das Wundersame, sondern offensichtlich der durch die Bibel gesetzte Impuls zu einer anderen Transformation als die, die Messeh mit der Abwendung der Inder*innen von der Ordnung der Brahmanen beschreibt. In der Erkenntnisordnung des britischen Missionars folgt aus dem Erhalt und Lesen der Schrift die Veränderung des Lebens, die Konversion, und vermutlich die Hinwendung zu dem, was jenseits der Buchstaben liegt, zu den wohl eher körperfrei gedachten Ideen von Erlösung und Rettung. Die Beispiele zeigen eine hohe Ambivalenz in den Bedeutungszuschreibungen, die zwischen der Äußerlichkeit der Schrift und ihrem Inhalt changieren und damit die Verflechtung dieser verschiedenen Ebenen im Prozess der Aushandlung der Bedeutung der Heiligen Schrift zum Ausdruck bringen. Auch der Begriff des Wunders ist von Ambivalenz geprägt, denn er wird mal abwertend gebraucht und produziert Differenz zwischen dem „Eigenen“ und den „Anderen“ mittels des boundary markers „Vernunft“, mal bezeichnet er ein vermeintlich positives Urteil über entweder den Respekt der Inder*innen vor dem gedruckten Buch oder über ihren Wissensdurst.

6.

Die Präsenz der Schrift als Widerstand gegen eine „koloniale Bombe“

Ein anderes Beispiel für diese koloniale Umkehrung, bei der die Äußerlichkeit der Schrift – die Schrift als Wunder – zentrale Bedeutung hat, bieten Divinationspraktiken in Afrikanischen Unabhängigen Kirchen (AUKs). Diese Divinationspraktiken sind, so konstatiert die Theologin Musa Dube, Formen des Widerstands gegen die koloniale Entwertung der eigenen Kultur, die Ngugi wa Thiong’o als „koloniale Bombe“ bezeichnet hat: Die größte Waffe, mit der der Imperialismus hantiert und die er tatsächlich täglich gegen diesen kollektiven Widerstand [der Kolonisierten] zum Einsatz bringt, ist die Kultur-

„Er sagt, es spricht nicht!“

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bombe. Die Wirkung einer Bombe besteht darin, den Glauben eines Volkes an seine Namen, seine Sprachen, seine Umwelt, das Erbe seines Kampfes, seine Einheit, seine Fähigkeiten und letztendlich an sich selbst auszulöschen. 51

Auch die Übersetzungen von Bibeln können sich als Kulturbomben erweisen, so Dube.52 Im Prozess des Übersetzens erhielten Begriffe der lokalen Sprache oftmals eine gänzlich neue und mitunter eine kulturabwertende Bedeutung. Als Beispiel führt die Theologin die Übersetzung des Worts „Dämon“ in „Badimo“ in Setswana-sprachigen Bibeln in Botswana an. Badimo stehe in der Setswana Kultur jedoch ursprünglich für die hoch verehrten „ancestral spirits“, also die Ahnen bzw. ihre Geister, die Leben geben, schützen und regulieren oder auch bedrängen können. Mit jeder Verlesung der entsprechenden biblischen Passagen in Gottesdienst, katechetischem Unterricht oder privater Lektüre werde nun diese negative Konnotierung der Ahnen re-inszeniert und die Bevölkerung letztlich in die schizophrene Situation gebracht, die an sich verehrten Ahnen und damit einen Teil der eigenen Kultur abzuwerten. AUKs hätten demgegenüber mit den Divinationspraktiken eine Form des Umgangs mit der Bibel entwickelt, die diese konstante Vernichtung des kulturellen Selbstwerts subversiv unterlaufe und die eigene Wissenskultur stärke. Zum Verständnis: Divinatorische Praktiken sind kultische Handlungen, in denen Heiler*innen oder Prophet*innen unter Verwendung bestimmter Gegenstände Menschen in schwierigen Lebensumständen – bei Krankheit, psychischen, sozialen oder finanziellen Problemen – beraten, wobei davon ausgegangen wird, dass alle diese Probleme entweder in gestörten Beziehungen gründen oder in der Besessenheit durch einen Geist. Die Gegenstände, die die Diviner für die Analyse des jeweiligen Problems und seine Lösung verwenden, sin unterschiedlich: Kauri-Muscheln, Knochen, Kräuter … Aus dem Muster, das diese Gegenstände bilden, nachdem sie auf den Boden oder Tisch geworfen wurden, wird herausgelesen, in welchem Geflecht von Beziehungen die Ratsuchenden stehen und welche Konstellationen die aktuellen Schwierigkeiten und ggf. Krankheiten hervorrufen. Die Gegenstände helfen den Divinern, in Kontakt mit Badimo zu kommen. Die divinatorischen Praktiken in AUKs in Botswana unterscheiden sich, so Dube, von nicht spezifisch christlichen Divinationsangeboten darin, dass hier die Bibel benutzt wird, um nach den Ursachen und Lösungen von physischen und psychischen Problemen zu suchen. Außerdem nimmt der Heilige Geist die Rolle von Badimo ein. Viele christliche Diviner arbeiten jedoch sowohl „under 51

52

Ngugi wa Thiong’o, Decolonizing the Mind. The Politics of Language in African Literature, London 1986, 3 (Übersetzung CJ), s. Musa Dube, Consuming a Colonial Cultural Bomb. Translating Badimo into „Demons“ in the Setswana Bible (Matthew 8:28–34; 15:22; 10:8), in: Musa W. Dube/R. S. Wafula (Hg.), Postcoloniality, Translation and the Bible in Africa, Eugene 2017, 3–25, hier: 4. S. zum Folgenden Dube, Consuming.

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the power of the Holy Spirit“ als auch mit der Hilfe der Ahnen und verwenden neben der Bibel weitere traditionelle Gebrauchsgegenstände.53 Die Art und Weise, wie die Bibel von Divinern der AUKs gebraucht und gelesen wird, ist „verblüffend subversiv gegenüber kolonialen Narrativen“, so Dube: Die Leser*innen [der Bibel] lehnen die Übersetzung ab, die Badimo zu Dämonen und Teufeln gemacht hat […] Stattdessen nehmen sie die Bibel aus ihrer eigenen kulturellen Perspektive als ein Buch wahr, das Beziehungen diagnostiziert und die Heilung der Beziehungen zwischen den Menschen und den göttlichen Mächten fördert […] Kurz gesagt, die kolonialen Missionare übernahmen zwar die Kontrolle über das geschriebene Setswana, konnten aber nicht die Kontrolle über das ungeschriebene Setswana aus dem Gedächtnis der Leser*innen und Hörer*innen aus AUKs ins Botswana übernehmen. Auf diese Weise erweckten die Leser*innen aus AUKs in Botswana Badimo aus dem kolonialen Grab, in dem sie begraben waren, wieder zum Leben; sie legten die Minenfelder in ihren Weltbildern frei und eroberten ihre kulturellen Welten als lebensbejahende Räume zurück.54

Folgt man Dube, dann sind die divinatorischen Praktiken in AUKs also Akte des Widerstands gegen anhaltende koloniale epistemologische Gewalt und keinesfalls Ausdruck einer magischen Irrationalität. Mit der Art und Weise des Gebrauchs der Bibel durch die Diviner integrierten die Setswana die Bibel in ihre eigene Erkenntnisordnung und in ihr Wissenssystem und übernähmen transformierend die Deutungsmacht über die Schrift. Für den westlichen Blick erscheint dieser divinatorische Umgang mit der Bibel esoterisch, okkult, magisch und exotisch. Letztlich gab und gibt es jedoch, wie weiter oben skizziert, auch in Europa vergleichbare esoterische, magische und bibliomantische Formen des Umgangs mit der Schrift. Divinationspraktiken sind also eher das Ergebnis transkultureller Aushandlungsprozesse als „typisch“ afrikanisch, lateinamerikanisch oder asiatisch. Die europäische Ambivalenz im Umgang mit der Schrift und die ebenfalls ambivalenten Praktiken des globalen Südens sind also verflochten, und die Zeit der klaren Unterscheidung zwischen „wir“ und „denen“ ist deutlich passé.

7.

Ausblick: Multi-Sensualität des Wortes und multimodale Epistemologie

Im Jahr 2016 organisierten Studierende der Universität von Cape Town in Südafrika eine Diskussionsreihe zur „Dekolonisierung des Curriculums“, die unter dem Label #Sciencemustfall viral ging und globales Aufsehen erregte. Im Mittelpunkt der Aufregung stand der Diskussionsbeitrag einer Studentin, die fragte, warum orales Wissen oder auch das Wissen der Weisen, der Diviner*innen und 53 54

A. a. O., 22. A. a. O., 23 (Übersetzung CJ).

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der Prophet*innen, aus dem akademischen Kanon von Wissen ausgeklammert bleibe. Wörtlich sagte sie: So if you want a practical solution to how to decolonize science, we’d have to restart science from, I don’t know, an African perspective, from our perspective of how we’ve experienced science. For instance, I have a question for all the science people. There’s a place in KZN called Umhlab’uyalingana and they believe that through the magic, the black magic, you’ve heard of black magic—they call it witchcraft, others—that you are able to send lightning to strike someone. So, can you explain that scientifically? Because it is something that happens …55

Der westliche Kanon von Wissensformen und Wissensbeständen, der sich seit der Kolonialzeit global und unter hegemonialem Ausschluss lokaler Wahrnehmungs- und Erkenntnisordnungen ausgebreitet hat, wird heute nicht mehr nur subversiv unterlaufen, sondern in akademischer Öffentlichkeit kritisch diskutiert. Das Plädoyer der Studentin spiegelt Anfragen wieder, die Schriftsteller*innen wie Chimamanda Ngozi Adichie mit ihrer Forderung nach einer Vielfalt von stories oder Wissenschaftler*innen wie Achille Mbembe oder Boaventura de Sousa mit dem Plädoyer für die Anerkennung der Polyphonie von Epistemologien in den letzten Jahren verstärkt in die kulturwissenschaftliche und philosophische Debatte eingebracht haben. Die skizzierten Aushandlungen über die Deutung der Bibel als Schrift und physischer Körper führen mitten hinein in diese epistemologischen Aushandlungsprozesse, bei denen es nicht nur um Wissensinhalte, sondern auch um Formen des Wissens und der sinnlichen Wahrnehmung und Aneignung von Wissen geht. Sie unterstreichen die von post- und dekolonialen Denker*innen geforderte Polyphonie multimodaler Wissensformen und Wissenssysteme. Die Beispiele des vorliegenden Beitrags zeigen aber auch, dass sich Unterschiede in dem ästhetisch-sensualen Referenzrahmen, der die Deutung der Schrift leitet, nicht auf regionale Unterschiede zurückführen lassen, sondern transkulturelle Verschiebungen aufweisen. Ein eher von der Schrift als physischem Körper und von ihrer Äußerlichkeit geleitetes Schriftverständnis kann daher beispielsweise sowohl im globalen Norden wie auch im globalen Süden angetroffen werden. Schrift ist multi-sensual: Sie kann berührt, gesehen, gerochen, geschmeckt und, wenn vorgelesen, auch gehört werden. Die Deutung von Schrift lässt sich weder logophonozentrisch auf Inhalte und Ideen reduzieren, noch wird die dichotome Unterscheidung von Schriftkultur und oraler Kultur der Komplexität des Phänomens Schrift gerecht. Interkulturelle Begegnungen und transkulturelle Aushandlungen fordern zur Dezentrierung westlicher Deutungsmacht und zur Dekolonisierung eingeübter Denk- und Wahrnehmungsformen auf. Sie laden

55

https://www.youtube.com/watch?v=C9SiRNibD14 (31.07.2022), zitiert aus: Sasha Newell, Decolonizing Science, Digitizing the Occult: Theory from the Virtual South, in: African Studies Review 64, 1 (März 2021), 86–104 (31.07.2022), hier: 91.

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aber auch dazu ein, die Schriftauslegung schon bei der Schrift als Schrift beginnen zu lassen und das „ästhetische[…] Erleben“56 – den scheinbar nur äußerlichsinnliche Umgang mit der Schrift – mit zu berücksichtigen. Dieses ästhetische Erleben kann als „Oszillieren (und mitunter auch als Interferenz) zwischen ‚Präsenzeffekten‘ und ‚Sinneffekten‘“ begriffen werden.57 Eine ästhetisch-polyphone Auslegung der Schrift erwächst, so möchte ich abschließend in Aufnahme von Sofia Bempeza u. a. zusammenfassen, „aus der Freiheit, der Dringlichkeit und der Freude, mit verschiedenen Stimmen [und, so möchte ich ergänzen, mit verschiedenen Sinnen] zu arbeiten“. 58 Unterschiede müssen dabei nicht harmonisiert werden. Sie sind vielmehr Impulse zum Neu-Denken mit u. a. „dem Ziel eines differenzsensiblen Geschichtenerzählens im Sinne Donna Haraways […]: ‚(I)t matters which ideas we think other ideas with‘“:59 Es ist von Bedeutung, mit welchen Ideen – aber auch mit welchen Sinnen – wir über andere Ideen nachdenken.

Literatur Assmann, Aleida, Exkarnation. Gedanken zur Grenze zwischen Körper und Schrift, in: Jörg Huber/Alois Müller (Hg.), Intervention, Zürich 1993, 133–155. Ayala, Guaman Poma de, Nueva crónica y buen gobierno [1615], hg. von Rolena Adorno/John Murra, Mexico City 1980. Bachur, João Paulo, Schrift und Gesellschaft. Die Kraft der Inskriptionen in der Produktion des Sozialen, Weilerswist 2017. Bempeza, Sofia u. a., Polyphone Ästhetik. Ein Anfang, in: Dies. u. a. (Hg.), Polyphone Ästhetik. Eine kritische Situierung, Wien u. a. 2019, 7–12. Bhabha, Homi, Zeichen als Wunder. Fragen der Ambivalenz und Autorität unter einem Baum bei Delhi im Mai 1817, in: Ders., Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, 151–180. Blanck, Thomas, Sammelrez: A Cultural History of the Senses, in: H–Soz-Kult 17.06.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-22998 (31.07.2022). Braun, Christine von, Sekundäre Religionen. Fundamentalismus und Medien, Wien 2016. wa Thiong’o, Ngugi, Decolonizing the Mind. The Politics of Language in African Literature, London 1986. Dube, Musa, Consuming a Colonial Cultural Bomb. Translating Badimo into „Demons“ in the Setswana Bible (Matthew 8:28–34; 15:22; 10:8), in: Musa W. Dube/R. S. Wafula (Hg.), Postcoloniality, Translation and the Bible in Africa, Eugene 2017, 3–25. Ernst, Christoph/Paul, Heike (Hg.), Zur Interdependenz zweier Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2013. Flusser, Vilém, Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 41989. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1971. 56 57 58 59

Gumbrecht, Diesseits, 18. Ebd. Sofia Bempeza u. a., Polyphone Ästhetik. Ein Anfang, in: Dies. u. a. (Hg.), Polyphone Ästhetik. Eine kritische Situierung, Wien u. a. 2019, 7–12, hier: 8. Ebd., mit einem Zitat aus Donna Haraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham/London 2016, 14f.

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Graul, Karl, Blicke nach Ostindien, in: ELMB (1859), 58–64. Grieser, Alexandra, Aesthetics, in Robert A. Segal/Kocku von Stuckrad (Hg.), Vocabulary for the study of religion, Bd. 1, Leiden 2015, 14–23. Gumbrecht, Hans-Ulrich, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004. Haraway, Donna, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham/London 2016. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik (1835–1838), https://www.lernhelfer.de/sites/default/files/lexicon/pdf/BWS-DEU2-0170-04.pdf, 46 (Zugriffsdatum: 31.7.2022). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1970. Honold, Alexander, Schreibstunde an der Telegrafenlinie. Zur Grenze von Schriftlichkeit und Mündlichkeit bei Claude Lévi-Strauss und Jacques Derrida, in: Hans-Joachim Lenger/Georg Christoph Tholon (Hg.), Mnema. Derrida zum Andenken, Bielefeld 2007, 65–78. Jerez, Francisco de, Verdadera relación de la conquista del Perú [1534], Madrid (Historia 16), 1985, 13–17, 22–23. Lévi-Strauss, Claude, Traurige Tropen, Köln 1974. Nehring, Andreas, Im Wunderland des Glaubens. Religionswissenschaft zwischen Kulturhermeneutik und Kulturpolitik, in: Christof Ernst u. a. (Hg.), Kulturhermeneutik. Interdisziplinäre Beiträge zum Umgang mit kultureller Differenz, München 2008, 407–428. Newell, Sasha, Decolonizing Science, Digitizing the Occult: Theory from the Virtual South, in: African Studies Review 64, 1 (März 2021), 86–104. Ong, Walter J., Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987. Richter, Alexandra, Schrift in Leben oder Leben in Schrift verwandeln. Der (nicht mehr) Heilige Text bei Scholem und Benjamin, in: Yael Almog u. a. (Hg.), Heilige Texte in der Moderne. Lektüren, Praktiken, Adaptionen (Interjekte 11), Berlin 2017, 55–61. Seed, Patricia, „Failing to Marvel“: Atahualpa’s Encounter with the Word, in: Latin American Research Review 26, 1 (1991), 7–32. Synott, Anthony, The Body Social. Symbolism, Self and Society, London/New York 1993. Yupanqui, Titu Cusi, Relación de la conquista del Perú [1570], Lima (Ediciones de la Biblioteca Universitaria), 1963.

Pentekostale und westliche (wissenschaftliche) Wunderdeutungen im Konflikt? Interkulturelle Reflexionen einer neutestamentlichen Wunderhermeneutik Peter Wick

1.

Pentekostale Wunderdeutung in Grundzügen

Pentekostale Bibelauslegungen führen zu einer Diversität von Auslegungen. Dennoch gibt es besondere gemeinsame Merkmale pentekostaler Bibelhermeneutik.1 Pentekostale Christinnen und Christen verstehen die Wunder Jesu nicht nur als Zeichen seiner göttlichen Macht, sondern auch als Aufforderung, Wunder zu erwarten und selbst zu tun. Der Empfang des Heiligen Geistes ermöglicht, befähigt und verpflichtet die Glaubenden, Wunder zum Wohle anderer Menschen und zum Erweis der Ehre Gottes zu tun. Das pentekostale Wunderverständnis ist nicht exklusiv auf körperliche Wunder ausgerichtet, aber stellt diese doch deutlich in den Vordergrund. Gott wendet sich den menschlichen Körpern zu und heilt sie. Die Gegenwart und Wirkbereitschaft des Geistes manifestiert sich zuerst emotional und bei einer hohen Energiepräsenz auch körperlich bei dem Heiler, dem Kranken und der anwesenden Gemeinde. Gott greift in die Lebensgeschichte der Menschen ein. Dies tut er sogar dann, wenn die Lebensgeschichte der Betroffenen destruktiv in Krankheit oder auch Sünde hineingeführt hat. Die Zuwendung Gottes zeigt sich am Körper, ist aber ganzheitlich gemeint und fordert den Menschen zur Umkehr und zum Glauben auf. Dieses Wirken Gottes ist in eine Welt eingebettet, in denen nicht wissenschaftlich messbare Kräfte wie der Geist Gottes, aber auch dämonische Geister wirken. Dies soll am Beispiel eines längeren Zitats von Pastor Ki Dong Kim gezeigt werden. Die Sungrak Church wurde 1969 von ihm gegründet. Mit rund 170.000 1

Siehe dazu eine hilfreiche Einführung von Jacqueline Grey, Biblical Hermeneutics. Reading Scripture with the Spirit in Community, in: Vondey, Wolfgang (Hg.), The Routledge Handbook of Pentecostal Theology, London, 2020, 129–139, und ausführlich Craig S. Keener, Spirit Hermeneutics: Reading Scripture in Light of Pentecost, Grand Rapids 2016.

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Peter Wick

Mitgliedern (2009) ist sie eine der größten Baptistengemeinden der Welt. Er schreibt: Krankheiten beschränken sehr das Leben der Menschen. Aber eigentliche Ursache aller Krankheiten sind Geister. Also sind Geister für alle geistigen, seelischen und körperlichen Unreinheiten verantwortlich. Christen berufen sich auf die Worte aus Matthäus 8,17: ‚Er hat unsere Schwachheit auf sich genommen, und unsre Krankheit hat er getragen‘ und sie glauben daran, dass ihre Krankheit bereits verschwunden ist. Wenn sie merken, dass sie immer noch krank sind, dann aber stimmt die Bibelstelle nicht. Jedoch lösen die Worte aus Markus 9,25 dieses Problem: ‚Als nun Jesus sah, dass das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein!‘

In diesem Vers heißt es, dass der Mensch nicht selbst stumm und taub ist, sondern ein blinder, stummer, krummer, schmutziger oder kranker Geist befindet sich als eine Form der Krankheit in ihm. Kurz gesagt, verursachen kranke Geister alle Arten von Krankheiten. Ich weiß, dass diese Aussage nicht allen Menschen gut gefallen wird, aber die Bibel weist in mehreren Versen darauf hin, dass die Ursache von Krankheiten nicht bei Menschen, sondern bei Geistern liegt. Alle unsere Krankheiten und Schwachheiten sind aufgrund der Menschwerdung Christi auf ihn übertragen worden. Und er hat die Kranken geheilt, weil er in seinem menschlichen Körper Schmerzen und Verwundung ertrug. Die Bibel sagt: ‚Der unsre Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden (1. Petrus 2,24)‘, d.h. durch seinen Tod erhielten wir das Leben. Im Markus- und im Lukasevangelium ist auch von Geistern und Wundern die Rede. Als die Jünger von Johannes dem Täufer Jesus fragten: ‚Bist du der, der kommen soll? Sollen wir auf einen anderen warten?‘ antwortete Jesus: ‚Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf, Armen wird das Evangelium gepredigt.‘ Hat nicht etwa Jesus hauptsächlich Wunder in seinem öffentlichen Leben vollbracht, um Geister auszutreiben? Wenn wir die Diener Christi wären, müsste sich das gleiche Wunder in uns ereignen. Obwohl Jesus nicht gesündigt hat, wurde er bestraft, um für unsere Sünde zu büßen. Jesus hat unser Leben um den Preis eines sündlosen Todes erkauft. Für die Heilung von Krankheiten und das Austreiben von Geistern hat Jesus bereits den Preis bezahlt. „Wir müssten Christus unseren Glauben durch Gehorsamkeit erweisen und ihn nachahmen.“2 2

Kim Ki Dong, Biblical theological and phenomenal studies on demonology, Seoul 1988, 233–234. Übersetzung direkt aus dem Koreanischen von Minjeong Chae. Weiterführende Literatur: Lee Chan-Su, What are Ghosts to us? Ghost Theory of Korean Religion (Original: 우리에게 귀신은 무엇인가? 한국 종교의 귀신론), Seoul 2010; Choi Dae-Kwang, Dämonen und Geister – Dämonologie in Christentum, in: Lee Chan-su (Hg.), What are Ghosts to us? Ghost Theory of Korean Religion (Original: 우리에게 귀신은 무엇인가? 한국 종교의 귀신론), Seoul 2010, 147–173; Kim Ki-Dong, Biblical theological and phenomenal studies

Pentekostale und westliche Wunderdeutungen im Konflikt?

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Alle Glaubenden sind für Pastor Kim gesund durch Jesus Christus. Doch die ihnen zustehende Heilung bleibt manchmal aus. Dies ist nicht ihre Schuld, sondern die Geister als Krankheitsgeister lassen einen eigentlich gesunden Menschen krank sein. Deshalb müssen diese ausgetrieben werden. Mitchristen sind an diesen Krankheiten mitschuldig, wenn sie ihre von Jesus Christus verliehene Vollmacht nicht einsetzen und ihre Glaubensgeschwister von diesen Krankheitsdämonen befreien. Wie sollen wir als westliche, in der Tradition der Aufklärung stehenden Theologinnen und Theologen mit solchen Auslegungen umgehen. Sind sie primitiv? Gönnen wir sie großzügig einer koreanischen Folklore? Oder sind wir bereit, davon zu lernen? Und was sollen wir lernen?

2.

Die Wissenschaft als Teil der großen Erzählung der Moderne

Das 19. und 20. Jahrhundert ist geprägt von einer massiven Konstruktion der Wirklichkeit durch die Vernunft. Dieser Konstruktion wohnt inne, dass sie die eigenen Deutungen als jeglicher Konstruktion entzogen verstand und alle anderen Interpretationen als defizitär erledigte: Wer wollte schon eine unvernünftige, in der Entwicklung zurückgebliebene oder naive Deutung in den Ring dieser Deute Dominanz schicken? Wer wollte noch einen Menschen gemachten Ursprung des Covid19 Virus vertreten, nachdem führende Wissenschaftler im Februar 2020 übereingekommen sind, dies als Verschwörungstheorie abzutun? Es dauerte über ein Jahr, bis der amerikanische Präsident die Frage erneut aufrollen ließ.3 Der Philosoph J.-F. Lyotard bezeichnet diese vernünftige, wissenschaftliche und technische Weltsicht als die letzte große Erzählung, die zugleich das Erkennungszeichen der Moderne ist. Sie überbot die großen Erzählungen der Kirchen und Theologie, die sie ablöste hinsichtlich des Anspruchs, dass die Zustimmung zu ihren Deutungen über die Vernünftigkeit und Unvernünftigkeit der Menschen entscheidet. In der Kirche entschied davor die Annahme ihres Deute Systems über Glauben oder Unglauben.

3

on demonology (Original: 마귀론), Seoul 1988; Chun Myong-Won, Hermeneutic of KiDong Kim`s demonology (Original: 김기동의 마귀론), in: Kim Ki Dong (Hg.), Biblical theological and phenomenal studies on demonology (Original: 마귀론), Seoul 2008, 168–195. Zur Diskussion s. http://www.nzz.ch/feuilleton/der-deutsche-virologe-christian-drosten-weist-den-vorwurf-zurueck-er-habe-den-ursprung-der-pandemie-vertuscht-ld. (Zugriffsdatum: 10.2.2022).

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Im Zuge der Moderne befreiten sich die Kirchen und die Theologien vom Deute Korsett ihrer Orthodoxie, indem sie sich mit ihren Erzählungen der großen modernen Erzählung unterordneten und so die christliche Religion in ein vernünftiges Konzept einordneten. Ein wichtiges Ziel war, den Anschluss an die Gesellschaft und an deren prägenden Eliten, die mehr oder weniger mit den Gebildeten identisch waren, nicht zu verlieren. Die Moderne hat in gut 200 Jahren wissenschaftliche und technische Früchte gebracht, die im Voraus unvorstellbar waren und Milliarden von Menschen geholfen haben. Zugleich hat sie zu den größten Verbrechen der Menschheit geführt, die sämtliche davor geschehene in den Schatten gestellt haben und sie hat die ganze Menschheit zu einem permanenten Leben knapp am Rand des Abgrunds gebracht. So zeigt die berühmte Doomsday Clock zurzeit 100 Sekunden vor Weltuntergang an.4 Diese nicht konsequent aufgearbeitete Schuldgeschichte und zahllose neue Bewegungen wie New Age, Bodyturn, die Postmoderne mit ihrem Oszillieren zwischen Pluralität der Wahrheiten oder doch Pluralität der Perspektiven und viele weitere haben die große Erzählung der Moderne unterhöhlt und zum Einsturz gebracht. Vernunft, Wissenschaft und Technik sind zu einer immer noch mächtigen Erzählung im Spektrum zahlreicher anderer Erzählungen geworden, mit denen sie nolens volens konkurrieren müssen. So ist es bezeichnend, dass die Impfskepsis als Wissenschaftsskepsis gerade unter medizinischem Personal zum politischen Problem geworden ist.

3.

Die „Elite“ der Postmoderne

Wer ist die Elite der Postmoderne? Die politische Elite und die ideelle oder auch prägende Elite fallen wie zu Beginn der Moderne auseinander. Die ideelle Elite lebt selbstbestimmt, integriert wissenschaftliche Erkenntnisse eklektisch, reiht mehrere Lebensentwürfe hintereinander, ist religiös, empfindet sich als durchlässig für das Göttliche und sogar als Teil des Göttlichen, sehnt sich nach einer verzauberten Welt, ist ökologisch sensibel, unterzieht sich Einschränkungen bei der Essensauswahl, ist multisexuell, ganzheitlich, nachhaltig, antidogmatisch und vor allem erfahrungsorientiert. Als Beispiel für eine sehr prägende Bewegung möchte ich yoga-vidya wählen. Diese Bewegung bereitet jährlich hunderte von zukünftigen Yogalehrern in vier Ashrams in Bad Meinberg und an anderen Orten in Deutschland für ihre Lehrtätigkeit in ganz Deutschland vor. Auf ihrer Homepage finden sich unter Punkt 2 beim 3. Unterthema deutliche selbstlegitimierende Rekurse auf die Wissenschaft: „Hast du gewusst, dass mittlerweile viele wissenschaftliche Studien 4

http://thebulletin.org/doomsday-clock/current-time/ (Zugriffsdatum: 28.6.2022).

Pentekostale und westliche Wunderdeutungen im Konflikt?

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die Wirksamkeit von Yoga belegen?“5 Zugleich steht im eigenen Wiki dieser Bewegung zu den Gargoyle: „Gargoyle, auch geschrieben Gargouille, sind mystische Wesen, die als Wasserspeier an verschiedenen Gebäuden installiert werden. […] Gargoyle sind da, um böse Geister abzuwehren. Sie haben eine gute Gesinnung in Bezug auf Menschen. Wenn man sich freundlich gegenüber den Gargoyles verhält und sie grüßt und ehrt, dann sind sie gute Schutzwesen. […] In diesem Sinne kann es hilfreich sein, dass du öfters Gott und Feinstoffwesen um Schutz bittest. Es gibt den Schutzgeist deines Gebäudes. Es gib den Schutzgeist deines Appartements. Wenn du ihn anrufst, wird es auch andere Kräfte geben, die sich um dich kümmern. Es ist gut, sich bewusst zu machen, dass wir nicht allein sind in dieser Welt. Es ist gut, demütig zu sein und auch zu wissen, dass unser Wohlergehen nicht nur von uns selbst abhängt.“6 Im Blick auf die vielen Wasserspeier am Kölner Dom könnte man formulieren: Während sich die einen sorgen, dass das geistliche Leben im Kölner Dom immer mehr schwindet, hat es auf dessen Außenseite in Bezug auf die Wasserspeier schon längstens wieder angefangen. Die westliche Theologie ist in einer großen Gefahr, dass sie sich in einer immer kleiner werdenden Blase bewegt und junge Menschen ausbildet, den christlichen Glauben vor der alten Bildungselite zu rechtfertigen, die es als führende Elite kaum mehr gibt. Zugleich ist die Gefahr groß, dass die westliche Theologie die Kompetenz und Sprachfähigkeit gegenüber den neuen, ideellen Eliten sogar verringert, indem sie deren Erfahrungsorientiertheit nicht mit einer eigenen, reflektierten Erfahrungsorientiertheit begegnen kann.

4.

Die wissenschaftliche Interpretation der Wundererzählungen in der Moderne

Nach dieser kurzen Standortbestimmung soll die theologische Rezeption der neutestamentlichen Wunder in ihrer Geschichte als Skizze vorgestellt werden. Im mechanistischen Weltbild, das sich in der Neuzeit verbreitete und in der Moderne seinen Höhepunkt erlangte, wurde ein Wunderglaube mit einer primitiven Erwartung gleichgesetzt, dass sich Gott mit Wundern selbst in sein Handwerk pfuschen würde.

5 6

http:// www.yoga-vidya.de/yoga/#c116519 (Zugriffsdatum: 01.02.2022). http://wiki.yoga-vidya.de/Gargoyle (Zugriffsdatum: 01.02.2022).

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Lukas Bormann hat diese Geschichte übersichtlich dargestellt. „Bis in die Neuzeit hinein wurden die biblischen Wunder […] als Eingriff Gottes in das Naturgeschehen erklärt.“7 Auf die rationale philosophische Bestreitung der Existenz von Wundern reagierte die Theologie seit dem 18. Jh. mit rationalistischen Deutungsmustern, die die Wunder Jesu auf natürliche Weise erklären wollten. Rückblickend scheint der Fantasie kaum Grenzen gesetzt gewesen sein. Diese Deutungen wurden durch die mythologischen und kerygmatischen Interpretationen abgelöst. Die Wundergeschichten wollten nun nicht mehr historisch gedeutet werden, sondern seien Mythen, die theologisch als Entfaltung der urchristlichen Glaubensbotschaft interpretiert werden wollen.8 Bis in die 1970er Jahre hinein dominierte die Bultmann-Schule die Interpretation der Wunderheilungen Jesu. Deren Wert besteht nach dieser Schule allein darin, dass sie die Liebe und heilende und Leben schenkende Macht Jesu Christi ausdrücken. Körperliche Heilungen werden zu Symbolen des nicht körperlichen Heils für den Sünder. Die sozialgeschichtlich orientierte Auslegung unter anderem von Gerd Theißen verstand hingegen die Wundergeschichten als Protest- und Hoffnungsgeschichten. Die feministische Exegese erweiterte diese Perspektiven. Eugen Drewermann als bekanntester Vertreter der tiefenpsychologischen Auslegung versteht die Wundergeschichte als zeitlose Deutungen seelischer Konflikte und von Wegen zu deren Lösung.9 Er und andere deuten Jesus als Schamanen, der die Krankheiten als Ausdruck seelischer Disharmonie heilt, indem er wieder seelische Harmonie herstellt. Unabhängig von ihm deuten auch andere Jesus als Schamanen, der die Geister kontrolliert. Andere deuteten Jesus als Magier.10 Seit der Jahrtausendwende werden die Forderungen lauter, das andere, fremde Wirklichkeitsverständnis der antiken Texte zu respektieren und dieses nicht als irrational abzustempeln. Auch die Disability-Perspektive hat sich zu Wort gemeldet und die Wunder kritisch auf ihre Tendenz befragt, eine Normalität mitzukonstruieren, in die die Geheilten zurückgeführt werden.11 Kollmann zeigt, wie lebendig die Wunderdebatte ist. Er selbst schreibt in seinem Fazit, dass die uns vorliegenden Wundergeschichten maßgeblich vom Glauben der Gemeinde geprägt sind und wenig Unverwechselbares bieten. „Es ist daher nach einem Sinngehalt der Wundergeschichten zu suchen, der auch jenseits

7

8 9 10 11

Bernd Kollmann, Meilensteine der Wunderdebatte von der Aufklärung bis zur Gegenwart, in: Bernd Kollmann/Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, Tübingen 2017, 3–26, 3f. A. a. O., 5–10. A. a. O., 10–13. A. a. O., 19–21. A. a. O., 13–15.

Pentekostale und westliche Wunderdeutungen im Konflikt?

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der Frage nach dem tatsächlichen Geschehen Bestand hat.“12 Trotz aller Neuansätze bleibt er damit in einer kerygmatischen Perspektive, die letztlich die Wunder als Symbole des Glaubens betrachtet und gerät damit in Distanz zur körperlichen Dimension der Heilung, da diese mit dem „tatsächlich Geschehenen“ eng verbunden bleibt. Ruben Zimmermann will hingegen den letzten Sinn von Wundererzählungen als „realitätsdurchbrechende Inhalte“ offenhalten. 13 Er schreibt: „Ob nun durch rationalistische Erklärung, durch historische oder literarische Anpassung oder durch symbolisch-mythologische Übertragung, jeweils werden die Texte der Meta-Theorien von Welt- und Texterklärung angepasst. Die Texte sperren sich jedoch immer wieder gegen einseitige Modelle ihrer Deutung.“14

5.

Pentekostale Bibelauslegung

Pentekostale Bibelauslegung zeichnet sich im Unterschied zu unserer westlichen, wissenschaftlichen Exegese dadurch aus, dass sie sehr auf die Praxis, Wirkung und Tat orientiert ist.15 Sie nimmt den Erfahrungsaspekt biblischer Erzählungen sehr ernst. Dabei steht gerade auch die körperliche Dimension der Erfahrung beziehungsweise die körperliche Reaktion auf diese im Vordergrund. Sie ist emotional rezeptiv. Allerdings müsste genauer untersucht werden, gegenüber welchen Emotionen und Stimmungen sie empfänglich ist. Sie rechnet mit Interventionen Gottes in den Ablauf der Geschichte der Menschen. In diesem Sinne ist sie: – handlungssensibel – erfahrungssensibel – leibsensibel – emotionssensibel – interventionssensibel Selbstverständlich gibt es mehr als diese fünf Charakteristika, doch gerade diese werden in unserer wissenschaftlichen Exegese vernachlässigt. Die so ausgebildeten Theologinnen und Theologen vernachlässigen diese in der Regel dann auch in ihrer Gemeindearbeit. Die Gründe sind in der Moderne und ihren weiter 12 13

14 15

A. a. O., 25. Ruben Zimmermann, Von der Wut des Wunderverstehens. Grenzen und Chancen einer Hermeneutik der Wundererzählungen, in: Bernd Kollmann/Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, Tübingen 2017, 27–52, hier: 43. A. a. O., 37. Hanna R. K. Mather, The Interpreting Spirit: Spirit, Scripture and Interpretation in the Renewal Tradition, Eugene/Oregon 2020, 92–103.

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oben skizzierten Paradigmen zu finden. Auch eine bestimmte lutherische Theologie des 20. Jahrhunderts ist mitbeteiligt, die der Selbstwirksamkeit des Menschen in der Gottesbeziehung jegliche theologische Würde abgesprochen hat durch die einseitige Hervorhebung der Passivität und Rezeptivität der Glaubenden auf Kosten ihrer Bevollmächtigung und ihrer Mitgestaltung des Reich Gottes. Allerdings gibt es in der pentekostalen Wunderrezeption eine fundamentale Spannung. Der eine Pol dieser Spannung kann vielleicht so bezeichnet werden: Gott kann und wird intervenieren und Menschen heilen. Wenn Menschen dies aktiv von Gott erwarten und sich ihm glaubend als Handelnde durch Salben, Beten und Handauflegen anbieten, beeinflusst dies das heilende Handeln und Wirken Gottes. Es steigert die Interventionsbereitschaft Gottes. Beim anderen Pol findet sich ein anderes Wirklichkeitsverständnis. Hier schafft der Mensch aus seinem Inneren heraus die äußere Welt. Wer genug glaubt, richtig betet und die Vollmacht, die ihm zusteht, ohne Zweifel beansprucht, der wird auf jeden Fall heilen oder geheilt werden. So oder so prägt eine direkte Orientierung am Erfolg diese Bewegungen. Diese Weltsicht wurzelt im 19. Jahrhundert unter anderem beim Heiler Phineas Parkhurst Quimby, in der Neugeist-Bewegung und in Christian Science von Mary Baker Eddy (1821–1910) und hat sich weiterentwickelt zum „positiven Denken“ mit dem damit verbundenen Gebrauch von Affirmationen. In diesen Bewegungen spielt die Materie oder der Körper keine Rolle, sondern das Geistige bestimmt alles. Deshalb ist es auch möglich, den Körper vom Geist her zu heilen. Der Mensch ist, was er denkt und glaubt. Wenn er nicht geheilt wird, trägt sein Geist oder sein Glaube daran die Schuld. Bei einer solchen Sicht werden biblische Heilungsgeschichten besonders bevorzugt, in denen Jesus die Heilung dem Glauben der Kranken oder deren Bezugspersonen zuschreibt. Die zwei Pole können so skizziert werden: – Gott will heilen durch Menschen, die sich ihm durch Glauben und Handlungsbereitschaft zur Verfügung stellen. Gebet erhöht die Heilungsbereitschaft Gottes und des betenden Menschen. – Die Menschen schaffen sich die Welt aus ihren inneren Glaubensvorstellungen heraus. Gott garantiert, dass dies funktioniert. Der zweite Pol ist mit dem Evangelium nicht zu vereinbaren und führt in eine extreme Leistungsreligion. Der Körper hat keinen eigenen Wert, sondern ist nur Mittel zum Zweck. Bis die Grundlagen geklärt sind, wird die pentekostale Bewegung sich hier immer wieder für den ersten Pol als alleiniger Weg entscheiden müssen.

Pentekostale und westliche Wunderdeutungen im Konflikt?

6.

131

Pentekostaler Wunderglaube und der postmoderne Mensch

All die oben genannten Charakteristika wie handlungssensibel, erfahrungssensibel, leibsensibel, emotionssensibel und interventionssensibel sind für postmoderne, religiös offene Menschen in der Regel hochattraktiv. Taten sind für sie viel wichtiger als Dogmen, sie sind von einem großen Erfahrungshunger geprägt, der Körper rückt ins Zentrum ihrer Selbstwahrnehmung und Gefühle werden zu Medien tiefer innerer Wahrheiten. Zugleich fühlen sie sich mit dem Göttlichen verbunden und erwarten von dort her lebenswichtige Impulse. Sie sehnen sich danach, heilende Kraft zu empfangen und auszusenden. Botschaften wie „lass dich heilen durch die göttliche Kraft! Spüre die göttliche Kraft in deinem Körper und was sie tun will! Heile! Lege deine Hand auf und lass die Energie des Heiligen Geistes fließen! Rechne mit der Kraft Gottes und das Gott jetzt eingreift!“ sind somit alles nicht nur Kernaufforderungen in pentekostalen Bewegungen, sondern sind spontan verständlich für den postmodernen Menschen, der sich vom Effizienzdenken der Gesellschaft versucht zu distanzieren, um sich selber neu zu erfahren. Weitere Parallelen zwischen dem pentekostalen Wunderverständnis und der postmodernen Befindlichkeit lassen sich aufzeigen: Insgesamt sind Menschen in der Postmoderne effizienzorientiert. Ihre Praktiken, Gebete, Meditationen und Übungen sollen eine wenigstens subjektive, am besten auch wissenschaftlich überprüfbare Wirkung haben. Passivität und Rezeptivität im Sinne eines „sei einfach dich“ wird zwar wertgeschätzt, ist aber in der Regel doch erfolgsorientiert gewendet. Das „sei dich selbst“, soll eine erfahrbare Besserung der Lebensqualität herbeiführen. Postmoderne Menschen wollen sich als selbstwirksam gegenüber sich selbst erleben. Die Auffassung, dass der Mensch seine eigene Welt durch seine inneren Vorstellungen kreiert, hat sich zutiefst in die Interpretationsstruktur der religiös offenen Menschen heute eingeschrieben. Es ist nicht die Frage, ob sie diese Überzeugung teilen, sondern in welchem Grad und Ausmaß sie davon überzeugt sind, ihre Welt durch ihre Vorstellung zu schaffen. In diesem Sinne ist das pentekostale Wunderverständnis im Gegensatz zu unserem auch mit seinen problematischen Tendenzen viel anschlussfähiger zu den vielen religiös offenen Menschen unserer Zeit. Wenn sich unser theologisches und kirchliches Wunderverständnis vom pentekostalen inspirieren lässt, erhöht sich unsere Anschlussfähigkeit zu unseren Zeitgenossen massiv. Die Wahrnehmung eines pentekostalen Wunderglaubens kann uns helfen, aus unserer modernen Wissenschaftsblase auszusteigen und die Theologie wieder anschlussfähiger zu machen für die Menschen, wie sie heute religiös gestimmt sind. Dass eine solche Rezeption nur kritisch geschehen kann, ist hier aufgezeigt worden.

132

7.

Peter Wick

Der nächste Schritt

Afrikanische Exegetinnen und Exegeten kritisieren immer wieder, dass der Zwang zur Übernahme des westlichen Weltbildes mit dem Konsens, dass es Wunder eigentlich nicht gibt, kolonialistisch ist. Wenn sie von ihren Erfahrungen und ihrem Weltbild her die Texte interpretieren, werden sie vom wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen durch die üblichen preview Verfahren. Aussagen wie die Folgende sind zu hören: „Wenn ihr im Westen die Christologie mit griechischer Philosophie formuliert habt, so lasst uns doch von unseren afrikanischen Ideen her den biblischen Befund deuten. Ihr betreibt einen dogmatischen Imperialismus.“16 Auch gegenüber dem weltweiten Pentekostalismus müssen wir als westliche Theologinnen und Theologen im Zeichen des Postkolonialismus sensibel sein. Da die Moderne und der Kolonialismus eine Symbiose waren, gilt es gerade in der Begegnung mit dem Pentekostalismus kritisch gegenüber eigenen Versuchen zu sein, die ein pentekostales Wunderverständnis als unvernünftig abtun wollen. Was könnte der nächste Schritt sein? Wir als Theologinnen und Theologen sind auf Wahrnehmung spezialisiert. Dieses „Tool“ kann angewandt werden, um fremde Deutungen zuerst einmal in ihrer ganzen Tiefe und Breite und sozialen Relevanz wahrzunehmen. Sekundär wird auch eine Kritik notwendig sein, die ihre Kriterien weniger in einem überholten Vernunftbegriff sucht als im Schriftbezug und der Lebens Dienlichkeit von Interpretationen. Mit einer zuhörenden, lernbereiten Wahrnehmung von Wunderinterpretationen aus anderen Kulturen kann unsere Erkenntnis wachsen, dass biblische Wundergeschichten verschiedene Perspektiven auf sich ziehen wollen und ihre gesellschaftsgestaltende Kraft aus dem Mut erwächst, solche Perspektiven neugierig auszuloten und deren „embodiment“ zu wagen. So schreibt Craig S. Keener: „Because of our cultural blind spots, we all need one another’s help to hear Scripture fully.“17

16 17

Ich verdanke diese Inhalte Dr. Christoph Stenschke, Prof. extraord., University of South Africa, der dies in Südafrika in vielen Gesprächen gehört hat. Keener, Spirit, 96.

Pentekostale und westliche Wunderdeutungen im Konflikt?

133

Literatur Choi, Dae-Kwang, Dämonen und Geister – Dämonologie in Christentum, in: Lee Chan-su (Hg.), What are Ghosts to us? Ghost Theory of Korean Religion (Original: 우리에게 귀신은 무엇인가? 한국 종교의 귀신론), Seoul, 2010, 147–173. Chun, Myong-Won, Hermeneutic of Ki-Dong Kim`s demonology (Original: 김기동의 마귀론), in: Kim Ki Dong (Hg.), Biblical theological and phenomenal studies on demonology (Original: 마귀론), Seoul, 2008, 168–195. Grey, Jacqueline, Biblical Hermeneutics. Reading Scripture with the Spirit in Community, in: Vondey, Wolfgang (Hg.), The Routledge Handbook of Pentecostal Theology, London: 2020, 129–139. Keener, Craig S., Spirit Hermeneutics: Reading Scripture in Light of Pentecost, Grand Rapids 2016. Kim, Ki Dong, Biblical theological and phenomenal studies on demonology, 1988. Kollmann, Bernd, Meilensteine der Wunderdebatte von der Aufklärung bis zur Gegenwart, in: Bernd Kollmann/Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, Tübingen 2017, 3–26. Lee, Chan-Su, What are Ghosts to us? Ghost Theory of Korean Religion (Original: 우리에게 귀신은 무엇인가? 한국 종교의 귀신론), Seoul, 2010. Mather, Hanna R. K., The Interpretin Spirit: Spirit, Scripture and Interpretation in the Renewal Tradition, Eugene/Oregon 2020. Zimmermann, Ruben, Von der Wut des Wunderverstehens. Grenzen und Chancen einer Hermeneutik der Wundererzählungen, in: Bernd Kollmann/Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, Tübingen 2017, 27–52. http://www.nzz.ch/feuilleton/der-deutsche-virologe-christian-drosten-weist-den-vorwurf-zurueck-er-habe-den-ursprung-der-pandemie-vertuscht-ld. (Zugriffsdatum: 10.2.2022). http://thebulletin.org/doomsday-clock/current-time/ (Zugriffsdatum: 28.6.2022). http:// www.yoga-vidya.de/yoga/#c116519 (Zugriffsdatum: 01.02.2022). http://wiki.yoga-vidya.de/Gargoyle (Zugriffsdatum: 01.02.2022).

Intercultural Empirical Hermeneutics An Example of Theological Hermeneutics Research and Theory Generation Assisted by Methods and Techniques of Social Research Daniel Jara J.

The following article describes and analyzes a four-year doctoral project conducted under the supervision of the Chair of Intercultural Theology and Physicality at the Ruhr-Universität Bochum with the title: “Intercultural biblical dialogue by means of Empirical Hermeneutics: An Ecumenical Reading of ‘The Council of Jerusalem’ between Student Christian Movements SCMs members of the World Students Christian Federation WSCF”. This research delves into the dynamics of intercultural Bible reading and the multiple factors that mediate the discussions about biblical topics between communities of Christian believers from different cultural backgrounds. Furthermore, it exemplifies the remarkable potentiality of different methods and techniques of social research, such as discussion groups and Grounded theory, for the study and formulation of novel theory in the field of intercultural theological hermeneutics. For this purpose, it refers to the so-called “Council of Jerusalem” as documented in the book of Acts of the Apostles, Chapter 15, verses 1 to 21 and 36 to 41, as the object of discussion between modern groups of Christian believers from dissimilar contexts. The article is divided into four main parts. First, it introduces the method of intercultural Bible reading, its theoretical and historical background, and some previous projects that make use of this methodology. It also presents the specific research questions and objectives of the project. Second, it refers to the biblical text of discussion and the nature of the Students Christian Movements SCMs as members of the global World Students Christian Federation WSCF. Furthermore, it explains how for almost one year (February 2021 to March 2022) discussions about the text of Acts took place among SCMs in different continents. Fourth, it presents the use of methods and techniques of social research as working tools in the study of intercultural theological hermeneutics. It pays special attention to the process of coding for labeling and organizing qualitative data (speeches and videos in this case) to identify different topics or communicative factors that appear during the discussions, and the relationships between them; apart from

136

Daniel Jara J.

the use of the Grounded Theory method for generating hermeneutical theories. Finally, it sketches some projected conclusions about the use of methods of social research in the field of intercultural hermeneutics.

1.

Empirical Hermeneutics: A Method for Intercultural Bible Reading

1.1

Theoretical Background of the Method

Intercultural Empirical Hermeneutics designates the attempt to trace or explore how common non-theologically trained readers read and interpret biblical texts. The concept is composed of three key components. First, the concept intercultural refers to two main features of this research: it presupposes that the context of the biblical reader plays a role in the interpretation of any text, and it refers to the explicit aim to create dialogical spaces between groups from different continents, and preferably, through the abyssal line which De Sousa Santos theorizes exists between his conceptual global North and South1. Second, the category empirical indicates the study objects of this research, in this case, transcribed speeches, videos, and audios. It also points out the "descriptive dimension of this hermeneutics"2. Therefore, its main focus is not to study the interpretations of some sort of academic elite, as was customary for contextual hermeneutics during the XX century, but it focuses on how the contemporary so-called ordinary readers3 interpret the biblical text in their own contexts and everyday life. Finally, Hermeneutics refers to the theoretical discipline which studies how a text is interpreted. Furthermore, Intercultural Empirical Hermeneutics focuses on the role the text fulfills in a person or community, so it “aims to explore the area where the behavior potential of the text becomes operational”4. In this sense, it constitutes one of the youngest branches in the tradition of the “emancipatory hermeneutics”5. 1 2 3

4 5

Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South. Justice Against Epistemicide, London/New York 2016, 118. Hans de Wit, “My God,” she said, “ships make me so crazy.” Reflections on Empirical Hermeneutics, Interculturality, and Holy Scripture, Elkhart 2008, 23. Hans de Wit, Through the Eyes of Another. Objectives and Backgrounds, in: Hans de Wit et al. (ed.), Through the Eyes of Another. Intercultural Reading of the Bible, Intercultural Biblical Hermeneutics Series 1, Elkhart 2004, 3–53 at 5–25. Ibid., de Wit, “My God”, 23. Hans de Wit, Hermeneútica Empírica. Ver a través de los ojos del otro, in: José Luis Mesa (ed.), El Arte de Interpretar en Teología. Compendio de hermeneútica teológica, Colección Teología Hoy 78, Bogotá, 2017, 299–344, at 299.

Intercultural Empirical Hermeneutics

1.2

137

Historical Background of the Method

The use of Empirical Hermeneutics as a method for intercultural Bible reading dates back to the mid-90s. From 2001 to 2004, the international research project Through the Eyes of Another6 was developed, and its method was tested on a larger scale. Hundreds of Bible readers from more than 150 different Christian groups and approximately 20 countries participated and studied together the text of Jesus and the Samaritan woman in the gospel according to John. In further projects, the method was used to structure group discussions about specific topics. For example, Intercultural Reading of John 10:1–217 (2016) made use of the text of The Good Shepard to study the leadership-followership dynamics in the church. In Toward a communal reading of 2 Samuel 138 (2014) the readers recovered the tradition of Tamar to discuss ideology and power concerning sexual and psychological violence in their contexts. The widow and the judge: Memory, resistance, and hope9 (2020) rediscovered the parable of the persistent widow and the unfair judge among contexts of violence in Latin America. Finally, this current project aims to study the discussion among groups of Christian students regarding the topics of unity, diversity, and conflict in the Church. To do so, the text of Acts 15 verses 1 to 21 and 36 to 41, this is the so-called “Council of Jerusalem”, followed by the discrepancies and further separation between Paul and Barnabas, was chosen.

2.

Questions, Objectives, and Relevance of the Research Project

2.1

Research Questions

This research explores the field of intercultural dialogue among Christian groups and the communicative processes it entails. By exploring the interaction 6 7

8

9

de Wit et al. (ed.), Through the Eyes of Another. Eric Nii Bortey Anum/Ebenezer Quaye, Intercultural Reading of John 10:1–21. The Shepherd-Sheep Metaphor as a Leadership-Followership Model, Intercultural Biblical Hermeneutics Series 4, Elkhart 2016. Charlene van der Walt, Toward a Communal Reading of 2 Samuel 13. Ideology and Power within the Intercultural Bible Reading Process, Intercultural Biblical Hermeneutics Series 2, Elkhart 2014. Hans de Wit/Edgar A. López (ed.), The Widow and the Judge. Memory, Resistance and Hope. Intercultural Reading of Luke 18.1–8 in Latin American Contexts of Impunity, Intercultural Biblical Hermeneutics Series, Elkhart 2020.

138

Daniel Jara J.

between SCMs in different continents when interpreting a biblical text, it reveals and analyzes the Bible reading styles of the groups, regarding aspects such as different reading approaches to the same biblical text, more or less level of suspicion or effort for deconstructing the text, status of the text, dominance of denominational belongings over Bible interpretation at the level of ordinary readers, interest for what lies in front, behind or in the text; socio-political references, etc. The main question of the research refers to finding out the salient factors (cultural, denominational, attitudinal, etc.) that orient or mediate a successful intercultural dialogue between SCMs regarding their interpretations of the biblical text. A dialogue will be considered successful when after confronting two interpretations of the same biblical text of SCMs from different cultural backgrounds, the participants perceive that their ideas have been satisfactory understood, the dialogue has not been perceived as threatening or degrading, participants can recognize possible shortcomings in their former biblical interpretation, and they are willing to learn from “strange interpretations”10 or to integrate new perspectives in their Bible reading style. This question directs to other ones, for example: Which processes of intercultural dialogue can be regarded as successful? What are the salient factors related to these processes? What are the common characteristics of speech semantic systems in these cases? Which unexpected factors are related to them? How does meaning develop in these cases? Which categories of Ecumenical Studies, Intercultural Hermeneutics, or Intercultural Theology relate to these cases? What is the correlation between these categories? How these conclusions could support or facilitate further intercultural/ecumenical dialogues in the WSCF and similar ecumenical organizations?

2.2

Research Objectives

The objectives of the project follow the above-mentioned questions. The first objective is to open what Hans de Wit11 calls a “liminal space between cultures”12 in which Christian readers from different contexts can reflect and share their interpretations of a text from the Bible. The second objective is to identify factors that are related to successful intercultural theological exchange among Christian communities and those which relate to a deficient dialogue13. The third 10 11

12 13

de Wit, “My God”, 27. Em. Prof. Dr. Hans de Wit (1949) is a Theology Professor at the Faculty of Religion and Theology of the Free Amsterdam University VU and holder of the Dom Hélder Camara Chair. He is one of the precursors of the Intercultural Bible Reading method. de Wit. Hermeneútica, 299. Deficient Dialogue as opposed to “successful intercultural/ecumenical dialogue” is characterized by an unsatisfactory evaluation by the participants, the dialogue is perceived as

Intercultural Empirical Hermeneutics

139

objective is to generate hypotheses and theories about intercultural ecumenical communication to promote those factors that relate to meaningful dialogues in further intercultural/ecumenical discussions.

2.3

Academic and Ecumenic Relevance of the Research Project

Intercultural communication between Christian believers and communities is oftentimes a problematic endeavor that can lead to frustration or even religious conflict. Because of different cultural and historical backgrounds or different approximations to the biblical text according to denominational affiliation, among many other reasons, this communicative process has on occasions been marked by confusion, prejudices, and lack of mutual understanding. Furthermore, theological approaches that highlight the role of contextual elements in ecumenical discussions, such as Contextual Theology or Ecumenical Studies, have predominantly focused on developments and interpretations from a sort of academic elite: expert theologians, exegetes, and hermeneutists. Thus, this selective academic blindness toward the richness and diversity of the biblical interpretations of ordinary readers constitutes what De Sousa Santos calls a "waste of experience", consequence of a "lazy reason"14. In the words of De Wit: “In contrast to what is now asserted so pointedly about the relationship between sacred texts and human actions, we actually know almost nothing about that relationship”15, and he adds: “We [actually] know very little of most readers”16. For at least three reasons it is important to develop research about different approaches to Bible reading in a multi-cultural Christianity, the effect of Bible reading on ordinary readers, and which factors allow or prevent a meaningful intercultural ecumenical dialogue between them. First, the vast majority of Christian believers who read the Bible around the world fit the description of nontheologically trained ordinary readers. Second, one of the most common critiques to ecumenical dialogues during the last century was the apparent gap between the attitudes and agreements reached by religious leaders and theologians who participate in these initiatives, and the concrete ecumenical openness of common believers to share biblical insights and transform their understanding as a result of ecumenical encounter. In this sense, it is not an exaggeration to argue that ecumenical efforts are incomplete if they are not willing to involve ordinary Bible readers and common believers during the entire process. And third, ecumenical endeavors during the last century had a very clear "cognitive" and Euro-

14 15 16

threatening or degrading and group members are unwilling to modify their understanding of the text after confrontation with the pair-group. de Sousa Santos. Epistemologies, 164. de Wit. “My God”, 16. de Wit et al. (ed.), Through the Eyes of Another, 16.

140

Daniel Jara J.

centric epistemological character. This means it was mainly focused on exploring commonalities or meeting points between doctrines and theological statements. Nevertheless, once it was clear that certain doctrines had nothing in common or were diametrically opposed, this epistemological model reached a dead end. This research project aims to explore factors that are involved in ecumenical discussions and, like epistemological factors, are part of the religious experience of common believers (ie. attitudinal factors), which could facilitate further ecumenical endeavors.

3.

An Intercultural Reading of the “Council of Jerusalem” Text and its Methodology

The project aims to make use of an empirical-descriptive research model, which instead of testing a research hypothesis, by using an inductive approach, will explore patterns and correlations of cultural, denominational, or attitudinal factors that are involved in intercultural and interdenominational Bible reading processes among ordinary readers. This allows the formulation of hypotheses and theories about the presence, absence, or correlation of those factors that relate to a productive or deficient intercultural theological exchange among Christian communities. The selection of the participant groups in previous projects of Intercultural Empirical Hermeneutics has been characterized by the aim of representing the great cultural diversity of the global Church. Nevertheless, factors such as the gender, the educative level, the composition of the group, or the age of the participants reflect an amount of non-merely cultural factors that could turn the generation of valid hypotheses and theories into a much more complex task. For this reason, intending to minimize the influence of non-cultural and non-denominational factors, and in contrast to previous projects, the current one paid special attention to the issue of equivalency among the participant groups. In this sense, a global ecumenical organization such as The World Students Christian Federation WSCF with its more than 170 Students Christian Movements SCMs in the five continents offered an optimal environment for study. The WSCF, founded in 1895, is one of the oldest global ecumenical bodies with active membership. Five of its six regions were represented by at least one SCM during the discussions. These regions are Africa, Asia-Pacific, Europe, Latin America and Caribbean, and the Middle East. The North American region was not able to propose a representative for the exchanges due to internal reorganization issues. The Federation presents itself as:

Intercultural Empirical Hermeneutics

141

A global federation of student Christian groups. WSCF is ecumenical—welcoming people from all Christian traditions and encouraging dialogue between students of different traditions. WSCF has members from Protestant, Orthodox, Pentecostal, Roman Catholic and Anglican traditions and from other faiths. As a federation of student movements, the WSCF empowers and connects responsible young leaders around the world in their path to changing tomorrow. We encourage a culture of democracy to mobilize youth to become pro-active in society, promoting positive change through dialogue and action between different traditions and cultures.17

The only requirement for the SCMs to participate was to have five or more members who can speak English and have a stable internet connection. From February 2021, ten different SCMs engaged in dialogue in pairs as follows: the SCM in Bangalore discussed the biblical text in Acts with the SCM Vienna, the SCM Tübingen with the one in Windhoek, the SCM Chemnitz with the one in Beirut, the SCM Edinburg with its counterpart in Nairobi; and finally, the SCM Sidney with a mixed group of the SCMs in Habana and Mexico City.

3.1

Intercultural Reading Sessions

The reading process constitutes the main advance between this and previous similar projects. In the first place, through the use of technological platforms, the dialogue process that normally took between nine months to one year occurred completely in only three weeks, which reduced the desertion rate of the groups from almost 50% to cero. Second, for the first time since the creation of this methodology, participants in different continents had the chance to interact synchronically with each other through a virtual platform rather than by long written reports. Third, the complete dialogues of each session were recorded, transcribed, and processed. This allows expanding the analysis scope to include the study of the inner dynamics among each group and for the first time, to pay attention to the non-verbal contents involved in the discussions. Despite it may seem complex, the reading process is simple. It consists of three sessions, each one of two parts.

3.1.1

First Reading Session

The research sample consisted of ten groups of ordinary Bible readers organized according to the local structure of the SCMs. The groups had between five and eight members,18 they were paired and supervised by a moderator who guided 17 18

The World Students Christian Federation. “About Us”. April 15, 2022. https://www.wscf.ch/who-we-are/the-federation/about-us Morgan recommends counting with at least 9 groups of 6 to 10 members to formulate valid conclusions by the method of focus group. David Morgan, Planning Focus Groups, London 1997, 93.

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the reading process and took notes on the most significant ideas and concepts that arose during the discussions. In the first part of the first session, each group received separately all the necessary information about the project: how the results will be used and the confidential treatment of the involved material. Those who agreed to participate signed a document that attests to their willingness and commitment to participate during the entire process of intercultural Bible reading. They also filled out a questionary regarding his/her biblical reading style, with questions such as: How often do you normally read your Bible? Do you read it in an individual (alone) or communitarian (in-group) way? What do you consider important when you read the Bible? Do you have some previous ideas about the text of Acts 15:1–20, 36–41 (The Council of Jerusalem and the conflict between Paul and Barnabas) If yes, what are they? Do you think your religious background affects your Bible interpretation? What is your motivation to participate in the project? In the second part, each group read separately the text of the Jerusalem Council which is immediately followed by the disagreement and further separation of Paul and Barnabas. The text was selected because it deals with the topic of unity and difference in the Church, focuses on cultural differences among believers, and has a narrative structure. The Bible reading dynamics developed as naturally as possible, according to the group's customs, through a virtual platform. However, the groups were told that their dialogue was recorded and they had a restricted time frame of one hour for the discussion.19 Only if necessary, the moderator guided the discussion by making use of open questions (semistructured discussion), for example, What, in your opinion, is the central message of the text? What dynamic do you recognize in the text? Are there similarities between the characters? Differences? And if so, how would you describe these differences? How are these differences or similarities addressed in the text? Do the characters in the story address the topic of unity? And if so, how? Does culture play a role in these conflicts? And if so, on which way? Do you recognize yourself with a protagonist of the story? How do you interpret Paul's attitude towards Mark? How do you interpret Paul's attitude towards Barnabas? What aspects of the story touch you in particular? Does the text evoke you thoughts, memories, or experiences of your own life? Why? How might the text play a role in your life? Why do you think some theologians refer to this event as the “Ecumenical Council of Jerusalem”? After this discussion, the moderator had the chance to ask questions concerning the surrounding elements or symbols involved in the reading process and their significance to the participants. Finally, the participants received information about the second meeting. 19

According to Bryman, one hour is the optimal time for a focus group session because after that time group members tend to lose the focus of the conversation and start talking about other topics. By general rule “a focus group session lasting one hour can take up to eight hours to transcribe”. Alan Bryman, Social Research Methods, Oxford 2012, 517.

Intercultural Empirical Hermeneutics

3.1.2

143

Second Reading Session

The second session is also divided into two parts. In the first part, Each group watched separately their partner group's recorded and subtitled discussion of the biblical text while taking note of what called their attention. In the second part, the group discussed how the other group interpreted the text. The moderator recorded this second discussion and only when necessary he guided the discussion by making use of open questions such as: What form of reading did the partner group use? What is their reading oriented towards? Did you recognize in their discussion certain elements of their religious tradition? What is the central message of the text according to them? Do you think that one or more of the characteristics of the other group influence their way of reading the text? How does the other group approach the biblical text? What are the differences and similarities between both groups' interpretations? Is the text updated? Does the text apply to one's life? Does reading lead to a new practice? Were there any liturgical expressions? How did members of the other group get along with each other? How were the dynamics in the other group? Does this intercultural reading exercise affect you in any way? How? At the end of the session, each participant received information about the dynamics of the third and last meeting.

3.1.3

Third Reading Session

Finally, there is a third session. In its first part, each group watched separately their partner group's Video 2 to listen to what the other group thought about "our" interpretation of the biblical text. In the second half, the groups finally met each other virtually. The discussion during the meeting focused on questions such as: How did the other group understand our biblical interpretation? Did we feel that they understood or distorted our reflection? Did we learn something from their interpretation of the text? Did they learn something from ours? Are there similarities and differences in our interpretations? Did the exchange alter our understanding of the text? Did it change our understanding of the unity and diversity of the Church? Finally, the members of both groups filled out an individual questionary to evaluate the entire reading process, its effectiveness, and ecumenical significance.

3.2

Data Analysis and Theory Generation

3.2.1

The Codes System and the Coding Phase

The amount of gathered data is vast and consists of personal questionaries regarding Bible reading styles, videos of the discussions inside and between

144

Daniel Jara J.

groups, and individual questionaries about the effect and evaluation of the process by each participant. The next step consists of reducing the amount of collected data to a manageable scale and processing the information to identify and correlate categories and subcategories of factors (systems of meaning), which may be subsequently contrasted with other systems of meaning. All this data was transcribed and uploaded to the MAXQDA2020 software as appreciated on the right side of the following figure. Subsequently, each semantic unit was analyzed and assigned to a specific code from a bank of concepts and codes. Codes of similar semantic significance were linked in common categories and subcategories (here on the left of the figure). The codes-bank was compiled from different sources, for example, previous research in the field of empirical hermeneutics, theories in intercultural hermeneutics, intercultural theology and ecumenical studies, and new codes which appeared during the coding process. Each one of the three sessions counted with a different codes-bank. For example, the analysis of the first session, this is, before any interaction with the partner group, was elaborated on the base of 361 codes in total. They were divided into five main groups (each of which is composed of different levels of subcategories that are not portrayed here for practical reasons): 1. Background information: which included the characteristics of the group, the relationship of the members with the Bible, the pre-knowledge of the text itself, and the motivation of the members to participate in the project. 2. Group process: which categorizes the group processes regarding the reading protocol, any liturgical actions and reading dynamics. 3. Group dynamics: this category identifies different kinds of dynamics inside the group and the kind of non-verbal communicative resources that were deployed. 4. Hermeneutical Process: this is the largest analysis category with 197 divisions or codes in five main groups: hermeneutical aspects, explanation strategies, explanation of the text itself, identification with particular characters in the text, and reception history. These sub-categories as well have several sub-divisions 5. Actualization or re-reading process: It is composed of five subcategories and 53 codes: problematic actualization, actualization/re-reading of aspects/characters from the text, stimulus to act, appropriation dynamics, and appropriation strategies. Regarding this last category, one of these strategies, the so-called “correspondence of relations”, is illustrated by an example from the first session of the SCM in Beirut in the following figure. The following figure presents a typical “portrait” of one of the first sessions. It is almost completely dominated by gray codes which correspond to the hermeneutic focus on what lies behind and in the text. There are a few attempts from the group to actualize or appropriate the text (black spots). Furthermore, the dynamic inside the group (white spots) although is non-fluid (the code long

Intercultural Empirical Hermeneutics

145

pause appears on 13 occasions), is characterized by a relaxed environment (with 19 examples of laughs), and several gestures of agreement to what other members of the group affirm (12 occasions).

Analytical portrait of a typical first reading session (Beirut SCM)

3.2.2

Theory Generation Through Grounded Theory

The final stage of the qualitative analysis refers to the generation of hermeneutical theory. This phase aims to infer hypotheses that can answer the different research questions. To do so, it is necessary to interpret commonalities, differences, and patterns among semantic systems in the different exchanges. The use of Grounded Theory20 as framework for analyzing qualitative data through an iterative (continuous back and forward) movement, “this is […] a repetitive interplay between the collection and analysis of data”21 allows to create new semantic categories of codes and to infer relations that refute, probe, or generate hermeneutical theories.

20

21

Grounded theory is an “iterative approach to the analysis of qualitative data that aims to generate theory out of research data by achieving a close fit between the two”. Bryman, Methods, 712. Bryman, Methods, 517.

146

4.

Daniel Jara J.

Projected Conclusions and Evaluation of the Use of Qualitative Methods

Any kind of conclusion from a project with this amount of data, and the multiple cultural, denominational, socio-economic, or linguistic factors involved shall keep a prudent and limited nature. Intercultural communication by definition is complex and each new exchange experience between ecumenical partners reveals new aspects and features of religious and cultural identities, apart from individual and communitarian communicational patterns. Nevertheless, the careful study of the material by the qualitative analysis of semantic units, its codification, the study and comparison of semantic code systems, and the use of Grounded Theory, allows identifying in an empirical manner different correlations of factors (i. e. text approaching styles, denominational affiliation, exchange dynamics, the status of the biblical text, motivation for ecumenical parttaking, openness to alien insights, etc.) involved in intercultural/ecumenical conversations. Those correlations of factors and systems of meaning offer us insight into the hermeneutic and appropriation approaches of the groups. In the first place, they allow us to depict a hermeneutical portrait of them, regarding their reading styles, what they look for when reading the Bible, the alleged character of the text they have in front of them, or the action-potentiality this practice embraces. Second, the model makes it possible to relate specific denominational or cultural belongings with distinct Bible reading styles, mapping a part of the vast interpretative richness of global Christianity. Third, because data includes videos of each stage of the exchange process, its analysis will not only focus on the discursive content of the dialogues, rather it will also concentrate on the role of inner and inter-group dynamics in biblical communitarian interpretation and ecumenical exchanges. Fourth, the novel virtual format of the exchanges will facilitate for the first time to examine the verbal and non-verbal communicative contents involved in ecumenical communication concerning the quality of dialogue they promote. Finally, the model allows us to weigh the preponderance of specific factors during different exchanges, considering the kind of conversation they facilitate. This will make it possible to determine the conditions or factors associated with successful or erratic intercultural ecumenical exchanges by their presence or absence when change or adaptation of the own biblical interpretation occurs, or when the appropriation of foreign interpretative insights takes place, apart from those cases when the group is able to influence the biblical interpretation of others. This exercise has clear theoretical repercussions in the field of ecumenical/intercultural hermeneutics. On the one hand, it allows the researcher to sci-

Intercultural Empirical Hermeneutics

147

entifically test, complement, or even call in question current theories on intercultural and ecumenical communication. On the other hand, the implementation of this kind of qualitative study in the theological field favors the integration of theories and concepts from academic approaches such as Intercultural Theology, Ecumenical Studies, or Theological Intercultural Hermeneutics in the analysis of real cases of ecumenical exchange.

Literature Bryman, Alan, Social Research Methods, Oxford 2012 de Wit, Hans, Through the Eyes of Another. Objectives and Backgrounds, in: Hans de Wit et al. (ed.), Through the Eyes of Another. Intercultural Reading of the Bible, Intercultural Biblical Hermeneutics Series 1, Elkhart 2004, 3–53. de Wit, Hans, “My God,” she said, “ships make me so crazy.” Reflections on Empirical Hermeneutics, Interculturality, and Holy Scripture, Elkhart 2008. de Wit, Hans, Hermeneútica Empírica. Ver a través de los ojos del otro, in: José Luis Mesa (ed.), El Arte de Interpretar en Teología. Compendio de hermeneútica teológica, Colección Teología Hoy 78, Bogotá, 2017, 299–344. de Wit, Hans/López, Edgar A. (ed.), The Widow and the Judge. Memory, Resistance and Hope. Intercultural Reading of Luke 18.1–8 in Latin American Contexts of Impunity, Intercultural Biblical Hermeneutics Series, Elkhart 2020. Morgan, David, Planning Focus Groups, London 1997 Nii Bortey Anum, Eric/ Quaye, Ebenezer, Intercultural Reading of John 10:1–21. The Shepherd-Sheep Metaphor as a Leadership-Followership Model, Intercultural Biblical Hermeneutics Series 4, Elkhart 2016. de Sousa Santos, Bonaventura, Epistemologies of the South. Justice Against Epistemicide, London/New York 2016. van der Walt, Charlene, Toward a Communal Reading of 2 Samuel 13. Ideology and Power within the Intercultural Bible Reading Process, Intercultural Biblical Hermeneutics Series 2, Elkhart 2014.

Der Text und seine / keine Grenzen? Zur Deutungshoheit des interkulturellen Lesens am Beispiel der Rezeption und Deutung des Jonabuches in Asien Andreas Kunz-Lübcke

1.

Ein vergessener Kontinent und seine überhörten Stimmen1

Bekanntlich stellt eine methodologisch begründete und basierte Untersuchung der Intention und Intentionalität von narrativen Texten keinen eigentlichen Schwerpunkt im Methodenspektrum der biblischen Wissenschaft dar. Vielmehr wird die Analyse darauf konzentriert, in welchen Entwicklungsstufen und in welchen historischen Settings die betreffenden Texte verortet werden können. Das ist aus zwei einfachen Gründen mehr als erstaunlich. Erstens haben die Textlinguistik, insbesondere die Narratologie gezeigt, dass die Konstruktion von Bedeutung durch die Lesenden ein komplexer Prozess ist, in dessen Verlauf offene Stellen im narrativen Konstrukt zu füllen sind und zweitens so etwas wie die Bedeutung und Aussage des Textes zu generieren ist. Es gibt natürlich einige wegweisende Arbeiten innerhalb der Bibelwissenschaften, allerdings muss diese Gangart als unterrepräsentiert und exotisch bezeichnet werden.2 Ein weiteres Problem stellt sich mit Blick auf die Deutung der biblischen Texte umso deutlicher. Schließlich liegen zwischen den Autor*innen und der Leserschaft gut und gerne zwei bis zweieinhalb Jahrtausende. Allein diese simple Tatsache nötigt die Frage auf, ob der Suche nach Intention und Intentionalität biblischer Texte nicht eine ungemein große Bedeutung zukommen müsste. Erfreulicherweise hat sich die Bibelwissenschaft in jüngster Zeit einem Phänomen

1 2

Der Vortragsstil wird in dieser Veröffentlichung beibehalten. Im Blick auf das in diesem Beitrag als Beispiel dienende Jonabuch ist auf die einschlägige Studie von Rüdiger Lux, Jona. Prophet zwischen „Verweigerung“ und „Gehorsam“. Eine erzählanalytische Studie, FRLANT 162, Göttingen 1994, zu verweisen.

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Andreas Kunz-Lübcke

zugewandt, das für die Ergründung der Aussage und Deutemöglichkeiten biblischer Texte eine enorme Rolle spielt. Die Rede ist hierbei von der Entdeckung der Rezeptionsgeschichte biblischer Texte, die längst ihre Rolle als Orchidee innerhalb des Fachgebiets abgelegt hat. Schlägt man allerdings einmal im Standardwerk bzw. in den einzelnen Studien nach, wird man zwar mit einer Vielfalt von Deutungen und Lesarten zwischen byzantinischen Wandmalereien und ausgemachten Fehldeutungen der Texte in den Traumfabriken Hollywoods überrascht und gleichermaßen bereichert, ein Aspekt der modernen Wahrnehmung fehlt jedoch meist völlig.3 Es handelt sich dabei um die Wahrnehmung und Deutung der Texte in den nichtwestlichen Theologien und Kirchen. Um ein Beispiel zu geben: Die Geschichte von David und Bathseba ist in einer unglaublichen Vielfalt und zum Teil sehr widersprüchlich gedeutet worden. Nicht zur Kenntnis genommen wird, welchen Deutungen der Text z. B. in der spezifischen indischen Perspektive und mithin im Kontext alltäglicher sexueller Gewalt und Diskriminierung hat. Hier wäre etwa Monica Jyotsna Melanchthon zu nennen, die eine spezifische Hermeneutik zur Übersetzbarkeit biblischer Texte in die Horizonte sexualisierter Gewalt in Indien entwickelt hat.4 Die 3

4

Um ein Beispiel zu geben: Die mittlerweile zum Standardwerk avancierte Encyclopedia of the Bible and Its Reception bietet für das Jonabuch, dessen Rezeption in Asien im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen soll, eine ganze Reihe luzider Beiträge über die Wahrnehmung des Büchleins im frühen Christentum, Judentum, Islam, der Literatur, der darstellenden Kunst, der Musik und im Film, auf dessen Deutungen in den Theologien des globalen Südens wird nicht einmal ansatzweise Bezug genommen. Vgl. Jyotsna Monica Melanchthon, Bathsheba Reconsidered. Sexual Violation and After; in: Renate Jost/Klaus Raschzok (Hg.), Gender – Religion – Kultur. Biblische, interreligiöse und ethische Aspekte, Stuttgart 2011, 77-100, hier: 77ff. Melanchthons Methode besteht darin, narrative Diskurse zum Thema sexueller Gewalt in Indien mit den einschlägigen biblischen Texten, die sich dem Thema ebenfalls widmen, miteinander in Beziehung zu setzen. Hierbei verweist sie auf die Romanfigur Baghirati, die vergewaltigt und anschließend sowohl von ihrem Mann als auch von der Dorfgemeinschaft geächtet wird. Als Überlebensstrategie beschließt sie, sich ein Bleiberecht im Haus ihres Vergewaltigers zu erzwingen. Hierin sieht Melanchthon Parallelen zur biblischen Gestalt der Bathseba, die nach dem (erzwungenen) Sexualverkehr mit David für sich den dauerhaften Zugang zum Palast einfordert. Einen allgemeinen Überblick über die Charakteristika der indischen Auslegungstraditionen der Bibel bietet Antony J. Baptist, Biblische Interpretationen in Indien aus subalterner Perspektive, in: Concilium 58 (2022), 82–91, hier: 82ff.; vgl. auch Monica Jyotsna Melanchthon, „Reading Rizpah across Borders, Cultures, Belongings … all the way to India“ in Elaine Wainwright u. a. (Hg.), Bible, Borders, Belongings. Engaging Readings from Oceania, Semeia Studies, Atlanta 2014, 171-190. Melanchthon hebt sich dabei etwas vom Mainstream der indischen biblischen Hermeneutik ab. Dieser konzentriert sich insbesondere darauf, die Auslegung der Texte der Bibel mit den Traditionen des Umgangs mit sakralen Texten des Hinduismus zu verbinden. Zu nennen ist auch eine Denktradition in der indischen Theologie, die sich bei der Auslegung biblischer Texte auf die Lese- und Deutetraditionen religiöser Hindutexte beruft: „A ‘religious reading‘ will apply the traditional methods of Indian exegesis to the biblical text and transpose its

Der Text und seine / keine Grenzen?

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Hauptlinie der indischen biblischen Hermeneutik liegt allerdings in der Rezeption und Auslegung der Texte im Kontext der Dalit-Theologie. Hierbei besteht die Methode in erster Linie darin, marginalisierte, unterdrückte und ausgebeutete biblische Gestalten in den Fokus zu nehmen und sich mit ihnen in der Perspektive der Dalit und Adivasi zu identifizieren.5 Als wahre Fund- und Schatzgrube für die Wahrnehmung und Rezeption asiatischer Sichtweisen auf die biblischen Texte und die Entwicklung entsprechender Hermeneutiken haben sich die regelmäßigen Tagungen der Asian Society of Biblical Literature erwiesen. Dabei stellt sich dem westlichen Zuhörer häufig die Frage, ob manche Deutungen sich nicht doch jenseits der Grenzen der dem Text zumutbaren Deutungen bewegen. So stellt sich eine Deutung, die hier anonym bleiben soll, nach der die Gestalt der Naomi in Ruth die Züge einer Zuhälterin tragen soll, doch als befremdlich dar. Allerdings wird dieser Eindruck abgemildert, wenn dabei der Kontext Koreas und seine Geschichte den Hintergrund für diese Deutung liefert. An dieser Stelle soll das Buch Jona dazu dienen, erstens die Spannbreite möglicher Deutungen aufzuzeigen, Deutungen, die insbesondere in verschiedenen asiatischen Kontexten entstanden sind. Dabei möchte ich mich auf den Schluss des Buches, also auf Jonas finales Schweigen und die Deutungen desselben konzentrieren. Weiter wird der Frage nachgegangen, welche Instrumentarien überhaupt zu den Grenzsetzungen gegenüber den Deutefreiheiten existieren.

5

Greek and Hebrew symbols into Indian ones—without (hopefully) destroying the social concern which is so essential a part of the Bible’s message.“; Soares Prabhu, Towards an Indian Interpretation of the Bible, in: ders., Biblical Themes for a Contextual Theology Today, Pune 1999, 216. Auf Gemeinsamkeiten zwischen ntl. Texten und der aus dem 11. Jh. stammenden literarischen Tradition der Vachana verweist Dexter S. Maben, Neighborhood. An Interfaith Hermeneutical Space, in: Andreas Kunz-Lübcke (Hg.), My Neighbour's God. Interfaith Spaces and Claims of Religious Identity, IC – Studies in the Intercultural History of Christianity, Frankfurt/M. u. .a. 2019, 41-55. Vgl. etwa folgende Beispiele: Anderson Jeremiah, Reclaiming ‚Her‘ Right. Rereading the Story of Tamar (Genesis 38:1-27) from Dalit Women Perspective, BTF 38 (2006), 145-156 (Tamar in Gen 38); Jeeva Kumar Ravela, „The Lord Forbid that I should give you my Land“. Land Rights in 1 Kings 21 and its Implications to the Land Rights of Dalits, BTF 43 (2011), 121-147 (Naboth in 1 Kings 21); Arisapogu Sam Thomas, Reinterpreting the Narrative of the Concubine in Judges 19 for Dalit Women's Liberation. Towards their Empowerment and Implications for the Engagement of the Church, BTF 52 (2020), 177-195; K. Jesurathnam, Dalit Subaltern Hermeneutics in conversation with Reader Response Method: 1 Kings 22, A Case point,BTF 48 (2016), 40-60; S. John., The Lamenting God. A Postcolonial Juxtaposition of Lament in the Book of Lamentation and Selected Dalit Literature, BTF 49 (2017), 133-153.

152

2.

Andreas Kunz-Lübcke

Jona am Ende

Bekanntlich endet das Buch Jona mit einem Disput zwischen JHWH und seinem Propheten, der sich angesichts der ausgebliebenen und von ihm ja schließlich angekündigten Zerstörung der Stadt Ninive ungehalten zeigt. Auf JHWHs Frage hin, ob er, Jona, der das Absterben einer Pflanze bedauert habe, nicht Verständnis für die Verschonung der Stadt aufbringen könne, reagiert dieser bekanntermaßen nicht. JHWH sprach zu Jona: „Ist es gut für dich zu zürnen wegen des Strauchs?“ Er (Jona) sprach: „Gut ist es für mich zu zürnen bis zum Tod.“ JHWH sprach: „Du hast dich nicht gesorgt um den Strauch, für den du dich nicht gemüht hast, du hast ihn nicht aufgezogen, der in einer Nacht wurde und in einer Nacht verging? Und Ich, sollte Ich mich nicht sorgen um Nineveh, der großen Stadt, mit (ihren) 120.000 Menschen, die nicht wissen (zu unterscheiden) zwischen rechts und links, und dazu noch viele Tiere?“ (Jon 4,11f.)

Seitens der „westlichen“ Ausleger*innen ist Jonas fehlende Antwort auf diese polemische Frage Gottes/JHWHs meist als zustimmendes, als beredtes Schweigen gedeutet worden. Der vormals rebellische Prophet ist nun eines Besseren belehrt und hüllt sich in sein zustimmendes Schweigen. Eine Deutung wie diese dürfte in den theologischen Kontexten Indiens auf wenig Gegenliebe stoßen. In erster Linie einflussreich sind hier die Arbeiten von Rasiah S. Sugirtharajah zu nennen, der die Gesamtheit der Rezeption der biblischen Literaturen in den Kontext der postkolonialen Seins- und Deutungsweisen gestellt hat. 6 Wenn also das koloniale Trauma sich auf die postkolonialen Deutehorizonte niederschlägt, so ist naheliegend, dass einzelne Ausleger*innen die Chiffren Nineveh und Berchtesgaden/Berlin (und im folgenden Beispiel sicher auch Tokio) synchronisieren.7 6 7

Rasiah S. Sugirtharajah, The Bible in Asia. From the Pre-Christian Era to the Postcolonial Age, Cambridge/London 2013. Impliziert ist dabei der Gedanke, Gott/JHWH habe von Anfang an gar nicht vorgehabt, die Stadt Ninive zu vernichten. Auch wenn diese Möglichkeit der Deutung von den Ausleger*innen kaum in Betracht gezogen wurde, hat zumindest die mittelalterliche jüdische Deutung diesen Gedanken erwogen. So greift der (im modernen Kontext relativ unbekannte) Gelehrte Eliezer of Beaugency den Gedanken aus Jona 4,2 auf, der Protagonist des Buches sei von Anfang an davon ausgegangen, dass Gott/JHWH die Stadt nicht zerstören werde. „For I know that You are (a compassionate and gracious God, slow to anger, abounding in kindness, renouncing punishment) and so would not destroy such a great city. It would then result that I would have exerted myself, broken my body and suffered so on the way, (losing) my strength for nothing. For Jonah thought that God had renounced the punishment without their having repented.“; Rabbi Eliezer of Beaugency zu Jon 4,2, Übersetzung Robert A. Harris, Rabbi Eliezer of Beaugency Commentaries on Amos and Jonah (with selections from Isaiah and Ezekiel). Introduction, Translation, and Commentary, TEAMS Commentary Series, Kalamazoo 2019, 75. Bemerkenswerterweise sieht Eliezer diese Behauptung Jonas in der finalen Frage Gottes/JHWHs am Schluss des Buches

Der Text und seine / keine Grenzen?

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Chesung Justin Ryu hat als koreanischer Ausleger der HB genau diese Zusammenschau gewagt: All these questions would have been boiling in the heart of Jonah and a colonized audience of Jonah, but they cannot say a word because Jonah is trapped in the rhetoric of the strong and his anger is now connected exclusively to the plant—Jonah confirmed as much to God in his impetuous angry mood because he had urgent needs! The only thing he could do was to remain silent. This silence has long been interpreted by established Christian scholars as obedience or agreement to God's universal love for all. However, colonized audience would have understood what the silence of Jonah meant because they were with Jonah there, in silence. Some weak, oppressed, and colonized people will continue to explore their own locations of silence or resistance in the silence of Jonah.8

Nach dieser Sichtweise scheint nicht nur das Buch Jona eine Leserschaft zu intendieren, sondern hier ist eine Situation in den Blick genommen, nach der sich die Gesamtheit der biblischen Texte an eine colonised audience richtet.9 Für diese Sichtweise hat natürlich der Altmeister der postkolonialen biblischen Hermeneutik, R. S. Sugirtharajah, grundlegende Gedanken und Sichtweisen geäußert: Postcolonial biblical criticism has several textual functions. First, it pays attention to the presence of the empires of the biblical world. The ancient Israelites were under the control of the Egyptian empire. The Judean scribes, priests, and prophets who shaped the Pentateuch and prophetic books of the Hebrew scriptures were confronted with Persian and Assyrian empires. 10

8 9

10

bestätigt: Die rhetorische Frage versteht Eliezer so: „And on their behalf, I would have pardoned the entire place, even if they hadn't repented, according to your (i.e., Jonah's) words. However, on account of (their) repentance, I had compassion on them. And here, (God) told him of their repentance.“; Rabbi Eliezer of Beaugency zu Jon 4,2; Übersetzung Harris, Rabbi Eliezer, 77. Die Deutung, dass es gar nicht das Vorhaben JHWHs/Gottes gewesen sei, die Stadt zu vernichten, geht möglicherweise auf eine ältere jüdische Tradition zurück. Josephus, Ant. 9,10, kolportiert Jonas Gerichtswort an die Bewohner Ninives dahingehend, dass er der Stadt nur den Verlust ihrer Herrschaft über Asien angedroht habe. Von ihrer Vernichtung habe Jona, nach der Darstellung bei Josephus, gar nicht gesprochen. Zudem hat Lena-Sofia Tiemeyer, Jonah Through the Centuries, Wiley Blackwell Bible Commentary Series, Newark 2021, 200, darauf verwiesen, dass Josephus in seiner Darstellung der Geschichte an der Umkehr der Stadt kein Interesse gezeigt habe: „Josephus is thus remarkably uninterested in the outcome of Jonah's preaching to Nineveh. For all the reader of his account can figure, Nineveh was destroyed (…). It is possible that this end seeks to align Josephus's account with the fate of Nineveh known from history: the city was destroyed in 612 BCE.“; Tiemeyer, Jonah, 200. Chesung Justin Ryu, Silence as Resistance. A Postcolonial Reading of the Silence of Jonah in Jonah 4.1-11, in: JSOT 34 (2009), 195-218, hier: 218. An anderer Stelle hat Chesung Justin Ryu, Devine Rhetoric and Prophetic Silence in the Book of Jonah, in: Danna Nolan Fenwell (Hg.), The Oxford Handbook of Biblical Narrative, Oxford 2016, 226–235, hier: 234, Jonas Schweigen so gedeutet: „Jonah's silence is not obedience but is the only act of resistance that Jonah can display against this satirical authority. The book of Jonah, then, functions not to critique Jonah's exclusive attitude, but to critheology that elevates divine control over divine justice.“ Vgl. Sugirtharajah, Bible in Asia, 211f.

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Andreas Kunz-Lübcke

Der zweite Aspekt richtet sich an die Zunft der Ausleger*innen selbst, wobei die Anleihen an Edward Saids Konzept des Orientalismus deutlich genug sind. Diese haben sich kritisch zu fragen, ob sie mit ihrer Rekonstruktion der historischen Ereignisse und Gegebenheiten nicht unwillentlich in die Orientalismus-Falle getappt sind: „Do they unwittingly reorientalize the Orient?“11 Drittens ist zu fragen und aufzudecken, inwieweit in der Geschichte der Auslegung der biblischen Texte selbst Deutungen geliefert worden sind, die als Legitimation und Rechtfertigung von Unterdrückung, Ausbeutung und Kolonialisierung herhalten mussten. Weiter muss in einem vierten Schritt den biblischen Figuren eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, die selbst als Figuren des Widerstands gegen koloniale Ausbeutung gesehen werden können.12 Unverkennbar besteht hier in einer „westernised perspective“ das grundlegende Problem, dass die einzelnen Epochen der literarischen Genese der Biblischen Literaturen allesamt unter das Stichwort „colonised“ subsumiertet werden müssen. Dieser Einwand ist nicht polemisch zu verstehen. Schließlich hat der postkoloniale Diskurs sich auch im deutschsprachigen Kontext auf Debatten ausgewirkt, die auf die Verhältnisbestimmung zwischen der biblischen Literatur und dem Imperium abzielen.13 Zu verweisen ist etwa auf die intensiv geführte Diskussion zwischen Stefan Alkier und Manuel Vogel, ob das NT oder einzelne Teile dessen nun als Widerstand und Abgrenzung zum Römischen Imperium gelesen werden wollen oder ob diese Deutung eben doch nicht zutreffend sei.14

11 12 13

14

A. a. O. 212. A. a. O. 211f. Allerdings ist der postkoloniale Widerhall einzelner biblischer Texte deutlicher aus den westlichen, allerdings den nicht-europäischen Theologien zu vernehmen. So haben etwa Elisabeth Boase und Sarah Agnew, zwei jüngere australische Theologinnen eine antiimperiale Deutung des finalen Schweigens Jonas vertreten. Angesichts der negativen Erfahrungen der Leserschaft des Buches mit dem gewaltsamen Agieren der Großmächte und der ausgebliebenen Hilfe Gottes können Leser*in gar nicht anders, als zustimmend in das protestierende Schweigen Jonas einzustimmen. „The trauma of the community whispers in the sounds of the silences of Jonah and his story. Their old friend, darkness, comes to talk with them again, with a vision softly creeping through narrative reticence, planting seeds through the telling and the listening. The vision that remains after the story of Jonah is told, a story whose silence cannot be filled with words or answers, is a vision unspeakable, a trauma unnameable, except with the profound sound of silence.“; Elizabeth Boase/Sarah Agnew, „Whispered in the Sound of Silence“. Traumatising the Book of Jonah, in: The Bible & Critical Theory 12 (2016), 4-22 hier: 20. (https://www.bibleandcriticaltheory.com/issues/vol12-no1-2016/vol-12-no-1-2016-whispered-in-the-sound-of-silence-traumatising-the-book-of-jonah/)(2.5.2022). So spricht Manuel Vogel, Das letzte Buch der Bibel als Auftakt. Zur Stellung der Johannesoffenbarung in der Geschichte des frühen Christentums, in: ZNT 42 (2018), 75-90, hier: 75, der Johannesoffenbarung eine „gegenkulturelle Wucht“ zu, die sich gegen die Unterdrückungsmechanismen des Römischen Imperiums richte. Dabei rufe das Buch allerdings

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Sugirtharajah fungiert natürlich als Gewährsmann dafür, dass Ryu das finale Schweigen Jonas als einen „act of resistance“15 deutet. From the experience of my own Korean people, who, like the Israelites, have suffered under powerful nations and have experienced colonization, I cannot easily take part in condemning Jonah's anger; nor can I easily praise God's universal love. As long as the oppression or colonization and its painful memories are ongoing, how can the oppressed hide their anger in learning that their oppressors and colonizers are saved by their God – the God of the oppressed? As the oppressed community for whom God's special favor and chosenness functions as the main strength of their survival, how can the Israelites understand that their God shows this same favor to their destroyers and oppressors?16

Natürlich hat sich gegen diese radikale Sichtweise Widerstand geregt. Gelegentlich wird gegen sämtliche postkoloniale Diskurse die missionarische Keule geschwungen. So hat etwa Rosa Ching Shao, eine chinesisch-philippinische Psychologin und Theologin argumentiert, dass die Philippinen ja den christlichen Glauben den spanischen Kolonisator*innen, oder besser den Kolonist*innen verdanken. Ryus Hinweis auf die koreanischen Leiden unter der japanischen Terrorherrschaft tauge als hermeneutisches Prinzip nicht für philippinische Wirklichkeiten. Jonas Schweigen könne nur so verstanden werden, dass er nunmehr diszipliniert – das Wort ist positiv gemeint, vor seinem Gott steht und besser schweigt: The abruptness of the book's closing is intentional, closing highlighting Jonah's disciplined silence! It is a forceful conclusion, pointing to the now humbled Jonah, who no longer fights or finds faults with God's ways. No longer does he voice his anger against the universality of God's grace. Will you, the reader, agree with an audible „Amen!“?17

Rosa Ching Shao greift dabei ein Thema auf, dass Ryu für sein Argument benutzt hat und das sie nunmehr in sein Gegenteil verkehrt. Ryu hatte argumentiert, dass sich die Situation Jonas, der in die Hauptstadt und das Zentrum des Bösen geschickt wird, durchaus mit dem Schicksal eines jüdischen Menschen ver-

15 16 17

gerade nicht zum Widerstand gegen das Imperium auf, vielmehr stimme es seine Adressaten und Adressatinnen darauf ein, dass sie gerade wegen ihrer untadeligen Lebensführung in den Blick der Staatsmacht geraten werden und aus diesem Grund Verfolgung und Benachteiligung ausgesetzt sein könnten; vgl. Vogel, Das letzte Buch der Bibel, 87-89. Demgegenüber hat Stefan Alkier, Die große Stadt. Warum die Johannesapokalypse nicht als „Kampfschrift gegen Rom“ erschlossen werden kann, in: ZNT 42 (2018), 91-107, hier: 102-104, argumentiert, dass sich Offb gar nicht dezidiert gegen Rom, weder als Stadt noch als Weltmacht, richte, vielmehr seien mit den im Buch genannten Orten die „Orte menschlicher Machtkonzentration, die mit ihrer ungerechten und unbarmherzigen Herrschaft über andere Städte und Königreiche nicht den Werten Gottes und seiner Schöpfung entsprechen“; Alkier, Die große Stadt, 104. Ryu, Silence as Resistance, 218. A. a. O., 198. Rosa Ching Shao, Jonah. A Pastoral and Contextual Commentary, Asia Bible Commentary Series, Carlisle 2019, 81.

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gleichbar sei, der dem Konzentrationslager in Auschwitz habe entfliehen können und der nun als Gerichtsprophet in das Herz des Bösen nach Berchtesgaden entsandt wird.18 An diesem Punkt sind zwei Beobachtungen festzuhalten. Die häufig etwas zugespitzt wirkenden Positionen in der postkolonialen Auslegung der Bibel entstehen nicht in irgendwelchen Elfenbeintürmen im globalen Süden. Häufig gehen diese auf radikale Ideen zurück, die von westlichen Denkern geäußert worden sind und die dann im globalen Süden noch einmal zugespitzt werden. Dies ist etwa der Fall bei der Eins- und Einsetzung der Stadt Nineveh mit dem Zentrum von Nazideutschland. Diese geht zurück auf eine Auslegung des Jonabuches durch zwei französische Autoren, die das Buch in psychologischer und exegetischer Sichtweise unter die Lupe genommen haben.19 Hinzukommt, dass die Vertreterinnen und Vertreter der postkolonialen Auslegung der Bibel in den allermeisten Fällen den Sprung auf Lehrstühle im westlichen Kontext geschafft haben und ihre Sichtweisen somit in einer Art Retrospektive zum Ausdruck bringen. Eine weitere Frage ist nur schwer zu beantworten. Welche Popularität genießen die postkolonialen Diskurse in der Bibelauslegung im globalen Süden überhaupt? Zunächst muss sich der westliche Besucher von theologischen Institutionen nicht lange umschauen, er wird bei Gesprächen Tagungen und anderen Formen des Austausches recht bald auf entsprechende Stimmen und Sichtweisen stoßen. So wäre es geradezu ein Unding, etwa bei einem Besuch an einer renommierten theologischen Einrichtung in Bangalore in Indien zu fragen, wer dieser Rasiah S. Sugirtharajah eigentlich sei. Im Umkehrschluss ist es allerdings auch so, dass der Name im deutschsprachigen Kontext der Bibelwissenschaft nahezu unbekannt ist. Allerdings führt diese Vermutung ein wenig in die Irre. Offensichtlich ist es so, dass die postkoloniale Auslegung der Bibel insbesondere dort bekannt und populär ist, wo sie von im Westen akademisch ausgebildeten Theolginnen und Theologen gelehrt wird. Kehren wir zum Buch Jona zurück. Es ist naheliegend, dass die postkolonialen Diskurse und Auslegungen wiederum Reaktionen hervorgerufen haben, die sich durchaus als konservativer Rückschlag des Pendels verstehen lassen. So lässt etwa ein südindischer Alttestamentler kein gutes Haar am Propheten Jona, der schweigend vor seinem argumentierenden Gott ausharrt. This is disobedience at its highest. A disobedient person is bent of defeating God in every move on the part of God to save him somehow. And he ends up suffering eternal defeat. He walks away from the presence of God exhausted and dismayed, yet with the firm and wicked determination never to submit to him.20

18 19 20

Vgl. Ryu, Silence as Resistance, 214. Andre Lacoque/Pierre Emmanuel Lacoque, The Jonah Complex, Atlanta 1981. John Kurichianil, Jonah. A Disobedient Prophet, in: ITS 52 (2015), 163-176.

Der Text und seine / keine Grenzen?

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Es handelt sich hierbei um eine Deutung, die vollkommen überkreuz liegt mit den allermeisten Deutungen des Jonabuches und seines Endes, sei diese nun eben postkolonial oder eben „klassisch“. Auch wenn das Stichwort postkolonial in diesem Aufsatz nicht fällt, kann hier von einer konservativen Abkehr von einer Denkrichtung gesprochen werden, die im Buch Jona eine wie auch immer geartete politische Dimension zur Sprache bringt.21

3.

Jona auf dem Ozean der Deutungen

Im Folgenden möchte ich mich einem Gelehrten zuwenden, der der Auslegung des Buches Jona sein Hauptwerk gewidmet hat. Es handelt sich dabei um Jione Havea, der in Tonga aufgewachsen ist und seit geraumer Zeit in Australien HB lehrt. Das bemerkenswerte an seiner Herangehensweise an die biblischen Texte ist, dass dies nicht unter der Flagge einer Theologie der Befreiung geschieht, sondern er dafür den Begriff des ozeanischen Lesens (oceanic reading) geprägt hat.22 Es handelt sich dabei um eine Lesart, die bewusst in Konfrontation zu den westlichen Sichtweisen auf die Bibel geht.23 Dabei ist vorausgesetzt, dass die ozeanische oder auch pazifische Sichtweise generell eine andere sein muss als die 21

22

23

Nicht ungenannt bleiben darf eine Deutung der Jonafigur in einem Klassiker der Weltliteratur. Es handelt sich dabei um Herman Melvilles Moby Dick. Der Plot selbst bietet einige direkte Verweise auf einzelne biblische Gestalten, unter ihnen auch auf den Propheten Jona selbst. Der einzig wirkliche negative Charakter wird durch die unerbittliche und rachsüchtige Gestalt des Kapitäns Ahab repräsentiert. Bemerkenswert ist, wie Sprang in seiner Analyse der Figuren gezeigt hat, dass die Gestalt des Jona von mehreren Besatzungsmitgliedern, einschließlich des Protagonisten Ismael, repräsentiert werden, wobei diesen allesamt ein positiver Charakter zugeschrieben wird; vgl. Felix C. H. Sprang, ‚Herman Melvilles Moby Dick als Jonah-Geschichte‘, in: Johann Anselm Steiger/Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Ulrich Heinen (Hg.), Der problematische Prophet: Die biblische Jona-Figur in Exegese, Theologie, Literatur und bildender Kunst, AKB 118, Berlin/Boston 2011, 453–457. Vgl. auch die Übernahme des Konzepts des ozeanischen Lesens durch Vakau‘ta, Nāsili, A Tongan Island Reading of Jonah as Oriented Towards the Ocean, in: Mark Roncace/Joseph Weaver (Hg.), Global Perspectives on the Bible, Boston u. a. 2014, 128-129. Ein weiterer Terminus, den Havea in diesem Zusammenhang gebraucht, ist die Bezeichnung seiner Methode als „Islander Criticism“; Jione Havea, Islander Criticism. Waters, Ways, Worries, in: Jione Havea (Hg.), Sea of Readings. The Bible in the South Pacific, Semeia Studies 90, Atlanta 2018, 1-20. Damit stellt er sich in den Kontext der kontextuellen Auslegungstraditionen, ohne dabei allerdings übermäßige Aufmerksamkeit zu genießen: „Islander criticism, however, has not held the attention of other context-sensitive colleagues“; Havea, Islander Criticism, 1. Seine ozeanische bzw. pazifische Sichtweise begründet er damit, dass die Abgeschiedenheit eines „Islanders“ auch eine gewisse Freiheit vom akademischen Mainstream bedeute:

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herkömmliche westliche. Dafür sprechen allein schon die Lebensumstände und die besondere Angewiesenheit auf den Ozean als Lebensspender, Kulturspender, Spender von Spiritualität und Spender von menschlicher Kommunikation. Zudem nötigt die Sichtweise dazu, die westliche Präsenz, insbesondere die militärische, wie eben auch die andauernde Okkupation und Unterdrückung einzelner Gebiete, wobei hier insbesondere die Situation in Westpapua angeführt wird, zu benennen. Looking ahead, how might readers from Oceania refresh the Bible? My question is loaded and unapologetic for I am charging that the Bible is going stale in Oceania, that the freshness of the Bible depends on readers, and that some of us in Oceania, for better and for worse, dare to keep the Bible fresh and/or ignore the staleness of the Bible. Since there is a connection between the Bible and its interpretations, the freshness (or lack thereof) of one is bound to the freshness of the other. A popular joke between islanders indicates that readings are going stale: we poke local preachers who pull sermons (based on biblical texts) from ‘the fridge’ (something already delivered or, more recently, downloaded from the internet) but do not warm (i.e., freshen and locate) those up before they mount the pulpit.24

In den Texten Haveas klingt durchaus die Kritik an, dass nicht etwa Jona es ist, der uneinsichtig und widerspenstig bleibt, vielmehr ist es Gott, der diesen ruppig behandelt und auf diese Art und Weise diszipliniert. An anderer Stelle vergleicht Havea die Binnenperspektive Jonas mit der Hiobs. Von Hiob könnte Jona lernen, dass seine Forderung an Gott/JHWH, nicht immer nur gut und gütig zu sein, problematisch ist: Both Job and Jonah attributed their sufferings and struggles to something that God has done, including not doing something that they expected of God—God is the enemy in both of their eyes. Job would have given Jonah a heads up, seeing that Job lamented that God prevents those who ’are glad to reach the grave’ (Job 3:21–22). Insofar as Job sympathized with ’those who wait for death but it does not come,’ Job would have become Jonah’s number one supporter. Notwithstanding, Jonah would learn at Job’s heap to expect both good and evil from God. In this regard, Job would have straightened Jonah out, telling him to stop raving about God being only good.25

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25

„As someone from Oceania (Pacific Islands, South Seas), the part of the Asia-Pacific region that theorists prefer to fly over and that is ‘absent‘ from the interest of mainline and mainland scholarship (…), I am intentional about affirming and privileging marginalized cultures and ethnic groups in the world and in biblical texts. I am interested in other cultures also because reading is a crosscultural practice.“; Jione Havea, Casting Jonah across Seas and Tongues. A Transnationalizing Reading, in: J. Kwabena Asamoah-Gyadu u. a. (Hg.), Babel is Everywhere! Migrant Readings from Africa, Europe, and Asia, IC – Studies in the Intercultural History of Christianity, Frankfurt/M. et al. 2013, 25-36, 28. Jione Havea, Engaging Scriptures from Oceania, in: Jione Havea u. a. (Hg.), Bible, Borders, Belonging(s). Engaging Readings from Oceania, Society of Biblical Studies, Semeia Studies 75, Atlanta 2014, 1-19, hier: 4. Jione Havea, Sitting Jonah with Job. Resailing Intertextuality, in: The Bible & Critical Theory 12 (2016); 94–108: 102f. Abrufbar unter: https://www.bibleandcriticaltheory.com/issues/vol12-no1-2016/ (Zugriffsdatum am 21.04.2022).

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Wie ist also umzugehen mit einem Gott, der das Individuum eben nicht in seiner spirituellen Komfortzone belässt?26 Mit Blick auf das Jonabuch ist gesagt worden, dass es die See, der Ozean ist, der den Menschen Freiräume und Spielräume gegenüber Gott erlaubt. So hat etwa ein Schüler Haveas ausmachen wollen, dass der Gott, der auf der See begegnet, toleranter und freizügiger ist als der Gott, als der er auf dem trockenen Land erscheint. Das zeigt sich insbesondere darin, dass Gott den Seeleuten auf dem Schiff ihre religiöse Freiheit und Unabhängigkeit belasse, auf dem Festland fordere er aber Umkehr und bedingungslose Unterwerfung ein. “..the ocean serves as a space of freedom. If freedom means having the opportunity to make decision for oneself, the ocean offers Jonah that opportunity. Instead of praying for help, he opts to sleep. Why would one ask for help from a deity who comes after him with terrifying force and aggression? Jonah’s decision brings out two different perceptions of the divine. To the captain and sailors of the ship, the divine is a source of help, whereas in Jonah’s case the divine is controlling, demanding, and requires conformity and unreserved respect for his sovereignty.27

Der Ozean hat es also in sich. Nicht nur, dass er offensichtlich eine differenzierte Betrachtung der Eigenschaften Gottes und eine Intensivierung der Spiritualität der Akteure in den biblischen Texten mit sich bringt, ein Effekt, der sicher auch auf zeitgenössische Menschen appliziert werden könnte, der Ozean selbst wird einer Theologiesierung und Theofizierung unterzogen. Das zeigt sich insbesondere am Gebrauch des Wortes moana, das tonganische Wort für Ozean, aus dem das Kunstwort Theomoana gebildet worden ist. Theomoana is not a Land-locked approach to theology. 28

Kehren wir noch einmal zur See des Jonabuches zurück. Für Havea ist moana ein Ort, der die Menschen auf ihre Angelegenheit auf Gott zurück wirft und der zugleich durch das Erfahren und Überschreiten von Grenzen die Beziehung zu Gott heilt oder intensiviert. Of course, as any islander knows, one has to be g*d-fearing to survive upon the sea. The sea has the capacity to draw one closer to ones g*d. 29

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29

Allerdings unterstreicht Havea auch, dass die Sichtweise des Jonabuches auf Niniveh von der der Hebräischen Bibel abweicht: „Could the voice of the city be more than the voice of its settlers? And could the voice of the city of Nineveh in the story of Jonah be different from that perceived in the history of biblical Israel? As one of the capitals of ancient Assyria, it is condemned (see Nahum) as representing the voice of destruction …“; a. a. O., 8. Nāsili Vakau‘ta, A Tongan Island Reading of Jonah as Oriented Towards the Ocean, in: Mark Roncace/Joseph Weaver (Hg.), Global Perspectives on the Bible, Boston u. a. 2014, 128-129, hier: 129. Winston Halapua, Moana Methodology: Promoting Dynamic Leadership, in: Jione Havea (Hg.), Talanoa ripples: Across Borders, Cultures, Disciplines …, Massey University 2010, 132-148, hier: 140. Havea, Casting Jonah, 29.

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In der Sichtweise Haveas ist es nicht nur die See, die als agens in der Geschichte eine eigene Daseinsform einnimmt, die Möglichkeiten der Grenzüberschreitung bietet und der schließlich auch eine religiöse Dimension zukomme.30 Vielmehr traut er auch dem Autor des Buches eine gewisse Verbundenheit mit der See als einer theologischen Größe zu. Vor dem Hintergrund der sonstigen negativen Charakterisierung der See in den biblischen Literaturen ist diese Einschätzung mehr als bemerkenswert. Aber hier soll es eben so sein: Für den mit allergrößter Wahrscheinlichkeit monotheistisch denkenden Autor des Buches ist es ein mit Selbstverständlichkeit hinzunehmender Umstand, dass sich in den Seeleuten eine willkommene religiöse Pluralität manifestiert. The narrator does not present the story as a battle between the g*d of the sailors and the G*d of Jonah, nor between G*d and the sea. The boat and the sailors were caught in the teeth of G*d’s anger toward Jonah. In the end, the sailors prayed to the G*d of Jonah, but the narrator does not indicate if they denounced their own g*d. The narrator is Hebrew and he was understandably biased toward the G*d of the Hebrews, but it is important to note that this Hebrew narrator did not deny nor did he condemn the g*d of the sailors. He had room for other g*ds, and I suspect that he would have more problems with the illusion that there is only one g*d than the suggestion that no g*d exists at all. 31

4.

Narrative Lücken und die Allmacht der Leser*innen

So What, schön und gut, werden Sie jetzt denken, was bringt mir das jetzt alles? Wenn nicht mehr klar ist, ob das finale Schweigen Jonas am Ende des Buches eine dickfellige Resilienz gegenüber den Ansichten Gottes, oder aber das genaue Gegenteil bedeutet, nämlich die endgültige Abkehr des verbockten Sünders von diesen oder als dritte und nicht letzte Möglichkeit die Tatsache steht, dass hier

30

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Schon fast verwunderlich ist, dass sich die asiatische, insbesondere die indische Auslegung des Jonabuches des Fischmotivs (noch) nicht angenommen hat. Längst sind in der westlichen Perspektive Versuche angestellt worden, den (mittlerweile als rettende Figur gedeuteten) Fisch mit Motiven der Religionsgeschichte aus der Umwelt Israels, insbesondere Assyrien, Ägypten und Griechenland in Verbindung zu bringen; vgl. hierzu Eckart Frahm, Of Doves, Fish, and Goddesses: Reflections on the Literary, Religious, and Historical Background of the Book of Jona, in: Joel Baden u. a. (Hg.), Sibyls, scriptures and scrolls Volume 1, JSJ.S 175, Leiden/Boston 2017, 432–450, und Andreas Kunz, Das Buch Jona und die ägyptische Schiffbrüchigenerzählung. Eine vergleichende Untersuchung zur Literatur Israels und Ägyptens in: ZAW 116 (2004), 55-74. In der indischen Mythologie begegnet der fischgestaltige Matsya, der gleich dem Fisch im Jonabuch als Retter auf der See agiert; zudem weisen die Matsya-Traditionen deutliche Parallelen mit der biblischen Flutgeschichte auf. Havea, Casting Jonah, 29.

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einer schulmeisterlich diszipliniert worden ist,32 wobei sich auch das wieder negativ oder positiv sehen lässt, sollte man dann besser die interkulturelle Vielfalt der Deutungen zur Seite legen und sich auf das stützen, was hier in unseren Kontexten schon immer gesagt worden ist?33 Das wäre allerdings eine Verschwendung von Ressourcen, so würde ich meinen. Die Linguistik hat uns gezeigt, dass narrative Texte Ellipsen und Lücken enthalten, die seitens der Leserschaft gefüllt werden müssen. Unabhängig dabei ist, ob diese Lücken vom Autor oder von der Autorin bewusst intendiert, ob sie kulturbedingt, sprachbedingt, zeitbedingt usw. entstanden sind. Allein der Umstand, dass diese Deutungen existieren, zeigt, dass sie angemessen und zulässig sind, eben weil sie in verschiedenen Kontexten auf Zustimmung gestoßen sind. In der Linguistik hat man sich dabei mit Begriffen wie something, somehow oder irgendwie beholfen.34 Irgendwas muss Jona genötigt haben, am Ende seinen Mund zu halten und irgendwas mag Leserinnen und Leser in allen Zeiten und Orten dazu angestachelt haben, in ein schillerndes Gewimmel der Deutungen einzutauchen. Es lebe das interkulturelle Irgendwie! 32

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34

Zu verweisen ist hierbei auf die Deutung von Gregory C. Jenks, The Sign of Jonah. Reading Jonah on the Boundaries and from the Boundaries, in: Jione Havea u. a. (Hg.), Bible, Borders, Belonging(s). Engaging Readings from Oceania, Society of Biblical Studies, Semeia Studies 75, Atlanta 2014, 223–238, hier: 232, nach der Jona am Ende des Büchleins mit einem Burnout-Syndrom allein zurückgelassen wird: „The preacher is exhausted. Burned out.“ Hilfreich ist hier, wie so oft, ein Blick in die jüdischen Auslegungstraditionen zum Jonabuch. So zeigen sich etwa in der Frage, wie ernst die Umkehr der Bewohner Ninives gemeint war, sehr divergierende Auffassungen. Während die ältere jüdische Auslegung, etwa in der Mischna (z. B. mTaan 2,1) betont, dass es sich hierbei tatsächlich um eine ernst gemeinte und dauerhafte Hinwendung zum Gott Israels gehandelt habe, hat etwa der mittelalterliche Midrasch Jalkut Schimoni eine völlig gegenteilige Auffassung vorgetragen. Bei der Buße der Niniviten habe es sich nur um einen theatralisch inszenierten Fake gehandelt. Nachdem die Gefahr vorüber war, seien diese wieder zu ihrem lasterhaften Leben zurückgekehrt. Zur Geschichte der rabbinischen und mittelalterlichen Auslegung des Jonabuches im Judentum vgl. Beate Ego, „Denn die Heiden sind der Umkehr nahe“. Rabbinische Interpretationen zur Buße der Leute von Ninive, in: Reinhardt Feldmeier/Ulrich Heckel (Hg.), Die Heiden, WUNT 70, Tübingen 2019, 158-176; Beate Ego, The Repentance of Nineveh in the Story of Jonah and Nahum’s Prophecy of the City’s Destruction. A Coherent Reading of the Book of the Twelve as Reflected in the Aggada, in: Paul L. Redditt/Aaron Schart (Hg.), Thematic Threads in the Book of Twelve, BZAW 325, Berlin/New York 2003; Nachdruck 2012), 155-164. Einen umfassenden Überblick bietet Tiemeyer, Jona; zur Deutung im Jalkut Schimoni s. die Übersetzung von Farina Marx, Jalkut Schimoni zum Zwölfprophetenbuch. Übersetzung und Kommentar, Rabbinische Bibelauslegung im Mittelalter, Berlin/Boston 2020, 195f. Vgl. hierzu insbesondere Donald E. Hardy, Towards a Stylistic Typology of Narrative Gaps. Knowledge Gaping in Flannery O’Connor’s Fiction, in: Language and Literature 14 (2005), 363-375. Offensichtlich sind es gerade die intendierten gaps, die den Prozess des Lesens und Deutens offen halten: „Some gaps, those for which the reader does not have a nearly omniscent perspective leave a bit more ambiguity“ (367).

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Literatur Alkier, Stefan, Die große Stadt. Warum die Johannesapokalypse nicht als „Kampfschrift gegen Rom“ erschlossen werden kann, in: ZNT 42 (2018), 91–107. Baptist, Antony John, Biblische Interpretationen in Indien aus subalterner Perspektive, in: Concilium, 58 (2022), 82–91. Boase, Elizabeth/Agnew, Sarah, „Whispered in the Sound of Silence“. Traumatising the Book of Jonah; The Bible & Critical Theory 12 (2016), 4–22. https://www.bibleandcriticaltheory.com/issues/vol12-no1-2016/vol-12-no-1-2016-whispered-in-the-sound-of-silence-traumatising-thebook-of-jonah/ (Zugriffsdatum: 02.05.2022). Ching Shao, Rosa, Jonah. A Pastoral and Contextual Commentary, Asia Bible Commentary Series, Carlisle 2019. Ego, Beate, „Denn die Heiden sind der Umkehr nahe“. Rabbinische Interpretationen zur Buße der Leute von Ninive, in: Reinhardt Feldmeier/Ulrich Heckel (Hg.), Die Heiden, WUNT 70, Tübingen 2019, 158–176. —— The Repentance of Nineveh in the Story of Jonah and Nahum’s Prophecy of the City’s Destruction. A Coherent Reading of the Book of the Twelve as Reflected in the Aggada, in: Paul L. Redditt/Aaron Schart (Hg.), Thematic Threads in the Book of Twelve, BZAW 325, Berlin/New York 2003; Nachdruck 2012), 155–164. Frahm, Eckart, Of Doves, Fish, and Goddesses: Reflections on the Literary, Religious, and Historical Background of the Book of Jona, in: Joel Baden u. a. (Hg.), Sibyls, Scriptures and Scrolls Volume 1, JSJ.S 175, Leiden/Boston 2017, 432–450. Halapua, Winston, Moana Methodology: Promoting Dynamic Leadership, in: Jione Havea (Hg.), Talanoa ripples: Across Borders, Cultures, Disciplines …, Massey University 2010, 132–148. Hardy, Donald, E., Towards a Stylistic Typology of Narrative Gaps. Knowledge Gaping in Flannery O’Connor’s Fiction, in: Language and Literature 14 (2005), 363–375. Harris, Robert A., Rabbi Eliezer of Beaugency Commentaries on Amos and Jonah (with selections from Isaiah and Ezekiel). Introduction, Translation, and Commentary, TEAMS Commentary Series, Kalamazoo 2019. Havea, Jione, Casting Jonah Across Seas and Tongues. A Transnationalizing Reading, in: J. Kwabena Asamoah-Gyadu u. a. (Hg.), Babel is Everywhere! Migrant Readings from Africa, Europe, and Asia, IC – Studies in the Intercultural History of Christianity, Frankfurt/M. et al. 2013, 25–36. —— Engaging Scriptures from Oceania; in: Jione Havea u. a. (Hg.), Bible, Borders, Belonging(s). Engaging Readings from Oceania, Society of Biblical Studies, Semeia Studies 75, Atlanta 2014, 1– 19. —— Islander Criticism. Waters, Ways, Worries, in: Jione Havea (Hg.), Sea of Readings. The Bible in the South Pacific, Semeia Studies 90, Atlanta 2018, 1–20. —— Jonah. An Earth Bible Commentary, London/New York 2020. —— Sitting Jonah with Job. Resailing Intertextuality, in: The Bible & Critical Theory 12 (2016), 94– 108. https://www.bibleandcriticaltheory.com/issues/vol12-no1-2016/; (Zugriffsdatum: 21.04.2022). Jenks, Gregory C., The Sign of Jonah. Reading Jonah on the Boundaries and from the Boundaries, in: Jione Havea u. a. (Hg.), Bible, Borders, Belonging(s). Engaging Readings from Oceania, Society of Biblical Studies, Semeia Studies 75, Atlanta 2014, 223–238. Jeremiah, Anderson, Reclaiming ‚Her‘ Right. Rereading the Story of Tamar (Genesis 38:1–27) from Dalit Women Perspective, BTF 38 (2006), 145–156. John. S., The Lamenting God. A Postcolonial Juxtaposition of Lament in the Book of Lamentation and Selected Dalit Literature, BTF 49 (2017), 133–153. Kunz, Andreas, Das Buch Jona und die ägyptische Schiffbrüchigenerzählung. Eine vergleichende Untersuchung zur Literatur Israels und Ägyptens, in: ZAW 116 (2004), 55–74. Kurichianil, John, Jonah. A Disobedient Prophet, in: ITS 52 (2015), 163–176. Lacoque, Andre/Lacoque, Pierre Emmanuel, The Jonah Complex, Atlanta 1981.

Der Text und seine / keine Grenzen?

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Die Schrift im Zentrum Apg 8,26–40 als biblisches Beispiel interkultureller Schriftauslegung Malte Cramer

1.

Einleitung

Ầρά γε γινώσκεις ἃ ἀναγινώσκεις; Verstehst du auch, was du liest? (Apg 8,30). Diese Frage des Philippus an den äthiopischen Mann in Apg 8,30 steht pars pro toto für das Thema Bibelhermeneutik. Kein anderer biblischer Satz wird so häufig herangezogen, wenn es um die Frage nach den Verstehensbedingungen biblischer Texte geht.1 Daher ist es nachvollziehbar, wenn beispielsweise Rudolf 1

Bereits ein Blick auf die zahlreichen Titel von Publikationen, die sich dezidiert auf diesen Vers beziehen, mag dies verdeutlichen. Vgl. u. a Deborah C. Bowen, „Do you understand what you are reading? “ Rhetoric, ethics and aesthetics in the undergraduate classroom, in: IJCE 20 (2016), 7–19; Susan Docherty, ‚Do you Understand what you Are Reading?‘ (Acts 8.30). Current Trends and Future Perspectives in the Study of the Use of the Old Testament in the New, in: JSNT 38 (2015), 112–125; Jürgen Eberle, Verstehst du auch, was du liest? Biblische Hermeneutik und Spiritualität, in: kb 114 (2013), 250–258; Bettina Eiltrop, Verstehst du auch, was du liest? Bibelarbeit in den Gemeinden und Erwachsenenbildung, in: BuK 56 (2001), 130–135; Anne-Louise Eriksson, Do you understand what you are reading? Faith, Tradition and Theological Literacy, in: Studia Theologica – Nordic Journal of Theology 64 (2010), 138–152; Gerhard Hotze, Verstehst du auch, was du liest? Zur Spiritualität des Neuen Testaments, in: Spiritualität (2017), 113–128; Bernd Janowski, „Verstehst du auch, was du liest?“ (Apg 8,30). Reflexionen auf die Leserichtung der christlichen Bibel, in: Frank-Lothar Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie, Freiburg im Breisgau 2001, 150– 191; Karl Kertelge, „Verstehst du auch, was du liest?“ (Apg 8,30), in: Adel Theodor Khoury u. a. (Hg.), Glauben durch Lesen? Für eine christliche Lesekultur, Freiburg im Breisgau u. a., 14–22; Joram Luttenberger, „Verstehst du auch, was du liest?“. Hans-Georg Gadamers Beitrag zur Diskussion um die historisch-kritische Bibelauslegung, in: ThBeitr 47 (2016), 374–391; Jürgen Moltmann, „Verstehst du auch, was du liest?“ Neutestamentliche Wissenschaft und die hermeneutische Frage der Theologie. Ein Zwischenruf, in: EvTh 71 (2011), 405–414; Peter Müller, „Verstehst du auch, was du liest?“ Lesen und Verstehen im NeuenTestament, Darmstadt 1994, Stefan Schreiber, „Verstehst du denn, was du liest?“ Beobachtungen zur Begegnung von Philippus und dem äthiopischen Eunuchen (Apg 8,26–40), in: SNTU 21 (1996), 42–72; Abraham Smith, „Do You

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Pesch im Evangelisch-Katholischen Kommentar zur Apostelgeschichte schreibt, es handle sich bei dieser Frage, um die „Grundfrage biblischer Hermeneutik“2 oder wenn Rouven Genz in seiner detaillierten Studie zu Apg 8,26–40 schreibt, dass es sich bei dieser Frage um einen Satz handle, „der die ganze Problematik biblischer Hermeneutik einzigartig auf den Punkt bringt.“3 Bereits diese Beobachtung wäre vermutlich schon Grund genug gewesen, die wohlbekannten Worte des Philippus an den Beginn dieses Beitrags zu stellen. Denn schließlich geht es in diesem Band ganz zentral um die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten sowie den Herausforderungen und Zielen des Verstehens biblischer Texte. Doch die Erzählung von Philippus und dem äthiopischen Mann erscheint nicht nur aufgrund ihrer allgemeinen Verbindung zum Thema Bibelhermeneutik für das Thema dieses Buches von Interesse zu sein, sondern speziell deshalb, weil die Erzählung zugleich von einer interkulturellen Begegnung berichtet. Hierdurch besitzt sie mit Blick auf das Leitthema eine gewisse Exponiertheit, die in diesem Beitrag näher untersucht werden soll. Der Beitrag gliedert sich in zwei Hauptteile: In einem ersten Schritt wird die interkulturelle Dimension des Textes selbst betrachtet, um hervorzuheben, dass der Text aus Apg 8,26–40 aus interkultureller Perspektive ein neutestamentliches Unikat ist. In einem zweiten Schritt richtet sich der Blick auf die Frage, welche Rolle und welche Funktion die Schrift in der interkulturellen Begegnung zwischen Philippus und dem äthiopischen Mann einnimmt. Abschließend wird ausblickhaft gefragt, ob bzw. welche Impulse der Text aus Apg 8,26–40 mit Blick auf das Thema des Bandes liefern kann und welche Assoziationen sich hinsichtlich einer interkulturellen Bibelhermeneutik von diesem Text ableiten lassen.

2 3

Understand What You Are Reading?“ A Literary Critical Reading of the Ethiopian (Kushite) Episode (Acts 8:26–40), in: Journal for the Inderdenominational Theological Center 22 (1994), 48–70; Walter Sparn: „Verstehst du, was du liest?“ Die Bildungsverantwortung des Christentums in der europäischen Wissenskultur, in: Michael Meyer-Blanck/Iris Hanita (Hg.), Christentum und Europa. Europäischer Kongress für Theologie (10.–13. September 2017 in Wien), Leipzig 2019, 148–161; Gregory E. Sterling, „Do you understand what you are reading?“ The Understanding of the LXX in Luke-Acts, in: Jörg Frey (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie, Berlin u. a. 2009, 101–118; Randall C. Zachmann, „Do you understand what you are reading?“ Calvin’s guidance for the seading of scripture, in: SJT 54 (2001), 1– 20; uvm. Rudolf Pesch, Die Apostelgeschichte. Apg 1–12, Neukirchen-Vluyn 21994, 295. Rouven Genz, Jesaja 53 als theologische Mitte der Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Christologie und Ekklesiologie im Anschluss an Apg 8,26–40, Tübingen 2015, 92.

Die Schrift im Zentrum

2.

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Philippus und der ἀνὴρ Αἰθίοψ – Eine interkulturelle und grenzüberschreitende Begegnung

Die Schriften des Neuen Testaments berichten an zahlreichen Stellen von interkulturellen Begegnungen.4 Seien es die Missionsreisen des Paulus (Apg 13,1– 14,28; 15,36–18,22; 18,23–21,33), der paulinische Briefwechsel mit seinen Gemeinden in Kleinasien (Gal, Phlm) und Europa (1Thess, Rom, 1Kor, 2Kor Phil),5 die Begegnungen Jesu in den Evangelien mit nicht-jüdischen Menschen wie z. B. dem besessenen Gerasener (Mk 5,1–20 parr.) oder der syrophönizischen Frau (Mk 7,24–30 parr.) oder nicht zuletzt die Erzählung vom Pfingstwunder und deren ausführliche Auflistung unterschiedlicher Ethnien und Herkunftsländer, die jedes Jahr aufs Neue zahlreiche Pfarrerinnen, Lektoren oder Presbyter ins Stolpern bringt, wenn diese am Pfingsttag die Lesung halten müssen. Das Neue Testament ist in vielerlei Hinsicht ein hervorragendes Zeugnis für das interkulturelle Wechselverhältnis, die Aushandlungsprozesse und den kulturellen Austausch insbesondere zwischen jüdischen resp. palästinischen Traditionen und Kulturgütern einerseits mit dem kulturpolitisch und geistesgeschichtlichen Makrokontext der griechisch-römischen Antike andererseits. Seit der Hellenisierung durch Alexander den Großen war insbesondere im Osten des Imperium Romanum die griechische Kultur maßgeblich.6 „Da sich auch die römische Welt in weiten Bereichen der Hellenisierung anschloss, kann man für den Mittelmeerraum von einer beinahe vollständigen Akkulturation ausgehen, die zu einem einheitlichen Kulturraum führte.“7 Neutestamentliche Berichte 4

5

6 7

Das Neue Testament ist ebenso wie das Alte Testament ein Zeugnis vielfältiger interkultureller Aushandlungsprozesse. „Schon der Kanon selbst präsentiert sich also nicht in kultureller Geschlossenheit, sondern als ein Phänomen kultureller Vielfalt und Differenz. Von Anfang an, so die grundlegende hermeneutische Botschaft des Kanons als Kanon, ist der Monotheismus des Christentums nicht mit einer Monokultur, sondern mit kultureller Vielfalt und Differenz verbunden. […] und wir stehen tatsächlich vor der Frage einer interkulturellen Theologie des Neuen Testaments als einer ihm eigenen und wesentlichen Fragestellung.“ Jochen Flebbe, Sprachliche Brücken zwischen Kulturen im Neuen Testament. Erzählung – Metapher – Begriff, in: Franz Gmainer-Pranzl u. a. (Hg.), Herausforderungen Interkultureller Theologie, Paderborn 2016, 51–66, 52. Vgl. zum Thema Paulus und Interkulturalität Esther Kobel, Paulus als interkultureller Vermittler. Eine Studie zur kulturellen Positionierung des Apostels der Völker, Paderborn 2019. Markus Öhler, Geschichte des frühen Christentums, Göttingen 2018, 28f. A. a. O., 28. Vgl. ähnlich Udo Schnelle, Die ersten 100 Jahre des Christentums. 30–130 n. Chr., Göttingen 32019, 31: „Die neue Globalkultur löste die bestehenden National- bzw. Regionalkulturen nicht auf, transformierte sie aber zugleich. So entstand ein relativ einheitlicher Kulturraum, der bewusst Eigenheiten und Differenzen zuließ, ohne daran zu zerbrechen.“

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über interkulturelle Begegnungen abseits dieses – die Umwelt des Neuen Testaments bestimmenden – einheitlichen Kulturraums finden sich nur sehr wenige. Die Erzählung aus Apg 8,26–40, die uns von dem Zusammentreffen des Apostel Philippus8 mit dem ἀνὴρ Αἰθίοψ berichtet, ist jedoch eine von ihnen.9 Gerade deshalb lohnt der Blick auf die interkulturelle Dimension dieses Textes. Die interkulturelle Exponiertheit der Perikope hängt freilich in erster Linie mit der Erzählfigur des äthiopischen Mannes zusammen. Doch bereits bevor dieser als Akteur in die Szenerie von Apg 8 eingeführt wird, weist schon der Handlungsort der Perikope auf eine Besonderheit der Erzählung hin. Der Schauplatz der Narration ist eine einsame (ἔρημος) Straße in der Nähe von Gaza (V.26). Bei der Stadt Gaza handelte es sich im 1. Jhd. n. Chr. um die südlichste judäische Stadt entlang der Handelswege nach Ägypten.10 „In der Tat war Gaza die letzte Station vor der Wüste.“11 Der geschilderte Handlungsort deutet auf diese Weise bereits an, dass im Verlauf der Erzählung sowohl geographische als auch kulturelle Grenzen überschritten werden.12 Die durch den Handlungsort in V.26 bereits angedeutete Grenzüberschreitung gewinnt im darauffolgenden V.27 Gestalt in der Charakterisierung des – neben Philippus – zentralen Protagonisten der Erzählung. Auffällig ist insbesondere die Vielzahl von direkten Charakterisierungen, die bei der Einführung der Erzählfigur in V.27 gegeben werden. Diese wird zunächst beschrieben als ἀνὴρ Αἰθίοψ, d. h. als Mann,13 näherhin als Äthiopier. Darüber hinaus wird berichtet, dass es sich um einen εὐνοῦχος δυνάστης Κανδάκης βασιλίσσης Αἰθιόπων handelt, d. h. um einen Eunuchen, einen Beamten der Kandake, der Königin der Äthiopier. Für diese arbeitet er als eine Art Schatzmeister (ὃς ἦν ἐπὶ πάσης τῆς γάζης αὐτῆς). Schließlich wird zudem berichtet, dass der Mann eine Pilgerfahrt 8

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Zur Gestalt des Philippus im frühen Christentum vgl. ausführlich Axel von Dobbeler, Der Evangelist Philippus in der Geschichte des Urchristentums. Eine prosopographische Skizze, Tübingen/Basel 2000. Ein weiteres neutestamentliches Beispiel für eine solche interkulturelle Begegnung abseits des einheitlichen Kulturraums der mediterranen Welt in der griechisch-römischen Antike wären u. a. die Magier aus dem Osten in Mt 2. Vgl. Jürgen Roloff, Die Apostelgeschichte, Göttingen 1981, 140. Gottfried Schille, Die Apostelgeschichte des Lukas, Berlin 1983, 210. Hierzu Genz, Jesaja 53, 49f.: „Gaza, Endpunkt der Weihrauchstraße von Arabien zum Mittelmeer, galt seit jeher als Grenze zu Ägypten. […] Entsprechend ist Gaza später bei Arrian die letzte Stadt, die ein Reisender auf dem Weg von Phönizien nach Ägypten antrifft, am Rande der Wüste. Der Weg führt also nicht nur von Jerusalem weg, sondern er führt – das war jedem Hörer klar – in heidnisches Gebiet, genauer: gen Ägypten.“ Während der Begriff ἀνὴρ die geschlechtliche Identität der Erzählfigur eindeutig bestimmt, trägt der im weiteren Verlauf der Narration vornehmlich verwendete Begriff εὐνοῦχος (V.27.34.36.38.39) deutlich ambige Züge. Vgl. zum Thema Halvor Moxnes und Marianne B. Kartzow, Complex Identities: Ethnicity, Gender and Religion in the Story of the Ethiopian Eunuch (Acts 8:26–40), in: R&T 17 (2010), 184–204; Brittany E. Wilson, ‘Neither Male nor Female’: The Ethiopian Eunuch in Acts 8.26–40, in: NTS 60 (2014), 403– 422.

Die Schrift im Zentrum

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nach Jerusalem unternommen hat, von wo er sich nun auf der Rückreise befindet (V.28a). Blickt man auf die Charakterisierung der Erzählfigur wird bereits auf sprachlicher Ebene das – gerade in interkultureller Hinsicht – Außergewöhnliche der Begegnung von Philippus und dem Mann unterstrichen. Denn in seiner Beschreibung finden sich gleich fünf neutestamentliche Hapaxlegomena: Αἰθίοψ, εὐνοῦχος,14 Κανδάκη, Αἰθιόπων, γάζα. Sie alle akkumulieren in V.27 und kennzeichnen das Extraordinäre der Begebenheit.15 Außergewöhnlich ist freilich zuvorderst die Beschreibung der ethnischen Zugehörigkeit des Mannes durch das substantivierte Adjektiv Αἰθίοψ bzw. seine Darstellung als Schatzmeister der Königin der Αἰθιόπων.16 Was hier als „Äthiopien“ bezeichnet wird, entspricht natürlich nicht dem heutigen Äthiopien, sondern meint hier vermutlich das Gebiet Nubien. 17 Dieses liegt südlich von Ägypten am oberen Nillauf und besitzt geographisch große Überschneidungen mit der heutigen Fläche des Sudan.18 Die als Αἰθίοψ bezeichnete ethnische Gruppe, welcher der Mann angehört, meint folglich in erster Linie die Bewohnerinnen und Bewohner des napatanischen (ca. 750 v. Chr. bis 300 v. Chr.) bzw. meroitischen Königreichs (ca. 300 v. Chr. bis 350 n. Chr.), das in der Antike auch unter der Bezeichnung Kusch begegnet.19 Aus neutestamentlich-interkultureller Perspektive ist die Herkunft des Mannes aus dem meroitischen Kulturraum gleich in mehrfacher Hinsicht signifikant: 14 15 16 17

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Der Begriff εὐνοῦχος begegnet im Neuen Testament nur noch in Mt 19,12, dort jedoch im Plural und in Verbform. Vgl. Genz, Jesaja 53, 32. Vgl. a. a. O., 55. Als nördliche Grenze Nubiens wird zumeist die Stadt Assuan und als südliche Grenze häufig die Stadt Khartum gesetzt. Siehe zum Thema Nubien ausführlich Piotr O. Scholz, Nubien. Geheimnisvolles Goldland der Ägypter, Stuttgart 2006; Derek A. Welsby, The Kingdom of Kush. The Napatan and Meroitic Empires, London 1996; Ders., The Medieval Kingdoms of Nubia. Pagans, Christians and Muslims on the Middle Nile, London 2002; Joachim Willeitner, Nubien. Antike Monumente zwischen Assuan und Khartum, München 1997. Vgl. Jacob Jervell, Die Apostelgeschichte, Göttingen 1998, 270; Martin Leutzsch, Eunuch und Intersektionalität. Ein multiperspektivischer Versuch zu Apg 8,26–40, in: Ute E. Eisen u. a. (Hg.), Doing Gender – Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam, Tübingen 2013, 405–430, 410; Roloff, Apostelgeschichte, 140.; Schille, Apostelgeschichte, 210. Zur alttestamentlichen Erwähnung von Kusch bzw. den Kuschiten vgl. Gen 2,13; 10,6f.; Num 12,1; 2Kön 19,19; 2Sam 18,19–32; 1Chr 1,8f. 2Chr 14,8; Hi 28,19; Ps 68,32; Jes 11,11f.; 18,7; 37,9; 43,3; 45,14; Jer 38,7–13; 39,15–19; Dan 11,43; Zef 3,10 u. W. Vgl. hierzu Kevin Burrell, Cushites in the Hebrew Bible. Negotiating Ethnic Identity in the Past and Present, Boston 2020. Auch außerbiblisch wird Kusch literarisch vielfach erwähnt, z. B. bei Homer (Od. I, 22–25; II. I, 423f.), Herodot (Hist. III, 25.114) oder Strabo (Geogr. XVII, 2,1) u. W. In der sog. „Kuschitenzeit“ gab es historisch sogar eine Epoche, in der napatanische Könige das antike Ägypten beherrschten. Vgl. hierzu u. a. Charles Bonnet/Dominique Valbelle, Pharaonen aus dem schwarzen Afrika, Mainz 2006; Angelika Lohwasser, Art.

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1. An keiner anderen Stelle im Neuen Testament werden explizite Berührungspunkte mit Menschen einer geographischen oder ethnischen Herkunft aus dem „äthiopischen“ Kulturraum berichtet. Diese interkulturelle Einzigartigkeit des Zusammentreffens von Philippus und dem äthiopischen Mann legt bereits der sprachliche Befund dar. 2. Das meroitische Königreich liegt nicht resp. nur peripher im Einflussgebiet der hellenistischen „Globalkultur“.20 Äthiopien ist in der griechisch-römischen Antike der Inbegriff für den südlichen Rand der Welt „und reichte auch über die äußerste Grenze der griechisch-römischen Welt hinaus. Äthiopier waren am und vom Ende der Welt. Weiter entfernt kann man sich Menschen nicht denken.“21 Die antike Vorstellung von Äthiopien als Grenze des damaligen orbis terrarum wird besonders evident in den Beschreibungen griechisch-römischer Autoren.22 „Greco-Roman authors viewed Ethiopia itself as a liminal nation vis-à-vis the Mediterranean world and the larger Roman Empire. Among some thinkers, Ethiopia was the threshold to an entirely undiscovered world.“23 So spricht z. B. Homer (Od. I, 23) von den Äthiopiern als die „entlegensten“ bzw. die „letzten/hintersten Menschen“ (ἔσχατοι ἀνδρῶν).24 Herodot (Hist. III, 25) schreibt, dass Äthiopien „an den Enden der Welt“ liegt (τὰ ἔσχατα γῆς). Und der Geograph Strabo beschreibt Äthiopien nicht nur als abgelegenes Gebiet und Grenze der Zivilisation (Geogr. XVII, 2,1), sondern in seiner Auseinandersetzung mit früheren antiken Geographen wird ersichtlich, dass die Äthiopier nicht zwingend ein einzelnes Volk repräsentieren, sondern alle Völker südlich der hellenistischen Welt konnten als Äthiopier bezeichnet werden (Geogr. I, 2,27–28).25 3. Durch die Charakterisierung des Mannes als Αἰθίοψ wird der intendierten Leserschaft zudem eine körperliche Andersartigkeit und Fremdheit der Erzählfigur vor Augen geführt. Die Bezeichnung Αἰθίοψ setzt sich zusammen

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Kuschitenzeit, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2021 (Zugriffsdatum: 29.08.2022). Vgl. Schnelle, Die ersten 100 Jahre, 31. Ottmar Fuchs, Die Taufe des Äthiopiers, eine alternative Theologie der Taufpastoral, in: PThI 35 (2015), 261–279, 263. Vgl. ähnlich „Ethiopia represented the southernmost point of the world for Greco-Roman civilization.“ Scott Shauff, Locating the Eunuch. Characterization and Narrative Context in Acts 8:26–40, in: CBQ 71 (2009), 762–775, 768. Vgl. Wilson, Neither Male nor Female, 412. A.a.O., 412 Ähnlich Fuchs, Taufe, 264: „Auch wenn das damalige Äthiopien dem heutigen Norden des Sudans, also Nubien, entspricht, bedeutete es doch zugleich, dass auch das ganze dahinterliegende Land, auch das heutige Äthiopien mit gemeint ist. Denn diese damals noch unbekannte südlich-unendliche Tiefe war das Ende der damaligen Welt, dessen Ende man überhaupt nicht kannte.“ Vgl. Frederick F. Bruce, Philip and the Ethiopian, in: JSS 34 (1989), 377–386, 380. Vgl. Moxnes, Kartzow, Identities, 191 „Whereas Egypt was well known to ancient geographers, Ethiopia was far away, and few had travelled there. It therefore took on an almost mythical character.“ (Ebd.)

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aus den Begriffen αἴθειν (brennen) und ὤψ (Gesicht). Wörtlich meint der Ausdruck Αἰθίοψ somit etwas wie „Brandgesicht“ und dient etymologisch zur Beschreibung eines Menschen mit besonders dunkler Hautfarbe.26 Wer αἰθίοψ war, unterschied sich folglich in körperlicher Hinsicht von der Mehrheit der im hellenistischen Kulturraum beheimateten Menschen,27 denn „die dunklere Hauttönung der Äthiopier wich von der nachhomerischen griechischen Selbstwahrnehmung ab.“28 Die Figur des ἀνὴρ Αἰθίοψ steht somit durch seine Hautfarbe eindeutig in Kontrast zu den bestehenden griechisch-römischen körperlichen Normvorstellungen.29 Summa summarum bleibt festzuhalten: Apg 8,26–40 berichtet aus neutestamentlicher Sicht von einem interkulturellen Zusammentreffen der ganz besonderen Art. Denn der ἀνὴρ Αἰθίοψ „vertritt eine fremde Welt und Kultur. Mit Äthiopien war sogar die Vorstellung vom Ende der Welt, von einer besonders exotischen, da unbekannten Kultur verbunden.“30 Die Erzählung schildert gleich in mehrfacher Hinsicht eine interkulturelle Begegnung, die nicht nur gegenüber den sonstigen neutestamentlichen Texten heraussticht, sondern der zugleich mehrere Grenzüberschreitungen inhärent sind – sowohl geographische und kulturelle als auch körperliche und nicht zuletzt theologische.

3.

Die Schrift im Zentrum – Beobachtungen zur Stellung und Funktion der Schrift in Apg 8,26–40

Um der Frage nachzugehen, welche Bedeutung die Schrift in der interkulturellen Begegnung zwischen Philippus und dem ἀνὴρ Αἰθίοψ hat und welche hermeneutische Funktion ihr zukommt, wird der Blick im Folgenden auf die erzähltechnische und sprachliche Komposition des Textes aus Apg 8,26–40 geworfen. 26

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So auch Hans-Georg Gradl, Philippus und der äthiopische Kämmerer (Apg 8,26–40). Von der Bibel lernen, Lehrer zu sein, in: TThZ 126 (2017), 83–96, 87: „Äthiopier heißt eigentlich ‚Brandgesicht‘ und erinnert an die dunkle Hautfarbe dieser Menschen.“ Ähnlich bereits Erich Dinkler, Philippus und der ΑΝΗΡ ΑΙΘΙΟΨ (Apg 8, 26–40). Historische und geographische Bemerkungen zum Missionsablauf nach Lukas, in: Otto Merk/Michael Wolter (Hg.), Im Zeichen des Kreuzes. Aufsätze, Berlin 1992, 305–315, 309f., der kommentiert, dass mit der Bezeichnung Äthiopier „die schwarzhäutigen Menschen jenseits des bekannten orbis terrarum“ gemeint sind. Vgl. ebenso Fuchs, Taufe, 263; Genz, Jesaja, 58; Klaus Kliesch, Apostelgeschichte, Stuttgart 1991, 78. Siehe zum Thema auch Rodney Steven Sadler, Can a Cushite Change His Skin? An Examination of Race, Ethnicity, and Othering in the Hebrew Bible, New York 2005. Vgl. Wilson: Neither Male nor Female, 412. Leutzsch, Eunuch und Intersektionalität 2013, 420. Vgl. a.a.O., 420. Gradl, Philippus, 87.

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Denn bei näherem Hinsehen bewirkt bereits die narrative und sprachlich-syntaktische Gestaltung der Perikope eine exponierte Stellung des Schriftwortes aus Jes 53,7–8. Anhand einiger Beobachtungen soll dies kurz skizziert werden: Der Text lässt sich insgesamt in sieben Sequenzen gliedern: V.26–27, V.28– 29, V.30–31, V.32–33, V.34–35, V.36.38, V.39–40. Die ersten beiden Verse 26–27 eröffnen die Perikope mit der erzähltechnischen Einführung der beiden zentralen Handlungsträger der Geschichte: Einerseits Philippus, der durch den Engel des Herrn den Auftrag erhält loszuziehen und diesem Folge leistet. Andererseits der äthiopische Mann, Eunuch und Schatzmeister der Kandake, von dem wir erfahren, dass er eine Pilgerreise nach Jerusalem unternommen hat. Darüber hinaus wird in der kurzen Einleitung der Erzählung der Schauplatz der Handlung beschrieben, eine verlassene Straße zwischen Jerusalem und Gaza sowie die ungefähre Uhrzeit der Geschehnisse, gegen Mittag (κατὰ μεσημβρίαν).31 In den Versen 28–29 wird die Handlung weiterentwickelt und das geistgewirkte Zusammentreffen der Akteure vorbereitet. Der εὐνοῦχος aus Äthiopien, sitzend auf seinem Wagen, befindet sich auf der Rückreise von Jerusalem und liest währenddessen den Propheten Jesaja.32 Philippus erhält vom Geist den Auftrag, sich dem Wagen des Äthiopiers anzuschließen. Verse 30–31 beschreiben nun zunächst, wie Philippus hört, dass der Fremde den Propheten Jesaja liest, 33 woraufhin er seine bereits zu Beginn dieses Beitrags wirkungsgeschichtlich bedeutsame Frage stellt: Ầρά γε γινώσκεις ἃ ἀναγινώσκεις;34 Verstehst du auch, was du liest? (Apg 8,30). Ausgelöst durch die Frage des Philippus, beginnt ein Gespräch zwischen den beiden Protagonisten und der Äthiopier stellt die Rückfrage, wie er denn den Text verstehen solle, 31

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Die Formulierung κατὰ μεσημβρίαν könnte ebenso mit „nach Süden“ übersetzt werden. Vgl. hierzu Friedrich Blass u. a., Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 182001, §253,5, die sich etwa für diese Übersetzung aussprechen. Gegen diese Übersetzung spricht wiederum der Befund in der LXX, wo κατὰ μεσημβρίαν üblicherweise mit „gegen Mittag“ zu übersetzen ist. Vgl. Jervell, Apostelgeschichte, 270. Ob der Äthiopier die Schriftrolle in Jerusalem erworben hat oder aber ob sich diese bereits zuvor in seinem Besitz befand, wird nicht näher erläutert und kann nur gemutmaßt werden. Hierzu etwa Pesch, Apostelgeschichte, 192: „Daß der Kämmerer die Prophetenrolle, aus der er den Propheten Jesaja liest, in Jerusalem erworben hat, so daß seine Verstehensschwierigkeiten (31) auch daher rühren, daß er den Text zum ersten Mal liest, mag der Leser sich gerne vorstellen.“ Zur Diskussion um das laute oder leise Lesen in der Antike vgl. mit Blick auf den Text aus Apg 8,26–40 Carsten Burfeind, Wen hörte Philippus? Leises Lesen und lautes Vorlesen in der Antike, in: ZNW 93 (2002), 138–145 Siehe zum Lesen in der Antike ausführlich Jan Heilmann, Lesen in Antike und frühem Christentum. Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese, Tübingen 2021. Die Paranomasie γινώσκω-ἀναγινώσκω weist noch einmal deutlich auf den engen Zusammenhang von Lesen und Verstehen hin, der im Griechischen besteht. Vgl. Genz, Jesaja 53, 92.

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wenn ihn keiner dabei anleite. 35 Daran anschließend bittet er Philippus, auf seinen Wagen zu steigen und sich zu ihm zu setzen. Nachdem sich die beiden kontinuierlich nähergekommen sind, fokussiert sich der Aktionsraum der Handlung jetzt voll und ganz auf den Moment der Schriftlektüre auf dem Wagen des Eunuchen. Durch die explizite intertextuelle Markierung (ἡ δὲ περιοχὴ τῆς γραφῆς ἣν ἀνεγίνωσκεν ἦν αὕτη) in Vers 32a wird zu dem Schriftzitat aus Jes 53,7–8 in den Versen 32b–33 übergeleitet. Ausgehend von diesem Schriftzitat wird das Gespräch in den Versen 34–35 durch die Frage des Eunuchen fortgesetzt, von wem der Prophet im Text spräche: Von sich selbst oder von einem anderen? Daraufhin beginnt Philippus – bezugnehmend auf den Jesajatext – das Evangelium Jesu zu verkündigen.36 Verse 36 und 3837 erweitern das räumliche Setting der Erzählung und berichten davon, dass die Reisenden an einer Wasserstelle vorbeikommen, woraufhin der äthiopische Mann Philippus fragt, ob er sich taufen lassen könne.38 Die beiden steigen von dem Wagen ab und hinunter in das Wasser und Philippus tauft den Kämmerer. Die abschließenden Verse 39–40 fungieren als Ausleitung der Erzählung, in der die beiden Akteure der Narration wieder voneinander getrennt werden. V.39 berichtet von der wundersamen Entrückung des Philippus nach der Taufhandlung und davon, dass der äthiopische Eunuch fröhlich seines Weges weiterzog.39 35

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Auffällig ist, dass die Konversation der beiden Protagonisten ausschließlich aus Fragen besteht. Die einzigen Elemente direkter Rede des Textes sind die beiden Anweisungen des Geistes an Philippus loszuziehen (V.26) und sich dem Wagen des Äthiopiers zu nähern (V.29). Durch dieses gestalterische Element „wird nicht nur die Vorrangigkeit und Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes akzentuiert, sondern auch das Reflexionsniveau des Textes angedeutet, und zwar auf textinterner wie auch auf textpragmatischer Ebene. Gegenüber allen Reden besticht indes das Zitat aus Jes 53 in V. 32f durch seine Ausführlichkeit, wodurch bereits die Bedeutung dieser Stelle für das Gesamtverständnis der Erzählung hervorgehoben und ihre Relevanz für die lukanische Theologie angedeutet ist.“ A. a. O., 30. „Obgleich der Wortlaut der Auslegung nicht festgehalten ist, so ist doch die Frage des Eunuchen, ob der Prophet von sich selbst oder von einem anderen rede, einer eindeutigen Antwort zugeführt und die Gottesknechtserkenntnis des Eunuchen ermöglicht.“ Genz, Jesaja 53, 118. Der Vers 37 ist eine spätere Hinzufügung und findet sich nur in wenigen Handschriften. Er ist daher kein Bestandteil des griechischen Textes des Novum Testamentum Graece und wird nicht im Fließtext der gängigen deutschen Bibelübersetzungen abgedruckt. Vgl. Apg 10,47; 11,17. Alttestamentliche Parallelen zur Entrückungsszene finden sich u. a. in 1 Kön 18,12; 2 Kön 2,11–18; Ez 3,14; 8,3; 11,1–24. Insbesondere die Allusion zu Entrückung des Elia (2 Kön 2,12) ist markant. Zum Hinaufsteigen aus dem Wasser vgl. Mk 1,10. Das Erfülltwerden mit Freude des Eunuchen enthält eine Parallele zu Lk 13,48–52. „Beiden Stellen ist gemeinsam, dass Menschen, die bisher nur Randsiedler im Gottesdienst Israels waren, die volle Teilhabe am Heil zugesagt bekommen, hier der Eunuch, dort die Sympathisanten einer Diasporasynagoge.“ Klaus Haacker, Die Apostelgeschichte, Stuttgart 2019, 170.

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Und schließlich markiert V.40 eine Art Epilog, in der summarisch das weitere Wirken des Apostel Philippus skizziert wird.40 Diese äußerst knapp gehaltenen Beobachtungen zur erzähltechnischen Entfaltung von Apg 8,26–40 ließen sich um zahlreiche Punkte ergänzen und vielfach vertiefen. Sie sollen an dieser Stelle jedoch genügen, um hinsichtlich der Struktur der Erzählung einen gewichtigen Aspekt herauszustellen: Im Zentrum der Erzählung steht die Schrift. Der alttestamentliche Text aus Jes 53,7–8 bildet die Mitte des Textes. 41 Dies soll noch etwas detaillierter erläutert werden: In Summe bilden die sieben skizzierten Erzählsequenzen des Textes eine konzentrische Struktur. In ihr legen sich jeweils drei sich entsprechende Abschnitte, A/A´ (26–27/39–40), B/B´ (28–29/36.38) und C/C´ (30–31/34–35) in konzentrischer Anordnung um die Textmitte D (32–33).42 Die Verse 26–27 und 39–40 entsprechen sich strukturell als Ein- und Ausleitung der Erzählung, in der die Einführung sowie die Trennung der Handlungsakteure im Fokus steht.43 Darüber 40

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V. 40 markiert den Endpunkt der beiden Philippuserzählungen in Apg 8. Gemeinsam mit V.5 spannt V.40 auf inhaltlicher sowie auf sprachlicher Ebene (Φίλιππος δὲ) eine inclusio um die beiden Erzählungen. Vgl. Genz, Jesaja 53, 37. Ähnlich Pesch: Die Apostelgeschichte 1994, 292: „Wirkungsvoll rückt er [d. i. der Erzähler] das Jesaja-Zitat in die Mitte seiner Gesamtkomposition.“ Vgl. zur Beobachtung einer konzentrischen Struktur der Perikope grundlegend Dionisio Mínguez, Hechos 8,25–40. Análisis estructural del relato, in: BibInt 57 (1976), 168–191. Vgl. darüber hinaus Robert F. O’Toole, Philip and the Ethiopian Eunuch (Acts Viii 25–40), in: JSNT 17 (1983), 25–34; F. Scott Spencer, Portrait of Philip in Acts. A Study of Roles and Relations, London 1997, 130–135. Alle drei genannten Autoren ziehen V.25 zur Perikope hinzu. M. E. ist dies abzulehnen, da V.26 sowohl hinsichtlich der Handlungsträger als auch des Schauplatzes eindeutig einen narrativen Neuansatz darstellt. Dass die konzentrische Struktur ebenso ohne die Hinzunahme von V.25 evident ist, zeigt z. B. Pesch, Apostelgeschichte, 290. Er stellt die Gliederung der Erzählungssequenzen in ähnlicher Weise dar, wie dies in dieser Studie geschieht, wertet die konzentrische Komposition des Textes jedoch nicht hinsichtlich der dem Text inhärenten Pragmatik aus, sondern interpretiert sie ausgehend von der Gattung der Missionslegende und benennt als Zentrum der Erzählung die Schriftauslegung und die Taufe, da es sich hierbei um die paradigmatischen Themen einer Missionslegende handelt. Hiermit schließt er an Roloff: Die Apostelgeschichte 1981, 139ff., und Gerhard Schneider, Die Apostelgeschichte. 1. Teil, Freiburg im Breisgau 1980, 498, an. Diese Auswertung liegt m. E. jedoch insofern schief, als dass das Zentrum der Erzählung weder die Schriftauslegung noch die Taufe sind, die auf die Schriftauslegung folgt, sondern das Schriftzitat selbst. Gegen eine konzentrische Struktur der Perikope votiert z. B. Schreiber, Verstehst du denn, was du liest?, der sich für eine Dreiteilung der Erzählung ausspricht: V.26–28 (Einleitung), V.29–38 (Hauptteil), V.39–40 (Schluss). Ähnlich Roloff, Apostelgeschichte, 139, und Alfons Weiser, Die Apostelgeschichte. Kapitel 1–12, Gütersloh 1981, 208. Eine Synthese aus Dreiteilung einerseits und Beibehaltung der konzentrischen Anordnung mit dem Schriftzitat aus Jes 53,7– 8 als Zentrum der Perikope andererseits findet sich sowohl bei Wilfried Eckey, Die Apostelgeschichte. Der Weg des Evangeliums von Jerusalem nach Rom, NeukirchenVluyn 22011, 201, als auch bei Genz, Jesaja 53, 39. Vgl. ähnlich Genz Jesaja 53, 142. Vgl. auch Schreiber, Verstehst du denn, was du liest?, 42f.

Die Schrift im Zentrum

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hinaus wird diese inclusio der Erzählung motivisch und sprachlich dadurch hervorgehoben resp. transformiert, dass sich der „anfänglich menschenverlassene, einsame und öde Weg (V. 26: πορεύομαι + ὁδὸς + ἔρημος) für den Eunuchen tatsächlich in einen Weg der Freude verwandelt (V. 39: πορεύομαι + ὁδὸς + χαίρων).“44 Verse 28–29 und 36.38 entsprechen sich durch die geistgeleitete Begegnung der beiden Protagonisten sowie durch die Bewegung sowohl hin zum Wagen des Äthiopiers als auch weg von diesem.45 Verse 30–31 und 34–35 beinhalten jeweils Gespräche über den Jesajatext als auch dessen Auslegung. Die konzentrische Beziehung dieser Verse wird in V.34 insbesondere dadurch unterstrichen, dass der Eunuch mit seiner Rückfrage (ἀποκριθεὶς δὲ ὁ εὐνοῦχος τῷ Φιλίππῳ εἶπεν) unmittelbar an die vorangegangene Frage des Philippus (ἆρά γε γινώσκεις ἃ ἀναγινώσκεις) anknüpft. 46 Das strukturelle Zentrum und die Textmitte der vierzehn Verse langen Perikope aus Apg 8,26–40 bilden in dieser konzentrischen Struktur somit die alttestamentlichen Worte aus Jes 53,7–8. Doch nicht genug damit, dass die kunstvolle konzentrische Komposition der Erzählung das Schriftzitat aus Jes 53,7–8 narrativ im Zentrum der Perikope positioniert. Es lässt sich noch einen Schritt weitergehen. Zählt man die Wörter des Textes und wertet diese hinsichtlich der herausgearbeiteten konzentrischen Struktur der Perikope aus, kommt man zu einem m. E. verblüffenden Ergebnis: Die Erzählung aus Apg 8,26–40 besteht nach dem griechischen Text des Novum Testamentum Graece (28. Aufl.) aus insgesamt 279 Wörtern. Von diesen 279 Wörtern umfasst das zitierte Schriftwort aus Jes 53,7–8 in den Versen 32b–33 exakt 40 Wörter. Die drei dem Schriftzitat vorangehenden Abschnitte A, B und C, d. h. die Verse 26–31 und die Einleitung des Schriftzitats in Vers 32a, umfassen zusammengenommen exakt 120 Wörter. Und schließlich umfassen die drei dem Schriftzitat nachfolgenden Abschnitte A´, B´ und C´, d. h. die Verse 34–40, insgesamt 119 Wörter.47 Graphisch lassen sich die Beobachtungen hinsichtlich der Komposition und der Struktur des Textes aus Apg 8,26–40 wie folgt abbilden:

44 45

46 47

Genz, Jesaja 53, 154. Mit Blick auf das Geistwirken sowohl in der Herstellung der Begegnung der beiden als auch in der Taufe des Äthiopiers kann mit Genz, Jesaja 53, 118, festgehalten werden: „Dieser Bezug darf nicht übersehen werden, denn er stellt den theologisch höchst bedeutsamen Sachverhalt heraus, dass aller Initiative des Menschen die Initiative Gottes vorausgeht.“ Vgl. a. a. O., 110. Vgl. hierzu auch Malte Cramer: Die Präzedenz der Schrift. Zur Positionierung der biblischen Schriften in Theologie und Kirche, in: Peter Wick/Malte Cramer (Hg.), Allein die Schrift? Neue Perspektiven auf eine Hermeneutik für Kirche und Gesellschaft, Stuttgart 2019, 9–23.

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A

V.26–27

B

V.28–29

C

V.30–31

D

V.32–33



V.34–35

B´ A´

120 Wörter (26–32a)

V.36.38 V.39–40

40 Wörter (32b–33) 119 Wörter (34–36.38–40)

Die narrativ und sprachlich kunstvoll, bis ins Detail abgestimmte Komposition des Textes aus Apg 8,26–40 führt vor Augen: Genau im Zentrum des Bibeltextes, der wie kein anderer für das Thema Schrifthermeneutik steht und paradigmatisch nach dem Verstehen der Heiligen Schrift fragt, steht die Schrift selbst. Darüber hinaus bildet sie nicht nur im Aufbau der Erzählung das Zentrum, sondern die Schrift „ist auch für die Gesamtbedeutung der narratio zentral.“48 Die Schrift ist sowohl der strukturelle Mittelpunkt des Textes, als auch der inhaltliche Referenzpunkt erstens für die Ausgangsfrage des Philippus, zweitens für das Fragen nach der korrekten Interpretation des Prophetentextes durch den äthiopischen Eunuchen, drittens für die christologische Interpretation des Philippus49 und schließlich viertens für den Wunsch des Äthiopiers getauft zu werden.50

48 49

50

Genz, Jesaja 53, 96. Man beachte insbesondere die Formulierung ἀρξάμενος ἀπὸ τῆς γραφῆς (V.35). Ähnliche Formulierungen finden sich in Lk 4,21, Apg 17,2f; 28,23. Auch dort wird jeweils ausgehend von der Schrift die Verkündigung des Evangeliums vollzogen. „Der Äthiopier hört die Christusbotschaft ausgehend von Jes 53, glaubt und wird getauft. Dieser Zusammenhang von Hören, Glauben und Taufe ist bei allen Taufaussagen der Apostelgeschichte gängiges Muster. Die Besonderheit von Apg 8,26–40 besteht jedoch darin, dass der entscheidende Bezugspunkt der in der Erzählung auch strukturell zentrale Jesaja-Text ist.“ Genz, Jesaja 53, 132.

Die Schrift im Zentrum

4.

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Fazit – Impulse für eine interkulturelle Bibelhermeneutik

Der Text aus Apg 8,26–40 hat sich aus unterschiedlichen Perspektiven als lohnenswerter Untersuchungsgegenstand erwiesen. Dies gilt zum einen hinsichtlich der Interkulturalität des Textes: Der Erzählung ist eine für das Neue Testament außergewöhnliche interkulturelle Dimension inhärent. In der Person des äthiopischen Eunuchen überschreitet der betrachtete Text die Grenzen des damaligen, durch den Hellenismus bestimmten kulturellen Makrokontext und nimmt die Welt an den Rändern resp. jenseits der Oikumene (οἰκουμένη) in den Blick.51 Zum anderen gilt dies mit Blick auf das Thema Bibelhermeneutik: Die Erzählung aus Apg 8,26–40 ist wie kaum eine andere im Neuen Testament verbunden mit den Themen Schriftauslegung und Bibelinterpretation. Dies hängt nicht bloß mit der wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich bedeutsamen Frage des Philippus zusammen, sondern maßgeblich mit der inneren Struktur und Komposition des Textes selbst. In paradigmatischer Weise steht im Zentrum der Perikope das Schriftzitat aus Jes 53,7–8. Die Schrift selbst steht damit im Mittelpunkt der interkulturellen Begegnung zwischen dem Apostel Philippus und dem äthiopischen Beamten. Summa sumarum handelt es sich somit bei der Erzählung aus Apg 8,26–40 um ein bemerkenswertes biblisches Beispiel für eine interkulturelle Schriftauslegung bzw. für eine Schriftauslegung im Kontext einer interkulturellen Begegnung. Ausgehend von diesen zentralen Beobachtungen sollen zum Abschluss vier mögliche Impulse für das weitere Nachdenken über interkulturelle Bibelhermeneutik im Speziellen bzw. über Bibelhermeneutik im Allgemeinen benannt werden: 1. Hermeneutische Offenheit und epistemische Demut: Die Voraussetzung einer jeden interkulturellen Begegnung und damit auch einer interkulturellen Bibelhermeneutik ist der Mut zum Aufbrechen und Entdecken sowie die Neugier und die Offenheit für das bislang Unbekannte. Denn ohne die reale Begegnung mit den mir selbst unvertrauten Perspektiven auf die Bibel und ihre Texte sowie den lebendigen Austausch mit den Menschen dahinter, fehlt einer interkulturellen Schriftauslegung im eigentlichen Sinne der Gehalt. In Apg 8,26–40 ist es nicht nur Philippus, der sich durch den Geist Gottes an den Rand seines eigenen primären Kulturraums und in die Begegnung mit einem Fremden führen lässt. Sondern mehr noch beweist der äthiopische Mann großen Mut und Offenheit, indem er geographische und kulturelle Grenzen überschreitet und sich auf eine lange Reise begibt, um dem Gott Israels, dem Glauben an ihn und der Bedeutung der Heiligen Texte, die 51

Vgl. Klaus Geus, Art. Oikoumene/Orbis Terrarum, in: Ders., Oxford Research Encyclopedia of Classics, Oxford 2016.

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Malte Cramer

von ihm sprechen, näher zu kommen. Blicken wir von unserem Text aus Apg 8,26–40 in die Gegenwart, so können sowohl akademische Theologie als auch kirchliche Praxis den Impuls mitnehmen, sich immer wieder neu und unvoreingenommen für bis dato unbekannte kulturelle Kontexte und deren hermeneutische Zugänge zu öffnen, um die biblischen Texte aus anderen Blickwinkeln und unter neuen Gesichtspunkten zu lesen. Und wer weiß, vielleicht vermag die Öffnung gegenüber neuen Perspektiven der Bibelauslegung, sogar den ein oder anderen öden oder verstaubten Weg (V.26: τὴν ὁδὸν … , αὕτη ἐστὶν ἔρημος) unserer eigenen theologischen oder kirchlichen Tradition zu einer Wasserstelle zu führen (V.36) und letztendlich sogar wieder in einen Weg der Freude zu transformieren (V.39: ἐπορεύετο γὰρ τὴν ὁδὸν αὐτοῦ χαίρων) – ganz so, wie es sich auch in Apg 8,26–40 ereignet. 2. Egalitäre Begegnung und Gemeinschaft auf Augenhöhe: Die Erzählung aus Apg 8,26–40 kann durchaus als eine Begebenheit interpretiert werden, in der Philippus die Rolle des Gebenden bzw. des Lehrers und der äthiopische Mann die des Empfangenden bzw. des Lernenden einnimmt. Allzumal in der Taufe des Eunuchen (V.38) mag dies vermeintlich offensichtlich erscheinen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass es zuvor der privilegierte und auf einem Reisewagen sitzende hohe Beamte der äthiopischen Königin ist, der dem einfachen Passanten Philippus einen Platz neben ihm anbietet, sodass dieser nicht länger auf der staubigen und von der Mittagshitze gesengten Straße laufen muss. Bevor Philippus den Äthiopier teilhaben lässt an seiner Schriftkenntnis und an dem Wissen um das Evangelium Jesu, lässt der Äthiopier den Apostel an seinen Privilegien partizipieren und holt ihn zu sich auf den Wagen (V.31). Dem darauffolgenden Akt der Schriftlesung (V.32–33) und Schriftauslegung (V.34–35) wohnt auf diese Weise sowohl ein egalitäres als auch gemeinschaftsstiftendes Moment inne. Eine solche Begegnung auf Augenhöhe sollte auch für gegenwärtige Projekte interkultureller Bibelauslegung konstitutiv sein – ganz gleich, ob sie nun auf akademischer oder kirchlicher Ebene angesiedelt sind. 3. Die Präzedenz der Schrift: Der Diskurs um die verschiedenen Dimensionen kontextueller und interkulturellen Bibelhermeneutik ist nicht zuletzt von der Frage nach der Positionierung und der prinzipiellen Relevanz der Bibel und ihrer Schriften im jeweiligen theologischen und kirchlichen Kontext geprägt.52 Der Text aus Apg 8,26–40 gibt auf die Frage, welche Stellung und welche Rolle der Schrift zukommt, eine eindeutige Antwort: Die Schrift steht im Zentrum. Die gemeinsame Lektüre des Bibeltextes aus Jes 53,7–8 (V.33–34) bildet den Mittelpunkt der interkulturellen Begegnung zwischen Philippus 52

Vgl. Malte Cramer/Peter Wick: Das Biblische Gespräch. Hermeneutische Relfexionen einer dialogischen Bibeldidaktik, in: Esther Brünenberg-Bußwolder u. a. (Hg.), Neues Testament im Dialog. Festschrift für Thomas Söding zum 65. Geburtstag, Freiburg u. a. 2021, 332–348, 340.

Die Schrift im Zentrum

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und dem äthiopischen Mann. Sie ist sowohl der Ausgangspunkt des Gesprächs der beiden Protagonisten (V.30–31) als auch der Bezugspunkt der anschließenden Auslegung und Verkündigung des Evangeliums Jesu (V.34– 35). Mit Blick auf eine gegenwärtige Bibelhermeneutik kann die Erzählung aus Apg 8,26–40 den Impuls liefern, die biblischen Schriften selbst immer wieder neu in das Zentrum theologischen Denkens und Diskutierens zu stellen und sie im Sinne einer Präzedenz der Schrift als Ausgangs- und Referenzpunkt der jeweils neu einsetzenden Deutungsprozesse festzusetzen.53 4. Der biblische Kanon als interkultureller Konversationsraum: Die Bibel ist ein Gespräch; und zwar ein Gespräch Gottes. Dies gilt in zweifacher Hinsicht: Zum einen ist die Bibel ein Gespräch Gottes im Sinne eines Genitivus Subjektivus bzw. Genitivus Auctoris, d. h. ein Gespräch, das in Gott seinen Ursprung hat und von Gott ausgeht. Im Gespräch, das die Bibel ist, kommt Gott selbst zu Wort. Seine Stimme wird im Gespräch der Bibel hörbar. Zum anderen ist die Bibel ein Gespräch Gottes im Sinne eines Genitivus Objektivus, d. h. ein Gespräch über resp. von Gott.54 Dieses Gespräch ist geprägt durch Polyphonie.55 Viele verschiedene Stimmen aus unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen kulturellen Kontexten kommen in ihm zu Wort.56 Der biblische Kanon eröffnet auf diese Weise einen Konversationsraum, in den sich folglich auch jede und jeder hineinbegibt, der oder die heute die Bibel liest und interpretiert. Und dies ganz unabhängig von dem jeweiligen kulturellen und bildungsbiographischen Hintergrund oder dem jeweiligen Kontext, in dem die Auseinandersetzung mit der Bibel geschieht. „Die Bibel in dieser Weise als

53

54 55 56

„Scripture first! im Sinne einer Präzedenz der Schrift, welche die Operatorenrangfolge theologischen Denkens und kirchlichen Handelns festlegt, markiert den Ausgangspunkt, von dem aus Theologie getrieben werden soll, den Bezugspunkt, auf den hin Theologie sich auszurichten hat und das kritische Korrektiv, von dem her Theologie sich immer wieder neu regulieren und kontrollieren lassen muss.“ Cramer, Präzedenz, 21. Vgl. hierzu auch Cramer/Wick, Gespräch, 340f.; Peter Wick, Vom sola scriptura-Prinzip zu einem Prä der Heiligen Schrift, in: Ders./Malte Cramer (Hg.), Allein die Schrift? Neue Perspektiven auf eine Hermeneutik für Kirche und Gesellschaft, Stuttgart 2019, 63–76; Peter Wick, Wie beeinflussen traditionelle (mentale) Bilder die Lektüre biblischer Texte? Überlegungen aus exegetischer Sicht, in: Ders./Malte Cramer (Hg.), Allein die Schrift? Neue Perspektiven auf eine Hermeneutik für Kirche und Gesellschaft, Stuttgart 2019, 77–88. Vgl. Cramer/Wick, Gespräch, 341ff. Vgl. zu diesem Aspekt insbesondere die ersten drei Beiträge bei Gerd Theißen, Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik, Berlin/Münster 2014. Vgl. hierzu Gerd Theißen, Polyphone Hermeneutik – ein Nachklang der Bibelauslegung aus vielen Jahrhunderten, jetzt in: Ders.: Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik, Berlin/Münster 2014, 21–64, 21: „Die Bibel ist ein polyphones Kunstwerk. In ihr finden wir vielfältige Stimmen, die z. T. einander widersprechen. Dennoch klingen sie zusammen. Manche Stimmen werden korrigiert, einige weitergeschrieben, andere zusammen mit ihrem Gegenteil tradiert. Das Ganze ergibt eine strukturierte Pluralität.“

Malte Cramer

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Konversationsraum zu verstehen, die durch ihren Gebrauch als Schrift in unterschiedlichen Kontexten des Gottesdienstes, der Predigt, der Unterweisung und der akademischen Disputation ins Gespräch gebracht wird, deckt in der Schrift einen den Lesenden und Hörenden ins Gespräch ziehenden Duktus auf, der sich deutlich unterscheidet von dem Gebrauch der Bibel als Geschichtsbuch, Lehrbuch oder Rechtsbuch.“57

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57

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Die Schrift im Zentrum

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In verschiedenen Kontexten gelesen Das Johannesevangelium Carsten Jochum-Bortfeld

Dieser Beitrag hat unterschiedliche Auslegungen und Zugänge zum Johannesevangelium zum Thema. Ausgehend von der Lektüre Musa W. Dubes, die in postkolonialer Perspektive auf das Evangelium schaut, werden hier zwei prägende Ansätze aus dem deutschsprachigen Kontext zum Verstehen des 4. Evangeliums eingehender dargestellt. In Dubes Perspektive ist das Johannesevangelium ein Text, der stark von kolonialen Vorstellungen und Strukturen geprägt ist. Ihre Lektüre des Johannesevangeliums soll neben die von Ferdinand C. Baur und von Rudolf Bultmann gestellt werden. Die Auslegungen dieser beiden deutschen Theologen sind, wie bei vielen anderen Theolog:innen auch, geprägt von eurozentrischen Denkmustern, die das Eigene zum alleingültigen Maßstab für alles andere machen – Standards, die interkulturelle und interreligiöse Zugänge zu biblischen Texten und Traditionen erschweren oder gar verhindern. Einer Auslegung, wie Dube sie vertritt, hätten beide Vertreter deutscher, europäischer Theologie sicherlich abwehrend gegenüber gestanden, weil sie wahrscheinlich das Problem, mit dem sich Dube beschäftigt, gar nicht als solches wahrnehmen konnten. In einem weiteren Abschnitt werde ich solchen eurozentrischen Theologien die Kategorie des Anderen, wie sie der Philosoph Enrique Dussel in seinen Veröffentlichungen entwickelt hat, gegenüberstellen. Dussel macht die ausgegrenzten Anderen und die Überwindung dieser Exklusion zu zentralen Elementen seiner Philosophie der Befreiung. Abschließend wird Dubes Verständnis von Joh 4 mit einer Auslegung von Luise Schottroff aus sozialgeschichtlicher und feministisch bzw. befreiungstheologischer Perspektive in Beziehung gesetzt.

1.

Das Johannesevangelium – ein kolonialer Text

Für Dube hat ein Text wie Joh 4,1–42 das Potential, imperialistische Ideologien zu unterstützen und zu fördern. Die Bibel, sie war selbstverständlich im Gepäck der europäischen Eroberer, sie war ein Werkzeug bei der Kolonisierung Afrikas

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Carsten Jochum-Bortfeld

und anderer Länder dieser Welt. In der Sicht Dubes liegt dem aber kein Missverständnis der Bibel durch die europäischen Kolonisator:innen zugrunde. Gerade Texte, die die Verbreitung der Botschaft Jesu zum Thema haben – sie unterstützen die Logik europäischer Kolonisation, Texte wie Joh 4,1–42: Es sind gerade die Verse 37–38, die für Dube Joh 4 zu einem Text machen, der einen kolonialen Blick auf die Welt unterstützt und sogar legitimiert: „Look around you, and see how the fields are ripe for harvesting. … One sows, another reaps. I sent you to reap that for which did not labor. Others have labored, and you have entered into their labor.“1 Das Bild des Erntens dessen, was man nicht gesät hat, macht deutlich: Es geht hier um die Aneignung von Besitz von anderen, den Früchten eines fremden Landes. Dazu haben die Jünger einen Auftrag, von höherer Stelle. Der Auftrag reflektiert die ungleichen Machtverhältnisse – zu ernten, was sie nicht gesät haben. Diejenigen, die mit den abzuerntenden Feldern gemeint sind, die Bewohner:innen Samarias, werden hier als passive Menschen gezeichnet. Der Auftraggeber zu dieser Mission wird in Joh 4,42 als ‚Retter der Welt‘ charakterisiert, und zwar von einem der zu missionierenden Menschen, der Frau am Brunnen. „This characterization distances the disciples from any self-interest and projects an imperial ideology that portrays the colonized as people who ‚require and beseech for domination‘ and the colonizer as people with a moral ‚duty to the natives‘.“2 Das Retten der Welt – in den Augen Dubes eine typisch koloniale Mission. Nach Dube lassen sich einige typische Merkmale kolonialen Denkens und Handelns in Joh 4 finden: a) „Jesus and his disciples are authorized travelers ‚from above‘ (3.34, 8.26, 20.21-23). Their travel is linked with expansion, and it is both locally and ‚globally‘ oriented.“3 b) Diese Reisenden, insbesondere Jesus, verfügen über höheres Wissen, hier im religiösen Bereich. Ein Wissen, das sie den Anderen bringen müssen, denn diesen mangelt es an einem solchen Wissen. Die Gegenüberstellung von Joh 4,10 („You worship what you do not know“) und 4,23 („We worship what we know“) charakterisiert die Samaritanerin als „ignorant native“4. c) Dass eine Frau Repräsentantin eines Landes ist, stellt nach Dube ein prägendes Merkmal kolonialer Ideologien dar. Das zu erobernde Land hat die Gestalt einer Frau, das von den männlichen Kolonisatoren in Besitz genommen wird, so wie ein Mann eine Frau in Besitz nimmt.5 Samaria wird zwar von 1

2 3 4 5

Musa W. Dube, Reading for Decolonization (Joh 4,1–42), in: Musa W. Dube/Jeffrey L. Staley, John and Postcolonialism. Travel, Space and Power, The Bible and Postcolonialism 7, Sheffield 2002, 51–75 (60). Dube, Reading, 65. A. a. O., 66. Ebd. Vgl. a. a. O., 67f.

In verschiedenen Kontexten gelesen

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Jesus nicht im militärischen Sinne erobert, aber es geht um die Anerkennung seiner besonderen religiösen Autorität seitens der dortigen Bewohner:innen. Die Samaritanerin verstummt im Laufe der Erzählung: Nachdem sie den Bewohnern ihres Dorfes Jesus als Christus vorgestellt und verkündet hat, bestimmen Jesus, seine männlichen Jünger und die zu Christus Bekehrten die Szenerie. d) Das, was der Weltenretter Jesus vertritt, und in dessen Dienst er seine Schüler nimmt, versieht das 4. Evangelium, darauf weist Dube hin, in Joh 4,24 mit den hoch aufgeladenen Begriffen ‚Geist‘ und ‚Wahrheit‘. Gerade mit Blick auf den Begriff „Wahrheit“ wird dem Inhalt des Evangeliums eine besondere Bedeutung gegeben: „It reflects the installation of Christianity as a universal religion: an installation that proceeds by disavowing all geographical boundaries in order to claim power over the ‚world‘ and relegate all other religions and cultures to inadequacy.“6 Universale Religion – das ist ein zentrales Element der Philosophie Hegels. Sie hat für die Theologie Baurs eine herausragende Bedeutung. Joh 4 stellt in den Augen Dubes eine Legitimationsbasis christlicher Mission dar, christliche Mission, die in andere Länder reist, dort die Menschen erzieht und die Früchte der bereisten (und eroberten) Länder für die christlichen Nationen erntet. Dubes Exegese basiert u. a. auf der Untersuchung kolonialer Literatur, in der häufig die Inbesitznahme und Beherrschung fremder Räume in einem Reisesetting dargestellt und erzählt werden: Für die Antike nennt Dube die Odyssee und die Aeneis, für die Neuzeit und Moderne verweist sie auf die zahllosen Berichte sog. Entdecker.7 Das Johannesevangelium partizipiere mit seiner Erzählung von der Reise Jesu, auf der er seine Mission als Weltenrettter betreibt, an diesen Traditionen und Vorstellungen. Sie selbst macht deutlich, dass sie ihre Auslegung im Kontext der Geschichte des Imperialismus betreibt, und zwar aus der Perspektive einer Frau aus Botswana: „My reading for decolonization arises from the historical encounter of Christian text functioning compatibly with colonialism, of the Bible functioning as the ‚talisman‘ in imperial possesion of foreign places and people.“8 Dieser Kontext erlaube niemanden sich dem Problem der christlichen Legitimation des Imperialismus zu entziehen. Eine neutrale Haltung sei nicht möglich. Entweder man stelle die andauernde Dominanz der westlichen Kultur in Frage, um diese aufzubrechen, oder man akzeptiere ihre Überlegenheit.9 Die Reflexion des eigenen Kontextes im postkolonialen südlichen Afrika ermöglicht es, so lese ich den Text von Dube, bestimmte Implikationen von Joh 4 6 7 8 9

A. a. O., 70. Vgl. a. a. O., 51–58. A. a. O., 60. Vgl. a. a. O., 58 mit Verweis auf Edward W. Said, Culture and Imperialism, London 1994, 68.

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Carsten Jochum-Bortfeld

und des ganzen Johannesevangeliums zu erkennen. Ich möchte den Ausführungen von Dube meine Überlegungen zu einigen wenigen, aber markanten Etappen der Auslegungsgeschichte des Johannesevangeliums an die Seite stellen.10 Das hilft den Zusammenhang von Christentum und Kolonialismus bzw. Imperialismus noch differenzierter in den Blick zu nehmen. Die weltweiten „Zivilisierungsmissionen“11 Europas und Nordamerikas wurden von einer Kultur getragen, die durch und durch christlich war. Theologen prägten mit ihren Forschungen und Texten diese Kultur mit und partizipierten daran, auch wenn sie Afrika nie betreten haben oder ihre Heimatländer in keiner Weise mit den Protagonisten imperialer/kolonialer Politik in Kontakt standen. Baur und Bultmann schufen Denkformen und Wissenschaftssysteme, die einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit vertraten (man möchte fast sagen: Sie vertraten einen totalen Anspruch) und so an der Ausbildung und Verfestigung kolonialer Denk- und Handlungsformen beteiligt waren.

2.

Ferdinand Christian Baur

Baurs umfangreiches Werk ist vom einem evolutionistischen Geschichtsbild geprägt, und zwar in deutlicher Anlehnung an die Geschichtsphilosophie Hegels.12 Dieses Geschichtsbild ist dabei nicht wertfrei, sondern bildet eine normative Basis zur Bewertung von Phasen und Gruppen in der menschlichen Geschichte. Baur will zeigen, dass das Christentum eine besonders hoch entwickelte Form von Religion ist. Das Johannesevangelium ist für Baur die neutestamentli-

10

11 12

Zur Berücksichtigung der Auslegungsgeschichte in postkolonialer Exegese vgl. auch Rasiah S. Sugirtharajah, The Bible and the Third World. Precolonial, Colonial and Postcolonial Encounters, Cambridge/UK 2001, 255–257: „The aim here is to draw attention to the inescapable effects of colonization and colonial ideologies on interpretative works such as commentarial writings“. (255) In diesem Beitrag sollen anhand von Baur und Bultmann stärker die koloniale Prägung der den exegetischen Arbeiten zugrunde liegenden wissenschaftlichen Grundannahmen (hier die Philosophien Hegels und Heideggers) zum Thema gemacht werden. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 1173. Zur Adaption Hegelscher Geschichtsphilosophie bei Baur vgl. Ferdinand Christian Baur, Das Christentum und die Kirche der drei ersten Jahrhunderte. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben Bd. 3, Stuttgart/Bad Canstatt 1966, 42–174. Zur Bedeutung der Kategorie der Entwicklung bei Hegel vgl. Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie, Berlin 2007, 203. Zum Problem des Geschichtsbild als normative Basis zur Bewertung anderer vgl. Carsten Jochum-Bortfeld, „So schwer liegt die Macht der Finsterniß auf dem Judenthum“. Zum Bild des Judentums in der Kommentierung des Johannesevangeliums von Ferdinand Christian Baur, in: KuI 25 (2010), 34–46 (41f).

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che Schrift, an der sich das sehr gut zeigen lässt. In mehreren seiner Veröffentlichungen findet sich das, was Baur mit Hegel als absolute Form der Religion versteht: „Die Mittheilung des wahren Gottesbewusstseins im Christenthum besteht darin, dass Gott als reiner Geist erkannt ist, und somit auch der Mensch nur in einem rein geistigen Verhältniss zu ihm stehen kann. Das Christenthum ist daher die Erhebung des Bewusstseins in die Sphäre reiner Geistigkeit, in welcher Gott als Geist gewusst wird, und alles Particuläre und Beschränkende in der Allgemeinheit der Idee Gottes aufgehoben ist.“13 Diese Form der reinen Geistigkeit einer Religion ist die absolute Form von Religion. Diese Vorstellung vom Geist stellt die theologische Rezeption dessen dar, was Hegel den Weltgeist nennt:14 Der Weltgeist ist in gewissem Sinne die Zusammenschau und Summe menschlichen Denkens zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte des Menschheit. Dieses menschliche Denken verändert sich in der Geschichte, in Korrespondenz mit den Veränderungen in der Welt. Die Entwicklung menschlichen Denkens wollte Hegel nachzeichnen, und zwar als Entwicklung zum Besseren. Menschliche Geschichte stellt für ihn einen Fortschritt dar. Das beinhaltet die Aufforderung an die Menschen in ihrer jeweiligen Gegenwart an dieser Entwicklung zu partizipieren, den Fortschritt voranzutreiben. Baur überträgt das, angestiftet von Hegels Religionsphilosophie, in das religiöse Feld.15 Es geht ihm um den Fortschritt innerhalb der Religionsformen. Dabei ist ein Bereich die Entwicklung vom Polytheismus zum Monotheismus. Hier findet sich für Baur der Beitrag des Alten Testaments zur religiösen Entwicklung der Menschheit: Der Glaube an einen einzigen Gott wird im Alten Testament zu einem zentralen Punkt von Religion. Diesen Monotheismus des Alten Testaments bewertet Baur als Fortschritt.16 Ein anderer Aspekt der Entwicklung von Religion ist die Entwicklung vom Sinnlichen zum Geistigen, vom Partikularen zum Universalen. Diese Entwicklungskategorien sind für Baurs Exegese des Johannesevangeliums zentral. Das Johannesevangelium ist für Baur die neutestamentliche Schrift, die die Vorstellung, dass Gott Geist ist, am konsequentesten vertritt. Gott als Geist wird den Menschen in der geschichtlichen Gestalt Jesus v. Nazareth vermittelt und offenbart. Gott ist Geist, der überall und nicht nur im Volk Israel gegenwärtig ist und wirkt. Aufgabe der Menschen ist es, dieses wahrzunehmen, intellektuell nachzuvollziehen und dann anzuerkennen. Die Samaritanerin in Joh 4 wird in der Sicht Baurs genau vor die diese Aufgabe gestellt: „ Gott ist Geist, und die ihn anbeten, 13 14 15 16

Ferdinand Christian Baur, Vorlesungen über neutestamentliche Theologie, hg. von Ferdinand Friedrich Baur, Darmstadt 1973, 403. Vgl. u. a. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke 12, Frankfurt a. M. 1986, 72–74.96–97. Vgl. Carsten Jochum-Bortfeld, Finsterniß, 40f. Vgl. Baur, Theologie, 389f.

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die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ (Joh 4,24) In Joh 4 wird exemplarisch erzählt, wie die wahre Religion, die die Menschen annehmen müssen, aussieht. Baur meint am 4. Evangelium zeigen zu können, dass das Judentum genau dazu nicht in der Lage war. Beispielhaft wird dies an seiner Auslegung einer Episode aus Joh 3 deutlich: Dort findet während der Nacht eine Begegnung zwischen einem Pharisäer, Nikodemeus, und Jesus statt. Nikodemus wendet sich in der Dunkelheit an Jesus und erkennt ihn auf Grund seiner Wundertaten als Lehrer an. Für Baur ist das eine defizitäre Form des Glaubens. Juden wie Nikodemus verharren im Bereich der äußeren Dinge (der Wundertaten), des rein Sinnlichen. Sie gelangen nicht zur Erkenntnis des Geistes. Baur bezieht den Gegensatz ‚sinnlich‘ – ‚geistig‘ auf den von Licht und Finsternis, der das Evangelium von Beginn an durchzieht: Jesus ist das Licht der Welt (Joh 8,12). Er offenbart Gott als Geist. Jesus steht der Finsternis, der gottfeindlichen Sphäre, die im äußeren Sinnlichen verbleibt, gegenüber. Die Haltung des Nikodemus, der bei Nacht Jesus aufsucht, ordnet Baur dabei der Finsternis zu. „Wer das Princip der Finsterniß in sich hat, kann das Licht nur hassen, von ihm nur abgestoßen werden, wer dagegen das Princip des Lichts in sich hat, kann vom Lichte nur angezogen werden. Werden die Menschen auf diese Weise nach dem Gegensatz von beiden Principien Licht und Finsterniß klassificirt, so kann es kein Zweifel seyn, auf welche der beiden Seiten Nikodemus mit seinem äußerlichen, ungeistigen Glauben gehört. Es ist ein Glaube, welcher selbst nur eine Form desselben Unglaubens ist, in welchem es dem von der Macht der Finsterniß beherrschten jüdischen Volke durchaus an einem, für die geistige Aufgabe des messianischen Gottesreichs empfänglichen Sinne fehlt. Das Objekt des wahren Glaubens ist der für den Zweck des Glaubens … erhöhte Menschensohn, jener äußere Glaube aber richtet sich auf dieses Object, er hält sich nur an die semeia (CJB: Zeichen).“17 Das Judentum wird so innerhalb des Weltbildes des Johannesevangeliums zum Repräsentanten eines defizitären Glaubens: Es ist intellektuell unterentwickelt und gehört in die lebens- und gottesfeindliche Sphäre des Kosmos. Juden stellen so das gottfeindliche Prinzip dar. Daraus kann das Judentum in der Sicht Baurs nicht einfach aussteigen. Es ist von Natur aus unterentwickelt. Es ist von Natur aus eine lebensfeindliche Religion. Dies aufzuzeigen, ist für Baur ein zentrales Ziel des Wirkens Jesu unter den Menschen. 18 Die das Werk Baurs durch und durch prägende Fortschrittslogik zielt auf Europa ab. Damit befindet er sich ganz klar im Fahrwasser Hegelscher Philosophie.19 Europa und die europäische Kultur sind der Zielpunkt der Entwicklung 17 18 19

Ferdinand Christian Baur, Kritische Untersuchungen über die kanonischen Evangelien, ihr Verhältnis zu einander, ihren Ursprung und Charakter, Hildesheim 1999, 145. Vgl. a. a. O., 89f. Zum Eurozentrismus bei Baur vgl. Carina Pitschmann, Antisemitismus theologischer Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Zur Konstruktion des Judentums in „Das Christenthum und

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der Weltgeschichte und der Entwicklung menschlicher Kultur. Andere Gegenden dieser Welt sind unterentwickelt. Dies befördert eine koloniale Logik. Den Anderen muss die fortschrittliche Kultur gebracht werden, ansonsten droht von diesen Gefahr für die Entwickelten. Die Unterwickelten können den Fortschritt der höher Entwickelten zunichte machen. Dass die Unterentwickelten eine Gefahr darstellen, wird in der Betonung der johanneischen Dualismen bei Baur deutlich. Nikodemus ist Repräsentant der dunklen, lebensbedrohlichen Sphäre, das Gegenüber zum „Licht der Welt“. Nikodemus kann das, was Jesus bringt, nicht annehmen. Die Begegnung am Brunnen in Samaria stellt demgegenüber eine geglückte Aufnahme der Botschaft Jesu durch die Frau dar, auch wenn sie als Heidin zunächst auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe steht.20 Baur partizipiert mit seinen Texten an der Entwicklung, die Reinhart Kosselleck mit dem Begriff „Sattelzeit“ bezeichnet hat.21 Koselleck hat mit diesem Theoriekonzept den Übergang von früher Neuzeit zur Moderne beschrieben, der sich seiner Ansicht nach in einem tiefgreifenden Bedeutungswandel zentraler gesellschaftlicher Begrifflichkeiten zeigt. Ein Wandel ist die Ausprägung von Begriffen, die nur noch im Singular vorkommen, wie z. B. der Begriff ‚Fortschritt‘: „Mit der Bildung des Kollektivsingulars ‚Fortschritt‘, der sich dann nicht mehr auf spezifische Bereiche und partielle Erfahrungen beschränkt, wird aus den konkreten Geschichten der einzelnen Fortschritte schließlich der abstrakte Fortschritt der Geschichte überhaupt“.22 Der Fortschritt der Geschichte wird zum Maßstab der Bewertung der Völker und ihrer Geschichten in Afrika und Asien, den Brennpunkten des europäischen Imperialismus im 19. Jh. Jürgen Osterhammel kann sehr klar zeigen, wie in dieser Sattelzeit der europäische Blick auf Asien sich grundlegend ändert: Eine durchaus vorhandene neugierige Offenheit gegenüber den Ländern Asiens, ihrer Kultur und Geschichte wich einem Blick, der Asien insgesamt als degeneriert bewertete, reif für die zivilisatorische Arbeit Europas.23

20 21

22 23

die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte“ von Ferdinand Christian Baur, Forum Christen und Juden Bd. 14; Berlin u. a. 2016, 58–61. Vgl. Baur, Theologie, 389. Reinhart Koselleck, „Neuzeit“. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Reinhart Koselleck (Hg.), Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, 300–348. Zur ‚Sattelzeit‘ vgl. auch: Helge Jordheim, „Unzählbar viele Zeiten“. Die Sattelzeit im Spiegel der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: Hans Joas/Peter Vogt (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, 449–480. Zur Verortung Baur in den Folgen der ‚Sattelzeit‘ vgl. Pitschmann, Antisemitismus, 124f.150–153.172–177. Friedrich Rapp, Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee, Darmstadt 1992, 156. Vgl. Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, 375–404.

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3.

Carsten Jochum-Bortfeld

Rudolf Bultmann

Rudolf Bultmann hat mit seinen Arbeiten zum Johannesevangelium wie kein zweiter die Auslegung des 4. Evangeliums im 20. Jh. geprägt. Man kann sie als die exemplarische Umsetzung der existenzialen Auslegung des Neuen Testaments verstehen. Darin liegt meiner Meinung das große Problem: Bultmanns Texten zum Johannesevangelium liegt eine Anthropologie zugrunde, die für sich in Anspruch nimmt, allgemeingültige Aussagen über den Menschen zu treffen. Ein weißer, männlicher und deutscher Theologe definiert damit Grundfragen der menschlichen Existenz für den Rest der Welt. Bultmanns existenziale Interpretation des Neuen Testaments hat in der Existenzphilosophie Martin Heideggers einen zentralen und maßgebenden Bezugspunkt. Heideggers Philosophie der 1920er Jahre kann mit Wolfram Eilenberger als Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch?“ verstanden werden, als eine Antwort, die für Heidegger grundsätzlichen und allgemeingültigen Charakter hat: So ist der Mensch – im Allgemeinen und Besonderen.24 Bultmann kennzeichnet die inhaltliche Nähe zu Heideggers Existenzverständnis an prominenter Stelle so: „Vor allem scheint Martin Heideggers existentiale Analyse des Daseins nur eine profane philosophische Darstellung der neutestamentlichen Anschauung vom menschlichen Dasein zu sein: der Mensch, geschichtlich existierend in der Sorge um sich selbst auf dem Grunde der Angst, jeweils im Augenblick der Entscheidung zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, ob er sich verlieren will an die Welt des Vorhandenen, des ‚man‘, oder ob er seine Eigentlichkeit gewinnen will in der Preisgabe aller Sicherungen und in der rückhaltlosen Freigabe für die Zukunft! Ist nicht so auch im Neuen Testament der Mensch verstanden?“25 Die Auslegung des Johannesevangeliums kann als Konkretion der existenzialen Interpretation des Neuen Testaments gesehen werden. Für Bultmann ereignet sich in der geschichtlichen Gestalt Jesu Gott, „die Wirklichkeit, die jenseits von Welt und Zeit liegt.“26 Dabei ist zentral, dass Gott nicht unmittelbar, sondern nur mittels des Offenbarers Jesus begegnet. Die christologische Spitze des Johannesevangeliums ist für Bultmann, dass Jesus der Offenbarer Gottes ist. 27 Damit erweise sich Gott als der prinzipiell Unverfügbare, der sich allen menschlichen Versuchen, Gott verfügbar zu machen, entziehe und diese zum 24 25 26 27

Vgl. Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie, Stuttgart 2019, 25–30. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, BEvTh 96, München 1988, 41. Rudolf Bultmann, Das Evangelium nach Johannes, KEK, Göttingen 1941, 16. Vgl. a. a. O., 47. Zum Johannesevangelium in der Theologie Bultmanns vgl. Michael Labahn, Johannes/Johanneische Theologie, in: Christof Landmesser (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 263–270.

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Scheitern verurteile. In der Sorge um seine Existenz versuche der Mensch, Gott gewissermaßen in „die Welt des Vorhandenen“28 zu ziehen. Damit verliere der Mensch, und das ist der besondere Clou bei Bultmann, seine eigene Existenz. Das Offenbarungshandeln Jesu im Johannesevangelium führe diese menschliche Existenzweise in die Krise. Gleichzeitig offenbare Jesus, dass der Mensch allein von Gott her leben kann.29 Diese beiden Möglichkeiten, menschliche Existenz zu leben (Verloren- und Verfallenheit an die Welt – Glaube an den nicht-weltlichen Gott) sind die sachliche Grundlage für die Dualismen im Johannesevangelium. Der Mensch ist für Bultmann in die Situation der Entscheidung gestellt, ob er in der Welt gefangen bleiben will und so seine Existenz verfehlt, oder „ob er seine Eigentlichkeit gewinnen will in der Preisgabe aller Sicherungen“30 im Glauben an den durch Christus offenbarten Gott. Diese theologische Grundstruktur des vierten Evangeliums bildet sich für Bultmann in Joh 4 ab. Die Offenbarung deckt das menschliche Sein auf. 31 Das reale Wasser des Jakobsbrunnens wird zum Sinnbild für die „Welt des Vorhandenen“. Dass Jesus Wasser gibt, das den Durst nach wahrem Leben löscht, bringt „dem Menschen die Unruhe seines Lebens zum Bewußtsein … , die ihn von einer scheinbaren Erfüllung zur andern treibt, und in der er nie ein Endgültiges erreicht, ehe er das Lebenswasser findet“.32 Dies können Menschen nur er- und begreifen, wenn sie sich durch das offenbarende Wort Gottes „aus der weltlichen Existenz“ heraus „in die eschatologische Existenz“33 hineinversetzen lassen. So deutet Bultmann Joh 4,24: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Die Samaritanerin versteht Jesus, so Bultmann, nur teilweise: Sie sei sich darüber im Klaren, „daß Jesus von einem eschatologischen Ereignis redet“.34 Dass der, den sie erst für die Zukunft erwartet, bereits mit ihr spricht, sei ihr aber nicht klar. Sie bleibe aber für Jesu Worte zugänglich. Die Worte Jesu („Ich bin’s, der mit dir redet“) richten sich über die Frau hinaus an alle Hörer: Sie werden durch die Worte Jesu, dass er der Offenbarer ist, vor die Entscheidung des Glaubens gestellt. Mit den Worten „Ich bin es“ erhebt er den „absoluten Anspruch auf Glauben.“35

28 29 30 31 32 33 34 35

Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 81980, 420. Vgl. a. a. O., 373. Bultmann, Mythologie, 34. Vgl. Bultmann, Johannes, 138. A. a. O., 138. A. a. O., 140 A. a. O., 141. A. a. O., 142.

192

4.

Carsten Jochum-Bortfeld

Fehlende Reflexion des Kontextes

Bultmanns Theologie kann als höchst produktiver Versuch verstanden werden, auf die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen der Krise nach dem 1. Weltkrieg aus theologischer Perspektive zu reagieren. Nur wird die Prägung durch diesen Kontext nicht von Bultmann selbst reflektiert. Dorothee Sölle kritisiert denn auch an der existenzialen Interpretation Bultmanns, dass diese „die Bedingungen des eigenen Vorverständnisses“36 nicht berücksichtige. Die Weltlosigkeit, die das Eschaton in Bultmanns Theologie präge, wirke sich negativ auf die Sicht auf den Menschen aus: Die existenziale Interpretation „versäumt … es, die Prägung des Menschen durch seine Vergangenheit, durch Herkunft und Ort, die Unfreiheit, die darin besteht, daß wir aus einer bestimmten Gesellschaft kommen, zu reflektieren, wiewohl sie im Begriff der Geschichtlichkeit der Existenz an dieser konkreten Unfreiheit theoretisch festhält.“37 Aber diese Geschichtlichkeit erfährt keine gesellschaftlichen Konkretionen: Nicht nur wird überhaupt nicht gesagt, aus welcher Situation heraus Menschen befreit werden. Noch viel unkonkreter ist das Wohin – und das wird in der Auslegung des Johannesevangeliums überaus deutlich: Geht es wirklich nur um das „Dass“ des Gekommenseins des Offenbarers? Sölle geht es hier um die „Preisgabe der jüdischpropehtischen Gestalt der Hoffnung“ und um „die Zurückdrängung des historischen Jesus“38. Man könnte sehr einfach sagen: Die biblischen Texte sprechen sehr viel konkreter, eingebettet in geschichtliche Erfahrungen, von dem, was sie für die Zukunft erhoffen. Rückblickend spitzt Sölle später die Kritik an Bultmann zu: „Bultmann denkt im Bannkreis eines bürgerlichen Verständnisses von Wissenschaft als zeitenthoben und objektivierend.“39 Diese Kritik Sölles ist auch in interkulturellen Zusammenhängen von großer Bedeutung. Das zeigt Bultmanns Reaktion auf Sölles Kritik: Er versucht sich mit ihrer Vorstellung von struktureller Sünde auseinanderzusetzen. Auf ihre Konkretion der Vorstellung von struktureller Sünde ( „Mit jeder Banane, die ich esse, betrüge ich diejenigen, die sie anbauen, um den wichtigeren, größeren Teil ihres Lohnes und unterstütze die United Fruit Company bei ihrer Ausplünderung Lateinamerikas.“40) reagiert Bultmann in einem Brief mit dem Verweis darauf, dass die Bananenbauern wegen der schlechten Bezahlung doch rechtliche Schritte

36 37 38 39 40

Dorothee Sölle, Politische Theologie. Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann, Stuttgart/Berlin 1971, 60. Ebd. A. a. O., 69. Dorothee Sölle, Gegenwind. Erinnerungen, München/Zürich 62004, 58. Sölle, Theologie, 108.

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gehen oder streiken können.41 Dass für Menschen im globalen Süden der Rechtsweg und der Streik häufig wegen der Machtverhältnisse ausgeschlossen sind – das liegt jenseits der Vorstellungswelt des emeritierten deutschen Theologen, der wie selbstverständlich von einem weltweit gültigem Streikrecht nebst funktionierender Justiz ausgeht. Er kann sich nicht in die Wirklichkeit der Menschen in Lateinamerika hineindenken. Das Problem ist: Die existenziale Hermeneutik sieht das nicht einmal vor.42 Sie geht von einer für alle Menschen gleichen Grundannahme aus. Das Problem vieler Menschen, die auch heute noch unter Folgen europäischer und nordamerikanischer Kolonialherrschaft leiden, ist nicht, dass sie ihre Existenz auf den falschen weltlichen Sicherheiten gründen. Die existenziale Hermeneutik geht schon in der Zeit, in der sie entsteht, global gesehen an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen völlig vorbei. Das koloniale System beutet Menschen aus, raubt ihnen die Lebensgrundlagen und grenzt sie aus.

5.

Die Bedeutung der Anderen

Die bedrängte und lebensbedrohliche Lage der Anderen kann meiner Meinung nach für interkulturelle Hermeneutik eine zentrale Rolle spielen. Das möchte ich mit Hilfe von Enrique Dussel kurz ausführen. Die Entwicklung seiner Befreiungsethik im Zusammenhang seiner Philosophie der Befreiung43 hat in der Bedeutung der Anderen ein zentrales Element: die Anderen, die Opfer des globalen Systems, deren Leiden in der westlichen Öffentlichkeit ignoriert oder einfach hingenommen werden. Das Leiden der Anderen ist für Dussel der mitleidende Beweggrund seiner philosophischen Ethik. Gerade gegen diskursethische Ansätze hat er eingewandt, dass deren formale Prinzipien die Exklusion dieser ver41 42

43

Vgl. Sölle, Gegenwind, 58; zur Auseinandersetzung Sölles mit Bultmann vgl. Renate Wind, Dorothee Sölle. Rebellin und Mystikerin. Die Biographie, Stuttgart 2008 , 97. Mehr oder weniger zeitgleich entwickelt Bultmanns ehemalige Studentin Hannah Arendt in ihren Überlegungen zum Urteilen die Vorstellung von der Einbildungskraft: „Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie so mit repräsentiere.“ (Hannah Arendt, Wahrheit und Politik, in: Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 22000, 327–370 [342]) Für Arendt ist das Urteilen (sie setzt sich hier mit Kant auseinander) daran gebunden, die Anderen, sofern man mit ihnen nicht in einen direkten Austausch treten kann, mitzudenken. Sie hat damit die individualistische Engführung der Existenzphilosophie Heideggerscher Prägung hinter sich gelassen. Bultmann bleibt darin gefangen. Zum Urteilen bei Arendt vgl. Marco Estrada–Saavedra, Das Urteilen, in: Wolfgang Heuer u. a. (Hg.), Arendt Handbuch. Leben–Werk–Wirkung, Stuttgart 2011, 132–136. Vgl. Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung, Hamburg 1989.

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armten Anderen nicht in ihre Überlegungen miteinbeziehen: Sie bleiben außerhalb des Diskurses, weil ihre vorgängige Exklusion in diskursethischen Ansätzen nicht berücksichtigt wird.44 Ethische Theorie und Praxis setzt sich, so Dussel, mit dem Aufstand der Ausgegrenzten gegen diese Exklusion und deren Kampf für die universale „Erhaltung und Entwicklung des menschlichen Lebens“45 auseinander. In seinen Überlegungen zu einer Theorie der Transmoderne hat Dussel dies selbst in den Kontext von Interkulturalität gestellt. 46 Die Überwindung der Exklusion der Anderen basiert seiner Meinung auch darauf, dass die Anderen selbst ihre eigenen kulturellen Traditionen, ihre Deutungen von Gott und der Welt zur Sprache bringen und damit an den Diskursen teilhaben. Dafür gelte es, die koloniale Grundstruktur westlicher Denktraditionen, die nichtwestliche Stimmen häufig genug überhören oder zum Verstummen bringen, zu erkennen, um sie schlussendlich zu überwinden. Dussel führt das in seinen „Anti-Cartesianischen Meditationen“ anhand von Denkern und Philosophen aus, die aus der Perspektive der Opfer des spanischen Kolonialismus die europäische Kultur reflektieren.47 Auch die Diskussionen mit europäischen bzw. nordamerikanischen Philosoph:innen, insbesondere mit Karl-Otto Apel, über die eurozentrische Logik der Diskursethik bringen das sehr gut zum Ausdruck.48 Dies in das Feld der Auslegung biblischer Texte zu übertragen, heißt für mich, dass die Perspektiven der Anderen prinzipiell zu berücksichtigen sind, Perspektiven die von Kolonialismus und Exklusion bestimmt sind. Der latente Vorwurf an Vertreter:innen postkolonialer Exegese, dass ihre „Bereitschaft, an exegetischen Fachdiskussionen teilzunehmen, … nicht gerade ausgeprägt“49 sei, setzt sich in keiner Weise mit der lang gepflegten Exklusion von theologischen Ansätzen, die nicht den eurozentrischen Normen von Theologie entsprechen, auseinander.

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Vgl. Enrique Dussel, Ethics of Liberation. In the Age of Globalization and Exclusion, Durham/London 2013, 121–141.373–375; Enrique Dussel, Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen, Wien/Berlin 2013, 108–124. Hans Schelkshorn, Dussel, Enrique, in: Information Philosophie (www.information-philosophie.de/?a=1&t=2909&n=2&y=1&c=63; 2.5.2022). Vgl. Dussel, Gegendiskurs, 135–143. A. a. O., 21–97. Zur Diskussion zwischen Apel und Dussel vgl. Hans Schelkshorn, Diskurs und Befreiung. Studien zur philosophischen Ethik von Karl–Otto Apel und Enrique Dussel, Studien zur Interkulturellen Philosophie 6, Amsterdam/Atlanta, 1997. Lukas Bormann, Gibt es eine postkoloniale Theologie des Neuen Testaments?, in: Andreas Nehring/Simon Wiesgickl (Hg.), Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2018, 186–204 (199). Warren Carter hingegen hebt die Bedeutung postkolonialer Theroriebildungen und deren Adaption in der neutestamentlichen Wissenschaft für seine Forschungen zum Johannesevangelium positiv hervor. Vgl. Warren Carter, John and Empire. Initial Explorations, New York/London 2008, 77–79.

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Darum muss es meiner Meinung aber in den exegetischen Wissenschaften gehen: Es gilt, die Strukturen in theologischen Theorien wahrzunehmen und zu analysieren, die die eigenen, kontextgebunden Ansätze für allgemeingültig erklären und somit prinzipiell andere Ansätze, die von anderen Voraussetzungen her denken und die Texte auslegen, ausschließen. Koloniale Strukturen und Logiken in theologischen Ansätzen erkennen – eine wichtige Aufgabe theologischer Arbeit. Die kolonialen Strukturen kennzeichnen aber nicht nur theologische Theoriebildungen, sie prägen auch biblische Texte, die selbst in imperialen Kontexten entstanden sind. Biblische Texte reproduzieren damit diese kolonialen Regelwerke. Die Perspektive der Anderen kann eine wertvolle Hilfe sein, diese kolonialen Elemente in den biblischen Texten selbst erkennen zu lernen. Zu den kolonialen Regelwerken gehört auch, bestimmte Fragestellungen und Probleme mit einem einzigen Ansatz zu bearbeiten oder einen Zugang zu einem Thema absolut zu setzen. Alexander Kluge bringt es sehr gut auf den Punkt, welche Folgen die Verabsolutierung einzelner Ansätze und Positionen haben kann. „Die Welt aus einem Punkt zu begreifen, ist gewalttätig, übt eine grausame Verzerrungsarbeit in und an der Wirklichkeit aus.“50 An Baurs und Bultmanns Auslegungen des Johannesevangeliums kann man dies gut ablesen. Baur verabsolutiert die Hegelsche Fortschrittslogik auf dem Feld der Religion und würdigt so Religionsformen herab, die der absoluten Religionsform nicht entsprechen. Gleichzeitig betrachtet Baur die Geschichte eindimensional als Fortschrittsgeschichte. 51 Bultmann meint mit seinen anthropologischen Grundannahmen die Fragen des Menschens klar erarbeitet und beschrieben zu haben. Die Rückfragen Sölles zeigen das Gegenteil auf. Hier gilt es bei der Auslegung biblischer Texte auf eine Pluralität der Zugänge, Ansätze und Methoden zu achten, die in ihrer besonderen Ausprägung kontextuell eingebunden und geprägt sind.52 Während Dube ihre Kontextgebundenheit offenlegt und klar benennt, gehen Baur und Bultmann davon aus, eine Mastertheorie für alle Menschen an allen Orten entwickelt zu haben.

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Alexander Kluge, Das Lesen des Textes wirklicher Verhältnisse, in: Hans Dieter Müller (Hg.), Der Kopf in der Schlinge. Entscheidungen im Vorkrieg, Frankfurt a. M. 1985, 172– 211 (195). Dass dies kein alleiniges Problem der von Hegel beeinflussten Theologie ist, kann Sonja Lukas–Klein mit Blick auf das Religions- und Theologieverständnis von Adolf von Harnack zeigen. Vgl. Sonja Lukas–Klein, Das ist (christliche) Religion – Zur Konstruktion von Judentum, Katholizismus und Protestantismus in Adolf von Harnacks Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums“, Forum Christen und Juden Bd. 13, Berlin u. a. 2014. Für den Wisdom Commentary ist diese Pluralität der Methoden und Herangehensweise Programm. In der in jedem Band abgedruckten Einführung der Hauptherausgeberin Barbara E. Reid ist von „a Symphony of Diverse Voices“ die Rede (Barbara E. Reid u. a. (Hg.), Wisdom Commentary, Collegeville/Minnesota 2015ff, XXII)

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6.

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Ein möglicher Diskussionspunkt

Erst innerhalb einer prinzipiell multiperspektivisch geprägten Auslegungssituation53 kann es dann zu einer Diskussion darüber kommen, ob Joh 4 als ausschließlich von einer kolonialen Logik geprägter Text verstanden werden sollte. Ein Impuls zu solch einer Diskussion soll den Schluss dieses Beitrags bilden: Luise Schottroff hat Joh 4 aus einer sozialgeschichtlichen und befreiungstheologisch-feministischen Perspektive ausgelegt. Sie versteht den Text als Gespräch zwischen der Frau am Brunnen und Jesus über zentrale Fragen des Glaubens an den Gott Israels.54 Dabei sieht Schottroff die Fragen der Frau nicht als Ausdruck ihrer Unwissenheit.55 Ihre Fragen bringen das Gespräch vielmehr voran. Gerade die Frage, woher Jesus das lebendige Wasser haben will, führt ins Zentrum des Problems: Woher kann Heil und Rettung kommen? Der Bezug auf Jakob in Joh 4,12 verortet das Gespräch in den gemeinsam geteilten jüdischen Traditionen. Die Frau zeigt sich mit dieser Frage als Person, die auf der Suche ist. Jesus nimmt diese Frage in Joh 4,13–15 ernsthaft auf. Die Erkenntnis, dass in Jesus das Heil Gottes gegenwärtig ist, wird ihr nicht in der Manier europäischer bzw. nordamerikanischer Missionar:innen als wahre Lehre übergestülpt. Joh 4 beschreibt einen kommunikativ geprägten Weg zur Erkenntnis, einen Weg, den die Frau aktiv mitgestaltet. Weiterhin kann Schottroff zeigen, dass die Frau es in der Kommunikation mit Jesus schafft, aus ihrer prekären Situation auszubrechen. Sie wird in der Geschichte als Frau vorgestellt, die durch ihre soziale Situation in Kettenehen hineingezwungen worden ist. Gleichzeitig muss sie der schweren Arbeit als Wasserträgerin nachgehen, um überleben zu können.56 In Joh 4,28 lässt die Frau ihren Wasserkrug stehen. Ihre Worte „Ich habe keinen Mann“ (Joh 4,17) beenden die demütigenden Kettenehen. Sie bricht so aus ihrem bisherigen Leben aus, um anderen vom Messias Jesus zu erzählen. Joh 4,39 hebt hervor, dass durch die Frau sich viele Menschen aus Samaria Jesus zuwenden. Sie wird so zur Gründerin einer neuen Gemeinschaft. Die kommunikative Begegnung mit Jesus wird zum Ausgang des Ausbruchs aus demütigenden Verhältnissen und führt in neue soziale Gemeinschaften. An diesem Punkt kann man sehr gut die Kontroverse zwischen befreiungstheologisch und postkolonial orientierten Lektüren zeigen. Postkoloniale Ansätze versuchen aufzuzeigen, dass die Bibel mit ihren imperialen Vorstellungen 53 54 55 56

Hier von einer Auslegungsgemeinschaft zu sprechen, verbietet sich im Hinblick auf die klaren Exklusionsmechanismen in theologischer Wissenschaft. Vgl. Luise Schottroff, Die Samaritanerin am Brunnen (Joh 4), in: Renate Jost u. a. (Hg.), Auf Israel hören. Sozialgeschichtliche Bibelauslegung, Luzern 1992, 115–132 (124–126). So noch Bultmann, Johannes, 132.137 („die Frau versteht immer noch nicht, wovon Jesus redet.“) Vgl. Schottroff, Samaritanerin, 119–122.

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etwas ist, was das koloniale System mitbegründet hat und es immer noch mit aufrechterhält. An befreiungstheologischen Auslegungen wird kritisiert, dass sie bei der Suche nach dem Befreienden des jeweiligen Bibeltextes diese imperialen Elemente innerhalb der Texte ignorieren oder sie nicht wahrnehmen wollen. Dem gegenüber wird aber die Frage laut, ob durch solche Perspektiven bei der Auslegung nicht das Befreiende von Bibeltexten zu wenig Beachtung findet.57 Der jeweilige Umgang mit dem Bibeltext von Dube und Schottroff ist für beide Perspektiven beispielhaft. Schottroff arbeitet aus der Kommunikationsstruktur der Erzählung und den sozialgeschichtlichen Details von Joh 4 das Befreiende heraus. Dubes Reading for Decolonization zielt auf die literarische Adaption von Joh 4 durch Mositi Totontle, einer Schriftstellerin aus Botswana, in ihrer Erzählung „The Victim“ ab. 58 In der Erzählung wird der männliche Jesus durch eine weibliche Erzählfigur ersetzt, die später mit Maria Magdalena identifiziert wird. Die in Joh 4 namenlose Samaritanerin erhält den Namen Mmapula. Dube ist der Meinung, dass so die männliche Dominanz Jesu nicht mehr den Text beherrscht. Weiterhin wird Mmapula in der Erzählung als handlungsfähige Frau vorgestellt. Im Wirken Maria Magdalenas wird weiterhin die Würde anderer Religionsformen herausgestellt. Erst mit der literarische Weiterarbeit an Joh 4 ist für Dube eine Dekolonialisierung der johanneischen Erzählung möglich. Die Kontroverse darf auf keinen Fall durch die Sehnsucht nach Eindeutigkeit geklärt werden. Dafür sind die Anfragen von exegetischen Arbeiten aus dem Bereich der Postcolonial Studies zu wichtig, gerade wenn es um die Frage geht, inwieweit biblische Texte von den imperialen Vorstellungen, gegen die sich die jeweiligen Texte eigentlich abgrenzen wollen, durchdrungen sind. Gleichzeitig halte ich es für problematisch, wenn die Aufbrüche und Befreiungserfahrungen, von denen in biblischen Texten die Rede ist (wie in Joh 4 ) nicht mehr zur Sprache kommen. Bibelauslegungen in verschiedenen Kontexten sollten für beide Perspektiven sensibel sein: Die Verflochtenheit biblischer Texte mit den kolonialen Regelwerken sollte ebenso im Focus der Aufmerksamkeit sein wie die in ihnen niedergeschriebenen Erfahrungen von Unterdrückung und Befreiung und dem damit verbundenen Hunger nach Gerechtigkeit.

57 58

Zur Diskussion vgl. Tania Oldenhage, Art. Postcolonial Studies, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.bibelwissenschaft.de/stichwort/53894/; 29.4.2022). Vgl. Dube, Reading, 71–74; Mositi Totontle, The Victim, Gaborone 1993.

198

Carsten Jochum-Bortfeld

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„Eine tüchtige Frau, wer findet sie?“ (Spr 31,10–31) Eine kontextuelle Bibelhermeneutik aus der Perspektive der Frauen im West-Kongo Égide Muziazia

1.

Einführung

Das Thema der Tagung „Schriftauslegung im Plural“ eröffnet neue Perspektiven für die Auslegung der Heiligen Schrift in bestimmten kulturellen und regionalen Kontexten. Dies bietet uns auch die Möglichkeit, die tüchtige Frau aus dem Buch der Sprüche im Kontext der Frauen im West-Kongo zu lesen. Im Fokus des Buches der Sprüche steht unter anderem die Beschreibung einer tüchtigen Frau.1 In Spr 31,10–31 sind diese Eigenschaften näher beschrieben. Sie vermitteln das Bild einer tugendhaften Frau, einer Mutter, die stets darum bemüht ist, Sorge für ihre Familie und für die Gesellschaft zu tragen. Die tüchtige Frau „erweist ihre Tüchtigkeit in der Versorgung und Leitung ihres Hauses.“2 Diese Frau in Spr 31,10–31 existiert nicht wirklich, vielmehr spiegelt die Weisheitsliteratur sie als ideale, paradigmatische Figur. Grundsätzlich handelt es sich hier um die Personifizierung der Weisheit, die auf das Bild der tüchtigen Frau projiziert wird. Aufgrund ihrer tugendhaften Eigenschaften und ihres Fleißes im Haushalt genießt sie großes Ansehen. Darum wird sie nicht nur von ihrem Mann gelobt, sondern verdient gleichermaßen auch Respekt und Anerkennung in der Gesellschaft. Diese jüdische Hausfrau und Mutter verfügt über Tugenden wie Sorgfalt, Fleiß, Weisheit, Führungsqualitäten usw. Und sie verfügt vor allem über die „Furcht Gottes“, die die Grundlage für ihre Frömmigkeit und moralische Würde bildet.3 In der Kolonialzeit hat die kontextuelle und regionale Auslegung von Spr 31,10–31 allerdings zur Ausgrenzung und Diskriminierung der Frau beigetragen, die einst in der traditionellen Gesellschaft Respekt und großes Ansehen 1 2 3

Erich Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 92016, 459. A. a. O., 460. A. a. O., 459.

202

Égide Muziazia

hatte. Mit dem Aufkommen pfingstcharismatischer Kirchen sind die kolonialen und ausgrenzenden Diskurse über die Frau zurückgekehrt. Frauen im WestKongo sind von daher im pfingstcharismatischen Diskurs der Unterdrückung ihrer Grundrechte und der Gewalt ausgesetzt. Angesichts der Problematik im Hinblick auf die kontextuelle und regionale Auslegung von Spr 31,10–31 stellt sich die Frage, ob die in der angeführten Textpassage im Buch der Weisheit dargestellte tüchtige Frau als paradigmatisch für eine tatsächlich existierende Realität solcher Frauen in der jüdischen Gesellschaft steht oder ob sie lediglich ein idealisiertes Frauenbild darstellt. Doch inwieweit kann dieser Text hilfreich sein im Hinblick auf die Befreiung der unterdrückten Frau? Dieser Beitrag befasst sich mit der Stellung der Frau in der westkongolesisch-präkolonialen Gesellschaft sowie im kolonialen und kongolesisch-pfingstcharismatischen Diskurs. Dies „eröffnet nicht nur neue Horizonte zur Thematik der afrikanischen Frauen, sondern vermag auch dazu beizutragen, dass die seit der Kolonialzeit an die Ränder gedrängten Frauen im Anschluss an den postkolonialen Diskurs zu ihrer Selbstartikulation finden können.“4

2.

Die Stellung der Frauen in der matriarchalischen westkongolesischen Kultur

Der West-Kongo umfasst das gesamte Gebiet des ehemaligen Königreichs Kongo, das sich in die heutigen Gebiete Nordangolas einschließlich Cabinda im Süden der Republik Kongo, den äußersten Westen der Demokratischen Republik Kongo und den Südwesten Gabuns erstreckt.5 In diesem Gebiet Afrikas kam Frauen traditionell eine zentrale gesellschaftliche Rolle zu. Die Macht der Frau in der kongolesischen Gesellschaft wurde durch das matriarchalische System ermöglicht, das im Mittelpunkt des Lebens und in der traditionellen Gesellschaft stand. Der senegalesische Historiker Checkh-Anta Diop ist der Überzeugung, dass das matriarchalische System ein Zeugnis für die gesellschaftliche Stabilität war. Dieses System steht für Sesshaftigkeit und für die Bewahrung der Tradition: Die Frau ist dort das sesshafteste Element der Gesellschaft. Der männliche Nachwuchs ist beweglicher als der weibliche und gleicht auch bei einem solchen sesshaften Leben noch

4 5

Egide Muziazia, Afrikanisch-katholischen Migrantengemeinden in Westeuropa. Zwischen Katholizität und Ethnizität, 2021, 99. Vgl. Klaus Koschorke u. a, Außereuropäische Christentumsgeschichte. Asien, Afrika, Lateinamerika 1450–1990, Neukirchen-Vlyun 2 2012, 116.

„Eine tüchtige Frau, wer findet sie?“ (Spr 31,10–31)

203

dem Vogel auf dem Zweig, der jeden Augenblick fortfliegen kann. Wenn die jungen Männer die politischen Rechte, das Besitztum, den Ahnenkult oder irgendein anderes Gut überliefern sollten, wäre all dies schnell vertan und in alle Winde zerstreut.6

In einer matriarchalischen Gesellschaft ist der Mann wie ein Nomade. Er kann gehen und zurückkehren, im Gegensatz zu den Frauen, die ihre Dörfer nicht verlassen. Außerdem ist es nicht die Frau, die ihre Familie verlässt, um sich an einen Mann zu binden, sondern es ist der Mann, der seine Familie verlässt, um sich seiner Frau anzuschließen. Die Kinder, die aus dieser Ehe geboren werden, gehören zur Familie der Frau. Der Onkel mütterlicherseits ist der Verantwortliche für die Kinder und kann von Zeit zu Zeit die Rolle des Vaters übernehmen. Im Todesfall werden z. B. die Kinder auf dem Friedhof der Familie der Mutter beerdigt.7 Das Matriarchat verlieh den Frauen viel Freiheit bei der Ausübung ihrer Macht: Frauen bestimmten das Leben in der Gesellschaft, sie griffen direkt in das öffentliche Leben ein und übten einen starken Einfluss bei der Lösung von Konflikten aus. Neben ihrer politischen Macht konnten sie zudem auch im religiösen Raum außergewöhnliche Macht erlangen. In diesem Zusammenhang betont Cheich Anta Diop: Das Matriarchat ist nicht der absolute und zynische Triumph der Frau über den Mann; es ist ein harmonischer Dualismus, eine von beiden Geschlechtern akzeptierte Verbindung, um besser eine sesshafte Gesellschaft aufzubauen, in der sich jeder vollständig entfalten kann, indem er sich der Tätigkeit hingibt, die seiner physiologischen Natur am meisten entspricht. Ein matriarchalisches System wird dem Menschen nicht durch Umstände aufgezwungen, die sich seinem Willen entziehen, sondern von ihm akzeptiert und verteidigt. 8

In Anlehnung an die nigerianische Anthropologin Ifi Amadiume arbeitet Musa W. Dube heraus, dass die traditionelle afrikanische Gesellschaft eine paritätische Gesellschaft war. Es gab unterschiedliche Tätigkeiten im Ackerbau, die von Frauen und Männern ausgeübt wurden, es gab aber keine Konkurrenz zwischen Männern und Frauen: Der Ackerbau wurde gleichmäßig zwischen Männern und Frauen aufgeteilt. Süßkartoffeln wurden von Männern angebaut, während die Produktion von Maniok den Frauen zugeordnet wurde. Beide Geschlechter konnten wetteifern in der Produktion ihrer jeweiligen Pflanzen und dafür Erfolgstitel (…) erhalten. Sowohl Männer als auch Frauen waren berechtigt, ihren Überfluss zu verkaufen und die Einnahmen zu behalten. Der Markt jedoch war die Domäne der Frauen. Die Frauen verkauften die Süßkartoffeln der Männer auf dem Markt und machten damit einen extra Gewinn. So wurde Flexibilität in ein System der Arbeitsteilung gebracht. Dieses System privilegierte die Männer nicht völlig gegenüber den Frauen in Bezug auf Machtfragen um öffentliche Plätze und Besitz. 9 6 7

8 9

C. Anta Diop, Matriarchat und Patriarchat, in: Ruprecht Paqué, Afrika antwortet Europa, Berlin 1967, 150. Vgl. ebd. C. Anta Diop, L’Unité culturelle de L’Afrique Noire, Paris 1892, 114 (Übersetzung: EM). Musa Dube, Postkolonialität, Feministische Räume und Religion, in: Andreas Nehring/Simon Tielsch (Hg.): Postkoloniale Theologien, Stuttgart 2013, 91–111, 104.

204

Égide Muziazia

Frauen konnten die höchste Hierarchiestufe einnehmen und die tatsächliche Autorität über alle gesellschaftlichen Mitglieder – Männer wie Frauen – ausüben, weil sie das Schicksal ihres Volkes in ihren Händen hielten. Sie besaßen die Macht, die Zukunft vorherzusagen, Kranke zu heilen und mit den Ahnen in Kontakt zu treten. Sie waren es, die Leben spendeten und das Böse abwehrten.10

3.

Die westkongolesische Frau im kolonialen Diskurs

Das westliche Gesellschaftsmodell, das in den Kolonien etabliert werden musste, hatte als erklärtes Ziel die effektive Abschaffung eines Systems, das Afrika bisher seit Jahrhunderten getragen hatte: das Matriarchat. Und um dieses System, das das Gegenteil des westlichen Paternalismus darstellte, loszuwerden, mussten die Kolonisatoren vor allem Frauen als Hüterinnen dieses für Afrika nützlichen und für die Kolonisatoren gefährlichen sozialen Systems vom politischen Milieu fernhalten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch heute noch der Frauenanteil in Entscheidungsgremien und verantwortlichen Positionen in Afrika überaus gering ist. Die Wurzel hierfür liegt m. E. im kolonialen System.11 Die westliche Kolonialverwaltung bedeutete einen entscheidenden und einschneidenden Wandel für die afrikanische Gesellschaftsordnung und für das Verhältnis der Geschlechter. Sie schränkte die aktive Beteiligung der Frau am gesellschaftlichen Leben stark ein und brachte eine zerstörerische Propaganda nach Afrika, um die gesellschaftliche Rolle der afrikanischen Frau zu minimieren. Im Belgisch-Kongo wurde diese polarisierende Propaganda von Missionaren und Missionarinnen getragen. Der belgische Missionar Arthur Vermeersch unterscheidet in seinem Essay La femme Congolaise drei Arten von Frauen im BelgischKongo12: – Die polygame Frau, die als Sklavin und Teil einer Herde betrachtet wird, deren Hirte der Ehemann ist. – Die Hausfrau des Weißen, eine Sexsklavin, wobei der Schwerpunkt nicht auf dem missbräuchlichen Verhalten des Herrn liegt, sondern auf der bestialisch aufreizenden und interessierten Seite der kongolesischen Frau. – Die christliche und befreite Frau, ein erfolgreiches Produkt der westlichen Zivilisation. Sie ist die tugendhafte Frau, die Respekt verdient. Die christlich-zivilisierte Frau steht hier in Analogie zur Frau in Spr 31,10–31. Diese Frau soll geklärt werden, damit sie durch die Unterwerfung unter das von 10

11 12

Vgl. Fatou Sarr, Féminisme en Afrique occidentale? Prise de conscience et luttes politiques et sociales, in: Christine Verschuur, Vents d´Est, vents d´Ouest. Mouvements de femmes et féminismes anticoloniaux, Genève 2009, 79–100, 85f. Vgl. ebd. Arthur Vermeersch, La femme congolaise, Bruxelles 1914, 67.

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der Kolonialverwaltung für sie entworfene Bildungsprogramm das gleiche Niveau wie die weiße Frau erreichen kann. Diese afrikanischen Frauen wurden sorgfältig ausgewählt und erhielten eine Ausbildung als Kinderpflegerin und für häusliche Dienstleistungen.13 Um diese Ausbildung zu erhalten, mussten die Frauen verheiratet sein, lesen und schreiben können und sich moralisch einwandfrei verhalten. In katholischen Milieus wurden hierzu Nonnen als Ausbilderinnen eingesetzt. Für junge Männer gab es ein anderes Schulprogramm mit anderen Fächern: Jungen wurden als Schreiner, Kaufleute, Priester und Drucker ausgebildet (…) Eine weiterführende Ausbildung war nur für die Jungen zugänglich. Dies wurde durch die Tatsache bestimmt, dass vorzugsweise Männer für die neu eingerichteten Stellen in der Kolonialverwaltung und im Kirchen- oder Militärdienst, die eine Ausbildung erforderten, genommen wurden. 14

Die Folgen der aus Europa importierten Ungleichheit zwischen Mann und Frau prägten die koloniale Gesellschaft und haben massiv dazu beigetragen, Frauen den Zugang zur Bildung zu verwehren und sie von jeglicher Partizipation an Leitungsfunktionen in öffentlichen Angelegenheiten auszuschließen. Ihr Platz war im Haushalt. 15 Für Musa Dube ist die Abwertung der Frauen im afrikanischen Familiensystem nicht in der afrikanischen Tradition zu verorten. Vielmehr wurde erst im Zuge des Kolonialismus die Rollentrennung zwischen Mann und Frau nach Afrika transportiert: Als die Bildung durch die Missionare erfolgte, konzentrierte sich die gewerbliche Ausbildung der Frauen auf häusliche Fertigkeiten wie Klöppeln, Stricken, Häkeln – Dinge, die sie nicht wirklich dafür ausrüsteten, Arbeitsplätze im öffentlichen Leben einzunehmen, wobei das Unterrichten die einzige Ausnahme bildete. 16

Bis heute prägen diese Ungleichheiten Familie und Kirche in der postkolonialen afrikanischen Gesellschaft. In den meisten Fällen sieht sich der Mann als Herr des Hauses und fühlt sich aufgrund dieser Funktion vom Haushalt befreit. Die Frau hingegen kümmert sich – unabhängig von ihrer Funktion in der Gesellschaft – um die Hausarbeit. Dies überschattet das Bild der Familie in Kirche und Gesellschaft.

13 14 15 16

M. W. Dube (2013): Postkolonialität, Feministische Räume und Religion, 105. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Mir ist auch in der Literatur keine Frau bekannt, die im kolonialen Verwaltungsapparat eine politische Verantwortung innehatte. A. a. O. 107.

206

4.

Égide Muziazia

Frauen im postkolonialen Diskurs

Das Ende des Kolonialismus ist eng mit dem Kampf um Unabhängigkeit verknüpft.17 Allerdings war das Ende des Kolonialismus vielfach nichts anderes als zugleich der Anfang eines Neokolonialismus, in dem insbesondere afrikanische Länder bis zum heutigen Tage gefangen sind und sich verfangen haben. Das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern zeigt, dass der Kolonialismus durch die Gründung der Neustaaten in Afrika nicht einfach beendet war, sondern die kolonialen Strukturen Eingang fanden in die dekolonisierten Staaten und sich dort verfestigten. Und fünfzig Jahre nach seiner Unabhängigkeit verharrt der afrikanische Kontinent immer noch in einer desillusionierenden Situation: Viele Menschen sind tagtäglich großer Armut, Ausbeutung, Gewalt und Bürgerkriegen ausgesetzt. Koloniale Muster der Unterwerfung und Unterdrückung spiegeln sich in der heutigen afrikanischen Gesellschaft. Der Kampf um Macht zur Sicherung des Reichtums und eigener Privilegien hat zunehmend innere und äußere Konflikte verursacht: Diktaturen, Klientelismus, Menschenrechtsverletzungen und Korruption finden sich in zahlreichen Ländern. Etliche Übel werden mit dem europäischen Kolonialismus und seinen Folgen in Konnotation gebracht. Derzeit liegt das zentrale Problem jedoch nicht mehr so sehr in deren direkten Folgen, sondern darin, dass einige Grundprinzipien des Kolonialismus nie praktisch überwunden wurden.18

Im Zuge der Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Kongo entstanden als Pendant zu männlich dominierten politischen Parteien auch Frauenverbände mit dem Ziel, die Emanzipation der Frau voranzutreiben und die Teilnahme der Frauen am politischen Geschehen zu ermöglichen. Die bekanntesten Parteien der damaligen Bestrebungen waren Femmes ABAKO, Groupement pour l’Emancipation de la Femme Africaine (GEFA), l’Union Nationale des Femmes Congolaises, l’Union Progressiste Féminine Congolaise, Mouvement des Femmes Nationalistes (MNC).19 Trotz aller Bemühungen einiger politischer Frauenverbände um die Emanzipation der Frau in den Jahren nach der Unabhängigkeit des Kongos ist den Frauen die paritätische Teilhabe am bis heute weitgehend von Männern dominierten politischen Leben nicht ganz gelungen. Allerdings steigt seit den 1990er Jahren allmählich die Zahl der Frauen im politischen und öffentlichen Leben. An der Seite von Präsident Mobutu spielten Frauen und Frauenverbände in seiner 17 18

19

A. a. O., 93. Dominic Johnson, Das heimliche Erbe. Wie die Berliner Afrika-Konferenz sich bis heute auf die afrikanische Politik auswirkt, in: Ders., Der Kolonialismus und seine Folgen. 125 Jahre nach der Berliner Afrika-Konferenz, Berlin 2009, 6. Catherine Odimba u. a., La participation des femmes dans les processus de paix et la prise de décision politique en République Démocratique du Congo, Kinshasa 2012, 36.

„Eine tüchtige Frau, wer findet sie?“ (Spr 31,10–31)

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politischen Partei eine wichtige Rolle.20 Unter seiner Präsidentschaft bekleideten Frauen Ministerposten in den Bereichen Frauen und Familie, Arbeit und Sozialangelegenheiten, Öffentlicher Dienst, Gesundheit, Kultur, Kunst und Bildung. Schließlich hatten sie zudem auch Einfluss in der Bildung, im Berufsleben und in der öffentlichen Verwaltung. Unter dem jetzigen Präsidenten Felix Tshisekedi ist die Frauenquote deutlich gestiegen: 27 Prozent der Regierungsmitglieder sind Frauen. Darüber hinaus sind Frauen in wichtigen Posten und leitenden Institutionen wie Banken, Verfassungsgericht oder Universitäten vertreten. Dies sind zweifelsohne wichtig, jedoch nach wie vor kleine Schritte zur Integration von Frauen in das gesellschaftspolitische Leben. Denn der heutige Kongo kann als eine noch weitgehend bäuerliche Gesellschaft betrachtet werden, in der fast zwei Drittel der Bevölkerung in ländlichen Gebieten leben und über fünfzig Prozent der Frauen dort leben und arbeiten.

5.

Frauen im pfingstcharismatischen Diskurs

Der Aufstieg der Pfingstkirchen im Kongo hat die Bemühungen um die Emanzipation der Frau weiter geschwächt. Obwohl die Religionsfreiheit in der kongolesischen Verfassung garantiert ist, 21 wird dies von den Pfingstlern instrumentalisiert und zu Ungunsten der Frau interpretiert. Die Pfingstkirchen sind so tief in der kongolesischen Politik verwurzelt, dass sie die kongolesischen Gesetzgeber oftmals daran hindern, strafrechtliche Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Frauen und Kindern in diesen Kirchen zu ergreifen. Was die Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften allgemein betrifft, ist die Demokratische Republik Kongo laut Verfassung ein säkularer Staat. Doch wie genau drückt sich dieser Laizismus des kongolesischen Staates aus? Wenn Laizismus eine klare Trennung zwischen Staat und Kirche bedeutet, ist dies im Kongo vor allem in seinen vielen Pfingstkirchen nicht der Fall. In Frankreich beispielsweise geht der Laizismus davon aus, dass der Staat gegenüber den Kirchen neutral bleiben soll, indem er sich nicht in die kirchlichen Angelegenheiten einmischt.22 20 21

22

Vgl. ebd. In Artikel 22 der kongolesischen Verfassung steht: „Jeder Mensch hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Jede Person hat das Recht, ihre Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche, Riten und religiöse Lebensführung zu bekunden, vorbehaltlich der Achtung des Gesetzes, der öffentlichen Ordnung, der guten Sitten und der Rechte anderer. Das Gesetz legt die Modalitäten für die Ausübung dieser Freiheiten fest.“ (Übersetzung: EM). Vgl. Muziazia, Migrantengemeinden, 237.

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Égide Muziazia

Der säkulare Charakter des kongolesischen Staates ist nicht klar definiert. Selbst die Bevölkerung unterscheidet nicht zwischen einem säkularen und einem christlichen Staat. Diese Entwicklung begann mit dem Kabila-Regime, das mehrere Pfingstvereinigungen anerkannte und sie zu religiösen Konfessionen erhob. Das aktuelle Regime ist auch von Pfingstpastoren dieser Pfingstkirchen umgeben. Pfingstkirchen werden zunehmend mit wichtigen Aufgaben der Zivilgesellschaft wie z. B. der unabhängigen Wahlkommission betraut, die seit langem von Katholiken und Protestanten geleitet wurde. Da die Pfingstkirchen als Teil der Zivilgesellschaft gelten, übernehmen sie zuweilen wichtige Aufgaben des Staates oder nehmen an dessen großen Versammlungen teil und organisieren regelmäßig mit staatlicher Unterstützung öffentliche Gebetstage, sogenannte journées de prières, um für die Republik, den Präsidenten oder auch die Armee zu beten. Vom Parlament bis hin zum Präsidentenkabinett beginnt jede offizielle Zeremonie mit einem Gebet. Da viele Pfingstkirchen vom Staat unterstützt werden, verletzen sie durchaus absichtlich Menschenrechte. Die Hauptopfer dieser von Kirchen verursachten Diskriminierung sind Kinder und Frauen. Kinder werden z. B. oft von ihren Familien getrennt, verstoßen und verlassen, einzig und allein aus dem Grund, dass sie – laut den Prophezeiungen der Pastoren – Hexen sind. Auch Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Verstöße gegen den Zölibat usw. werden mit Hexerei in Verbindung gebracht. Die Ausübung charismatischer Macht durch einige Pastoren legitimiert auch ihre Herrschaft über Frauen. Sie leiten ihre Autorität von Gott ab, weshalb alles, was sie tun, dem Willen Gottes entspricht. Spr 31,11–31 wird in diesen Kirchen kontextuell ausgelegt, um die Pflichten der Frau gegenüber ihrem Mann zu beschreiben. An der Spitze all ihrer Pflichten steht die Unterwerfung. In diesem Zusammenhang verweisen sie auf die Tatsache, dass die tüchtige Frau sowohl in Gedanken als auch im Herzen treu ist. Sie bringt weder ihrem Mann noch seinem Haus Schande. Sie sei eine ideale Helferin ihres Mannes. Der kongolesische Pastor M. Tuma ist für seine harten und konservativen Predigten im Internet bekannt, die gegen die Freiheit der Frauen predigen. Er ist in den sozialen Medien populär und besitzt viele Follower. In einem seiner Videos mit dem Titel „L´homme est le chef de la femme“ sagt er, dass die Autorität des Mannes über die Frau göttlich ist, weil sie von Gott gewollt ist. Frauen müssten ihren Männern untertan sein, sonst würde Gott sie am letzten Tag wegen ihres Ungehorsams richten. Jede Frau, die gegen diese Sicht aufbegehrt, sei – so Tuma – von Dämonen besessen. 23 In einem anderen Video verbietet er Frauen, Hosen und andere enganliegende Kleidung zu tragen, da sie zur Versuchung führen. Dabei beruft er sich auf die Bibel. 24 23 24

Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=b5Z4TE55JE0, Zugriffsdatum: 18.10.2022. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=sU-dnlzOFxs, Zugriffsdatum: 18.10.2022. Viele weitere Beispiele für ähnliche Aussagen über Frauen ließen sich anführen.

„Eine tüchtige Frau, wer findet sie?“ (Spr 31,10–31)

6.

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Frauen im katholisch-protestantischen Diskurs

In Kinshasa existieren bereits zahlreiche Frauenbewegungen, beispielsweise die protestantischen, kimbanguistischen und muslimischen Mütter, ebenso politische Frauenbewegungen u. ä. Angesichts der Vielfalt und der Aktivitäten in diesem Bereich fasste die katholische Kirche im Kongo den Entschluss, ebenfalls eine katholische Frauenbewegung zu gründen, die von der zuständigen kirchlichen Autorität der Erzdiözese Kinshasa anerkannt werden sollte. 25 Diese Bewegung sollte alle Mütter katholischer Konfession vor den Behörden des Landes gültig vertreten. Am 13. Juni 1986 gründete der ehemalige Kardinal von Kinshasa, Joseph Malula, in der Pfarrei Saint-Augustin in Kinshasa die erste kongolesisch-katholische Frauenbewegung, die Mamans Catholiques, welche der heiligen Monika, der Mutter des heiligen Augustinus gewidmet ist. Joseph Malula wollte sich persönlich für die Gleichstellung der Frauen in seinem Bistum einsetzen – daher die Entscheidung für eine katholische Frauenbewegung auf Diözesanebene, um sich mit der systematischen Untersuchung der Gleichstellung der Frauen zu befassen. Schließlich führte er grundlegende Konzepte zur Rehabilitation und Förderung der Frauen in der Kirche ein.26 Aus diesem Grund verfolgt die Frauenbewegung Mamans Catholiques folgende Ziele: – Heiligung von Frau und Familie im kirchlichen und sozialen Leben nach der Lehre der Evangelien und der Kirche; – Achtung vor Gottes Plan durch Anerkennung der Grundrechte der Frau als Mensch und Kind Gottes in jeglicher Hinsicht, ihrer Komplementarität zum Mann; – Unterstützung der Befreiung der Frau, ihrer ganzheitlichen Emanzipation und der Bekämpfung aller Formen der Sklaverei, deren Opfer sie auch heute noch ist; – Unterstützung der kongolesischen Frauen dabei, ihren christlichen Glauben in den konkreten Aspekten ihres Lebens zu leben und die ganzheitliche Erziehung der Mädchen zu fördern; – Beitrag durch konkrete Aktionen zur Emanzipation, Förderung und Entwicklung der Ortskirche; – Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, die die gleichen Ziele verfolgen.27 In der evangelischen Kirche sind die Frauen in einer Struktur namens Fédération Nationale des Femmes Protestantes (FNFP) organisiert. Diese christliche Vereinigung setzt sich für die Rechte und die Emanzipation der kongolesischen Frauen 25 26 27

Vgl. Omer Katshioko Kapita, Jean Paul II et la femme africaine. Dignité et gratitude, Bruxelles 2003. 57. Vgl. ebd. A. a. O., 57 ff.

210

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ein. Sie ist in allen Teilen der Demokratischen Republik Kongo aktiv. Diese Organisation ist der Ansicht, dass die wahre Emanzipation der kongolesischen Frau nur von der Frau selbst ausgehen kann. Sie setzt sich nicht allein für die Gleichberechtigung von Mann und Frau in allen Bereichen ein, sondern auch für die Bildung von Mädchen. Frauen nehmen sowohl im katholischen wie im protestantischen Diskurs einen wichtigen Platz ein. In beiden Kirchen gibt es international anerkannte Theologinnen wie Jose Ngalula bei den Katholiken und Marina Muteho Kasongo bei den Protestanten u. W. Diese Theologinnen plädieren für eine dekolonisierte Interpretation der Bibel. Darum soll die postkoloniale biblische Hermeneutik das Bild der Frau neu interpretieren und es von alten, kolonialen Mustern befreien. Die tugendhafte Frau ist nicht eine unterworfene Frau. Sie ist vielmehr eine mutige Frau und Kämpferin für die Rechte der Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft. Jose Ngalula, die im vergangenen Jahr in die vatikanische internationale theologische Kommission von Papst Franziskus berufen wurde, vertritt das wissenschaftlich-theologische Konzept der Theologie von Frauen für Frauen. Sie hat dafür einen Forschungskreis unter dem Namen „Laboratoire de Recherches au service de la Théologie Africaine“ ins Leben gerufen, wo Frauen und Männer gemeinsam über Frauen und Bibel in Afrika (Femme et Bible en Afrique) forschen. Sie setzt sich weiterhin für mehr Diversität in der katholischen Kirche ein und versteht sie als Chance in einer sich im Wandel befindenden katholischen Kirche: The opportunities for the presence of women and men in the church are numerous and diverse, and within that diversity, the Catholic faithful can respond to the call of God in complementarity with the others. This diversity and complementarity are patterns of joy and apostolic fruitfulness.28

Die an der Univserité Libre des Pays des Grands Lacs lehrende Theologin Muteho Kasongo arbeitet unter anderem im internationalen humanitären Sektor im OstKongo und war in zahlreichen Vorständen von lokalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen tätig, darunter das Global Ethics Network oder Action Aid. Sie ist stets darum bemüht, den wegen HIV-Erkrankungen an die Ränder gedrängten Frauen zu ihren Rechten zu verhelfen und sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Sie beteiligt sich aktiv an den Mechanismen zur Förderung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen des Staates. Für sie sind die Frauenfiguren in der Bibel eine Inspirationsquelle für die Emanzipation der Frau. In der Bibel gibt es keine untergeordnete Frau. Es gibt eine Form der Komplementarität zwischen Mann und Frau.29

28

29

Jose Ngalula, Milestones in Achieving a More Incisive Feminine Presence in the Church of Pope Francis, in: Agbonkhianmeghe Emmanuel Orobator (Hg.): The Church We Want. African Catholics Look to Vatican III, New York 2016, 31–42, 38. M. Muteho Kasongo u. a., Genre et L’autonomisation des femmes au Nord-Kivu, Paris 2016.

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7.

211

Fazit

Die Rolle der Frau in der heutigen kongolesischen Gesellschaft ist nach wie vor komplex. Dies zeigt sich in den diskriminierenden Diskursen gegenüber der Frau. Die Aufrufe zur Unterwerfung von Frauen mit Verweis auf ausgewählte Bibelstellen und die Befreiungspraktiken in pfingstcharismatischen Kirchen zeigen, dass es eine Verbindung zwischen dem kolonialen Diskurs über kongolesische Frauen und der Sprache gibt, die in kongolesischen pfingstcharismatischen Kirchen über Frauen in der postkolonialen Gesellschaft verwendet wird. Die kontextuelle Bibelauslegung steht von daher vor enormen Herausforderungen in Gesellschaften, in denen die Bibel nur zum eigenen Vorteil interpretiert wird. Diese aus dem Kolonialsystem stammende einseitige Bibelauslegung trägt nicht zur Emanzipation der Frau bei. So entfernt sie sich vom Willen Gottes selbst, der ein Gleichgewicht zwischen Mann und Frau gewollt hat. Die biblische Hermeneutik im kongolesischen Kontext muss in ihrer Auslegungsarbeit die kongolesische Frau rehabilitieren, damit sie ihren Platz zurückerhält, den sie in der traditionellen afrikanischen Gesellschaft seit jeher eingenommen hat. Diese kontextuelle Bibelauslegung muss m. E. auf der traditionellen matriarchalischen Kultur basieren, die der Frau einen angemessenen Stellenwert einräumt.

Literatur Anta Diop C., L’Unité Culturelle De L’Afrique Noire, Paris 1892. Anta Diop C., Matriarchat und Patriarchat. In: Ruprecht Paqué, Afrika antwortet Europa, Berlin 1967. Dube Musa, Postkolonialität, Feministische Räume und Religion, in: Andreas Nehring/Simon Tielesch (Hg.): Postkoloniale Theologien, Stuttgart 2013, 91–111. Sarr, Fatou, Féminisme en Afrique occidentale? Prise de conscience et luttes politiques et sociales, in: Christine Verschuur, Vents d´Est, vents d´Ouest. Mouvements de femmes et féminismes anticoloniaux, Genève 2009, 79–100. Johnson, Dominic, Das heimliche Erbe. Wie die Berliner Afrika-Konferenz sich bis heute auf die afrikanische Politik auswirkt, in: Ders., Der Kolonialismus und seine Folgen. 125 Jahre nach der Berliner Afrika-Konferenz, Berlin 2009. Katshioko Kapita, Omer, Jean Paul II et la femme africaine. Dignité et Gratitude, Paris 2003. Koschorke, Klaus u. a, Außereuropäische Christentumsgeschichte. Asien, Afrika, Lateinamerika 1450–1990, Neukirchen-Vlyun 22012. Muteho Kasongo M. u. a., Genre Et L’autonomisation Des Femmes Au Nord-Kivu, Paris 2016. Muziazia Egide, Afrikanisch-Katholischen Migrantengemeinden in Westeuropa. Zwischen Katholizität und Ethnizität, Münster 2021. Ngalula, Jose, Milestones in Achieving a More Incisive Feminine Presence in the Church of Pope Francis, in: Agbonkhianmeghe Emmanuel Orobator (Hg.): The Church We Want. African Catholics Look to Vatican III, New York 2016, 31–42, 38. Catherine Odimba u. a., La participation des femmes dans les processus de paix et la prise de décision politique en République Démocratique du Congo, Kinshasa 2012. Vermeersch Arthur, La Femme Congolaise, Bruxelles 1914.

Der alten Witwe eine Stimme geben Ein Blick auf die Pluralität feministischer Auslegungen zu Lk 2,36–38 Sarah A. Ntondele

Thema der wissenschaftlichen Auseinandersetzung im Rahmen des Forschungsseminars zu ‚Interkultureller Bibelhermeneutik‘ war die Betrachtung, Analyse und Reflektion verschiedener bibelhermeneutischer Ansätze sowie deren Anwendung auf eine ausgewählte Bibelstelle in einer Gruppenarbeit. Die hier dargelegten Einsichten beruhen folglich auf dem produktiven Austausch und der Zusammenarbeit mit weiteren Gruppenmitgliedern. Der vorliegende Beitrag orientiert sich chronologisch an der Forschungsarbeit der Gruppe. Zunächst soll das Herangehen der Gruppe an die Perikope aus Lk 2,36–38 erläutert werden, bevor drei feministische Auslegungen des Textes mit ihren jeweiligen Prämissen vorgestellt werden. Dazu wird eine Unterscheidung in Hermeneutik und Methodik vorgenommen. Abschließend werden die Beobachtungen der Gruppe zu Beginn der Auseinandersetzung mit denen am Ende verglichen und Entwicklungen herausgestellt.

1.

Erste Beobachtungen

Bevor sich die Gruppe anderen Interpretationen oder Auslegungen aus der Sekundärliteratur widmete, begann sie mit einer eigenen Auseinandersetzung mit der Perikope im Lukasevangelium. Lukas 2,36–38 erzählt vom Auftreten der Prophetin Hanna. In drei Versen wird Hanna in ihrer Funktion, mit ihrer Biografie, ihrem Alltag und einer besonderen Handlung vorgestellt: „Und sie trat zur selben Stunde herzu, lobte Gott und redete von ihm zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten.“ (v. 38) Da die Studiengruppe in ihrer Zusammenstellung sehr divers war, sei es in der Studienzeit, dem sozio-kulturellen Hintergrund, in der Geschlechterzusammensetzung oder der Prägung aus dem Elternhaus, unterschieden sich die

214

Sarah A. Ntondele

Wahrnehmungen der Perikope stark voneinander. Deutlich gemacht werden soll dies an vier bildlichen Vorstellungen der Figur Hanna. 1. Hanna ist eine jungfräuliche, hübsche Frau, die weite und dezente Kleidung trägt. Ihre Haut ist weiß1, blass und zart. 2. Hannas Haut ist weiß und blass. Ihre Haare sind blond. 3. Hanna ist eine nicht schöne, vom Leben gezeichnete, faltige, alte Frau. Sie ist verbittert, hat einen Buckel und ist sehr schwach. Ihre Haut ist dunkel. 4. Hanna ist eine sehr alte, ausgemergelte Frau in einfacher Kleidung. Sie trägt keinerlei Schmuck, ist dreckig und strahlt Glauben aus. Beim Betrachten dieser vier Vorstellungen fällt auf: Jeweils zwei der Vorstellungen ähneln sich auf erstaunliche Weise. Die jeweiligen Lebenshintergründe der Personen unterscheiden sich jedoch in vielfacher Weise voneinander. Woran kann die ähnliche Vorstellung der Figur Hanna also festgemacht werden? Auf diese Frage konnte keine abschließende Antwort gefunden werden. Eine Vermutung ist die ähnliche religiöse Prägung der zwei Personen in der Jugendzeit durch konservative Gemeinden, obwohl eine solche Prägung auch bei einer Person vorlag, die sich die Figur Hanna anders vorstellte. Um die Veränderungen der Vorstellungen der Gruppenmitglieder am Ende nachvollziehen zu können, sollen nun die im Verlauf der Forschungszeit behandelten Auslegungen mit ihren jeweiligen Prämissen vorgestellt werden.

2.

Harris, Janssen und Plaatjie – drei feministische Auslegungen im Vergleich

Für die Vorstellung der drei feministischen Auslegungen werden alle drei jeweils in Hinblick auf zwei Prämissen hin betrachtet. Zunächst werden in Kürze biografische Hintergründe der Theologinnen dargestellt, um diese dann in die Analyse ihrer jeweiligen Hermeneutik einfließen lassen zu können. In einem letzten Schritt wird die Methode der drei Theologinnen dargestellt, bevor ein Fazit den Vergleich abschließt.

1

Mit der Verwendung des Wortes „weiß“ (kursive Kleinschreibung) wird auf eine gesellschaftspolitische Norm und Machtposition verwiesen. Weiße Menschen müssen sich dabei selbst nicht als weiß oder privilegiert fühlen.

Der alten Witwe eine Stimme geben

2.1

Biografische Hintergründe

2.1.1

Sarah Harris

215

Sarah Harris ist eine weiße Theologin, die am Carey Baptist College in Neuseeland im Bereich des Neuen Testaments unterrichtet. In ihrer Forschung fokussiert sie sich auf das Lukasevangelium, Narrative Methodologie, Motive der Leiterschaft im Neuen Testament sowie Frauen in den Evangelien. Sie ist ordinierte anglikanische Priesterin. 2

2.1.2

Claudia Janssen

Claudia Janssen ist eine deutsche weiße evangelische Theologin, die in Kiel und Marburg Evangelische Theologie studierte. Sie wurde 1996 promoviert mit ihrer Arbeit „Elisabet und Hanna – zwei widerständige alte Frauen in neutestamentlicher Zeit“3. 2004 habilitierte sie sich. Heute ist sie Professorin für Neues Testament und Theologische Geschlechterforschung an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal.4

2.1.3

Gloria K. Plaatjie

Gloria K. Plaatjie ist eine Schwarze5 südafrikanische Theologin. Sie studierte an der Universität von KwaZulu-Natal und der Universität Limpopo in Südafrika. An der Universität Limpopo arbeitet sie heute in der Marketing- und Kommunikationsabteilung für Alumni und Kongresse.6

2 3

4 5

6

Vgl. Dr. Sarah Harris, Carey Baptist College, online, https://www.carey.ac.nz/team-member/dr-sarah-harris/ (Zugriffsdatum: 14.06.2022). Claudia Janssen, Elisabet und Hanna – Zwei widerständige alte Frauen in neutestamentlicher Zeit. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung, Mainz 1998. Vgl. Prof.’in Dr. Claudia Janssen, Kirchliche Hochschule Wuppertal, online, https://www.kiho-wb.de/personal/claudia-janssen/ (Zugriffsdatum: 14.06.2022). Schwarz (großgeschrieben) wird als Selbstbezeichnung von Menschen afrikanischer und afro-diasporischer Herkunft, schwarzer Menschen, Menschen dunkler Hautfarbe und People of Color gewählt. Das großgeschriebene „S“ wird bewusst gesetzt, um eine sozio-politische Positionierung in einer mehrheitlich weiß dominierten Gesellschaftsordnung zu markieren und gilt als Symbol einer emanzipatorischen Widerständigkeitspraxis. Siehe: www.diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/schwarz (Zugriffsdatum: 30.09.2022). Vgl. Ms Gloria Plaatjie, M&C Alumni & Convocations, online https://www.ul.ac.za/application/mc/index.php?Entity=marketing_com_alu, (Zugriffsdatum: 16.01.2022).

216

Sarah A. Ntondele

2.2

Hermeneutik

Mit Hermeneutik wird grundsätzlich die Lehre vom Verstehen bezeichnet. Im Kontext des Forschungsseminars handelt es sich konkret um eine Auseinandersetzung mit der Bibelhermeneutik. Die Hermeneutik hat damit einen klaren Gegenstand, die Bibel, welcher verstanden werden will. Die Bibelhermeneutik ist dabei nicht allein eine innertheologische Aufgabe, sondern beinhaltet alle gegenwärtig angewendeten Methoden und Theorien des Verstehens von Texten, da die Bibel nicht allein als ein religiöses Buch, sondern auch als ein Buch der Menschheitskultur verstanden wird.7 Im Rahmen der Bibelhermeneutik, also dem Versuch mithilfe von Methoden einen biblischen Text nachvollziehbar zu verstehen, muss auch die Perspektive der Theolog*innen reflektiert werden. Das Vorverständnis prägt die Blickrichtung, aus welcher auf den biblischen Text geschaut, welche Methoden gewählt und wie sie eingesetzt werden. Hierdurch treten je andere Besonderheiten innerhalb des biblischen Textes auf, die verschieden ausgelegt und gedeutet werden können. Die Reflektion der Herangehensweise an den biblischen Text, um zum Verstehen zu kommen, ist also zwingend notwendig. Als Hermeneutik wird im weiteren Verlauf des Textes also der geprägte Verstehensprozess und die Zielsetzung der Theologinnen bezeichnet.

2.2.1

Sarah Harris

Harris’ Hermeneutik ist stark von ihrem Hintergrund geprägt wie der fortgeschrittenen auf die ‚Geschlechter‘ bezogenen Gleichberechtigungsbewegung in Neuseeland und ihrer Leiterschafts- und Priesterrolle. Innerhalb ihrer feministischen Bibelhermeneutik fokussiert sie sich auf die Rolle der Frau und deren natürlichen Leitungsposition. Harris betrachtet die Bibelfiguren als Glaubensvorbilder und betont besonders deren Frömmigkeit und ihr Verhältnis zu Gott. Ihr ist es wichtig, die gewählte Perikope im Kontext des gesamten Lukasevangeliums zu sehen.8

2.2.2

Claudia Janssen

Das Ziel von Claudia Janssen ist es, alte Frauen in neutestamentlicher Zeit sichtbar zu machen. Alte Frauen würden nicht nur aufgrund ihres Alters, sondern

7

8

Vgl. Oda Wischmeyer, Einführung. Das Lexikon: Allgemeine Vorstellung – Forschungsstand – Idee – Positionierung – Realisierung, in: Dies. (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin 2009, IX–XXIX, hier: XXI. Vgl. Sarah Harris, Letting (H)Anna Speak. An Intertextual Reading of the New Testament Prophetess (Luke 2,36–38), in: FemTh 27 (2018), 60–74.

Der alten Witwe eine Stimme geben

217

auch wegen ihres ‚Geschlechts‘ strukturell benachteiligt. Diese zwei Eigenschaften treffen auch auf Hanna zu, weshalb Janssen sich in ihrer eigenen Exegese von Lk 2,36–38 besonders auf diese zwei Aspekte konzentriert. Janssen ist von der deutschen akademischen Theologie geprägt. Sie geht analytisch an den Bibeltext heran und versucht, ihren persönlichen Hintergrund herauszuhalten. Dieser zeigt sich jedoch in ihrem Ansatz, besonders alte Frauen des Neuen Testaments sichtbar zu machen, was sie durch zeitgenössische Erfahrungen begründet.9

2.2.3

Gloria K. Plaatjie

Plaatjies Vorgehensweise ist innerhalb des Hermeneutischen Dreiecks10 in der Ecke der Rezipient*innen und deren Umwelt einzuordnen. Konkret heißt dies, sie legt ihre interkulturelle, befreiende, und Schwarze feministische Hermeneutik in Südafrika zu Zeiten der Post-Apartheid für die Leser*innen offen. Gleichzeitig sprengt Plaatjie das klassische Verständnis des Hermeneutischen Dreiecks, indem sie existenzielle Bibelkritik betreibt, in der sie die Bibel mit ihren eingeschriebenen Machtverhältnissen kritisiert und in Frage stellt. Für Plaatjies hermeneutisches Nachdenken spielen insbesondere die Elemente ‚Rasse‘, ‚Klasse‘, ‚Geschlecht‘ und ‚Kultur‘ eine wichtige Rolle. Plaatjies Ziel ist es, Schwarze Frauen in Südafrika zu ermutigen und mit allen Mitteln auszustatten, um sich von allen Formen der patriarchalen Unterdrückung zu befreien.11

2.3

Methode

Mit Methode wird hier der konkrete Weg verstanden, das geregelte Verfahren, mit welcher der biblische Text erschlossen werden soll. Steckt die Hermeneutik den großen Rahmen ab, so zeigt sich in der Methode die konkrete praktische Arbeit an und mit dem biblischen Text. Im Bereich der Bibelhermeneutik kann aus einer Vielzahl von Methoden gewählt werden, die nach wie vor offen ist. Je

9

10

11

Vgl. Claudia Janssen/Regene Lamb, Das Evangelium nach Lukas. Die Erniedrigten werden erhöht, in: von Luise Schottroff/Marie-Theres Wacker (Hg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1998, 513–526. Für Hermeneutisches Dreieck siehe Susanne Luther/ Ruben Zimmermann, Bibelauslegung als Verstehenslehre, in: Dies. (Hg.), Studienbuch Hermeneutik. Bibelauslegung durch die Jahrhunderte als Lernfeld der Textinterpretation. Portraits – Modelle – Quellentexte, Gütersloh 2014, 13–72, hier: 59–64. Vgl. Gloria K. Plaatjie, Toward a Post-apartheid. Black Feminist Reading of the Bible: A Case of Luke 2:36–38, in: Musa W. Dube (Hg.), Other Ways of Reading: African Women and the Bible, Atlanta, Geneva 2001, 114–142.

218

Sarah A. Ntondele

nach Erkenntnisziel, welches von der Hermeneutik bestimmt wird, variiert die Methodenwahl.12

2.3.1

Sarah Harris

Sarah Harris‘ Ziel ist es, Hanna eine Stimme zu geben. Dafür verwendet sie verschiedene Methoden. Aus dem Bereich der feministischen Exegese bedient sie sich des Fokus auf die Rolle der Frau innerhalb der Perikope, insbesondere auf die Frage der Gleichberechtigung und der herausgehobenen Leitungsposition von Hanna als Prophetin. Von der intertextuellen Exegese den Methoden der Zeichensysteme und der analytisch-kreativen Herausarbeitung einer eigenen Stimme. Die meisten der genutzten Methoden von Harris stammen aus dem Bereich der historischen Kritik. Sie bedient sich der Textkritik, der semantischsyntaktischen Analyse der Worte, der Redaktionskritik, der Kontextanalyse und der Analyse des kulturellen und historischen Kontextes. In der Anwendung dieses zusammengestellten Methodenkoffers geht sie in drei Schritten vor: Zunächst ordnet Harris die Perikope als Ganzes in den größeren Kontext des Lukasevangeliums ein. Es folgt die Einordnung der Figur Hanna in die Reihe biblischer Prophetinnen, um ihre Rolle als Prophetin zu verstehen. Harris wählt hierfür die alttestamentlichen Prophetinnen Miriam, Deborah und Hulda, weil sie eine Stimme im biblischen Text verliehen bekommen haben und so für ihr Ziel, Hanna eine Stimme zu geben, fruchtbar gemacht werden können. Im dritten und letzten Schritt vollzieht Harris dann einen intertextuellen Vergleich zu Judith, die auffällige Parallelen zu Hanna besitzt, im Zuge dessen sie eine mögliche Stimme für Hanna herausarbeitet.

2.3.2

Claudia Janssen

Claudia Janssen verwendet die sozialgeschichtliche Methode mit dem Ziel, Einblicke in den Alltag von alten Menschen in der Antike zu erlangen. Dafür beginnt Janssen mit einer Literaturrecherche des zu dem Zeitpunkt ihres Arbeitens aktuellen Bestandes: Wie wird Hanna wahrgenommen? Welche Bedeutung wird ihrem Dienst im Tempel zugeschrieben? Was wird über messianische Traditionen ausgesagt und welche Bedeutung wird ihrem Alter beigemessen? In einem zweiten Schritt erarbeitet Janssen ihre eigene Exegese und fokussiert sich dabei auf Traditionen der Prophetie von Frauen, den Dienst Hannas, der Bedeutung des Tempels, dem Begriff der Erlösung/Befreiung und der Bedeutung des hohen Lebensalters Hannas. Innerhalb dieses Schrittes betrachtet sie die Perikope Vers für Vers und vollzieht eine intertextuelle Analyse einzelner griechischer Wörter 12

Vgl. Emil Angehrn, Art. Methode(n). VII. Philosophisch, in: Oda Wischmeyer (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin 2009, 387– 388.

Der alten Witwe eine Stimme geben

219

(προφῆτις, λατρεύω, νηστεία, δέησις, λύτρωσις), die für ihre Fokussierungen von Bedeutung sind.

2.3.3

Gloria K. Plaatjie

Gloria K. Plaatjie bedient sich der Grassroot-Methode, um im direkten Austausch mit nicht-akademischen Schwarzen Frauen zu praktischen Einsichten der Umsetzung zu kommen.13 Zunächst artikuliert Plaatjie jedoch ihre Vorverständnisse: Sie grenzt sich in ihrer Methode klar von Gerald West14 ab, der als ein weißer gebildeter Theologe den Schwarzen Frauen Sympathie und Solidarität entgegenbringt, indem er versucht, die nicht-akademischen Frauen mit akademischen Methoden auszustatten. Seine Unterscheidung von gebildeten und ungebildeten Leserinnen beurteilt Plaatjie jedoch als problematisch. Sie nimmt dafür den Ansatz von Musa W. Dube15 auf, nach dem nicht nur mit den nicht-akademischen Frauen die Bibel zusammengelesen werden soll, sondern auch eine Bereitschaft existieren muss, von ihnen zu lernen. Die Ansichten von Musimbi Kanyoro16 und Dora Mbuwayesango17 bestätigt Plaatje und bearbeitet sie kritisch: Einige Schwarzen Frauen hätten die patriarchale Kultur „internalized“, d. h. sie hielten die traditionellen Rollenansichten von Frauen für selbstverständlich und seien deswegen sowohl der Bibel als auch der eigenen Kultur gegenüber nicht kritisch genug. Im zweiten Schritt nutzt Plaatjie die Grassroot-Methode: Sie liest die Perikope gemeinsam mit nicht-akademischen Schwarzen Frauen in Südafrika. Im Ergebnis nach dem gemeinsamen Lesen der Bibel präsentiert sie verschiedene Lesarten nebeneinander. Es zeigt sich eine Pluralität der Interpretationen trotz der scheinbar homogenen Gruppe: Eine Lesart innerhalb der patriarchalen Strukturen und eine Lesart, die den Schwarzen Frauen Möglichkeiten bietet, sich von patriarchaler Unterdrückung zu befreien, bilden dabei das Zentrum. Nachfolgend zieht Plaatjie neben der Bibel auch den Text der südafrikanischen Verfassung heran, um mithilfe dieser der Bibel selbst und afrikanischen 13

14

15 16 17

Vgl. Musa W. Dube, Readings of Semoya: Batswana Women’s Interpretations of Matt. 15:21–28, in: Gerald O. West/Musa W. Dube (Hg.), „Reading With“ African Overtures, Semeia 73, Atlanta 1996, 111–129. Vgl. Gerald O. West, Reading the Bible Differently: Giving Shape to the Discourses of the Dominated, in: Gerald O. West/Musa W. Dube (Hg.), „Reading With“ African Overtures, Semeia 73, Atlanta 1996, 21–41; West, Gerald O., Biblical Hermeneutics of Liberation: Modes of Reading the Bible in South African Context. Pietermaritzburg 21995. Vgl. Dube, Readings, 111–129. Vgl. Musimbi Kanyoro, Cultural Hermeneutics: An African Contribution, in: Ofelia Ortega (Hg.), Women’s Visions. Theological Reflections, Celebration, Action, Geneva 1995, 18–28. Vgl. Dora R. Mbuwayesango, Childlessness and Women-to-Women Relationships in Genesis and in African Patriarchal Society. Sarah and Hagar from Zimbabwean Women’s Perspective, in: Phyllis A. Bird, Reading the Bible as Women. Perspectives from Africa, Asia, and Latin America, Semeia 78, Atlanta 1998, 27–36.

220

Sarah A. Ntondele

Kulturen kritisch gegenüber stehen zu können. Da in der Verfassung festgeschrieben ist, dass alle Menschen unabhängig ihres ‚Geschlechts‘, ihrer ‚Klasse‘ oder ihrer Hautfarbe gleichberechtigt sind, kann es den ungleichen Machtverhältnissen aus der Bibel und afrikanischen Kulturen entgegenstehen. Im letzten Schritt lässt Plaatjie ihre Beobachtungen und Erkenntnisse in der praktischen Umsetzung ihrer interkulturellen, befreienden, und Schwarzen feministischen Hermeneutik münden.

3.

Vergleich und Fazit

3.1

Vergleich der drei feministischen Auslegungen

Gemeinsam ist allen drei Auslegungen, dass sie sich gegen das Patriarchat wenden und sich selbst als feministisch verstehen. Dabei unterscheiden sie sich jedoch sehr in ihrer Herangehensweise und Interpretation, die jeweils von ihren biografischen sowie soziokulturellen Hintergründen und Kontexten bestimmt sind. Harris und Janssen ähneln sich stärker, sowohl in ihren Kontexten als auch in ihren Hermeneutiken und ihren gewählten Methoden. Sie nutzen die patriarchalen Strukturen sowie ihre Privilegien als weiße akademische Frauen im westlichen Wissenschaftssystem, um so von innen heraus Widerstand zu üben: Sie geben Hanna eine Stimme, gehen dabei aber ‚von oben‘ vor, indem sie die in der westlichen Wissenschaft etablierten Methoden nutzen, um ihr Ziel zu erreichen. Plaatjie hingegen verwehrt sich den in der westlichen Wissenschaft etablierten Methoden und nutzt gezielt andere, um das System aufzubrechen. Sie offenbart ihre kontextuelle Prägung und geht ‚von unten‘ vor: Sie kommuniziert mit nicht-akademischen Schwarzen Frauen, um mit und von ihnen lernend zu einer Textinterpretation zu gelangen.

3.2

Fazit: Zentrale Aspekte

In der Auseinandersetzung mit den drei gewählten feministischen Auslegungen fallen drei Punkte besonders auf. 1. Die Auslegungen sind immer von der Hermeneutik der Autorinnen abhängig. Da die Hermeneutik die Blickrichtung und Zielsetzung des Verstehensprozesses fundamental prägen, ist es unmöglich, die Auslegungen unabhängig von der jeweiligen Hermeneutik zu betrachten

Der alten Witwe eine Stimme geben

221

2. Zwischen Hermeneutik und Methode kann unterschieden werden. Wurde die Hermeneutik der Autor*innen herausgearbeitet, können folgend die einzelnen Methodenschritte ausgemacht werden. Die Wahl und die Art und Weise des Einsatzes der Methoden lassen wiederum Rückschlüsse auf die Hermeneutik der Autor*innen zu. 3. Verschiedene Hermeneutiken mit ihrer jeweiligen Methodenwahl legen jeweils unterschiedliche Aspekte des biblischen Textes frei. Mit Oeming lässt sich sagen, „daß jede der Methoden bestimmte Facetten des Bibeltextes klar erhellen kann und somit ein relatives Recht hat, daß aber andererseits jede ihre blinden Flecken hat und somit derw [sic!] kritischen Ergänzung bedarf.“18

3.3

Die Veränderung der ersten Beobachtungen

Abschließend soll die Frage beantwortet werden, wie sich nun die ersten Beobachtungen der Gruppe durch die Auseinandersetzung entwickelt haben. Dies wird erneut an der Figur Hanna illustriert. Der Blick auf die Figur der Hanna hat sich von stärker äußerlichen Merkmalen auf innere Merkmale verschoben. Ihre Hautfarbe und auch ihre körperliche Verfassung sind nicht mehr ausschlaggebend für die Beschreibung der Figur. Hanna hat sehr viel Selbstbewusstsein gewonnen und ist zu einer Kämpferin für die Befreiung geworden. Sie hat eine starke Persönlichkeit, ist körperlich stark und kräftig oder strahlt dies aus. Sie steht nun im Zentrum des Tempels – zuvor wurde sie in einer Ecke verortet – ist mutig ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und als Prophetin vorne zu stehen. Alle drei feministischen Auslegungen haben jeweils auf ihre eigene Weise die Selbstständigkeit und das Selbstbewusstsein von Hanna betont, was sich in den Veränderungen der ersten Beobachtungen deutlich niederschlägt. Außerdem wurde die Vielseitigkeit der Person herausgestellt, sodass sie zu einer wirklichen Inspirations- und Identifikationsfigur für die Gruppe werden konnte.

18

Manfred Oeming, Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 42013, 175.

222

Sarah A. Ntondele

Literatur Angehrn, Emil, Art. Methode(n). VII. Philosophisch, in: Oda Wischmeyer (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin 2009, 387–388. Dr. Sarah Harris, online, https://www.carey.ac.nz/team-member/dr-sarah-harris/, (Zugriffsdatum: 14.06.2022). Dube, Musa W., Readings of Semoya: Batswana Women’s Interpretations of Matt. 15:21–28, in: Gerald O. West/Musa W. Dube (Hg.), „Reading With“ African Overtures, Semeia 73, Atlanta 1996, 111– 129. Erbele-Küster, Dorothea, u. a., Art. Feministische Bibelhermeneutik, in: Oda Wischmeyer (Hg.), LBH (2008), 176f. Harris, Sarah, Letting (H)Anna Speak. An Intertextual Reading of the New Testament Prophetess (Luke 2,36–38), in: FemTh 27 (2018), 60–74. Janssen, Claudia, Art. Exegese, Feministische, in: WiBiLex, 2018, (Zugriffsdatum: 15.01.2022). Janssen, Claudia, Elisabet und Hanna – Zwei widerständige alte Frauen in neutestamentlicher Zeit. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung, Mainz 1998. Janssen, Claudia, Lamb, Regene, Das Evangelium nach Lukas. Die Erniedrigten werden erhöht, in: von Luise Schottroff/Marie-Theres Wacker (Hg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1998, 513–526. Kanyoro, Musimbi, Cultural Hermeneutics: An African Contribution, in: Ofelia Ortega (Hg.), Women’s Visions: Theological Reflections, Celebration, Action, Geneva 1995, 18–28. Luther, Susanne/Zimmermann, Ruben, Bibelauslegung als Verstehenslehre, in: Dies. (Hg.), Studienbuch Hermeneutik. Bibelauslegung durch die Jahrhunderte als Lernfeld der Textinterpretation. Portraits – Modelle – Quellentexte, Gütersloh 2014, 13–72. Mbuwayesango, Dora R., Childlessness and Women-to-Women Relationships in Genesis and in African Patriarchal Society: Sarah and Hagar from Zimbabwean Women’s Perspective, in: Phyllis A. Bird, Reading the Bible as Women: Perspectives from Africa, Asia, and Latin America, Semeia 78, Atlanta 1998, 27–36. M&C Alumni & Convocations, online, https://www.ul.ac.za/application/mc/index.php?Entity=marketing_com_alu, (Zugriffsdatum: 16.01.2022). Oeming, Manfred, Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 42013. Plaatjie, Gloria K., Toward a Post-apartheid. Black Feminist Reading of the Bible: A Case of Luke 2:36– 38, in: Musa W. Dube (Hg.), Other Ways of Reading: African Women and the Bible, Atlanta, Geneva 2001, 114–142. Prof.’in Dr. Claudia Janssen, online, https://www.kiho-wb.de/personal/claudia-janssen/, (Zugriffsdatum: 14.06.2022). West, Gerald O., Biblical Hermeneutics of Liberation: Modes of Reading the Bible in South African Context. Pietermaritzburg 21995. West, Gerald O., Reading the Bible Differently: Giving Shape to the Discourses of the Dominated, in: in: Gerald O. West/Musa W. Dube (Hg.), „Reading With” African Overtures, Semeia 73, Atlanta 1996, 21–41. Wischmeyer, Oda, Einführung. Das Lexikon: Allgemeine Vorstellung – Forschungsstand – Idee – Positionierung – Realisierung, in: Dies. (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin 2009, IX–XXIX.

Trennung und Versöhnung Zwei Auslegungen zu Gen 11,1–9 im Kontext der Apartheid Fabienne Maria Gürtler, Leander Heinrich, Lisa Nergiz Uykan

1. Einleitung Dieser Beitrag geht auf ein studentisches Forschungsprojekt im Rahmen eines interdisziplinären Seminars an der Ruhr-Universität Bochum zurück. Dort lernten die Verfasser:innen Auslegungstraditionen und hermeneutische Zugänge zur Bibel kennen, die außerhalb der westlich-akademischen Theologie entstanden sind. Im Anschluss wurden selbstständig Bibelauslegungen aus unterschiedlichen globalen Kontexten auf die in ihnen zutage tretenden hermeneutischen Zugänge, Vorannahmen und Machtstrukturen hin untersucht. Die Ergebnisse wurden im Seminar vorgestellt und liegen in Form dieses Beitrags vor. Für dieses Projekt wurden zwei Auslegungen zu Gen 11,1–9 ausgewählt, die in Südafrika zur Zeit der Apartheid entstanden sind: Ein Abschnitt aus dem Synodenbeschluss Human Relations and the South African Scene in the Light of Scripture (im Folgenden nach dem Titel auf Afrikaans kurz RVN) der Nederduitse Gereformeerde Kerk (im Folgenden kurz NGK), der im Jahr 1976 auf Englisch veröffentlicht wurde,1 sowie der Aufsatz Christianity and Apartheid des ehemaligen anglikanischen Erzbischofs von Kapstadt und Anti-Apartheid-Aktivisten Desmond Tutu aus dem Jahr 1983.2 In diesem Beitrag sollen nach einer kurzen Einführung in die historische Situation zunächst die beiden Auslegungen zu Gen 11,1–9 dargestellt werden. Diese Perikope wurde für die vorliegende Untersuchung ausgewählt, da ihr in RVN eine zentrale Rolle für die Argumentation zukommt und zu ihr als einem 1

2

General Synod of the Dutch Reformed Church (Hg.), Human Relations and the South African Scene in the Light of Scripture. Official translation of the report ‚Ras, Volk en Nasie en Volkereverhoudinge in die lig van die Skrif‘, approved and accepted by the General Synod of the Dutch Reformed Church, Kapstadt/Pretoria 1976. Desmond Tutu, Christianity and Apartheid, in: John W. De Gruchy/Charles Villa-Vicencio (Hg.), Apartheid is a Heresy, Claremont/Guildford 1983, 39–47.

224

Fabienne Maria Gürtler, Leander Heinrich, Lisa Nergiz Uykan

der wenigen Texte Auslegungen sowohl für als auch gegen die Apartheid vorliegen.3 Ebenfalls wird hier besonders die pseudowissenschaftliche Anwendung des Textes auf das rassistische Apartheid-System sichtbar. Im Anschluss werden die beiden Auslegungen verglichen: Wo zeigen sich Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede? Dabei wird besonders die Bewertung des Geschehens in Babel im Vordergrund stehen: Handelt es sich um den Tiefpunkt menschlicher Sünde, bevor Gott seine Heilsgeschichte anbrechen lässt, oder ist die Sprachverwirrung vielmehr die Vollendung des göttlichen Schöpfungswillens für die Menschheit? Und: In welcher Beziehung steht das Geschehen im biblischen Text zur Situation in Südafrika? Des Weiteren soll danach gefragt werden, wie sich die unterschiedlichen Positionen der beteiligten Theologen im Machtsystem der Apartheid in ihren jeweiligen Bibelauslegungen niederschlagen. Weiterhin soll aufgezeigt werden, welche politischen Konsequenzen die Akteure aus ihren Bibelauslegungen ziehen, und wo die Schwachstellen von RVN im Umgang mit dem eigenen Kontext und dem Text der Erzählung liegen. So lassen sich abschließend Konsequenzen für den verantwortungsvollen Umgang mit biblischen Texten formulieren.

2. Analyse der Auslegungen 2.1

Historische Situation

Die beiden hier vorgestellten Auslegungen zu Gen 11,1–9 entstanden in den 1970er bzw. 1980er Jahren im durch die Apartheid geprägten Südafrika. Um den Einfluss dieser Situation auf die untersuchten Texte nachvollziehen zu können, soll hier zunächst dargestellt werden, wie das Apartheid-System entstand und welche Auswirkungen es auf das Leben nicht-Weißer und insbesondere Schwarzer Südafrikaner:innen hatte. Bereits 1857 verabschiedete die Synode der NGK einen Beschluss, demzufolge nach races getrennte Abendmahlsfeiern erlaubt seien. Hieraus entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten eine vollständige institutionelle Trennung der Kirchen unter dem Schirm der NGK, die ihre Mitglieder strikt nach race un-

3

Vgl. hierzu auch Moritz Gräper, Art. Rassismus, Abschn. 2.3. Apartheid in Südafrika (1948– 1994), in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2020 (Zugriffsdatum: 29.06.22). Sowie: Douglas Bax, Kritik der Apartheid im Hören auf das Wort, in: John de Gruchy/Charles Villa-Vicencio (Hg.), Wenn wir wie Brüder beieinander wohnten… Von der Apartheid zur Bekennenden Kirche – Stellungnahmen südafrikanischer Theologen, Neukirchen-Vluyn 1984, 137-170, hier: 142: „Der biblische Schlüsseltext in der Argumentation des Berichts ist die Erzählung vom Turm zu Babel.“

Trennung und Versöhnung

225

terteilte und nicht-Weiße Christ:innen in von der Mutterkirche getrennten Kirchen unterbrachte.4 Dieses System wurde nach der Erlangung der politischen Macht durch die Afrikaner5-nationalistische Nationale Partei im Jahr 1948 zu einem die gesamte Gesellschaft umfassenden System der strengen Trennung zwischen den races – der Apartheid – ausgebaut, wobei man auf die bereits bestehende rassistische Gesetzgebung aufbauen konnte.6 So konnte der südafrikanische Premierminister Daniel François Malan konstatieren: „It was not the state but the church who took the lead with apartheid. The state followed the principle laid down by the church [...].“7 Die Apartheid-Politik hatte verheerende Folgen: So wurden Millionen Schwarze Südafrikaner:innen aus ihrer Heimat vertrieben, ausgebürgert und in unfruchtbare Regionen umgesiedelt. Viele Betroffene durften nur als Arbeitsmigrant:innen im Rest des Landes leben und waren umfassenden politischen Repressalien ausgesetzt. Nicht zuletzt wurden Schwarzen Südafrikaner:innen schlechtere Bildungsmöglichkeiten zugestanden.8 Der Kampf gegen die Apartheid wurde im Laufe der Jahrzehnte von vielen unterschiedlichen politischen und religiösen Gruppen und Akteur:innen getragen. Hierzu gehörte auch der Schwarze anglikanische Theologe Desmond Tutu, der über die Grenzen Südafrikas hinaus bekannt wurde. Auch nach dem Ende der Apartheid engagierte sich Tutu in der Wahrheits- und Versöhnungskommision, deren Vorsitz er ab 1995 innehatte.9 Diese hatte zur Aufgabe, das während der Apartheid verursachte Unrecht aufzuklären, den Opfern die Möglichkeit zu geben, ihr Leiden zu schildern, sowie auf Versöhnung in der südafrikanischen Gesellschaft hinzuarbeiten.10

4

5

6 7 8 9

10

Vgl. Moritz Gräper, Wahrhaftigkeit und Interpretation. Der Streit um die wahre Bibelauslegung in Südafrika während der Apartheid, in: Hermeneutische Blätter 24/1 (2018), 7–19, hier: 11f. Als Afrikaner (im Text kursiv) wurde die Weiße afrikaanssprachige Minderheit in Südafrika bezeichnet. Vgl. Louis Jonker, The Biblical Legitimization of Apartheid Theology, in: Scriptura 77 (2001), 165-183, hier: 167. Zitiert bei Gräper, Wahrhaftigkeit, 10. Vgl. Tutu, Christianity, 46. Vgl. Evangelisch.de, Desmond Tutu gestorben, Online-Artikel, veröffentl. am 26.12.2021, online zugänglich unter: https://www.evangelisch.de/inhalte/194747/26-12-2021/desmond-tutu-gestorben (Zugriffsdatum: 31.07.2022). Vgl. Dirk Jacobus Smit, Art. Südafrika, in: TRE Online (https://www.degruyter.com/database/tre/html), Berlin / New York 2010, 322-332, hier: 331 (Zugriffsdatum: 31.07.2022). Smits Artikel bietet darüber hinaus einen Überblick über die Geschichte der Apartheid sowie andere Akteur:innen, die sich dem Kampf gegen die Apartheid verschrieben hatten.

226

2.2

Fabienne Maria Gürtler, Leander Heinrich, Lisa Nergiz Uykan

Ras, Volk en Nasie11

Viele Theologen der NGK standen vor dem „Problem“, das bestehende Apartheid-System zu rechtfertigen. Sie begannen ihre Antworten gezielt in der Bibel zu suchen, um ihr Vorgehen theologisch zu begründen. Daraus entstand die Veröffentlichung der Generalsynode der NGK, Ras, Volk en Nasie (RVN), die im Jahr 1975 auf Afrikaans und ein Jahr später auf Englisch veröffentlicht wurde. Darin werden unterschiedliche Bibelstellen zur Legitimierung des bestehenden Apartheid-Systems herangezogen, darunter auch Gen 11,1–9. Diese Erzählung wird als Fortführung des göttlichen Auftrags bei der Schöpfung und nach der Sintflut (Gen 1,28; Gen 9,1.7) gesehen, dass die Menschheit „die Erde füllen“ solle. Stattdessen sammelt sich die Menschheit in der Ebene in Sinear, bildete eine homogene Kultur und breitet sich nicht aus. Die Menschheit entschied sich aktiv dazu, gegen Gottes Willen zu handeln. Darin bestand die eigentliche Sünde der Menschheit in Babel. Als Reaktion darauf teilte Gott die Menschheit in unterschiedliche Sprachgruppen ein, die sich schließlich auf der Erde verteilten und aus denen sich verschiedene Kulturen und daraus auch races entwickelten. Der NGK-Theologe J.D. du Toit hatte bereits 1944 unter Bezugnahme auf Gen 1 betont, dass Gott die ganze Welt durch Trennung erschaffen habe. Für die Menschheit gelte das gleiche Prinzip: Gott habe den Nationen jeweils eigene, voneinander getrennte Lebensbereiche zugewiesen, was schließlich gegen den Widerstand der Menschen in Babel durchgesetzt worden sei. Schon bei du Toit liegen also die Grundlagen der Argumentation in RVN vor.12 Gen 11,1–9 wird in RVN als ethische Weisung verstanden, das bestehende Apartheid-System innerhalb der Gesellschaft durchzusetzen. Der Kirche kommt dabei die prophetische Aufgabe zu, Staat und Gesellschaft daran zu erinnern, biblische Normen aufrechtzuerhalten.13 Somit wird die Apartheid als dem göttlichen Willen entsprechend verstanden und auf diese Weise legitimiert.

2.3

Desmond Tutu: Christianity and Apartheid14

Tutus Auslegung der Geschichte vom Turmbau zu Babel ist vom hebräischen Begriff Shalom geprägt, der die von Gott betonte Einheit der Menschen hervorhebt. 11 12

13 14

Zum folgenden Abschnitt vgl. General Synod of the Dutch Reformed Church, Human Relations, 15–19. Vgl. Robert R. Vosloo, The Bible and the justification of apartheid in Reformed circles in the 1940’s in South Africa. Some historical, hermeneutical and theological remarks, in: Stellenbosch Theological Journal 1/2 (2015), 195–215, hier: 196f. Vgl. General Synod of the Dutch Reformed Church, Human Relations, 11. Zu den folgenden Ausführungen vgl. Tutu, Christianity, 39–47.

Trennung und Versöhnung

227

Shalom beschreibt dabei einen Zustand von Frieden, Einheit, Gerechtigkeit und Gemeinschaft, der laut Tutu am Anfang der Schöpfungserzählung auf der Erde herrschte und sowohl die Beziehung zwischen Gott und den Menschen als auch die Beziehung zwischen den Menschen untereinander prägte. In der Erzählung Adams und Evas kommt es für Tutu erstmals zu einem Zerfall von Shalom. Durch Adam und Eva wurde die Sünde in die Welt gebracht, was zu einem zunehmenden Zustand von Disharmonie, Zerstörung und Trennung führte. Der Höhepunkt der menschlichen Sündhaftigkeit ist dann in Gen 11,1–9, der Geschichte vom Turmbau zu Babel, zu finden, wo die Menschen aus Hochmut einen Turm bauen und Gott als Reaktion darauf ihre Sprache verwirrt, sodass eine Gemeinschaft unter den Menschen nicht mehr möglich ist. Tutu betont dabei immer wieder, dass es die Sünde ist, die es den Menschen unmöglich macht, in Gemeinschaft und Frieden zu leben. Diesen getrennten und konfusen Zustand der Menschheit will Gott jedoch nicht aufrechterhalten, weshalb er direkt im Anschluss an die Erzählung vom Turmbau zu Babel mit der Berufung Abrahams in Gen 12 die Heilsgeschichte in Bewegung setzt, welche ihren Höhepunkt in der Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi findet. Durch Christus soll die Menschheit letztlich wieder eins werden; auf der Welt soll so der Zustand von Shalom wiederhergestellt werden. Durch Jesus Christus ist die Menschheit wieder mit Gott versöhnt worden. Das Neue Testament zeichnet sich für Tutu demnach besonders dadurch aus, dass es bezeugt, wie Gott versucht, die durch die Sünde verursachte Zerstörung zu beseitigen und den von ihm gewollten Zustand von Shalom wiederherzustellen. Für Tutu leugnet die Apartheid und die sie legitimierende Theologie dieses Zeugnis und demnach den zentralen Kern des christlichen Glaubens: die Versöhnung der Menschen mit Gott und untereinander, die durch die Kreuzigung Jesu Christi erfolgt ist. Nicht die Versöhnung, Harmonie und Einheit der Menschen steht für die an RVN beteiligten Theologen im Vordergrund, sondern Trennung, Zerstörung und Entfremdung. Die Apartheid-Theologie steht für Tutu damit zum einen im Widerspruch zur biblischen Botschaft; zum anderen verstärkt sie die durch die Sünde hervorgerufene Trennung der Menschen.

2.4

Vergleich der beiden Auslegungen

Beide Auslegungen nehmen die Erzählung vom Turmbau zu Babel im größeren Kontext der Urgeschichte wahr, die sich mit dem Verhältnis Gottes zur gesamten Menschheit auseinandersetzt. Die Urgeschichte beginnt mit den beiden Schöpfungserzählungen in Gen 1,1–2,4 bzw. Gen 2,5–3,24. Insbesondere im zweiten Schöpfungsbericht wird dabei ein idealer Urzustand beschrieben, in dem die Menschen mit Gott und ihrer Umwelt in Einklang leben. Mit dem „Sündenfall“ in Gen 3 wird, wie Tutu beschreibt, ein von Sünde

228

Fabienne Maria Gürtler, Leander Heinrich, Lisa Nergiz Uykan

geprägtes Zeitalter eingeleitet, das seinen Höhepunkt im Geschehen in Babel findet und zur Trennung zwischen den Menschen führt.15 Folgt man dem Erzählverlauf in Genesis, liegt der erste Unterschied zwischen den beiden Auslegungen darin, ob Gott bereits bei der Schöpfung die Einheit bzw. Trennung der Menschheit beabsichtigt hatte. RVN interpretiert die Weisung Gottes in der ersten Schöpfungserzählung, „die Erde zu füllen“ (Gen 1,28), als Aufforderung an die Menschheit, sich auch tatsächlich räumlich auf der Erde auszubreiten, sodass sich durch diese Distanz unterschiedliche Kulturen entwickeln, die sich nicht miteinander vermischen. Entgegen Gottes Willen sammelte sich die Menschheit allerdings in Babel an einem Ort und bildete so eine homogene Kultur – nach RVN ein Verstoß gegen dieses göttliche Gebot.16 Es besteht demnach eine Kontinuität zwischen dem Gebot Gottes in Gen 1,28 und der Sprachverwirrung in Gen 11,1–9: Letztere „vollendet“ die Absicht Gottes für die Menschheit und erhält dadurch eine nicht rein negative Bewertung. Durch Gottes Eingreifen teilte sich die Menschheit nach RVN in unterschiedliche Sprachgruppen auf, aus denen im Laufe der Zeit eigene Kulturen und letztlich auch verschiedene races hervorgingen. Dies geht laut RVN nicht aus der Bibel hervor, es handle sich vielmehr um „Fakten der Geschichte“: „That the differentiation of humanity into various language groups and ‚nations‘ was extended further to give rise to race [Hervorhebung im Original] differences is not, in fact, mentioned in the scriptures in so many words, but is nevertheless confirmed by the facts of history. The ancient Egyptians were already familiar with a division of mankind into (five!) [Parenthese im Original] races.“17 Die Verfasser verstehen die Unterschiede zwischen den races offenbar als Konsequenz aus der getrennten Entwicklung der unterschiedlichen Kulturen, die sich wiederum aus den Sprachgruppen entwickelt hätten. Dabei wird die neuzeitliche Kategorie race in die Bibel hineingelesen, ohne dass es dafür Anhalt im Text gäbe.18 Dies wird von den Verfassern sogar explizit gemacht, wird allerdings mit dem Vergleich auf eine ägyptische Schrift verbunden, die nicht näher bezeichnet wird. Dabei ist unklar, um welche Schrift es sich handelt, oder welcher Begriff im ägyptischen Text durch die Verfasser hier mit race wiedergegeben wird. Obwohl es für eine reformierte Kirche leitend sein sollte, verletzt die NGK hierbei das sola scriptura-Prinzip, da zur Rechtfertigung der eigenen Dogmen die „Geschichte“ als zusätzliche Offenbarungsquelle herangezogen wird.19 15 16 17 18

19

Vgl. auch Tutu, Christianity, 40f. Vgl. General Synod of the Dutch Reformed Church, Human Relations, 16. A. a. O., 16f. Vgl. Willem Vorster, Die Apartheid und das Lesen in der Bibel, in: John de Gruchy/Charles Villa-Vicencio (Hg.), Wenn wir wie Brüder beieinander wohnten… Von der Apartheid zur Bekennenden Kirche – Stellungnahmen südafrikanischer Theologen, Neukirchen-Vluyn 1984, 117–132, hier: 129. Vgl. Bax, Kritik, 149f.

Trennung und Versöhnung

229

In Desmond Tutus Auslegung der Schöpfungserzählung steht hingegen der harmonische Shalom-Zustand der Urzeit im Vordergrund. Dabei geht es ihm nicht darum, die Vielfalt der Schöpfung und somit auch der Menschheit zu verneinen; Vielfalt und Einheit schließen sich nicht gegenseitig aus: „Diversity undergirds and leads to unity and interdependence, with the different limbs of the body each needing the others in order to live fully for the good of the whole.“20 Als Reaktion auf die menschliche Sünde „züchtigt“ Gott die Menschheit, was aber nicht als Fortführung von Gen 1,28 verstanden werden kann. Trennung und Unordnung sind damit Konsequenzen der Sünde und nicht Teil von Gottes ursprünglichem Schöpfungsplan. Um diesem Zustand entgegenzuwirken, setzt Gott die sogenannte Heilsgeschichte in Bewegung, die in der Versöhnung der Menschheit mit Gott in Jesus Christus gipfelt. Somit wird erreicht, dass in der Endzeit der Shalom-Zustand der Urzeit wiederhergestellt wird, was auch die Versöhnung der Menschheit untereinander impliziert. 21 Statt der Fortführung der Apartheid fordert Tutu eine Rückbesinnung auf Christus, der die Trennungen zwischen den Völkern überwunden hat, weshalb innerhalb der Kirche die Zugehörigkeit zu einem Volk oder einer race keine Rolle mehr spielen darf.22 Die Apartheid hat nach Tutu nicht nur keine biblische Legitimation, sondern ist auch angesichts der verheerenden Folgen für die Schwarze Bevölkerung Südafrikas abzulehnen.23 Darüber hinaus formuliert er abschließend: „For my part, its most vicious, indeed its most blasphemous aspect, is not the great suffering it causes its victims, but that it can make a child of God doubt that he is a child of God. For that alone, it deserves to be condemned as a heresy.“24

3. Fazit und abschließende Überlegungen Bei der Untersuchung der beiden Auslegungen ist deutlich geworden, wie eng sie an ihren Entstehungskontext gebunden sind. Sie wurden für eine bestimmten Kreis von Adressat:innen zu einer bestimmten Zeit verfasst; gerade die Interpretation in RVN ist außerhalb dieses Kontextes schwer nachzuvollziehen. So stieß die theologische Legitimation der Apartheid durch die NGK auf Unverständnis und Ablehnung in der weltweiten Christenheit, wie die Reaktionen vieler Kirchen innerhalb und außerhalb des NGK-Kirchenverbundes belegen.25 20 21 22 23 24 25

Tutu, Christianity, 43. Vgl. a. a. O., 41. Vgl. a. a. O., 42f. Vgl. a. a. O., 45f. A. a. O., 46f. Vgl. Gräper, Wahrhaftigkeit, 17f. Sowie: Jonker, Legitimization, 168f.

230

Fabienne Maria Gürtler, Leander Heinrich, Lisa Nergiz Uykan

Die Apartheid wurde von der südafrikanischen Regierung als Zivilisationsprojekt ausgegeben, in dem die Weiße Minderheit eine Führungsrolle für sich beanspruchte. Dieses Narrativ war allerdings nur ein Vorwand für die Etablierung der white supremacy und Ausbeutung insbesondere der anderen Bevölkerungsgruppen.26 Dabei ist auffällig, dass auch angesichts der Dekolonisationsprozesse im Afrika der 1960er und 1970er Jahre an einem Narrativ festgehalten wurde, dessen Scheitern an der Realität Desmond Tutu in seinem Artikel treffend schildert.27 Wieso unterstützte die NGK trotzdem weiterhin dieses System? Die Gründe dafür sind vielfältig: Zunächst ist zu beachten, dass es sich bei den Theologen der NGK um Mitglieder der gesellschaftlichen Elite Südafrikas handelte. Sie profitierten also vom Fortbestand der Ausbeutung nicht-Weißer Südafrikaner:innen. Ein Ende der Apartheid hätte in direktem Widerspruch zu ihrem eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interesse gestanden. Das Eingeständnis, dass die Apartheid nicht funktionierte, wäre darüber hinaus einem Scheitern dieser Ideologie und somit einer ungewissen Zukunft für die Afrikaner-Identität gleichgekommen. Weiterhin hätte dies die NGK zur Übernahme von Verantwortung für das durch sie legitimierte Unrecht gezwungen. Daher hatten die Verfasser von RVN ein hohes Interesse daran, das Apartheid-System weiterhin aufrechtzuerhalten und zu stabilisieren. Diese Ausgangsposition verzerrte den Blick der NGK-Theologen in erheblichem Maße: Von vornherein stand fest, dass nur eine solche Auslegung akzeptabel sein würde, die das bestehende Apartheid-System für legitim erklärt. Für kritische Anfragen blieb dabei kein Raum.28 RVN verfolgte laut Selbstauskunft das Anliegen, „[…] that it may contribute to a better understanding of the Dutch Reformed Church and serve as a profitable basis for discussion in the Church as well as for discussion with other Churches and Christians within and beyond the borders of our country.“29 Hier wurde die Absicht explizit gemacht, die Apartheid-Theologie zu verteidigen und sie anderen Akteur:innen gegenüber verständlich zu machen. Dies sollte innerhalb der NGK geschehen, aber auch im ökumenischen Dialog sowie im Austausch mit anderen Kirchen und Christ:innen innerhalb Südafrikas, was einen Großteil der Bevölkerung – auch nicht-Weiße Südafrikaner:innen – impliziert. Dass diese tatsächlich für die Sache der Apartheid gewonnen werden sollten, erscheint vor dem Hintergrund der Auswirkungen dieses Systems auf ihren Alltag, wie Desmond Tutu es in Christianity and Apartheid schildert, nicht plausibel. Auch die unzureichende wissenschaftliche Methodik in RVN, die am Umgang mit dem Begriff race in der vorgestellten Auslegung deutlich wurde, deutet darauf hin, dass sich die Veröffentlich eher nicht

26 27 28 29

Vgl. Gräper, Wahrhaftigkeit, 12f. Vgl. Tutu, Christianity, 45f. Vgl. Jonker, Legitimization, 181. General Synod of the Dutch Reformed Church, Human Relations, 6.

Trennung und Versöhnung

231

an ein akademisch-theologisches Publikum richtete. Vielmehr erscheint vor allem die (Weiße) Mitgliederbasis der NGK sowie ggf. andere Weiße Südafrikaner:innen als Hauptadressatenkreis: Durch RVN der Legitimität des ApartheidProjekts versichert, konnten sie sich weiterhin an diesem beteiligen, statt dagegen Protest einzulegen. Dabei konnte auf bestehende Ängste der Afrikaner-Bevölkerung vor einer Gleichstellung und „Vermischung“ mit nicht-Weißen Einwohner:innen aufgebaut werden.30 So ist auch Tutus Auslegung zu Gen 11,1–9 nicht objektiv, sondern von seinen eigenen Erfahrungen mit der Apartheid geprägt. Ihm war offenbar daran gelegen, gerade die von RVN als Waffe der Unterdrückung missbrauchten Perikopen für die Überwindung der Apartheid fruchtbar zu machen. Dies setzt er in der vorliegenden Auslegung um, indem er die Welt nach der „Sprachverwirrung“ und dadurch bedingten Trennung der Menschheit mit dem nach races getrennten Südafrika gleichsetzt, dessen Zustand er damit als Gottes Willen widersprechend charakterisiert. Gottes Antwort der „gefallenen“ Welt gegenüber ist eine Vision einer universellen eschatologischen Versöhnung, wie sie nach Pfingsten in der Kirche schon vorauslaufend gelebt werden kann.31 In der Wahl dieser Perspektive zeigt sich auch sein Interesse an einer friedlichen Bearbeitung des Konfliktes zwischen den races: Dass Tutu als Schwarzer Theologe einen Weg aufwies, auf dem Weiße und Schwarze Menschen gemeinsam und friedlich an der Überwindung der Apartheid mitarbeiten konnten, mag Weißen Leser:innen erleichtert haben, ihre von Angst geprägten Denkmuster zu überwinden. Es ließ sich an RVN sowie Christianity and Apartheid gut demonstrieren, dass Bibelauslegungen nicht in einer Art Vakuum existieren: Vorprägungen, Erfahrungen und Fragestellungen der Exeget:innen haben einen starken Einfluss auf das eigene Textverständnis. In der vorliegenden Untersuchung wurde dies besonders bei den unterschiedlichen Erfahrungswelten Weißer bzw. Schwarzer Theolog:innen im Apartheid-Regime deutlich. Damit einher gingen auch unterschiedliche Fragestellungen, die an den Text herangetragen wurden und im Fall von RVN auf den Erhalt der Apartheid, im Fall von Christianity and Apartheid auf ihre Überwindung abzielten. Gleichzeitig können Bibelauslegungen reale politische und gesellschaftliche Auswirkungen haben, wie Tutu in seinem Artikel eindrücklich beschrieben hat. Stefan Alkier fordert eine „Ethik der Interpretation“, die Exeget:innen im Umgang mit der Verantwortung, die sie für ihre Gegenwart tragen, berücksichtigen sollen. So lässt sich ein verantwortungsvoller und konstruktiver Umgang mit biblischen Texten und ihren Auslegungen fördern und die Instrumentalisierung der Texte für politische Absichten, wie es im Fall von RVN geschehen ist, vermeiden.32 30 31 32

Vgl. Gräper, Wahrhaftigkeit, 15. Sowie ausführlicher: vgl. Vosloo, Bible, 209–211. Vgl. Tutu, Apartheid, 42–44. Vgl. hierzu ausführlich: Stefan Alkier, Fremdes Verstehen – Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Interpretation biblischer Schriften. Eine Antwort an Laurence L. Welborn, in: ZNT 6/11 (2003), 48–59.

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Literatur Alkier, Stefan, Fremdes Verstehen – Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Interpretation biblischer Schriften. Eine Antwort an Laurence L. Welborn, in: ZNT 6/11 (2003), 48–59. Bax, Douglas, Kritik der Apartheid im Hören auf das Wort, in: John de Gruchy/Charles Villa-Vicencio (Hg.), Wenn wir wie Brüder beieinander wohnten… Von der Apartheid zur Bekennenden Kirche – Stellungnahmen südafrikanischer Theologen, Neukirchen-Vluyn 1984, 137–170. Evangelisch.de, Desmond Tutu gestorben, Online-Artikel, veröffentl. am 26.12.2021, online zugänglich unter: https://www.evangelisch.de/inhalte/194747/26-12-2021/desmond-tutu-gestorben (Zugriffsdatum: 31.07.2022). General Synod of the Dutch Reformed Church (Hg.), Human Relations and the South African Scene in the Light of Scripture. Official translation of the report ‚Ras, Volk en Nasie en Volkereverhoudinge in die lig van die Skrif‘, approved and accepted by the General Synod of the Dutch Reformed Church, Kapstadt/Pretoria 1976. Gräper, Moritz, Art. Rassismus, Abschn. 2.3. Apartheid in Südafrika (1948–1994), in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2020 (Zugriffsdatum: 29.06.22). Gräper, Moritz, Wahrhaftigkeit und Interpretation. Der Streit um die wahre Bibelauslegung in Südafrika während der Apartheid, in: Hermeneutische Blätter 24/1 (2018), 7–19. Jonker, Louis, The Biblical Legitimization of Apartheid Theology, in: Scriptura 77 (2001), 165–183. Smit, Dirk Jacobus, Art. Südafrika, in: TRE Online (https://www.degruyter.com/database/tre/html), Berlin/New York 2010, 322-332 (Zugriffsdatum: 31.07.2022). Tutu, Desmond: Christianity and Apartheid, in: John W. De Gruchy/Charles Villa-Vicencio (Hg.), Apartheid is a Heresy, Claremont/Guildford 1983, 39–47. Vorster, Willem, Die Apartheid und das Lesen in der Bibel, in: John de Gruchy/Charles Villa-Vicencio (Hg.), Wenn wir wie Brüder beieinander wohnten… Von der Apartheid zur Bekennenden Kirche – Stellungnahmen südafrikanischer Theologen, Neukirchen-Vluyn 1984, 117–132. Vosloo, Robert R., The Bible and the justification of apartheid in Reformed circles in the 1940’s in South Africa. Some historical, hermeneutical and theological remarks, in: Stellenbosch Theological Journal 1/2 (2015), 195–215.

„Er ist wahrhaftig auferstanden“? Auferstehung in Lk 24,13–35 in historisch-kritischer Exegese und in den Cross Cultural Biblical Interpretation Groups in Namibia – ein Vergleich Jil-Christin Einbrodt, Lena Setzer

Ein Anliegen des interdisziplinären Forschungsseminars war, alternative hermeneutische Zugänge im Vergleich mit der historisch-kritischen Methode zu würdigen und zu fragen, inwieweit sich diese Auslegungen gegenseitig bereichern können. Am konkreten Beispiel der Emmausperikope haben wir in unserem Projekt zwei unterschiedliche Herangehensweisen in den Blick genommen: Einerseits einen Abriss der deutschsprachigen Deutungstradition, ausgehend von der Leben Jesu Forschung und ihrer Darstellung bei Michael Welker. Auf der anderen Seite einen interkulturellen Ansatz empirischer Hermeneutik auf Grundlage der Arbeit von Helen C. John, die in Cross Cultural Biblical Interpretation Groups Menschen zu ihren spezifischen Deutungen der Perikope befragt hat. Dieser Beitrag stellt das Vorhaben und die Umsetzung unseres Forschungsprojektes vor. Konkret haben wir gefragt, welche Schwerpunkte beide Ansätze bei der Deutung der Auferstehung wählen und wie sie diese in ihre Interpretation von Lk 24,13–35 einbringen. Zentral ist dabei eine kritische Reflexion der jeweils verwendeten Methodik und ihrer Begründung. Ein vergleichendes Fazit mit kritischer Würdigung leitet zu einem Ausblick über, der anfragt, welchen Mehrwert ein empirisch-hermeneutischer Ansatz für den deutschsprachigen Raum liefern könnte oder bereits tut, wie das Beispiel der Empirical Hermeneutics nach Hans de Wit zeigen kann. Anhand einer „Mystik der leibhaftigen Begegnung des Anderen“ wird zum Schluss entfaltet, welche Rolle der Dialog in biblischer Hermeneutik spielen kann.

1.

Die historisch-kritische Deutung der Auferstehung

Durch Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die Erscheinungserzählungen sowie die biblische Rede vom Geist versucht die westliche Theologie

234

Jil-Christin Einbrodt, Lena Setzer

eine Erklärung für die Auferstehung zu finden, die in Abgleichung mit dem rationalisierten Weltbild der Moderne plausibel erscheint. Welker rekonstruiert in seinem christologischen Entwurf „Gottes Offenbarung“ eine Traditionslinie von Auferstehungsvorstellungen seit der ersten Frage nach dem historischen Jesus bis hin zu gegenwärtigen Perspektiven und seiner eigenen Ausdeutung.1 Gegenstand sind die biblischen Texte von Begegnungen mit dem Auferstanden Christus. Im Vergleich der verschiedenen Textzeugnisse werden Unstimmigkeiten sowie Gemeinsamkeiten herausgearbeitet mit dem Ziel, auf eine gemeinsame Wahrheit aller Texte schließen zu können. Befragt werden die Texte einerseits auf ihre Darstellung der leiblichen und körperlichen Dimension der Auferstehung Jesu, andererseits auf die Plausibilität ihrer Historizität. Welker stellt die wichtigsten Etappen der Forschungsgeschichte um den historischen Jesus dar, die für die Auferstehung ausgehend von den biblischen Texten keine physische und historische Grundlage feststellen kann. Er zeichnet die Traditionslinie der Auferstehung als Mythos nach, wie sie von Strauß formuliert wurde und bezieht sich anschließend auf Bultmann, der mit seinem Programm der Entmythologisierung die Forderung nach einer grundlegenden Neuinterpretation der Auferstehung stellte. 2 Zudem rekurriert er auf Lüdemann, der mit seiner These von der Verwesung Jesu großes Aufsehen erregte.3 Diese drei Deutungen setzen Auferstehung mit physischer Wiederbelebung gleich und lehnen ihre Historizität daher ab. Pannenberg bemüht ein Verständnis der Auferstehung Jesu als Lichterscheinung eines neuen, eschatologischen, veränderten Jesus, aber als historischen Fakt.4 Durch sein Verschwinden wandelt sich das vorherige Gefühl von der Anwesenheit des Auferstandenen in eine Gewissheit.5 Welker selbst beschreibt die Auferstehung als Auferstehung in der Kraft des Heiligen Geistes, als leibliche Selbstvergegenwärtigung Jesu gegenüber den Zeug*innen. Seine Bestimmung von dem Geist als geisteswissenschaftlichem Begriff bleibt dabei abstrakt und schillernd. Die Auferstehung geschah in einem geistlichen Leib, also im Geist. Durch diese schafft der Auferstandene einen 1 2

3 4 5

Vgl. Michael Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 22012, 97–134. Zur Darstellung von David Friedrich Strauß vgl. Ders., Das Leben Jesu. Kritisch bearbeitet, Bd. 1 u. 2, 1835f. Tübingen. Programmatisch wurde der Vortrag Rudolf Bultmanns, in dem er unter anderem den Anspruch formuliert: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“, Ders., Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, München 1941. Nachdr. 31988, 16. Vgl. Gerd Lüdemann, Die Auferstehung Jesu. Historie, Erfahrung, Theologie, Göttingen 1994. Vgl. in Auswahl Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie. Bd 2, Göttingen 1991, 390; Ders., Grundzüge der Christologie, Gütersloh 71990, 85–103. Vgl. Welker, Offenbarung, 107. Ähnlich auch François Bovon, Das Evangelium nach Lukas. Bd. 4: Lk 19,28–24,53, EKK III/4, Neukirchen-Vluyn 2009, 551.

„Er ist wahrhaftig auferstanden“?

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neuen Leib: Die Kirche wird zum nachösterlichen Leib Jesu Christi. In Abendmahl, Taufe und andere kirchliche Dimensionen haben wir durch den Geist Anteil an der Auferstehung Christi.6 Schriftauslegung selbst wird zu einer Kategorie dieser Vergegenwärtigung, was sich auch aus Lk 24,32 begründen lässt. 7 Obwohl diese Ansätze aus dem Anspruch agieren, die Auferstehung unter Berücksichtigung der kulturellen Voraussetzungen einer „geisterlosen Gesellschaft“ nachvollziehbar und greifbar zu machen, bleiben sie komplex und auf einer hohen Abstraktionsebene. Eine geschichtliche Herleitung reflektiert zwar, dass eine Entwicklung in der Vorstellung von Geist und Geistern stattgefunden hat, aber setzt einen kulturellen Konsens als absolut und lässt keinen Raum für abweichende Traditionen. Die verschiedenen Zeugnisse von der Auferstehung werden im Vergleich versucht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Theologen agieren aus einem akademischen Anspruch heraus und obwohl beispielsweise Welker eine Vergegenwärtigung der Auferstehung über die Bindung an die Sakramente im Sinn hat, bleibt offen, ob dieses Konzept in konkreten Kontexten von Ortsgemeinden anschlussfähig ist. Im Folgenden soll nun ein grundlegend anderer Ansatz skizziert werden, im Vergleich miteinander und anschließendem Ausblick werden dann Potentiale und Grenzen ausgelotet.

2.

Auferstehung Jesu as a Spirit oder in the Spirit? Helen C. John und die CCBIGs in Owamboland

Helen C. John, interdisziplinäre Forschungsmitarbeiterin an der Universität Exeter UK, promovierte im Fach Bibelwissenschaften und nahm in diesem Rahmen im Norden Namibias eine zwölf Monate andauernde Feldforschung auf, in welcher sie sich methodisch auf Einflüsse der Anthropologie und der Bibelwissenschaft bezog.8 In ihrer Studie zu kontextueller Bibelauslegung bildet Helen C. John Interpretationsgruppen eines nordnamibischen Owambo Volkes aus einem OdongaDorf. Der kulturelle Kontext des Volkes wurde bei der Bibelauslegung bewusst mitberücksichtigt, da die christlichen Glaubensvorstellungen von den Menschen auf Grundlage ihrer traditionellen religiösen Werte und Vorstellungen 6 7

8

Vgl. Welker, Offenbarung, 133. So auch Bovon, Evangelium, 561; Josef Ernst, Das Evangelium nach Lukas, RNT 3, Regensburg 61993, 507f.; Gerhard Schneider, Das Evangelium nach Lukas. Kapitel 1–10, ÖTBK 3/1, Gütersloh 21984, 249. Vgl. Helen C. John, Biblical Interpretation and African Traditional Religion. Cross-Cultural and Community Readings in Owamboland, Namibia, Biblical Interpretation Series 176, Leiden 2019.

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Jil-Christin Einbrodt, Lena Setzer

aufgenommen und nicht ohne vorherige Prägung ungefiltert angenommen worden sind. Die Cross-Cultural Biblical Interpretation Groups (CCBIGs) hatten zum Ziel, eine nicht wissenschaftliche Interpretation bestimmter neutestamentlicher Bibelstellen im Rahmen des eigenen kulturellen Lebenskontextes durchzuführen. Durch dieses Vorgehen konnte eine wechselseitige Partizipation am Wissen des Gegenübers stattfinden und eine Reflexion der eigenen Positionierung mittels einer Art „Kulturschock“9 vorgenommen werden. Die Teilnahme an ihrer Forschung fand demnach auf dem Grassroot Level statt, welches einen nicht-akademischen, alltäglichen Einblick in die Glaubensvorstellungen und Praktiken der Menschen bieten sollte. An der Umfrage nahmen 107 freiwillige Gemeindemitglieder teil, welche in Frauen (25), Männer (3 +Übersetzer) und Kinder (78) unterteilt waren.10 Die meisten teilnehmenden Personen waren weiblich. Um eine vertrauensvolle und offene Diskussion zu ermöglichen, fand jede Sitzung in der Kirche, jedoch unter Ausschluss des Pfarrers, statt. Hierdurch erhielten alle zu befragenden Personen eine neutrale Atmosphäre, in welcher sie ungehemmt und offen ihre eigenen Vorstellungen und Verständnisse äußern konnten. Die Fragen wurden durch Helen C. John gelenkt und sie notierte eine Aufzeichnung von Übersetzungen.11 Helen C. John bat die Teilnehmer*innen, die Bibelstelle Lk 24,13–35 unter Berücksichtigung der kulturellen Geistervorstellungen, der postmortalen Existenz, sowie des Selbst- und Körperverständnisses zu analysieren. Auferstehung wird nur ausgehend von dieser konkreten Perikope thematisiert. Die Teilnehmer*innen bestätigten, dass eine spirituelle Art des Weiterlebens des Geistes existiert. Im Vergleich mit eigenen kulturellen Vorstellungen und Erfahrungen mit ruhelosen Geistern, Oshiluli oder Liluli genannt, wurden Übereinstimmungen und Differenzen zu Jesus Christus und seiner Auferstehung genannt. Neben diesen zuvor genannten negativen Geistervorstellungen existieren ebenfalls positive Geistervorstellungen und Begegnungen innerhalb der Gemeinde. Diese Geister können jedoch nur in Form von Traumerlebnissen erfahren werden. Die Erfahrungen besagen, dass der lebende und tote Geist durch Gott in Verbindung gebracht wird und so eine Kommunikation möglich gemacht wird. Sie können jedoch nicht im Wachzustand erlebt werde, weshalb ein Vergleich zu Lk 24,13–35 hier außer Acht gelassen wird. Nach Angaben der Teilnehmer*innen werden die Oshiluli als negative Geister angesehen, die von Gott aufgrund mangelnden Glaubens zurück auf die Erde gesandt wurden, um Buße zu tun. Sie wandeln umher und werden im Wachzustand der Lebenden wahrgenommen und erkannt. Nach ihrem Erkennen verschwinden sie direkt. Sie gelten außerdem als spirituelle Erscheinungen, die nur nachts wahrgenommen werden können. Eine Kommunikation mit ihnen ist 9 10 11

John, Interpretation, 15. Das Alter der Kinder lag zwischen 6 und 16 Jahren, vgl. a. a. O., 49. Vgl. a. a. O., 15–51.

„Er ist wahrhaftig auferstanden“?

237

möglich, sie erfolgt durch Menschen mit einer speziellen Gabe wie Medizinmänner, Hellseher und Wahrsager. Zum Schutz vor den unruhigen Geistern, existieren in der heimischen Kultur spezielle Begräbnis- und Totenrituale, um eine Bedrohung durch diese zu vermeiden.12 Die Emmausgeschichte weist für die Befragten Parallelen zu den kulturellen Vorstellungen von Geistern auf. Jesus erscheint auf dem Weg nach Emmaus und verschwindet direkt nach seinem Erkennen wieder, wie auch die Oshiluli (Lk 24,31). Die Furcht, welche bei seinem Auftreten in Lk 34,37 aufkommt, kann demnach mittels der Vorstellung von Oshiluli begründet werden. Die Jünger erleben diese Erscheinung im Wachzustand, wodurch ebenfalls eine Parallele zu den Oshiluli feststellbar ist. Doch kann Jesus aufgrund wesentlicher Unterscheidungsmerkmale von den unruhigen Geistern differenziert werden. Die Jünger nehmen Jesus als materielles Wesen wahr, sie haben mit ihm gesprochen, konnten ihn womöglich berühren, er aß, trank und wurde am Tag wahrgenommen. Seine Anwesenheit hielt auch nach seinem Erkennen an und er besaß die Fähigkeit zwischen materiellem und nicht materiellem Zustand zu wechseln (Lk 24,36). Verbunden mit der Erscheinung von Geistern gibt es in der Kultur der Owambo auch das Ritual einer gemeinsamen Mahlzeit, um Geister zu vertreiben. Im Mahl Jesu mit den Jüngern bekommt dieses Ritual eine ganz neue Dimension. Die Befragten beschreiben seine Auferstehung eher als „in the Spirit“ als „as spirit“.13 Er wird als positiver Geist verstanden und ihm wird eine heilige Andersartigkeit zugesprochen. Diese besteht nicht nur in den Eigentümlichkeiten seiner Auferstehung, sondern auch darin, dass er von Beginn an ein anderer Mensch war. Ein Teilnehmer spricht sogar davon, dass Jesus selbst der Heilige Geist ist. Jesus ist Sohn Gottes und nur ihm wird eine wahre Auferstehung zugesprochen.14 Die Feldforschung von Helen C. John umfasste einen zwölfmonatigen Auslandsaufenthalt, in welchem sie mehrere Bibelinterpretationen auf Grassroot Level erforschte.15 Als westlich geprägte Akademikerin war sie zur Durchführung der Interviews auf einen Übersetzer angewiesen, sodass Kommunikation nur mit einer Sprachbarriere möglich war.16 Inhaltlich hat Helen C. John ein klar definiertes und zugleich offenes Ziel. Sie wollte eine nicht akademische Auslegung bestimmter Bibelstellen unter Berücksichtigung der kulturellen Prägung erzielen. Die Gespräche mit den freiwil12 13 14 15

16

Vgl. a.a.O., 196–203. A.a.O., 203. Vgl. a. a. O., 193–218. Vgl. Sebastian Pittl, Interkulturelle Theologie zwischen wissenschaftlichem Anspruch und einer „Mystik“ der leibhaftigen Begegnung mit dem anderen, in: IKTh 41/3 (2017), 199–221, hier: 219. Finanziert wurde ihre Studie durch das britische Arts and Humanities Research Council.

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ligen Teilnehmer*innen wurden trotz entspannter Atmosphäre in einer geplanten Situation künstlich hergestellt. Des Weiteren wurden die Interviews inhaltlich vorbereitet und mittels bewusster Fragestellungen gelenkt, wodurch die Antworten und Berichte auf bestimmte thematische Aspekte begrenzt wurde. Diese Fakten liegen der Methode des Forschungsansatzes zugrunde. Weiterhin offen bleibt jedoch eine konkrete Darlegung der Frage Was macht Auferstehung mit uns?

3.

Vergleich

Im Vergleich beider Ansätze fällt zunächst auf, dass die Tatsache der Auferstehung Jesu in den CCBIGs, an denen nur Lai*innen teilgenommen haben, in keiner Weise in Frage gestellt wird. Es geht stattdessen darum, wie die Auferstehung im Abgleich mit traditionellen, bekannten Vorstellungen verstanden werden kann. Demgegenüber beginnt die Traditionsgeschichte bei Welker mit dem Problem, dass die Historizität und Faktizität der Auferstehung Jesu seit der Frage nach dem historischen Jesus nicht mehr plausibel scheinen. Die Befragten in den CCBIGs benutzen die ihnen bekannten Geistervorstellungen als Schablone und stellen fest, dass die Auferstehung Jesu alle ihnen bekannten Kategorien sprengt. Durch diesen Vergleich begreifen sie die der Auferstehung innenwohnende Besonderheit. In westlicher Tradition, beeinflusst durch rationalistische und empiristische Prägungen und des aufkommendes Historismus, wurde die Auferstehung nun nicht mehr als historisches Ereignis, sondern als Mythos im Text gedeutet. Die bei Welker vorgestellten Ansätze (alle von männlichen Akademikern entworfen) versuchen, vereinheitlichend und möglichst glaubhaft Konzepte von Auferstehung zu entwerfen, verbleiben allerdings ohne Vergleichspunkte zu kulturell bestehenden Geistervorstellungen. Durch den Anspruch, eine gemeinsame Wahrheit hinter allen Texten zu entdecken, die möglicherweise noch Historizität beanspruchen kann, bleibt nur Platz für einen akademischen Mainstream, nicht aber für Pluralität. In den CCBIGs hingegen war Platz für individuelle Auslegungen aller Beteiligten, gerade durch den Ausschluss des Pfarrers. Beide Ansätze kommen allerdings trotz der so verschiedenen Zugänge zu der Aussage, Jesu Auferstehung geschehe „im Geist“ bzw. „in the Spirit“, obwohl in Lk 24 keine Rede vom Geist ist. Dem Heiligen Geist kommt folglich in beiden Kulturkontexten eine zentrale Schlüsselrolle bei der Interpretation der Auferstehung zu.

„Er ist wahrhaftig auferstanden“?

4.

239

Weiterführende Perspektiven: Empirical Hermeneutics und Evangelii Gaudium

Im Folgenden sollen zwei Entwürfe aufgegriffen werden, die den im Forschungsprojekt vorgenommenen Vergleich ergänzen: Die Empirical Hermeneutics nach Hans de Wit und eine „Mystik der leibhaftigen Begegnung mit dem Anderen“ im Anschluss an das Apostolische Schreiben Evangelii Gaudium. Hans de Wit, der bis 2014 als Theologe mit dem Schwerpunkt lateinamerikanischer Bibelhermeneutik in Amsterdam lehrte, prägte einen an realen Leser*innen interessierten Ansatz interkultureller Bibelhermeneutik. Grundlegend dafür ist die Annahme, dass ein Text ein „meaning potential“17 hat, das sich erst in der Verschiedenheit der Leser*innen und einer Pluralität der Lesarten entfalten kann. Dabei nimmt er nicht einen imaginierten, idealen Leser in den Blick, sondern einen empirischen, real erfassbaren Leser.18 Nach vielen Auslandsaufenthalten, insbesondere in Chile, ist es ihm ein Anliegen geworden, insbesondere marginalisierten Stimmen und Auslegungen und Lai*innen Raum zu geben.19 In interkulturellen Bibellese-Projekten, die de Wit mit anderen in verschiedenen kulturellen Kontexten organisierte, kommen Menschen ins Gespräch miteinander. In Trough the Eyes of Another: Intercultural Reading of the Bible sind die Ergebnisse eines groß angelegten Bibellese-Projektes festgehalten, bei dem etwa 120 Gruppen von Menschen ein und denselben Bibeltext gelesen und darüber gesprochen haben und anschließend ihre Interpretation mit einer anderen Gruppe ausgetauscht haben.20 Er beschreibt auf Grundlage dessen ein empirisch basiertes Verfahren, wie in Bible Interpretation Groups über einen Bibeltext gesprochen werden kann und welche Kriterien bei der Auswertung eine Rolle spielen. Neben allgemeinen Faktoren (Alter, Geschlecht etc.) nimmt er die Gruppendynamik und Machtstrukturen in den Blick, außerdem hermeneutische Voraussetzungen und Vorkenntnisse, die die Teilnehmenden mitbringen, welchen Weg der Interpretation sie wählen und ob und ausgelöst wodurch auch eine Veränderung in ihrem Denken zu beobachten ist.

17

18 19

20

So Brian K. Blount, vgl. Hans de Wit, Empirical Hermeneutics, Interculturality, and Holy Scripture, Intercultural Biblical Hermeneutics Series 1, Elkart (IN) 2012, 7, und Levinas, vgl. a.a.O., 24. Vgl. ebd. Vgl. Hans Snoek, Hermeneutical Criticism of the Teachers of the Poor, in: Ders. (Hg.), In Love with the Bible and Its Ordinary Readers. Hans de Wit and the Intercultural Bible Reading Project, Elkhart 2015, 13–18, hier: 13. Vgl. Hans de Wit u. a. (Hg.), Trough the Eyes of Another: Intercultural Reading of the Bible, Elkhart (IN) 2004.

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In Evangelii Gaudium (2013), dem ersten Apostolischen Schreiben von Papst Franziskus, entwirft dieser die Vorstellung einer „Mystik einer leibhaften Begegnung mit dem Anderen“21 im Lichte und zum Verständnis des Evangeliums. Diese Hermeneutik des Evangeliums fordert eine radikale Selbsthingabe an die Begegnung mit dem Anderen, an seine Gegenwart und auch an seine leibhaftige Dimension, ja sogar konkret körperlich.22 Zentral ist nicht nur der Aspekt der Leiblichkeit einer solchen Begegnung, sondern auch ihre Alltäglichkeit, die von eingrenzender Zielgerichtetheit befreit und davor schützt, jedes Aufeinandertreffen bloß zweckgebunden zu betrachten. Es soll ein Möglichkeitsraum geschaffen werden, der die Anwesenden mithineinnimmt in die tatsächliche Realität des Anderen, der einander erfahrbar macht, so wie Christus uns erfahrbar geworden ist in der Fleischwerdung des Logos. Eine auf diese Weise gestaltete leibhaftige Begegnung, die den Anderen versucht ernst zu nehmen, sich von ihm in Anspruch nehmen zu lassen, besitzt also auch eine immanent christologische Dimension. Aus diesen nur ganz knapp angerissenen Impulsen lassen sich Implikationen ableiten für eine Interkulturelle Theologie, die Begegnung als Methode versteht. Eine Hermeneutik, die in Anteilnahme an der Menschwerdung Christi leibhaftige Begegnung als Grundlage setzt und sich für den Anderen öffnet, braucht Räume, in denen sich ein solches Begegnungsgeschehen ereignen kann. Helen C. John schafft in ihren CCBIGs einen solchen Raum, indem sie Exegese auf Grassroot Level betreibt und die Realität der Auslegenden mit integriert. Sie nimmt die kulturelle Dimension der Auslegung ernst. Durch den Ausschluss des Pfarrers versucht sie eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich alle Beteiligten wohl fühlen und unzensiert sprechen können. Inwieweit jedoch Dimensionen der Alltäglichkeit der Begegnung und eine Tiefe der Berührung und des Eintauchens in den Alltag und die Kultur stattgefunden haben, muss im Blick auf die Sprachbarriere und den Übersetzer in Frage gestellt werden. Die Länge des Forschungsaufenthaltes ist allerdings immerhin für ein wissenschaftliches Projekt relativ ausgedehnt.23 Eine Hermeneutik, die explizit körperliche Begegnung in den Blick nimmt, kann zudem auch den Blickwinkel auf die leibliche Dimension der Auferstehung verändern. Helen C. Johns Ansatz, einen „Kulturschock“ hervorzurufen, greift insbesondere an der Empfänglichkeit für Geistervorstellungen. Eine Gegenüberstellung zwei so verschiedener kultureller Realitäten impliziert zum einen zwangsläufig Mechanismen von Othering, was ein grundsätzliches Problem kontextueller Theologien ist.24 Sie kann aber auch den Blick weiten und beispielsweise zu einer 21 22 23 24

Pittl, Theologie, 207. Vgl. a. a. O., 208. Vgl. a. a. O., 209. Vgl. dazu auch Pittl, der den Anspruch von EG mit Blick auf die gegenwärtige Wissenschaftskultur selbst relativiert, vgl. a. a. O., 219f. Vgl. Henning Wrogemann, Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie, LETh 10, Leipzig 2020, 637.

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241

postkolonialen Reflexion über Geistervorstellungen in westlicher Perspektive leiten. 25 Eine empirische Hermeneutik auf Grassroot Level kann also in zweierlei Hinsicht fruchtbar gemacht werden für den deutschsprachigen Raum: Einerseits indem die Ergebnisse aus Projekten wie dem von Helen C. John in der Forschung rezipiert werden und den oben angesprochenen Reflexionsprozess auslösen. Andererseits indem auch in deutschsprachigen Gemeinden in Bibelgesprächsgruppen konkrete Auslegungen in den Blick genommen werden und empirisch erfasst werden können. Diese Gruppen können interkulturell gestaltet sein und so einen Dialog ermöglichen, der den Anderen als dezidiert Anderen ernstnimmt. Indem von den Beteiligten Daten wie Alter, Bildungsniveau, sozialer Status u. a. abgefragt werden, können nach dem Anspruch der Intersektionalität Verflechtungen und Muster dieser Art erkannt werden. Identifizieren sich beispielsweise Menschen einer bestimmten Gruppe übergreifend mit einer spezifischen Figur des Bibeltextes aufgrund internalisierter Ungleichheiten?26 Vor allem werden diese Kategorien in einem empirischen Ansatz überhaupt benannt, so dass eine Reflexion über die eigene spezifische Perspektive zwangsläufig wird und der Gefahr entgegenwirkt, dass eine Sichtweise der Mehrheitsgesellschaft mit dem Anspruch einer objektiven Lesart auftritt. Die Unbenannten werden auch zu Benannten. 27 Allerdings auch die für relevant erachteten Kategorien selbst sind nie neutral gewählt, sondern immer schon Ausdruck vorgeprägter Vorstellungen und Erwartungen. Um zu verhindern, dass Mechanismen von Ungleichheit bereits in diesem Schritt reproduziert werden, braucht es eine vorausgehende Ethik der Auslegung, die reflektiert, wer über wen Deutungsmacht ausübt und welche Stimmen gehört werden.28 Eine Orientierung am empirischen, tatsächlichen Leser schützt davor, eigene Vorstellungen in einen impliziten Leser hineinzulesen. Ein empirischer Ansatz, der es aushält, dass verschiedene Deutungen gleichwertig nebeneinander stehen und ggf. einander vervollständigen, versucht auch dem Anspruch einer Interkulturellen Theologie gerecht zu werden, die sich als 25

26

27 28

Vgl. exemplarisch zur postkolonialen Reflexion von Geistervorstellungen Klaus Hock, Der entgeisterte Blick. Geist(er)besessenheit im Religionsdiskurs. Übergänge – Bruchlinien – Verschränkungen, in: Philipp Stoellger (Hg.), Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten, Tübingen 2014, 285–308. So in einem Praxisbeispiel, von dem Sarah Vecera in ihrem Buch über Rassismus in der Kirche erzählt. Im Rahmen einer Bibelarbeit zu Mt 15,21–28 stellte sich im anschließenden Gespräch heraus, dass alle anwesenden PoC sich mit der kanaanäischen Frau identifizierten, während die weißen Menschen sich kollektiv mit den Fürsprechern für diese marginalisierte Frau einsetzten. Vgl. Dies., Wie ist Jesus weiß geworden? Mein Traum von einer Kirche ohne Rassismus, Ostfildern 2022, 10f. Vgl. zum Konzept von Benannten und Unbenannten: Kübra Gümüşay, Sprache und Sein, München 52020, 53–57. Vgl. zur Komplexität und Dimensionen einer solchen Ethik de Wit, Hermeneutics, 20–26. Vgl. auch Wrogemann, Religionswissenschaft, 637. Ähnlich Jahnel/Wiesgickl, Africa, 230.

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Jil-Christin Einbrodt, Lena Setzer

Disziplin des Perspektivwechsels versteht.29 Damit dieser Perspektivwechsel nicht zu einer Vielfalt in Beliebigkeit verkommt, braucht es trotz dessen Kriterien für die Legitimität einer Auslegung.30 Eine exegetische Methode kann einen solchen Rahmen stecken, indem beispielsweise die Ergebnisse einer empirischen Hermeneutik in akademischen Kontexten aufgegriffen und mit bibelwissenschaftlichen Erkenntnissen in Beziehung gesetzt werden. Eine Wertschätzung von Lai*innen und realen Leser*innen spricht zudem gut ausgebildeten Theolog*innen nicht ihre Legitimität und bedeutende Rolle ab. Die konsequente Frage nach dem Ziel und dem Verwendungskontext einer Auslegung ermöglicht es, dass diese verschiedenen Perspektiven ihre jeweils eigene Legitimität begründen können. Die Erzählung von der Erscheinung des Auferstanden vor zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus ist letztlich selbst eine Aufforderung zum Dialog. Im Nachhinein wird ihnen gewiss, „brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?“ (Lk 24,32). Anteil an der Auferstehung wird möglich in der Begegnung und Schriftauslegung miteinander, von anderen zu hören mit anderen gemeinsam auf den Weg zu sein nimmt uns hinein in das Geheimnis des Auferstandenen Christus.

Literatur Bovon, François, Das Evangelium nach Lukas. Bd. 4: Lk 19,28–24,53, EKK III/4, Neukirchen-Vluyn 2009. Bultmann, Rudolf, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, München 1941. Nachdr. 31988. Ernst, Josef, Das Evangelium nach Lukas, RNT 3, Regensburg 61993. Gümüşay, Kübra, Sprache und Sein, München 52020. Hock, Klaus, Der entgeisterte Blick. Geist(er)besessenheit im Religionsdiskurs. Übergänge – Bruchlinien – Verschränkungen, in: Philipp Stoellger (Hg.), Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten, Tübingen 2014, 285–308. Jahnel, Claudia/Wiesgickl, Simon, „Africa for Norway“. Interkulturelle Theologie als die Kunst des Perspektivwechsels, in: IKTh 41/3 (2017), 222–235. Lüdemann, Gerd, Die Auferstehung Jesu. Historie, Erfahrung, Theologie, Göttingen 1994. Pannenberg, Wolfhart, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 71990. Ders., Systematische Theologie. Bd 2, Göttingen 1991. Pittl, Sebastian, Interkulturelle Theologie zwischen wissenschaftlichem Anspruch und einer „Mystik“ der leibhaftigen Begegnung mit dem anderen, in: IKTh 41/3 (2017), 199–221. 29

30

Vgl. hierzu auch Wrogemann, der darauf verweist, dass das „kulturell“ in „interkulturell“ als „Platzhalter“ verstanden kann und eintritt für „die ganze Bandbreite kontextueller Bedingungen“, die eine prägende Rolle auf die jeweilige Theologie ausüben. Ders., Religionswissenschaft, 629. Vgl. auch die Charakterisierung der aktuellen hermeneutischen Situation als „Schlachtfeld“ und der Frage nach Legitimität der einzelnen Positionen bei de Wit, Hermeneutics, 21.

„Er ist wahrhaftig auferstanden“?

243

Schneider, Gerhard, Das Evangelium nach Lukas. Kapitel 1–10, ÖTBK 3/1, Gütersloh 21984. Snoek, Hans, Hermeneutical Criticism of the Teachers of the Poor, in: Ders. (Hg.), In Love With the Bible and Its Ordinary Readers. Hans de Wit and the Intercultural Bible Reading Project, Elkhart 2015, 13–18. Ders., An Inspiring and Modest Founder of the Intercultural Bible Reading Project, in: Ders. (Hg.), In Love With the Bible and Its Ordinary Readers. Hans de Wit and the Intercultural Bible Reading Project, Elkhart 2015, 19–29. Strauß, David Friedrich, Das Leben Jesu. Kritisch bearbeitet, Bd. 1 u. 2, 1835f. Tübingen. Vecera, Sarah, Wie ist Jesus weiß geworden? Mein Traum von einer Kirche ohne Rassismus, Ostfildern 2022. Welker, Michael, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 22012. de Wit, Hans, Empirical Hermeneutics, Interculturality, and Holy Scripture, Intercultural Biblical Hermeneutics Series 1, Elkart (IN) 2012. de Wit, Hans u. a. (Hg.), Trough the Eyes of Another: Intercultural Reading of the Bible, Elkhart (IN) 2004. Wrogemann, Henning, Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie, LETh 10, Leipzig 2020.

Potenziale und Herausforderungen einer interkulturellen Bibelhermeneutik Ein Ausblick Malte Cramer, Alena Höfer

1.

Kontextualität und Diversität der Schriftauslegung

In der Gesamtschau der Beiträge dieses Buches wird eine große Vielfalt an bibelhermeneutischen Zugängen und Perspektiven sichtbar. Gleichzeitig wird durch die Beiträge des Bandes ebenso deutlich, dass diese Vielfalt nur einen Bruchteil derzeit bestehender interkultureller Zugänge und kontextueller Ansätze zum Thema Bibelhermeneutik abbildet. Das liegt erstens daran, dass sich eine deutschsprachige Auseinandersetzung mit der Thematik i. d. R. nur auf solche Exeget:innen beziehen kann, die entweder in einer Sprache selbst veröffentlichen, derer die jeweiligen Theolog:innen aus dem deutschsprachigen Raum mächtig sind oder deren Werke in die entsprechenden Sprachen übersetzt worden sind. Ein zweiter wesentlicher Faktor ist die Macht von Diskursen und den darin vorkommenden Rezeptionen von Ansätzen, durch die einige interkulturellen Bibelhermeneutiken wie z. B. von Rasiah S. Sugirtharajah, Musa Dube oder Kwok Pui-Lan besonders häufig rezipiert werden und andere Ansätze hingegen weitestgehend unsichtbar bleiben. Gründe hierfür liegen letztlich nicht nur in der Sprache, sondern auch in der Konnektivität der jeweiligen grundgelegten Wissenssysteme und soziokulturellen Perspektiven sowie an der globalen Vernetzung und den damit verbundenen Möglichkeiten für Publikationen etc. Es gibt zahlreiche bibelhermeneutische Ansätze, die aufgrund dieser Barrieren kontextuell zwar große Relevanz besitzen, zugleich aber kaum Aufmerksamkeit innerhalb der weltweiten theologischen Wissenschaftsgemeinschaft erhalten. Trotz ihrer Begrenztheit zeigt die vorhandene Polyphonie der im Buch versammelten Beiträge bereits zweifelsohne auf, dass der interdisziplinäre Dialog und die Begegnung zwischen Interkultureller Theologie und Bibelwissenschaft

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Malte Cramer, Alena Höfer

mit Blick auf das Thema der interkulturellen Bibelhermeneutik und der kontextuellen Exegese nicht nur möglich und sinnvoll, sondern vor allem äußerst fruchtbar sind. Zahlreiche Potenziale für eine interdisziplinäre Weiterarbeit am Thema wurden durch die Beiträge angestoßen und ebenso sind methodologische und inhaltliche Herausforderungen zur Sprache gekommen, die der weiteren Aufmerksamkeit bedürfen. Aus der Vielfalt an Anknüpfungsmöglichkeiten und weiterführenden Fragen, sollen im Folgenden exemplarisch zwei Fragestellungen herausgegriffen und skizziert werden, die mehrfach in der Diskussion der Tagungsbeiträge zur Sprache gekommen sind: 1. Wie kann eine Ethik der Schriftauslegung gestaltet sein? 2. Wie kann ein interkultureller Dialog der Auslegungen gelingen?

2.

Wie kann eine Ethik der Schriftauslegungen gestaltet sein?

Angesichts der Pluralität an exegetischen Ansätzen, ihren hermeneutischen Grundlegungen sowie ihren methodischen Zugängen steht die Frage nach einer Ethik der Auslegungen im Raum.1 Wie kann einerseits eine Offenheit für Diversität und eine Würdigung von Kontextualität in der Auslegung biblischer Schriften gefördert und gewährleistet werden und andererseits der Willkür von Auslegungen Vorschub geleistet werden? Denn die stärkere Wahrnehmung und Fokussierung der Aspekte von Kontextualität und Diversität können freilich nicht als Konsequenz nach sich ziehen, dass uneingeschränkt alle Auslegungen möglich, angemessen und der Schrift entsprechend wären. Zahlreiche Beispiele für einen unangemessenen Umgang mit den biblischen Texten ließen sich anführen. Gerade auch der deutsche Kontext hat solche zu verantworten. Besonders vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte des

1

Zur Frage einer Ethik der Schriftauslegung vgl. auch die Ausführungen bei Peter Wick, Zukunftsperspektiven, in: Ders./Malte Cramer (Hg.), Allein die Schrift? Neue Perspektiven auf eine Hermeneutik für Kirche und Gesellschaft, Stuttgart 2019, 163–167, hier: 166f. Vgl. zum Thema ausführlich die Beiträge von Stefan Alkier, Ethik der Interpretation, in: Markus Witte (Hg.), Der eine Gott und die Welt der Religionen. Beiträge zu einer Theologie der Religionen und zum interreligiösen Dialog, Würzburg 2003, 21–41; Ders., Fremdes verstehen wollen. Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Lektüre biblischer Schriften. Eine Antwort auf Laurence L. Welborn, in: ZNT 11 (2003), 48–59; Ders., Sola scriptura als epistemologisches, hermeneutisches, methodologisches und theologisches Konzept der Schriftauslegung. 20 Thesen und ihre Erläuterungen, in: Ders. (Hg.), Sola Scriptura 1517– 2017. Rekonstruktion – Kritiken – Transformationen – Performanzen, Tübingen 2019, 429–477, hier: 442f.

Potenziale und Herausforderungen

247

Nationalsozialismus sind Schriftauslegungen vertreten worden, wie z. B. die Entstehungen eines arischen Jesus, die entschieden als nicht wissenschaftliches und ethisch mehr als fragwürdiges Konstrukt zu deklarieren sind.2 Auch in den Beiträgen dieses Bandes sind verschiedentlich kontextuelle Auslegungen zur Sprache gekommen, die in ähnlicher Weise als unvereinbar mit der Schrift zu markieren und zu kritisieren sind. So verweist z. B. der studentische Beitrag von Fabienne M. Gürtler, Leander Heinrich und Lisa N. Uykan darauf, wie die Schrift zur Legitimierung des südafrikanischen Apartheidsystems von der weißen Nederduitse Gereformeerde Kerk missbraucht werden konnte.3 Und Claudia Jahnel macht in ihrem Beitrag auf eine weitere Problematik der Missdeutung von Schrift aufmerksam: In dem Film Aguirre – der Zorn Gottes wird ein Einheimischer im peruanischen Regenwald aufgrund des Vorwurfs der Blasphemie getötet. Zuvor hatte er die Bibel an sein Ohr gehalten und bemerkt, dass dieses Buch nicht spräche. Der Missionar und Mönch Gaspar de Carvajal deutete diese Aussage als Gotteslästerung. Seine tödliche Deutung berücksichtigte den Kontext des Einheimischen sowie sein Verständnis religiöser Materialität nicht.4 Bereits diese exemplarisch aufgezeigten Phänomene der unangemessenen Exegese biblischer Texte sowie des interkulturellen Missverstehens führen die Notwendigkeit einer Ethik der Schriftauslegungen vor Augen. Besonders das zweite Beispiel zeigt auf, dass eine solche Ethik der Auslegung nicht nur Kriterien entwickeln muss, welche Auslegungen als unwissenschaftlich und illegitim zu bezeichnen sind, sondern auch, wie mit der bestehenden Diversität, den dadurch zustande kommenden Disharmonien und Inkongruenzen unter der Berücksichtigung postkolonialer, diversitätssensibler oder antijudaistischer Perspektiven umgegangen werden kann. Damit stellt sich die Frage nach der Deutungsmacht von Schriftauslegungen sowie der Entwicklung einer Ethik dieser. Wer trifft aus welcher Perspektive und mit welchem Anspruch die Entscheidung, welche Auslegungen ethisch und wissenschaftlich vertretbar sind. Bibelhermeneutische Pluralität findet ihren Ausdruck nicht nur innerhalb von Zugängen eines Kontextes, sondern auch in der Diversität interkultureller sowie transkultureller Perspektiven sowie in den Themen Gender, Intersektionalität, Dekolonialität und Rassismuskritik u. v. m. Damit geht einher, dass es unterschiedliche Referenzen auf verschiedene Wissenssysteme gibt, und dass das westlich aufgeklärte Verständnis von Wissenschaftlichkeit richtigerweise zu einem von mehreren möglichen begrenzt wird. 2

3 4

Vgl. z. B. Uwe Puschner (Hg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 22012; Peter M. Head, The Nazi quest for an Aryan Jesus, in: JSHJ 2 (1), 2004, 55–89. Vgl. Fabienne M. Gürtler (u.a.), Zwei Auslegungen zu Gen 11,1–9 im Kontext der Apartheid, in diesem Band, 223–232. Vgl. Claudia Jahnel, „Er sagt, es spricht nicht!“. Transkulturelle Schrifthermeneutik im Spannungsfeld von Logophonozentrismus und Bibliomantik. Plädoyer für eine ästhetische Polyphonie, in diesem Band, 99–121.

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Malte Cramer, Alena Höfer

Zugleich liegt dem Ausdruck der Diversität immer auch ein Machtgefälle zugrunde, die diese zugleich zu überwinden versucht. Postkoloniale Schriftauslegungen arbeiten sich z. B. am dominierenden westlichen weißen Machtzentrum ab und entwickeln auf der Grundlage dessen eigene widerständige Perspektiven. Ohne die Existenz dieser Machtverhältnisse und die Kolonialzeit samt ihren andauernden Auswirkungen bis in die Gegenwart würde es postkoloniale Perspektiven nicht brauchen. Diversität und ihre Behauptung ereignet sich stets in dem Bestehenden und handelt sich durch Kritik, Dekonstruktion, Abgrenzung, Verflechtung und Integration aus. 5 Elisabeth Schüssler Fiorenza verweist bereits 1988 darauf, dass man eine Ethik der Schriftauslegungen nicht auf die deskriptive Analyse der kritischen Methoden beschränken darf, um die alten Bibeltexte und ihre historischen Verortungen verstehbar zu machen. „At the same time, it engages biblical scholarship in a hermeneutic-evaluative discursive practice exploring the power/ knowledge relations inscribed in contemporary biblical discourse and in the biblical texts themselves.“6 Schüssler Fiorenza benennt die beiden ethischen Verantwortungen, die auch in diesem Tagungsband zum Vorschein kommen. Neben den Kriterien für eine wissenschaftlich fundierte Schriftauslegung braucht es eine hermeneutisch-evaluative Diskurspraxis, um die Positionalität der Bestimmung von Epistemologien und damit Deutungen der Schrift ethisch zu reflektieren. Diese beiden Aspekte stehen in der Frage einer Ethik der Schriftauslegungen nicht nebeneinander, sondern bedingen einander und sind im konkreten Geschehen insbesondere in der interkulturellen Bibelhermeneutik untrennbar miteinander verflochten. In diesem Rahmen hätte eine Ethik interkultureller Schriftauslegungen u. a. die folgenden Fragen zu reflektieren: (1) Wie, in welchen Kontexten, unter wessen Beteiligung und mit welchem Anspruch entstehen Bibelhermeneutiken? (2) Wer kann und muss unter welchen Bedingungen und aus welcher Perspektive die Wissenschaftlichkeit und Legitimität dieser Zugänge und Methoden ethisch 5

6

So schreibt z. B. Rasiah S. Sugirtarajah, Eine postkoloniale Untersuchung von Kollusion und Konstruktion in biblischer Interpretation, in: Andreas Nehring/Simon Tielsch (Hg.), Postkoloniale Theologie. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Religionskulturen 11, 123–144, hier: 138: „Eine weitere postkoloniale Aufgabe ist es, die neutestamentlichen Texte wiederzugewinnen und sie als Träger konzeptueller Aspekte der östlichen Literatur wieder einzuführen. Die Tendenz der BibelwissenschaftlerInnen, das Christentum als interpretative Schablone durchzusetzen, hat ihre Sicht häufig verschwimmen lassen. Sie haben erfolgreich die Überzeugung gefördert, dass die neutestamentlichen Schriften ausschließlich das Produkt hellenistischen und hebräischen Denkens wären. Wenn sie auf die neutestamentliche Periode und die literarischen Produktionen blicken, die in jener Zeit entstanden sind, halten BibelwissenschaftlerInnen eine tief sitzende eurozentrische Voreingenommenheit aufrecht und behaupten, dass alles theologisch Lohnende nur von griechisch-jüdischen Traditionen bereitgestellt werden kann.“ Elisabeth Schüssler Fiorenza, The Ethics of Biblical Interpretation. Decentering Biblical Scholarship, in: JBL 107 (1) 1988, 3–17.

Potenziale und Herausforderungen

249

bewerten? (3) Welche Dominanz- und/oder Unterdrückungsmechanismen gibt es innerhalb des Diskurses und auf welche Art und Weise fördern oder behindern sie wahre und gleichberechtigte Diversität? Bzw. welche Perspektiven werden von dominierenden Positionalitäten bewusst oder unbewusst an den Rand oder außerhalb des Diskurses gedrängt und warum?

3.

Wie kann ein interkultureller Dialog der Auslegungen gelingen?

Die Frage nach einer Ethik der Schriftauslegungen führt zu einem weiteren zentralen Topos der Dialogizität innerhalb von Pluralität. Wird unter dem Stichwort der Ethik verhandelt, ob und wie unterschiedliche exegetische Ansätze und Ergebnisse legitime und wissenschaftliche Bibelauslegungen sind, so lässt sich unter dem Aspekt der Dialogizität nach der Relation zwischen den diversen Auslegungen fragen. Diversität der Schriftauslegung kann in der globalen, transkulturellen Gegenwart nicht nur bedeuten, dass unterschiedliche Verständnisse nebeneinander existieren, weil sich verschiedene Ansätze an unterschiedlichen Punkten vernetzen, verbinden und zu etwas Neuem verflechten. Diese Intersektionalitäten zeigen sich nicht nur in der Begegnung der Vielfalt an soziokulturellen Kontexten, sondern auch hinsichtlich diverser Themengruppen wie z. B. Gender, Ableismus, Rassismus oder Queerness. Der Prozess des Voneinander-Lernens ereignet sich im Dialog durch Zustimmung oder Ablehnung sowie durch Transkulturation oder auch Abgrenzung. Zugleich findet Dialog keinesfalls in einem neutralen Raum statt, sondern ist stets geprägt von den tradierten und bestehenden systematischen und strukturellen Ungleichheiten. Drei Herausforderungen sollen diesbezüglich benannt werden: 1. Das derzeit dominierende Wissenssystem ist das Erbe der Aufklärung. Es enthält patriarchale, universalistische und exklusive Strukturen, welche die eigene kontextuelle Bedingtheit lange Zeit nicht wahrgenommen haben. Die eigene Perspektive wurde lange als die objektive und universal gültige proklamiert. Trotz zahlreicher Perspektiven, die dieses Wissenssystem als alleiniges infrage stellen, behält es bis heute eine unangefochtene Deutungsmacht.7 Das hat zur Konsequenz, dass kaum eine Bibelhermeneutik ohne eine entsprechende Referenz auf dieses Wissenssystem in Form von Zustimmung oder Abgrenzung auskommt. Wer in der Wissenschaft, d. h. auch in 7

Vgl. Peggy Piesche, Der ›Fortschritt‹ der Aufklärung – Kants ›Race‹ und die Zentrierung des weißen Subjekts, in: Maureen Maisha Eggers u. a. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 42020; Vitor Westhelle, After Heresy. Colonial Practices and Post-colonial Theologies, Eugene 2010.

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Malte Cramer, Alena Höfer

der Theologie und damit in der Bibelwissenschaft Karriere machen möchte resp. gehört werden will, benötigt Kenntnis über das dominierende Wissen. Deshalb ist es z. B. für Wissenschaftler:innen aus dem globalen Süden von größter Wichtigkeit, einen Teil ihrer Ausbildung im globalen Norden absolviert zu haben, um im wissenschaftlichen Makrokontext wahr- und ernstgenommen zu werden. Mit dem Ansatz einer dekolonialen Theologie versuchen sich Theolog:innen u. a. aus Südamerika und Südafrika von dieser Abhängigkeit zu befreien und losgelöst davon Theologie zu treiben.8 Dies hat in Gegenwart und Zukunft auch Bedeutung in Bezug auf interkulturelle Bibelhermeneutiken sowie für die deutschsprachigen Bibelwissenschaften, indem sie diese wahr- und ernst nehmen. 2. Marginalisierte Stimmen werden häufig deshalb nicht gehört, weil sie im Rahmen struktureller Benachteiligungen über weniger Ressourcen und Förderungen verfügen. Sie haben zum Beispiel weniger Möglichkeiten, die eigene Forschung zu publizieren und damit bekannt zu machen. Das hat große Auswirkungen auf die Wissenschaftslandschaft insgesamt und begrenzt die Darstellung der bestehenden Pluralität. 3. Damit die Pluralität von Schriftauslegungen grundlegend implementiert wird, müssen diese in den Curricula der theologischen Ausbildungen verankert sein. Es sollte zukünftig nicht möglich sein, dass ein:e Theolog:in oder Kandidat:in für das Lehramt ein Studium absolviert, ohne mit Ansätzen einer interkultureller Bibelhermeneutik, den Namen Rasiah S. Sugirtarajah oder Musa Dube, der Reflexionen von Postkolonialismus, Feminismus, Intersektionalität und Rassismus in Kontakt gekommen zu sein.

4.

Ausblick

In den Beiträgen dieses Bandes und in den Diskussionen auf der Tagung ist ein Desiderat besonders laut zur Sprache gekommen, das in der weiteren Arbeit an diesem Forschungsthema einer vertieften Aufmerksamkeit bedarf. Die deutschsprachige Bibelwissenschaft ist dazu aufgefordert, die Pluralität und Diversität der weltweiten Schriftauslegung als selbstverständlichen Teil ihrer Disziplin

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Vgl. Juan J. Tamayo, Theologien des Südens. Dekolonisierung als neues Paradigma, Freiburg im Breisgau 2020; Raimundo Barreto/Roberto Sirvent, Decolonial Christianities. Latinx and Latin American Perspectives, Cham 2019; Teddy Ch. Sakupapa, Turn to Decolonial Theology. A Southern African Invitation, in: Mission and content 2020, 17–34; Teddy Ch. Sakupapa, The Decolonising Content of African Theology and the Decolonisation of African Theology. Reflections on a Decolonial Future for African Theology, in: Missionalia 46 (3), 2018, 406-424.

Potenziale und Herausforderungen

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wahrzunehmen, wertzuschätzen und in ihre eigene Forschung und Lehre zu integrieren. Feministische, queere, postkoloniale, befreiungstheologische, rassismus-kritische, intersektionale und weitere kontextuelle und bisher marginalisierte Perspektiven sind als selbstverständliche und gleichberechtige bibelhermeneutische Zugänge neben den in unseren Breitengraden dominierenden Ansätzen zu etablieren, zu erforschen und zu lehren. Damit schlussendlich ein Dialog verschiedener Bibelhermeneutiken wahrhaft gelingen kann, müssen dieses Desiderat sowie u. a. die oben genannten Fragen und Herausforderungen angegangen werden. Dies ist ganz gewiss kein leichter und vor allem noch ein langer Weg, an dessen Anfang wir noch stehen. Doch erste fruchtbringende Erfahrungen, wie z. B. die Tagung, aus der dieser Sammelband entstanden ist sowie das interdisziplinäre Forschungsseminar für Studierende, das diesem vorgeschaltet war, zeigen bereits jetzt auf, dass sich dieser Weg lohnt und welche Potenziale darin liegen.

Literatur Alkier, Stefan, Ethik der Interpretation, in: Markus Witte (Hg.), Der eine Gott und die Welt der Religionen. Beiträge zu einer Theologie der Religionen und zum interreligiösen Dialog, Würzburg 2003, 21–41. Alkier, Stefan, Fremdes verstehen wollen. Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Lektüre biblischer Schriften. Eine Antwort auf Laurence L. Welborn, in: ZNT 11 (2003), 48–59. Alkier, Stefan, Sola scriptura als epistemologisches, hermeneutisches, methodologisches und theologisches Konzept der Schriftauslegung. 20 Thesen und ihre Erläuterungen, in: Ders. (Hg.), Sola Scriptura 1517–2017. Rekonstruktion – Kritiken – Transformationen – Performanzen, Tübingen 2019, 429–477. Barreto, Raimundo/Sirvent, Roberto, Decolonial Christianities. Latinx and Latin American Perspectives, Cham 2019. Gürtler, Fabienne M. u. a., Zwei Auslegungen zu Gen 11,1–9 im Kontext der Apartheid, in diesem Band, 223–232. Head, Peter M., The Nazi quest for an Aryan Jesus, in: JSHJ 2 (1), 2004, 55–89. Jahnel, Claudia, „Er sagt, es spricht nicht!“. Transkulturelle Schrifthermeneutik im Spannungsfeld von Logophonozentrismus und Bibliomantik. Plädoyer für eine ästhetische Polyphonie, in diesem Band, 99–121. Piesche, Peggy, Der ›Fortschritt‹ der Aufklärung – Kants ›Race‹ und die Zentrierung des weißen Subjekts, in: Maureen Maisha Eggers u. a. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 42020. Puschner, Uwe (Hg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 22012. Sakupapa, Teddy Ch., Turn to Decolonial Theology. A Southern African Invitation, in: Mission and content 2020, 17–34. Sakupapa, Teddy Ch., The Decolonising Content of African Theology and the Decolonisation of African Theology. Reflections on a Decolonial Future for African Theology, in: Missionalia 46 (3), 2018, 406-424.

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Malte Cramer, Alena Höfer

Schüssler Fiorenza, Elisabeth, The Ethics of Biblical Interpretation. Decentering Biblical Scholarship, in: JBL 107 (1) 1988, 3–17.

Sugirtarajah, Rasiah S., Eine postkoloniale Untersuchung von Kollusion und Konstruktion in biblischer Interpretation, in: Andreas Nehring/Simon Tielsch (Hg.), Postkoloniale Theologie. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Religionskulturen 11, 123–144.

Tamayo, Juan J., Theologien des Südens. Dekolonisierung als neues Paradigma, Freiburg im Breisgau 2020. Westhelle, Vitor, After Heresy. Colonial Practices and Post-colonial Theologies, Eugene 2010. Wick, Peter, Zukunftsperspektiven, in: Ders./Malte Cramer (Hg.), Allein die Schrift? Neue Perspektiven auf eine Hermeneutik für Kirche und Gesellschaft, Stuttgart 2019, 163–167.