Ekklesiologie als kontextuelle Dogmatik: Das lutherische Kirchenverständnis im Zeitalter des Konfessionalismus und seine Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert 9783666562037, 3525562039, 9783525562031


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Ekklesiologie als kontextuelle Dogmatik: Das lutherische Kirchenverständnis im Zeitalter des Konfessionalismus und seine Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert
 9783666562037, 3525562039, 9783525562031

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V&R

REINER ANSELM

Ekklesiologie als kontextuelle Dogmatik Das lutherische Kirchenverständnis im Zeitalter des Konfessionalismus und seine Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Reinhard Slenczka und Gunther Wenz Band 94

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufiiahme Anselm, Reiner: Ekkiesiologie als kontextuelle Dogmatik: das lutherische Kirchenverständnis im Zeitalter des Konfessionalismus und seine Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert / Reiner Anselm. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie; Bd. 94) ISBN 3-525-56203-9

© 2000 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Hubert 8c Co., Göttingen.

INHALT Vorwort 1. Kapitel: Ekklesiologie im Spannungsfeld von dogmatischer Wesensbestimmung und kirchlicher Wirklichkeit

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1. Die Lehre von der Kirche vor der Frage nach ihrer Geschichte . . . . 11 2. Rezeptionsgeschichtliche Spurensuche: Tradition als Zugang zur eigenen Gegenwart an den Knotenpunkten des Streits um den Kirchenbegriff 24 2. Kapitel: Die lutherische Anstaltskirche als Widerlager gegen die revolutionären Ideen der Volkssouveränität: Friedrich Julius Stahls Interesse an der altlutherischen Ekklesiologie 1. Die Irrtümer des modernen Geistes in der Kirchenverfassung 2. Die ekklesiologische Norm des Luthertums: Kirche als organische Anstalt 3. Die Fundamente des eigenen Kirchenbegriffs in der altlutherischen Orthodoxie 4. Funktionale Tradition

30 30 34 38 50

3. Kapitel: Die Kompensation der individualistischen Moderne durch eine Theologie der Gemeinde: Karl Hackenschmidts Orthodoxieinterpretation im Umfeld der Theologie Albrecht Ritschis . 53 1. Ritschis Polemik gegen Stahl als Miniatur seines theologischen Denkens 2. Gemeindeorientierung und Individualismuskritik als Grundkoordinaten für Ritschis Theologie 3. Gemeindetheologie und Kirchenpolitik 4. Karl Hackenschmidt als Straßburger Parteigänger Ritschis und sein Versuch einer Versöhnung Ritschis mit der Orthodoxie . . . 5. Musäus als Gewährsmann für Ritschis Ekklesiologie? 6. Erste Gemeinsamkeiten: Die Forderung nach einer theologischen Ekklesiologie 7. Uberspielte Differenzen: Die sichtbare Kirche im Spannungsfeld von dogmatischem Kirchenbegriff und konstitutiver Gemeindebezogenheit der Theologie

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88

5

8. Hackenschmidts Musäus-Interpretation zwischen Gegenwartsanalyse und Traditionstreue: Fingerzeige für die besondere Charakteristik altlutherischer Ekklesiologie 4. Kapitel: Die Konvergenz von kirchlichem und staatlichem Gemeinschaftsideal: Günther Holstein und Friedrich Schenke 1. Luther und die deutsche Staatsidee 2. Geistliche Gemeinschaft und rechtlich verfaßte Institution. Die Grundstruktur der Kirche als Abbild ihrer gesellschaftlichen Funktion 3. Schenkes Interpretation des Kirchenbegriffs bei Johann Gerhard als Weiterführung von Holsteins System 4. Die Komplementarität von Anstaltsund Genossenschaftsideal bei Johann Gerhard 5. Die Drei-Stände-Lehre als Paradigma für die Harmonie von kirchlicher und staatlicher Gemeinschaft 6. Von der Allmacht Gottes zum allmächtigen Staat. Schenkes Orthodoxieinterpretation und ihr zeitgeschichtlicher Hintergrund 5. Kapitel: Fromme Theorie. Der Zusammenhang von Lehre und Leben in der altlutherischen Orthodoxie 1. Paradoxien der Orthodoxieeinschätzung eine Zwischenbetrachtung 2. Scientia eminens practica. Neue Perspektiven auf die klassische Epoche lutherischer Dogmatik 3. Theologisches Denken unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters 6. Kapitel: Soziologie des Christentums in normativer Absicht. Die Zuordnung von Theologie und Empirie der Kirche in der altlutherischen Dogmatik 1. Die Architektur der altlutherischen Ekklesiologie als Abbildung der kirchlichen Wirklichkeit in der Dogmatik 2. Von der erfahrbaren Kirche zur ecclesia invisibilis, oder: die dogmatische Verarbeitung kirchlicher Partikularität 3. Definition und Funktion des besonderen Amtes vor dem Hintergrund praktischer Herausforderungen 4. Die theologische Interpretation des Politischen durch die Ständelehre

6

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108 115 124 129 133

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139 150 162

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171 176 195 211

7. Kapitel: Ekklesiologie als kontextuelle Dogmatik

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1. Die Charakteristik der altlutherischen Kirchenlehre 232 2. Grundlinien für ein gegenwartsbezogenes Kirchenverständnis . . . . 236 3. Individuelle Frömmigkeit und institutionelle Reflexion: die Ekklesiologie als Ausgangspunkt der Dogmatik 245 Literaturverzeichnis

249

Personenregister

268

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VORWORT

Das spannungsreiche Verhältnis zwischen kirchlicher Praxis und wissenschaftlicher Theoriebildung gehört zu den Grunderfahrungen einer theologischen Berufsbiographie. Wenn sich darum die vorliegende Studie der Frage zuwendet, in welcher Weise systematisch-theologische Reflexion für das Verständnis der gelebten Kirchlichkeit fruchtbar gemacht werden kann, so verdankt sich diese Problemstellung auch und in besonderer Weise den Erfahrungen, die ich selbst während meiner Tätigkeit an der Universität München auf der einen, als Vikar und Pfarrer z.A. der bayerischen Landeskirche auf der anderen Seite gemacht habe. Das besondere Privileg des wissenschaftlichen Theologen ist es dabei, solche Erfahrungen zum Gegenstand einer intensiveren Untersuchung werden zu lassen, um sich so, nach der Vorgabe Friedrich Schleiermachers, eine „eigene Uberzeugung" bilden zu können. Die individuelle Motivation beschreibt allerdings nur einen Teil der wissenschaftlichen Arbeit. Darum habe ich vielfältig Dank zu sagen für die Unterstützung, die ich während der Entstehung dieser Studie, die im Sommersemester 1998 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München als Habilitationsschrift für das Fach Systematische Theologie angenommen wurde, erfahren habe. Zunächst gilt mein besonderer, ganz herzlicher Dank Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Trutz Rendtorff. Er hat nicht nur das Erstgutachten zu dieser Arbeit erstellt, sondern auch als akademischer Lehrer über lange Jahre hinweg das Entstehen meiner eigenen theologischen Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit und aufmerksamer Gesprächspartner nachhaltig gefördert. Das Bemühen, theologische Fragestellungen immer auch auf die kirchliche Praxis zu beziehen, verdankt sich ganz wesentlich den Anregungen, die er mir zunächst als Studenten, später dann als seinem Assistenten zu Teil werden ließ. Zusammen mit Herrn Prof. Dr. Dr. Hermann Timm, dem ich besonders für die Übernahme des Zweitgutachtens danken möchte, sorgte er zudem dafür, daß ich am Institut für Systematische Theologie stets sehr gute Arbeitsmöglichkeiten vorfand. Mein Kollege Dr. Stefan Pautler hat maßgeblich dazu beigetragen, unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Lehrstuhl von Trutz Rendtorff eine offene und anregende Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Für seine berufliche und persönliche Solidarität, aber auch für viele Ratschläge bei der Abfassung und Drucklegung dieser Untersuchung sei ihm an hier noch einmal ganz herzlich gedankt. Angela Adelhard, Ernestine Hahn und Matthias Wolfbeiss halfen als studentische Hilfskräfte bei den Korrekturen, Christoph

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Lieb bei der oft mühevollen Literaturrecherche. Herr Prof. Dr. Klaus Tanner stand stets als Gesprächspartner und Freund bereit, um die Thesen der Arbeit kritisch zu begleiten und Anregungen für den weiteren Fortgang zu geben. Herrn Prof. Dr. Gunter Wenz habe ich es zu verdanken, daß das Manuskript in der Reihe „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie" erscheinen kann. Frau Dr. Reinhilde Ruprecht und Frau Renate Hartog sorgten mit großem Engagement für eine reibungslose Zusammenarbeit mit dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Der Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern gewährte einen Druckkostenzuschuß. Allen zuvor genannten gilt mein ganz herzlicher Dank. Den größten Dank aber schulde ich meiner Frau Sabine, die es neben ihrer eigenen Berufstätigkeit immer wieder schaffte, mir Freiräume für das wissenschaftliche Arbeiten zu gewähren und dabei unseren Töchtern stets aufs neue geduldig erklärte, warum sie ihren Vater gerade nicht stören dürfen. Ihr sei darum dieses Buch gewidmet. München, im März 2000

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Reiner Anselm

1. K A P I T E L

Ekklesiologie im Spannungsfeld von dogmatischer Wesensbestimmung und kirchlicher Wirklichkeit

1. Die Lehre von der Kirche vor der Frage nach ihrer

Geschichte

Ob konfessioneller Religionsunterricht, politisches Engagement der Kirchen oder die ökumenische Zusammenarbeit vor Ort - aktuelle kirchenpolitische Auseinandersetzungen sind in ihrem Kern auch immer Auseinandersetzungen um das richtige Kirchenverständnis, insbesondere darüber, wie sich die geglaubte und die erfahrene Kirche zueinander verhalten. Diese Kontroverse um das Verhältnis von dogmatischer und empirischer Kirche ist nicht neu, sondern begleitet die evangelische Lehre von der Kirche seit ihren Anfängen. Sie stellt sich allerdings immer wieder neu, da sich die konkreten Kontexte kirchlichen Lebens wandeln. Als dauernde Herausforderung markiert die Frage nach der rechten Sozialgestalt der Kirche das geheime Leitthema des deutschen Protestantismus1. Für die Spannungen zwischen Kirchenbegriff und kirchlicher Wirklichkeit2, Theologie und Empirie der Kirche3 interessieren sich die Vertreter der professionellen Ekklesiologie ebenso wie die Kirchenmitglieder, wenn auch mit unterschiedlichen Vorzeichen: Während in der dogmatischen Kirchenlehre versucht wird, von der theologischen Theorie her die Praxis zu erfassen und zu normieren, definieren die Kirchenmitglieder ihr Christsein oftmals in bewußter Abgrenzung gegen ein theologisch fixiertes Kirchenverständnis. Um diese „kognitive Dissonanz"4 zu überwinden, herrscht von Seiten der Theologie das Bestreben vor, die konkrete Gestalt protestantischen Kir-

1 Vgl. FRIEDRICH WILHELM GRAF: Art. Ekklesiologie, in: W B C , Gütersloh u.a. 1 9 8 8 , 2 7 6 - 2 8 0 , 2 7 9 ; WOLFGANG HUBER: Wahrheit und Existenzform. Anregungen zu einer Theorie der Kirche bei D. Bonhoeffer, in: Ders.: Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im H o r i z o n t der Barmer Theologischen Erklärung, Neukirchen-Vluyn 1 9 8 3 , 1 6 9 - 2 0 4 , 169f. 2 PETER STEINACKER: Kirchenbegriff und kirchliche Wirklichkeit, in: Trutz Rendtorff (Hg.): Charisma und Institution, Gütersloh 1 9 8 5 , 4 3 0 - 4 3 7 . 3 EBERHARD HÜBNER: T h e o l o g i e und Empirie der Kirche. Prolegomena zur Praktischen T h e o l o g i e , Neukirchen-Vluyn 1 9 8 5 . 4 So das Paradigma, mit dem GERHARD SCHMIDTCHEN: Gottesdienst in einer rationalen Welt. Religionssoziologische Untersuchungen im Bereich der VELKD, Freiburg 1 9 7 3 , die Diskrepanz zwischen kirchlich intendierter und tatsächlich gelebter Frömmigkeit zu erklären sucht.

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chentums nach der Vorgabe des dogmatisch gewonnenen Wesens der Kirche zu gestalten. Uber konfessionelle Grenzen und theologische Schulbildungen hinweg erweist sich damit ein Konstruktionsprinzip als einigendes Band der Kirchentheorien in der evangelischen Theologie der Gegenwart, das paradigmatisch in der dritten Barmer These formuliert worden war 5 . Die Forderung der Barmer Erklärung, die „Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt", habe „mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, daß sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte" 6 , schlägt sich in den nachfolgenden ekklesiologischen Entwürfen in der grundsätzlichen Uberordnung der dogmatischen Reflexion über die kirchliche Wirklichkeit nieder. Karl Barths an Bonhoeffer und Hegel angelehnte Formel, die Kirche sei „Jesu Christi eigene irdisch-geschichtliche Existenzform" 7 , an der sich jede Ausprägung empirischer Kirchlichkeit messen lassen müsse, bringt das ebenso zum Ausdruck wie Wolfhart Pannenbergs Forderung, die Dogmatik habe „die geschichtliche Konkretion der Kirche im Lichte ihres Wesensbegriffs" 8 zu erörtern. Bei Winfried Härle oder Ellert Herms bietet sich dasselbe Bild. Beide setzen mit der dogmatischen Bestimmung ein und definieren Kirche als „creatura verbi divini" 9 . Härle leitet daraus die Folgerung ab, alle Darstellungsformen der kirchlichen Praxis müßten sich daran messen lassen, ob „der Habitus [...] der Zeugen; die ästhetische Qualität der Räume und Veranstaltungen; die Atmosphäre in Gruppen und Versammlungen; der gesellschaftlichpolitische Kontext [...] dem zu bezeugenden Wort Gottes entspricht oder widerspricht" 10 . Herms ordnet, analog zu Härles Vorschlägen, ebenfalls die Ordnung der Kirche einem zuvor artikulierten Glaubenskonsens unter 11 . Diese

5

Z u r Auslegung der Ekklesiologie der B a r m e r Theologischen Erklärung vgl. insbesondere die

Beiträge in: ALFRED BURGSMÜLLER ( H g . ) : Kirche als „Gemeinde v o n B r ü d e r n " (Barmen III), Bd. 1: Vorträge aus dem Theologischen Ausschuß der Evangelischen Kirche der Union, Gütersloh 1 9 8 0 ; DERS.: Kirche als „Gemeinde v o n B r ü d e r n " (Barmen III), Bd. 2 : V o t u m des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union. (Veröffentlichung des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union), Gütersloh 1 9 8 1 . 6

Zit. nach CARSTEN NICOLAISEN: D e r Weg nach B a r m e n . Die Entstehungsgeschichte der

Theologischen Erklärung v o n 1 9 3 4 , Neukirchen-Vluyn 1 9 8 5 , 1 8 0 . 7

KARL BARTH: Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I V / 1 : Die L e h r e v o n der Versöhnung, Z ü r i c h

1 9 6 0 , 7 3 8 , vgl. 7 1 8 . 8

WOLFHART PANNENBERG: Systematische Theologie, Bd. 3 , Göttingen 1 9 9 3 , 3 8 .

' WINFRIED HÄRLE: Art. Kirche VII: Dogmatisch, in: T R E 1 8 , Berlin u.a. 1 9 8 9 , 2 7 7 - 3 1 7 , 2 8 1 ; ELLERT HERMS: Die L e h r e im Leben der Kirche, in: Ders.: Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen 1 9 9 0 , 1 1 9 - 1 5 6 , 1 1 9 . 10

H ä r l e , Kirche, 2 9 5 .

11

H e r m s , Lehre, 1 4 8 .

12

Grundstruktur findet sich nicht nur bei den im engeren Sinne dogmatischekklesiologischen Schriften12, sondern auch in der eher feuilletonistischen, kirchenkritischen Literatur, etwa bei Reimer Gronemeyer13 oder jüngst bei Gerhard Besier14. Der Prävalenz der Dogmatik entspricht es auch, wenn der Rekurs auf die Kirche als Dienstgemeinschaft15 sich bis hinein in die Regelungen des kirchlichen Arbeitsrechts erstreckt und dort etwa als Begründung dienen soll, keine muslimischen Reinigungskräfte in einem evangelischen Kindergarten einzustellen16. Die Kirchenmitglieder reagieren auf solche Entscheidungen oftmals mit ungläubigem Erstaunen. Konkretes kirchliches Handeln dogmatisch zu legitimieren, entspricht nicht ihrem eigenen, christlichen Selbstverständnis. Aus der Sichtweise der Gemeindeglieder stellt sich darum die Verhältnisbestimmung zwischen dogmatischer Ekklesiologie und kirchlicher Wirklichkeit anders dar als sie von der theologischen Theoriebildung intendiert ist. Wie die Mitgliedschaftsstudien der EKD 17 belegen, verläuft das Teilnahmeverhalten der

12 Vgl. dazu auch den Überblick über neuere soziologische Literatur zur Kirchenthematik bei GREGOR SIEFER (Hg.): Wozu noch Kirche? - oder: Der Kampf um die Organisation der .religiösen Bedürfnisse', in: Soziologische Revue 2 0 (1997), 1 6 3 - 1 7 2 . 13 REIMER GRONEMEYER: Wozu noch Kirche? Die Wiedergeburt der Kirche aus dem Geist des Christentums, Berlin 1995, vgl. bes. 213f. 14 GERHARD BESIER: Konzern Kirche. Das Evangelium und die Macht des Geldes, NeuhausenStuttgart 1997, vgl. bes. 219f.: „Es mag zutreffen, daß die Wort-Gottes-Theologen eine .KyriosChristologie mit minimaler Rückbindung an den irdischen Jesus* entwarfen. Ihre Kritik an der .Behördenkirche' bleibt davon aber unberührt. Man muß keine Romantik des Ursprungs pflegen und auch kein weltfremder Phantast sein, um sich erstaunt zu fragen, was diese machtvolle Institution mit dem Leben und der Lehre des .heimatlosen Wanderpredigers' aus Galiläa zu tun hat. Wenn die .Erzählung von Jesus [...] die Grundlage christlicher Identität ist', dann muß sich das Selbstverständnis des Christentums nicht nur im Blick auf sein Verhältnis zum Judentum verändern. Christliche Gemeinschaften werden sich an dem messen lassen müssen, was der Herr der Kirche ihnen auf den Weg mitgegeben hat". 15

Z u r R e c h t s l a g e vgl. e t w a GERHARD GRETHLEIN / HARTMUT BÖTTCHER / WERNER H O F -

MANN / HANS-PETER HÜBNER: Evangelisches Kirchenrecht in Bayern, München 1994, bes. 203ff. Kritisch zum Leitbild der Kirche als Dienstgemeinschaft.· PERSON UND INSTITUTION. Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft. Arbeitsergebnisse und Empfehlungen der Perspektivkommission der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Frankfurt/M. 3 1 9 9 2 , 1 5 3 f f . ; vgl. auch HEINRICH BEYER / HANS G. NUTZINGER: Erwerbsarbeit und Dienstgemeinschaft. Arbeitsbeziehungen in kirchlichen Einrichtungen. Eine empirische Untersuchung, Bochum 1991. " Zum Zusammenhang von theologischem Verständnis der Kirche und der empirischen Dimension kirchlicher Rechtsordnungen vgl. den knappen und informativen Uberblick bei AXEL V. CAMPENHAUSEN: Das Problem der Rechtsgestalt in ihrer Spannung zwischen Empirie und Anspruch. Rechtsgestalt und Ekklesiologie, in: Alfred Burgsmüller (Hg.): Kirche als „Gemeinde von Brüdern" (Barmen III), Bd. 1: Vorträge aus dem Theologischen Ausschuß der Evangelischen Kirche der Union, Gütersloh 1980, 4 7 - 7 2 . 17

HELMUT HLLD (Hg.): Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung. Ergebnisse einer

U m f r a g e , G e l n h a u s e n / Berlin 1 9 7 4 ; JOHANNES HANSELMANN / HELMUT HLLD / EDUARD LOHSE

(Hg.): Was wird aus der Kirche. Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage über Kirchenmitglieds c h a f t , G ü t e r s l o h 1 9 8 4 ; KLAUS ENGELHARDT/HERMANN VON LOEWENICH/PETER STEINACKER

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Kirchenglieder, aber auch deren Bewertung kirchlicher Angebote in anderen Bahnen, als sie die theologische Theoriebildung vorgibt. Während die ekklesiologische Tradition Verkündigung und Sakramentsverwaltung in den Mittelpunkt evangelischer Kirchlichkeit rückt, mißt die Mehrzahl der Kirchenglieder diesen beiden Aspekten den geringsten Stellenwert zu18: Auf die Frage, was zum Christsein unbedingt dazugehöre, finden die regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst und Schriftlektüre bei weitem die geringste Zustimmung19. An die Stelle dogmatisch normierter Kirchlichkeit rückt eine individuell definierte Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche, ebenso wie die je verschieden erfahrene Ausdrucksform der Gemeinde vor Ort zum Kriterium wird, nach dem die Kirche insgesamt beurteilt wird. Diese Auffassung bündelt sich in der Einschätzung des Pfarrers. Die empirischen Studien belegen, daß das Verhältnis zur Ortsgemeinde und damit zur Kirche überhaupt in erster Linie durch den Pfarrer geprägt wird, und zwar nicht durch das dogmatisch definierte Amt, sondern durch seine je individuelle Persönlichkeit. In der Person des Pfarrers wird Kirche greifbar, er ist der Kristallisationspunkt für die eigene Einstellung zur Kirche, und zwar in positiver wie in negativer Hinsicht20. „Im protestantischen Pfarrer begegnet die gesellschaftliche Organisation Kirche personal, individuell vielfältig. Das stiftet manchmal Verwirrung, macht die Begegnung mit der Organisation Kirche jedoch allererst motivkräftig, ermöglicht in der Regel erst das eigene persönliche Verhältnis zu ihr" 21 . Der Pfarrer ist der Musterprotestant. In dieser Sichtweise fungiert der eigene Gemeindepfarrer gleichsam als die Institutionalisierung jeweils individuellen Christentums. Nicht von einer theologisch begründeten Wesensbestimmung, sondern von der konkreten Wirklichkeit her wird die Kirche aus der Perspektive ihrer Mitglieder thematisch. Diese Elemente protestantischer Kirchlichkeit und die ihr inhärente, eigene ekklesiale Logik bekommt die theologische Theoriebildung nicht angemessen in den Blick, solange sie an einer auf die Wesensbestimmung der Kirche fixierten Methodik festhält. Dieses Defizit bleibt für die dogmatische Ekklesiologie nicht folgenlos. Ohne die Strukturprinzipien gelebter Kirchlichkeit adäquat zu beschreiben, kann es nicht gelingen, die kirchliche Praxis nach Maßgabe der dogmatischen Einsichten zu gestalten. Gewiß, die Spannung zwischen der

(Hg.): F r e m d e H e i m a t Kirche. Die dritte E K D - E r h e b u n g über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1997. 18

Vgl. F r e m d e H e i m a t Kirche, 175ff.

19

F r e m d e H e i m a t Kirche, 1 8 3 .

20

Vgl. dazu auch: DER DIENST DER EVANGELISCHEN KIRCHE AN DER HOCHSCHULE: Eine

Studie im Auftrag der Synode der E K D , hg. v o m Kirchenamt der E K D , Gütersloh 1 9 9 1 , 1 6 6 . 21

WILHELM GRÄB: Der Pfarrer als Musterprotestant. Z u m Wandel einer kirchlichen Funk-

tionselite, in: Friedrich Wilhelm G r a f / Klaus Tanner ( H g . ) : Protestantische Identität heute, Gütersloh 1 9 9 2 , 2 4 6 - 2 5 5 , 2 5 3 .

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geglaubten und der erfahrbaren Kirche ist letztlich unaufhebbar 22 , ebenso wie sich die Perspektive der Kirchenmitglieder nicht vollständig in die des professionellen Dogmatikers überführen läßt. Allerdings darf dieser theologisch zu begründende und empirisch verifizierbare Sachverhalt nicht dazu verleiten, die ekklesiologische Theoriebildung auf die geglaubte Kirche zu beschränken. Gerade die gelebte Kirchlichkeit ist auf die kritische Überprüfung durch die Dogmatik angewiesen. Nur so kann sie vermeiden, nun umgekehrt ihre eigene, erfahrbare Wirklichkeit mit der geglaubten Kirche gleichzusetzen und damit lediglich die bestehenden Verhältnisse religiös zu überhöhen 23 . Karl Barth hat diese Gefahr gesehen und vor einem „ekklesiastischen Doketismus" gewarnt, der die irdisch geschichtliche Gestalt der Kirche „bloß als ein notwendiges Übel behandeln will"24. Gleichwohl hat er selbst einer „Überdogmatisierung der Kirche"25 Vorschub geleistet, die von der sichtbaren Kirche nurmehr abfällig und im Gestus prophetischer Kritik26 sprechen kann und damit die Ebene der gelebten Kirchlichkeit nicht mehr erreicht. „Die theologischen Bestimmungen der Kirche drohen neben der faktischen Wirklichkeit der Kirche stehen zu bleiben oder sie wandern in eine Pose des Protestes gegen die weltliche Existenz der Kirche ein", kritisiert Wolf Krötke entsprechende Tendenzen der Ekklesiologie Barths27. Auf die Spitze getrieben wird diese Verengung des dogmatischen Kirchenverständnisses, wenn schließlich die Differenz zwischen gelebter und dogmatisch konstruierter Kirche konstatiert und als Ausdrucksform der Unterscheidung von sichtbarer und geglaubter Kirche theologisch legitimiert wird. Nun kommt es in der Nachfolge der durch die Barmer Theologische Erklärung und die Theologie Karl Barths vorgezeichneten Kirchenlehre selbst zu einem „ekklesiologischen Doketismus" 28 , in dessen Perspektive 22

Vgl. dazu schon W O L F - D L E T E R M A R S C H : Art. Kirche, in: Gert Otto (Hg.): Praktischtheologisches Handbuch, Hamburg 2 1975, 340-361, 341. 23 Vgl. F R I E D R I C H W I L H E L M G R A F : Innerlichkeit und Institution. Ist eine empirische Ekklesiologie möglich?, in: PTh 77 (1988), 382-393, 391ff. 24 Barth, KD IV/1, 729f. 25 Graf, Innerlichkeit, 392. 26 Vgl. dazu schon die Formulierungen von Barth selbst in KD IV/1, 734: Sollte die Kirche „ihre konkret geschichtliche Gestalt für ihr Sein halten, mit diesem gleichsetzen, abstrakt in dieser existieren wollen, dann wehe ihr! Es wäre von ihr dann zu sagen, daß sie gerade insofern nicht Israel, sondern Edom oder gar Moab, nicht die Kirche Jesu Christi, sondern die Synagoge des Antichrist wäre". 27 W O L F K R Ö T K E : Perspektiven der Theologie Karl Barths - „Die wirkliche Kirche", in: Ders.: Die Kirche im Umbruch der Gesellschaft. Theologische Orientierungen im Übergang vom „real existierenden Sozialismus" zur demokratischen, pluralistischen Gesellschaft, Tübingen 1994, 125-140,136. Ähnlich urteilte schon M A R T I N H O N E C K E R : Kirche als Gestalt und Ereignis. Die sichtbare Gestalt der Kirche als dogmatisches Problem, München 1963,200: Barth vermöge die „geschichtliche Bedingtheit kirchlicher Gestaltung nicht anzuerkennen", so daß bei ihm „die soziale Dimension [...] daher notgedrungen in ihrer geschichtlichen Ausformung theologisch bedeutungslos" werde; vgl. dazu auch Hübner, Theologie, 83-106. 28 Zu diesem Phänomen in Aufnahme der Terminologie Barths T R U T Z R E N D T O R F F : Theologi-

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alle theologischen Modelle, die sich erfolgreich um die Integration der pluralen Kirchlichkeit der Mitglieder in die Kirchentheorie selbst bemühen, nur mehr als gegen sachliche Kritik immuner, unchristlicher „Mythos", und darum gerade als entmythologisierungsbedürftig erscheinen29. So entsteht allerdings eine paradoxe Situation, die nach Aufklärung verlangt: Angeregt von dem Bestreben, einen doppelten Kirchenbegriff zu überwinden, bei dem die theologische Sicht der Kirche und ihr traditioneller Ort im Lehrstück von der unsichtbaren Kirche scheinbar unverbunden blieb mit ihrer empirisch faßbaren Gestalt, kommt es zu einer wachsenden Distanzierung der evangelischen Kirchenlehre von ihrem Gegenstand, der Kirche als Gemeinschaft derer, die im christlichen Glauben stehen und sich zu ihm bekennen. Die Diastase zwischen der theologisch bestimmten und der lebensweltlich erfahrenen Kirche wird nicht überwunden, sondern im Gegenteil weiter vertieft. Der Grund für diese Entwicklung liegt in einem gebrochenen Verhältnis der Ekklesiologie zur Geschichte. Obwohl Trutz Rendtorff schon vor gut dreißig Jahren postuliert hat, die gegenwartsorientierte Auseinandersetzung mit dem Kirchenbegriff sei in erster Linie vor dem Hintergrund von dessen eigener Geschichte zu verhandeln30, präsentiert sich die dogmatische Ekklesiologie heute weithin als ein geschichtsloses Konstrukt. Damit ist sie jedoch nicht in der Lage, die jeweilige kirchliche Wirklichkeit in die eigene Theorie aufzunehmen, zu deuten und zu transformieren. Statt dessen schottet sich ein im wesentlichen kontrafaktisch erhobener, idealisierender Kirchenbegriff von dem komplexen Gefüge der konkret-geschichtlichen Bedingungsfaktoren ab, in deren Spannungsfeld sich auch eine als creatura verbi divini verstandene Kirche konstituiert. Dabei wird nicht nur verkannt, „daß die Geschichtlichkeit der Kirche diejenige Gestalt ist, in der auch und allein die Kirche des Glaubens lebendig ist"31. Die ekklesiologische Reflexion bleibt damit auch hinter den Einsichten zurück, die die historistische Kritik an einer allein dogmatisch orientierten Theologie erarbeitet hat und die ihre klassische Gestalt in Ernst Troeltschs Erwägungen zur Methode der Theologie gefunden haben. In kritisch-konstruktiver Auseinandersetzung insbesondere mit Adolf v. Harnacks Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums" hatte Troeltsch festgehalten, daß sich ein Wesensbegriff weder auf dem Wege suprarationaler Deduktion, noch über historische Reflexion erheben lasse, und allen Versuchen, ein objektiv und

sehe Probleme der Volkskirche, in: Wenzel Lohff / M o h a u p t (Hg.): Volkskirche - Kirche der Zukunft ( = Z u r Sache, Bd. 1 2 / 1 3 ) , Hamburg 1 9 7 7 , 1 0 4 - 1 3 1 , llOf. So bei MICHAEL WELKER: Kirche im Pluralismus ( = K T 1 3 6 ) , Gütersloh 1 9 9 5 , bes. 59ff. TRUTZ RENDTORFF: Kirche und Theologie. Die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie, Gütersloh 1 9 6 6 , 9. 29 30

3 1 DIETRICH ROSSLER: Der Kirchenbegriff der Praktischen Theologie, in: Kirche. Festschrift für Günther Bornkamm, hg. v. Dieter Lührmann und Georg Strecker, Tübingen 1 9 8 0 , 465-470, 469.

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zeitlos gültiges Wesen des Christentums zu erheben, eine Absage erteilt. Statt dessen insistierte Troeltsch darauf, jede Wesensbestimmung sei selbst ein geschichtliches Konstrukt, jeweils abhängig von der Situation und dem Standpunkt des Beobachters32. Das „Wesen des Christentums" zu erheben, konnte für Troeltsch darum nur bedeuten, diese Bestimmung im Spannungsfeld von Geschichte und Gegenwart stets neu als eine „lebendige religiöse Produktion [...] in instinktiver Empfindung des Geschichtlich-Wesentlichen und des von der Gegenwart Geforderten" zu gewinnen33. Was der Dogmatiker der Religionsgeschichtlichen Schule vor diesem Hintergrund mit Blick auf die Ethik der Theologie ins Stammbuch schrieb, läßt sich ohne weiteres auf die Ekklesiologie übertragen. Troeltsch hatte als Reaktion auf die zeitgenössischen Anfragen an die Theologie formuliert: „Nicht von einer wie immer gearteten Metaphysik aus, die selbständig durch ihre Begriffe das Wesen der Welt enthüllte, nähert man sich heute dem Religionsproblem. Vielmehr von dem allgemeinen ethischen Problem der letzten Werte und Ziele menschlichen Lebens und Handelns kommt man zu den darin eingeschlossenen religiösmetaphysischen Gedanken" 34 . Nur von der Analyse der kirchlichen Wirklichkeit her kann ein sachgerechter Zugang zu den Problemkreisen der Ekklesiologie erreicht werden, nur dann kann auch der dogmatische Kirchenbegriff die gebotene kritisch-normative Funktion für die vorfindliche, empirische Kirchlichkeit wahrnehmen. Setzt die Ekklesiologie dagegen unvermittelt mit einem allein aus der dogmatischen Reflexion gewonnenen Kirchenbegriff ein, fehlt es ihr an der inneren Legitimation und auch an den Fähigkeiten, von einer „geglaubten Kirche in und trotz der erfahrenen Kirche"35 aus auf die institutionelle Ordnung der empirischen Kirche auszugreifen, geschweige denn individuelle Teilnahmeformen am kirchlichen Leben integrieren oder normieren zu können. Der Ubergang zwischen der zeitlos-aktual als Setzung Christi verstandenen Kirche und ihrer institutionellen Ordnung bleibt in dieser Perspektive undeutlich; die für die Mehrzahl der Kirchenmitglieder zentrale Integration von Biographie und Kirchenmitgliedschaft36 droht als nur uneigentliches, äußeres

32 Vgl. ERNST TROELTSCH: Was heißt „Wesen des Christentums" (1903), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 3 8 6 - 4 5 1 , 4 3 1 f. 33 Troeltsch, Wesen, 431. 34 ERNST TROELTSCH: Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik (1902), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 5 5 2 - 6 7 2 , 553. 35 Burgsmüller, Kirche als „Gemeinde von Brüdern", 38. 36 Vgl. dazu neben den nach wie vor grundlegenden Überlegungen von JOACHIM MATTHES: Volkskirchliche Amtshandlungen, Lebenszyklus und Lebensgeschichte. Überlegungen zur Struktur volkskirchlichen Teilnahmeverhaltens, in: Ders. (Hg.): Erneuerung der Kirche. Stabilität als Chance. Folgerungen aus einer Umfrage, Berlin 1975, 8 3 - 1 1 2 , auch WALTER

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Kennzeichen evangelischer Kirchlichkeit in den Hintergrund zu treten. Die stets aufs Neue eingeschärfte Differenz von geglaubter und erfahrener Kirche verlangt danach, daß sich die Kirche im Gegenüber zur Welt, aber auch im Gegenüber zu zeitgenössischen Frömmigkeitsformen definiert. Es klingt fast beschwörend, wenn Franz-Xaver Kaufmann konstatiert, es komme darauf an, „den Kirchenbegriff dahingehend zu erweitern, daß der historische und gesellschaftliche Charakter von .Kirche' systematisch reflektiert werden kann". Darin bestehe „die Aufgabe einer zeitgemäßen theologischen Ekklesiologie"37. Das gebrochene Verhältnis der Ekklesiologie zur Geschichte zeigt sich jedoch nicht nur in bezug auf ihren Gegenstand, sondern auch hinsichtlich ihres eigenen Standorts und gegenüber ihrer eigenen Methode. Gerade die Barmer Theologische Erklärung, aber auch die Kirchentheorie der ihr nachfolgenden theologischen Entwürfe sind, ebenso wie deren kritische Rekonstruktion, jedoch selbst geschichtlich bedingt und von einem Gegenwartsinteresse geleitet38. Es ist notwendig, sich darüber aufzuklären, soll die Ekklesiologie kein zeitloses, ungeschichtliches Konstrukt darstellen und damit zugleich in der Gefahr stehen, ihren Gegenstand zu verfehlen. Die Einsicht in die Kontextualität der eigenen Position redet nicht dem unkritischen Relativismus das Wort. Sie bildet unter Verzicht auf Absolutheitsansprüche lediglich das ab, was die verschiedenen ekklesiologischen Entwürfe mit der Figur eines jeder empirischen Kirche vorgängigen Wesensbegriffs aussagen wollen: daß nämlich die Bestimmung einer überzeitlich wahren Kirche unter irdischen Bedingungen nicht möglich ist. Doch nicht nur in ihrem eigenen Standpunkt, sondern auch im Hinblick auf ihre Grundentscheidungen und Interpretationsmuster erweist sich die Ekklesiologie alsgeschichts- und traditionsgebunden. Denn so sehr das Verhältnis von empirisch wahrnehmbarer und dogmatisch formulierter Kirche eine Frage der Gegenwart ist, so sehr ist es in seiner heutigen Problemkonstellation durch seine theologiegeschichtlichen Wurzeln bestimmt. Eine besondere Rolle kommt dabei der Ausarbeitung der Ekklesiologie in der altlutherischen Orthodoxie zu, die alle späteren Kirchen prägt. Von ihr ausgehend, verbindet „ein verborgener Strom des Denkens und der Argumente [...] die Gegenwart mit der Vergangenheit" 39 . Zwar haben sich die äußeren Bedingungen verändert. Die

SPARN (Hg.): Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990, sowie MONIKA WOHLRAB-SAHR (Hg.): Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt / M . u.a. 1995. 37 FRANZ-XAVER KAUFMANN: Kirche begreifen. Analysen und Thesen zur gesellschaftlichen Verfassung des Christentums, Freiburg u.a. 1979, 53. 38 Zur kontextuellen Bezogenheit von Karl Barths Kirchenlehre vgl. insbesondere die Studie von JOSEPH RITZ: Die Präsenz der Empirie im Kirchenbegriff bei Karl Barth und Hans Küng, Freiburg 1981. 3 ' MARTIN HONECKER: Cura religionis Magistratus Christiani. Studien zum Kirchenrecht im

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kirchenpolitischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt die theologischen Rahmenbedingungen waren seither fundamentalen Wandlungen ausgesetzt. Doch die Problemlagen, aber auch die möglichen Argumente kennzeichnet eine bemerkenswerte Konstanz. „Der Fluß, welcher unter der Masse der Jahrhunderte zu verschwinden scheint, bahnt sich seinen Weg durch das Gestein der Uberlieferung und tritt unvermutet wieder zutage"40. Was Martin Honecker metaphorisch beschreibt, läßt sich durch einen Blick auf die Forschungs- und Rezeptionsgeschichte der altlutherischen Kirchenlehre verdeutlichen: Bis in die Gegenwart hinein verwenden ekklesiologische Entwürfe die Terminologie und die grundlegenden Distinktionen der Orthodoxie. Dementsprechend notiert Jürgen Moltmann, obwohl er für seine eigene Darstellung der Ekklesiologie einen anderen Weg als die lutherische Orthodoxie wählt: „Die reformatorische Erneuerung der Kirche hat im Zeitalter der protestantischen Orthodoxie ihre weithin verbindliche Gestalt bekommen. Jede Veränderung im Protestantismus muß diese Tradition verarbeiten."41 Wer auf das Erbe der klassischen Dogmatiker zurückgreift, übernimmt allerdings nicht nur deren Terminologie. Zusammen mit den im 17. Jahrhundert entwikkelten Formeln bleibt auch die ihnen korrespondierende Architektur der Ekklesiologie konstant. Gleiches gilt für das Verfahren und die systematischen wie historischen Vorentscheidungen, mit denen sich die altlutherischen Theologen den Problemen von Kirchenbegriff, Kirchenzugehörigkeit und Kirchenorganisation nähern. Nur wenn dieser Zusammenhang beachtet wird, können die grundlegenden Formeln und Distinktionen nach wie vor in der ekklesiologischen Theoriebildung verwendet werden, ohne in unaufhebbare Schwierigkeiten zu geraten. Werden dagegen die Distinktionen der alten Dogmatik zusammen mit den ihnen inhärenten Vorentscheidungen unmittelbar auf die eigene Gegenwart übertragen, entsteht eben jener eingangs geschilderte Hiatus zwischen einer vermeintlich zeitlosen Ekklesiologie und den konkreten Herausforderungen zeitgenössisch gelebter Kirchlichkeit. Mit den Worten Falk Wagners: „Die Ekklesiologie ist so lange nicht in der Lage, sich auf die gegenwärtige soziale Gestalt der Kirchen einzulassen, so lange sie ihren Wesensbegriff an ein historisches Sozialmuster bindet, das vergangenen Verhältnissen entlehnt

L u t h e r t u m des 1 7 . Jahrhunderts, insbesondere bei J o h a n n G e r h a r d ( = J u s E c c 7 ) , M ü n c h e n 1968, 219. 40

H o n e c k e r , C u r a , 2 1 9 ; vgl. auch ebd., 1 7 .

41

JÜRGEN MOLTMANN: Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zur messianischen

Ekklesiologie, M ü n c h e n 1 9 7 5 , 2 5 2 f . 42

FALK WAGNER: Z u r soziohistorischen Kritik der Selbstgenügsamkeit

dogmatisch-ek-

klesiologischer Selbstbeschreibungen, in: Wilhelm Pratscher / G e o r g Sauer ( H g . ) : Die Kirche als historische und eschatologische Größe. Festschrift für Kurt N i e d e r w i m m e r zum 6 5 . Geburtstag, Frankfurt/M. u.a. 1 9 9 4 , 2 3 1 - 2 4 2 , 2 3 6 ; vgl. dazu auch schon M a r s c h , Kirche, 3 4 1 , sowie Graf, Innerlichkeit, 3 8 6 f .

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Eine derartige, unkritische Übernahme verfehlt nicht nur die eigene Gegenwart, sie verkennt zudem die spezifische Charakteristik ihres historischen Vorbilds, der altlutherischen Kirchenlehre selbst. Deren Spezifikum besteht in der Kombination von dogmatisch-struktureller und empirisch-christentumssoziologischer Ausarbeitung des Kirchenbegriffs, die auch dort präsent ist, wo scheinbar bloß innerdogmatische oder kontroverstheologische Probleme behandelt werden, etwa in der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche. Die Verschränkung von dogmatischer und christentumssoziologischer Perspektive führt die Theologen der Barockzeit zu einer differenzierten und für die eigene Gegenwart ertragreichen Lehre von der Kirche. Sie ist es aber auch, die ihre Ekklesiologie als eine zeitbedingte ausweist und damit die Grenzen ihrer Ubertragbarkeit in einen anderen zeitgeschichtlichen Kontext markiert. So bleiben die altlutherischen Reflexionen über die Kirche in ihren Grundstrukturen, etwa in ihrer von Melanchthon herkommenden Unterscheidung von ecclesia stricte et late dicta, Referenzpunkt für alle weiteren Ausarbeitungen protestantischer Kirchenlehre. Die orthodoxen Dogmatiker beschreiben hier Fragestellungen, die über ihre Zeit hinaus gültig bleiben43. In ihrer konkreten Durchführung jedoch, in ihrer Zuwendung zu den Problemen der empirischen Kirche, die insbesondere über die Ausarbeitung der Drei-StändeLehre erfolgt, erweist sie sich als ihrer Zeit verhaftet. Hier weitet sich, wie zu zeigen ist, die dogmatische Ekklesiologie zu einer umfassenden Soziologie des Christentums, die das kirchliche Leben ihrer Zeit ebenso berücksichtigt wie die gesellschaftliche Einbettung des Luthertums und die daraus resultierenden Fragestellungen. Vor diesem Hintergrund liegt die Vermutung nahe, die evangelische, insbesondere die lutherische Ekklesiologie könne erst dann den Weg zu einer der zeitgenössischen Kirchlichkeit angemessenen Theoriebildung finden, wenn sie sich über ihren Umgang mit der eigenen Tradition und deren spezifischer Struktur, insbesondere deren Situationsgebundenheit im klaren ist. Um Orientierungspunkte für einen derartigen Neuansatz zu gewinnen, empfiehlt es sich, auf das „kollektive Gedächtnis" der bisherigen Rezeption altlutherischer Ekklesiologie zurückzugreifen. Schon ein erster Blick auf die Rezeptionsgeschichte der klassisch-lutherischen Kirchenlehre zeigt, daß hier immer wieder 43

Dieses Strukturmerkmal der altprotestantischen Dogmatik ist keineswegs auf die Ekklesiologie beschränkt. Eine vergleichbare Charakteristik eignet auch anderen Lehrstücken. Als Beispiel sei hier nur der Locus „De fide" erwähnt, in dem die Dogmatiker den christlichen Glauben durch die Ausarbeitung der Unterscheidung von notitia, assensus und fiducia in das Spannungsfeld zwischen göttlichem und menschlichem Handeln, zwischen der rezeptiven Erfahrung des Fremden und der Aneignung als Eigenem einzeichnen und damit die bis heute bestimmenden Eckdaten einer Bestimmung des Glaubensbegriffs konstituieren; vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei HEINRICH SCHMID: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt, hg. v. Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh, "1990, 263-271.

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der Versuch unternommen wird, die eigene Gegenwart zu deuten. Nach der Analyse dieser aktualisierenden Verwendung ekklesiologischen Traditionsguts lassen sich vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen aber auch die Schwierigkeiten einer einfachen Übernahme altlutherischer Theoriemodelle deutlich erkennen. Sie resultieren daraus, daß eine methodenkritische Reflexion unterbleibt und neben der Grundstruktur der Ekklesiologie auch deren konkrete Ausrichtung auf die Lebensverhältnisse des 17. Jahrhunderts als orientierend für die jeweilige Gegenwart übernommen werden, ohne sich über die fundamentale Differenz der Lebensformen Rechenschaft abzulegen. Daß die Interpreten der altlutherischen Ekklesiologie sowohl im 19. wie im 20. Jahrhundert auf der Grundlage einer vorschnellen Gegenwartsinterpretation der Versuchung erlegen sind, auch die - vermeintlich - homogenen Lebensverhältnisse der Barockzeit als Ideal für die eigene Zeit darzustellen, ist wohl nicht zuletzt die Ursache für das Stigma des Unzeitgemäßen und Überholten, das weithin die Urteile über die Orthodoxie bestimmt. Zugleich aber bietet diese gegenwartsorientierte Inanspruchnahme der klassischen Ekklesiologie selbst Anhaltspunkte für eine Neubewertung dieser Epoche der lutherischen Dogmatik. Die durch ein ausgeprägtes Gegenwartsinteresse gekennzeichnete Forschungsgeschichte zur altprotestantischen Ekklesiologie spiegelt in gewisser Weise diese Bezogenheit der dogmatischen Lehrbildung auf die geschichtliche Realität des Christentums wider, so daß sich aus der Rezeptionsgeschichte selbst Rückschlüsse auf die Konzeption der Orthodoxie ziehen lassen. Das Urteil der nachfolgenden Epochen über die Dogmatik des 17. Jahrhunderts und die Wirkungsgeschichte der altlutherischen Ekklesiologie stehen damit in einem unübersehbaren und erklärungsbedürftigen Spannungsverhältnis. Während auf der einen Seite das gängige theologiegeschichtliche Urteil von der dogmatischen Erstarrung der Lehre von der Kirche im Zeitalter der Orthodoxie weitertradiert und betont wird, im 17. Jahrhundert sei die reformatorische Vorstellung einer geistlich freien, brüderlichen Gemeinschaft um Wort und Sakrament zu einer schulmäßigen, politisch kontrollierten Behörde entstellt worden 44 , prägen die Grundentscheidungen jener Zeit maßgeblich das Aufbauprinzip jeder protestantischen Ekklesiologie. Offenbar erweist sich die Orthodoxie keineswegs als die tote Wissenschaft eines längst vergangenen, überholten Zeitalters, wie es der wohl von Ernst Troeltsch geprägte Begriff des „Altprotestantismus" 45 nahelegt. Zu den charakteristischen Eigenheiten der Stellvertretend für diese Position: WOLFGANG HUBER: Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1 9 7 3 , 49ff. 45 Der Sache nach ist diese Unterscheidung bei Troeltsch bereits in seinem frühen theologischen Werk präsent. So hebt er schon in der Eingangsthese der Absolutheitsschrift v o n 1 9 0 2 den alten Protestantismus v o n der M o d e r n e ab und spricht, allerdings unbetont, v o m „alten o r t h o d o x e n Protestantismus", der sich von der „Kultur der katholischen Kirche [...] nicht allzuweit entfernt" habe (ERNST TROELTSCH: Die Absolutheit des Christentums und die 44

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Orthodoxie gehört offenbar beides: ihr Fortwirken ebenso wie die Kritik an ihr. Sie erweist sich als orientierungsstiftend und anschlußfähig für die Debatten der Gegenwart und sieht sich doch zugleich dem Vorwurf ausgesetzt, „Afterdienst", „Pfaffentum" und „Fetischdienst" befördert zu haben 46 . Wenn damit der Versuch unternommen wird, die Eigenart lutherischer Ekklesiologie als einer kontextbezogenen Theoriebildung von der Rezeptionsgeschichte her zu erschließen, so soll die doppelte Fährte, die die Interpreten der klassischen Dogmatik hinterlassen haben, als Leitfaden dienen, um zu einem genaueren Bild der orthodoxen Kirchenlehre selbst zu gelangen und zugleich das Bewußtsein für die Traditionsgebundenheit des ekklesiologischen Denkens zu schärfen. Die nachfolgenden Analysen adaptieren damit die Methodik rezeptionsorientierter Textinterpretation, wie sie in der Literaturwissenschaft erarbeitet wurde und inzwischen auch in die exegetischen Disziplinen der Theologie Einzug gehalten hat 47 , für die Auslegung der klassischen Texte

Religionsgeschichte. Vortrag, gehalten auf der Versammlung der Freunde der Christlichen Welt zu Mühlacker (1902), hg. v. Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (=Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 5), Berlin u.a. 1998, 112). In ihrer klassischen, begrifflichen Gestalt findet sich die Kontrastierung von Alt- und Neuprotestantismus bei Troeltsch erst 1906 (ERNST TROELTSCH: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. Vortrag, gehalten auf der IX. Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart am 21. April 1906, München u.a. 2 1 9 1 1 , 2 6 ) . Obwohl Troeltschs Klassifizierung nach wie vor kontrovers ist (vgl. dazu jüngst JÖRG BAUR / WALTER SFARN: Art. Lutherische Orthodoxie, in: EKL 3 3, Göttingen 1992, 9 5 3 - 9 5 9 ) , hat sich der Begriff als Epochenbezeichnung eingebürgert und wird auch in dieser Arbeit dementsprechend verwendet. 4 6 So der klassische Vorwurf Kants, dessen Polemik gegen die Kirchenlehre der lutherischen Orthodoxie Motive der pietistischen Kritik aufnimmt: „Das Pfaffentum ist also die Verfassung einer Kirche, sofern in ihr ein Fetischdienst regiert, welches allemal da anzutreffen ist, wo nicht Prinzipien der Sittlichkeit, sondern statutarische Gebote, Glaubensregeln und Observanzen die Grundlage und das Wesentliche derselben ausmachen"; IMMANUEL KANT: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1794), hg. von Karl Vorländer, Hamburg 6 1 9 7 8 , 202. 4 7 Besonders die alttestamentliche Exegese hat den Fragen der Rezeptionsgeschichte in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet, vgl. dazu die Zusammenstellung bei KONRAD SCHMID: Klassische und nachklassische Deutungen der alttestamentlichen Prophetie, in: Z N T h G 3 (1996), 2 2 5 - 2 5 0 , 246f. Zur Erweiterung des exegetischen Methodenkanons durch die Wirkungsgeschichte vgl. ferner THOMAS STERNBERG (Hg.): Neue Formen der Schriftauslegung? ( = Q D 140), Freiburg 1982; ULRICH LUZ: Wirkungsgeschichtliche Exegese. Ein programmatischer Arbeitsbericht mit Beispielen aus der Bergpredigtexegese, in: B T h Z 2 (1985), 1 8 - 3 2 ; KLAUS KOCH: Rezeptionsgeschichte als notwendige Voraussetzung einer biblischen Theologie - oder: Protestantische Verlegenheit angesichts der Geschichtlichkeit des Kanons, in: Hans Heinrich Schmid / Joachim Mehlhausen (Hg.): Sola scriptura. Das reformatorische Schriftprinzip in der säkularen Welt ( = V W G T h 6), Gütersloh 1991, 1 4 3 - 1 5 5 . Erste Überlegungen zum Zusammenhang von wirkungsgeschichtlich orientierter Exegese und Dogmatik finden sich bei CHRISTOPH DOHMEN: Rezeptionsforschung und Glaubensgeschichte. Anstöße für eine neue Annäherung von Exegese und Systematischer Theologie, in: T T h Z 96 (1987), 1 2 3 - 1 3 4 ; sowie bei HANS WEDER: Exegese und Dogmatik. Überlegungen zur Bedeu-

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der lutherischen Dogmatik. Dies geschieht in dem Interesse, im Medium der Theologiegeschichte die Prolegomena einer zeitgemäßen, traditions- und darin gegenwartsbewußten Ekklesiologie zu erarbeiten, verstanden als die Eckdaten einer Kirchentheorie, die die zeitgenössische empirische Kirchlichkeit und damit auch die Perspektive der Kirchenmitglieder theologisch zu begreifen und mit den konstitutiven Elementen der dogmatischen Tradition zu vermitteln sucht. Damit ist zugleich die Intention beschrieben, mit der sich diese Arbeit der altlutherischen Ekklesiologie und ihrer Rezeption an den Knotenpunkten der neueren Diskussion um den Kirchenbegriff zuwendet. Sie zielt nicht vorrangig auf die Historiographie, sondern darauf, „diejenigen Momente, die durch die Geschichte fortlaufen, bis jezt zu erkennen und in der Vergangenheit einen lebendigen Spiegel zu haben für die Gegenwart, in der man die Zukunft erblikken kann, um desto besser auf sie zu wirken"48. Die Rückwendung zur Geschichte der Kirchentheorie erfolgt in drei Schritten: Zunächst wird, erstens, die Interpretationsgeschichte der altlutherischen Kirchenlehre an den Knotenpunkten des Streits um den Kirchenbegriffs im 19. und 20. Jahrhundert thematisiert. Diese Analyse widmet sich dabei den Rezeptionsformen der orthodoxen Ekklesiologie in drei verschiedenen, für den jeweiligen Diskussionszusammenhang repräsentativen Kontexten: Im 19. Jahrhundert greifen sowohl der vom konfessionellen Luthertum geprägte Friedrich Julius Stahl als auch der durch die Gemeindetheologie Ritschis beeinflußte Karl Hackenschmidt auf die alten Dogmatiker zurück, um die eigene Kirchenlehre zu untermauern. Für die ekklesiologischen Theoriedebatten des frühen 20. Jahrhunderts ist die Abhandlung zum Kirchenbegriff Johann Gerhards aufschlußreich, die Friedrich Schenke im Zeichen der Neuorientierung evangelischer Theologie nach dem Ersten Weltkrieg verfaßte. Durch die Interpretation und den Vergleich der Orthodoxierezeption bei Stahl, Hackenschmidt und Schenke werden die spezifische Struktur und die Grenzen einer Inanspruchnahme der altlutherischen Kirchenlehre herausgearbeitet. Im Anschluß daran gilt es, zweitens, unter Aufnahme der Ergebnisse der Rezeptionsstudien und der neueren Forschungsarbeiten zur Epoche der Orthodoxie, ein neues Paradigma für eine Interpretation der Kirchenlehre des 17. Jahrhunderts zu entwickeln, das von einer konstitutiven Bezogenheit dieser Theoriebildung auf die zeitgenössischen Herausforderungen der kirchlichen Praxis ausgeht. Diese These soll schließlich, drittens, anhand einer Auslegung der Ekklesiologie Johann Gerhards auf ihre Tragfähigkeit überprüft werden, ehe abschließend tung der D o g m a t i k für die Arbeit des E x e g e t e n ( 1 9 8 7 ) , in: Ders.: Einblicke ins Evangelium. Exegetische Beträge zur neutestamentlichen H e r m e n e u t i k , Göttingen 1 9 9 2 , 1 0 9 - 1 3 6 . 48

FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER: Geschichte der christlichen Kirche. Aus

Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und n a c h geschriebenen Vorlesungen hg. von E d u a r d Bonneil ( = F r i e d r i c h Schleiermacher's sämtliche Werke. Erste Abteilung: Schriften zur Theologie, Bd. 1 1 ) , Berlin 1 8 4 0 , 6 2 2 .

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der Ertrag der theologiegeschichtlich-systematischen Analysen formuliert und auf ihre Bedeutung für die Ausarbeitung einer lutherischen Ekklesiologie hin fokussiert werden können. In all dem ist der Gedanke leitend, daß die Kirchenlehre keineswegs nur Reflex der jeweiligen Umstände ist, sondern dogmatische Lehrbildung nur insoweit kirchliche Alltagswelt erreichen und konstruierend gestalten kann, als sie die gelebte Kirchlichkeit zu re-konstruieren vermag.

2. Rezeptionsgeschichtliche Spurensuche: Tradition als Zugang zur eigenen Gegenwart an den Knotenpunkten des Streits um den Kirchenbegriff Die Interpretation der altlutherischen Kirchenlehre dient den ihr nachfolgenden Theologen immer wieder als Medium für die Auseinandersetzung um den rechten Kirchenbegriff ihrer jeweiligen Gegenwart. Schon Johann Friedrich Cotta, der im 18. Jahrhundert Johann Gerhards Loci neu herausgab, ließ es nicht bei der bloßen Edition bewenden. Statt dessen versuchte der überzeugte Vertreter des Kollegialismus, in drei observationes, die er Gerhards Locus „De magistratu politico" beifügte, Gerhard für die eigene Position zu gewinnen und dessen Ausführungen zur Abwehr von römischer Verfassungslehre, Territorialismus und Episkopalismus zu verwenden49. Die Wiederaufnahme der altlutherischen Ekklesiologie in der „Sattelzeit" der protestantischen Kirchenlehre, der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, folgt der von Cotta vorgezeichneten Tendenz, erweist sich allerdings als wesentlich wirkmächtiger als dessen Bemühungen. Bedingt durch politische und geistige Umwälzungen kommt es in der evangelischen Theologie sowie in den protestantischen Kirchen zu einem breiten „Streit um den Kirchenbegriff"50. Auslösende Faktoren waren sowohl die Ideen der Französischen Revolution, als auch die Neuordnung Europas nach den Freiheitskriegen gegen Napoleon, die zu einer Auflösung konfessionell homogener Staaten führte. Beide Entwicklungen verlangten nach einer Neuorientierung der Kirche in Theorie und Praxis, in ihrem Selbstverständnis und in ihrer institutionellen Gestalt. In Opposition zu der von Schleiermacher und seinen Anhängern vertretenen Gemeindeorientierung der Ekklesiologie und dem Kollegialismus als der adäquaten Kirchenverfassung dominiert die konfessionelle Theologie bis zur Reichsgründung 1870 die Auseinandersetzung um das rechte Kirchenver-

49

Vgl. dazu ausführlicher Honecker, Cura, 2 3 2 - 2 3 4 .

50

So der Titel, den EMANUEL HIRSCH: Geschichte der neueren evangelischen Theologie im

Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 5 , Gütersloh 21960,

24

dem entsprechenden Kapitel gibt, ebd., 1 4 5 - 2 3 1 .

ständnis. Ihre Vertreter sind es, die sich mit einem dezidierten Gegenwartsinteresse der lutherischen Orthodoxie zuwenden51. Wie sich aus der gegenwartsbezogenen Auseinandersetzung mit der lutherischen Tradition, insbesondere mit den dogmatischen Entwürfen des 17. Jahrhunderts die eigenen ekklesiologischen, kirchen- und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen herleiten, läßt sich exemplarisch bei Friedrich Julius Stahl beobachten. In seinem Entwurf einer „Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten"52, der Emanuel Hirsch zufolge ein „echter geistiger Rückhalt für das Wachstum neulutherischen kirchlichen Denkens und Strebens"53 gewesen sei, dessen theologiegeschichtliche Wirkung kaum überschätzt werden könne, fungiert die Konzeption von Kirche und Gesellschaft, wie sie die altlutherischen Dogmatiker entworfen hatten, als Widerlager gegen die aufklärerischen und rationalistischen Ideen, die Stahl in Theologie und Gesellschaft heimisch werden sieht. Seine Kritik richtet sich dabei ebenso gegen Hegel und Rothe, die er für den in die Theologie eingeflossenen Rationalismus verantwortlich macht, wie gegen seinen Erlanger Kollegen Johann Wilhelm Friedrich Höfling54 und dessen Hochschätzung des Gemeindeprinzips, hinter dem Stahl die Ideale des Liberalismus vermutet. Bedingt durch sozioökonomische und politische Entwicklungen, in erster Linie durch den politischen und wirtschaftlichen Aufstieg Preußens und des Kaiserreichs, sehen sich Theologie und Kirche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer neuen Situation konfrontiert. Die politischen, ökonomisch-technischen und sozialen Veränderungen verlangen nach einer Leitkonzeption, die der sich beschleunigenden Modernisierung in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft ebenso Rechnung tragen kann wie den kirchenpolitischen Rahmenbedingungen, derer das expandierende Reich bedarf. Gefordert ist ein Theoriekonzept von hoher Integrationskraft: Theologisch gilt es, die sich ausweitenden historischen Kulturwissenschaften konstruktiv zu verarbeiten. Kirchenpolitisch lautet die Herausforderung, Modelle der Kooperation zwischen den unterschiedlichen evangelischen Konfessionen innerhalb des Reiches zu entwerfen. Gesellschaftspolitisch ist dem gestiegenen Selbstbewußtsein des Kaiserreichs gerecht zu werden und zugleich ein Widerlager gegen die individualisierenden Tendenzen fortschreitender Industrialisierung zu finden. Alle drei Faktoren zusammen lassen die in der Tradition der Ver-

51

Dazu nach wie v o r grundlegend HOLSTEN FAGERBERG: Bekenntnis, Kirche und A m t in der

deutschen konfessionellen Theologie des 1 9 . Jahrhunderts, Uppsala 1 9 5 2 . 52

FRIEDRICH JULIUS STAHL: Die Kirchenverfassung n a c h L e h r e und R e c h t der Protestanten,

1. Aufl. Erlangen 1 8 4 0 , 2 . Aufl. Erlangen 1 8 6 2 . Wenn nicht anders vermerkt, wird im folgenden nach der 2 . Auflage zitiert. 53

Hirsch, Geschichte, 1 8 5 .

54

Z u r Person: FRIEDRICH WILHELM BAUTZ: Art. Höfling, J o h a n n Wilhelm Friedrich, in:

BBKL 2, H a m m 1 9 9 0 , 9 2 5 - 9 2 7 .

25

mittlungstheologie verwurzelte T h e o l o g i e Albrecht Ritschis zur einflußreichs t e n t h e o l o g i s c h e n S c h u l r i c h t u n g des K a i s e r r e i c h s w e r d e n 5 5 . I h r g e l i n g t es, historische Einsichten und Offenbarungswissen, Individuum u n d Allgemeinheit, c h r i s t l i c h e T r a d i t i o n u n d m o d e r n e n F o r t s c h r i t t s g l a u b e n s o zu a m a l g a m i e r e n , d a ß a u f d e r G r u n d l a g e d i e s e r T h e o r i e d e r P r o t e s t a n t i s m u s sein Selbstb e w u ß t s e i n als L e i t k u l t u r des K a i s e r r e i c h s e n t f a l t e n k a n n 5 6 . K i r c h e n p o l i t i s c h r e a g i e r e n Ritsehl u n d seine S c h ü l e r a u f die z e i t g e n ö s s i s c h e n H e r a u s f o r d e r u n g e n , i n d e m sie sich als eifrige V e r f e c h t e r des U n i o n s g e d a n k e n s

profilieren.

D e m e n t s p r e c h e n d „ k o m m t R i t s c h i s M o d e l l d e r K i r c h e z i e m l i c h g e n a u a u f die k ö n i g l i c h - p r e u ß i s c h e U n i o n h i n a u s " 5 7 . E s ist b e z e i c h n e n d für die R e z e p t i o n d e r a l t p r o t e s t a n t i s c h e n E k k l e s i o l o g i e , d a ß a u c h in d e r s o s e h r d e r G e g e n w a r t v e r p f l i c h t e t e n R i t s c h l - S c h u l e 5 8 v o n K a r l H a c k e n s c h m i d t die d e t a i l l i e r t e s t e Studie z u r a l t p r o t e s t a n t i s c h e n K i r c h e n l e h r e in d e r T h e o l o g i e des K a i s e r r e i c h e s era r b e i t e t w u r d e , die d e r g r o ß a n g e l e g t e V e r s u c h ist, a m Beispiel v o n J o h a n n M u s ä u s die a l t p r o t e s t a n t i s c h e n Z e u g e n für die e i g e n e P o s i t i o n h e r a u s z u s t e l l e n , die e i g e n e G e g e n w a r t a l s o m i t H i l f e d e r klassischen D o g m a t i k z u i n t e r p r e t i e ren.

5 5 Vgl. dazu prägnant: FRIEDRICH WILHELM GRAF: Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreichs, in: Ders. (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 2/1, Gütersloh 1 9 9 2 , 1 2 - 1 1 7 , 4 5 f . Sowie THOMAS NlPPERDEY: Religion im Umbruch. Deutschland 1 8 7 0 - 1 9 1 8 , München 1988, 68: Ritsehl war „der bedeutendste Theologe der Zeit um 1 8 7 0 " . Zu den Vertretern der Ritschl-Schule vgl. ausführlich JOACHIM WEINHARDT: Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule ( = B H T h 97), Tübingen 1996, 2 4 - 1 2 5 . Da sich Weinhardt jedoch auf die akademischen Schüler Ritschis beschränkt, werden andere Ritsehl nahestehende Theologen, wie etwa Karl Hackenschmidt oder Theodor Link, leider nicht erwähnt. 5 6 Dietrich Korsch benennt die Rekonstruktion der reformatorischen Grundeinsichten als den Angelpunkt von Ritschis Bemühen um die Verbindung der orientierenden Kraft des Christentums mit der Moderne: „Die Rekonstruktion der Reformation ist also in diesem Sinne nicht nur die Einführung des Christentums in die Moderne, sondern auch umgekehrt die versöhnende Rückführung der Moderne aufs Christentum. Das hier anvisierte Bündnis schließt die Evolutionskraft der modernen Gesellschaft mit der ihr Freiheit gewährenden Orientierungsfunktion des Protestantismus zusammen", DIETRICH KORSCH: Glaubensgewißheit und Selbstbewußtsein. Vier systematische Variationen über Gesetz und Evangelium ( = B H T h 76), Tübingen 1 9 8 9 , 2 5 . 5 7 WOLFGANG TRILLHAAS: Albrecht Ritsehl, in: Martin Greschat (Hg.): Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 9,2: Die neueste Zeit II, Stuttgart 1985, 1 8 0 - 1 9 5 , 193. 5 8 Wolfgang Trillhaas urteilt darum über Ritschis Kirchenlehre: „Ritsehl hat eine Kirche im Sinn, welche für das aufgeklärte und .gebildete' Bürgertum des norddeutschen Protestantismus seiner Tage dadurch überzeugend ist, daß sowohl in ihrer Idee als auch in ihrer praktischen Gestalt alle mittelalterlichen Reste dahinten gelassen sind und, mehr noch als das, auch für das zu seiner Zeit noch in voller Blüte stehende 19. Jahrhundert der Abschied von Romantik und Idealismus sich unerbittlich und unaufhaltsam vollzieht. Zugleich aber ist es die besondere Kraft dieses außerordentlichen theologischen Denkers, daß er am Ursprung der christlichen Religion aus der Offenbarung Gottes in Jesus Christus und an ihrer unlöslichen Verbindung mit einer aus der Schrift lebenden Gemeinde unbeirrt festgehalten hat", Trillhaas, Ritsehl, 193.

26

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs sieht sich die evangelische Theologie erneut - und in bislang unbekannter Schärfe mit der Frage nach einer angemessenen Reaktion auf die Herausforderungen der Gegenwart konfrontiert 59 . Nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments galt es, neue Formen der Kirchenverfassung zu erarbeiten und theologisch zu reflektieren. Die Fraktion derer, die das Ende der Monarchie als Chance verstehen konnten, nunmehr ein auf der Allianz von Protestantismus und modern-aufgeklärtem Gedankengut gegründetes Gemeinwesen zu etablieren, schwand allerdings unter dem Eindruck der Kriegsfolgelasten und einer sich selbst blockierenden parlamentarischen Demokratie auch in der Theologenschaft zusehends. Statt dessen überwog das Bestreben, jenseits von dem als destruktiv erfahrenen Geist der Moderne, jenseits von den rationalistischen Gedanken der Französischen Revolution sowie dem Individualismus der westlichen Kultur, Glauben und Gesellschaft auf neue Grundlagen zu stellen. Das Bild einer protestantischen Leitkultur, von dem das theologische Selbstverständnis der Ritschlianer im Kaiserreich geprägt war, blieb dabei erhalten, wenn auch mit einer grundlegend anderen Ausrichtung. Unter Rückgriff auf eine spezifische Kulturbedeutung des Luthertums postulierte Karl Holl einen Wertekanon, der den Staat als eine sittliche Gemeinschaft, nicht als eine lediglich um das Freiheitsideal der Individuen gruppierte äußere Rechtsordnung verstehen wollte. Letztere Auffassung sah Holl als Ausfluß einer Traditionslinie an, die über die englischen und amerikanischen Sekten letztlich auf die von Luther bekämpften Schwärmer, insbesondere auf Thomas Müntzer zurückreiche. Dem hieraus resultierenden westlichen Staatsverständnis wollte Holl ein spezifisch deutsches, im Luthertum verwurzeltes gegenüberstellen: „Darin scheidet sich unsere deutsche Auffassung scharf von der durch jene Sekten beeinflußten englisch-amerikanischen. Für uns gilt der Zusammenhalt im Staat, die Förderung und Vertiefung der Volksgemeinschaft als ein Gut, das uns höher steht, als die Bewegungsfreiheit des einzelnen. Dort wird umgekehrt der staatliche Zwang als etwas Lästiges empfunden, den man nach Möglichkeit zu beschränken sucht" 60 . Holls Thesen fanden insbesondere in der deutschen Staatsrechtswissenschaft große Resonanz und wurden zum Fundament der national-konservativen Kritik an der Weimarer Reichsverfassung 61 .

59

Vgl. Graf, Innerlichkeit, 3 8 7 : „Nie zuvor in der Geschichte des deutschen Protestantismus

ist [...] über die Sozialgestalt und verfassungsmäßige Ordnung der Kirche so intensiv diskutiert worden wie in den zwanziger Jahren". 60

KARL HOLL: Luther und die Schwärmer ( 1 9 2 2 ) , in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur

Kirchengeschichte, Bd. I: Luther, Tübingen 61

4+5

1 9 2 7 , 4 2 0 - 4 6 7 , 4 6 6 , vgl. auch 4 6 1 .

Zu diesem Verhältnis ist grundlegend die Studie von KLAUS TANNER: Die fromme Ver-

staatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre ( = A K Z В 15), Göttingen 1 9 8 9 .

27

In der Auseinandersetzung mit Ernst Troeltsch, der in seinen Studien Luther als einen der mittelalterlichen Weltanschauung verhafteten Denker auswies und ihm daher keine Orientierungskraft zur Lösung der Gegenwartsprobleme zumessen wollte62, konnte Holl Luther nur um den Preis als einen Vorläufer der Moderne in Anspruch nehmen, als er ihn als einen Theoretiker der Innerlichkeit präsentierte. Dementsprechend kennzeichnete er Luther als Repräsentanten einer „Gewissensreligion"63, dessen auf der Rechtfertigungslehre gegründeter Innerlichkeitsglaube zugleich die Grenzen der mittelalterlichen Kirchlichkeit gesprengt habe. Der theologische Begriff der Kirche bezeichnet nach Holl bei Luther ein „corpus mysticum"; sie ist eine Institution der Innerlichkeit, eine rein geistige, unsichtbare Gemeinschaft, in der nicht Recht, sondern allein die Liebe regiert64. Da dieser innerlich gefaßte Kirchengedanke über keine soziale Gestaltungskraft verfügt, delegierte Holl alle Fragen der äußeren Ordnung an das Gemeinwesen, das zwar kein christlicher Staat sein sollte - bei der Fassung des Christentums als einer Gewissensreligion wäre das ja eine contradictio in adiecto - , aber dessen Wertmaßstäbe dennoch allein durch die wahre Liebesgemeinschaft der unsichtbaren Kirche bestimmt werden65. Holl hatte diese Zuordnung noch im Kaiserreich entwickelt und sah in ihr auch die Eckdaten einer Gesellschaftsarchitektur nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Wie aber sollte man sich verhalten, wenn sich der Staat der ihm zugewiesenen Aufgabe verweigerte und sich statt dessen als säkularer Staat verstand? Kirchenführer, Theologen und Kirchenrechtslehrer wandten sich in dieser Situation aufs neue der empirisch-verfaßten Kirche zu, die nun selbst Abbild der intendierten wahren Gemeinschaft der Innerlichkeit und als solche Vorbild für die staatliche Gemeinschaft werden sollte. Vor diesem Hintergrund proklamiert Otto Dibelius „Das Jahrhundert der Kirche"66 und legt Dietrich Bonhoeffer als Schüler Reinhold Seebergs mit „Sanctorum Communio" seine „dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche"67 vor68. Zugleich 62

Diese T h e s e hatte Troeltsch bereits in seiner Dissertation über die altprotestantische

T h e o l o g i e entwickelt (ERNST TROELTSCH: Vernunft und Offenbarung bei J o h a n n G e r h a r d und M e l a n c h t h o n . Untersuchung zur Geschichte der altprotestantischen T h e o l o g i e , Göttingen 1 8 9 1 ) und 1 9 0 6 in seinem Vortrag vor d e m Historikertag in Stuttgart (Troeltsch, Bedeutung) ihre klassische Gestalt gegeben. A

KARL HOLL: Was verstand Luther unter Religion ( 1 9 1 7 ) , in: Ders.: G e s a m m e l t e Aufsätze

zur Kirchengeschichte, Bd. I: Luther, Tübingen 64

4+5

1 9 2 7 , 1 - 1 1 0 , 38.

Vgl. KARL HOLL: Luther und das landesherrliche Kirchenregiment ( 1 9 1 1 ) , in: Ders.:

Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. I: Luther, Tübingen 65

4+5

1 9 2 7 , 3 2 6 - 3 8 0 , 343f.

Ausführlicher behandelt Tanner, Verstaatlichung, 1 6 0 f f . , diesen Z u s a m m e n h a n g bei Holl

und seine Fortwirkungen in den Debatten der Weimarer Zeit. 64

OTTO DIBELIUS: Das J a h r h u n d e r t der Kirche, Berlin 1 9 2 7 .

67

DIETRICH BONHOEFFER: Sanctorum C o m m u n i o . Eine dogmatische Untersuchung zur

Soziologie der Kirche ( 1 9 3 0 ) , hg. v. J o a c h i m von Soosten ( = D B W 1), M ü n c h e n 1 9 8 6 . 68

28

Vgl. auch die detaillierte Analyse v o n Julius Kaftans Rede v o r d e m 2 . Deutschen Evange-

kommt es im Zeichen der Lutherrenaissance zu einem neuen Interesse am Kirchengedanken des Luthertums69, der als Exponent einer spezifisch deutschen Tradition verstanden wird. So konzipiert Günther Holstein ein Kirchenrecht, das „die Verbindung der juristischen Betrachtung mit dem theologischen Denken, in dem sich der Sinngehalt deutsch-evangelischen Glaubens- und Kirchentums seiner selbst bewußt geworden ist"70, präsentieren will. Im Umfeld von Günther Holstein, der sich als Mitglied der Pommerschen und der Preußischen Generalsynode an den kirchenpolitischen Debatten der Altpreußischen Union intensiv beteiligte71, entsteht dann auch die präziseste Untersuchung zur Ekklesiologie der altlutherischen Dogmatiker, Friedrich Schenkes Studi e „Der Kirchengedanke Jobann Gerhards und seiner Zeit"72. Schenke sucht den konstitutiven Gemeinschaftscharakter des klassischen Luthertums zu erweisen, der sich jeder individualistischen Engführung entgegenstellt. Er versteht dabei seine Abhandlung als Fortführung und Ergänzung von Holsteins historischen Untersuchungen, deren Lücke in der Darstellung der altlutherischen Orthodoxie er schließen will. Da sich Schenke dezidiert in die Tradition Holsteins stellt, dem eine kirchliche Rechtsordnung vorschwebte, die „der Fundamentierung des prinzipiellen Gemeinschaftscharakters, den das Christentum als Religion hat und den es niemals in die eines bloßen unverbundenen Nebeneinanders von Menschen mit rein individualistischer Religiosität auflösen kann"73, Rechnung trägt, ist auch bei ihm die Transparenz der eigenen Analyse für die kirchlich-theologische Gegenwart unverkennbar.

lischen Kirchentag 1 9 2 1 unter dem programmatischen Titel: „Die neue Aufgabe, die der evangelischen Kirche aus der von der Revolution proklamierten Religionslosigkeit des Staates erwächst" bei Tanner, Verstaatlichung, 2 0 0 - 2 0 4 ; zu den Diskussionen um das Kirchenverständnis im deutschen Protestantismus zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs" vgl. ausführlich KURT MEIER: Volkskirche 1 9 1 8 - 1 9 4 5 . Ekklesiologie und Zeitgeschichte ( = T E H N.F. 2 1 3 ) , München 1 9 8 2 . 69 Vgl. dazu insbesondere die Studie von PAUL ALTHAUS: Communio sanctorum. Die Gemeinde im Lutherischen Kirchengedanken, Bd. 1, München 1 9 2 9 , die allerdings als Fragment auf die Reformatoren selbst beschränkt blieb, sowie die von Althaus betreute Erlanger Dissertation von OTTO SCHAUDIG: Aufbau und Handeln der Kirche nach der lutherischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts, Diss, theol., Erlangen 1 9 3 9 . Schaudigs Arbeit sollte wohl die Lücke von Althaus' Arbeit für die Zeit der Orthodoxie ausfüllen, bietet allerdings über eine am Grundriß von Heinrich Schmid orientierte, umfassende Zusammenstellung des dogmatischen Materials hinaus nur wenig weiterführende systematische Perspektiven. 70

GÜNTHER HOLSTEIN: Die Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts, Tübingen 1 9 2 8 , V.

Vgl. EDUARD VON DER GOLTZ: Günther Holsteins Mitarbeit im kirchlichen Leben, in: Heinrich Rendtorff (Hg.): Günther Holstein Erinnerungsheft. Nachrufe von Greifswalder Schülern und Kollegen, Greifswald 1 9 3 1 , 2 6 - 3 0 ; sowie jetzt OTTO V. CAMPENHAUSEN: Günther Holstein. Staatsrechtslehrer und Kirchenrechtler in der Weimarer Republik, Pfaffenweiler 1997, 11-14. 71

72 FRIEDRICH SCHENKE: Der Kirchenbegriff Johann Gerhards und seiner Zeit ( = Studien zum Kirchengedanken des Luthertums Η. 1), Gütersloh 1 9 3 1 . 73 Holstein, Grundlagen, 264f.

29

2 . KAPITEL

Die lutherische Anstaltskirche als Widerlager gegen die revolutionären Ideen der Volkssouveränität: Friedrich Julius Stahls Interesse an der altlutherischen Ekklesiologie

1. Die Irrtümer des modernen

Geistes in der

Kirchenverfassung

In den theologischen Debatten um den rechten Kirchenbegriff, die in der deutschen evangelischen Theologie seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts geführt werden, ist es zunächst Friedrich Julius Stahl1, der sich aus einem deutlich erkennbaren Gegenwartsinteresse heraus mit der altlutherischen Ekklesiologie auseinandersetzt. Stahls Ziel ist es, eine kirchliche Verfassungslehre zu präsentieren, „durch welche auch die weit grelleren Abwege oder Erneuerungen der alten Irrthümer ihre Beseitigung erhalten", die Irrtümer des Territorialismus und des Kollegialismus2. Ein entsprechendes Gegenmodell findet er bei den lutherischen Dogmatikern des 17. Jahrhunderts und ihrer Stellungnahme für den Episkopalismus. Stahl konstatiert, daß „man das Episkopalsystem als das kirchenrechtliche System der protestantischen Orthodoxie bezeichnen" könne3. Die Dogmatiker der Orthodoxie werden damit zugleich Kronzeugen für Stahls eigenes Programm; denn er ist überzeugt: „Die bischöfliche Verfassung ist aber auch die wirklich dem Wesen der Kirche entsprechende, die normale Verfassung der Kirche"4. Wenn Stahl nun im selben Atemzug fortfährt, es sei „überhaupt das Entsprechende, Normale für alle Anstalten zur irdischen Lenkung der Menschen, daß die oberste Lenkung von einer in ihr selbst gegründeten Macht über den zu Lenkenden ausgehe, nicht diese wieder als eine höhere Macht über jener stehen, auf welche sie sich beständig gründe, von der sie beständig abhänge"5, dann kristallisieren sich die zeitgeschichtlichen Bezüge und damit zugleich die Folie für die Orthodoxie-

1

Vgl. zur Biographie WILHELM FÜSSL: Art. Stahl (ursprünglich J o l s o n , auch:

Golson),

Friedrich Julius, in: B B K L 1 0 , H a m m 1 9 9 5 , 1 1 3 0 - 1 1 3 5 . Z u Stahls Kirchenlehre nach wie v o r grundlegend: Fagerberg, Bekenntnis. 2

Stahl, Kirchenverfassung, VIII.

3

Stahl, Kirchenverfassung, 1 4 .

4

Stahl, Kirchenverfassung, 2 2 7 ; vgl. 2 2 8 : Die Episkopalverfassung ist die „uralte und die

n a t u r g e m ä ß e O r d n u n g der K i r c h e " . 5

30

Stahl, Kirchenverfassung, 2 2 7 .

interpretation Stahls deutlicher heraus. Es handelt sich hier um einen theologisch-kirchlichen Abwehrreflex gegenüber den Ideen der Französischen Revolution, näherhin gegenüber den beiden gescheiterten deutschen Revolutionen von 1830 und 1848 6 . Dementsprechend scharf kontrastiert Stahl in dem unter dem Eindruck der Julirevolution erschienenen zweiten Band seiner Rechtsphilosophie die Ideen des Rousseauschen Contrat social mit dem christlichen Gottesglauben: „Zwischen den Principien, die sich feindlich gegenüberstehen, gibt es keine Versöhnung und keine Mitte. Entweder alle Ordnung und Obrigkeit ist vom Menschen gesetzt und besteht zu des Menschen Zwecken, oder sie ist von Gott gesetzt um Seinen Willen zu erfüllen. Es ist kein Bund zwischen Legitimität und Volkssouveränität, zwischen Glauben und Unglauben, zwischen Wahrheit und Irrthum"7. Im Hintergrund dieser schroffen Opposition steht Stahls Ablehnung des Individualismus, die den Angelpunkt seines rechtsphilosophischen, aber auch seines ekklesiologischen Systems bildet. Denn Stahl wendet sich nicht allein gegen die politischen Leitvorstellungen der Revolution. Vielmehr richtet sich seine Kritik gegen die zugrunde liegende Geisteshaltung von Aufklärung und Rationalismus insgesamt, gegen ihre politischen Forderungen ebenso wie gegen ihre Tendenz, mit einer rational-subjektivistischen Frömmigkeit die bestehende Kirchlichkeit zu destruieren8. Im Kern lautet der Vorwurf, den der Vertreter des „monarchischen Princips"9 gegen die modernen, rationalistisch-aufklärerischen Ideen von Volkssouveränität und Autonomiegedanken erhebt, hier werde jede ordnende institutionelle Orientierung in stets wandelbare Willkür aufgelöst. Für die längerfristigen Folgen entwirft Stahl ein düsteres Szenario. Würden die Ideale der Revolution verwirklicht, dann „ist kein Staat mehr, 6

Vgl. MANFRED BAUMOTTE: F.J. Stahls und R . Rothes Version des .christlichen Staates'.

Neuzeitliches Christentum und Demokratie - ein historisches M o d e l l , in: Wolf-Dieter M a r s c h ( H g . ) : Die Freiheit planen. Christlicher Glaube und demokratisches Bewußtsein. Beiträge aus d e m Institut für Christliche Gesellschaftswissenschaften Münster, Göttingen 1 9 7 1 , 1 7 3 - 1 8 8 . 7

FRIEDRICH JULIUS STAHL: Die Philosophie des Rechts n a c h geschichtlicher Ansicht, 2 Bde.,

Heidelberg 1 8 3 0 - 1 8 3 7 , Bd. 2 , 1 , VI. 8

WERNER SROCKA: Der Kirchenbegriff Fr. Julius Stahls, Diss, theol., Erlangen 1 9 2 7 , m ö c h t e

nachweisen, daß Stahls Kirchenbegriff in Auseinandersetzung mit d e m Rationalismus entsteht und nicht als einfache Repristination des Kirchenbegriffs der O r t h o d o x i e ( 1 2 ) . Srocka konstruiert jedoch eine Alternative, die so für Stahl nicht zutreffend ist. Vielmehr w e n d e t sich Stahl im Interesse einer Auseinandersetzung mit d e m Rationalismus der O r t h o d o x i e zu. Die Behauptung Srockas, Stahl habe „die Verfassungslehre der Kirche der O r t h o d o x i e , ja sogar die Kirche der R e f o r m a t i o n " kritisiert (ebd.), ist unzutreffend. Stahl kritisiert an der v o n Srocka als Beleg angegebenen Stelle lediglich Auswüchse der O r t h o d o x i e und führt, wie n o c h genauer gezeigt wird, das institutionelle Defizit der R e f o r m a t o r e n , nicht aber das der O r t h o d o x i e aus (vgl. dazu unten, 4 1 ) . ' FRIEDRICH JULIUS STAHL: Das monarchische Princip, Heidelberg 1 8 4 5 ; vgl. dazu: WILHELM FÜSSL: Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl ( 1 8 0 2 - 1 8 6 1 ) . Das m o n a r c h i s c h e Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis ( = S H K B A 3 3 ) , Göttingen 1 9 8 8 , bes. 42-50.

31

keine Kirche, keine Familie, deren Recht gälte. [...] Das scheinbar öffentliche Recht ist nur eine freiwillige Übertragung, und daher eine widerrufliche, des Privatrechts. So geht das Ethos der Welt unter, das Göttliche verschwindet von der Erde" 1 0 . Der Kirche selbst und ihrer Verfassungsordnung drohen jedoch durch die von Stahl gebrandmarkte, naturrechtlich-vertragstheoretisch begründete Geisteshaltung bereits kurzfristig schwerwiegende Konsequenzen, und zwar die „Vollendung des Kollegialsystems, nach welchem die Kirche und ihr unabänderlicher Inhalt nicht mehr Gesetz für die Glieder, sondern der Wille der Glieder Gesetz für die Kirche i s t " " . Dann aber, so hält Stahl den liberalen Ideen vor, werde die Kirche in ihrem Charakter als göttliche Einrichtung verkannt. Der göttlichen Würde entkleidet, fungierten ihre Ordnungen und Amter lediglich als Ausfluß einer zufälligen und stets wandelbaren menschlichen Überzeugung. Gleichwohl ist Stahl weit davon entfernt, einer unkritischen Übernahme absolutistisch-territorialer Ideen in Staat und Kirche das Wort zu reden. Den Politiker Stahl führten seine Vorbehalte gegen eine zu große Machtfülle eines Landesfürsten 12 sogar zum Konflikt mit dem bayerischen Staat. Stahl war vehement für das Budgetrecht der Stände eingetreten; eine Position, die ihm politisch so übelgenommen wurde, daß er seiner staatsrechtlichen Professur enthoben wurde und bis zu seiner Berufung nach Berlin 1 8 4 0 nurmehr Zivilprozeßrecht lehren durfte 13 . Stahl äußerte jedoch nicht nur politisch Kritik an einer zu großen Machtfülle der Landesfürsten zu Lasten der Stände. Auch mit Blick auf die Kirchenverfassung votiert er gegen zu große und unkontrollierte Befugnisse der weltlichen Herrschaft in der Kirche und konkretisiert diese ablehnende Haltung in seiner Verurteilung des Territorialismus 14 , die im Ton freilich deutlich milder ausfällt als seine Ablehnung des liberalen Gedankenguts. Stahl bemüht sich, die Inkompatibilität von Territorialismus und lutherischer Ekklesiologie über eine Interpretation von Schrift und Bekenntnis nachzuweisen. Gegen die aus absolutistischen Ideen entwickelte Vorstellung, es gebe „nur einen einzigen Titel für das Staats- wie für das Regiment in Kir-

10

FRIEDRICH JULIUS STAHL: Die Philosophie des Rechts, 2 Bde., Hildesheim ' 1 9 6 3 , Bd. 1,

2 8 1 ; wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich Verweise auf Stahls Rechtsphilosophie auf diesen Nachdruck der von Stahl zwischen 1 8 4 5 und 1 8 5 4 besorgten zweiten und dritten Auflage. 11

Stahl, Philosophie des Rechts, Bd. 1, 2 8 1 .

12

Stahl selbst bemerkt: „Der wiederholten Bestrebung, auf gesetzlichem Wege unumschränk-

te Regierungsform herzustellen, haben ich und meine Freunde widerstanden", Stahl, Philosophie des Rechts II/2, X . 13

Vgl. dazu ausführlich die differenzierte Schilderung bei Füßl, Professor, 8 9 - 1 0 5 .

14

Zur Ausbildung des Territorialismus, seinen geistesgeschichtlichen und politischen Hinter-

gründen und zu seinen Auswirkungen ist immer noch grundlegend: KLAUS SCHLAICH: Der rationale Territorialismus. Die Kirche unter dem staatsrechtlichen Absolutismus um die Wende vom 17. zum 18. Jh., in: Z S R G 85 ( 1 9 6 8 ) , 2 6 9 - 3 4 0 .

32

chensachen [...], nämlich die territoriale Souveränität des Landesherrn"15, hält Stahl zunächst fest, in der evangelischen Kirche gelte weder Autorität noch Majorität, sondern allein das Evangelium und das BekenntnisH; allein an diesen beiden Größen könne die Reinheit der Lehre gemessen werden. Dementsprechend müsse sich auch das Kirchenregiment, zu dessen Aufgabe es gehöre, über die Einhaltung der rechten Lehre zu wachen, in seinen Urteilen ausschließlich an Schrift und Bekenntnis orientieren, und das Neue Testament „kennt kein Kirchenregiment der Obrigkeit"17. Darum genüge keinesfalls der bloße Hinweis auf die Legitimität obrigkeitlicher Gewalt, um dem Fürsten das Recht zu geben, Lehrfragen entscheiden zu können. Vielmehr müsse sich gerade umgekehrt die Legitimität der staatlichen Gewalt an der recht - und das heißt: durch recht berufene Geistliche - ausgelegten Lehre messen lassen18. Stahl nimmt hier die obrigkeitskritischen Momente aus der Drei-Stände-Lehre der altlutherischen Dogmatik auf, allerdings eher beiläufig und ohne dies weiter auszuführen19. Schließlich faßt Stahl die Folgen des Territorialismus für die Kirche ins Auge und stellt fest, daß dieser für die Kirche eine doppelte Gefahr darstelle. „Im Innern ist die Selbständigkeit der Kirche, nach außen ist die Einheit der Kirche gefährdet"20. Bezogen auf das Bekenntnis bedeutet das: Der Territorialismus stellt zwei auch im Augsburgischen Bekenntnis enthaltene notae ecclesiae in Frage: Die Einheit und die Dauerhaftigkeit der Kirche, wobei Stahl im Unterschied zu CA VII die beiden notae auf die sichtbare Kirche bezieht. Bei der im Territorialismus erfolgten Verschränkung von Kirche und Staat „hat erstere in ihr selbst gar keine Gewalt der Regierung und keine Repräsentation, sondern erhält beides erst durch den Staat"21. Die dadurch notwendige Bindung an die Konsistorialgewalt gefährdet die Einheit der Kirche, da es kein legitimes Organ mehr gibt, das die protestantische Kirche insgesamt, über territoriale Grenzen hinweg, vertreten könnte. Aus dem Primat der Schrift gewinnt Stahl noch ein weiteres Argument gegen Territorialismus und Konsistorialverfassung. Primat der Schrift bedeute nämlich auf der Seite der Institution den Vorrang des Verkündigungsamtes. Dieser aber sei beim Territorialismus nicht gewahrt: „Der wirkliche Inhaber der Kirchenregierung, der Landesherr, hat nicht das Amt des Wortes, nicht die Seelsorge, er steht außer dem apostolischen Beruf und den apostolischen Vollmachten, und ist dennoch Regierer der Kirche"22. Wo aber Wortverkündigung und Seelsorge

Schiaich, Territorialismus, 2 7 1 . " Stahl, Kirchenverfassung, 160f. 15

17

Stahl, Kirchenverfassung, 2 1 6 .

18

Stahl, Kirchenverfassung, 1 6 0 . Zu diesen obrigkeitskritischen Zügen der Ständelehre vgl. unten, 219ff.

19 20

Stahl, Kirchenverfassung, 2 1 7 .

21

Stahl, Kirchenverfassung, 2 1 7 . Stahl, Kirchenverfassung, 2 2 8 .

22

33

nicht die Kirchenleitung trügen, werde diese „nothwendig zu äußerlichem Bureaukratismus"23. Trotz dieser Kritik am Territorialismus und der Konsistorialverfassung beeilt sich Stahl zu betonen, daß er durchaus die positiven Auswirkungen des landesherrlichen Kirchenregiments wahrnehme24 und es keinesfalls beseitigen wolle. Es gehöre vielmehr „dem Geburtsakte der lutherischen Kirche an", sei „ein geschichtlich Bestehendes, Ueberkommenes und als solches bindend". Zu verschiedenen Zeiten habe es „für die Kirche und für den Staat großen Segen gewirkt" und sei auch gegenwärtig wieder eine „Sicherung gegen die große Gefahr einer Trennung von Staat und Kirche" 25 .

2. Die ekklesiologische Norm des Luthertums: Kirche als organische Anstalt Trotz aller Unterschiede kann Stahl bei den beiden Irrtümern des modernen Geistes in der Kirchenverfassung dieselbe strukturelle Fehlentwicklung entdekken. Kollegialismus wie Territorialismus stellen jeweils asymmetrische Theoriemodelle dar. Beiden ist eine Uberbetonung nach einer Seite hin eigen, so daß sie Stahls ekklesiologisches Harmonieideal verfehlen. Legt der Kollegialismus das Schwergewicht auf das Volk und läßt dabei übergeordnete Institutionen in der Zufälligkeit einer Mehrheitsentscheidung untergehen26, so droht der Territorialismus andere Einrichtungen neben sich - auch Kirche und Familie! durch seine Machtfülle zu erdrücken. Zusammen bilden Territorialismus und Kollegialismus jedoch die Folie für Stahls eigenes Verständnis der Kirche als „organischer Anstalt"27. Stahl überträgt damit, wie die konfessionellen Theologen insgesamt, den Organismusgedanken, der durch Romantik und Idealismus gleichermaßen im 19. Jahrhundert eine Renaissance erfahren hatte28, in die Stahl, Kirchenverfassung, 229. Stahl, Kirchenverfassung, 219. 25 Stahl, Kirchenverfassung, 234. 2 6 Dementsprechend betont Stahl, daß übereinstimmend nach den Bekenntnisschriften, der Auffassung der lutherischen Dogmatik und der allermeisten Kirchenordnungen die Gemeinde lediglich ein passives Mitwirkungsrecht an der Gestaltung des Kirchenwesens habe. „Es ist nicht einmal jene aktive Konkurrenz der Gemeinden ausgebildet, sondern ihnen nur das Recht der nachfolgenden stillschweigenden Approbation, d.i. des Widerspruchs aus Gründen zugestanden", Stahl, Kirchenverfassung, 174, vgl. 1 7 3 - 1 7 5 . 2 7 Stahl, Kirchenverfassung, 35, Hervorhebung nicht im Original. Zur Bedeutung des Organismusgedankens bei Stahl vgl. Fagerberg, Bekenntnis, 202f. 28 So verwendet etwa auch Schleiermacher in der Glaubenslehre mehrfach den Organismusbe23

24

griff für den K i r c h e n g e d a n k e n (FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER: D e r christliche

Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. Martin Redeker, Berlin 1960, 93. 2 0 9 - 2 1 1 ) und definiert in der Philosophischen Sittenlehre: „Das Wesen der Kirche besteht in der organischen Vereinigung der unter demselben Typus stehenden Masse zur subjektiven Tätigkeit der erkennenden Funktion unter dem Gegensatz von

34

Theologie. Mit dem von Fichte und Schelling herkommenden Begriff29 übernimmt Stahl zugleich die Kritik an den staatspolitischen Leitideen des Gesellschaftsvertrags und des Absolutismus30, sowie ihren Ausprägungen im Bereich der Kirchenverfassung. Die breite Rezeption des Organismusbegriffs in der Theologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts nötigt Stahl allerdings dazu, seine eigene Verwendung der Organismusvorstellung genauer zu spezifizieren. Insbesondere ist Stahl daran gelegen, sein Organismusbild als Ideal einer „Harmonie durch Hierarchie" zu charakterisieren und es damit gegen diejenigen Vorstellungen abzugrenzen, die im Gefolge Kants unter einer organischen Staatsverfassung die Integration bürgerlicher Freiheits- und Partizipationsrechte verstand. In der Ekklesiologie zeigten sich diese Tendenzen etwa bei Schleiermacher, aber auch der Lutheraner Theodosius Harnack verwendete in seinem Traktat „Die Kirche. Ihr Amt. Ihr Regiment", der im selben Jahr wie die zweite Auflage von Stahls Verfassungsschrift erschien, den Organismusgedanken in egalitärer Perspektive. Der Organismusbegriff verbindet bei Harnack die objektive Seite der Kirche, die Stiftung des erhöhten Christus, mit der subjektiven Seite, den durch den Geist gewirkten Gläubigen. Kirche ist für Harnack „ein Werk Christi, [...] das kirchenschaffend und -bauend nur ist,

Klerus und Laien" (FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER: Philosophische Sittenlehre, hg. v. J.H. v. Kirchmann (=PhB 24), Berlin 1870, 421); trotz aller konzeptionellen Differenzen ist die Parallele zu Stahl deutlich und zeigt die breite, aber gleichzeitig auch sehr unterschiedliche Verwendung des Organismusbegriffs in der zeitgenössischen Ekklesiologie. Vgl. insgesamt zur Rezeption des Organismusgedankens Fagerberg, Bekenntnis, 17-19. Zum Einfluß der Romantik und ihres Organismusdenkens auf den Kirchenbegriff des 19. Jahrhunderts vgl. WILHELM SCHNEEMELCHER: Conf. Aug. VII im Luthertum des 19. Jahrhunderts, in: EvTh 9 (1949/50), 308-333, 332. 29

V g l . ECKART SCHEERER: A r t . O r g a n i s m u s II, in: H W B P h 6 , 1 3 3 6 - 1 3 4 8 , 1 3 4 0 ; ARIE

NABRINGS: Friedrich Julius Stahl - Rechtsphilosophie und Kirchenpolitik (=UnCo 9), Bielefeld 1983, 47-54, weist allerdings im Anschluß an Masur überzeugend nach, daß der direkte Einfluß Schellings eher gering war. Stahls Rezeption des Organismusbegriffs entspringt wohl eher der zeitgenössischen Hochschätzung dieser Vorstellung. 30 Stahl kann dementsprechend allen liberalen Strömungen attestieren, sie verbänden mit den Ideen der Revolution die ,Jintgliederung der Gesellschaft - die Auflösung aller festen sachlichen Verbände [...] in lauter unabhängige vereinzelte Individuen, die Umwandlung des Organismus in Aggregatismus"·, FRIEDRICH JULIUS STAHL: Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche. Neunundzwanzig akademische Vorlesungen, Berlin 1863, 82. Vgl. insgesamt zur Rezeption des Organismusgedankens in der deutschen staatstheoretischen Diskussion im 19. Jahrhundert ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE: Art. Organ VII-IX, in: GGB 4, Stuttgart 1978, 561-622, bes. 587-608. Einen knappen Abriß des Aufstiegs und der Probleme des Organismusgedankens in der Philosophie des Idealismus bietet ERNST TROELTSCH: Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen (1894), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 227-327, bes. 306f. Eine umfassende Aufarbeitung des Organismusgedankens in der Theologie steht noch aus; erste, allerdings fragmentarische Ansätze finden sich bei WALTER BIRNBAUM: Organisches Denken. Vortrag zur Feier des 85. Geburtstages von Albert Schweitzer, Tübingen 1960, vgl. auch DERS.: Organisches Denken als Weg in die Zukunft: Vier Entwürfe, Tübingen 1982.

35

indem es Glauben schafft und erhält, also ein Gottesbau, den er sich in den gläubigen Persönlichkeiten und aus ihnen erbaut, d.h. sie ist eine göttlichmenschliche Realität, wie ihr Haupt der Gottmensch ist" 31 . Eben in dieser Hinsicht ist sie der „geistliche Organismus des Leibes Christi"32. Um derartige egalitäre Konnotationen zu vermeiden, verbindet Stahl den Organismusbegriff mit dem Anstaltsgedanken. Ebenso wie Stahl Vorbehalte gegenüber der Klassifizierung des Staates als Organismus geltend machte und ihn statt dessen als „Anstalt" bezeichnete, um den Obrigkeitscharakter des Staates gegenüber einer „autonom-immanente[n], letztlich von den Mitgliedern ausgehende[n] und getragene [n] Ordnung"33 festzuhalten, möchte er durch die Kennzeichnung der Kirche als „organischer Anstalt" die eigene Dignität der Kirche betonen. Analog zu dieser Näherbestimmung will Stahl auch das Epitheton „organisch" in der zweigliedrigen Formel von der Kirche als „organischer Anstalt" verstanden wissen. Zum einen kennzeichnet „organisch" den instrumentellen Charakter der Kirche. Sie ist Gottes Werkzeug, „das Organ für das ewige Reich, so weit es schon gegenwärtig und wirksam ist in der Zeitlichkeit, um die Erkenntniß, die Seligkeit, die Einigung, die einst seyn werden, der Menschheit mitzutheilen"34. Zum anderen intendiert Stahl auch eine Konnotation der „organischen Anstalt" mit der Vorstellung vom Leib Christi im Corpus Paulinum. Dabei folgt er konsequenterweise der hierarchischen Weiterentwicklung des Bildes in den Deuteropaulinen und verwendet nicht die egalitäre Fassung aus 1 Kor 12: „Die Kirche ist [...] der Leib Christi, den er als das Haupt durch seinen Geist erfüllt und regiert"35. Nach Maßgabe der Metaphorik von Haupt und Gliedern aus Kol 1,18 steht „organisch" bei Stahl für eine gegliederte Gestalt der Kirche, näherhin für die theologische Legitimität des besonderen Amtes. Für Stahl gehören „zum vollständigen Begriff der Kirche nicht blos Lehre und Sakrament, sondern nicht minder auch die Schlüssel und die Kirchenzucht, und nicht minder auch der Organismus von Amt und Leitung"36. An diesem Punkt nun trifft sich Stahl mit dem Episkopalismus, dessen wohl austarierte Balance von Amt, Obrigkeit und Gemeinde er zu rühmen weiß37.

31

THEODOSIUS HARNACK: Die Kirche. Ihr Amt. Ihr Regiment ( 1 8 6 2 ) , N e u d r u c k Gütersloh

1 9 4 7 , 19. 32

H a r n a c k , Kirche, 2 0 .

33

B ö c k e n f ö r d e , O r g a n , 6 1 4 ; Vgl. Stahl, Philosophie des Rechts II/2, 9ff., bes. 1 4 1 .

34

Stahl, Philosophie des Rechts 1 8 3 3 , Bd. I I / l , 1 1 1 .

35

Stahl, Kirchenverfassung, 4 6 , vgl. auch 6 6 . Dagegen verweist Fagerberg, Bekenntnis, 2 1 1 ,

fälschlicherweise auf 1 Kor 1 2 , 1 2 f f . als biblischen Bezugspunkt. 36

Stahl, Kirchenverfassung, 4 8 . Ebd., 4 3 , kann Stahl darum den R e f o r m a t o r e n vorwerfen, sie

hätten gerade die Charakteristika des organischen Kirchenbegriffs, A m t und Kirchenregiment, vernachlässigt. 37

Stahl, Kirchenverfassung, 3 5 , A n m . 6 6 . ; Stahl teilt diese Ansicht mit den Vertretern der

konfessionellen T h e o l o g i e ; so formuliert etwa T h e o d o r Kliefoth: „Die Kirche ist von vornherein ein lebendiger Organismus, ein aus Instituten und Berufen, Ä m t e r n und Ständen geglieder-

36

Der Hinweis auf die Harmonie von Amt, Obrigkeit und Gemeinde kann dazu dienen, Stahls Ekklesiologie weiter zu präzisieren und dem Mißverständnis vorzubeugen, Stahls Vorstellung von der Kirche als organischer Anstalt lasse über der Betonung der hierarchisch gegliederten Ordnung keinen Raum mehr für die einzelnen Gläubigen. Dies ist keineswegs der Fall, verstand sich doch Stahl zugleich als ein Anwalt des Persönlichkeitsrechts. So betont er im Vorwort zur dritten Auflage der Rechtsphilosophie in Anspielung auf die Ideen von 1848: „Das unverbrüchliche Recht der Person und die Freiheit des Gedankens und der geistigen Bewegung ist für uns nicht minder Ziel als für die liberale Partei" 38 . Allerdings wollte Stahl das Recht der Person - durchaus im Hegeischen Sinne - im Organismusgedanken aufgehoben wissen. Wenn Martin Honecker Stahls Konzeption einen „romantischen Episkopalismus" 39 nennt, so beschreibt das sehr präzise die Traditionsstränge, die für Stahl leitend waren: Ein verklärendes Bild des ausschließlich an Wortverkündigung und Seelsorge orientierten Geistlichen, dem das staatliche Kirchenregiment allein helfend zur Seite steht, vermengt sich mit den Tiefenschichten eines philosophischen Denkens, in dem sich „Idealismus und Romantik zu einer unauflöslichen Einheit" verbinden 40 . Aus dieser Mischung entspringt seine Hochschätzung der Persönlichkeit, die Stahl jedoch gerade nicht im individualisierend-atomistischen Sinn verstanden haben will und darum Amt und Obrigkeit als Widerlager gegen jede Individualisierung in der Kirche einsetzt. Dabei führt ihn seine - unbewußte, ja vielmehr von ihm selbst stets abgelehnte - Verwurzelung im Denken Hegels 41 dazu, das Persönlichkeitsprinzip mit dem Organismusgedanken zu verbinden und zu betonen, das eine könne nur im anderen verwirklicht wer-

ter Organismus, und zwar ist sie das von G o t t " , zit. nach RICHARD H . GRÜTZMACHER: Die altund neuprotestantische Auffassung v o n der Kirche, in: N K Z 2 7 ( 1 9 1 6 ) , 4 6 7 - 4 9 7 , 5 3 5 - 5 7 2 , 615-641, 691-741, 618. 38

Stahl, Philosophie des Rechts I I / 2 , X . Z u r Zentralstellung des Persönlichkeitsgedankens

und seiner Ableitung aus dem Gedanken eines personhaften christlichen Schöpfergottes vgl. Füßl, Professor, 1 6 - 2 1 . 39

Honecker, Cura, 138.

40

CHRISTOPH LINK: Die Grundlagen der Kirchenverfassung im lutherischen Konfessionalis-

mus des 1 9 . Jahrhunderts, insbesondere bei Theodosius H a r n a c k ( = J u s E c c 3 ) , M ü n c h e n 1 9 6 6 , 6 4 ; kritisch zur Einordnung Stahls als Romantiker äußerte sich CARL SCHMITT: Politische R o m a n t i k , Berlin 3 1 9 6 8 , 9 5 ; vgl. Nabrings, Stahl, 6 8 . 41

Die Position G e r h a r d Masurs, „unendlich viel tiefer, als es Stahl selbst gewusst hat, hat ihn

diese institutionelle Grundkonzeption der Hegeischen Philosophie beeindruckt. Unentfaltet, ja undifferenziert, nur als Totalanschauung und Totalitätsanschauung a u f g e n o m m e n , w a r sie von nun an ein integrierender Besitz seines Gedankenbestandes", zit. nach Fagerberg, Bekenntnis, 9 0 , vgl. ebd. 8 9 . 2 0 0 f . , ist in der Stahl-Forschung nicht unwidersprochen geblieben, vgl. dazu den Uberblick bei Nabrings, Stahl, 5 5 - 5 8 . Nabrings eigene T h e s e , Stahls D e n k e n sei dem Hegels funktionsäquivalent

gewesen, beschreibt wohl a m präzisesten das Verhältnis zwischen

beiden: „Stahl entstellte Hegel, um ihn kritisieren zu können, und anschließend ging er beruhigt daran, Ähnliches zu leisten, wie es das von ihm kritisierte und v e r d a m m t e Vorbild getan h a t " (Nabrings, Stahl, 6 8 ) . E r w a r ein „unglückliche[r] H e g e l i a n e r " (ebd., 9 0 ) .

37

den. Stahl teilte Hegels Versöhnungsideal, wenn er auch auf anderen Wegen zu diesem Ziel kommen wollte. 42 So bildet paradoxerweise das Persönlichkeitsprinzip, mit dem Stahl dem seiner Meinung nach die Persönlichkeit in ein abstraktes Prinzip auflösenden Hegeischen System entgegentreten wollte 43 , in seiner unlöslichen Verbindung mit dem Organismusgedanken die Brücke zu Hegel. Denn Persönlichkeitsprinzip und Organismusgedanke haben eine Totalitätsvorstellung als gemeinsamen Fluchtpunkt. Der Organismus, für Stahl das Idealbild von Gemeinschaft überhaupt, bedarf aller Glieder, um existieren zu können. Die Persönlichkeit, das „Urseyn" und der „Urbegriff" der Welt 44 , ist „absolute Einheit" 45 und findet ihren höchsten Ausdruck in der „absoluten Persönlichkeit Gottes" 46 . Persönlichkeitsprinzip und Organismusgedanke durchdringen und beschränken sich wechselseitig. Gemeinsam aber bieten sie so etwas wie Stahls Fassung von Hegels Gedanken „das Wahre ist das Ganze" 47 .

3. Die Fundamente des eigenen Kirchenbegriffs in der altlutherischen Orthodoxie Stahl entwickelt seine Ekklesiologie nicht allein in einem theoretischen Diskurs. Wie Hanns-Jürgen Wiegand im einzelnen dargestellt hat 48 , war Stahls ekklesiologische Konzeption in der Kirchenverfassungsschrift stark von (kirchen-)politischem Gegenwartsinteresse geleitet. Stahl wollte den maßgeblichen Institutionen der bayerischen lutherischen Landeskirche im Interesse einer ausbalancierten Zuordnung von Kirche und Staat Argumente für eine größere 42

E n t s p r e c h e n d urteilt Nabrings, Stahl, 7 0 : „Das Denken Stahls wie das Denken Hegels

versuchten das Gleiche nur auf verschiedene Weise zu leisten". 43

Vgl. dazu Stahl, Philosophie des Rechts I, 4 6 5 f . 4 6 9 : „Die Persönlichkeit Gottes besteht

also nach H e g e l darin, daß zu dem All der Dinge, welches G o t t ist, unter a n d e r e m auch persönliche Wesen g e h ö r e n " ( 4 6 5 ) , tatsächlich aber bleibe bei dieser Gottesvorstellung nur eine „abstrakte Substanz" ( 4 6 9 ) . Schärfer n o c h äußert sich Stahl mit Blick auf die theologische Hegelrezeption: Hier würden „nicht bloß alle Tatsachen der christlichen Offenbarung, sondern selbst die Existenz des persönlichen Gottes und die Unsterblichkeit des M e n s c h e n " geleugnet; Stahl, Parteien, 3 4 6 . 44

Stahl, Philosophie des Rechts 11,1, 1 4 .

45

Stahl, Philosophie des Rechts 11,1, 1 5 .

46

Stahl, Philosophie des Rechts 11,1, 1 5 .

47

GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL: Phänomenologie des Geistes, in: Ders.: Werke, Bd. 3 ,

F r a n k f u r t / M . 1 9 7 9 , 2 4 . Vgl. dazu a u c h HANNS-JÜRGEN WIEGAND: Das Vermächtnis Friedrich Julius Stahls. Ein Beitrag zur Geschichte konservativen Rechts- und Ordnungsdenkens, Königsstein/Ts. 1980, 39. 48

HANNS-JÜRGEN WIEGAND: Der K a m p f der protestantischen Landeskirche Bayerns gegen

die U n t e r d r ü c k u n g s m a ß n a h m e n des Ministeriums v. Abel ( 1 8 3 8 - 1 8 4 6 ) und dessen Bedeutung für die kirchen- und staatsrechtliche Doktrin Friedrich Julius Stahls, in: M a r t i n Schmidt und G e o r g Schwaiger ( H g . ) : Kirchen und Liberalismus im 1 9 . J a h r h u n d e r t ( = S T h G G 1 9 ) , Göttingen 1 9 7 6 , 8 4 - 1 2 5 .

38

Selbständigkeit gegenüber der katholischen Staatsregierung liefern. Nach seinem Weggang an die Berliner Universität bleiben seine ekklesiologischen Publikationen in enger Tuchfühlung mit kirchenpolitischen Fragestellungen. Nun ist es vorrangig die Frage der Union, mit der sich Stahl literarisch auseinandersetzt49. Der „ganzheitliche Zusammenhang von Werk und Leben, Theorie und Praxis mit den geistigen und politischen Prozessen und Auseinandersetzungen seiner Zeit" ist für Stahl charakteristisch50. Vergegenwärtigt man sich diese Verwurzelung von Stahls Denken in den zeitgenössischen Debatten, so wiegt um so schwerer, daß Stahl selbst seine Option für den Episkopalismus als der sachgemäßen ekklesiologischen Aufnahme von Organismusgedanken und Persönlichkeitsprinzip vorrangig über eine Interpretation der altlutherischen Orthodoxie begründen möchte. Er wendet sich den Dogmatikern des 17. Jahrhunderts zu, um Belege für seine eigene Position zu finden. Ihn leitet das Interesse, die klassischen ekklesiologischen Entwürfe für seine gegenwärtige Problemlage transparent werden zu lassen. Stahl intendiert eine Kontextualisierung der altlutherischen Kirchenlehre in die eigene Gegenwart hinein und liefert dadurch implizit wichtige Anhaltspunkte für die Charakteristik dieser Ekklesiologie selbst. Offenbar beinhaltet sie zeitunabhängige Elemente, die ihre Anschlußfähigkeit auch in einer anderer geschichtlichen Situation ermöglichen, wie sie zugleich dazu Anlaß gibt, ihr dogmatisches Theoriemodell zur Deutung kirchlicher Verhältnisse zu verwenden. Genau dieser Zug der altlutherischen Kirchenlehre wird von Stahl intuitiv erfaßt. Der schon von seinen zeitgenössischen Kritikern erhobene Vorwurf, Stahl betreibe ein „ungeschichtliches Repristinieren"51, muß darum zunächst zurückgewiesen werden; über ihn ist erst nach einer genaueren Analyse der altlutherischen Dogmatik zu entscheiden52. Stahls Rückgriff auf die Orthodoxie ergibt sich aus seiner Methodik. In Anlehnung an die historische Rechtsschule sucht er den Ausgangspunkt für seine eigene Konzeption auch in der Schrift über die Kirchenverfassung, die er ursprünglich als Anhang an die Rechtsphilosophie konzipiert hatte, bei dem durch die geschichtliche Entwicklung Gewordenen53. Dieses Programm ver-

4

' Vgl. FRIEDRICH JULIUS STAHL: Die lutherische Kirche und die Union. Eine wissenschaftliche

E r ö r t e r u n g der Zeitfrage, Berlin 1 8 5 9 . 50

Wiegand, Vermächtnis, 3 9 . Z u r Wechselwirkung v o n Empirie und T h e o r i e bei Stahl vgl.

schon Srocka, Kirchenbegriff 5 9 - 8 5 , a u c h wenn einige biographische Ausführungen Srockas inzwischen durch neuere Forschungen als überholt gelten dürfen. 51

Vgl. Srocka, Kirchenbegriff, 11 f.

52

Vgl. dazu unten, 1 5 0 f f . ( bes. 1 7 5 .

53

Stahl, Philosophie des Rechts, lt. Srocka, Kirchenbegriff, 7 5 - 7 9 , verbindet diese m e t h o -

dische Grundentscheidung Stahls mit d e m Einfluß Schellings, wobei er sich auf entsprechende Äußerungen Stahls aus dem V o r w o r t zur ersten Auflage der Rechtsphilosophie berufen kann. Nabrings, Stahl 4 7 - 5 4 , hat jedoch im Anschluß an M a s u r nachgewiesen, daß der Einfluß Schellings auf Stahl eher gering einzuschätzen ist.

39

steht er ausdrücklich als Gegenentwurf zu dem von ihm so scharf bekämpften Rationalismus, der allein gelten lassen wolle, „was Vernunft rein aus sich selbst gefunden und hervorgebracht" 54 . Stahl will dagegen von der „Kenntniß der historischen Aufeinanderfolge" ausgehen und die „Triebfeder in dem menschlichen Wesen, welche sie erzeugte" aufdecken, damit die „Betrachtung des Vergangenen zu einem neuen Resultate" führe 55 . Dementsprechend sah er die besondere Leistung seiner Arbeiten zur Ekklesiologie gerade darin, die Triebfeder für den von ihm favorisierten Episkopalismus als kirchlichem Verfassungsprinzip im theologischen Programm der Orthodoxie gefunden zu haben. Er nahm für sich in Anspruch, als erster den Zusammenhang zwischen geistesgeschichtlicher, politischer und theologischer Orientierung dargestellt zu haben 56 . Vor diesem Hintergrund formuliert Stahl seine wirkmächtige These, daß Episkopalismus, Territorialismus und Kollegialismus „nicht bloße Erklärungsversuche der landesherrlichen Gewalt sind, sondern Ansichten über das Wesen der Kirchengewalt, ja der Kirche selbst, und daß sie nicht zufällige Versuche Einzelner sind, sondern Ausflüsse der herrschenden Ansicht einer Epoche, und in diesem Charakter aufs genaueste den drei Epochen der theologischen Entwickelung, der orthodoxen, pietistischen und rationalistischen entsprechen. Darauf aber braucht kaum aufmerksam gemacht zu werden, wie sie zugleich mit der politischen Richtung ihrer Zeit im Zusammenhange stehen. Das Episkopalsystem ist noch eine Erscheinung aus der Zeit, in welcher die Selbstständigkeit der Institution der Kirche, wie auch anderer Korporationen, im Staate galt; das Territorialsystem gehört der Periode an, in der die Gewalt der Landesherrn die alleinherrschende war; das Kollegialsystem endlich jener Periode, in welcher der Masse und ihrer Majorität alle Herrschaft vindicirt wurde, es ist in der Kirche das Analogon der Volkssouveränität" 57 . Für Stahls Beschäftigung mit der lutherischen Orthodoxie liefert diese Einsicht zugleich entscheidende Motive. Möchte er „der Sehnsucht nach einem festen und befriedigenden kirchlichen Bestände" nachkommen, die aus der „Rück-

54

Stahl, Philosophie des Rechts I, 2.

55

Stahl, Philosophie des Rechts I, 7.

56

Vgl. dazu Stahl, Kirchenverfassung, Vf.

57

Stahl, Kirchenverfassung, 34f. Martin Honecker, Cura, 137f., hat die Stahl'sche These, die,

wie Stahl selbst schon im Vorwort zur 2. Auflage der „Kirchenverfassung" bemerken kann, schnell große Verbreitung gefunden hat, als eine unzulässige Vereinfachung kritisiert. Allerdings wird man die Leistungskraft dieser Typologie nicht so einfach pauschal leugnen können, wie Honecker das tut. Insbesondere Schiaich, Territorialismus, bringt zahlreiche Belege, die Stahls These erhärten. Darüber hinaus scheint Honecker übersehen zu haben, daß sich Stahl sehr wohl differenziert zu den einzelnen Dogmatikern äußert; gerade der von Honecker als Vorbild für Stahls eigene Lehrmeinung angeführte Johann Gerhard wird von Stahl, 2 0 2 f . , deutlich kritisiert. Die von Honecker für Stahls Rückgriff auf Gerhard angeführte Stelle, 3 5 , Anm. 6 6 , bezieht sich nicht auf die Orthodoxie, sondern allgemein auf den Episkopalismus.

40

kehr des Glaubens in unseren Tagen" entspringt58, und mit dem Episkopalismus eine Kirchenverfassung entwerfen, welche die Selbständigkeit der Kirche verbürgt, so muß er, seiner eigenen Methodik folgend, auch der korrespondierenden Triebfeder, der Orthodoxie zur Renaissance verhelfen. Denn ein Plädoyer für das Episkopalsystem ist ohne Orthodoxierenaissance undenkbar. Allein hier kann er den festen Grund für seine eigene Position finden. Aus dieser Zugangsweise wird das Interesse von Stahls Orthodoxierezeption deutlich. Es ist in der Tat kein bloßes Repristinieren einer vergangenen Epoche. Stahl steht einzelnen Elementen der Orthodoxie, wie ihrer Bekenntnisenge, ihrer Fixierung auf die Lehre und ihrer Polemik gegen die reformierte Kirche, durchaus kritisch gegenüber59. Sein Rückgriff auf die altlutherische Kirchenlehre entspringt der Suche nach geschichtlichen Anhaltspunkten für seine eigene ekklesiologische Position, die sich der Synthese von kirchenpolitischen Erfahrungen und der idealistisch-romantischen Organismusvorstellung verdankt. Mit dieser Zielsetzung wendet sich Stahl den Reformatoren, insbesondere aber den Dogmatikern der lutherischen Orthodoxie zu. Zwar bescheinigt Stahl auch Luther und Melanchthon wegweisende und unhintergehbare Einsichten für die Ekklesiologie. Ihre beiden Bestimmungen, „daß die Kirche die Gemeinschaft der Gläubigen ist, und daß die wahre Kirche an der reinen Verkündigung des Evangeliums erkannt wird", bildeten, „jede für sich allein genommen, die Substanz unseres Bekenntnisses von der Kirche, mit ihnen steht und fällt evangelischer Glaube und evangelische Kirche, und sie sind die wirkliche evangelische Wahrheit, wie die h. Schrift und die Erfahrung der Seele sie bestätigen"60. Gleichwohl aber sind diese beiden Bestimmungen „nicht ohne Mängel"61. Im Kern lautet der Vorwurf, den Stahl gegenüber der Kirchendefinition der Reformatoren erhebt, hier sei „die organische Seite der Kirche ignorirt - Amt und Regierung. Es sind nur die geistigen Kräfte und ihre freie Wirksamkeit in den Begriff der Kirche aufgenommen, nicht aber der anstaltliche Bau, der sie tragen soll. Es ist blos das göttliche Moment hervorgehoben, die Wirkung des h. Geistes in den Seelen und das Wort Gottes und Sakrament, nicht aber das Medium des menschlichen Momentes, die äußere Ordnung und Gliederung unter den Menschen, durch welche das Wort rein bewahrt und verkündigt werden soll"62. Verwirklicht findet Stahl dagegen den Gedanken der organischen Ordnung bei den altlutherischen Dogmatikern. Darum werden diese ihm zum Vorbild für eine eigene, dem Episkopalismus verpflichtete

58 FRIEDRICH JULIUS STAHL: Die Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten, Erlangen 1 8 4 0 , III. 5 9 Stahl, Kirche, 4 3 9 f . Stahl kann diese Kritik sogar in dem Satz gipfeln lassen, er vertrete nicht die Kirche der Orthodoxie, sondern die lutherische Kirche (ebd., 4 3 9 ) . 60 il 42

Stahl, Kirchenverfassung, 4 1 . Stahl, Kirchenverfassung, 4 2 . Stahl, Kirchenverfassung, 4 3 f.

41

kirchliche Verfassungslehre und zu Kronzeugen für seinen Kampf gegen Kollegialismus und Territorialismus. Analog zur eigenen Entwicklung der Vorstellung von der Kirche als „organischer Anstalt" befragt Stahl zunächst die altlutherischen Theologen nach ihrer Stellung zu den weltlichen Institutionen. Eigenen Idealen folgend, rühmt der Berliner Jurist Johann Gerhard, für Stahl der Repräsentant lutherischer Dogmatik63, wegen dessen rechten Gespürs für den organischen Charakter der weltlichen Institutionen64. Im Gegensatz zu Luther habe Gerhard nämlich mit „tieferer Einsicht"65 dargelegt, daß nicht bereits die Existenz von weltlicher Ordnung und Regierung als solcher, sondern nur die spezifische Form einer ,despotica dominatio' und ,servilis subjectio' Folge des Sündenfalls sei. Die Rechtsordnung selbst ist bereits mit der Schöpfung gegeben. Sie hat ihren Grund im Willen des Schöpfers selbst, nicht im Fall des Menschen. Zustimmend zitiert Stahl Gerhards Schlußfolgerung: „Atque haec argumenta firmiter probant, talem quandam despoticam dominationem et servilem subjectionem, cum repugnantia voluntatis et molestia conjunctam, qualis post lapsum in imperils politicis apparat, in statu innocentiae locum haudquaquam habuisse; ex eo tarnen inferri nequit, omnem omnino ordinem, omnem gubernationem et subjectionem άπλώς et late acceptam ab innocentiae statu semotam fuisse."66 Gerhard wird gelobt, weil er dem Staat als einer über dem Individuum stehenden Instanz theologische Legitimität verleiht und nicht versucht, dem Staat als bloßer Folgeerscheinung des Sündenfalls seine „geheime Würde"67 zu nehmen.

63

Stahl, Philosophie des Rechts, 154. Vgl. Nabrings, Stahl, 47: „Das Große und gerade in seinem notwendigen Scheitern Große an Stahls Versuch ist das Bemühen, den Staat genau wie Hegel nicht als Not- und Verstandesstaat gründen zu wollen, der sich nur ,pfiffigerweise' Dämme auszuklügeln hätte, um die antagonistischen Kräfte zum Ausgleich zu bringen, sondern ihn noch einmal in einem verzweifelt herbeigeschworenen sittlichen Fundament wurzeln lassen zu wollen." 65 Stahl, Philosophie des Rechts II/l, 153. 66 Stahl, Philosophie des Rechts II/l, 154, das Zitat bei JOHANN GERHARD: Loci Theologici, cum pro adstruenda veritate tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervöse solide et copiose explicati (1610-1622), hg. von Eduard Preuss, Berlin 1863-1875, XIII, 240f. (Gerhards Loci werden im folgenden nach dieser Ausgabe, der leichteren Vergleichbarkeit halber allerdings mit den Band- und Seitenangaben der Cottaschen Ausgabe zitiert). Link, Grundlagen, 69, folgert fälschlicherweise aus der bei Stahl zitierten Stelle von Gerhards Loci, daß der „StaatsOrganismus die Eigentümlichkeit des gefallenen Zustands sei". Die von Stahl zitierte Stelle und auch deren Kontext machen aber deutlich, daß Stahl gerade deswegen Gerhard rühmt, weil der die organische Struktur bereits prälapsarisch verankert gesehen habe. Gerhard führt im Anschluß an die zitierte Stelle sein Fazit wie folgt fort: „Distinguendum igitur inter subjectionem servilem et filialem, inter regimen δεσποτικόν et πατρικόν inter imperium coactum et spontaneam submissionem, inter regimen conjunctum cum libidine dominandi et conjunctum cum animo consulendi, illud, non autem hoc a statu innocentiae abfuisset" (Loci, XIII, 241), denn: „Inter ipsos angelos est quidam ordo divinitus constitutus. Sunt ibi sedes, sunt dominationes, sunt principatus, sunt potestates etc." (Loci, XIII, 240). 64

67

42

Link, Grundlagen, 68.

Findet Stahl bei der altlutherischen Dogmatik schon die gewünschte Unterstützung für seine Staatslehre, so gilt das erst recht für die Ekklesiologie. Konsequent ist seine Rezeption der Orthodoxie davon bestimmt, deren Plädoyer für eine nach dem Episkopalsystem verfaßte Kirche herauszustellen. Stahls Augenmerk gilt dabei den theologischen Argumenten. Nach innen, mit Blick auf die Verfassung der Kirche, möchte er nachweisen, daß der Anstaltscharakter ein Wesensmerkmal des recht verstandenen theologischen Begriffs der Kirche ist. Nach außen, hinsichtlich der Bedeutung der Kirche für Staat und Gesellschaft, versucht er zu zeigen, daß die miteinander konfligierenden weltlichen Kräfte allein durch eine wohl ausbalancierte Zuordnung zu einem transzendenten Ordnungsgefüge zum Ausgleich gebracht werden können68. Dabei möchte er weder Hobbes noch Hegel folgen, die Fürst und Staat als sterblichen bzw. irdischen Gott apotheosierten. Stahl sieht hier die Gefahr einer „Profanisierung des Göttlichen und der Sakralisierung des Irdischen"69. Statt dessen intendiert er eine organische Zuordnung von Staat und Kirche, so nämlich, daß beide sich wechselseitig durchdringen und kontrollieren. Als Vorbild für seine eigene Auffassung, aus der auch Stahls persönliches Engagement für Staat und Kirche erwuchs70, verweist Stahl wieder auf Gerhard. Dem Jenenser Dogmatiker und den ihm folgenden Theologen gebühre das Verdienst, der Episkopalverfassung ihren inneren theologischen Halt gegeben zu haben. Sie hätten die bloß juristische Begründung des landesherrlichen Kirchenregiments als Folge des Augsburger Religionsfriedens von 1555 dogmatisch unterfüttert und dabei zugleich eine rechte Trennung von staatlichen und kirchlichen Aufgabenbereichen des Magistrats herausgearbeitet71. Gerade in letzterem, in ihrem Bestreben, der obrigkeitlichen Machtausübung in der Kirche Grenzen zu setzen, liege die besondere Bedeutung von Gerhard und seinen Nachfolgern. Indem sie systematisch auch die Grenzen der obrigkeitlichen Machtausübung in der Kirche formuliert hätten, seien sie über die ältere Auffassung Melanchthons hinausgegangen72. Gerhards Mahnung an den Landesfürsten, „caveat tarnen 68

Nabrings weist zutreffend darauf hin, daß hier M o m e n t e des Romantikers Stahl faßbar

w e r d e n und führt als Beleg ein Novalis-Zitat an: „Es ist unmöglich, daß weltliche Kräfte sich selbst ins Gleichgewicht setzen, ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe lösen", Nabrings, Stahl, 1 1 3 . "

Nabrings, Stahl, 1 1 3 .

70

Vgl. Wiegand, Kampf, sowie Nabrings, Stahl, 1 6 7 - 1 7 9 .

71

Stahl, Kirchenverfassung, 6 - 1 4 .

72

Stahl bezieht sich hier wohl auf die Aussage M e l a n c h t h o n s in der Philosophia moralis, die

den Landesherrn nahezu uneingeschränkt auch die custodia p r i m a e tabulae übertragen hatte; vgl. PHILIPP MELANCHTHON: Philosophiae moralis Epitomes. Libri duo, C R 1 6 , 2 2 - 1 6 3 , 9 0 f . : „Finis societatis h u m a n a e proprius a c praecipuus est, ut Deus innotescat. Magistratus est custos societatis h u m a n a e : e r g o multo magis custos illius praecipui finis esse debet. [...] E r g o et in gubernatione societatis proprius finis societatis principaliter gubernatori e x p e t e n d u s est." ( 9 1 ) „ N e q u e enim dubium est Ecclesiam, et eos, qui sunt praecipua m e m b r a , debere defensores i m p i o r u m cultuum r e m o v e r e ab officiis ecclesiasticis [ . . . ] " ( 9 0 ) .

43

pius magistrates, [...] ne ecclesiasticas leges proprio ferat arbitrio inconsulto ministerio ecclesiastico" findet ausdrücklich Stahls Zustimmung 73 . Mithin bestehe das Verdienst der alten Dogmatiker darin, eben jene organisch-ausgewogene Anordnung von Kirche und Staat, Gemeinde und Kirchenleitung begründet zu haben, die Stahl selbst vorschwebt. „Dieses System muß auch im Wesentlichen als das ächte Verständnis und die richtige Norm der lutherischen Consistorialverfassung anerkannt werden" 74 , honoriert Stahl die Arbeit der Orthodoxie. Angesichts dieser Hochschätzung ist es erstaunlich, daß Stahls kirchenpolitische Aktivitäten durch eine auffallende Zurücknahme seines Plädoyers für den Episkopalismus zugunsten des landesherrlichen Kirchenregiments gekennzeichnet sind 75 . Der Episkopalismus soll lediglich den Maßstab für das landesherrliche Kirchenregiment abgeben. Vermutlich sah Stahl im landesherrlichen Kirchenregiment immer noch die erstrebenswertere Alternative gegenüber dem Kollegialismus, nachdem es nicht gelungen war, die Episkopalverfassung in die Tat umzusetzen. Das organische Prinzip sieht Stahl nicht nur in der Korrelation von ministerium ecclesiasticum und ministerium politicum in der altprotestantischen Dogmatik gewährleistet, sondern auch in deren Ausarbeitung der inneren Struktur der Kirche, näherhin in der Verhältnisbestimmung von allgemeinem Priestertum und besonderem Amt. Bedurfte es bei der Zuordnung von Kirche und Staat noch einer stärkeren Modifikation der reformatorischen Lehre, sieht Stahl beim Amtsverständnis eine weitergehende Übereinstimmung zwischen den Dogmatikern des 17. Jahrhunderts und den Reformatoren, insbesondere mit Melanchthon, aber auch mit Luther. Während die Position der beiden Reformatoren jedoch durchaus interpretationsbedürftig ist, findet Stahl bei Chemnitz die eigene Auffassung präzise formuliert: Das Priestertum aller Gläubigen bezieht sich allein auf das persönliche Verhältnis zu Gott, auf die Darbringung geistlicher Opfer: „Christianos omnes esse Sacerdotes: non ut omnes promiscue sine peculiari vocatione ministerio fungantur, sed ut offerant spirituales hostias [...]. Sed ea, quae ad publicum ministerium verbi et sacramentorum pertinent, administrare, non est in genere omnibus Christianis mandatum" 76 . Mit Blick auf die eigene Situation hält Stahl darum für die rechte Auslegung der reformatorischen Lehre vom allgemeinen Priestertum fest: „Es ist darum gänzlich verkehrt, für die Bestrebungen nach Synodalverfassung und vollends für das Unternehmen, Synodalverfassung auf die Wahl glaubensloser Stahl, Kirchenverfassung, 11, das Zitat bei Gerhard, Loci XIV, 4 4 . Stahl, Kirchenverfassung, 14. 7 5 Vgl. dazu Nabrings, Stahl, 153ff. 7 6 Stahl, Kirchenverfassung, 107, das Zitat entstammt MARTIN CHEMNITZ: Loci theologici. Q u i b u s et loci c o m m u n e s D. Philippi Melanchthonis perspicue explicantur, et quasi integrum Christianae Doctrinae corpus, Ecclesiae Dei sincere proponitur. Editio N o v i s s i m a , Frankfurt und Wittenberg 1 6 5 3 , 1 2 0 . 73

74

44

Gemeinden zu gründen, sich auf Luther's allgemeines Priesterthum zu berufen. Aus Luther's allgemeinem Priesterthum folgt nicht, daß Synoden, von den Gemeinden deputiert, die legitime Gewalt in der evangelischen Kirche seien, wohl aber folgt aus ihm, daß selbst unter der Synodalverfassung nicht die glaubenslose bekenntnisuntreue Maiorität, sondern die wenigen Bekenner [...] die legitime Gewalt in der evangelischen Kirche sind"77 - die Anklänge an Stahls Verurteilung der Ideen der Revolution sind unüberhörbar. Es ist nur folgerichtig, daß Stahl gegen Höfling78 CA V so auslegt, daß das Amt keinesfalls nur aus pragmatischen Gründen, um der Ordnung der Gemeinde willen eingesetzt sei. Vielmehr müsse es unabhängig von irgendeiner Zwecksetzung für die Gemeinde als eine unmittelbar von Gott gestiftete Institution verstanden werden79. Stahl kann sogar feststellen, daß die Existenz der christlichen Gemeinde von der Existenz des Amtes abhänge80. Der Hochschätzung des besonderen Amtes entspricht Stahls Ordinationsund Vokationsverständnis. Wie das besondere Amt nicht von der Gemeinde abgeleitet werden kann, so kann bei der Berufung in dieses Amt nicht nur die νocatio im Vordergrund stehen, durch die eine Person für das Amt bestimmt wird. Vielmehr muß gerade bei der Berufung der besondere Stiftungscharakter des Amtes zum Ausdruck kommen, und zwar durch die Ordination, in der das Amt der Person aufgetragen wird81. Da die Ordination vom Amt her gedacht ist und weder den einzelnen noch die berufende Gemeinde in den Mittelpunkt stellt, gebührt ihr der Vorrang vor der Vokation. Stahl rückt sogar die Ordination in die Nähe zu einem Sakrament, wenn er betont, sie beruhe zwar nicht auf einem göttlichen Befehl, wohl aber auf einem göttlichen Vorgang82. Wieder vergleicht Stahl seine eigene Konzeption, die für ihn die echt lutherische Lehre darstellt, mit der dogmatischen Tradition des 16. und 17. Jahrhunderts. Dabei ergibt sich das bereits bekannte Bild: erst bei den altprotestantischen Dogmatikern ist es zur sachgerechten Ausarbeitung dieses Lehrstücks gekommen. Während bei den Reformatoren noch kein klares und übereinstimmendes Bewußtsein über die rechte Zuordnung von Ordination und Vokation herrschte83, habe sich eine präzise Darstellung erst im Laufe des 17. Jahrhunderts gebildet. Chemnitz und Gerhard tragen ihren Teil dazu bei, und „endlich gibt Hollaz die volle Bedeutung der Ordination, nicht aus eigner Erfindung oder aus Aufnahme katholischer Vorstellungen, sondern an diese Vorgänger sich

77

Stahl, Kirchenverfassung, 1 0 5 .

78

Z u Höflings Amtsverständnis vgl. bes. Fagerberg, Bekenntnis, 2 7 3 - 2 8 5 . Stahl, Kirchenverfassung, 9 5 , 1 1 1 и.о.; Stahl, Kirche, 2 4 5 f . ; vgl. Fagerberg, Bekenntnis,

79

305. 80 81

Stahl, Kirchenverfassung, 1 1 3 . S. Stahl, Kirchenverfassung, 1 2 5 .

82

Stahl, Kirchenverfassung, 137f.

83

Stahl, Kirchenverfassung, 128f.

45

anschließend und hauptsächlich auf Grund der Agenden"84: „Ordinatio est Actus solennis, quo persona idonea in conspectu Dei et Ecclesiae declaratur esse examinata et legitime vocata (a) a negotiis profanis segregatur, certumque in Ecclesia obeundum munus ipsi commendatur, (b) ad quod ab Episcopo vel Presbytero per χειροθεσίαν, et solennes preces inauguratur, (c) atq[ue] officii sui rite faciendi graviter admonetur. [...] Fit ordinatio ab episcopo per χειροθεσίαν sive manuum impositionem (a) ut sit solennis testificatio, personam praesentem esse idoneam, rite electam et legitime vocatam. (b) Ut sit signum benedictionis divinae, quam sacra Persona in officio suo a Deo exspectare habeat. Prisci quippe moris erat, imposita manu benedicere [...]. (c) Ut admoneatur minister vocatus, se Deo esse consecratum, et quasi manicipatum. Nam victimis olim imponebantur manus. [...] (d) Ut preces publicae pro ministro in conspectum Dei et Ecclesiae adducto sint ardentiores."85 Wenn Stahl Hollaz' Ordinationsverständnis so zustimmend zitiert, das die Amtsträger als eine eigene von Gott gestiftete Ordnung ausweist86, so deutet sich darin bereits eine weitere Grundentscheidung seiner Kirchenlehre an: Stahl kontrastiert durchgängig Gemeinde und Kirche", wobei die Kirche als organisch gegliederte Einheit die Gemeinde als einen der drei Stände umfaßt. Dementsprechend kann er an der Bestimmung festhalten, das Kirchenregiment liege nicht etwa beim Klerus oder bei den Amtsträgern, sondern bei der ganzen Kirche. Das bedeutet keineswegs ein Synodal- oder Kollegialprinzip; denn „es geht durch alle Zeugnisse der lutherischen Kirche, das den verschiedenen kirchlichen Ständen (ordines) - christlicher Obrigkeit, Amt des Wortes und Gemeinde - jedwedem sein besonderer Antheil an dem Kirchenregiment zukommt. Dieses steht also nach lutherischer Lehre nicht der Kirche als Gesamtmasse oder als Gemeinde, sondern der Kirche als einem gegliederten Ganzen, als Institution zu"88. Die pejorativen Formulierungen lassen dabei schon erahnen, wo Stahl die Priorität sieht, nämlich beim Amt des Wortes. 84

Stahl, Kirchenverfassung, 1 3 3 .

85

DAVID HOLLATZ: E x a m e n theologicum a c r o a m a t i c u m ( 1 7 0 7 ) , 2 Bde., N e u d r u c k Darmstadt

1 9 7 1 , Part. IV, 9 1 , 9 2 f . 86

LUISE SCHORN-SCHOTTE: Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an

der Entfaltung f r ü h m o d e r n e r Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt a m Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig ( = Q F R G 6 2 ) , Gütersloh 1 9 9 6 , hat im einzelnen nachgewiesen, daß diese L e h r e erst allmählich, einhergehend mit einem wachsenden Selbstbewußtsein der evangelischen Pfarrerschaft entstanden ist, vgl. dazu ausführlicher unten, 2 2 3 ff. 87

Vgl. dazu besonders Stahl, Philosophie des Rechts I I / 2 , 1 1 : „[...] die christliche Kirche, die

auch ein sittliches Reich ist und als solches von der G e s a m m t g e m e i n d e (wenn auch aus denselben M e n s c h e n bestehend) wohl unterschieden werden muß, hat ein Gesetz und Ansehen an den von G o t t gesetzten Einrichtungen und der in der Geschichte gefügten Verfassung mit deren O b e r n . Die Vollmacht der Sündenvergebung ist nicht der Gemeinde (auch nicht der G e s a m m t gemeinde), sondern der Kirche in diesem Sinn ertheilt [ . . . ] . " 88

46

Stahl, Kirchenverfassung, 1 6 1 .

Diesem kommt der „erste und vorzüglichste Antheil"89 am Kirchenregiment zu, und zwar gleichermaßen in Lehr- und Verfassungsfragen sowie bei der Kirchenzucht90. Dabei beruht die Autorität des Amtes jeweils auf göttlichem Recht, nicht nur auf pragmatischen Erwägungen51. Die Mitwirkung der anderen beiden Stände, der Gemeinde und der Obrigkeit, ordnet Stahl entsprechend zu. Der Anteil der Gemeinde wird von ihm als „negativ"92 bestimmt. Ebenso steht er jedoch der Tendenz in der späteren lutherischen Dogmatik äußerst kritisch gegenüber, der Obrigkeit zunehmend den Vorzug vor dem Amt des Wortes einzuräumen93. Die Überprüfung an der Tradition zeigt erneut das vertraute Bild: Neben Melanchthon führt Stahl auch hier die orthodoxen Dogmatiker, allen voran Gerhard als Gewährsleute an94. Die Kontrastierung von Kirche und Gemeinde erlaubt es Stahl, den Begriff der Kirche für seine eigene, organisch-gegliederte ekklesiologische Konzeption zu reklamieren und von dieser Grundlage aus nach den Erwägungen über Kirchenverfassung, Amts- und Ordinationsverständnis noch einmal den Kirchenbegriff selbst mit der Lehrbildung der Reformatoren und der altlutherischen Orthodoxie in Verbindung zu bringen. Dabei nimmt Stahl die bereits geschilderte Kritik an den Reformatoren erneut auf, sie hätten die „organische Seite" der Kirche vernachlässigt. In deren Fixierung auf die Kirche als einer Gemeinschaft der reinen Lehre und dem daraus resultierenden Versäumnis, den institutionellen Fragen gleichberechtigte Bedeutung zuzumessen, erblickt Stahl die Wurzel aller Fehlentwicklungen im lutherischen Kirchenbegriff. Da die Reformatoren es unterlassen hätten, die Kirchenorganisation selbst genauer zu regeln, sei es unvermeidlich zu zwei problematischen Konsequenzen gekommen. Zum einen habe, in politischer Hinsicht, das landesherrliche Kir-

Stahl, Kirchenverfassung, 161. Stahl, Kirche, 278 f. 91 Stahl, Kirchenverfassung, 169; vgl. auch 175: „Dieser principale Beruf des Amtes zur Kirchenregierung beruht [...] vor allem aber auf der positiven Ordnung und Stiftung Christi und dem besonderen Segen, welcher dem Amte verheißen ist." 92 Stahl, Kirchenverfassung, 171, 173 u.ö. 93 Während Chemnitz noch attestiert wird, er folge CA 28, wird Gerhard bereits kritisiert, er sei in seiner Auffassung schwankend geworden. Bei den Vertretern der Spätorthodoxie, Quenstedt und Hollaz, sei schließlich die ursprüngliche Abfolge ins Gegenteil verkehrt; Stahl, Kirchenverfassung, 2 0 2 - 2 0 5 . 94 Link, Grundlagen, 79f. sieht hier einen Widerspruch zu Gerhards Lehre, der insbesondere potestas iurisdictionis und potestas ecclesiastica scharf geschieden habe. Dieser Vorwurf ist allerdings unzutreffend, denn er verkennt das Verfahren Gerhards: Dieser unterscheidet wohl scharf diese beiden Bereiche, jedoch nur zum Zweck genauerer Analyse. Link übersieht bereits, daß Gerhard die potestas iurisdictionis innerhalb der Erörterung der potestas ecclesiastica abhandelt (Gerhard, Loci XIII, 13ff.). Daneben bezieht sich die von Link, 80, angeführte Stelle in XIII, 16 nicht auf die Unterscheidung zwischen potestas ecclesiastica und potestas iurisdictionis, sondern Gerhard möchte hier das Amt der Schlüssel noch präziser fassen und in die potestas ligans und die potestas solvens unterscheiden. 89 90

47

chenregiment die von den Reformatoren gelassene Lücke der Kirchenverfassung ausgefüllt. Zum anderen habe die Theologie das Defizit der reformatorischen Auffassung dogmatisch überhöht und in Anlehnung an Zwingli die falsche Auffassung von der der sichtbaren Kirche vorgeordneten ecclesia invisibilis ausgebildet. „Diese irrige Lehre von einem im Wesen der Kirche gegründeten Kirchenregiment der Obrigkeit, dem das Amt des Wortes nur mit Rath oder allenfalls mit Zustimmung zur Seite steht, kommt nach ihrem letzten Ursprung aus jener Einseitigkeit der Reformatoren in ihrer Gesamtauffassung der Kirche [...]: daß sie den Begriff der Kirche allein in die Gemeinschaft der reinen Lehre setzen und den gliedlichen Bau und die seelsorgerlich-regimentliche Leitung der Christenheit nicht in ihren Begriff aufnehmen"95. Bezogen auf das Verhältnis von sichtbarer und unsichtbarer Kirche führe eben diese Grundentscheidung der Reformatoren „zu der jetzt so grell hervorgestellten Lehre, daß die ganze sichtbare Kirche, also auch die rechte Lehre, Erzeugnis der gläubigen Menschen sei"96. Die hieraus resultierende Leugnung einer göttlichen Stiftung der sichtbaren Kirche sowie das im Anschluß an diese Sichtweise etwa von Höfling herausgearbeitete Gefälle zwischen unsichtbarer und sichtbarer Kirche97 entspreche jedoch ebensowenig der Intention von Luther und Melanchthon wie es mit der Lehre der altlutherischen Dogmatiker vereinbar sei. Stahl betont - in scharfem Kontrast zur Lehre Höflings! - , die Orthodoxie habe die unsichtbare Kirche erst als Folge aus der sichtbaren abgeleitet. Von einer geringeren Legitimität der sichtbaren gegenüber der unsichtbaren Kirche könne keine Rede sein. In der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts breit geführten zeitgenössischen Diskussion um das Verhältnis von sichtbarer und unsichtbarer Kirche98 bezieht Stahl somit eindeutig Position 55

Stahl, Kirchenverfassung, 2 2 1 .

"

Stahl, Kirchenverfassung, 5 8 .

97

Vgl. JOHANN WILHELM FRIEDRICH HÖFLING: Grundsätze evangelisch-lutherischer Kirchen-

verfassung, Erlangen 3 1 8 5 3 , 1 9 9 f . : „Unserer Anschauung zufolge ist vielmehr die Kirche nur sekundär und konsekutiv ,sammelnde Anstalt für den Glauben', weil sie p r i m ä r und ursprünglich .Sammlung der Gläubigen' ist. Beides geht nicht sowohl koordinirt neben einander her, als vielmehr das Eine die Folge des Anderen ist". "

Vgl. dazu Fagerberg, Bekenntnis, 1 2 7 - 1 3 1 , sowie REINHOLD SEEBERG: Studien zur Ge-

schichte des Begriffs der Kirche mit besonderer Beziehung auf die L e h r e v o n der sichtbaren und unsichtbaren Kirche ( = D e r Begriff der christlichen Kirche, erster Teil), Erlangen 1 8 8 5 , bes. 2 0 2 f f . Seebergs Darstellung ist in Teilen überholt, als D o k u m e n t für die Kontinuität des T h e m a s „sichtbare - unsichtbare K i r c h e " allerdings unverzichtbar. Aus der zeitgenössischen Literatur vgl. ALBERT BRÖMEL: Das D o g m a v o n der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche, e r ö r t e r t in Anknüpfung an das Buch: Das D o g m a v o n der sichtbaren und unsichtbaren Kirche. Ein historisch-kritischer Versuch v. A.F.O. M ü n c h m e y e r , in: Z L T h K 1 6 ( 1 8 5 5 ) ,

272-292;

FRANZ JULIUS DELITZSCH: Vier Bücher v o n der Kirche. Seitenstück zu L ö h e ' s drei Büchern von der Kirche, Dresden 1 8 4 7 ; WILHELM FLÖRKE: Das D o g m a v o n der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche, e r ö r t e r t in Anknüpfung an das Buch: Das D o g m a v o n der sichtbaren und unsichtbaren Kirche. Ein historisch-kritischer Versuch v. A.F.O. M ü n c h m e y e r , in: Z L T h K 1 6 ( 1 8 5 5 ) , 269-272;THEODOSIUS HARNACK: Wesen und Kennzeichen der w a h r e n Kirche Jesu

48

und stellt sich auf die Seite Löhes, Delitzschs und Münchmeyers, die die sichtbare Kirche der unsichtbaren Kirche vorgeordnet hatten. Wie eng bei Stahl der Rückgriff auf die Tradition und das Gegenwartsinteresse beieinander liegen, zeigt sich, wenn man Stahls Zuordnung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche genauer analysiert und sie auf die Bestimmungen der altlutherischen Dogmatiker zurückspiegelt. Für eine Vorordnung der sichtbaren Kirche vor der unsichtbaren lassen sich bei Gerhard durchaus Belege finden; denn Gerhard hält fest: Nur in der sichtbaren Kirche ist die unsichtbare zu finden". Ebenso kann der Jenenser Dogmatiker von der göttlichen Legitimität des ministerium ecclesiasticum sprechen. Anders äls Stahl kombiniert Gerhard beide Gedanken allerdings nicht miteinander. Dem dogmatischen Topos der ecclesia visibilis korrespondiert nicht die Vorstellung eines anstaltlich geordneten Kirchenregiments. Da Stahl jedoch das Wesen der Kirche als organische Anstalt definiert hatte, war er gezwungen, nun auch die vorgängige sichtbare Kirche mit dem Anstaltsgedanken zu identifizieren und entfernte sich damit von den Bestimmungen der Orthodoxie. Während etwa Gerhard ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis mit der Unterscheidung von Berufenen und Glaubenden parallelisiert, kombiniert Stahl dasselbe Begriffspaar nun, verbunden mit einer charakteristischen Bedeutungsverschiebung bei der ecclesia visibilis, mit der Gegenüberstellung von Anstalt und communio sanctorum: „Die Kirche ist nach ihrem Begriff zugleich die Gemeinde der Heiligen und Anstalt des Heils, ein inneres Glaubensreich und eine zur Wirksamkeit nach aussen geordnete Institution. Das ist der Grund der Unterscheidung ihrer unsichtbaren und sichtbaren Seite." 100 Stahls Fassung des Duals von sichtbarer und unsichtbarer Kirche, die er erst in der zweiten Auflage der „Kirchenverfassung" entwickelt101, folgt dem übergeordneten Interesse, den Anstaltscharakter

Christi, Riga 1 8 5 0 ; Ders., Kirche; AUGUST FRIEDRICH OTTO MÜNCHMEYER: D a s D o g m a von der sichtbaren und unsichtbaren Kirche. Ein historisch-kritischer Versuch, Göttingen 1 8 5 4 ; ALBRECHT RITSCHL: Ueber die Begriffe: sichtbare und unsichtbare Kirche ( 1 8 5 9 ) , in: Ders.: G e s a m m e l t e Aufsätze I, Freiburg u.a. 1 8 9 3 , 6 8 - 9 9 ; CARL FERDINAND WILHELM WALTHER: Die S t i m m e unserer Kirche in der Frage von Kirche u n d Amt. Eine S a m m l u n g von Zeugnissen über diese Frage aus den Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche u n d aus den Privatschriften rechtgläubiger Lehrer derselben. Von der deutschen evang.-luth. S y n o d e von Missouri, O h i o , u n d anderen Staaten als ein Zeugnis ihres Glaubens vorgelegt, Erlangen 1 8 5 2 . 9 9 Vgl. etwa G e r h a r d , Loci X I , 8 3 : „Accurate autem o b s e r v a n d u m , ecclesiam visibilem et invisibilem non esse contrarie opposita, sed subalterna ac subordinata. N a m invisibilis elector u m coetus continetur sub visibili congregatione v o c a t o r u m [...]". 1 0 0 Stahl, Kirchenverfassung, 58f. 101 Stahl hat seine Z u o r d n u n g von sichtbarer u n d unsichtbarer Kirche offenbar erst unter dem Eindruck der u m die Mitte des Jahrhunderts intensiver werdenden Diskussion u m die Relation dieser beiden Bestimmungen des protestantischen Kirchenbegriffs ausgearbeitet. In der Erstauflage der Kirchenverfassungsschrift vertritt er noch die gängige M e i n u n g , der Kirchenbegriff des Luthertums ginge von einer Prävalenz der unsichtbaren Kirche aus, im Gegensatz zum Katholizismus, der die Kirche primär als sichtbare Kirche fasse (Stahl, Kirchenverfassung 1 8 4 0 ,

49

der Kirche zu betonen. Zwar konnte auch Gerhard die Ausübung der Kirchenzucht mit der sichtbaren Kirche verbinden. Jedoch betrachtet er dies nur als ein Element der ecclesia visibilis: „Externa ecclesiae societas consistit in professione fidei et usu sacramentorum, cui disciplinae ecclesiasticae exercitium addi potest"102. Der Gedanke der Glaubensgemeinschaft steht auch bei der sichtbaren Kirche im Vordergrund103. Stahl hingegen läßt sich in seiner Orthodoxieinterpretation von seiner anderwärts gewonnenen Anstaltsidee leiten. Sie bestimmt seine Fassung der Unterscheidung von ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis ebenso wie seine Darstellung der altlutherischen Dogmatik insgesamt.

4. Funktionale

Tradition

Gerade der letzte Argumentationsgang ist charakteristisch für Stahls Umgang mit der Orthodoxie. Seine Rezeption ist durch die funktionale Abzweckung bestimmt, das historiographische Interesse tritt demgegenüber in den Hintergrund. Stahl beabsichtigt, durch die Rückbesinnung auf die Orthodoxie feste Orientierungspunkte für die eigene, aus der Synthese von hegelianischem und romantischem Gedankengut sowie aus eigenen kirchenpolitischen Erwägungen entstandene Position zu finden: So will er die wohlgeordnete, „organische" Vorstellung der altlutherischen Dogmatiker von Kirche und Gesellschaft zum Vorbild für eine analoge Gestaltung dieser Institutionen in der eigenen Gegenwart werden lassen. Dieses Ziel bedingt es, daß Stahl die Kirchenlehre von vornherein unter einer bestimmten Fragestellung interpretiert, nämlich ihrer Gegenwartsrelevanz. Eine Auseinandersetzung mit Stahls wirkmächtiger Interpretation der altlutherischen Kirchenlehre wird diese intentionale Darstellung zu beachten haben. Insofern greift eine Kritik, wie sie in jüngerer Zeit etwa von Martin Honecker geübt wurde, Stahl verstelle sich durch seinen interessegeleiteten Zugang die Möglichkeit zu echter historischer Erkenntnis104, zu kurz, denn sie verkennt gerade die Zielrichtung von Stahls Interpretation. Demgegenüber treffen trotz ihres äußerst scharfen Tons die Vorwürfe, die Ritsehl dem „theologisirenden Dilettanten mit seinen ad hoc zusammengerafften, und durch die

48f.). Da diese Auffassung schon in der Erstauflage in Widerspruch zu dem auch dort entwikkelten Anstaltscharakter der Kirche steht, sah sich Stahl offenbar genötigt, seine eigene Zuordnung von ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis zu modifizieren und genauer auszuführen. 102

Gerhard, Loci X I , 8 2 .

Z u r Funktion und Interpretation der Unterscheidung zwischen ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis bei Gerhard vgl. ausführlich unten, 176ff. 103

104

50

Honecker, Cura, 1 3 8 .

im Voraus feststehende Absicht begrenzten Kenntnissen" 105 nur kurz nach dessen Tod zu Teil werden läßt, eher die Intention und die Probleme der Stahlschen Darstellung. Diese liegen genau in der Verbindung von historischer Analyse und gegenwartsorientierter Rezeption. An Stahl ist die Frage zu stellen, ob die von ihm angestrebte Fundierung der eigenen Position durch die altlutherischen Dogmatiker tatsächlich leisten kann, was sich Stahl von ihr erhofft. Hier offenbart gerade das von den Kritikern oft übersehene Verdienst Stahls seine größte Schwäche. Stahl sieht zwar richtig die Verbindung von Geistesgeschichte, Ekklesiologie und politischen Optionen. Er zieht allerdings daraus nicht die nötigen Konsequenzen, sondern verwendet sie nur zur typisierenden Darstellung. Dabei hätte ihn gerade diese Parallelisierung, derer er sich so sehr rühmte, davor schützen müssen, das ekklesiologische System der Orthodoxie und mit ihm den Episkopalismus einfach auf die Gegenwart übertragen zu wollen. Zwar läßt seine Sympathie für die altlutherischen Dogmatiker immer wieder den Wunsch nach Restitution der damaligen Lehre durchscheinen. Tatsächlich aber beraubt Stahl die Ekklesiologie der Orthodoxie ihres Sitzes im Leben, wenn er den Episkopalismus als die lutherische Form der Kirchenverfassung und damit gleichsam als zeitloses System darstellt, eine Tendenz, die in gleicher Weise aus der Kennzeichnung Gerhards als des lutherischen Dogmatikers hervorgeht. Auch Stahls Versuch, nun selbst den Episkopalismus nicht aus dem herrschenden Rechtssystem, sondern ebenfalls zeitlos aus dem Wesen der Kirche zu begründen, weist in diese Richtung. Stahls Analyse hätte durchaus ein Instrumentarium bereitgestellt, das ihn hätte erkennen lassen können, daß zahlreiche Elemente der Kirchenlehre des 17. Jahrhunderts konstitutiv auf die damalige Gesellschaftssituation bezogen sind. Eine ungebrochene Plausibilität ekklesiologischer Konzepte der Orthodoxie würde darum auch die Zustimmung zu deren gesellschaftlichem Ordnungsmodell bedeuten, insbesondere zu der von Stahl für sein Ideal der organischen Anstalt in Anspruch genommenen Drei-Stände-Lehre. Daß Stahl damit wohl zeitweise liebäugelte, ist wohl der Grund, warum seine Ekklesiologie als unzeitgemäß und restaurativ kritisiert und gleichzeitig, besonders von konservativer Seite, begrüßt werden konnte. Gerade sein methodisches Ideal, die Verbindung von politischer Konstellation und ekklesiologischer Theoriebildung zu berücksichtigen, hätte ihn dazu führen können, sachgemäßer die einzelnen Elemente der altlutherischen Ekklesiologie auf ihren systematischen Gehalt und ihre Kontextabhängigkeit zu überprüfen. Eine größere Sensibilität für die Situationsbedingtheit der Kirchenlehre im 17. Jahrhundert hätte vermutlich die Plausibilität von Stahls ekklesiologischem Entwurf in der eigenen Gegenwart erhöht. Gleichwohl ist Stahls Rückgriff auf die Orthodoxie gerade in ihrer teilweise

105 ALBRECHT RITSCHL: Die Begründung des Kirchenrechts im evangelischen Begriff von der Kirche (1869), in: Ders.: Gesammelte Aufsätze, Freiburg u.a. 1893, 1 0 0 - 1 4 6 , 102.

51

problematischen Aktualisierung ein erster Beleg für die Wirkmächtigkeit dieser ekklesiologischen Konzeption in der evangelischen Theologie und zugleich ein erster Hinweis darauf, daß im Medium der Orthodoxierezeption gleichzeitig eine Gegenwartsinterpretation erfolgt. Es ist allerdings nicht ohne Ironie, wenn Hanns-Jürgen Wiegand am Ende seines breiten Literaturberichts zur Rezeption von Stahls Ideen in Theologie und Staatsrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts Befürwortern wie Kritikern Stahls attestiert, sie würden der zeitgeschichtlichen Verankerung von Stahls Gedanken zu wenig Rechnung tragen 106 . Gerade bei den Anhängern Stahls unter den evangelischen Theologen, bei Walter Künneth und Otto Dibelius, aber auch bei Ernst Steinbach und Eugen Gerstenmaier sei zudem die Tendenz unübersehbar, mit der Stahlschen Lehre zugleich Elemente seines Gesellschaftssystems übernehmen zu wollen 107 .

106

Wiegand, Vermächtnis, 37^2. ίο? Wiegand, Vermächtnis, 29.

52

3 . KAPITEL

Die Kompensation der individualistischen Moderne durch eine Theologie der Gemeinde: Karl Hackenschmidts Orthodoxieinterpretation im Umfeld der Theologie Albrecht Ritschis

Stand die Auseinandersetzung um den Kirchenbegriff in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich unter dem Eindruck der neulutherischen Orthodoxie, so wandelt sich dieses Bild im Kaiserreich. Die ekklesiologischen Debatten in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sind von den Positionen bestimmt, die Albrecht Ritsehl und die ihm nahestehenden Theologen entwickelten. Ritschis Theologie entfaltete eine große Prägekraft für die nachfolgende Theologengeneration, deren Vertreter zumindest die Grundentscheidungen, oft aber - wie im Fall des hier näher zu untersuchenden Karl Hackenschmidt - bis hin zur Terminologie die einzelnen dogmatischen Weichenstellungen sowie die kirchenpolitischen Optionen von ihrem Bonner und später Göttinger Lehrer übernahmen. Hackenschmidt 1 , der als gebürtiger Straßburger ebenso patriotischer Elsässer wie Deutscher war 2 , hatte in Straßburg und 1 Z u H a c k e n s c h m i d t vgl. Art. Hackenschmidt, Karl, in: B B K L 2 , H a m m 1 9 9 0 , 4 2 1 f . , sowie KARL DIENST: Art. Hackenschmidt, Karl, in: R G G 3 3, T ü b i n g e n 1 9 5 9 , 7. 2 Vgl. dazu ausführlich OTTO MICHAELIS: Karl H a c k e n s c h m i d t ( 1 8 3 9 - 1 9 1 5 ) . Ein deutscher Sänger und Prophet des Elsasses, Straßburg 1 9 1 6 . Michaelis schildert eindrucksvoll H a c k e n schmidts literarische Reflexion der Rückeroberung des Elsasses nach d e m deutsch-französischen Krieg von 1 8 7 0 / 7 1 und seinen K a m p f gegen die „Verwelschung des L a n d e s " , die ihm „ i m m e r als ein Unglück g e g o l t e n " hatte (ebd., 2 2 ) . S o konnte H a c k e n s c h m i d t , der den Zeitgenossen eher als Dichter denn als T h e o l o g e bekannt war, nach der N i e d e r l a g e der Franzosen triumphierend verkünden: „ U n d du, о deutscher Besen / Kehr' flink u n d rein d a s H a u s ! / Kehr mir die welsche S i p p e / Z u m deutschen Land hinaus" (zit. nach Michaelis, 2 5 ) . D e m gleichen Tenor folgt auch noch später, wenige M o n a t e vor seinem Tod, die Predigt, die er bei der E r ö f f n u n g des elsaß-lothringischen L a n d t a g e s a m 8. April 1 9 1 5 unter d e m Eindruck der K ä m p f e des

1. Weltkriegs hielt. Sie illustriert auf ihre Weise die bei Ritsehl herausgestellte problematische Parallelität von Kirche u n d Staat: „Ein Sieg unserer Feinde wäre der Z u s a m m e n b r u c h einer langen, schönen, zukunftsreichen Entwicklung. M i t d e m Deutschen Reich steht u n d fällt unser H e i m a t l a n d . Finis G e r m a n i a e wäre auch finis Alsatiae. [...] Unsere Zeit braucht Männer. M ä n n e r draußen auf d e m Schlachtfeld, die nicht bloß furchtlos ins Feuer gehen, sondern auch standhaft im Schützengraben aushalten, und M ä n n e r daheim, die, wenn sie reden und handeln, nicht sich bestimmen lassen durch das, was rechts u n d links geflüstert wird, nicht durch die schwankenden G e f ü h l e ihres Herzens, sondern allein durch das, w a s sie als w a h r u n d richtig erkannt haben. Solche M ä n n e r werden auch Sie sein. Die Kirche, w e n n sie ihre Pflicht tut, ist das Gewissen des Volks. Die Augenblicke, die Sie in diesem alten G o t t e s h a u s e zubringen, sind

53

Erlangen studiert. Obwohl er anfänglich dem konfessionellen Luthertum verpflichtet war, schloß er sich, nachdem er 1 8 6 9 / 7 0 längere Zeit in Göttingen verbracht hatte, der Theologie Ritschis an. Hackenschmidt blieb Ritsehl nach dem Aufenthalt in Göttingen weiter verbunden und lud ihn 1 8 7 2 nach Jaegerthal bei Niederbronn ins Elsaß ein, wo Hackenschmidt zu dieser Zeit als Pfarrer wirkte. Ritsehl war sich der Herkunft Hackenschmidts aus der konfessionellen Theologie offenbar bewußt, zumindest urteilte er nach der Reise über Hackenschmidt, dieser gehöre „zu der positiven etwas pietistischen Minorität" im sonst so rationalistischen Straßburg 3 . Hackenschmidts Versuch, die Kompatibilität der Ritschlschen Kirchenlehre mit deren Ausprägung in der klassischen lutherischen Dogmatik zu erweisen, ist für die Rezeptionsgeschichte, aber auch für die Charakteristik der altlutherischen Ekklesiologie selbst in hohem Maße aufschlußreich. Ungeachtet der polemischen Etikettierung Ritschis als Exponent einer theologischen Fehlentwicklung in der zeitgenössischen lutherischen Theologie des 19. Jahrhunderts 4 ,

nur d a n n kein Zeitverlust, k e i n e w e r t l o s e F o r m a l i t ä t , w e n n hier Ihr G e w i s s e n g e w e c k t und gestählt w i r d d u r c h den H i n w e i s auf die g r o ß e V e r a n t w o r t u n g , die I h n e n o b l i e g t " (ebd. 4 2 ) . 3

O T T O RITSCHL: A l b r e c h t Ritschis L e b e n , 2 B d e . , Freiburg / Br. 1 8 9 2 / 9 6 , Bd. 2 , 1 2 8 .

4

Z u der i n s b e s o n d e r e v o n lutherischer Seite leidenschaftlich g e f ü h r t e n Auseinandersetzung

um die R i t s c h l s c h e T h e o l o g i e in den letzten beiden J a h r z e h n t e n des 1 9 . J a h r h u n d e r t s - REINHOLD SEEBERG: D i e K i r c h e D e u t s c h l a n d s im n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t . E i n e E i n f ü h r u n g in die religiösen, t h e o l o g i s c h e n u n d kirchlichen Fragen der G e g e n w a r t , Leipzig, 3 1 9 1 0 , 3 2 3 , spricht gar d a v o n , d a ß diese J a h r e v o n dem R u f „ F ü r o d e r w i d e r R i t s e h l ! " b e s t i m m t w a r e n - vgl. FRANZ HERRMANN REINHOLD V. FRANK: Z u r T h e o l o g i e A. Ritschis, E r l a n g e n u.a.

1891;

CHRISTIAN ERNST LUTHARDT: Z u r Beurtheilung der R i t s c h l ' s c h e n T h e o l o g i e . E i n e Entgegnung, in: Z K W L 2 ( 1 8 8 1 ) , 6 1 7 - 6 4 3 ; CHRISTIAN ERNST LUTHARDT: Z u r K o n t r o v e r s e ü b e r die R i t s c h P s c h e T h e o l o g i e , in: Zeitschrift für k i r c h l i c h e W i s s e n s c h a f t und k i r c h l i c h e s L e b e n 7 ( 1 8 8 6 ) , 6 3 2 - 6 5 8 ; S e e b e r g selbst versuchte dagegen, Ritsehl d u r c h d e m N a c h w e i s seiner starken Abhängigkeit v o n J o h a n n Christian K o n r a d von H o f m a n n als S c h ü l e r d e r E r l a n g e r T h e o l o g i e darzustellen u n d ihn d a m i t für die lutherische T h e o l o g i e zu v e r e i n n a h m e n (Seeberg, K i r c h e , 3 2 2 f . ; zu H o f m a n n vgl. KARL GERHARD STECK: J o h a n n Christian K o n r a d v o n

Hofmann

( 1 8 1 9 - 1 8 7 7 ) , in: M a r t i n G r e s c h a t ( H g . ) : T h e o l o g e n des P r o t e s t a n t i s m u s im 1 9 . u n d 2 0 . J a h r h u n d e r t , Stuttgart u.a. 1 9 7 8 , 9 9 - 1 1 2 ) . Ausführlich b e h a n d e l t K u h l m a n n , E t h i k , 2 3 ^ 2 die zeitgenössischen K o n t r o v e r s e n um Ritschi. D i e Ekklesiologie stand in dieser t h e o l o g i s c h e n Auseinandersetzung allerdings nicht im Z e n t r u m der Kritik, o b w o h l Ritsehl selbst in seiner G ö t t i n g e r Z e i t von der lutherischen L a n d e s k i r c h e und seinen l u t h e r i s c h e n Fakultätskollegen w e g e n seiner P a r t e i n a h m e für die p r e u ß i s c h e U n i o n s c h a r f angegriffen w u r d e (vgl. dazu ausführlicher u n t e n , 7 5 ) . D e r G r u n d für diesen a u f den ersten Blick auffälligen S a c h v e r h a l t dürfte w o h l in der für Ritsehl charakteristischen K o m b i n a t i o n v o n divergenten t h e o l o g i s c h e n , k o n f e s s i o n e l l e n und k i r c h e n p o l i t i s c h e n O p t i o n e n zu suchen sein. Bei Ritsehl v e r b a n d e n sich e i n e b e i m religiösen B e w u ß t s e i n des einzelnen ansetzende, m e t a p h y s i k k r i t i s c h e T h e o l o g i e mit einem ausgeprägten G e m e i n d e b e w u ß t s e i n , sein Plädoyer für die U n i o n mit e i n e m ausgeprägten lutherisch-nationalen Selbstbewußtsein. W ä h r e n d es so insbesondere w e g e n seiner M e t a p h y s i k kritik in den Fragen der P r o l e g o m e n a , a b e r auch in der G o t t e s l e h r e zu heftigen Divergenzen k o m m e n m u ß t e , war seine Ekklesiologie w e n i g e r k o n t r o v e r s . Allerdings stellen die W i r k u n g s g e s c h i c h t e wie auch die K o n t r o v e r s e u m die Ritschlsche T h e o l o g i e n a c h wie v o r ein D e s i d e r a t dar. Erst n a c h einer detaillierteren Aufarbeitung des zeitgenössischen D i s k u s s i o n s z u s a m m e n -

54

sieht sich Hackenschmidt, offenbar durch seine doppelte Schülerschaft, der Verpflichtung gegenüber dem konfessionellen Luthertum und seiner Freundschaft mit Ritsehl, dazu veranlaßt, in seiner Abhandlung über Musäus' Lehre von der Sichtbarkeit der Kirche 5 den Ausgleich zwischen orthodox-lutherischer Dogmatik und Ritschlscher Theologie zu erweisen. Dabei läßt sich das spezifische Profil dieses Unterfangens erst ermessen, wenn man sich seine Rahmenbedingungen verdeutlicht. Ritsehl selbst hatte zwar aus seiner Sympathie für Luther nie einen Hehl gemacht, ebensowenig allerdings auch aus seiner Antipathie gegen die konfessionalisierenden Epigonen des Wittenberger Reformators. Seit seinen frühen Schriften zur Ekklesiologie äußerte Ritsehl wiederholt vehemente Kritik an den theologischen Lehrsystemen des 17. Jahrhunderts. Im Zentrum von Ritschis Ablehnung steht dabei der Vorwurf, die Nachfolger der Reformatoren seien unkreative und unkritische Verwalter des reformatorischen Erbes gewesen, so daß man sich mit ihren Lehrbildungen nicht weiter befassen müsse. So hätten die Theologen des konfessionellen Zeitalters in die „Dogmatik der .Kirche der reinen Lehre' ein sehr heterogenes zwinglisches Lehrelement" aufgenommen 6 , ohne aber die Ekklesiologie angemessen fortzuschreiben. „Hiebei sind nun auch die Dogmatiker, Lutheraner wie Reformirte, stehen geblieben, deren dialektische Specialisirung der Unterscheidung nichts zur Sache thut; und deßhalb dürfen wir uns der Darstellung und Beurtheilung des weiteren Verlaufs der Lehre billig entschlagen" 7 . In der Analyse der Fortwirkung von Schleiermachers Reden, die Ritsehl 15 Jahre später vorlegt, um „sich über die gegenwärtige innere Lage der evangelischen Kirche" aufzuklären 8 , überträgt er denselben Vorwurf auf die zeitgenössische konfessionelle Theologie. Deren Charakteristikum sieht Ritsehl in dem Versuch, das Defizit konkreter Vorstellungsformen der Schleiermacherschen wie der Vermittlungstheologie nun durch die Rückwendung zur Orthodoxie überwinden zu wollen. Die neo-orthodoxen Bestrebungen fallen zudem auch wegen ihres pietistischen Avantgarde-Bewußtseins und mit einer unionsfeindlichen Grundhaltung der Kritik des Göttinger Systematikers anheim: „Die Rechtgläubigen wollten durchaus fortfahren, die recht Gläubigen zu sein" 9 , und indem man sich Luthers Abendmahlslehre, „wie man sie etwa verstand" 10 , bemächtigte, votierte man gegen die Union. So verbinden sich die von Ritsehl bekämpften theologi-

hanges könnte die Frage nach zeitgenössischer Kritik und Akzeptanz seines Kirchenbegriffes zuverlässig b e a n t w o r t e t werden. 5

KARL HACKENSCHMIDT: Des lutherischen T h e o l o g e n J o h . M u s ä u s L e h r e v o n der Sichtbar-

keit der Kirche. Ein Beitrag zur Lösung der Kirchenfrage, in: T h S t K r 5 3 ( 1 8 8 0 ) , 2 0 5 - 2 7 2 . 6

Ritsehl, Begriffe, 9 7 .

7

Ritsehl, Begriffe, 9 6 .

8

ALBRECHT RITSCHL: Schleiermachers Reden über die Religion und ihre N a c h w i r k u n g e n auf

die evangelische Kirche Deutschlands, Bonn 1 8 7 4 , 1. 9 10

Ritsehl, Schleiermachers Reden, 8 4 . Ritsehl, Schleiermachers Reden, 8 4 .

55

sehen Positionen mit einer Renaissance der Orthodoxie: „Was sie als ihre Glaubensüberzeugung vortragen, ist der Umfang von Begriffen, welcher in der Ueberlieferung der lutherischen Schuldogmatik flüssig geblieben ist; die Impulse der Reformation, welche außerdem in den symbolischen Büchern Zeugniß empfangen, sind in jenem Kreise unbekannt und bleiben unbeachtet"11. Ritschis Vorbehalte gegenüber der Orthodoxie spiegeln so exakt die gängigen Vorurteile gegen die Dogmatik jener Epoche. Vor diesem Hintergrund gewinnt Hackenschmidts Studie ihre besondere Bedeutung. In ihrer Mittelstellung zwischen einem dogmatischen Lehrsystem, das sich nachdrücklich die Etikettierung der Orthodoxie als einer rein auf die Lehre fixierten Epoche zu eigen machte und dem Bemühen, gerade die Erschließungskraft der Kirchenlehre des 17. Jahrhunderts für die eigene Situation und die eigene Theologie zu erweisen, bildet sie exakt die Struktur der für die altlutherische Ekklesiologie typischen Rezeptionsvorgänge ab: Hackenschmidt möchte einen Beitrag zur Lösung der eigenen, zeitgenössischen Kirchenfrage im Medium einer MusäusInterpretation leisten. Diese Intention belegt gleichermaßen die Konstanz des Problemhorizonts sowie das stete Bemühen in der lutherischen Theologie, die ekklesiologischen Theoriekonzepte des konfessionellen Zeitalters als Gegenwartsanalyse zur Geltung zu bringen. Offenbar wohnt der altlutherischen Kirchenlehre ein Zug inne, der sie für derartige gegenwartsorientierte Fragestellungen in besonderem Maße anschlußfähig macht. Hackenschmidts eigenes Interpretationsmuster präsentiert sich als detailgetreue Nachzeichnung der theologischen, insbesondere der ekklesiologischen Grundentscheidungen seines Vorbilds. Darum darf seine Rezeption der altlutherischen Kirchenlehre durchaus als repräsentativ für die Ritschlsche Theologie gelten. Sie veranschaulicht zugleich, daß in Ritschis Abgrenzung gegen die Dogmatiker des 17. Jahrhunderts mitunter die Polemik die Oberhand gegenüber der nüchternen Analyse behielt. Da sich der Straßburger Pfarrer in seinen eigenen theologischen Urteilen so eng an das Theoriekonzept des Göttinger Systematikers anlehnt und seine eigene theologisch-kirchliche Gegenwartsdeutung aus den entsprechenden Vorgaben Ritschis bezieht, muß im folgenden zunächst Ritschis eigene Theologie in ihren Grundzügen, Deutemustern und Leitbildern skizziert werden. Das besondere Augenmerk wird hier Ritschis zeitdiagnostischen Elementen, sowie den für Konzeption und Durchführung der Ekklesiologie entscheidenden Einsichten gelten12. Dabei lassen sich die 11

Ritsehl, Schleiermachers Reden, 8 5 .

12

Vgl. dazu auch die - jeweils in unterschiedlicher Perspektive e n t w o r f e n e n - Ansätze zur

Interpretation von Ritschis Ekklesiologie bei JÖRG DLERKEN: Kirche: Heilige c o m m u n i o oder Institut Christi? Aspekte der Ekklesiologie A . E C . Vilmars und A. Ritschis ( = F E S G Reihe B, Nr. 1 2 ) , Heidelberg 1 9 8 9 , 4 0 - 8 0 ; JOACHIM VON S o o s T E N : Die Sozialität der Kirche. Theologie und T h e o r i e der Kirche in Dietrich Bonhoeffers „Sanctorum c o m m u n i o " , M ü n c h e n 1 9 9 2 , 9 5 - 1 3 0 ; HELGA KUHLMANN: Die Theologische Ethik Albrecht Ritschis, M ü n c h e n 1 9 9 2 , 2 2 0 - 2 3 1 , sowie

56

spezifischen Merkmale und Vorentscheidungen in Ritschis theologischem Denken besonders gut an der direkten Auseinandersetzung mit Stahl verdeutlichen. Stahls neo-orthodoxer Kirchenbegriff ist für Ritsehl selbst der erklärte Gegner, an dessen Bekämpfung er zunächst die eigene Ekklesiologie ausbildet13, deren Grundstrukturen für sein gesamtes weiteres Werk leitend bleiben. Da aber Ritschis Theologie zugleich als als Bezugsrahmen für Hackenschmidts Orthodoxieinterpretation fungiert, macht die Gegenüberstellung von Stahl auf der einen, Ritsehl und Hackenschmidt auf der anderen Seite auch deutlich, wie groß die Bandbreite all der Positionen ist, die die Ekklesiologie des 17. Jahrhunderts als Zeugen für den eigenen Standpunkt beanspruchen. Dieser Sachverhalt kann zudem gerade in der konträren Ausarbeitung der einzelnen Elemente als Beleg für die bemerkenswerte Problemkonstanz in der lutherischen Kirchenlehre gelten. Denn trotz aller Rhetorik sind es letztlich dieselben Fragestellungen, auf die Stahls, Ritschis und damit auch Hackenschmidts Lehrbildungen eine Antwort versuchen.

1. Ritschis Polemik gegen Stahl als Miniatur seines theologischen Denkens Wie sehr Ritsehl seine eigene Ekklesiologie in Auseinandersetzung mit Stahl ausbildet, läßt sich insbesondere an dem bereits genannten Verdikt zeigen, bei dem Berliner Juristen handele es sich um einen „theologisierenden Dilettanten"14. Diese Formel läßt die sachlichen Differenzen zwischen beiden Positionen ebenso deutlich werden, wie sie gerade in ihrer Polemik offenbart, wieviel Rhetorik Ritsehl aufbieten muß, um die mit Stahl durchaus vorhandenen Gemeinsamkeiten zu überdecken, insbesondere im Blick auf das zugrunde gelegte Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Gegenüber den „theologisierenden", in Wahrheit aber juristischen Versuchen Stahls, die lutherische

ARNULF VON SCHELIHA: Protestantismus u n d Kirche. Albrecht Ritschis

ekklesiologische

Interpretation v o n Schleiermachers Wesensformel, in: Ders. / M a r k u s S c h r ö d e r ( H g . ) : Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart u.a. 1 9 9 8 , 7 7 - 1 0 1 . 13

Ritschis Studie „Die Begründung des Kirchenrechtes im evangelischen Begriff v o n der

K i r c h e " verwendet durchgängig die 2 . Auflage von Stahls Schrift über die Kirchenverfassung als Folie für die Darstellung der eigenen Position. Interessanterweise scheint Ritsehl erst die 2. Auflage zur Kenntnis g e n o m m e n zu haben, denn in den Studien v o r 1 8 6 2 fehlen die Bezüge auf Stahl. Z u den Entstehungsbedingungen der Schrift vgl. O. Ritsehl, Leben, Bd. 2 , 5 5 f . Z u r Kontinuität der ekklesiologischen Vorstellungen Ritschis vgl. schon O. Ritsehl, Leben, Bd. 2 , 2 2 1 , aber auch, aus der neueren Forschung, HANS GREWEL: Kirche und Gemeinde in der T h e o l o g i e Albrecht Ritschis, in: N Z S T h 11 ( 1 9 6 9 ) , 2 9 2 - 3 1 1 , 3 0 0 , sowie Kuhlmann, Ethik,

220. 14

S. oben, 5 1 .

57

Lehre von der Kirche angemessen zu fassen und dabei ebenso wie die anderen Neulutheraner auch das Bekenntnis als Wesen der Kirche darzustellen, klagt Ritsehl im Interesse des Glaubens den Primat einer theologischen Zugangsweise ein. Denn „die blos juristische Verhandlung des Verhältnisses von Kirche und Bekenntniß ist die weltliche, und die weltliche ist die ungläubige"1S. Ritsehl selbst möchte darum seine Ekklesiologie von dem Bewußtsein des einzelnen Gläubigen her entwickeln, näherhin von dessen Gewißheit, allein durch Gottes gnädiges Handeln „religiösen Zutritt zu Gott" 16 erlangen zu können. Die Ekklesiologie gründet so auf der Rechtfertigungslehre, die Ritsehl in seinen frühen Vorstudien als Zentrum aller systematisch-theologischen Erwägungen benannt hatte: „So ist für den activen Genossen der Kirche die Gewißheit der Rechtfertigung durch Christus, der im Voraus für die Gemeinde des neuen Bundes feststehenden Vergebung der Sünden, der religiöse Regulator des christlichen Selbstgefühls"17. Diese an Schleiermacher angelehnten Formulierungen drohen Ritsehl aber auf einen für ihn problematischen Weg zu führen18. Sie bergen in ihrem dem einzelnen Christenmenschen geltenden Heilszuspruch eine individualisierende Tendenz, die frömmigkeits- und mentalitätsgeschichtlich ihren Ausdruck in dem Bündnis des Protestantismus mit der Aufklärung und insbesondere mit dem wegen eben dieser individualisierenden Frömmigkeit von Ritsehl bekämpften Pietismus gefunden hat. Ritsehl versucht deshalb, diese Elemente schon im Ansatz zu kompensieren, und führt den Gedanken von der Rechtfertigung als dem „Regulator des christlichen Selbstgefühls" mit den Worten fort: „Niemand kann sich seiner als religiöses Subject bewußt werden außer in der religiösen Gemeinschaft. Denn die Religion ist [...] gar nicht anders vorstellbar, als in Gemeinschaft Mehrerer" 19 . Damit aber rückt Ritsehl konzeptionell nahe an Stahl heran, und seine scharfen Worte lassen erkennen, wie sehr er sich um Abgrenzung bemühen muß. Denn funktional korrespondiert Ritschis Formel, individuelle Heilserfahrung sei zwingend auf Gemeinschaft angewiesen, exakt dem Gedanken Stahls von der Kirche als einer organischen Anstalt, mit dem dieser der religiösen Individualisierung entgegenzutreten trachtete. Ritsehl freilich belegt seine These durch den Rückgriff auf die Reformatoren - auch das eine feinsinnige Polemik gegen Stahl, der ja gerade die Defizite des reformatorischen Kirchen15

ALBRECHT RITSCHL: Lieber das Verhältnis des Bekenntnisses zur Kirche: Ein Votum gegen

die neulutherischen Doctrinen ( 1 8 5 4 ) , wieder abgedruckt in: Ders.: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, hg. v. O t t o Ritsehl, Freiburg 1 8 9 6 , 1 - 2 4 , 1 0 (Hervorhebung im Original); vgl. ebd., 12. 16

Ritsehl, Begründung, 1 0 4 .

17

Ritsehl, Begründung, 1 0 4 .

18

Z u m Verhältnis Ritschis zu Schleiermacher, besonders zu der von Ritsehl negierten

Kontinuität der Vorstellungen zwischen Schleiermacher und ihm vgl. die detaillierte Gegenüberstellung von HEINRICH SCHOLZ: Kirche und Gemeinde in Schleiermachers und Ritschis Erlösungslehre, in: ThStKr 81 ( 1 9 0 8 ) , 8 4 - 1 3 8 . "

58

Ritsehl, Begründung, 1 0 4 .

begriffs benannt hatte. Die besondere Leistung der Reformatoren sieht Ritsehl darin, den konstitutiven Zusammenhang zwischen religiösem Selbstgefühl und religiöser Gemeinschaft erkannt zu haben: „Indem also die Reformatoren das Bewußtsein des subjectiven christlichen Lebens auf die rein religiöse Begründung in Gottes Gnade und die rein religiöse Normirung an dem von Gott aufgestellten Heilsmittler zurückführten, haben sie auch den rein religiösen Begriff von der durch Gottes Geist hervorgebrachten Gemeinschaft herstellen müssen. Ohne diese wäre die Neubildung der sogenannten individuellen Heilsordnung ziellos und wirkungslos geblieben. Deshalb ist auch der Gedanke von der Rechtfertigung des Gläubigen durch Christus bloß für sich nicht Princip der Reformation der Kirche, sondern nur in seiner untrennbaren Verbindung mit dem Gedanken von Kirche als der Gemeinschaft der von Gott Geheiligten"20. An diesem Gedankengang, von dem Ritschis Ekklesiologie ihren Ausgangspunkt nimmt, ist zweierlei bemerkenswert: Zum einen die redundante Verwendung der Vokabel „religiös", mit der der Autor unmißverständlich den eigenen Standpunkt von Stahls juristischer Vorgehensweise abheben möchte. Zum anderen die konsequente Einbindung des einzelnen in die Gemeinschaft, mit der Ritsehl die individualisierenden Tendenzen des Protestantismus zu kompensieren trachtet. Zusammen genommen ergeben beide Elemente eine Miniatur von Ritschis theologischem Denken 21 . Denn analysiert man die Gesamtkomposition seines dogmatischen Systems, wie es in den späteren Studien

20 Ritsehl, Begründung, 104f. Brieflich äußert sich Ritsehl gegenüber Theodor Link schon ein Jahr früher, 1868, in ähnlicher Weise: „[...] Wie kann denn der Gedanke der Rechtfertigung durch Christus im Glauben Hebel einer so entscheidenden Bewegung in der Kirche, Princip des Protestantismus sein, wenn nicht eine charakteristische Vorstellung von der Kirche gleich unmittelbar dabei ist, nämlich die von der Gemeinde oder Versammlung der Gläubigen [...]. Das Princip des Protestantismus ist das religiöse Selbstgefühl dessen, der im Glauben die Gerechtigkeit Christi als den Regulator seines Heilsbewußtseins und des Werthes seines Handelns aneignet in Reciprocität mit der Vorstellung von der Kirche nicht als einer Heilsanstalt der Kleriker, sondern als der von Gott durch sein Wort hervorgebrachten Gemeinde der Gläubigen" (zit. nach O. Ritsehl, Leben, Bd. 1, 51). Zum Zusammenhang von Rechtfertigung und Gemeinde vgl. ferner die präzise Interpretation bei Korsch, Glaubensgewißheit, 20-23. 21 ROLF SCHÄFER hat in seiner für die neuere Ritschiforschung maßgeblichen Arbeit „Ritschi. Grundlinien eines fast verschollenen dogmatischen Systems ( = B H T h 41), Tübingen 1968" allerdings zu zeigen versucht, daß die systematischen Entscheidungen, die Ritsehl in den Prolegomena fällt, kaum auf die materiale Ausarbeitung der einzelnen Themenkomplexe der materialen Dogmatik durchschlagen (ebd., 154ff.). Aus zweierlei Gründen kann diese These allerdings nicht wirklich überzeugen: Zum einen berücksichtigt Schäfer nicht den Stoffdruck der materialen Dogmatik, der in der konkreten Durchführung die programmatischen Vorentscheidungen stets zugunsten der Kontinuität mit der Tradition in den Hintergrund treten läßt. Zum anderen entspringt seine Position - wie schon Grewel, Kirche, 294f., richtig gesehen hat der ihm eigenen Tendenz zur Überkompensation der Barthschen Kritik an Ritsehl, so daß Schäfer nun seinerseits dazu neigt, die Christozentrik der Ritschlschen Systematik gegenüber anderen Weichenstellungen in den Prolegomena einseitig in den Vordergrund zu rücken.

59

„Rechtfertigung und Versöhnung"22, „Geschichte des Pietismus"23 sowie in dem ursprünglich als Lehrbuch für höhere Schulen konzipierten „Unterricht in der christlichen Religion"24 vorliegt, so kehren dieselben Konstruktionsprinzipien wieder, die schon die Auseinandersetzung mit Stahl bestimmen. Im Vergleich wird deutlich, wie sein gesamtes System bereits in der Studie über das Kirchenrecht präsent ist. Zunächst gilt das für den Standpunkt des Theologen und den spezifischen Ausgangspunkt der Theologie. Wenn Ritsehl die religiöse Grundhaltung so sehr hervorhebt, dann richtet sich das zunächst unmittelbar gegen den Juristen Stahl. In dessen Kirchenlehre meldet sich - so lautet der unausgesprochene Vorwurf - lediglich der Jurist zu Wort, der durch seine von außen kommende Betrachtungsweise den Gegenstand der Theologie verfehlt. Uber diesen direkten Angriff hinaus, den der „Polemiker von Natur und Erziehung"25 gegen Stahl erhebt, kommt hier zum Ausdruck, was Ritsehl später in „Rechtfertigung und Versöhnung" über den Standpunkt des Theologen detailliert ausführt: Er soll sich als „Gottesgelehrter" ausweisen können, und das bedeutet, vom Willen Gottes, nicht vom Vermögen des Menschen aus zu argumentieren. Wer „christliche Theologie mit der vorgeblichen natürlichen Gotteserkenntnis, den Augustinischen Vernunftschlüssen über die Erbsünde und den Anselmischen Vernunftschlüssen über die Art der Erlösung unterbaut"26, wird ihrem Gegenstand nicht gerecht. Dieser Vorwurf trifft nicht nur Repräsentanten der Alten Kirche und des Mittelalters, sondern auch den späten Melanchthon, seine Nachfolger in der alt- und neulutherischen Orthodoxie und die spekulative Theologie27. Statt auf Vernunftschlüsse „uninteressierten wissenschaftlichen

22

ALBRECHT RITSCHL: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Bd. 1 :

Die Geschichte der Lehre, Bonn 1 8 7 0 ; 2 1 8 8 2 ; Bd. 2 : Der biblische Stoff der Lehre, Bonn 1 8 7 4 ; 21882; 31888; 23

Bd. 3 : Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn, 1 8 7 4 ; 2 1 8 8 3 ;

31888.

ALBRECHT RITSCHL: Geschichte des Pietismus, Bd. 1: Geschichte des Pietismus in der

reformirten Kirche, Bonn 1 8 8 0 ; Bd. 2 : Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 1 7 . und 18. Jahrhunderts, 1. Abt., Bonn 1 8 8 4 ; Bd. 3 : Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts, 2. Abt., Bonn 1 8 8 6 . 24

ALBRECHT RITSCHL: Unterricht in der christlichen Religion ( 1 8 7 5 ) , in: Ders.: Die Christli-

che Vollkommenheit. Ein Vortrag; Unterricht in der christlichen Religion, kritische Ausgabe, hg. von Cajus Fabricius, Leipzig 1 9 2 4 , 2 1 - 1 1 6 . 25

So charakterisiert sich Ritsehl selbst, O. Ritsehl, Leben, Bd. 2, 2 7 4 .

26

ALBRECHT RITSCHL: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Bd. 3 :

Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn 2 1 8 8 3 , 8. 27 Vgl. ALBRECHT RITSCHL: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Bd. 3 : Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn 3 1 8 8 8 , 5 , 7 , 17 u. ö. Wenn nicht anders angegeben, wird im folgenden nach der dritten Auflage von Rechtfertigung und Versöhnung zitiert.

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Erkennens" zu setzen28, könne der Theologe seinen Ausgangspunkt nur bei der religiösen Erfahrung des durch das rechtfertigende Handeln Christi vermittelten unbedingten Vertrauens nehmen. Ritsehl weiß sich hier einig mit Luthers berühmter Definition aus dem Großen Katechismus, einen Gott zu haben sei nichts anderes „quam illi ex to to corde fidere et credere" 29 , und auch mit der Augsburgischen Konfession. „Qui seit se per Christum habere propitium patrem, is vere novit Deum" zitiert Ritsehl zustimmend CA XX 30 und führt als Beleg für die Unzulänglichkeit einer rein rational basierten Erkenntnis die Apologie an: „humanus animus sine spiritu saneto aut securus contemnit judicium Dei, aut in poena fugit et odit iudicantem Deum." 31 Was für den Theologen gilt, trifft ebenso für die Theologie selbst zu. Ritsehl fordert angesichts seiner Kritik am Pietismus interessant genug! - mit Spener, die Theologie solle „ihre Herkunft aus dem heiligen Geiste so feststellen, daß wer den Willen Gottes thun will, die Wahrheit der Verkündigung Jesu Christi erproben wird (Joh. 7,17). [...] Dieser Standpunkt aber entspricht auch der Vorschrift, daß die Theologie aus dem heiligen Geiste gebildet werde." 32 Nicht vom Menschen, sondern von Gott her muß die christliche Theologie entworfen werden, in diese Quintessenz mündet Ritschis Rekonstruktion des klassischen Lehrstücks vom Primat der theologia revelata. Wenn Ritsehl bei der Charakteristik der Theologie alle drei trinitarischen Personen nennt, so ist das mehr als nur ein theologisches Sprachspiel; hier verbindet sich die Forderung nach einer religiös-theologischen Zugangsweise zum Gegenstand der Theologie mit dem zweiten Fixpunkt des Ritschlschen Systems, der Gemeindebezogenheit des einzelnen Christen. So wie die Trinitätslehre für die Verbindung von Individualität und Sozialität steht und sich mit Blick auf die Heilsökonomie sagen läßt, daß der Vater nur durch den Sohn erkannt wird, betont Ritsehl seit seinen frühen Veröffentlichungen zur Ekklesiologie die Komplementarität von Individuum und Gemeinschaft. In der Einleitung zu „Rechtfertigung und Versöhnung" kann er diese beiden Gesichtspunkte direkt miteinander verbinden: „Kann man aber Gott nur richtig erken-

28 Diese Formel verwendet Ritsehl in Rechtfertigung und Versöhnung wiederholt zur Kennzeichnung der von ihm abgelehnten metaphysikorientierten Zugangsweise zur Theologie sowie zur Abgrenzung der Theologie von der Philosophie. Vgl. dazu bes. Rechtfertigung III, 6, 376f. und die detaillierte Ausarbeitung des Gegensatzes in Rechtfertigung III, 195f. 29 BSLK 5 6 0 , vgl. Ritsehl, Rechtfertigung III, 6. 30 BSLK 79, vgl. Ritsehl, Rechtfertigung III, 6; Ergänzend fügt Ritsehl noch ein Zitat aus AC IV an: „[...] quia per Christum acceditur ad Patrem, et aeeepta remissione peccatorum vere iam statuimus nos habere Deum, hoc est, nos D e o curae esse, invocamus, agimus gratias, timemus, diligimus", BSLK 188. 31 AC IV, BSLK 166. Ritsehl nennt darüber hinaus noch Melanchthons Formulierung „[...] cum ratio nihil faciat nisi quaedam civilia opera, interim neque timeat Deum, neque vere credat se D e o curae esse", AC IV, BSLK 163, vgl. Ritsehl, Rechtfertigung III, 7. 32 Ritsehl, Rechtfertigung III, 8.

61

nen, indem man ihn durch Christus erkennt, so kann man ihn auch nur erkennen, indem man sich in die Gemeinde der Gläubigen einschließt"33. Aus dieser Perspektive erklärt sich auch, warum Ritsehl in das bereits erwähnte Zitat aus AC IV hinter „Spiritus sanetus" den Zusatz „außerhalb der Gemeinde der Gläubigen" einfügt34. Gotteserkenntnis und Gemeinde bilden ein unhintergehbares Reziprozitätsverhältnis. Glauben bestimmt Ritsehl darum auch nicht als einen primär individuellen Akt oder eine primär individuelle Beziehung, sondern vielmehr als die „subjective Erscheinung der Gemeinschaft mit Christus"35. Er bemüht sich also auch hier, individualistischen Tendenzen schon im Ansatz entgegenzutreten. Der Rückbindung des Glaubens an die Gemeinschaft kommt dabei insofern besondere Bedeutung zu, als der Göttinger Systematiker bei seiner Begründung der Theologie als Wissenschaft in Abgrenzung gegen jede Metaphysik erneut auf Gedanken zurückgegriffen hatte, die die Gefahr einer individualistischen Engführung des Theologieverständnisses in sich bargen. Seit der 2. Auflage des dritten Bandes von „Rechtfertigung und Versöhnung" 1883 erweitert Ritsehl die methodische Grundlegung der Theologie um die „Werturteilslehre"36. Im Unterschied zu jeder metaphysischen Theologie, die gleichsam neutral ihre Gegenstände spekulativ zu erfassen sucht, betont Ritsehl in Aufnahme von Schleiermachers „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit", Gott könne nur in seinen Wirkungen, in seinem im Gefühl rezipierten Wert für uns erkannt werden. „Außerhalb dieses Werthurtheils durch den Glauben findet keine Erkenntniß Gottes statt"37. Die Werturteile, „welche sich auf die Stellung des Menschen zur Welt beziehen, und Gefühle von Lust oder Unlust hervorrufen, in denen der Mensch entweder seine durch Gottes Hilfe bewirkte Herrschaft über die Welt genießt, oder die Hilfe Gottes zu jenem Zweck schmerzlich entbehrt"38, bilden den Gegenstand religiösen Erkennens und können so zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Theologie werden. Nun ist aber nach Ritsehl gerade das Gefühl ein höchst individueller Akt, denn es ist insofern die „Grundfunktion des Geistes", „als in ihm das Ich ursprünglich für sich gegenwärtig ist" 39 . Diese individualisierende Tendenz möchte Ritsehl kompensieren und verweist auf den Gemeinschaftscharakter, der jeder Religion eigen sei; und wie er den Glauben als die bloß subjektive Seite der Gemein33

Vgl. Ritsehl, Rechtfertigung III, 7 .

34

Ritsehl, Rechtfertigung III, 7 ; H e r v o r h e b u n g nicht im Original. Z u r Funktion der Ge-

meinde für den individuellen Glauben vgl. Korsch, Glaubensgewißheit, 3 7 - 4 1 . 35

Ritsehl, Rechtfertigung III, 5 4 5 ; vgl. zu diesem Z u s a m m e n h a n g bes. Kuhlmann, Ethik, 7 7 .

36

In der Werturteilslehre nimmt Ritsehl H e r r m a n n Lotzes werttheoretische U m d e u t u n g des

Idealismus auf, vgl. dazu v o n Soosten, Sozialität, 1 0 3 , sowie ausführlich PAUL WRZECIONKO: Die philosophischen Wurzeln der T h e o l o g i e Albrecht Ritschis. Ein Beitrag z u m Problem des Verhältnisses von T h e o l o g i e und Philosophie im 1 9 . J a h r h u n d e r t ( = T B T 9 ) , Berlin 1 9 6 4 . 37

Ritsehl, Rechtfertigung III, 2 0 2 .

38

Ritsehl, Rechtfertigung III, 1 9 5 .

35

Ritsehl, Rechtfertigung III, 1 9 4 .

62

schaft mit Christus bezeichnet, kann er nun auch das Gefühl als die lediglich subjektive Seite der religiösen Gemeinschaft interpretieren. Es ist „der individuelle Ertrag, oder die individuelle Voraussetzung, mit welcher die Einzelnen an der religiösen Gemeinschaft betheiligt sind"40. Was für den Glauben selbst und die Gegenstände religiöser Erkenntnis gilt, nämlich daß sie konstitutiv an die Gemeinschaft gebunden sind, expliziert Ritsehl noch einmal für die Theologie. Die Formel, niemand könne sich außerhalb einer Gemeinschaft als religiöses Subjekt erfahren, bedeutet dann: „Man kann auch Gott, die Sünde, die Bekehrung, das ewige Leben im Sinne des Christenthums nur erkennen und verstehen, sofern man mit Bewußtsein und Absicht sich in die Gemeinde, die Christus gestiftet hat, einrechnet. Diesen Standpunkt einzunehmen ist der Theologie geboten, und nur so kann es gelingen ein System der Theologie auszuführen, welches diesen Namen verdient"41.

2. Gemeindeorientierung und Individualismuskritik Grundkoordinaten für Ritschis Theologie

als

Theologie kann nur vom rechtfertigenden Christusglauben her entworfen werden. Dieser aber kann nur in der Gemeinde erfahren werden. Seine Theologie ist „Gemeindetheologie" 42 . Auf diese Formel läßt sich Ritschis theologisches Programm bringen43. Heinrich Scholz summiert darum schon 1908: „Ritschis Auffassung vom Christentum ist ganz auf den Grundton der Gemeinde gestimmt. Die Schleiermacherschen Obertöne, in denen das Individuum sich regt, haben nach seiner Darstellung den reinen Klang des Christentums nur verdorben"44. Angesichts dieser Gemeindeorientierung hat Joachim von Soosten mit Recht darauf hingewiesen, daß die ältere, maßgeblich durch die Geschichtssicht der Dialektischen Theologie und deren Klassifizierung der Ritschl-Schule45 beeinflußte Deutung der Ritschlschen Theologie selbst als 40

Ritsehl, Rechtfertigung III, 1 8 9 . Die Parenthese, mit der Ritsehl seine Definition ergänzt,

zeigt, daß er letztlich doch eine gewisse Vorordnung des Individuums vor der Gemeinde zugestehen muß. O b m a n jedoch daraus bereits einen Individualismus Ritschis ableiten kann, wie das die Ausführungen von von Soosten nahelegen, scheint fragwürdig, denn eine derartige Interpretation ignoriert das dezidierte Interesse

der A r g u m e n t a t i o n Ritschis und kann sich

letztlich nur auf die schwer zu hinterfragende Tatsache stützen, daß jede Erkenntnis in ihrem Kern nur individuell rezipiert werden kann. Vgl. dazu v o n Soosten, Sozialität, 1 0 2 f . , 1 2 8 f . 41

Ritsehl, Rechtfertigung III, 4 .

42

MANUEL ZELGER: Modernisierte Gemeindetheologie. Albrecht Ritsehl ( 1 8 2 2 - 1 8 8 9 ) , in:

Friedrich Wilhelm G r a f ( H g . ) : Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 2 / 1 , Gütersloh 1992, 182-204. 43

Vgl. Ritschis Bild v o m Christentum als einer Ellipse, die zwei Brennpunkte hat, in: Ders.,

Rechtfertigung III, 1 1 . 44

Scholz, Kirche 1 2 9 .

45

So urteilt etwa Karl Barth pauschal über das theologische Wirken der Ritschl-Schule: „Das

63

einer dem Individuum und dem Subjektivismus verfallene Epoche der Korrektur, zumindest der Differenzierung bedarf: Ritschis System sei, so variiert von Soosten die Formel von Scholz, auf den „Grundton der Individualismuskritik" gestimmt46. Diese Tonart zieht sich von der theologischen Prinzipienlehre bis hin zur Ekklesiologie und Ethik durch, ja mitunter überspannt Ritsehl das dem Individualismus entgegenlaufende soziale Moment - bedingt durch seine harsche Frontstellung gegenüber einem auf das eingebildete Privatverhältnis des religiösen Mystikers fixierten Pietismus47 - und handelt sich dadurch den Vorwurf des Katholisierens48 ein. In der Gemeindebezogenheit findet Ritsehl die methodische Grundlegung für seine theologische Arbeit; sie bildet gleichzeitig inhaltlich das Spezifikum seiner Ausarbeitung der traditionellen Lehrstücke, insbesondere der Rechtfertigungslehre, aber auch der Christologie und der Ekklesiologie49. Der Gemeindebezug wird zum methodischen Ausgangspunkt, weil sich Ritsehl durch den Rekurs auf die christliche Gemeinde in der Lage sieht, das Schriftprinzip als regulatives Ideal für die Theologie zu restituieren, ohne den bisherigen Irrwegen der Schriftauslegung anheim zu fallen50. Namentlich drei solcher Irrwege führt Ritsehl an: die Orientierung an einem kirchlichen Lehrgesetz, an der religiösen Erfahrung individueller Inspiration und der Vernunft. „In der Orthodoxie legte man die Schrift nach der kirchlichen Uberlieferung, im Rationalismus nach der gewöhnlichen Vernunft aus, und der Anspruch auf pneumatische Exegese, welcher in der Bengel'schen Schule umgeht, bezieht sich auf nichts anderes, als daß die technischen Mittel der Auslegung durch eine unmeßbare individuelle Inspiration gekrönt werden sollen"51. Um weder dem individualistischen Zugang des Pietismus noch dem starren Autoritäts-

Ende der krampfhaften Konzentration, die die Dogmatik dieser Schule für eine Weile eindrucksvoll machte, war doch eine individualistische Vereinfachung und Verkürzung aller Fragen, die der modernen evangelischen Dogmatik [...] ein eigentümlich journalistisches Gepräge gegeben hat (KARL BARTH: Die Kirchliche Dogmatik, Bd. 1/1: Die Lehre vom Wort Gottes, München 1 9 3 2 , 2 9 3 ) . 46

von Soosten, Sozialität, 9 5 .

47

Vgl. etwa Ritsehl, Rechtfertigung III, 5 2 6 . 5 6 2 - 5 6 6 . Im Kern lautet der Vorwurf, den

Ritsehl gegen den individualisierenden Züge des Pietismus erhebt und den er in seiner „Geschichte des Pietismus" zu belegen sucht, hier werde gerade das „Gegenteil der evangelischen Heilsgewißheit" erreicht (Ritsehl, Geschichte, Bd. 1, 4 4 5 ) . 48

Vgl. O. Ritsehl, Leben, Bd. 2, 2 2 3 .

49

Schäfer hat diese Grundtendenz der Ritschlschen Theologie einer ausgiebigen Kritik

unterzogen. Er wirft Ritsehl vor, über der Vorordnung der Gemeinde vor den einzelnen die individuelle Gotteserfahrung vernachlässigt zu haben - im Unterschied zu Joachim von Soosten, der vor dem Hintergrund seiner Bonhoeffer-Interpretation Ritschis Einschränkung des Individualismus durchaus zu würdigen weiß. 50

Vgl. zum Folgenden insbesondere die detaillierte Analyse von Ritschis Umgang mit der

Schrift bei Kuhlmann, Ethik, 7 1 - 7 6 . 51

64

Ritsehl, Rechtfertigung II, 10.

glauben der Orthodoxie oder der eingeschränkten Perspektive rationalistischer Schriftauslegung anheimzufallen, bindet Ritsehl das Schriftzeugnis an die Gemeinde, und zwar sowohl hinsichtlich seiner historischen Zuverlässigkeit als auch im Hinblick auf seine gegenwärtige Verwendung. So wird die Gemeinde als Urgemeinde Kriterium für die Kanonizität und die unterschiedliche Wertigkeit der biblischen Schriften; als gegenwärtige Gemeinde der Christen ist sie, analog zur Definition der Theologie, Garantin für eine sachgemäße Exegese. Im Hintergrund dieser Überlegungen Ritschis steht die Abkehr von der spekulativen Geschichtsauffassung seines Tübinger Lehrers Ferdinand Christian Baur52, seine Ablehnung der Metaphysik53 und die Hinwendung zu einem positivistischen, an der Empirie orientierten theologischen Denken, die schließlich auch für seine Ekklesiologie bestimmend wird54. Für die Methodik der Theologie bedeutet diese Entscheidung jedoch zunächst, nicht bei einem wie immer gearteten Gottesgedanken einzusetzen, sondern bei dem empirisch-historischen Zeugnis von der Person Jesu. Zunächst müsse, führt Ritsehl in „Theologie und Metaphysik" unter kritischer Abgrenzung zu Luthardt aus55, „nach biblisch-theologischer Methode ein Bild der Person oder des Wirkens Christi entworfen" werden. Erst dann könnten „aus diesem Erkenntnisgrunde als der für die christliche Gemeinde maßgebenden Offenbarung Gottes alle Glieder der christlichen Welt- und Lebensanschauung und unter ihnen zuerst der nothwendige Begriff von Gott" erkannt werden56. Dieses Postulat, das zugleich den inneren Werdegang Ritschis vom Exegeten zum" Systematiker widerspiegelt, führt ihn dazu, den Schriften die höchste Autorität zuzumessen, die „der Stiftungsepoche der Kirche nahe stehen", da sich hier die genauesten Kenntnisse über Jesus gewinnen lassen. Solches Vorgehen wird zudem dadurch legitimiert, daß Ritsehl generell in der Stiftergestalt das Wesen einer Religion am reinsten verwirklicht sieht57. Ist schon durch die historische Nähe ein enger Bezug von Schrift und Gemeinde hergestellt, so wird diese Verbindung durch die systematischen Erwägungen über den Stifter der christlichen Religion zusätzlich intensiviert. Jesus Christus ist nämlich in keiner Weise von dem Zweck seines Handelns, seinem „Erfolg" abzulösen, und dieser besteht in der Gründung der Gemeinde, innerhalb derer der einzelne des durch Christus offenbarten Heils als Zeichen der Liebe Gottes teilhaftig wer5 2 Vgl. zu d e m von Ritsehl als schmerzlich e m p f u n d e n e n Bruch mit B a u r O. Ritsehl, Leben, bes. 2 7 1 - 2 7 8 . 5 3 S. dazu ALBRECHT RITSCHL: T h e o l o g i e u n d Metaphysik, Bonn 2 1 8 8 7 . 5 4 Vgl. dazu insbes. v. Scheliha, Protestantismus, 7 8 - 8 4 . 5 5 Vgl. dazu Luthardts Reaktion in Luthardt, Beurtheilung, bes. 6 2 5 - 6 3 8 . Luthardt kritisiert scharfsinnig die o f f e n e Flanke der Ritschlschen G e d a n k e n , nämlich die geradezu naiv-positivistische Vorstellung, anhand der biblischen Überlieferung ein objektives Bild der Gestalt des historischen J e s u s zeichnen zu können. 5 6 Ritsehl, T h e o l o g i e , 4. 5 7 Vgl. Ritsehl, Rechtfertigung II, 13.

65

den kann58. Christus, so lautet die Schlußfolgerung, ist uns geschichtlich als der Urheber der christlichen Gemeinde gegeben59, und gleichzeitig kann man „den vollen Umfang seiner geschichtlichen Wirklichkeit [...] nur aus dem Glauben der christlichen Gemeinde an ihn erreichen"60. Die Schrift als alleinige Quelle, Christus als der Stifter der christlichen Religion und die Gemeinde als Ergebnis von Christi Heilshandeln bilden ein Amalgam, das in seiner wechselseitigen Ergänzung Grundlage und Norm für die christliche Theologie abgibt. Noch vor der Ausarbeitung von „Rechtfertigung und Versöhnung" bringt Ritsehl 1868 diese Grundentscheidungen für seine Theologie in Briefen an zwei Freunde zum Ausdruck, an den Jenenser Alttestamentier Ludwig Diestel61, dem er aus der gemeinsamen Bonner Zeit freundschaftlich verbunden war, und an Theodor Link, der, aus Königsberg stammend, bei Ritsehl in Bonn studiert hatte und zu jener Zeit Pfarrer in Koblenz war62. In seinen Briefen fordert der Göttinger Ordinarius in einer später so nicht mehr erreichten Dichte und Plastizität Theologie und Kirche auf, „der Idee der Gemeinde [...] constitutive Bedeutung für die gesamte Lehrauffassung" zu verschaffen. „Das wirkt auf die Lehre von der Trinität und der Sünde und von Christus so gut ein, wie auf die Versöhnungsidee und die Ordnung des christlichen Lebens. Aber ehe dies nicht in die Predigt eingeführt wird [...] ist mir der Gottesdienst verleidet. Zu Weihnachten will ich hören, daß wir die άνθρωποι ευδοκίας sind, die erwählte Gemeinde dieses Kindes, und ich will in Jubel versetzt werden dadurch, daß die Höhe und Unschuld dieses Kindes auf uns, die Gemeinde, ausstrahlt, sei es auch nur in dem dramatischen Gemälde, das sich in der Nachtbeleuchtung von der Tageswirklichkeit unserer Sünde und unseres Elends abhebt. Am Karfreitag will ich hören, daß wir die Gemeinde sind, die durch die vollbrachte Versöhnung gestiftet ist, zu Ostern,

58

Vgl. Ritsehl, Rechtfertigung III, 5 3 6 .

59

Die Abgrenzung gegenüber einer auf die Person Christi fixierten Leben-Jesu-Christologie

wie a u c h gegenüber einer bloßen Vorbildchristologie ist deutlich: Beide verkennen den spezifisch religiösen W e r t der Offenbarung in Jesus Christus und verkürzen die Christologie zur Anthropologie. 60

Ritsehl, Rechtfertigung III, 3.

61

Z u Diestel vgl. EMIL KAUTZSCH: Art. Diestel, Ludwig, in: R E 3 6 , Leipzig 1 8 9 9 , 6 4 7 - 6 5 0 .

61

Link m a c h t e sich später Ritschis Plädoyer für die Einbindung des einzelnen in die Ge-

meinde zu eigen. Vgl. dazu bes. seine Auseinandersetzung mit dem G e d a n k e n der natürlichen Religion, deren Renaissance in der englischen und deutschen Aufklärung Link 1 8 7 9 für „die 2 0 0 - j ä h r i g e Leidens- und Schmerzensgeschichte der christlichen K i r c h e " verantwortlich macht. Link formuliert dagegen mit Ritsehl, Christus sei als der „Stifter einer neuen religiösen Gem e i n d e " aufgetreten, „nicht als Weisheitslehrer ins Allgemeine". „Will man seine F r ü c h t e ganz und voll haben, mit der G e m e i n d e J e s u Christi m u ß man ihn loben und lieben, mit der Gemeinde, die zwar nicht einfach identisch ist mit der in den Gottesdiensten sich bethätigenden Kirche, zu der wir aber d o c h nicht anders g e k o m m e n sind und der wir anzugehören uns nirgends so bewußt werden, als in dieser"; THEODOR LINK: Ueber natürliche Religion, M ö n chengladbach und Leipzig 1 8 7 9 , 3 5 . 2 6 . 3 6 .

66

daß wir die Gemeinde sind, die Christus mit sich aus dem Tod geführt und mit sich in den Himmel gesetzt hat, um durch sie die Welt zu beherrschen und mit sich zu erfüllen, zu Pfingsten endlich, daß wir die Gemeinde sind, durch deren bekennende Selbstthätigkeit alles begonnen wird, was Christus in dieser Welt erreichen soll"63. Die hier so sprachkräftig formulierte Zentralstellung des Gemeindegedankens reflektiert er in seinem Brief an Link noch einmal im Blick auf die methodischen Konsequenzen für die eigene Theologie und kann erleichtert berichten: „Ich habe jetzt eine große Sicherheit in meinem theologischen Bewußtsein gegenüber allen Parteien, seitdem mir klar geworden, daß die Idee von der Versöhnung durch Christus und die Idee von der erwählten Gemeinde in directester Wechselwirkung stehen, daß namentlich jene nicht einmal vorgestellt werden kann außer dieser Beziehung. Damit habe ich die Macht über alle, welche die Kirche entweder mit der Secte und Clique oder mit der Schule (orthodoxer oder häretischer) vertauschen, mögen sie das Wort Kirche noch so stark im Munde führen, und habe die Macht über alle, welche mit confusen Schlagwörtern in Geschichtsforschung wie Dogmatik den Sisyphusstein wälzen"64. Geradezu emphatisch läßt Ritsehl sogar die rechte Stellung der Kirche im Bewußtsein der Christen und in der Theologie zum articulus stands et cadentis ecclesiae werden: „Wir bringen es nicht eher zur evangelischen Kirche und überwinden nicht eher die pietistische Secte, sowie die lutherische und die radicale Schule, als bis wir die Vorstellung von der Kirche in unser principielles Glaubensbewußtsein a priori einschließen und sie in der Theologie in allen Lehren als Factor direct oder indirect in Anschlag bringen. Das ist mein Bekenntnis."65 In der materialen Ausarbeitung der Rechtfertigungslehre, der Christologie und der Ekklesiologie löst Ritsehl die aus den methodischen Überlegungen gewonnene Zentralstellung des Gemeindegedankens ein. In der Rechtfertigungslehre bleibt er auch in seinem systematischen Hauptwerk der frühen Grundentscheidung treu, möglichen individualisierenden Tendenzen dieses Lehrstücks zu wehren. Die Rechtfertigung ist ein Geschehen zwischen den einzelnen Sündern und Gott dem Vater, das konstitutiv auf die Gemeinde bezogen ist: „Die Rechtfertigung oder Versöhnung, so wie sie positiv an die geschichtliche Erscheinung und Wirksamkeit Christi geknüpft ist, bezieht sich in erster Linie auf das Ganze der von Christus begründeten religiösen Gemeinde, welche das Evangelium von Gottes Gnade in Christus als das nächste Mittel ihres Bestandes aufrechterhält, und auf die Einzelnen demgemäß, daß dieselben durch den Glauben an das Evangelium sich dieser Gemeinde ein-

63 64 65

Brief Ritschis an Diestel vom 2 . 1 . 1 8 6 8 , zit. nach O. Ritsehl, Leben, Bd. 2, 48f. Brief Ritschis an Link vom 1.4.1868, zit. nach O. Ritsehl, Leben, Bd. 2, 50. Brief Ritschis an Diestel vom 2 9 . 3 . 1 9 6 8 , zit. nach O. Ritsehl, Leben, Bd. 2, 52f.

67

reihen."66 Entsprechende Formulierungen kehren immer wieder67, so daß Otto Ritsehl summierend feststellen kann: „Daß die Rechtfertigung ihr nächstes Object an der Gemeinde Christi habe, und daß demgemäß die Gründung dieser Gemeinde und die Stiftung der Sündenvergebung der identische Ertrag des gesamten Lebenswerkes Christi sind, ist das abschließende Ergebnis, zu welchem Ritsehl die Lehre von der Rechtfertigung entwickelt hat." 68 Die Christologie entwirft Ritsehl im Gegensatz zur überkommenen ZweiNaturen-Lehre nicht „von oben herunter"69, sondern in der Tradition von Melanchthons Formulierung aus den Loci von 1521 „hoc est Christum cognoscere, beneficia eius cognoscere"70 vom Wirken Jesu Christi für die Gemeinde her71. Im Gegensatz zu einer metaphysikorientierten, dogmatischen Lehrbildung, die zunächst auf dem Wege „uninteressierten Erkennens" die Gottheit Christi festzustellen versucht, ehe sie von der Wirkung dieser Person auf die Menschen handelt, konstatiert Ritsehl, daß wir „die Gottheit Christi als ein an seinem Wirken offenbares Attribut verstehen müssen, wenn es überhaupt verstanden werden soll." 72 „Ist aber Christus durch das, was er zu meinem Heil gethan und gelitten hat, mein Herr, und ehre ich ihn als meinen Gott, indem ich um meines Heiles willen der Kraft seiner Wohlthat vertraue, so ist das ein Werthurteil directer Art. Das Urtheil gehört nicht in das Gebiet des uninteressirten wissenschaftlichen Erkennens, wie die chalcedonensische Formel."73 Christologie und Soteriologie rücken so aufs engste zusammen, genauer: die traditionellen Bestandteile der Christologie, die Lehre von Christi Person, Amt und Ständen werden von der Soteriologie her entworfen. Nur aus der Analyse seines Handelns als Versöhner, nicht durch metaphysische Spekulation kann die Gottheit Jesu Christi gewonnen werden; und wieder ist Ritsehl darum bemüht, diese Erkenntnis an die Gemeinde rückzubinden: „Die theologische Lösung des Problems der Gottheit Christi wird also an einer Analyse des Wirkens Christi zum Heile der Menschheit in Gestalt seiner Gemeinde zu begründen sein."74 66

Ritsehl, Rechtfertigung III, 1 3 2 .

67

Vgl. etwa Ritsehl, Rechtfertigung III, 1 8 2 f : „ D e m g e m ä ß [...] wird die individuelle Heils-

gewißheit aus der Rechtfertigung in d e m Vertrauen auf G o t t von d e m erlebt, w e l c h e r sich durch seinen Glauben an Christus in die Gemeinde der Gläubigen einreiht." 68

O. Ritsehl, Leben, Bd. 2 , 2 2 1 .

69

Ritsehl, Rechtfertigung III, 3 7 7 .

70

PHILIPP MELANCHTHON: Loci c o m m u n e s 1 5 2 1 . Lateinisch-Deutsch. Übersetzt und mit

k o m m e n t i e r e n d e n A n m e r k u n g e n versehen von H o r s t G e o r g P ö h l m a n n , Gütersloh 1 9 9 3 , 2 2 . 71

In „Theologie und M e t a p h y s i k " beruft sich Ritsehl direkt auf M e l a n c h t h o n , vgl. Ritsehl:

Theologie, 5 6 . 72

Ritsehl, Rechtfertigung III, 3 7 7 .

73

Ritsehl, Rechtfertigung III, 3 7 6 ; zum Vorwurf des „uninteressierten E r k e n n e n s " vgl. oben,

51. 74

Ritsehl, Rechtfertigung III, 3 9 3 ; Hervorhebungen nicht im Original. - M i t dieser p r o g r a m -

matischen Formulierung grenzt sich Ritsehl nicht nur gegen die klassische Christologie in der

68

Von dem hier eingenommenen Standpunkt aus wird auch die überkommene Unterscheidung der beiden Stände Christi hinfällig. Wieder gilt der Grundsatz, nur von der „geschichtlichen Lebenserscheinung" Christi könne eine Aussage über den Erhöhten getroffen werden, und so fallen letztlich beide Stände in eins. „Denn nur begrifflich bilden dieselben einen Gegensatz; sachlich muß alles, was in den status exaltationis fällt, als Fortwirkung der entsprechenden Glieder des status exinanitionis vorgestellt werden, wenn es überhaupt unter eine deutliche Vorstellung tritt" 75 . Der Konzentration auf die beiden Fixpunkte der Gemeinde und des Wirkens entspricht schließlich auch Ritschis Rekonstruktion der Amterlehre. Ihr gilt sein besonderes Interesse, bringt sie doch in hervorgehobenem Maße die Wirksamkeit Jesu Christi zum Ausdruck. Dieser Umstand, so hebt Ritsehl hervor, habe schon die Reformatoren dazu geführt, die auf Eusebius von Caesarea zurückgehende Amterlehre wirkmächtig in den Mittelpunkt der Christologie zu stellen. In seiner eigenen Ausarbeitung des officium Christi modifiziert Ritsehl die wohl auf Oslander zurückgehende Dreiteilung des Amtes76 und fokussiert die Darstellung auf das munus regale hin, denn hier werde gerade der Gemeindebezug des Wirkens Christi deutlich. Der grundlegenden Weichenstellung seiner Christologie entsprechend, der zufolge alle Prädikate des erhöhten zuerst vom irdischen Christus ausgesagt werden müssen, ist Ritsehl darum bemüht, durch Rekurs auf die ursprüngliche Lehre Luthers belegen zu können, daß dieser gerade das munus regium als ein Amt des irdischen Christus verstanden habe. Während in der lutherischen Theologie der Folgezeit die Tendenz bestanden habe, zwar das munus propheticum und das munus sacerdotale dem irdischen wie dem erhöhten Christus zuzuschreiben, das munus regium aber auf den Erhöhten zu beschränken, lobt Ritsehl ausdrücklich anderslautende Bestrebungen in der calvinistisch-puritanischen Tradition77. Mit diesem Zeugnis im Hintergrund ist für Ritsehl nun der Weg frei, das königliche Amt des irdischen Christus als dasjenige zu behaupten, Nachfolge des Chalzedonense ab, sondern auch gegen alle Versuche einer auf die Person Christi fixierten Leben-Jesu-Christologie wie einer bloßen Vorbildchristologie. Beide argumentieren zwar nicht v o n einer metaphysischen Spekulation her, aber sie verkennen nun umgekehrt die fundamentale Differenz zwischen M e n s c h und G o t t und negieren so den spezifisch religiösen W e r t der Offenbarung in Jesus Christus. Die Christologie wird hier zur A n t h r o p o l o g i e : „Die Vertreter der .Religion Jesu' [...] übersehen [...], daß Jesus sich gerade der N a c h a h m u n g entzieht, indem er als der Urheber der Sündenvergebung sich seinen J ü n g e r n gegenüberstellt" (ebd., 2 . ) . Z u r Abgrenzung Ritschis gegenüber anderen christologischen Entwürfen vgl. Kuhlmann, Ethik, 82f. 75

Ritsehl, Rechtfertigung III, 4 0 7 . Z u dieser Denkfigur vgl. ebd. 3 8 3 : „ D e n n was Christus

nach seiner ewigen Bestimmung ist und g e m ä ß seiner E r h ö h u n g zu G o t t auf uns wirkt, w ä r e für uns gar nicht erkennbar, wenn es nicht auch in seinem zeitlich-geschichtlichen Dasein wirksam wäre". 76

So: WOLFHART PANNENBERG: Grundzüge der Christologie, Gütersloh 6 1 9 8 2 , 2 1 8 f .

77

Vgl. Ritsehl, Rechtfertigung III, 4 0 0 - 4 0 3 .

69

„welches ihm selbst als die Hauptsache gilt" 78 . Dem munus regale sind die beiden anderen Amter funktional zugeordnet, selbst aber zielt es allein auf die Gründung der Gemeinde: „Das königliche Wirken Christi findet seine Erscheinung nur in seiner deutlichen Absicht, durch Handeln und Reden die Gemeinde des Gottesreiches zu gründen und auf ihr Ziel hin zu leiten." 7 ' An die Ämterlehre fügt Ritsehl noch eine Überlegung an, die wichtige Hinweise für die ihm eigentümliche Ausarbeitung der Ekklesiologie gibt. Ritsehl konstatiert, die Übersetzung „Amt" für das lateinische „officium" sei unzureichend, da der deutsche Begriff „Amt" „einen besonderen Beruf zur Verwirklichung einer Rechtsgemeinschaft, oder einer sittlichen Gemeinschaft unter den Bedingungen des Rechtes" 8 0 bezeichne. Ritsehl lehnt jedoch eine Einordnung des Handelns Christi in Rechtstermini ab; denn Christi Wirken ist durch die Liebe, nicht durch das Recht bestimmt. „Das Reich Gottes, welches Christus gründet, ist als die Gemeinschaft nicht des Rechtes, sondern des liebevollen Handelns gemeint; dasselbe aber hat unter anderen Merkmalen auch dieses, daß man aus Liebe auf sein Recht verzichtet, oder den Maßstab des Rechts jedenfalls nicht als solchen in Erscheinung bringt. Daß das Königthum Christi nicht von dieser Welt ist (Joh. 18,36) hat auch nur den Sinn, daß es dem rechtlichen Maßstab entzogen ist. Ferner ist im Alten Testament die Prophetie niemals ein Amt, sondern ein freier religiöser Beruf gewesen. Endlich führt der Hebräerbrief aus, daß das Priesterthum Christi anderen Bedingungen unterliegt, als das amtliche Priesterthum des Alten Testaments." 81 Die sozialgeschichtlichen Implikationen, die der statt dessen von Ritsehl für das officium Christi gebrauchte Berufsbegriff durch seine Tendenz zur religiösen Überhöhung des bürgerlichen Lebens mit sich brachte, können hier zunächst bei Seite gelassen werden 82 . Entscheidend für die weitere Analyse ist vielmehr

78

Ritsehl, Rechtfertigung III, 4 0 5 .

n

Ritsehl, Rechtfertigung III, 4 0 7 .

80

Ritsehl, Rechtfertigung III, 4 0 9 . Dem entspricht es, daß Ritsehl sich auch gegen jede Form

einer juridisch verstandenen Versöhnungslehre ausspricht: „Die juristische Deutung des priesterlichen Geschäfts [verstößt] in allen Beziehungen gegen das christlich-religiöse Interesse", Rechtfertigung III, 4 4 5 , vgl. auch Rechtfertigung I, 3 1 - 4 7 , Rechtfertigung III, 4 4 4 - 4 5 5 sowie O. Ritsehl, Leben, 2 1 7 . 81

Ritsehl, Rechtfertigung III, 4 0 9 .

82

Charakteristisch dafür ist die abschließende Zusammenfassung aus „Rechtfertigung und

Versöhnung", in der Ritsehl beides, die Versöhnung durch Jesus Christus und die Heilsvollendung durch den weltlichen Beruf, direkt parallelisieren kann: „Denn in dem Thun des Guten wird man selig und die sittliche Berufsleistung sichert dem Menschen seine Stellung im Gottesreiche, auch sofern dieses die Gemeinschaft der Seligkeit ist. Dieses aber steht in Abfolge zu der Versöhnung, mit deren Aneignung zugleich die Richtung des Willens auf den Endzweck des Gottesreiches eingeschlagen wird. Es ist also kein Widerspruch zwischen den Behauptungen, daß das ewige Leben in der Versöhnung durch Christus von Gott verliehen und in der Folgerichtigkeit dieser Gnade Gottes vollendet wird, und daß man die Vollendung des Heiles durch die Entwickelung des religiös-sittlichen Charakters und durch die in ihrer Art vollkommene

70

die strikte Unterscheidung von Recht und Liebe, die bei Ritsehl alle Lehrstücke der Dogmatik durchzieht, besonders aber für die Ekklesiologie konstitutiv ist. Sie bestimmt in der Folgezeit die Debatten um Kirchenverfassung und Kirchenrecht ebenso nachhaltig wie die theologische Rechtsdiskussion insgesamt. Ritschis Position findet sich dabei nicht nur bei seinen Schülern Wilhelm Herrmann 8 3 und Adolf v. Harnack 8 4 . Auch Rudolph Sohms berühmte These von der Inkompatibilität des Kirchenrechts mit dem Wesen der Kirche, welche die weitere Diskussion so nachhaltig bestimmt hat, basiert auf der Annahme, die Kirche ruhe auf einer Liebes-, nicht auf einer Rechtsordnung 8 5 . Um in der Ekklesiologie

den Grundsatz durchzuhalten und die Kirche

primär als Liebesordnung zu verstehen, ist Ritsehl allerdings gezwungen, die traditionelle Kirchenlehre deutlich zu modifizieren. Will er seinem eigenen Anspruch einer theologischen

Zugangsweise zu dem materialen Bestand der

christlichen Dogmatik gerecht werden, muß er zunächst aus dem Lehrstück „De ecclesia" all die Elemente ausscheiden, die Anleihen an staatliche und juridische Strukturen nehmen und so die Kirche in die Nähe einer rechtlich verfaßten Heilsanstalt rücken 8 6 . Denn „es ist die römisch-katholische Betrachtungsweise, [...] den Begriff der Kirche nur nach der rechtlichen Verbindlichkeit ihrer Merkmale zu normieren, und es gleichgültig zu lassen, ob die Mitglieder der Kirche ein innerliches, religiöses, oder ein blos äußerliches, rechtliches Verhältniß zu jenen Merkmalen einnehmen" kritisiert Ritsehl auf der

Lebensleistung im Berufe erreicht", Ritsehl, Rechtfertigung III, 6 3 3 . Vgl. ferner zum Zusammenhang bes. Graf, Theologie, 86f.; Nipperdey, Religion, 104f. 8 3 WILHELM HERRMANN hat diese Position besonders detailliert im Zusammenhang der Diskussion um die Reform des deutschen Strafgesetzbuches auf dem 14. Evangelisch-Sozialen Kongreß in Darmstadt vorgetragen: DERS.: Die sittlichen Gedanken Jesu in ihrem Verhältnis zu der sittlich-sozialen Lebensbewegung der Gegenwart, in: Verhandlungen des 14. EvangelischSozialen Kongresses in Darmstadt, Göttingen 1 9 0 3 , 9 - 2 9 . 8 4 Harnack bemühte sich allerdings in Auseinandersetzung mit Sohm gerade die Zusammengehörigkeit von Recht und Liebe als zweier komplementär zu verstehenden Größen deutlich zu machen, vgl. ADOLF HARNACK: Entstehung und E n t w i c k l u n g der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den zwei ersten Jahrhunderten. Nebst einer Kritik der Abhandlung R. Sohm's: „Wesen und Ursprung des Katholizismus" und Untersuchungen über „Evangelium", „Wort Gottes" und das trinitarische Bekenntnis, Leipzig 1 9 1 0 , 150f. Zur Auseinandersetzung zwischen Harnack und Sohm vgl. WILHELM MAURER: Die Auseinandersetzung zwischen Harnack und Sohm und die Begründung eines evangelischen Kirchenrechtes ( 1 9 6 0 ) , in: Ders.: Die Kirche und ihr Recht. Gesammelte Aufsätze zum evangelischen Kirchenrecht, hg. v. Gerhard Müller und Gottfried Seebaß, Tübingen 1 9 7 6 .

Vgl. dazu RUDOLPH SOHM: Kirchenrecht, Berlin 2 1 9 7 0 , bes. Bd. 1, 1 - 3 , 22ff. Ritsehl bemerkt ironisch mit Blick auf Stahls Kirchenverfassungslehre: „Es giebt ja radicale und religiös ungebildete Leute genug, welche gerade wegen der mit dem Staate verknüpften Verfassung der Kirche und wegen einer vorherrschenden Tendenz in der Besetzung ihrer Aemter den Zweifel erheben, ob die Kirche die Gemeinschaft des religiösen Glaubens und überhaupt noch Culturmacht oder nicht vielmehr ein Polizeiinstitut sei", Ritsehl, Begründung, 113. 85

86

71

Grundlage eines vom Geist der Union getragenen Denkens in einer seiner ersten Schriften zur Ekklesiologie die anstaltskirchlichen Bemühungen der Neulutheraner87. Dagegen ist „das Wesen der evangelischen Kirche [...] die Gemeinschaft des Glaubens und des heiligen Geistes"88. In seiner späteren Studie zum Kirchenrecht präzisiert Ritsehl diesen Gedanken und legt ihn auf die Unterscheidung von Recht und Religion hin aus. Amt und Regierung können „als rechtliche Existenzformen" nicht „ohne Weiteres in dem religiösen Begriff von der Kirche aufgezeigt werden, wenn man nicht in den Fehler verfallen will, wegen dessen man sich von der katholischen Ansicht der Sache abgewendet hat. Denn diese leidet eben an dem Fehler einer unrichtigen Verknüpfung oder auch Vermischung der religiösen und der rechtlichen Beziehung in dem Begriff und in der wirklichen Gestaltung der Kirche. Recht und Religion sind nämlich [...] entgegengesetzte Motive und Maaßstäbe menschlicher Gemeinschaft, die sich unmittelbar ausschließen"89. Die Verwendung des falschen, des rechtlichen Maßstabs in der Kirche bei den, wie Ritsehl in polemischer Zuspitzung gegen Stahl formuliert, „juristischen Theologen und manchen theologisirenden Juristen"90 gilt es abzuwehren und zu überwinden. Ritsehl intendiert statt dessen einen „religiösen Purismus" in der Ekklesiologie91, der das Postulat einer spezifisch theologischen Ausarbeitung der Kirchenlehre einlöst. Der Gewinn, den Ritsehl aus der Fokussierung auf die religiöse Dimension der Kirche zieht, ist offenkundig. Sie ermöglicht es ihm, den dogmatischen Kirchenbegriff mit dem Gemeindegedanken92 zu verbinden und so - unbeschadet aller Defizite im Blick auf die tatsächliche Gestalt - diesem Kirchengedanken diejene konstitutive Funktion zuzuschreiben, die er in seinen methodischen Erwägungen zur theologischen Lehrbildung für die Gemeinde rekla-

87 Ritsehl, Verhältniß, 13. Otto Ritsehl berichtet, sein Vater hielt sich in diesem auf ein Referat vor dem Pastorenkonvent in Brühl zurückgehenden Vortrag „für berufen, in die Auseinandersetzung über das Recht der confessionell lutherischen Bewegung einzugreifen, welche seit 1848 unter der Gunst der politischen Reaction sich immer vordringlicher geltend machte und selbst die Hengstenbergsche Orthodoxie in den Schatten stellte", O. Ritsehl, Leben I, 249. 88 Ritsehl, Verhältniß, 12. 89 Ritsehl, Begründung, 108. 90 ALBRECHT RITSCHL: Ueber die Begriffe: sichtbare und unsichtbare Kirche (1859), in: Ders.: Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Freiburg u.a. 1893, 6 8 - 9 9 , 94. 91 OTTO RITSCHL: Art. Ritsehl, Albrecht Benjamin, in: RE 3 17, Leipzig 1906, 2 6 - 3 4 , 28. 92 Demgegenüber gerät diese für Ritschis ekklesiologische Konzeption maßgebliche Unterscheidung zwischen Kirche und Gemeinde in v. Schelihas Interpretation zu sehr in den Hintergrund; Ritschis Differenz zwischen Gemeinde und Kirche verschleift sich hier immer wieder zu dem gleichermaßen an Hegels Rechtsphilosophie und der modernen Institutionentheorie gewonnenen Gedanken, der einzelne sei zur Realisierung individueller Freiheiten notwendig auf stützende Institutionen angewiesen.

72

miert hatte 93 . Auf dieser Grundlage kann Ritsehl nun einlösen, was er bei Schleiermacher als Defizit empfunden hatte, nämlich eine das gesamte Lehrsystem bestimmende, tragende Rolle der Kirche. Während nämlich Schleiermacher in seiner berühmten Bestimmung des konfessionellen Gegensatzes zwischen Protestantismus und Katholizismus das unmittelbare, individuelle Verhältnis des einzelnen Christen zum Erlöser Jesus Christus geradezu als Wesensdefinition des Protestantismus vorgeschlagen hatte, setzt Ritsehl dagegen: „Für den evangelischen Christen ist das richtige Verhältniß zu Christus geschichtlich wie begrifflich durch die Gemeinschaft der Gläubigen bedingt; geschichtlich, weil man die letztere immer vorfindet, indem man zum Glauben gelangt, und indem man nicht ohne ihre Einwirkung dieses Ziel erreicht; begrifflich, weil keine Wirkung Christi auf Menschen vorgestellt werden kann außer nach dem Maßstabe der vorausgehenden Absicht Christi, eine Gemeinde zu gründen." 94 Gegenüber Schleiermacher verändert Ritsehl aufschlußreich die Semantik: Er spricht nicht mehr von Kirche, sondern von Gemeinde, und bringt damit die Parallelisierung des dogmatischen Kirchenbegriffs mit dem fundamentaltheologisch konstitutiven Gemeindegedanken ebenso zum Ausdruck wie das Bestreben, den theologischen Kirchenbegriff gegenüber allen weltlich-staatlichen Implikationen zu imprägnieren. Diese Strategie bringt nun aber auch spezifische Probleme mit sich. Eine bloße Reduktion der Ekklesiologie auf die dogmatische Betrachtungsweise droht die Realität der Kirche als verfaßter Institution spiritualistisch aus dem Blick zu verlieren 95 . Gegen diesen Irrweg möchte sich Ritsehl schützen, indem er die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche verwendet 96 . Allerdings gelingt ihm dieses Vorhaben nur bedingt. Er betont zwar, auch in dogmatischer Hinsicht sei die Kirche durch Evangelium und Sakramente

93

Vgl. dazu auch Dierken, Kirche 5 5 f.

94

Ritsehl, Rechtfertigung III, 5 1 7 ; Ritsehl bezieht sich auf den Leitsatz zum § 2 4 der Schleier-

macherschen Glaubenslehre: „Sofern die Reformation nicht nur Reinigung und Rückkehr von eingeschlichenen Mißbräuchen war, sondern eine eigentümliche Gestaltung der christlichen Gemeinschaft aus ihr hervorgegangen ist, kann man den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus vorläufig so fassen, daß ersterer das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältnis zu Christo, der letztere aber umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zu Christo abhängig von seinem Verhältnis zur Kirche", Schleiermacher, Glaube, Bd. 1, 1 3 7 . 95

„Dieser dogmatische Begriff von der Kirche würde sich nun als unwahr erweisen, wenn er

jene erfahrungsmäßige Anschauung von der Kirche als Complex menschlicher Thätigkeiten ausschlösse", Ritsehl, Begründung, 1 1 4 . 96

So etwa in seiner ersten, aus einem spontanen Vortrag zu aktuellen kirchenpolitischen

Problemen hervorgegangenen, schriftlichen Ausarbeitung der Ekklesiologie:

ALBRECHT

RlTSCHL: Die protestantische Lehre von der Kirche, in: Monatsschrift für die evangelische Kirche der Rheinprovinz und Westphalens, 1 0 ( 1 8 5 1 ) , 1 1 7 - 1 3 4 ; vgl. dazu O. Ritsehl, Leben, Bd. 1, 1 8 8 - 1 9 2 . Zur Konjunktur der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche um die Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. oben, 4 8 .

73

sichtbar, aber eben nur „wahrnehmbar oder sichtbar für die Art von Erfahrung, auf die sie ihrer Natur nach allein rechnen kann, nämlich für den specifischen Glauben"97. Die Sichtbarkeit der Kirche bleibt also gerade in der dogmatischen Betrachtungsweise von ihrer sinnenfälligen Realität abgekoppelt; außerhalb des Glaubens bleibt Kirche unsichtbar. Da das Begriffspaar ecclesia visibilis ecclesia invisibilis einer spiritualistisch-innerlichen Engführung des Kirchengedankens nicht wirklich entgegenwirken kann und zudem auch von der konfessionellen Theologie verwendet wurde, ersetzt Ritsehl es nach seiner eingehenden Studie zum Verständnis der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche bei den Reformatoren98 durch die Einführung dreier Betrachtungsweisen der Kirche, der dogmatischen, der ethischen und der rechtlich-politischen. „Für den evangelischen Begriff von der Kirche kommt es nämlich auf nichts mehr an, als auf die richtige Unterscheidung und richtige Aufeinanderbeziehung der dogmatischen, der ethischen, der politischen Merkmale der Kirche."99 Dabei birgt Ritschis Trias eine deutliche Abstufung vom dogmatischen hin zum politischen Begriff der Kirche. Da - in loser Anknüpfung an Schleiermacher100 - die dogmatische Betrachtungsweise die Kirche vom Handeln Gottes, die ethische dieselbe von der Seite des Menschen her thematisiert, bilden diese beiden zusammengenommen die theologische Bestimmung der Kirche, jedoch ebenfalls nicht ohne eine interne Hierarchie: analog zur Unterscheidung von Gott und Mensch dominiert die dogmatische Perspektive selbstverständlich die ethische. „Deßhalb muß sich aber die ethische Selbstthätigkeit des Menschen auch in demjenigen Gebiete, welches Kirche genannt wird, dem Maaßstabe unterwerfen, welchen der religiös, aus Gott begreifliche Zusammenhang der Glaubensgemeinschaft darbietet."101 Ritschis dreigliedriges Modell intendierte die begriffliche Präzisierung der reformatorischen Lehre von der Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit der Kirche. Es kann darum nicht überraschen, daß der theologische Kirchenbegriff in seiner Komplementarität von göttlichem und menschlichem Handeln, dogmatischer und ethischer Betrachtungsweise zur Kirche in ihrer empirisch faßbaren Form deutliche Distanz hält. Auch die neu eingeführte, triadische Sicht der Kirche kann Ritschis Tendenz einer Spiritualisierung des Kirchenbegriffs letztlich nicht vermeiden. Dies wird deutlich, wenn Ritsehl mit CA VII Wort und Sakrament als notae ecclesiae benennt und deren Gehalt ohne Bezugnahme auf institutionelle Konsequenzen rein theologisch expliziert. Beide, Wort und Sakrament, sind als eine durch Gottes Handeln angestoßene, stete „Wech57

Ritsehl, Begriffe, 9 4 .

98

Ritsehl, Begriffe, 6 8 - 9 9 .

"

Ritsehl, Begriffe, 9 1 .

100

Vgl. dazu FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER: Kurze Darstellung des theologi-

schen Studiums ( 1 8 3 0 ) , hg. v. Heinrich Scholz, Darmstadt, 4 1 9 6 1 , 2 7 . 101

74

Ritsehl, Begründung, 1 1 4 .

selbeziehung zwischen dem Handeln der Gemeinde und der Gnadengabe Gottes" 1 0 2 zu verstehen. „Dem Wort Gottes korreliert das Gemeindegebet; in den sakramentalen Akten des Abendmahls und der Taufe fällt das sündenvergebende gnädige Handeln Gottes mit dem empfangenden sakramentalen Handeln der Gemeinde in jeweils einem Vorgang zusammen." 103 Aus dieser Zuordnung von Gottes gebendem Handeln und dem Empfangen der Gemeinde gewinnt Ritsehl das Charakteristikum der ethischen Dimension der Kirche, das von allen Christen in gleicher Weise, ohne hierarchische Differenzierungen gesprochene Gemeindegebet. Mit dieser Beschreibung grenzt er unverkennbar auch die menschliche Seite des theologischen Kirchenbegriffs von allen institutionell-rechtlichen Auswirkungen ab und beraubt umgekehrt die Fragen der kirchlichen Organisationsform jeder theologischen Relevanz. Der politischen Dimension der Kirche kommt neben den beiden anderen keine selbständige Bedeutung zu, sondern „die Notwendigkeit (und Legitimität) der Rechtsordnung für die Kirche ergibt sich aus der Betrachtung der Kirche als ,ethischer' und .geschichtlicher' Größe, sofern die Rechtsordnung für den Bestand der Kirche in der Geschichte wesentlich ist" 1 0 4 . Die kirchliche Organisationsstruktur ist für die dogmatische Ekklesiologie weitgehend irrelevant. Einzig die Institution des Predigtamts will Ritsehl als zum dogmatischen Begriff der Kirche gehörig anerkennen 105 , keinesfalls aber könne von einer spezifisch göttlichen Qualität des Kirchenrechts die Rede sein 106 . Dieses Charakteristikum ist für die kirchenpolitische Option Ritschis ebenso transparent wie es für sein Staatsverständnis und seine gesellschaftspolitischen Grundentscheidungen folgenreich ist. '

3. Gemeindetheologie und Kirchenpolitik Kirchenpolitisch fungiert die Ausgliederung der Rechts- und Organisationsfragen aus der theologischen Betrachtung der Kirche als theoretischer Unterbau für Ritschis Plädoyer zugunsten der Union. Ihr fühlte sich Ritsehl schon aus familiären Gründen verbunden. Sein Vater hatte sich als Bischof und Generalsuperintendent in Pommern für die Union eingesetzt. Zudem wurde er durch seine theologische Herkunft aus der Vermittlungstheologie zum energischen Verfechter des Unionsgedankens 107 . Ritsehl hatte seit seinen frühesten

102 103 104 105

Ritsehl, Unterricht, 1 0 7 (§ 83). Kuhlmann, Ethik, 2 2 4 f . Grewel, Kirche, 3 0 2 f . ; vgl. v. Scheliha, Protestantismus, 8 9 u.ö. Ritsehl, Unterricht, 1 0 8 .

1 0 6 „So ist die Rechtsordnung in der Kirche in formeller Hinsicht nicht göttlicher, als die des Volkslebens im Staate", Ritsehl, Begründung, 1 4 2 . 107

Diese kirchenpolitische Haltung brachte ihm nach der Annexion des lutherischen Hanno-

75

Äußerungen zur Union deutlich gemacht, daß er in der Verwaltungsunion lediglich den ersten, allerdings unverzichtbaren Schritt auf dem Weg zur Bekenntnisunion sehe 108 und opponierte darum auch gegen die von Hengstenberg angestoßene Umwandlung des preußischen Oberkirchenrats von einer unierten in eine nurmehr kombinierte Behörde 109 . Dennoch ließ ihn seine Entkoppelung der Rechtsfragen von dem theologischen Begriff der Kirche zum Gewährsmann der preußischen Union werden, deren Spezifikum gerade in einer vom Staat initiierten Verwaltungsunion bestand, die die Bekenntnisgrundlagen ebenso unangetastet ließ wie konfessionelle Sonderlehren 110 . Ritschis Argument für die theologische Notwendigkeit der Union, sie stelle ein Abbild der einen Gemeinschaft des Glaubens im Geist dar, die allen menschlichen Bekenntnisformulierungen vorausgehe 111 , leistete allerdings der Beschränkung des Unionsgedan-

ver durch Preußen 1 8 6 6 , in deren Z u s a m m e n h a n g die zwangsweise E i n f ü h r u n g der U n i o n auch in H a n n o v e r b e f ü r c h t e t w u r d e , zahlreiche A n f e i n d u n g e n v o n den lutherisch und weifischn a t i o n a l gesinnten G ö t t i n g e r Fakultätskollegen s o w i e der H a n n o v e r s c h e n L a n d e s s y n o d e ein, die in Ritsehl einen Parteigänger Preußens und der U n i o n s a h e n , vgl. dazu detailliert K u h l m a n n , Ethik, 1 3 - 2 3 ; Z u Ritschis vermittlungstheologisch bedingter Z u s t i m m u n g zur U n i o n vgl. Seeberg, Kirche, 3 2 2 . 108

V g l . dazu insgesamt O. Ritschis R e f e r a t zur Unions-Vorlesung A. Ritschis v o n 1 8 5 2 , O .

Ritsehl, L e b e n , Bd. 1, 1 9 5 - 1 9 7 , sowie die Auszüge aus seiner Ethik-Vorlesung bei K u h l m a n n , Ethik, 2 2 5 . " " Seine Streitschrift „ H e r r Dr. H e n g s t e n b e r g u n d die U n i o n " blieb allerdings u n g e d r u c k t , vgl. dazu O . Ritsehl, L e b e n , Bd. 1, 1 9 4 f . 110

V g l . HANS-JOACHIM SCHOEPS: D i e Preußische U n i o n v o n 1 8 1 7 , in: F e r d i n a n d S c h l i n g e n -

siepen ( H g . ) : U n i o n und Ö k u m e n e , 1 5 0 J a h r e Evangelische K i r c h e der U n i o n , Berlin 1 9 6 8 , 134-170,

142:

D i e p r e u ß i s c h e U n i o n sollte „ i m m e r n u r e i n e K u l t u s u n i o n , n i c h t

eine

Konsensus- o d e r B e k e n n t n i s u n i o n sein [ . . . ] - g e n a u e r gesagt, sogar n u r e i n e V e r w a l t u n g s u n i o n mit gegenseitiger K o m m u n i k a n t e n z u l a s s u n g " . 111

Dazu ausführlich Ritsehl, Verhältniß. Ritschis H i n t a n s t e l l u n g des f o r m u l i e r t e n , lehr-

m ä ß i g e n B e k e n n t n i s s e s g e g e n ü b e r d e m d u r c h die G e m e i n d e der G l ä u b i g e n

ermöglichten,

aktuellen B e k e n n e n führte a u c h zur K o n t r o v e r s e mit der E r l a n g e r T h e o l o g i e , n a m e n t l i c h mit F r a n k , o b w o h l Ritsehl, wie S e e b e r g ( K i r c h e , 3 2 1 - 3 2 3 ) richtig dargestellt hat, d u r c h a u s in vielem m i t der E r l a n g e r T h e o l o g i e v e r w a n d t war. Beide w a r e n sich einig in der A b l e h n u n g einer juridischen D e u t u n g des Bekenntnisses, wie sie Kreisen der k o n f e s s i o n e l l e n T h e o l o g i e v o r s c h w e b t e , da sie v o m W o r t l a u t der C o n f e s s i o Augustana n i c h t g e d e c k t sei. F r a n k k o n n t e sich sogar beklagen, d a ß diese O p p o s i t i o n allein Ritsehl zugeschrieben w u r d e : „Es war ein charakteristisches Z e i c h e n für den W i s s e n s t a n d in m a n c h e n Kreisen, d a ß , als Ritsehl a u f diese a l t b e k a n n t e n u n d von j e d e r m a n n h o c h g e h a l t e n e n Stellen der Augustana hinwies, dies als e i n e . E n t d e c k u n g ' gepriesen w u r d e " (FRANZ HERRMANN REINHOLD VON FRANK: G e s c h i c h t e u n d Kritik der n e u e r e n T h e o l o g i e , i n s b e s o n d e r e der systematischen, seit S c h l e i e r m a c h e r . Aus dem N a c h l a ß herausgegeben v o n P. S c h a a r s c h m i d t , Erlangen u.a.

41908,

3 5 1 ) . D i e Scheidelinie

zwischen F r a n k und Ritsehl lag j e d o c h darin, d a ß der E r l a n g e r in C A V I I die doctrina, und zwar in G e s t a l t der in der C A niedergelegten L e h r e als K e n n z e i c h e n d e r w a h r e n K i r c h e finden wollte, w o h i n g e g e n Ritsehl g e g e n ü b e r dieser Lehrverfestigung an d e m stets in der G e m e i n d e a n g e e i g n e t e n und b e k a n n t e n Evangelium festhielt (vgl. dazu ALBRECHT RLTSCHL: D i e E n t stehung der lutherischen K i r c h e ( 1 8 7 8 ) , in: D e r s . : G e s a m m e l t e Aufsätze, Bd. 1, Freiburg u.a. 1893,

170-217, 218-233;

FRANZ HERRMANN REINHOLD VON FRANK: AUS der

D o g m a t i k II ( a n o n y m veröffentlicht), in: Z P K N . F . 7 2 ( 1 8 7 6 ) , 7 6 - 8 6 .

76

neueren

kens auf eine staatlich verordnete Verwaltungsunion insofern Vorschub, als sie die Fragen der Kirchenverfassung gerade in die theologische Bedeutungslosigkeit zu entlassen schien. Ritsehl selbst beförderte diese Deutung seiner Ekklesiologie, indem er unter Berufung auf den nicht-rechtlichen Charakter des theologischen Kirchenbegriffs für die Unterstützung des Staates bei der Einführung der Union votierte und damit unübersehbar gegen Schleiermacher Position bezog, der sich ja gerade gegen eine derartige Einflußnahme von Seiten des Staates verwahrt hatte112. Die programmatische Unterscheidung von Recht und Religion wirkt sich nicht nur auf die kirchenpolitische Orientierung Ritschis aus, sie führt auch zu problematischen Konsequenzen in der Einschätzung des Staates. Wieder resultieren die problematischen Folgen aus der von Ritsehl so stark betonten Differenz von Recht und Religion, und wieder kommt es zu demselben Hiatus zwischen Intention und Wirkung. Zwar ist Ritsehl - trotz entsprechender Vorwürfe, die schon seine zeitgenössischen Opponenten und später besonders die Dialektische Theologie erheben - , weit davon entfernt, den Kirchengedanken lediglich in ein ethisches Ideal, „in eine praktisch auf die Welt wirksame ethische Gesinnungsgemeinschaft" aufzulösen 113 , die Identität von Staat und christlicher Sittlichkeit oder gar von Staat und Reich Gottes zu behaupten 114 .

112 S. FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER: Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken (unter dem Pseudonym Pacificus Sincerus veröffentlicht), Göttingenl824. 113 Grützmacher, Auffassung, 641. Grützmachers Mißverständnis, das stellvertretend für viele gelten kann, ist dadurch entstanden, daß er Ritschis ethischen Begriff der Kirche vor dem Hintergrund eines überschätzten Einflusses Kants auf Ritsehl sowie entsprechender Formulierungen bei den Ritschl-Schülern Wilhelm Herrmann und Martin Rade als einen auf die Praxis der Lebensführung hinzielenden Terminus interpretiert. Er zitiert zwar Ritschis Definition des ethischen Kirchenbegriffs: „In diesem spezifisch-religiösen Sinne dient also das gemeinsame Bekennen Gottes und seiner in Christus erfahrenen Gnade, auch das Bekennen oder die Anerkennung des Sohnes Gottes als des Mittlers der Gnade, zum entscheidenden Merkmal der Gemeinde der Heiligen in ihrer religiösen Selbstthätigkeit, oder ist das Hauptmerkmal der Kirche im ethischen Sinne" (ebd. 632, das Zitat bei Ritsehl, Begründung, 116). Während für Ritsehl allerdings unverkennbar der Schwerpunkt auf dem gottesdienstlichen, auf Gott gerichteten Handeln liegt, folgert Grützmacher lediglich, „das Wesen des Ethischen ist hier in dem weiteren Sinne gefaßt, daß es die ganze Selbsttätigkeit des Menschen umfaßt, die sich ja auch auf Gott richtet (ebd., 632, Hervorhebung nicht im Original). Dementsprechend deutet Grützmacher Ritschis Metaphysikkritik dann fälschlicherweise als Hinwendung zum menschlichen Subjekt, wohingegen bei Ritsehl selbst diese Kritik die Begründung der Theologie auf der in der Gemeinde erfahrenen Gottesoffenbarung zur Folge hat. Darum kann schon Grützmacher Ritschis Ekklesiologie, gleichsam im Vorgriff auf die spätere Kritik Barths, als eine anthropozentrische Theorie charakterisieren: Sie will den Kirchengedanken „in dem Maße ethisieren, daß er in eine ethische Gemeinschaft sich umzuwandeln droht, die ihre Kräfte letztlich nicht aus der geschichtlichen Offenbarung des Christentums, sondern aus den ethisch-rationalen Anlagen des Menschen zieht" (ebd., 639). 114 Es ist das Verdienst von HERMANN TIMM: Theorie und Praxis in der Theologie Albrecht Ritschis und Wilhelm Hermanns. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Kulturprotestan-

77

Im Gegenteil, Ritsehl betont immer wieder die notwendige Abgrenzung beider Bereiche. Und dennoch ist es gerade die intendierte Unterscheidung, die bei Ritsehl den Staat in die unmittelbare Nähe von Religion und Kirche rückt. Indem Ritschis Gemeindetheologie alle Rechtsfragen ihres theologischen Reflexionsortes beraubt, läßt sie gleichzeitig den Staat, der die pragmatisch notwendigen Rechts- und Organisationsfragen der Kirche wahrnimmt, in eine quasi-religiöse Stellung einrücken 115 . So kann Ritsehl in der Lutherrede von 1883 festhalten, es sei die „rechtliche Seite an dem Dasein der Kirche auf die Aufsicht des Staates angewiesen" 116 . Wegen seiner strikten Trennung von Politik und Religion entgleiten Ritsehl die Kriterien für eine Beurteilung der Staatsform: Konsequenterweise betont er, es sei „die Rechtsordnung eines Volkes oder der Staat zwar an sich gleichgültig gegen das Christentum als Gottesverehrung wie als Praxis des Reich Gottes" 1 1 7 . Für die Stellung der Kirche im Staat gilt analog: Ritschis Theologie verfügt nicht mehr über zulässige Kriterien, um verschiedene Verfassungsformen gegeneinander abzuwägen: Ritsehl kritisiert zwar das landesherrliche Kirchenregiment in seiner bestehenden Form, stellt sich aber letztlich an seine Seite 118 . Auf derselben Linie liegt es auch, wenn er auf der Legitimität des positiven Rechts besteht und darum die „für die Stetigkeit und Sicherheit des öffentlichen Lebens interessirten Bürger" auffordert, durch „gewissenhafte Ausübung ihres Wahlrechts" sich der unheiligen „Coalition der Klerikalen, der specifisch Liberalen und der Socialdemokraten" zu widersetzen 119 , die gemeinsam unter Berufung auf naturrechtliche Grundsätze die Autorität des positiven Rechts und damit auch der gegebenen preußischen Monarchie unterminieren würden. Da ihm aus konfessionell-theologischen Gründen der Rückgriff auf das Naturrecht verwehrt ist, er von seiner eigenen Theologie her aber keine Leitlinien für den Bereich des Politischen entwerfen kann, bleibt Ritsehl nur

tismus ( = S E E 1), Gütersloh 1 9 6 7 , überzeugend nachgewiesen zu haben, daß sich Ritsehl gerade durch seinen eine geistige Haltung bezeichnenden Praxisbegriff einer D e u t u n g widersetzt, die Ritschis Streben auf das Reich Gottes hin nicht als ein religiöses, sondern als ein auf die staatlich-politische Realität des preußischen Staates gerichtetes H a n d e l n mißversteht. 115

Vgl. Zeiger, Gemeindetheologie, 1 9 5 ; Dierken, Kirche, 6 5 .

114

ALBRECHT RlTSCHL: Drei akademische Reden, a m vierten Seculartage der Geburt Luthers,

1 0 . N o v e m b e r 1 8 8 3 , zur Preisvertheilung, 8 . Juni 1 8 8 7 , zur Feier des 1 5 0 j ä h r i g e n Bestehens der Universität, 8. August 1 8 8 7 , im N a m e n der Universität Göttingen gehalten, B o n n 1 8 8 7 , 1 5 sowie schon Ders., Schleiermachers Reden, 1 0 5 f . : „ E s k o m m t nur d a r a u f an, daß die Vertreter des staatlichen Kirchenregiments den Dienst richtig verstehen, welchen der Staat in Deutschland der evangelischen Kirche leistet, indem er ihre rechtliche Gestaltung besorgt, damit die Gemeinschaft in der Religion nicht mit der Production von Rechtsverhältnissen belastet w e r d e , welche d e m Austausch der Religion überhaupt und durch die amtlichen O r g a n e der Kirche fremdartig ist." 117

Ritsehl, Unterricht, 5 9 .

118

Vgl. Ritsehl, Schleiermachers Reden, 1 0 5 f .

119

Ritsehl, Akademische Reden, 5 5 .

78

der Ausweg, die positive Rechtsordnung auch als einzig legitimes Recht darzulegen - trotz der damit verbundenen Gefahr, das Bestehende unkritisch zu affirmieren. „Ritsehl stellte dem Naturrecht deshalb ein spezifisch deutsches Rechtsdenken gegenüber, das er aus der Reformation, der Geschichtsforschung der deutschen Aufklärung sowie der romantisch geprägten .historischen Schule' der Rechtswissenschaft herleitete." 120 Damit aber wird noch einmal deutlich, wie eng Ritsehl und Stahl beieinander liegen, denn auch Stahl focht ja auf der Basis der historischen Rechtsschule für den christlichen Staat der preußischen Monarchie; unübersehbar ist auch, wie Ritsehl von Stahl den Gemeindegedanken übernimmt. Während jedoch der Berliner Jurist am Gemeindegedanken ein Defizit der Organisationsstruktur kritisierte, rückt er bei Ritsehl gerade wegen des Fehlens dieser Elemente in den Mittelpunkt des theologischen Interesses.

4. Karl Hackenschmidt als Straßburger Parteigänger Ritschis und sein Versuch einer Versöhnung Ritschis mit der Orthodoxie Den Ausgangspunkt für Hackenschmidts Bestreben, die altlutherische Ekklesiologie als Zeugen für seine eigene, stark an Ritsehl angelehnte Kirchenlehre zu gewinnen, liefert Hackenschmidt sein Straßburger Landsmann Alfred Krauß121, seit 1873 Professor für Praktische Theologie in Straßburg. Dieser hatte, gewissermaßen in Zuspitzung von Ritschis Position122, die These vertreten, man müsse die Vorstellung von der ecclesia invisibilis als Gemeinschaft aller Gläubigen in die Idee des Reiches Gottes auflösen. Die ecclesia visibilis, die in geordneten Ständen vorgenommene rechte Verwaltung der Gnadenmittel, stelle lediglich die äußere Form, die vorübergehende Erscheinung dieses Reiches dar und sei somit ohne eigenständigen religiösen Wert. In ihrer Funktion als Hilfsmittel zielten die äußeren Strukturen der sichtbaren Kirche wie die Gnadenmittel darauf ab, die Kirche ebenso als diejenige Gemeinschaft mit Christus zu ermöglichen, die im Sinne einer unio mystica „von der Weltlichkeit und also auch Vergänglichkeit, Schwächlichkeit und Sichtbarkeit frei" 123 sei. Krauß, der seine letztgenannte Definition ebenfalls an Musäus entwickelt, nimmt hier deutlich erkennbar Gedanken Ritschis, insbesondere dessen Unterscheidung von ethischer, religiöser und rechtlicher Dimension der Kirche auf124. Hackenschmidt erweist sich allerdings in seiner Kritik an Krauß als der 120

Graf, Theologie, 4 6 .

121

ALFRED KRAUSS: Das protestantische D o g m a von der unsichtbaren Kirche, G o t h a 1 8 7 6 .

122

Z u m engen, a u c h freundschaftlichen Verhältnis zwischen Ritsehl und K r a u ß sowie zur

gegenseitigen Abhängigkeit in der Ekklesiologie vgl. O. Ritsehl, Leben, Bd. 2, 2 8 7f. 123

Krauß, D o g m a , 9 2 .

124

Vgl. e t w a Krauß, D o g m a , 9 3 : „Wenn einmal für Reich Gottes, Reich Christi, Kirche im

79

bessere Parteigänger Ritschis, wenn er angesichts des stark funktional gefaßten Verständnisses der sichtbaren Kirche bei Krauß eine individualistische Engführung und den Verlust des religiösen Eigenwerts der Kirche befürchtet. Darum hält Hackenschmidt unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Ritschis Studien fest, daß jedenfalls Luther der Gedanke der vollständigen Unsichtbarkeit der Kirche als Heilsgemeinschaft fremd gewesen sei125, und weist so Krauß' Schlußfolgerungen zurück. Bei der „Kirchenfrage", für deren Lösung sich Hackenschmidt engagieren will, handelt es sich dann jedoch gar nicht um die Gegenüberstellung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche im engeren Sinn. Vielmehr ist Hackenschmidt daran interessiert, die Korrelation zwischen Gemeindegedanken und einer als Rechtsinstitut verfaßten Kirche genauer zu bestimmen; den Korrektivcharakter, den Ritsehl der Gemeinde gegenüber dem religiösen Individualismus beimaß, verbindet Hackenschmidt mit dem traditionellen Theorem der ecclesia visibilis und stellt unter Verweis auf Luther apodiktisch fest, daß es zumindest auch eine sichtbare Kirche geben muß. Um aber nach der Ablehnung von Krauß' Sichtweise nicht in das entgegengesetzte Extrem zu verfallen, muß Hackenschmidt Sichtbarkeit der Kirche im theologischen Sinn und Sichtbarkeit der Kirche als Rechtsgemeinschaft differenzieren. So gilt es zu klären, „wie sich die Sichtbarkeit, welche der Kirche durch ihre Verfassung zukommt, zu der Sichtbarkeit verhalte, welche ihr vermöge der Gnadenmittel eignet"126. Die Anklänge an Ritschis Programm werden noch deutlicher, wenn Hackenschmidt präzisiert: „Unsere Frage lautet also bestimmter so: Ist es dogmatisch nothwendig, daß die Gemeinschaft der Gnadenmittel auch als entsprechende Rechtsgemeinschaft zur Erscheinung komme?"127 Während dies „gewöhnlich evangelischerseits ohne Zögern bejaht"128 werde, hält Hackenschmidt, ganz im Sinne Ritschis, unter Verweis auf die konstitutive Differenz zwischen dogmatisch-religiöser und rechtlicher Betrachtungsweise dreifach dagegen: Erstens habe „der Glaube (und um ihn handelt es sich, da die in Frage stehende Nothwendigkeit eine dogmatische ist) an einer verfaßten Kirche gar kein unmittelbares Interesse [...], er kann ohne eine solche entstehen und bestehen"129. Zweitens sei „ein Verfassungsorganismus etwas dem Glauben wesentlich fremdes [...], denn dieser gründet in der Gnadenordnung, jener in der Rechtsordnung"130. Und schließlich seien die juristische und die theologiethisch-religiösen und Kirche im staatsrechtlichen Sinne nur ein und derselbe Ausdruck gebraucht werden soll, so kann man sehr evangelische Anschauungen und echt protestantische Empfindungen besitzen, man wird sich doch immer a u f s neue den Weg zu klaren und fest begränzten Begriffen unmöglich machen." 125 126 127 128 129 130

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Hackenschmidt, Musäus, 2 0 6 . Hackenschmidt, Musäus, 2 0 7 . Hackenschmidt, Musäus, 2 0 7 . Hackenschmidt, Musäus, 2 0 7 . Hackenschmidt, Musäus, 2 0 7 . Hackenschmidt, Musäus, 2 0 8 .

sehe Definition der Kirchenmitgliedschaft inkompatibel, denn während aus der Perspektive der Kirche als Glaubensgemeinschaft zwar nicht auszuschließen ist, daß „Ungläubige den Gläubigen um der Aeußerlichkeit der Gnadenmittel willen beigemischt sind" 131 , so erhebt die juristische Bestimmung gerade diese äußerliche Betrachtungsweise zum entscheidenden Kriterium der Mitgliedschaft. Wie Ritsehl möchte also auch Hackenschmidt die theologische Sicht und die politisch-rechtliche Organisationsform der Kirche voneinander entkoppeln. In der materialen Durchführung der Ekklesiologie im Gesamtzusammenhang seiner eigenen Theologie verdichtet sich die Nähe Hackenschmidts zu Ritschi. Hackenschmidts Vorträge über „Die Kirche im Glauben der evangelischen Christen" 132 und die entsprechenden Passagen seiner Glaubenslehre 133 lesen sich wie Paraphrasen von Ritschis theologischem Denken. So geht auch Hackenschmidt von zwei Grundkonstanten aus, Jesus Christus und der Gemeinde. Christus bildet das Fundament der Theologie, nur durch ihn kann der Vater erkannt werden 134 . Zugleich aber betont Hackenschmidt, die Erkenntnis Christi im Glauben sei untrennbar mit der Kirche verbunden, verstanden nicht als Anstalt oder Institution, sondern als „Gemeinschaft der Gläubigen und Gemeinschaft des Glaubens" 135 . „Wir sind, als wir von der Person des Herrn zu reden unternahmen, an Jesus nicht als an einen bis dorthin Unbekannten herangetreten; in den Heilsgütern, die wir vorher betrachtet hatten war er, immer nur er, uns als Gegenstand des Glaubens erschienen und die Aufgabe, die uns erübrigte, war eigentlich nur die Lösung der Frage, wie sich der Christus unseres Glaubens zu dem geschichtlich erschienenen verhält. So wurden wir auch fort und fort auf die Kirche, als die Gemeinde des Heils, verwiesen. Alle Wege, die wir einschlugen, um unsern geistigen Besitzstand kennen zu lernen gingen von ihr aus oder mündeten in sie hinein" 136 . Wie in der Theologie Ritschis bildet die Gemeinde historisch die Voraussetzung für den individuellen Glauben, indem sie die Botschaft vom Auftreten Jesu Christi überliefert. Sie fungiert zudem als regulative Instanz für das protestantische Schriftprinzip,

Hackenschmidt, Musäus, 208. KARL HACKENSCHMIDT: Die Kirche im Glauben des evangelischen Christen. Zwei Vorträge, Erlangen 1881. 133 KARL HACKENSCHMIDT: Der christliche Glaube in acht Büchern dargestellt, Calw 1901. 134 Vgl. Hackenschmidt, Glaube, 29ff.; Kirche, 47ff. 135 Hackenschmidt, Glaube, 288. 136 Hackenschmidt, Glaube, 2 8 8 ; vgl. auch ders., Kirche, 52: „Nun sind wir durch achtzehn Jahrhunderte von Christi Erscheinung im Fleisch, durch die Schranken unserer irdischen Leiblichkeit von dem Schauen seines überweltlichen Fortlebens geschieden. In welcher Weise tritt uns Christus nahe? [...] Die Kirche ist das Gemeinschaftsband zwischen Christus und den Menschen, so lehrt uns die Geschichte, das entspricht den Gesetzen der Zweckmäßigkeit, den Forderungen der sittlichen Ordnung. Wir sehen Jesus eifrig bemüht eine Jüngergemeinde zu sammeln. Diese Wirksamkeit ist sein Beruf, in diesem Berufswirken erleidet er den Tod." 131

132

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indem sie einer individualistischen, in die Irre führenden Auslegung entgegenwirkt. „Die Kirche hat nicht zu befehlen und zu dekretieren was man glauben soll, dabei bleiben wir. Aber in der Kirchenlehre vernehmen wir das Zeugnis des christlichen Gemeingeistes, und wenn auch dieser Geist nicht immer der heilige Geist ist, so daß wir ihm blindlings folgen dürften, so ist er doch ein nützlicher Wegweiser zur h. Schrift, ein treuer Warner gegen die Fehlgriffe und Willkürlichkeiten des individuellen Forschens" 137 . Ferner begründet die Mitgliedschaft in der Kirche die Heilsgewißheit als dem Wissen, zu der Gemeinschaft zu gehören, für die Christus gestorben ist. Schließlich stellt sie auch den Bezugspunkt für alles christliche Handeln dar, für die christliche Liebestätigkeit 138 . Der Kirchengedanke in der hier skizzierten, spezifisch dogmatischen und zugleich antiinstitutionellen Ausprägung soll bei Hackenschmidt ebenso wie bei Ritsehl als Korrektiv gegen ein einseitig individualisierendes Christentum dienen. Dies zum Ausdruck gebracht zu haben, kann Hackenschmidt allerdings durchaus der konfessionellen Theologie zu Gute halten. Der Konfessionalismus, so lobt er die Schulrichtung, der er selbst entstammte, ist „von großem Segen gewesen, [...] indem er, einem unhistorischen Subjectivismus gegenüber, den Werth der Kirche hervorhob" 139 . Er unterlag jedoch „vielfach der Gefahr, welche allezeit und allenthalben dem Christentum droht: man will sehen anstatt zu glauben und was dem Geiste gegeben ist mit Sinnen fassen. [...] So will nun der Confessionalismus die Kirche, die wahre Kirche, mit Augen sehen und mit Händen greifen. Sie soll dastehen als eine Macht über die Völker, groß durch ihre Ausdehnung, imposant durch schöne Gottesdienste, stark und einig durch ein mächtiges Kirchenregiment, einflußreich durch die Gunst des Staats. Oder sie soll, so begehren andere, die Gemeinschaft der Gläubigen wirklich zur Erscheinung bringen, indem sie innerlich streng geeint ist durch das Bekenntniß des orthodoxen Glaubens und äußerlich streng geschieden von jeder andersgläubigen Gemeinschaft. Jede Lehrabweichung innerhalb der Kirche soll alsobald unterdrückt, jeder Widerstrebende alsobald ausgeschieden werden" 140 . Diese Programmatik habe dazu geführt, daß die neulutherischen Konfessionalisten, von denen Hackenschmidt Stahl an erster Stelle nennt, der Gemeinde die als Gnadenanstalt verstandene Kirche als die eigentliche, wahre Kirche überordneten. So konnten sie sogar betonen, Christus übe seine königliche Macht auf Erden durch das Kirchenregiment aus141. Damit aber sei das Gleichgewicht von individueller und sozialer Dimension des Glaubens zerstört worden; Kirche und Gemeinde dürften nicht als Vermittler zwischen Christus und den 137 138 139 140 141

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Hackenschmidt, Kirche, 72f. Vgl. Hackenschmidt, Glaube, 288f. Hackenschmidt, Kirche, 5. Hackenschmidt, Kirche, 5 f. Vgl. Hackenschmidt, Kirche, 1 1 - 1 3 .

einzelnen Gläubigen treten, denn, so nimmt Hackenschmidt Ritschis Charakterisierung der ethischen Dimension der Kirche auf, „jeder Christ naht selber unmittelbar im Gebet dem Thron der Gnade"142. Kirche könne, beschließt Hackenschmidt diesen Gedankengang, nur in ihrer dienenden, darin aber unersetzlichen Funktion für den Glauben thematisiert werden. In seiner an Ritsehl orientierten Ekklesiologie grenzt Hackenschmidt sein Kirchenverständnis über den Begriff der Gemeinde nach zwei Seiten hin ab, gegen das Reiches Gottes bei Krauß und gegen die Vorstellung der Kirche als Rechtsgemeinschaft in der konfessionellen Theologie143. Die wahre Kirche stellt weder einen verinnerlichten Wesenskern wahrhaft gläubiger Christen dar, die Jesus allein kennt, noch bestimmt sie sich aufgrund einer äußeren Rechtsordnung oder eines Bekenntnisstandes. Zwar ist ein Bekennen des Glaubens heilsnotwendig, nicht aber das äußere Zeugnis der Bekenntnisschriften, denn „so wäre dann auch nur der ein Christ und des Heils gewiß, der im Besitz einer correkten Formulierung des Christenglaubens ist, die Theologen wären dann die besten Christen"144. Darum ist die Mitgliedschaft in einer bestimmten Konfessionskirche „für mein Seelenheil [...] durchaus nicht unbedingt notwendig145. Das Christentum ist kein Akt äußerlicher Vernunft oder äußerlichen Bekennens, es ist „Gewissenssache"146. Unter diesen Voraussetzungen ist es „mitnichten nothwendig, daß die Kirche eines besonderen Bekenntnisses auch durch eine besondere Verfassung von den anderen getrennt sei"147. So gelingt es Hackenschmidt wie seinem Göttinger Vorbild, die Ekklesiologie zur Union hin zu öffnen. Hackenschmidt agiert allerdings vorsichtiger als Ritsehl und warnt vor einem leichtfertigen Unionismus148, da die lutherische Lehre über die Kirche die theologischen Anliegen der Reformation am reinsten zum Ausdruck bringe und die Entfaltung des Glaubens am stärksten fördere. Die rhetorische Frage: „Wer leugnet, daß es unter uniertem Kirchenregiment lutherische Christen, lutherische Gemeinden geben kann?" ist unter dieser Voraussetzung nur konsequent. Dennoch obsiegt auch bei Hackenschmidt schlußendlich das Votum für die Union, da ihr Grundgedanke einer Einheit der Kirchen der einen, wahren Kirche korrespondiert, die unabhängig von äußeren Erkennungsmerkmalen dem Glauben sichtbar ist: „Denn die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen, ist da, wo Gottes Wort und die Sakramente im Schwange gehn, das ist aber der Fall in den organisierten Kirchen, und zwar in allen, denn die richtige Erkenntnis von Gottes Wort und das rechte Verständ-

142

Hackenschmidt, Kirche, 13, Hervorhebung nicht im Original.

143

Hackenschmidt, Glaube, 290f., 2 9 7 f . ; Kirche, 34ff.

144

Hackenschmidt, Kirche, 6 4 ; vgl. 62ff.

145

Hackenschmidt, Glaube, 3 0 3 .

146

Hackenschmidt, Kirche, 6 5 . Hackenschmidt, Kirche, 79f.

147 148

Hackenschmidt, Kirche, 66ff.

83

nis der Sakramente geben nicht den Ausschlag, also ist die Gesamtheit der verfaßten Kirchen die Kirche, aber für den Glauben, nicht für das Schauen."149 Die Sichtbarkeit der Kirche wird so Hackenschmidt selbst zu einer Aussage des Glaubens: „Die Kirche, die man sieht, ist die wahre Kirche, aber nicht so wie man sie sieht, sondern so wie man sie glaubt. Im Glauben des Christen ist nun diese Kirche die Gemeinde Jesu."150 Stärker noch als bei Ritsehl werden allerdings die Probleme dieser Sichtweise bei Hackenschmidt deutlich: Mit der Betonung der Kirche als einer Gemeinschaft des Glaubens und ihrer Abgrenzung gegenüber einer Kirche als Rechtsgemeinschaft werden sämtliche Kriterien zur theologischen Beurteilung der äußeren Verfassung eingezogen und dadurch gerade die intendierte Grenzziehung zwischen Recht und Religion verwischt. Dies wird besonders dann deutlich, wenn Hackenschmidt Kirche und Staat einander kontrastierend gegenüberstellt: „Während der Staat das irdische und volksmäßige Zusammenleben und -wirken der Menschen bezweckt, geht der Beruf der Kirche auf das Ewige und Ueberirdische. Sie zeigt dem Menschen den ewigen Werth seiner Seele, sie offenbart ihm in Gott den ewigen Grund seines Wesens und in Christus den Mann, der ihm durch Sünde und Tod hindurch zu seiner ewigen Bestimmung verhilft. Die Kirche sammelt inmitten der irdischen Gemeinschaften ein geistliches Gemeinwesen, das erhaben ist über die Gegensätze der Nationalität, des Standes und des Geschlechts, ja über Zeit, Wechsel und Tod, und dessen Glieder alle die sind, welche sich in Jesu Christo als Kinder Gottes und als Gottes Erben, d.h. als Theilnehmer an seiner Weltherrschaft wissen und in diesem Bewußtsein den Frieden haben, der über alle Vernunft ist. Ihr Mittel dazu ist einzig und allein das Evangelium. In diesem ihrem speziellen Beruf ist die Kirche so unmittelbar von Gott gestiftet und bevollmächtigt wie Staat und Familie, in ihrem Predigen und Verkündigen ist sie so selbständig wie der Staat in seiner Gesetzgebung, sie ist, um mit unserem verehrten Professor Sohm zu reden, ethisch dem Staate coordiniert. Nun ist aber die Kirche, wie sie in Erscheinung fällt, etwas ganz anderes. So ist sie, gerade wie der Staat, eine Gemeinschaft zu zeitlichem Zusammenleben, nur daß sie in dieser Beziehung keine göttliche Autorität hat; zur Regelung des äußerlichen irdischen Zusammenlebens hat der Staat allein, nicht die Kirche die göttliche Befugniß. Als gesellschaftliches Gemeinwesen steht also die Kirche nicht neben dem Staat, geschweige denn über ihm, sie ist, nach dem Ausspruch des genannten Rechtsgelehrten, politisch dem Staate subordiniert."151 Damit werden nun doch die äußeren Organisationsmerkmale der Kirche göttlich legitimiert, aber nicht direkt, über die ekklesiologische Theoriebildung, sondern indirekt auf dem Umweg über das Staatsverständnis,

149

Hackenschmidt, Glaube, 3 0 6 .

150

Hackenschmidt, Kirche, 6 1 , Hervorhebungen im Original. Hackenschmidt, Kirche, 3 7 .

151

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der, mit göttlicher Autorität ausgestattet152, für den äußeren Rahmen der Kirchentümer sorgt153.

S. Musäus als Gewährsmann

für Ritschis

Ekklesiologief

Für diese an Ritsehl orientierte Ekklesiologie möchte Hackenschmidt die altlutherischen Dogmatiker und ihr Verständnis der sichtbaren Kirche fruchtbar machen. Die Grundthese, die Hackenschmidt zu belegen sucht, ist dabei schon in seiner Kontroverse mit Krauß deutlich geworden. Wie Stahl, möchte auch Hackenschmidt die von ihm im Gefolge Ritschis vertretenen Eckdaten in der klassischen lutherischen Kirchenlehre aufzeigen und diese damit für die eigene Gegenwart transparent werden lassen. Soll dieses Vorhaben gelingen, so muß Hackenschmidt schon bei den Dogmatikern des 17. Jahrhunderts die Entkoppelung der Kirche als Glaubensgemeinschaft von der Kirche als Rechtsgemeinschaft nachweisen. Zudem gilt es zu belegen, daß diese Epoche die wahre Kirche als Glaubensgemeinschaft keineswegs nur als innerlich und unsichtbar verstand, denn nur so lassen sich theologiegeschichtliche Zeugen für die in der Ritschl-Schule vertretene, konstitutive Funktion der Gemeinde bei der Entwicklung des eigenen Glaubensbewußtseins gewinnen. Letzteres Vorhaben führt Hackenschmidt zu Musäus. Hackenschmidt gesteht zwar zu, daß, im Unterschied zu Jakob Heerbrand und Leonhard Hutter, schon Gerhard die Unsichtbarkeit nicht mehr grundsätzlich mit der wahren Kirche verbunden hatte. Nach dem Einwand Bellarmins, die Kirche müsse doch sichtbar sein, damit man sich ihr anschließen könne, hatte Gerhard nur noch im übertragenen Sinne von der ecclesia invisibilis gesprochen: Die Kirche heißt für ihn deswegen unsichtbar, weil man die wahren Christen nicht an äußerlichen Merkmalen von den Heuchlern unterscheiden kann und weil sie nicht an einen bestimmten Regierungssitz gebunden ist - „sagen wir an keine besondere Verfassung"154, fügt Hackenschmidt ganz in der Linie seines eigenen Denkens ein. „Im letzteren Fall ist die Kirche eigentlich sichtbar, im ersteren ist sie es wohl auch, aber nur für einen beschränkten Kreis"155, faßt er Gerhards Position treffend zusammen. Deutet sich bei Gerhard schon ein

152

„Die Macht der Kirche ist ebenso gut wie die Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft und wie die Ordnung der Familie unmittelbar göttliche Stiftung. Die Staatsbehörde hat ihre Autorität nicht von der Kirche, sondern direct von Gott", Hackenschmidt, Kirche, 36. 153 Vgl. dazu auch Hackenschmidt, Glaube, 301: „Äußerliche Ordnung zu schaffen ist Recht und Beruf der Obrigkeit; daß wir ihr gehorchen, ist Gottes Wille. So fällt es auch der Obrigkeit zu, das kirchliche Zusammenleben ihrer Unterthanen zu regeln. Sie hat Polizeigewalt in jeder Hinsicht." 154 Hackenschmidt, Musäus, 214. 155 Hackenschmidt, Musäus, 214.

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Verständnis an, das wahre Kirche nicht als unsichtbar, wohl aber als allein für den Glauben sichtbar faßt, so findet Hackenschmidt seine eigene Auffassung noch sehr viel mehr bei Musäus bestätigt. Musäus spricht nicht nur von einer im Glauben sichtbaren Kirche, sondern differenziert zudem zwischen der theologischen und der rechtlich-institutionellen Betrachtungsweise der Kirche. Insofern decken sich das Interesse des Straßburger Pfarrers und des Jenenser Theologieprofessors: wie sich „die wahre, obschon gemischte Kirche zu den Gesellschaften, die nach menschlichem Urtheil und Recht Kirchen heißen, verhalte, das ist für ihn, das ist auch für uns die große Hauptfrage" 156 . Daß Musäus seine Ekklesiologie nicht „in's Blaue hinein, d.h. ohne Bezugnahme auf die Wirklichkeit konstruiert, sondern auf die „thatsächlichen Verhältnisse" 157 eingeht, daß er gegen eine statische Normierung der Theologie durch das Bekenntnis stritt, statt dessen die Bekenntnisgrundlagen durch das eigene Forschen aktualisierend fortschreiben wollte 158 und trotz aller Konflikte über dieses Vorhaben seine Kirchenlehre „in dem Kampf zwischen Luthertum und Gnesio-Luthertum [...] nicht angefochten worden ist" 159 , lassen ihn noch mehr zum Bundesgenossen Hackenschmidts werden. Dieser Wahlverwandtschaft entspricht es auch, daß Hackenschmidt in der Auseinandersetzung mit Bellarmin und Erbermann, vor deren Folie Musäus seine Ekklesiologie entwickelt, durchaus eine Strukturparallele zur eigenen Situation entdecken kann. Denn bei den „römischen Controversisten" des Musäus sind es „dieselben Schlagwörter, die uns heute aus dem Munde der separatistischen Parteien entgegentönen und mit denen sie soviel Verwirrung anrichten. Wir haben deshalb den Nachweis für wichtig gehalten, daß die rigoristischen Grundsätze, auf die sich manche Lutheraner so viel zu gut thun, jesuitischen Ursprungs sind und vom wahren Luthertum entschieden zurückgewiesen wurden" 160 .

156

H a c k e n s c h m i d t , Musäus, 2 1 5 .

157

H a c k e n s c h m i d t , Musäus, 2 1 5 .

158

Vgl. dazu JOHANNES KUNZE: Art. Musäus, J o h a n n , in: R E 3 1 3 , Leipzig 1 9 0 3 , 5 7 2 - 5 7 6 ;

CARL STANGE: Die systematischen Principien in der T h e o l o g i e des J o h a n n Musäus, Diss., Halle 1895. 159

H a c k e n s c h m i d t , Musäus, 2 1 8 .

160

H a c k e n s c h m i d t , Musäus, 2 3 3 .

86

6. Erste Gemeinsamkeiten: Die Forderung nach einer theologischen Ekklesiologie Um welche rigoristischen Grundsätze handelt es sich? Für Hackenschmidt ist es im Kern die von den Exponenten der Gegenreformation sowie von ihren unbewußten Epigonen im konfessionellen Luthertum vertretene Ansicht, die Kirche werde durch äußerlich-rechtliche Faktoren, Bekenntnis und hierarchische Ordnung konstituiert. „Bellarminus [...] definit Ecclesiam, quod sit coetus hominum, ejusdem Christianae fidei professione et eorundem Sacramentorum communione colligatus, sub regimine legitimorum pastorum, ac praecipue unius Christi in terris vicarii Romani Pontificis" zitiert Musäus diese Position161 und hält mit der Confessio Augustana dagegen: „Juxta Augustanam Confessionem igitur ejusque Apologiam Ecclesiae proprie sic dictae membra vera sunt omnes et soli vere credentes et saneti."162 In deutlicher Anlehnung an Ritschis Polemik gegen Stahl und seiner Forderung nach dem Primat der theologischen gegenüber einer juristischen Zugangsweise stellt Hackenschmidt an Musäus positiv heraus, er habe die Kirchenlehre vom Glauben her entworfen. Nun könnte freilich der Glaube selbst, verstanden als bloße notitia, ein äußerlicher Akt sein. Um eine solche Deutung auszuschließen, bemüht sich Musäus zu präzisieren: „Quod ut recte intelligas ante omnia hic explicandum venit, quosnam dicamus vere credentes et sanetos."163 Als wahrhaft Gläubige betrachtet Musäus, der reformatorischen Tradition folgend, nicht diejenigen, „quicunque credunt vera esse, quae in Scripturis revelata sunt", sondern allein, „qui vera fide Christi meritum amplectuntur, inq; eo omnem suam fiduciam habent defixam"164. „Der seines Namens würdige Glaube ist nimmermehr bloß Annahme gewisser Glaubensartikel, sondern Vertrauen auf den Erlöser", paraphrasiert Hackenschmidt Musäus' Definition165 und fügt bestärkend hinzu: „Nur der so geartete Glaube ist es, der zum Glied der Kirche macht" 166 . Er fuße „auf göttlicher Offenbarung, auf dem Worte Gottes, das sich, vermöge der ihm eigenen Geisteskraft dem Gewissen des Menschen selber als solches bezeugt. Aus Christi Geist geboren ist er Gemeinschaft mit Christus"167. Rücken Christusoffenbarung und der die Kirchenmitgliedschaft begründende Glaube hier nahe aneinander, so geschieht das für Hackenschmidt eben in der Absicht, die Scheidelinie zwischen weltlich-rechtlicher und innerlich-

161

JOHANN MUSÄUS: Disputatio theologica de natura et definitione Ecclesiae, Jena 1 6 5 7 ,

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